Allgemeine Gesichtsverschleierungsverbote in Frankreich und Europa.: Eine völkerrechtsdogmatische und rechtspolitische Untersuchung unter Berücksichtigung der EGMR-Rechtsprechung und der »Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben«. [1 ed.] 3428189671, 9783428189670

Die Untersuchung befasst sich mit der komplexen Gemengelage und den vielfältigen (Grund-) Rechtsproblemen, die Verbote d

116 106 1MB

German Pages 308 [309] Year 2023

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Allgemeine Gesichtsverschleierungsverbote in Frankreich und Europa.: Eine völkerrechtsdogmatische und rechtspolitische Untersuchung unter Berücksichtigung der EGMR-Rechtsprechung und der »Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben«. [1 ed.]
 3428189671, 9783428189670

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Studien zum vergleichenden Öffentlichen Recht Studies in Comparative Public Law Band / Volume 13

Allgemeine Gesichtsverschleierungsverbote in Frankreich und Europa Eine völkerrechtsdogmatische und rechtspolitische Untersuchung unter Berücksichtigung der EGMR-Rechtsprechung und der „Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben“

Von

Ann-Kathrin Schaube

Duncker & Humblot · Berlin

ANN-KATHRIN SCHAUBE

Allgemeine Gesichtsverschleierungsverbote in Frankreich und Europa

Studien zum vergleichenden Öffentlichen Recht Studies in Comparative Public Law Band / Volume 13

Allgemeine Gesichtsverschleierungsverbote in Frankreich und Europa Eine völkerrechtsdogmatische und rechtspolitische Untersuchung unter Berücksichtigung der EGMR-Rechtsprechung und der „Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben“

Von

Ann-Kathrin Schaube

Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin hat diese Arbeit im Jahre 2022 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2024 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Klaus-Dieter Voigt Druck: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany

ISSN 2511-9648 ISBN 978-3-428-18967-0 (Print) ISBN 978-3-428-58967-8 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde von der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin im Wintersemeser 2022/2023 als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur sind auf dem Stand von August 2022. Die Arbeit analysiert ausgehend von dem den Schwerpunkt bildenden französischen Verbotsgesetz die in einigen europäischen Staaten geltenden allgemeinen Verbote des muslimischen Gesichtsschleiers in der Öffentlichkeit. In den Blick genommen werden dabei die rechtspolitischen und rechtstatsächlichen Hintergründe der Regelungen sowie ihre jeweiligen Begründungen und die damit verbundenen – insbesondere völkerrechtsdogmatischen – Herausforderungen vor der EMRK. Hierbei stehen die zur Rechtfertigung der Verbotsgesetze angeführte Gleichheit der Geschlechter und die „Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben“ im Vordergrund. Mein besonderer Dank gilt zuvorderst Herrn Prof. Dr. Hans Hofmann für die vielfältigen Anregungen und die freundliche Betreuung des Entststehungsprozesses dieser Arbeit. Dank gebührt auch Herrn Prof. Dr. Matthias Ruffert für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Meinem Partner Dr. Jonas Jacobsen danke ich ganz besonders für seine fortwährende Unterstützung und Motivation, die maßgeblich zum Entstehen dieser Arbeit beigetragen haben. Schließlich danke ich meinen Eltern für ihre unbedingte Unterstützung in jeglicher Hinsicht. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Berlin, im Februar 2023

Ann-Kathrin Schaube

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

Erster Teil Die Geschichte des muslimischen Gesichtsschleiers und seiner Regulierung in Frankreich und Europa A. Geschichte und Begründungsmodelle der Ganzkörper- und Gesichtsverschleierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Verschleierung in vorislamischer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der religiöse Ansatz auf Basis des Koran und der Hadithe . . . . . . . . . . . . . . 1. Textstellen im Koran . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Hadith-Sammlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Ganzkörper- und Gesichtsschleier seit der Neuzeit und in der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines zur jüngeren Geschichte des Vollschleiers . . . . . . . . . . . . . . 2. Motive für das Tragen des Vollschleiers in der Gegenwart: Innenansichten von Betroffenen in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Freiwilligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Innere Beweggründe: Ausdruck starken Glaubens, Nachahmung der Ehefrauen Mohammeds, Frömmigkeit und Stärke . . . . . . . . . . . . c) Äußere Beweggründe: Mittel des Zugangs zum öffentlichen Raum d) Auswirkungen auf Sozial- und Berufsleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Das Verhältnis von Staat und Religion in Frankreich und der Islam . . . . . . I. Grundsätze und Rechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Begriff „laïcité“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Religionsrecht in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Definitions- und Auslegungsstreit zur laïcité . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Geschlossene oder republikanische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Pluralistisch-liberale Auslegung und Verständnis als „positive Neutralität“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Organisation und rechtlicher Status der Glaubensgemeinschaften . . . . . . . . 1. Organisation in Kultvereinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Organisation der katholischen Kirche in Diözesanvereinen . . . . . . . . . . .

22

22 23 24 25 31 33 33 36 38 39 40 40 41 42 43 43 43 47 48 49 50 50 51

8

Inhaltsverzeichnis 3. Organisation in eingetragenen, nicht eingetragenen oder gemeinnützigen Vereinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 III. Rechtliche Integration des Islam in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 IV. Religionsgemeinschaften und Laizität heute: Trennung und Dialog . . . . . . 57

C. Regulierung, Verwaltungspraxis und Urteile bezüglich des muslimischen Schleiers in Frankreich und Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 I.

Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 1. Anfänge der Verschleierungsdebatte und erste Gesetze . . . . . . . . . . . . . . 62 2. Das Verbotsgesetz religiöser Symbole an öffentlichen Schulen von 2004 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 3. Das Verbot der Gesichtsverhüllung in der Öffentlichkeit von 2011 . . . . 66 a) Regelungsgehalt des Gesetzes 2010-1192 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 b) Chronik des Gesetzgebungsverfahrens und Gesetzesbegründung . . . 68 4. Verbotsverordnungen bezüglich „Burkinis“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

II.

Belgien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 1. Rechtliche Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 2. Muslime in Belgien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 3. Regulierung des Gesichtsschleiers und nationale Gerichtsentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

III. Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 1. Rechtliche Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 2. Muslime in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 3. Regulierung des Gesichtsschleiers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 IV. Dänemark . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 1. Rechtliche Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 2. Muslime in Dänemark . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 3. Regulierung des Gesichtsschleiers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 V.

Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 1. Rechtliche Rahmenbedingungen und der Islam in der Schweiz . . . . . . . 99 2. Regulierung des Gesichtsschleiers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

VI. Stand der Regulierung und Debatten in weiteren Mitgliedsstaaten . . . . . . . . 105 1. Italien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 2. Niederlande . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 3. Spanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 4. Lettland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 5. Bulgarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 VII. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

Inhaltsverzeichnis

9

Zweiter Teil Allgemeine Verschleierungsverbote als konventionsrelevante Maßnahmen unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR 120 A. Die Fälle S.A.S. gegen Frankreich und Belcacemi und Oussar gegen Belgien 120 I. Der Fall S.A.S. gegen Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 II.

Der Fall Belcacemi und Oussar gegen Belgien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

III. Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 B. Verschleierungsverbote als Eingriff in den Schutzbereich von Art. 9 EMRK – Freiheit der Religion, des Gewissens und der Weltanschauung . . 125 I.

Die Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 1. Neutralität, Toleranz und Parität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 2. Verhältnis zu anderen Grundfreiheiten der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129

II.

Das Tragen des Vollschleiers als religiöses Bekenntnis? – Der Schutzbereich von Art. 9 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 1. Sachlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 a) Subjektive Bestimmung des sachlichen Schutzbereichs durch die betroffene Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 b) Objektive Bestimmung des sachlichen Schutzbereichs . . . . . . . . . . . 132 c) Möglichkeiten zur Begrenzung des grundsätzlich subjektiv bestimmten Schutzbereichs durch objektive Kriterien . . . . . . . . . . . . . . 134 aa) Begrenzung auf Handlungen, in denen die Religion „zum Ausdruck kommt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 bb) Begrenzung durch ein Notwendigkeitserfordernis . . . . . . . . . . . . 135 cc) Beschränkung auf mehrheitlich vertretene Glaubensgrundsätze einer Religionsgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 dd) Begrenzung durch das Sittsamkeits- und Werteempfinden einer Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 ee) Begrenzung durch inneren Zusammenhang zu einem Glauben von gewissem Maße an Stichhaltigkeit, Ernsthaftigkeit, Kohärenz und Bedeutsamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 ff) Zusammenfassung und Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 d) Das Tragen des Vollschleiers als Schutzgut von Art. 9 Abs. 1 EMRK 142 2. Persönlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 a) Jedermannsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 b) Beschränkung durch ein besonderes Näheverhältnis zum Staat? . . . 144 c) Beschränkung durch sonstiges besonderes Verhältnis zum Staat? . . 145

d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 III. Eingriff in die Religionsfreiheit durch allgemeine Verschleierungsverbote 146

10

Inhaltsverzeichnis

C. Verschleierungsverbote als Eingriff in den Schutzbereich von Art. 8 EMRK – Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens . . . . . . . . . . . . . I. Der Schutzbereich von Art. 8 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Sachlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Persönlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Allgemeine Verschleierungsverbote als Eingriff in den Schutzbereich von Art. 8 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

148 148 148 150 150

Dritter Teil Diskussion möglicher Eingriffsziele und Rechtfertigungen unter Beachtung der Rechtsprechung des EGMR vor der S.A.S.-Entscheidung 151 A. Allgemeine Anforderungen an die Rechtfertigung gem. Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Schrankenkatalog von Art. 9 Abs. 2 und Art. 8 Abs. 2 EMRK . . . . . . II. Gesetzliche Grundlage der Maßnahme („prescribed by law“) . . . . . . . . . . . . 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zugänglichkeit und hinreichende Bestimmtheit der Verbotsgesetze . . . . B. Beachtlichkeit des Pluralismusaspekts – Pluralismus als Voraussetzung für die Wahrnehmung von Individualrechten und als gesamtgesellschaftliches Merkmal der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Pluralismus als Herausforderung für die Rechtspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Rechtsprechung des EGMR zu Pluralismus im Rahmen von Art. 8 und Art. 9 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Pluralismus als wesentliches Fundament für die und Ergebnis der Ausübung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK und der Religionsfreiheit aus Art. 9 EMRK . . . . . . . . . . . 2. Pluralismus als begrenzender Faktor von Art. 8 und 9 EMRK . . . . . . . . C. Gleichheit der Geschlechter als Element der Rechte und Freiheiten anderer und Eingriffsziel eines Verbots geschlechtsspezifischer religiöser Kleidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Freiwilligkeit der Vollverschleierung und der Grundsatz der Geschlechtergleichheit – Tauglichkeit des Eingriffsziels der Geschlechtergleichheit . . . 1. Relevanz und Auswirkung der Freiwilligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Emanzipatorische Perspektive der EMRK: Die Geschlechtergleichheit als eigenständiger Konventionswert jenseits eines Individualrechts . . . . a) Entwicklung der EGMR-Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Entwicklung des Grundsatzes der Geschlechtergleichheit im Völkerrecht: Von der formalen Gleichheit zur substanziellen Gleichheit in Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Geschlechtergleichheit als emanzipatorischer Wert der EMRK . . . . .

152 152 153 153 154

154 155 156

156 159

161 162 162 164 165

166 169

Inhaltsverzeichnis II.

Der Schleier als Symbol . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Definition eines „Symbols“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Symbolhaftigkeit der Verschleierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Mögliche Bedeutungen und Deutungshoheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Deutungshoheit über die Symbolik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schlüssige Bedeutungen des Vollschleiers im Kontext der Geschlechtsspezifität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Schleier als geschlechtsspezifisches Symbol . . . . . . . . . . . . bb) Der Schleier als Symbol sittsamen Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . cc) Der Schleier als Symbol einer patriarchalen Geschlechterhierarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Der Schleier als Symbol der Unterdrückung der Frau durch den Mann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11 174 174 174 175 177 180 182 182 184 186 187

D. Schutz der öffentlichen Sicherheit als Eingriffsziel eines Verbots religiöser Kleidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 E. Schutz der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 I. Die Menschenwürde als Wert der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 II. Bezugnahme auf die Menschenwürde im Rahmen der Verschleierungsverbote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 F. Verhältnismäßigkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verhältnismäßigkeit hinsichtlich der Geschlechtergleichheit . . . . . . . . . . . . III. Verhältnismäßigkeit hinsichtlich der öffentlichen Sicherheit . . . . . . . . . . . .

192 192 193 195

Vierter Teil Besondere Betrachtung der Mindestanforderungen des „vivre ensemble“ als Instrument der Rechtfertigung von Eingriffen in Art. 8 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 1 EMRK 197 A. Die Entwicklung der „vivre ensemble“-Argumentation im Zuge des französischen Gesetzgebungsverfahrens zum Verbotsgesetz Loi nº 2010-1192 und der Versuch der begrifflichen Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Entwicklung der Argumentation um das „vivre ensemble“ im Bericht der Gérin-Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. (Fehlende) Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Darstellung der Argumentation im Gérin-Abschlussbericht . . . . . . . . . . 3. Analyse und Kontextualisierung der Argumentationen im Gérin-Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Sichtbarkeitsmaxime als kultureller Wert . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

199 200 200 201 207 207

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Inhaltsverzeichnis b) Die Sichtbarkeitsmaxime als Element der sozialen Reziprozität unter Bürgern und der Gleichheit der Bürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Sichtbarkeit als Erfordernis der demokratischen Gesellschaft – die Bürgerin als Adressatin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Der code social und die civilité – Umgangsformen und Konventionen als Werte der Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zusammenfassende Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das vivre ensemble in der Stellungnahme des Conseil d’État: La vie en société . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das vivre ensemble in der Begründung zur französischen Gesetzesbegründung 2010 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung und Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Die Übernahme des Konzepts durch den belgischen, österreichischen, dänischen und schweizerischen Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Belgien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Österreich, Dänemark und die Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Ergebnis und Versuch der Begriffsdefinition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

B. Die Mindestanforderungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens im Kontext der Schrankenkataloge von Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK I. Auslegungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Auslegung der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Klassische Auslegungsmethoden gem. Art. 31–33 WVK . . . . . . . . . . . . . 2. EMRK-spezifische Auslegungsmethoden: Evolutive und autonome Auslegung der EMRK als „living instrument“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Entstehung und Inhalt der evolutiven Auslegungsmethode . . . . . . . . . b) Kritik und Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vermutung zugunsten eines umfangreichen Menschenrechtsschutzes? . . 4. Keine grenzenlose Auslegungskompetenz: Die Margin of AppreciationDoktrin auf Schrankenebene und Kritik aus der Rechtswissenschaft . . . . 5. Kritik des Vorgehens des EGMR in den Verfahren zu Vollverschleierungsverboten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Auslegung des Eingriffsziels „Rechte und Freiheiten anderer“ und Einordnung der Subsumtion des Gerichtshofs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Margin of Appreciation-Doktrin bezüglich der „Rechte und Freiheiten anderer“, Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK . . . . . . . . . . . . . 2. Der Terminus der „anderen“ i. S. v. Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Natürliche Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gruppen und juristische Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ansätze für und wider einer möglichen Ausweitung auf die Allgemeinheit als „andere“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Streng personenbezogener Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

208 208 209 210 211 214 215 217 217 218 221 223 223 224 224 225 225 228 231 232 234 235 237 238 238 238 239 239

Inhaltsverzeichnis

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bb) Vorrangiger Schutz der Allgemeinheit als Gemeinschaft der „anderen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 cc) Dualistischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 dd) Erweitert-personenbezogener Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 ee) Stellungnahme und Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 3. Auslegung der „Rechte und Freiheiten“ i. S. v. Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 a) Konventionsinterne Rechte und nationale Individualrechte als Ausdruck eines europäischen Standards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 b) Verfassungsprinzipien, Rechtsgüter und Interessen der Allgemeinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 c) Schutz von Individualinteressen, ungeschriebenen Rechten und Gefühlen? Diskussion positivistischer, naturrechtlicher und vermittelnder Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 aa) Rechtspositivistischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 bb) Naturrechtlicher Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 cc) Berücksichtigung gewichtiger menschlicher Interessen . . . . . . . 247 dd) Berücksichtigung von Gefühlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 ee) Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 d) Stellungnahme und Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 IV. Subsumtion und Einordnung der Argumentation der französischen Regierung im S.A.S.-Verfahren und der Urteilsbegründung des EGMR: Kategoriebildung der „Achtung eines Mindestbestands an Werten einer offenen und demokratischen Gesellschaft“ als Suggestion eines strengen Maßstabs 259 1. Subsumtion der ersten Stufe „Achtung eines Mindestbestands an Werten einer offenen und demokratischen Gesellschaft“ . . . . . . . . . . . . . . . . 260 2. Subsumtion der zweiten Stufe „Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 C. Analyse der Dogmatik der Konzeption, Kritik und Stellungnahme: Die „doppelt unbestimmte Schranke“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 I. Gefahr der Schaffung von Scheinrechtsgütern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 II.

Verhältnis zur „Aufrechterhaltung der Ordnung“ i. S. d. Art. 8 Abs. 2 EMRK und zur „öffentlichen Ordnung“ i. S. d. Art. 9 Abs. 2 EMRK . . . . . 265 1. Problematik der Unschärfe der „Aufrechterhaltung der Ordnung“ i. S. d. Art. 8 Abs. 2 EMRK und „Schutz der öffentlichen Ordnung“ gem. Art. 9 Abs. 2 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 a) Auswirkungen der Wortlautabweichungen in den authentischen Sprachfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 b) Erforderlichkeit gewisser Abgrenzbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 c) Problematik der Abgrenzung der Ordnungsbegriffe in Art. 8 Abs. 2 EMRK und Art. 9 Abs. 2 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268

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Inhaltsverzeichnis 2. „Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben“: Eine versteckte Ausuferung der Problematik der Ordnungsbegriffe nach der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 III. Ambivalente Pluralismuskonzeption als Kunstgriff zur Suggestion strenger Maßstäbe und zur Einschränkung von Minderheitenrechten . . . . . . . . . . . . . 271 IV. Margin of Appreciation: Kein Erfüllen der eigenen Ansprüche an eine ausreichende Kontrolldichte durch den EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Fünfter Teil Betrachtung der allgemeinen Gesichtsverschleierungsverbote unter dem Aspekt effektiven Minderheitenschutzes und Art. 14 EMRK

276

A. Das Diskriminierungsverbot gem. Art. 14 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 I. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 II. Prüfungsaufbau und der vom EGMR entwickelte Prüfungsmaßstab bei Art. 14 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 B. Der Diskriminierungsbegriff und unterschiedliche Ausprägungen von Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 I. Unmittelbare vs. mittelbare Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 II. Intersektionalität und Mehrfachdiskriminierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 C. Analyse der Verschleierungsverbote unter den Aspekten mittelbarer und intersektionaler Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Mittelbare intersektionale Diskriminierung und Entscheidung des EGMR im Fall S.A.S. gegen Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Absenkung des gleichheitsrechtlichen Schutzniveaus durch bloße Übernahme der freiheitsrechtbezogenen Margin(s) of Appreciation . . . . . . . . 2. Fehlender Blick für intersektionale Dimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verdrängung der Frauen ins Private? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

282 283 284 284 285 286

Sechster Teil Ergebnis

287

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307

Abkürzungsverzeichnis ALEVI BBl BGBl. BGE BMEIA-AT BOE CCMTF CdÉ cdH CdS CFCM CGB CORIF DF dRGBl. EDU EGMR-VerfO FIDS FNMF Gazz. Uff. GMP GRCh HALDE IGGÖ KIOS KRK núm. ÖBGBl OGH ÖVP PP PS

Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich Bundesblatt der Schweizerischen Eidgenossenschaft Bundesgesetzblatt Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten der Republik Österreich Boletín Oficial del Estado (Amtliches Gesetzblatt Spaniens) Comité de coordination des musulmans turcs de France Conseil d’État (französischer Staatsrat) Centre Démocrate Humaniste Consilio di Stato (italienischer Staatsrat) Conseil français du culte du musulman Commissie Gelijke Behandeling (Kommission für Gleichbehandlung der Niederlande) Conseil de réflexion sur l’islam en France Danske Folkeparti (Dänische Volkspartei) deutsches Reichsgesetzblatt Eidgenössisch-Demokratische Union Verfahrensordnung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Föderation Islamischer Dachorganisationen Schweiz Fédération Nationale des Musulmans de France Gazzetta Ufficiale (Amtliches Gesetzblatt Italiens) Grand Mosquée de Paris Charta der Grundrechte der Europäischen Union Haute Autorité de lutte contre les discriminations et pour l’égalité (Frankreich) Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich Koordination Islamischer Organisationen Schweiz Übereinkommen über die Rechte des Kindes (UN-Kinderrechtskonvention) número Bundesgesetzblatt (Österreich) Oberster Gerichtshof (Österreich) Österreichische Volkspartei Partido Popular (Spanische Volkspartei) Parti Socialiste

16 RGBl. RPR SEV SVP UOIF VfGH Vorb. VwSlg w.

Abkürzungsverzeichnis Reichsgesetzblatt (Österreich) Rassemblement pour la République Sammlung Europäischer Verträge Schweizerische Volkspartei Union des Organisations Islamiques de France Verfassungsgerichtshof (Österreich) Vorbemerkung Sammlung der Erkenntnisse und wichtigen Beschlüsse des Verwaltungs-Gerichtshofs Österreich wörtlich

Einleitung Die Co-Existenz mehrerer Glaubensvorstellungen und Weltanschauungen sowie das Verhältnis von Religion und Staat bergen seit jeher ein enormes Konfliktpotenzial und sind Stoff zahlreicher Auseinandersetzungen. Historisch lässt sich hier bis in die Antike und selbst in die antike Mythologie zurückgehen – etwa auf Sophokles’ Drama „Antigone“, in dem nach Hegel das „Gesetz der unteren Götter“ mit „dem Recht des Staats in Kollision“ kommt.1 Und auch heute prägen Konflikte zwischen Glaubensgemeinschaften oder zwischen ihnen und nicht-gläubigen oder säkularen Teilen von Gesellschaften das tagesaktuelle politische und gesellschaftliche Bild. Religiös-fundamentalistisch motivierte Kämpfe und Kriege, ISIS, Boko Haram, christlicher oder islamistischer Fundamentalismus, Konflikte im Nahen Osten oder Nordirland sind dabei die großen Schlagworte, die verdeutlichen, welche Zerstörungskraft religiös-fundamentalistische Konflikte auch heute noch haben. Max Webers in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgestellte Säkularisierungsthese scheint damit zumindest in Teilen widerlegt: Die Religionen werden nicht zugunsten von Bürokratie und Ökonomie in den Bereich des Privaten verdrängt. Vielmehr kämpfen sie um ihre Sichtbarkeit in der Weltöffentlichkeit auf zum Teil erschreckendem Wege und getrieben von fundamentalistischen Kräften. Jedoch auch fernab des Extremen sind Religionen und deren Sichtbarkeit und Platz in der (öffentlichen) Gesellschaft immer wieder Gegenstand von Diskussionen und beschäftigen gerade auch die Rechtswissenschaft. Pluralistische Gesellschaften stellen in Europa Rechtsordnungen und Verfassungstexte vor immer neue Herausforderungen. In Deutschland wurde das Grundgesetz und die in ihm verfasste Religionsfreiheit gem. Art. 4 GG zu einer Zeit geschaffen, als hierzulande eine in religiösen Themen sehr homogene Gesellschaft lebte: Fast alle Bürgerinnen und Bürger gehörten entweder der katholischen oder der evangelischen Kirche an. Mittlerweile sieht dies anders aus: Die Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlichte im November 2011 eine Übersicht zu den Zahlen von Angehörigen ausgewählter Religionen.2 Aus dieser lässt sich entnehmen, 1

Hegel, S. 133. Die Daten zur Übersicht stammen dabei aus dem Britannica Book of the Year 2009, Encyclopædia Britannica; aus dem Statistischen Jahrbuch 2010 des Statistischen Bundesamts; vom Auswärtigen Amt (www.auswaertiges-amt.de); von der Europäischen Kommission: Eurobarometer 69: 1. Values of Europeans, November 2008, Special Eu2

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Einleitung

dass beispielsweise in Deutschland im Jahr 2001 zwar immer noch 36,3 % der Bevölkerung der evangelischen und 34,2 % der katholischen Kirche angehörten. Die Erhebung zeigt aber auch, dass insgesamt 29,4 % der Bevölkerung – also mehr als ein Viertel – einer anderen Religion angehörten oder aber auch sich keiner Glaubensrichtung zugehörig fühlten.3 Von einer homogenen Gesellschaft kann folglich in diesem Sinne wohl schon lange nicht mehr gesprochen werden. Und auch wenn man den Blick über die Landesgrenzen erhebt, ist im europäischen Raum aus Homogenität längst Heterogenität geworden – wenn auch in unterschiedlich starker Ausprägung. So gehören in Frankreich zwar noch immer rund 80 % der Bevölkerung einer der christlichen Kirchen an, nach Statistiken aus den Jahren 2010 und 2011 waren aber auch 8 % der Bevölkerung Muslime, womit die muslimische Gemeinschaft in Frankreich europaweit die zahlenmäßig stärkste ist.4 In einer 2016 erschienenen Studie des privaten Forschungsinstituts Montaigne wurde der Anteil der Muslime an der französischen Bevölkerung dagegen mit 5,6 % angegeben, bei den unter 25-Jährigen mit 10 %.5 Das wären zwar deutlich weniger als in den vorgenannten Statistiken, dennoch bleibt der Islam die zweitgrößte Religion in Frankreich nach dem Christentum. Diese Pluralität stellt auch die europäischen Rechtsordnungen, Gesetzgeber und Gerichte vor immer neue Herausforderungen – auf nationaler, aber auch internationaler Ebene. Themen mit Religionsbezug sind dauerhaft Gegenstand politischer und rechtlicher Diskussionen und Gegenstand von Gesetzgebungsverfahren. Es finden grundlegende rechtliche Auseinandersetzungen um Repräsentation und religiöse Symbole wie der seit nunmehr fast 20 Jahren in unterschiedlichen europäischen Staaten und auf unterschiedlichen Ebenen geführte sogenannte „Kopftuchstreit“ im öffentlichen wie privatwirtschaftlichen Bereich statt. Daneben sind auch um das Schächten von Tieren und die Beschneidung von Jungen aus religiösen Motiven Diskussionen entbrannt, genauso wie um den Bau von Moscheen und Minaretten. Die Diskussionen sind dabei häufig stark emotional aufgeladen und dienen nicht selten der Förderung bestimmter politischer Stimmungen. Die Frage der Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft – und wer über diese Zugehörigkeit entscheidet – und Fragen der Ausgrenzung spielen dabei eine wesentliche Rolle.

robarometer: Social Values, Science and Technology, June 2005, Special Eurobarometer: European Social Reality, February 2007 sowie Eurostat: Online Datenbank: Gesamtbevölkerung. Die gesamte Graphik kann auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung unter http://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/europa/ 70539/themengrafik-religionszugehoerigkeit eingesehen werden. 3 Dabei entfallen 4,5 % auf Menschen muslimischen Glaubens, 0,1 % gehören dem Judentum an. 4 Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung (Fn. 2). 5 Institut Montaigne, Un islam français est possible, Rapport Septembre 2016, S. 19.

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Eines der in den letzten Jahren immer mehr diskutierten „Phänomene“ ist dabei der von einigen muslimischen Frauen getragene Ganzkörper- bzw. Gesichtsschleier6 in Form einer Burka oder eines Niqabs7, auch wenn die tatsächliche Zahl der Trägerinnen wohl marginal sein dürfte.8 Die um ihn geführten Debatten sind vielschichtig. Gesellschaftspolitisch geht es dabei um Fragen von Zugehörigkeit, Ausgrenzung und Integration, rechtlich um die Religionsfreiheit und ihre Grenzen und aus feministischer Sicht um die Möglichkeit der Frau zu einem selbstbestimmten Leben. Eine Zäsur in diesem Kontext stellt ein französische Gesetz vom 11. Oktober 2011 dar, welches jedermann unter Androhung von Strafe verbietet, in der Öffentlichkeit das Gesicht zu verhüllen.9 Ausnahmen von dem Verbot gibt es zahlreiche, letztlich betroffen sind Burka- und Niqabträgerinnen. Im Juli 2014 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) über das Verbotsgesetz zu entscheiden. Der EGMR entschied, dass das Verbot mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)10 vereinbar sei und insbesondere nicht die durch Art. 9 Abs. 1 EMRK geschützte Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit verletze.11 Der zwar bestehende Eingriff in die Religionsfreiheit der betroffenen Frauen sei durch den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer gemäß Art. 9 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt, welcher hierbei in der Wahrung der Mindestanforderungen an ein gesellschaftliches Miteinander bestehe. Insbesondere dieser Rechtfertigungsgrund birgt jedoch, wie gezeigt werden wird, einige (dogmatische) Schwierigkeiten. Auch Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privatlebens) und Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) sah der EGMR nicht verletzt. Frankeich ist allerdings längst kein Einzelfall mehr. Auch andere Konventionsstaaten haben entweder vergleichbare Gesetze verabschiedet, befinden sich auf dem Weg dorthin oder führen zumindest Debatten über mögliche Verbote. Damit ist der Ganzkörperschleier zu einem weiteren Diskussionspunkt geworden, der aus der wachsenden religiösen Pluralität und vor allem der Präsenz und Sichtbar6

Die beiden Begrifflichkeiten werden in dieser Arbeit deckungsgleich verwendet. Beide Stoffgewänder verhüllen den gesamten Körper und das Gesicht, sind bodenlang und lassen häufig nur die Hände unbedeckt. Lediglich vor den Augen ist ein Sehschlitz ausgespart, bei der Burka befindet sich hier jedoch ein Netz. 8 Schätzungen zufolge tragen in Frankreich beispielsweise nur ca. 2.000 Frauen eine Burka oder einen Niqab, in Belgien sollen es 200–300 Frauen sein, in Dänemark keine 100. Siehe hierzu genauer für einzelne Staaten Erster Teil, B. III. und C. 9 Loi nº 2010-1192 du 11 octobre 2010 interdisant la dissimulation du visage dans l’espace public; JORF nº 0237, S. 18344. 10 Amtlicher Titel der Konvention in deutscher Sprache: Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten. In dieser Arbeit wird aber der besser bekannte, nicht amtliche Kurztitel Europäische Menschenrechtskonvention bzw. die Abkürzung EMRK verwendet. 11 EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffer 16 ff. 7

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keit von Muslimen in der Gesellschaft – aber auch politischer Agitation gegen eine solche Entwicklung hin zu einer auch sichtbar pluralistischen Gesellschaft entsteht. Die vorliegende Arbeit soll sich in diesem häufig sehr emotionalen Themenfeld in sachlicher Weise mit den Verboten der Ganzkörperverschleierung und der Rechtsprechung des EGMR auseinandersetzen. Der Gesichts- und Ganzkörperschleier ist zu einem Symbol geworden, das starke Assoziationen hervorruft. Nicht nur die unübersehbare Kenntlichmachung einer religiösen Zugehörigkeit wohnt ihm inne, sondern gegebenenfalls auch eine Aussagekraft bezüglich der Stellung der Frau gegenüber dem Mann und möglicherweise in der Gesellschaft insgesamt. Eine simple Antwort auf die Frage, welche Bedeutung „dem Schleier“ innewohnt, kann nicht gegeben werden. Vielmehr wird sich zeigen, dass die Bedeutungen vielschichtig sind, abhängig auch davon, wessen Sicht als maßgeblich gelten soll. Die Frage, was und wie viel das Recht in einer demokratischen Gesellschaft darf, ist hier fundamental. Die Arbeit wird sich mit der Zulässigkeit der allgemeinen Verschleierungsverbotsgesetze vor der EMRK und unter besonderer Beachtung der hierzu ergangenen Rechtsprechung des EGMR auseinandersetzen. Dabei sind insbesondere die von den Mitgliedsstaaten angeführten Rechtfertigungsmodelle zu analysieren. Vor allem ist eine nähere Betrachtung des vom EGMR letztlich akzeptierten legitimen Eingriffsziels der „Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben“ geboten. Die Untersuchung wird fünf Hauptteile umfassen. Der Erste Teil wird das Fundament der Arbeit bereiten. Nach einer einführenden Beschäftigung mit den rechtstatsächlichen Hintergründen bestehend aus einer Darstellung der Geschichte der Verschleierung und der Herkunft, Verbreitung und Verankerung von Burka und Niqab im Islam soll die spezifisch französische Ausgestaltung des Religions- und Verfassungsrechts erörtert werden. Frankreich wird auch im weiteren Verlauf der Arbeit den Schwerpunkt bilden und gilt somit als besonders erörterungsbedürftig. Im Anschluss an die französische Rechtslage wird ein breiter Überblick über die Rechtslage bezüglich des muslimischen Gesichtsschleiers in anderen Konventionsstaaten gegeben. Im Zweiten Teil wird eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Konventionsrelevanz der allgemeinen Verschleierungsverbote und der Rechtsprechung des EGMR in den Fällen S.A.S. gegen Frankreich und Belcacemi und Oussar gegen Belgien stattfinden. Im Dritten Teil der Arbeit wird sich die Untersuchung den Diskursen um die Rechtfertigung der Verbotsgesetze zuwenden. Dabei soll zunächst erörtert werden, welche Rolle der Pluralismusaspekt und dessen Entwicklung und Ausprägung durch den EGMR in diesem Zusammenhang zukommt. Anschließend werden konventionelle Eingriffsziele diskutiert. Der Fokus dieses Teils liegt auf der Frage, ob der Grundsatz der Geschlechtergleichheit ein legitimes Eingriffsziel gem. Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK sein könnte. In diesem Zuge wird sich die Arbeit auch

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mit möglichen Symbolbedeutungen des Gesichtsschleiers und der diesbezüglichen Deutungshoheit auseinandersetzen. Anschließend wird sich der Vierte Teil der Arbeit, der den Schwerpunkt der Untersuchung darstellt, intensiv mit dem erstmals im Zusammenhang mit den Verschleierungsverboten diskutierten – und vom EGMR anerkannten – Eingriffsziel der „Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben“ auseinandersetzen. Der französische Gesetzgeber hat diese Kategorie zu einem „Mindestbestand an Werten in einer offenen und demokratischen Gesellschaft“ gezählt, ebenso wie die Geschlechtergleichheit und die Menschenwürde. Diese Grundsätze sollen nach Ansicht des französischen Staates wie auch des EGMR zu den „Rechten und Freiheiten anderer“ i. S. d. Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK gehören können. Im Rahmen eines weiten Beurteilungsspielraums gesteht der EGMR den Mitgliedsstaaten sodann zu, diese Anforderungen festzulegen und hält es für konventionskonform, dass Staaten hierzu auch die zwischenmenschliche (Zufalls-)Begegnung von Privatpersonen mit jederzeit unverhülltem Gesicht im öffentlichen Raum zählen. Mit diesem mehrstufigen Vorgehen im Rahmend der Rechtfertigung soll im Rahmen der Untersuchung eine differenzierte Auseinandersetzung erfolgen. Die unbestimmte Schranke der „Rechte und Freiheiten anderer“ sowie die neu geschaffenen Kategorien von Rechtfertigungsgründen werden unter Auswertung der verfügbaren Materialien aus den Gesetzgebungsprozessen, insbesondere aus Frankreich, näherungsweise bestimmt und auf ihre dogmatische Binnenlogik und Konsistenz untersucht und mögliche Folgen aufgezeigt. Fragen, die die Untersuchung dabei auch beantworten soll, werden sein, inwiefern sich die Entscheidung in die bisherige Rechtsprechung des EGMR einfügt bzw. inwiefern sie einen Bruch mit dieser darstellt, welchen Beurteilungsspielraum der EGMR den nationalen Gesetzgebern mit welchen Folgen zugesteht und welches Verständnis von Pluralismus alledem zu entnehmen ist. Schließlich soll in einem Fünften Teil der Minderheitenschutz in den Blick genommen und die allgemeinen Gesichtsverschleierungsverbote unter dem Gesichtspunkt der mittelbaren intersektionalen Diskriminierung betrachtet werden, ehe der Sechste Teil das Fazit der Arbeit liefert. Die Arbeit wird sich nicht mit der Verschleierung in Form des Kopftuchs beschäftigen, auch werden Verbotsgesetze, die sich auf einen begrenzten öffentlichen oder halb-öffentlichen Raum beziehen nicht den Schwerpunkt darstellen. Gegenstand der Untersuchung sind jene Verbotsgesetze, die unabhängig davon, wo sie verankert sind, in ihrem Anwendungsbereich den gesamten öffentlichen Raum erfassen und sich auf die vollständig, höchstens die Augenpartie aussparende Verschleierung beziehen.

Erster Teil

Die Geschichte des muslimischen Gesichtsschleiers und seiner Regulierung in Frankreich und Europa A. Geschichte und Begründungsmodelle der Ganzkörper- und Gesichtsverschleierung Die Formen der Verschleierung im Islam sind vielfältig. Unterscheiden kann man grundsätzlich zwischen dem Kopftuch, das nur das Haupthaar und die Ohren bedeckt und unter dem Kinn gebunden wird, dem Tschador, einem mantelartigen, bodenlangen Gewand, zu dem auch ein Schleier über dem Haupthaar gehört, und der Burka und dem Niqab, welche beide neben dem bodenlangen Gewand auch einen Gesichtsschleier umfassen. Während der Niqab dabei im Stoff eine Aussparung für die Augenpartie hat, befindet sich bei der Burka eine Art Netz vor den Augen. Je nach Region werden entweder dunklere Farben oder bunte Stoffe bevorzugt, häufig lassen sich auch Muster erkennen.1 Debatten um die Verschleierung der Frau setzen sich in den letzten Jahren ausschließlich mit der islamischen Verschleierung auseinander. Es ist dennoch hervorzuheben, dass die Verschleierung des weiblichen Körpers oder einzelner Körperteile, der Schleier, in anderen Kontexten wie etwa auch im Christentum eine sehr viel ältere Tradition darstellt, auch wenn sie heutzutage nicht mehr so präsent ist wie einst.2 Der Islam entstand im 7. Jahrhundert und ist somit eine vergleichsweise „junge“ Religion. Bereits in vorislamischer Zeit war die Verschleierung der Frau allerdings im Mittelmeerraum und im Nahen Osten weit verbreitet.3 Schon Paulus wendet sich in seinen Briefen im Alten Testament an die Gläubigen von Korinth und weist die Frauen unter ihnen an, sich beim Gebet und in der Kirche zu verschleiern. Er begründet dies mit einer minderwertigen Rolle der Frau gegenüber dem Mann: „Ihr sollt wissen, dass Christus das Haupt des Mannes ist, der Mann das Haupt der Frau und Gott das Haupt Christi. Wenn ein Mann betet oder prophetisch redet und dabei sein Haupt bedeckt hat, entehrt er sein Haupt. Eine Frau aber entehrt ihr Haupt, indem sie betet oder prophetisch redet und dabei ihr Haupt nicht verhüllt. Sie 1 2 3

Heine, S. 666. von Braun/Mathes, S. 52. von Braun/Mathes, S. 54.

A. Begründungsmodelle der Ganzkörper- und Gesichtsverschleierung

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unterscheidet sich dann in keiner Weise von einer Geschorenen. Wenn eine Frau kein Kopftuch trägt, soll sie doch gleich die Haare abschneiden lassen. Ist es aber für eine Frau eine Schande, sich die Haare abschneiden oder sich kahlscheren zu lassen, dann soll sie sich verhüllen. Der Mann darf sein Haupt nicht verhüllen, weil er Abbild und Abglanz Gottes ist; die Frau aber ist Abglanz des Mannes.“ 4

Tertullian vertrat im Jahr 216 n. Chr. in seiner Schrift De virginibus velandis die Auffassung, dass Frauen in der Kirche nicht nur das Haar, sondern auch ihr Gesicht verschleiern sollten, sodass nur noch ein Auge zum Sehen frei bleibe. Dabei nennt er die Frauen des arabischen Raums als Vorbilder.5 Der Vatikan hält bis heute in Teilen an der Verhaltensvorschrift zur Verhüllung des Haupthaars für Frauen fest: bei einer Privataudienz dürfen Frauen dem Papst nur mit bedecktem Haupthaar gegenübertreten. Im Folgenden soll es vorrangig um die Herkunft und Begründungsmodelle der islamischen Verschleierung gehen, Einflüsse anderer Religionen und Sitten aus vorislamischer Zeit werden dabei allerdings ebenso berücksichtigt.

I. Verschleierung in vorislamischer Zeit Es ist beachtlich, dass obwohl seit nun mehr als zwei Dekaden intensiv in unterschiedlichen Disziplinen über die Verschleierung muslimischer Frauen diskutiert wird, doch wenig über die Ursprünge dieser Praxis oder Tradition bekannt zu sein scheint. Bereits in vorislamischer Zeit trugen Frauen und Mädchen auf der arabischen Halbinsel Schleier, in Mekka, Assyrien und Babylon galt er als Zeichen hohen Standes der vornehmen Bürgerinnen.6 Vermutet wird, dass hier der Einfluss byzantinischer und iranischer Vorbilder nicht ohne Bedeutung war.7 Unter den Beduinenfrauen war es Sitte, über die üblichen hemdartigen Gewänder ein zusätzliches Schalgewand, genannt Himar, als Überwurf zu legen und mit diesem auch das Gesicht zu verhüllen.8 Diese Sitte war aber vor allem ein Zeichen des städtischen Lebens, in der Wüste dagegen blieben die Frauen meist unverschleiert, wohl weil ein Schleier bei schwerer körperlicher Arbeit eher hinderlich gewesen wäre.9 Allerdings trugen auch Beduinenfrauen häufig einen Gesichtsschleier, vermutlich als Schutz vor Sonne und Sand in der Wüste. Dieses „Burqu“ genannte Gewand war um 600 n. Chr. ein übliches Kleidungsstück der 4

Paulusbriefe, 1. Kor. 11, 3 ff. Elssner, ZRGG 2004, 317 (324 f.). 6 Walther, Die Frau im Islam, S. 41. 7 Heine, S. 667. 8 Knieps, S. 63. Knieps beruft sich dabei auf die arabischsprachige Darstellung von Ali al-Hasimi, Al-Mar’a fı¯ sˇ-sˇi’r al-g˘a¯hilı¯, Bagdad (1960). 9 Walther, in: Antes u. a., Der Islam III, S. 408. 5

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1. Teil: Die Geschichte des muslimischen Gesichtsschleiers

Beduinenfrauen und entspricht nach Überlieferungen in seinem Erscheinungsbild wie der Name nahelegt dem Gesichtsschleier der heutigen Burka.10 So schrieb der arabische Lexikograph al-Lait b. al-Muzaffar über den Burqu, Ibn Manzu¯r zitierend: „Es tragen ihn die Reittiere und die Frauen der Beduinen. Darin sind zwei Öffnungen für die Augen.“ 11 Der Niqab dagegen findet in vorislamischen Überlieferungen keine Erwähnung, lediglich der Wortstamm „nqb“ lässt sich hier finden.12 Ebenso wie Erwähnungen des Burqu und des Himar finden sich in vorislamischer Zeit auch solche des später im Koran erwähnten Gilbab, bei dem es sich um ein Schal- und Mantelgewand der Frauen handelt.13 Der sogenannte GilbabVers im Koran wiederum dient Muslimen und Musliminnen zum Teil auch heute noch zur Begründung einer Verschleierungspflicht. Wird heute vom islamischen Schleier gesprochen, so geschieht dies oft unter Verwendung des Wortes Hijab (auch in der Schreibweise Higab bekannt), welches in der für die Verschleierung ebenfalls relevanten Sure 24:31 des Koran genannt ist. Im Unterschied zu den vorgenannten Begriffen war Hijab in der vorislamischen Zeit aber kein Begriff für ein Kleidungsstück. Das Wort leitet sich vielmehr von dem Wortstamm „hgb“ ab und beschrieb eine Trennwand oder auch einen Vorhang am Hauseingang.14 Unterschiedliche Formen der Verschleierung der Frau gab es also auch bereits in vorislamischer Zeit, ebenso wie vergleichbare Mechanismen und Handhabungen zur Abschirmung der Frau. Im Grad ihrer Intensität unterschieden sie sich damals wie heute. Ihnen fehlte zwar noch die islamische Konnotation, zum Verständnis der langen Tradition und auch der Entstehungsgeschichte der im Folgenden dargestellten Koranverse tragen sie jedoch bei. Der Islam entstand in einer Zeit, in der die Verschleierung von Frauen nicht unüblich war. Sie ist keine grundlegend „neue“ Erfindung des Islam, auch wenn dies heute in der westlichen Wahrnehmung zuweilen so empfunden werden mag.

II. Der religiöse Ansatz auf Basis des Koran und der Hadithe Die wichtigste religiöse Quelle der Muslime ist ihre heilige Schrift, der Koran. Aus dem Koran werden drei Verse zur Begründung einer Verschleierungspflicht der Frau herangezogen. Dabei handelt es sich um Sure 24:3115, Sure 33:53 und 10

Knieps, S. 77. Knieps, S. 80. 12 Knieps, S. 98. 13 Knieps, S. 109 ff. 14 von Braun/Mathes, S. 66 f. 15 Bei den Angaben zu Textstellen im Koran bezeichnet die erste Zahl die Sure, die zweite den Vers. 11

A. Begründungsmodelle der Ganzkörper- und Gesichtsverschleierung

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Sure 33:59. Keine von ihnen beschreibt jedoch explizit eine Verschleierungspflicht, schon gar nicht hinsichtlich des Gesichts. Dennoch sind die Verse offen für Interpretationen. Neben dem Koran ziehen Muslime ihre religiösen Lehren auch aus den Hadithen, den Überlieferungen der Äußerungen und Handlungen ihres Propheten Mohammeds.16 1. Textstellen im Koran Der Koran enthält keine eindeutigen Handlungsanweisungen an die Gläubigen. Die Verse bedürfen vielmehr der Interpretation. Die Koranexegese stellt eine komplexe Aufgabe und Wissenschaft dar. Der Koran verfügt über eine verdichtete Sprache und verwendet zum Teil Metaphern, die sich heutigen Lesern nicht ohne Weiteres erschließen.17 Es bedarf der Auslegung und Interpretation der Verse. Von diesen existieren jedoch zahlreiche, Auslegung und Interpretation finden „dezentral und vielfältig“ 18 statt. Die eine Auslegung oder Lehre ist in der Koranexegese mithin nicht zu finden. Die Bedeutung zahlreicher Verse ist umstritten, unterschiedliche Übersetzungen stellen eine zusätzliche Herausforderung dar. Im Folgenden werden diejenigen Koranverse und ihre Entstehungsgeschichte vorgestellt, auf die sich Befürworter und Befürworterinnen des Vollschleiers beziehen sowie die jeweiligen Kontroversen um deren Interpretation. Die zitierte Übersetzung enthält dabei schon ihrerseits Angaben zur wörtlichen Übersetzung und kontextbezogenen Ergänzungen. Um ein religiöses Gebot zur Verschleierung zu begründen, wird häufig die Sure 24:31 herangezogen. Sie lautet: „Und sag den gläubigen Frauen, sie sollen (statt jemanden anzustarren, lieber) ihre Augen niederschlagen, und sie sollen darauf achten, daß (sic!) ihre Scham bedeckt ist (w. sie sollen ihre Scham bewahren), den Schmuck, den sie (am Körper) tragen, nicht offen zeigen, soweit er nicht (normalerweise) sichtbar ist, ihren Schal sich über den (vom Halsausschnitt nach vorn heruntergehenden) Schlitz (des Kleides) ziehen und den Schmuck, den sie (am Körper) tragen, niemand (w. nicht) offen zeigen, außer ihrem Mann, ihrem Vater, ihrem Schwiegervater, ihren Söhnen, ihren Stiefsöhnen, ihren Brüdern, den Söhnen ihrer Brüder und ihrer Schwestern, ihren Frauen (d. h. den Frauen, mit denen sie Umgang pflegen?), ihren Sklavinnen (w. dem, was sie (an Sklavinnen) besitzen), den männlichen Bedienstete (w. Gefolgsleuten), die keinen (Geschlechts)trieb (mehr) haben, und den Kindern, die noch nichts von weiblichen Geschlechtsteilen wissen. Und sie sollen nicht mit ihren Beinen (aneinander)schlagen und damit auf den Schmuck aufmerksam machen, den sie (durch die Kleidung) verborgen (an ihnen) tragen (w. damit man merkt, was sie von ihrem

16 17 18

Robson, S. 23. Behr, S. 9. Ebenda.

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1. Teil: Die Geschichte des muslimischen Gesichtsschleiers Schmuck geheimhalten). Und wendet euch allesamt (reumütig) wieder Gott zu, ihr Gläubigen! Vielleicht wird es euch (dann) wohl ergehen.“ 19

Die Entstehungszeit dieses Verses wird auf das Jahr 627 n. Chr. datiert.20 Zu dieser Zeit trugen die Frauen in Medina, der Wirkungsstätte Mohammeds, üblicherweise ein weites, hemdartiges Gewand, welches vorn ein langer Schlitz vom Hals bis zum Bauch kennzeichnete.21 Ohne ein zusätzliches Tuch wäre bei Bewegung die Brust der Frauen zu sehen gewesen. Aus diesem Grund trugen die Frauen zu dem Gewand auch ein Umschlagtuch, den sogenannten Himar. Er konnte um Hals und Kopf drapiert werden.22 Es ließe sich also durchaus argumentieren, dass der Koranvers lediglich die ohnehin zu seiner Entstehungszeit bestehenden Kleidungssitten nennt. Auch spricht der Vers nur von einem „Schlitz“, der durch einen Schal bedeckt werden soll, nicht dagegen von Kopf oder Gesicht. Unterstützt wird dies auch durch weitere Koranübersetzungen, in denen statt von einem Schlitz im Kleid deutlicher von „Busenspalten“ 23 oder dem „Busen“ 24 gesprochen wird, der zu verhüllen sei. Die Sure 24:31 nennt jedoch auch den am Körper getragenen „Schmuck“ bzw. Zierde (Rückert übersetzt hier dagegen mit dem Wort „Reize“ 25) der Frau, welchen sie nicht offen zeigen solle. Was jedoch unter jenem Schmuck zu verstehen ist, ob dazu etwa nur Henna-Farbe an den Händen oder auch das Haupthaar oder gar das Gesicht zählt, ist unter Korankommentatoren ebenso umstritten wie die Frage, ob es hier je nach Situation und Personenkonstellation Unterschiede geben kann.26 Ähnlich verhält es sich mit einer Definition der „Scham“, die zu bedecken sein soll. Im Islam gibt es in diesem Zusammenhang das Konzept der Awra, sinngemäß zu übersetzen mit „Nacktheit“. Die Nacktheit der Frau darf nicht gezeigt werden und unterscheidet sich in ihrer Reichweite von der des Mannes.27 Auch die Konstellation der Personen, denen die Frau gegenübertritt, die sie also sehen 19 Übersetzung von Paret. Bei den in Klammern gesetzten Satzteilen und Wörtern handelt es sich um ergänzende Zusätze des Übersetzers, die hier insbesondere zum Verständnis des Gesamtzusammenhangs, in dem der Vers steht, beitragen sollen. „w.“ kennzeichnet die wörtliche Übersetzung. 20 Knieps, S. 205. 21 Knieps, S. 64, 105. 22 So beschrieben bei Knieps, S. 102 ff. 23 So in der Koran-Übersetzung von Rückert, Sure 24:31. 24 So nach Übersetzung von Ullmann in der Bearbeitung von W. Winter, Sure 24:31. 25 Rückert, Übersetzung der Sure 24:31. 26 Eine ausführlichere Darstellung findet sich bei Knieps, S. 206 ff. 27 Die Verhaltensregeln für den Mann werden im Übrigen in der vorherstehenden Sure 24:30 geregelt. Auch er hat seine Scham zu bedecken und die Augen niederzuschlagen. Der Bedeckungspflicht wird aber bereits durch einfache Kleidung (auch westliche) ausreichend nachgekommen, eben weil die Scham des Mannes enger begrenzt sei als die der Frau, vgl. Aluffi Beck-Peccoz, S. 16.

A. Begründungsmodelle der Ganzkörper- und Gesichtsverschleierung

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können, hat Einfluss auf das, was als Awra gilt, ebenso wie die Situation, in der sich die Frau befindet, entscheidend sein kann.28 Unstreitig ist dabei allein, dass während des Gebets oder der Pilgerfahrt weder Hände noch Gesicht als Awra gelten.29 Im Übrigen werden unterschiedliche Ansätze vertreten. Schon die große Anzahl unterschiedlicher Übersetzungen der Sure 24:31 zeigt ihren großen Interpretationsspielraum. Aber allein die Rechtsschule der Hanabila sieht es auch außerhalb der beiden Situationen des Gebets und der Pilgerfahrt als verpflichtend an, dass die Frau ihr Gesicht verhüllt. Damit stellt diese Meinung eine Mindermeinung dar.30 Dass die Sure 24:31 eine verbindliche Pflicht zum Tragen eines Kopftuchs oder gar eines Gesichtsschleiers normiert, kann ihrem Wortlaut zumindest aber nicht entnommen werden. Zur weiteren Begründung einer Verschleierungspflicht aus dem Koran berufen sich deren Vertreter auf die Sure 33:53, den sogenannten „Hijab-Vers“. In diesem heißt es unter anderem: „Und wenn ihr die Gattinnen des Propheten (w. sie) um (irgend)etwas bittet, das ihr benötigt, dann tut dies hinter einem Vorhang! Auf diese Weise bleibt euer und ihr Herz eher rein (w. das ist reiner für euer und ihr Herz).“ 31

Betrachtet man diesen Vers isoliert, ließe sich vermuten, dass er eine Pflicht für jedermann normiert, für eine Abschirmung zu sorgen, ehe er oder sie zu den Frauen des Propheten spricht. Dass tatsächlich nur Frauen Adressatinnen dieses Gebots sein sollen, genauer die Gattinnen des Propheten selbst, verdeutlicht erst Sure 33:55. In diesem Vers heißt es: „Es ist keine Sünde für sie (d. h. für die Gattinnen des Propheten) (ohne Vorhang mit Männern zu verkehren), wenn es sich um ihren Vater, ihre Söhne, ihre Brüder, die Söhne ihrer Brüder und Schwestern, ihre Frauen (d. h. die Frauen, mit denen sie Umgang pflegen?) und ihre Sklavinnen handelt. Fürchtet Gott (ihr Frauen)! Er ist über alles Zeuge.“ 32

Die Verkündung dieses Verses wird ebenfalls auf das Jahr 627 n. Chr. datiert.33 Der genaue Anlass, zu dem dieser Vers verkündet wurde, ist nicht eindeutig bekannt. Es wird vermutet, dass der sogenannte „Hijab-Erlass“ anlässlich der Hochzeit des Propheten Mohammeds mit seiner Cousine und gleichzeitig ehemaliger Ehefrau seines Adoptivsohns, der Zainab bint Jahsch, erging. Nach einer Überlieferung wurde der Vers durch Mohammed verkündet, um seine Privat- und Intim-

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Aluffi Beck-Peccoz, S. 16. Ebenda; auch Knieps, S. 206. 30 Aluffi Beck-Peccoz, S. 16. 31 Übersetzung von Paret (vgl. auch Teil 1 Fn. 19). Im arabischen Text steht für „Vorhang“ das Wort „hijab“. 32 Übersetzung von Paret (vgl. auch Teil 1 Fn. 19). 33 Knieps, S. 183. Knieps beruft sich dabei auf den Historiker und Prophetengelehrten Muhammad Ibn Sa’d. 29

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1. Teil: Die Geschichte des muslimischen Gesichtsschleiers

sphäre im Anschluss an die Feierlichkeiten vor seinen Anhängern zu schützen. Den Überlieferungen des islamischen Gelehrten und Historiker al-Tabaris (gest. 923 n. Chr.) zufolge, wollte eine kleine Gruppe aufdringlicher Gäste nach Ende des Hochzeitsessens die Räume des Propheten nicht verlassen. Mohammed habe daraufhin entnervt das Haus verlassen und sei zu seinen anderen Ehefrauen gegangen. Bei seiner Rückkehr habe er die Gäste noch immer vorgefunden, also verließ er das Haus noch einmal und sei wiederum in die Räume seiner Ehefrau Aischa gegangen. Abermals zu Zainab zurückgekehrt, habe er die Gäste noch immer vorgefunden. In diesem Moment habe er dann einen Vorhang zwischen sich und Zainab einerseits und den Gästen andererseits ausgebreitet und den Vers verkündet. Ein Vorhang schirmte das Paar so vor dem Beobachter ab, der Zeuge und Symbol einer zu aufdringlichen Gemeinschaft war. Al-Tabaris’ Schilderungen sollen auf den sich unter diesen Gästen befindenden Anhänger Mohammeds, Anas Ibn Malik, zurückgehen.34 Nach dieser Schilderung ist der Hijab kein Kleidungsstück, sondern ein Vorhang eben der Gestalt wie ihn das arabische Wort aus der vorislamischen Zeit beschreibt. Der Vers bezieht sich zudem nur auf die Frauen des Propheten, nicht jedoch auf alle muslimischen Frauen. In diesem Zusammenhang sollte auch erwähnt werden, dass es im frühen 7. Jhd. an den Höfen der Herrscher durchaus üblich war, die Mächtigen und ihre Harems vor Besuchern mittels eines Vorhangs abzuschirmen, so etwa am Hof der iranischen Sassanidenkönige oder am byzantinischen Kaiserhof.35 Im Jahr 627 lebte Mohammed bereits mit etlichen Gefolgsleuten in der Stadt Medina. Die Vermutung, dass er mit der Offenbarung dieses Verses, nimmt man denn an, dass sie sich so ereignet hat, bereits existierende Manieren und die hierarchischen Ordnungen innerhalb der herrschenden Klasse für sich und seine Gemeinschaft schlicht übernommen hat, ist mithin nicht unbegründet. Stern und Knieps stellen in ihren Untersuchungen noch weitere mögliche Anlässe für die Verkündung des Verses dar. So habe nach Knieps Mohammed bei seiner morgendlichen Runde bei seinen Frauen zwei Männer in der Nähe der Gemächer gesehen und den Vers daraufhin offenbart, als erster Überlieferer wird auch hier Anas Ibn Malik genannt.36 Stern vertritt dagegen die These, dass Mohammed mit dem Vers seinen Frauen eine bessere Stellung in der Gemeinschaft habe verschaffen wollen.37 Die unterschiedlichen Schilderungen, die zum Teil aber wiederum beanspruchen, auf ein und dieselbe Person zurückzugehen, zeigen, wie vielfältig auch die Interpretationen sein können, welchem Zweck ein Hijab dienen soll: Der Ab34 35 36 37

Mernissi, The veil and the male elite, S. 86 ff. Walther, in: Antes u. a., Der Islam III, S. 405. Knieps, S. 186. Stern, S. 113; Knieps, S. 186, widerspricht dem ausdrücklich.

A. Begründungsmodelle der Ganzkörper- und Gesichtsverschleierung

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schottung der Frau aus Eifersucht, wie es die Schilderung um die zwei fremden Männer nahelegt, oder aber der Achtung der Frauen des Propheten, deren übergeordnete Position nach außen erkennbar gemacht werden soll und schließlich dem Ausdruck der Herrschaftlichkeit, Autorität und möglicherweise auch Besitzanspruchs des Mannes durch eine (auch gemeinsame) Abschottung (mit) der Frau. Letzteres stellt eine Interpretation dar, die den Mann anstelle der Frauen in das Zentrum rückt. Welche Begebenheit auch immer Anlass für den Erlass gewesen sein mag, das „Hijab-Konzept“ entwickelte sich in der Folgezeit in islamischen Ländern zu einem Modell der Gesellschaftsordnung, in der die Abschließung der Frau sich immer weiter etablierte.38 Betroffen von diesem ab da familienrechtlichen Konzept waren nun auch gewöhnliche Frauen, die sich verschleierten, allerdings keine Sklavinnen und auch ältere Frauen waren weithin ausgenommen.39 Die Soziologin Mernissi beschreibt das Hijab-Konzept als Sinnbild für die Ablösung der Vernunft des Gläubigen durch die Gewalt des Stammes, mit dem Hijab erwache die Vorstellung, die Straße sei in der Hand des Unvernünftigen, der seine Gier nicht zähmen könne.40 Die Verkündung des Verses und das darauf basierende gesellschaftliche Modell der Abschottung der Frau sei letztlich ein Sieg der Heuchler über Mohammeds Ideal gewesen, wonach Frauen frei ausgehen können sollten.41 Zur Erreichung der Abschottung der Frau aus den oben dargestellten unterschiedlichsten Beweggründen oder auch zu deren Kenntlichmachung als freie Frau wurde so in weiten Teilen ein Kopftuch benutzt. Eine Pflicht zur Verschleierung lässt sich aber aus der Textstelle nicht entnehmen, zumal sie danach nur ein Mittel sein kann, das der Prophet so nicht verbindlich offenbart hat. Auch hier stellt die Pflicht zur Verschleierung also nur eine Interpretation unter vielen möglichen dar. Zwingend ist damit auch der Grad der Verschleierung eine Frage der Interpretation. Dass eine Frau selbst ihr Gesicht mittels eines Tuchs verschleiern soll, ist dabei die denkbar extremste Interpretation des Hijab-Verses und dürfte weder in dem Wortlaut des Verses noch seiner Exegese eine überzeugende Grundlage finden. Schließlich wird zur Begründung der Verschleierungspflicht auf eine dritte Textstelle im Koran verwiesen, den sogenannten „Gilbab-Vers“ in Sure 33:59. Er lautet: „Prophet! Sag deinen Gattinnen und Töchtern und den Frauen der Gläubigen, sie sollen (wenn sie austreten) sich etwas von ihrem Gewand (über den Kopf) herunterziehen. So ist am ehesten gewährleistet, daß (sic!) sie (als ehrbare Frauen) erkannt 38 39 40 41

Walther, Die Frau im Islam, S. 41; ebenso Knieps, S. 199. Knieps, S. 199. Mernissi, Der politische Harem, S. 250. Ebenda.

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1. Teil: Die Geschichte des muslimischen Gesichtsschleiers und daraufhin nicht belästigt werden. Gott aber ist barmherzig und bereit zu vergeben.“ 42

Im Unterschied zu Sure 33:53 spricht dieser Vers ausdrücklich auch die Frauen der Gläubigen an, er richtet sich nicht nur an die Frauen des Propheten. Die hier vorliegende Übersetzung ergänzt bereits die Worte „über den Kopf“, was bereits als Ausdruck einer Interpretation gesehen werden kann. Auch hier soll jedoch zunächst ein kurzer Blick auf die Entstehungsgeschichte des Verses geworfen werden. Ursächlich für die Verkündung soll die Wohnsituation der Frauen Mohammeds gewesen sein. Die Frauen mussten in der Nacht, um ihre Notdurft zu verrichten, ihre Häuser verlassen und seien hierbei von mehreren Männern belästigt worden. Von Mohammed zur Rede gestellt, hätten die Männer anschließend ausgesagt, sie hätten die Frauen für Sklavinnen gehalten.43 Daraufhin sei der Vers verkündet worden, wonach die Frauen sich ab sofort zu verhüllen hätten, damit man sie nicht für Sklavinnen halte und in Ruhe lasse.44 Mithin lässt sich hier Folgendes festhalten: Die Offenbarungssituation spricht dafür, dass die Verhüllung ein Zeichen hohen Standes war. Neben der geschlechtsspezifischen war also auch eine soziale Komponente, der soziale Status, mitentscheidend. Auf der anderen Seite ist der Vers in einer sehr spezifischen Situation entstanden, die es zumindest zweifelhaft erscheinen lässt, daraus eine generelle Verschleierungspflicht für jedes Verlassen des Hauses zu jeder Tageszeit abzuleiten.45 Die Zweifel werden dadurch unterstrichen, dass zu dieser Zeit in Medina eine Situation herrschte, in der Frauen sehr häufig zu Opfern von Belästigungen wurden. Diese als Ta’awud bezeichnete Belästigungssituation auf offener Straße mag auch dazu geführt haben, dass man sich gezwungen sah, die nach damaligem Bild ehrbare Frau kenntlich zu machen, um sie zu schützen.46 Aber auch was genau verborgen werden soll, welche Körperteile und -stellen, bleibt eine Frage der Interpretation. Die oben zitierte Übersetzung nennt den Kopf. Dies ist aber wie festgestellt schon selbst wiederum Ergebnis einer Interpretation und findet sich nicht in allen Übersetzungen gleichermaßen wieder. Auch bleibt offen, ob das Gesicht oder nur das Haupthaar gemeint ist. Nach al-Tabari etwa habe sich die Frau so weit zu verhüllen, dass nur ein Auge frei bleibe, andere dagegen sehen nur eine Pflicht, die Stirn und das Haar zu verhüllen.47

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Übersetzung von Paret (vgl. auch Teil 1 Fn. 19). Oestreich, S. 15. 44 Knieps, S. 201; Walther, in: Antes u. a., der Islam III, S. 407 unter Berufung auf Ibn-Sa’d, VIII, 126. 45 Anderer Auffassung wohl Minai, S. 34. 46 Oestreich, S. 15. 47 Ausführliche Darstellung bei Knieps, S. 202; letztere Ansicht zum Umfang der Verschleierung vertritt auch Minai, S. 34. 43

A. Begründungsmodelle der Ganzkörper- und Gesichtsverschleierung

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In der Gesamtheit lässt sich also erkennen, dass die Koranverse allein keine Verschleierungspflicht für muslimische Frauen normieren, schon gar nicht eine solch strikte, die das Gesicht beinhalten würde. Die Offenbarungssituationen der Verse lassen jedoch in gewissem Maße darauf schließen, dass Sinn und Zweck der Verse durchaus eine Abschließung der Frau ist. „Die Frau“ wiederum ist hierbei die freie, fruchtbare Frau – ausgenommen waren Sklavinnen und wohl auch alte Frauen. Berücksichtigt man die herrschenden Sitten zur Zeit der Verkündungen, so kann der Eindruck nicht verwehrt bleiben, dass die Verse sowohl auf konkrete damalige Bräuche, Sitten und gesellschaftliche Gepflogenheiten wie auch auf individuelle Situationen Bezug nehmen. Sie bieten zwar einen großen – und zuweilen großzügig ausgenutzten – Interpretationsspielraum, der historische Kontext jedoch stärkt jene Ansichten, die eine allumfassende Pflicht zur Verschleierung für die Gegenwart dem Koran nicht mehr entnehmen können. An dieser Stelle wird dann auch offenbar, was Kern des Streits um die Auslegung der Verse ist: entscheidend ist die gewählte und vertretene Methodik. Das hier gefundene Fazit basiert auf einer historischen und symbolischen Lesart. Andere Ansichten dagegen machen eine wörtliche Lesart der Verse zur Basis ihrer Auslegung und sehen nicht mehr nur Ziele, sondern auch die gewählten Mittel als bis heute verbindlich an.48 Diese Ansicht allerdings gerät in Erklärungsnot, wenn eben jene Wörtlichkeit nicht in konkrete Handlungsanweisungen mündet, sondern gerade wie bei den hier zitierten Versen Interpretationen zwingend notwendig sind. 2. Hadith-Sammlungen Über die Verse des Korans hinaus gibt es weitere Rechtsquellen im Islam, die normative Handlungsanweisungen enthalten und eine Begründung für das Tragen des Schleiers liefern könnten: die Hadithe. Die Hadithe sind wörtliche Überlieferungen der Worte, Taten und Traditionen des Propheten, die als vorbildhaft gelten sollen. Ihre Gesamtheit nennt sich Sunna (dt. „Sitte“, „Brauch“, „Praxis“).49 Die systematische Sammlung der Hadithe begann wohl zur Zeit des ersten Bürgerkriegs innerhalb der muslimischen Gemeinschaft. Mohammed hatte vor seinem Tod keinerlei Regelungen bezüglich eines Nachfolgers getroffen, was zu großen Uneinigkeiten führte: Zur Auswahl standen einerseits Ali, ein Cousin und gleichzeitig Adoptivsohn Mohammeds und damit ein Blutsverwandter des Propheten sowie auf der andererseits Umar Ibn al-Khattab und Abu-Bakr as-Siddiq, beide Schwiegerväter und engste Vertraute des Propheten. Schließlich wurde 48 Eine strenge traditionalistische Koranauslegung vertreten heute vor allem die Bewegungen der Muslimbrüder und des Salafitentums, auch die Wahhabiten sehen dies ähnlich. Sie erkennen in Teilen die Lehren der streng konservativen Rechtsschule der Hanabila an, welche eine Verschleierungspflicht bejaht und diese auch auf Gesicht und Hände erstreckt, vgl. oben. 49 El-Wereny, S. 43 f.

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1. Teil: Die Geschichte des muslimischen Gesichtsschleiers

Abu-Bakr der erste Kalif nach Mohammed (632–634 n. Chr.) und Umar der zweite (634–644 n. Chr.). Dritter Kalif war Uthman, dessen Ermordung schließlich endgültig in den Bürgerkrieg mündete, die Fitna. Währens des Bürgerkriegs wurde Ali zum vierten Kalifen. Außer Abu-Bakr starb keiner dieser Kalifen eines natürlichen Todes.50 Ein Teil muslimischer Gelehrter vertritt die Ansicht, dass der Wunsch nach Frieden schließlich Anlass für damalige Gelehrte war, die Hadithe zusammenzutragen, um künftig Fragen des Zusammenlebens im Sinne Mohammeds beantworten zu können.51 Andere muslimische Gelehrte vertreten dagegen die Auffassung, dass die Hadithe schon zu Lebzeiten Mohammeds als Rechtsquellen bestanden.52 Mehrheitlich, wenngleich auch nicht ausnahmslos, wird unter den Gelehrten heute aber davon ausgegangen, dass die Hadithe trotz ihrer den Koran konkretisierenden und interpretierenden Natur auch selbstständig Rechtsnormen setzen und sein können.53 Um als wahr zu gelten, muss sich bei jedem Hadith nachvollziehen lassen, dass es tatsächlich auf den Propheten zurückgeht und erster Überlieferer eine Person aus seinem Umfeld gewesen ist. Die Kette der Überlieferung (sog. Isna¯d oder sanad) darf nicht unterbrochen sein.54 Die schier unbegrenzte Anzahl von Hadithen unterschiedlicher Gelehrter und der immer währende Streit um ihre Echtheit55 machen es allerdings zu einer fast unlösbaren Aufgabe, klare Antworten auf eine Frage zu erhalten – auch wenn die Hadithe zum Teil sehr konkrete Situationen behandeln. An dieser Stelle sollte vermutet werden, dass ein aus heutiger Sicht so viel diskutiertes Thema wie die Verschleierung der Frau, die wie oben gezeigt auch in der Entstehungszeit des Islam durchaus nicht ungewöhnlich war, in den HadithSammlungen seinen Niederschlag findet. Es liegt nahe zu glauben, dass die Hadithe Antworten bieten. Dem ist jedoch nicht so. Nur Abu Da’ud beschreibt in seinen Hadithen eine Situation, die eine Verschleierungspflicht für Frauen ab der Geschlechtsreife darlegen und dessen Überlieferung auf Aischa zurückgehen soll.

50 Eine ausführliche Darstellung, die auch hier als Grundlage diente, findet sich bei Mernissi, S. 42. Der Streit um die rechtmäßige Nachfolge ist bis heute Kern der Auseinandersetzungen und Feindschaften zwischen Schiiten, die auf eine stammesrechtliche Regelung setzen und Ali für den rechtmäßigen Erben halten und Sunniten, die eine geistige Nähe zum Propheten als entscheidend ansehen und daher Abu-Bakr und Umar als rechtmäßige Nachfolger anerkennen. 51 Mernissi, Der politische Harem, S. 47. 52 El-Wereny, S. 44. 53 El-Wereny, S. 45 m.w. N. 54 Robson, S. 24. 55 Mernissi verweist etwa auf die seit dem 7. Jahrhundert bestehende Verlockung, politische oder wirtschaftliche Interessen durch die Erzeugung falscher Hadithe zu legitimieren, vgl. Mernissi, Der politische Harem, S. 17.

A. Begründungsmodelle der Ganzkörper- und Gesichtsverschleierung

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Wielandt gibt diesen Hadith wie folgt wieder: „Asma, die Tochter des Prophetengefährten Abu Bakr, [habe] den Propheten in nur spärlicher Bekleidung aufgesucht [. . .], woraufhin er sich mit den Worten von ihr abgewandt habe: ,Oh Asma, wenn die Frau die Menstruation erreicht hat, dann ist es für sie unpassend, dass man vor ihr etwas außer dem hier und dem hier sieht‘. Dabei habe er auf sein Gesicht und seine beiden Handflächen gezeigt.“ 56 Wielandt weist ebenfalls darauf hin, dass sich dieser Text in keiner anderen der anerkannten Hadithsammlungen finden lässt. Selbst wenn man ihn jedoch als echt bezeichnen möchte, so ist gleichwohl zu erkennen: eine Verschleierungspflicht jedenfalls des Gesichts ist hier gerade nicht zu entnehmen.

III. Der Ganzkörper- und Gesichtsschleier seit der Neuzeit und in der Gegenwart 1. Allgemeines zur jüngeren Geschichte des Vollschleiers Unter der ersten Herrschaft der radikal-islamischen Taliban in Afghanistan waren Frauen per Gesetz von 1996 bis 2001 verpflichtet, den Vollschleier zu tragen, wenn sie sich außerhalb des engsten Familienkreises bewegen wollten. Die zwangsweise Vollverschleierung von Frauen in der Öffentlichkeit war damit einer der sichtbarsten und für den Westen auch symbolhaftesten Aspekte des von den Taliban verfolgten Ziels, eine Gesellschaftsordnung nach strengreligiösen Sittsamkeitsvorstellungen durchzusetzen. Frauen wurden aus der Öffentlichkeit und allen öffentlichen Bereichen ausgeschlossen und ihnen dort weder Individualität, noch Selbstbestimmung gewährt. Die Burka als umfassendste Form der Vollverschleierung war bereits zuvor unter Frauen der Volksgruppe der Paschtunen verbreitet, staatlich aber nicht verordnet.57 Auch im Nordwesten Pakistans tragen paschtunische Frauen häufiger die Burka. Im streng wahhabitisch-muslimischen Königreich Saudi-Arabien ist Frauen das Tragen des Vollschleiers bis heute gesetzlich vorgeschrieben, auch wenn Reformen angekündigt sind58 und in einigen Regionen abweichende Regelungen gelten.59 Nach der erneuten Machtübernahme durch die Taliban im Sommer 2021 in Afghanistan führten diese im Mai 2022 abermals eine Vollverschleierungspflicht für Frauen in der Öffentlichkeit ein.60 56

Wielandt, S. 6. Mubarak, S. 379 (380). 58 Zeit Online vom 19. März 2018, „Kronprinz will Pflicht zur Verhüllung abschaffen“, abrufbar unter https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-03/saudi-arabien-mo hammed-bin-salman-frauen-kleidung-reform. 59 Mubarak, S. 379 (381). 60 Deutsche Welle (DW) vom 22.05.2022, Frauen in Afghanistan: Zurück ins Dunkel des Schleiers, abrufbar unter https://www.dw.com/de/frauen-in-afghanistan-zur%C3% BCck-ins-dunkel-des-schleiers/a-61954892. 57

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1. Teil: Die Geschichte des muslimischen Gesichtsschleiers

Die Geschichte der – zur staatlicherseits den Frauen auferlegten Vollverschleierungspflicht spiegelbildlichen – Verbote gegenüber Frauen, Ganzkörpergewänder zu tragen, reicht weiter zurück als es die jüngeren Debatten um Burka und Niqab vermuten lassen und die Begründungen mögen zuweilen überraschen, wie im Fall des sog. „Nürnberger Regentuchs“. Gegen dieses, eine Art Ganzkörpergewand, wurde bereits im 15. wie auch nochmals im 17. Jahrhundert in Nürnberg ein Verbot erlassen. Frauen wurde es damit untersagt, das sog. Regentuch im Rahmen von Gottesdiensten, bei Vorsprachen vor Obrigkeiten und Besuchen von Ämtern zu tragen. Bei dem Regentuch handelte es sich um ein Tuch oder eine Decke, die Frauen über ihre Kleidung warfen. Begründet wurden die Verbote damit, dass zu befürchten sei, die Frauen würden unter der weiten Verhüllung unsittliche Absichten verfolgen oder unmoralische Handlungen begehen.61 Auch hier wurde Kleidung von Frauen dergestalt reguliert, dass ihnen das Tragen bestimmter Kleidungsstücke – hier verhüllender Gewänder – in der Öffentlichkeit untersagt wurde. Aus ähnlichen Gründen, aus denen auch in der jüngeren Geschichte und zum Teil auch immer noch Frauen in der Öffentlichkeit gezwungen werden, sich mit dem Ganzkörper- und Gesichtsschleier zu verhüllen – nämlich Sittsamkeits- und Moralvorstellungen zur Frau – wurden im Fall des Nürnberger Regentuchs genau gegenläufige Konsequenzen gezogen. Während einmal das weite verhüllende Gewand die Frau abschirmen und ihren Körper und ihre Sexualität für andere verbergen soll, wird im anderen Fall Frauen ein weites Gewand gerade untersagt, um sicherzustellen, dass ihnen das weite Gewand nicht erst den Raum und die Möglichkeit unsittlicher Handlungen verschafft. Aber auch die in dieser Arbeit diskutierten gegenwärtigen Verbote des islamischen Vollschleiers in europäischen Ländern sind in einem weiteren Sinne nicht die ersten ihrer Art. Verbotsgesetze bezüglich Burka und Niqab existierten in anderen Regionen schon in früheren Zeiten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts forderte der Rechtsgelehrte Qasîm Amîn in Kairo ein Verbot der Gesichtsverschleierung. Zur Begründung nannte er die Notwendigkeit in der Zivilgesellschaft, dass ein Jeder und eine Jede sein bzw. ihr Gesicht zeige62 und verfolgte damit eine Argumentationslinie, die wie sich zeigen wird für die heutigen westlichen Verbotsgesetze von höchster Relevanz ist. In Algerien wurde der Gesichtsschleier während des Algerienkrieges (1954–1962) verboten, aus Sorge, dass sich Guerillakämpfer der FLN unter ihm verbergen und Anschläge verüben oder Frauen Waffen transportieren könnten.63 Gleichzeitig trugen Frauen den Vollschleier dort Frantz Fanons Schilderungen zufolge aber (weiterhin) auch als Zeichen des Protests gegen die Kolonialmacht Frankreich und deren Politik der Zwangsent-

61 62 63

Wienecke-Janz/Ebert, S. 42. Aboudrar, S. 128. Fanon, S. 62.

A. Begründungsmodelle der Ganzkörper- und Gesichtsverschleierung

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schleierung.64 Im Tschad verbot die Regierung das Tragen des Vollschleiers in der Öffentlichkeit im Jahr 2015, nachdem die islamistische Terrororganisation Boko Haram Männer und Frauen unter Burkas getarnt zu Selbstmordanschlägen eingesetzt hatte.65 Anders als in den hier näher betrachteten europäischen Ländern finden vergleichbare Kontroversen um den islamischen (Voll-)Schleier weder in den USA, noch in Australien oder Kanada statt. Thesen zur Ursache dessen gibt es durchaus, etwa dass Religionen in den USA grundsätzlich auch im staatlichen Bereich eine größere Akzeptanz erfahren würden oder auch, dass Muslime in den USA einen deutlich geringeren prozentualen Anteil an der Gesamtbevölkerung ausmachen und zudem sozio-ökonomisch bessergestellt seien als in europäischen Staaten und folglich der Schleier – vorrangig in Form des Kopftuchs – mangels Notwendigkeit auch nicht die Funktion eines Zeichens der Abgrenzung und des Widerstands gegenüber anderen sozio-ökonomischen Gruppen zu erfüllen brauche.66 Ihm fehle unter den dortigen Umständen die Fähigkeit zum Stigma jeglicher Art.67 Obwohl die Intensität der geführten Debatten und die Regelungsdichte seitens der nationalen Gesetzgeber etwas anderes nahelegen könnte, ist das alltägliche Tragen des islamischen Vollschleiers im europäischen Raum ein verhältnismäßig neues und nur äußerst gering verbreitetes Phänomen. Verbreitet ist dagegen im Christentum das Tragen des – durchaus auch das Gesicht verhüllenden – Brautschleiers zur Hochzeit, wobei dieser zumeist aus leicht durchsichtigem Stoff gefertigt ist. Wesentlich verbreiteter unter Musliminnen ist das – in dieser Arbeit nicht gegenständliche – Tragen eines Kopftuchs. Und auch gläubige Katholikinnen bedecken zuweilen noch heute in Gottesdiensten teilweise ihr Haar mit einem Kopftuch. Aber nicht jedes Kopftuch oder jeder Schleier muss religiöse Bezüge haben. Populär war das Tragen eines Kopftuchs in Europa auch lange Zeit aus rein modischen Beweggründen wie beispielsweise unter Filmschauspielerinnen in den 1970er Jahren. Festzuhalten bleibt jedoch, dass das Tragen bestimmter (Gesichts- und Ganzkörper-)Schleier durch Frauen seit jeher auch immer wieder religiös begründet war und zum Gegenstand gesetzlicher Regelungen gemacht wurde. Zwar sind diejenigen islamischen Gelehrten, die eine Pflicht zum Tragen des Gesichtsschleiers befürworten und diese sogar aus dem Koran abgeleitet wissen wollen in der deutlichen Minderheit. Die Schlussfolgerung, Burka und Niqab seien aber 64

Fanon, S. 62 f. Deutsche Welle (DW) vom 11.07.2015, Viele Tote nach Burka-Attentat im Tschad, abrufbar unter https://www.dw.com/de/viele-tote-nach-burka-attentat-im-tschad /a-1857 8690. 66 Peter Skerry, The American Exception, Times vom 14. August 2006. 67 Joppke, S. 3. 65

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1. Teil: Die Geschichte des muslimischen Gesichtsschleiers

schon deshalb nicht als religiöse Symbole anzusehen, weil ihnen die Grundlage in den Rechtsquellen und Schriften des Islams fehle, greift jedoch zu kurz. Es handelt sich zunächst um eine Praxis, die durchaus religiös assoziiert und vom Glauben motiviert sein kann. Eine andere Frage ist dann aber diejenige nach der Schutzwürdigkeit der Praxis. Auch der Begriff „Hijab“ meint heute nicht allein den Schleier – oder spezifischer: das muslimische Kopftuch. Ist von Hijab die Rede, so kann damit auch heute noch ein politisches Konzept arabischer Staaten gemeint sein, die Moral, Abschottung und Rolle der Frau in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken und den Schleier zum Gegenstand gesetzlicher Normen zu machen.68 Nichtsdestotrotz ist der Rückschluss, der Schleier selbst verweise allein auf die dieses politische Konzepte und dessen Gutheißung unvollständig und einseitig. Dem Schleier kann eine religiöse Motivation innewohnen, bei dem Vollschleier dürfte die jeweilige Motivation besonders ausgeprägt sein. Er ist viel diskutierter Gegenstand unter islamischen Gelehrten und Gläubigen. Er kann durchaus ein mögliches religiöses Symbol sowie andererseits auch möglicher Ausdruck von Abschottung und Zugehörigkeit, sowohl familiär-patriarchal zur eigenen Familie wie auch zu einer gesellschaftlichen Klasse sein. Die Motivationen von Frauen, einen Vollschleier zu tragen, sollen im Folgenden untersucht werden. 2. Motive für das Tragen des Vollschleiers in der Gegenwart: Innenansichten von Betroffenen in Europa Trotz oder gegebenenfalls auch wegen seiner erst relativ kurzen Präsenz in westlichen Gesellschaften wird der Gesichtsschleier kontrovers diskutiert. Ihm und den Frauen, die ihn tragen sowie auch männlichen Befürwortern werden zuweilen Eigenschaften und Ansichten zugeschrieben, andererseits werden solche teilweise auch von ihnen selbst öffentlich dargestellt und geäußert. Die Frage objektiver und/oder subjektiver Symbolik des Schleiers wird an späterer Stelle ausführlich zu erörtern sein. Zunächst ist jedoch zusammenzutragen, welche Motive für das Tragen des Schleiers diejenigen Frauen nennen, die ihn selbst tragen. Methodisch ist dies nicht leicht durchführbar. Es gibt kaum Untersuchungen dazu, wie viele Frauen den Vollschleier überhaupt in Europa tragen und wenn sie es tun, aus welchen Gründen. Mangels allgemeiner Zahlen ist in der Folge schwierig zu bestimmen, ob diejenigen Frauen, die hierzu Angaben gemacht haben, als repräsentativ gelten können. Zurückgegriffen werden soll dennoch auf diejenigen Untersuchungen, die hierzu bislang vorliegen. So hat die belgische Rechtsprofessorin Eva Brems 2014 Forschungsergebnisse zur Frage der Motivation der Vollschleierträgerinnen präsentiert. Gemeinsam mit anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern präsentierte sie empirische Ergebnisse aus qualitativen Stu68

Mernissi, Die vergessene Macht, S. 13.

A. Begründungsmodelle der Ganzkörper- und Gesichtsverschleierung

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dien, die in Frankreich, Belgien, den Niederlanden, Dänemark und Großbritannien zu unterschiedlichen Zeitpunkten und in unterschiedlichen Kontexten (in Dänemark und den Niederlanden etwa wurden die Studien von der jeweiligen Regierung in Auftrag gegeben) durchgeführt wurden.69 Die Fragen an die Interviewten unterschieden sich dabei leicht voneinander, methodisch basierten die Untersuchungen aber alle hauptsächlich auf semistrukturierten Leitfadeninterviews70 und im Fall Belgiens semistrukturierten leitfadenorientierten Tiefeninterviews.71 Die sehr deutliche Mehrheit der den Vollschleier tragenden interviewten Frauen – viele von ihnen Konvertitinnen – wurden in Europa geboren oder lebten zumindest die meiste Zeit ihres bisherigen Lebens in Europa, waren in Europa aufgewachsen und ausgebildet worden. Hinsichtlich der bei einigen Frauen bestehenden Migrationsgeschichten ergaben sich je nach Land Unterschiede. Während diejenigen befragten Frauen, die eine Migrationsgeschichte vorwiesen, in Frankreich überwiegend familiäre Ursprünge in Algerien und Marokko hatten72, stammten die Vorfahren der Frauen mit Migrationsgeschichte in den Niederlanden aus Marokko, der Karibik, Lateinamerika oder Südostasien73 und die der befragten Frauen mit Migrationsgeschichte aus Großbritannien überwiegend aus Pakistan, Bangladesch und Indien.74 Im Übrigen führt Annelies Moors für die in den Niederlanden befragten Frauen aus, dass diese sich kaum einer einheitlichen spezifischen sozialen Gruppe zuordnen lassen – weder nach Alter, noch nach Einkommen, Ausbildung oder Familienstand.75 Die Ergebnisse der Untersuchungen sollen in die folgende Darstellung unterschiedlicher Motive für das Tragen des Vollschleiers heutzutage Eingang finden, wenngleich die qualitative Empirie keinen Anspruch auf Repräsentativität erheben kann. Für die Darstellung der Vielfalt der Motivationen und aufgrund ihrer Erhebung aus erster Hand sind die Ergebnisse dennoch wertvoll.

69

Brems, S. 12. Brems, S. 13. Bei dieser Befragungstechnik aus der empirischen Sozialforschung werden im Vorfeld festgelegte Fragen gestellt, für die der befragten Person jedoch keine vorformulierten Antwortmöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden. Dementsprechend können die Antworten der befragten Personen sehr vielfältig ausfallen und es verbleibt Raum für eigene Einschätzungen und Perspektiven. Auch neue Gesichtspunkte, die durch die im Vorfeld formulierten Fragen nicht berücksichtigt wurden, können Eingang in das Interview finden. 71 Bei dieser intensiveren Interviewmethode sollen die bedeutsamen Perspektiven und Meinungen der interviewten Person herausgearbeitet werden. Hier besteht eine noch höhere Flexibilität, den Gesprächsverlauf auch an den Aussagen der interviewten Person auszurichten. 72 Bouteldja, S. 122. 73 Moors, Face veiling in the Netherlands, S. 26 f. 74 Bouteldja, S. 122. 75 Moors, Face veiling in the Netherlands, S. 27 f. 70

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1. Teil: Die Geschichte des muslimischen Gesichtsschleiers

a) Freiwilligkeit Alle in Belgien interviewten Frauen gaben an, sich freiwillig, selbstbestimmt und wohl überlegt nach längerer Phase der Auseinandersetzung mit der Thematik für das Tragen des Vollschleiers entschieden zu haben und das diese Freiwilligkeit für sie wesentlich sei, wenn es darum gehe, ob eine Frau einen Vollschleier trage.76 Nichtsdestotrotz gaben auch drei der insgesamt 29 interviewten Frauen in Belgien an, dass zunächst ihr Verlobter oder Ehemann den Vollschleier vorgeschlagen habe, sie dann jedoch freiwillig dem Tragen dessen zugestimmt hätten.77 Diese Aussagen zur Freiwilligkeit sind jedoch reserviert zu betrachten, insbesondere lassen sie keinen weitergehenden Schluss auf andere Frauen zu, da fraglich ist, ob Frauen, die zum Tragen des Vollschleiers gezwungen werden, überhaupt jemals an entsprechenden Studien teilnehmen würden bzw. von Seiten ihrer Familien eine Teilnahme unterbunden würde.78 Diejenigen interviewten Frauen in Belgien, die den Vollschleier zum Zeitpunkt der Befragung nicht mehr trugen, gaben an, dass auch dies ihre selbstbestimmte Entscheidung gewesen sei, wenngleich die meisten von ihnen durchaus auch entsprechenden Druck durch Aggressionen auf den Straßen oder Angst vor strafrechtlicher Verfolgung hier als Motive nannten.79 Auch seien ihnen entgegengebrachte Aggressionen der Grund, weshalb einige der befragten Frauen angaben, bestimmte Aktivitäten zu meiden.80 In Dänemark wurden im Rahmen der durchgeführten Studie insgesamt sieben Frauen interviewt, die den Gesichtsschleier auch zum Zeitpunkt des Interviews noch trugen. Auch sie gaben alle an, den Gesichtsschleier aus eigener Überzeugung und freiwillig zu tragen, bei keiner der sieben Frauen gab es in der jeweiligen Familie eine andere Frau, die vor ihr bereits den Gesichtsschleier getragen hätte.81 Die in den Niederlanden interviewten Frauen gaben ebenfalls durchgehend an, sich freiwillig für das Tragen des Vollschleiers entschieden zu haben und dabei keinem Druck oder Zwang aus ihrem Umfeld ausgesetzt gewesen zu sein und führten eher einen intrinsischen Drang nach weitergehendem Wissen und Erfahrungen bezüglich ihres Glaubens als Beweggrund an.82 76

Brems et al., S. 81. Brems et al., S. 83. 78 So versuchte das belgische Forscher- und Forscherinnenteam eine Frau zu interviewen, die nach Aussage einer Sozialarbeiterin zum Tragen des Vollschleiers gezwungen worden war, jedoch ohne Erfolg, vgl. Brems et al., S. 84. 79 Brems et al., S. 86. 80 Brems et al., S. 96. 81 Institut for Tværkulturelle og Religions Studier, Københavns Universitet, Rapport om brugen af niqab og burka, S. 5, abrufbar unter http://www.e-pages.dk/ku/322/. 82 Moors, Face veiling in the Netherlands, S. 31. 77

A. Begründungsmodelle der Ganzkörper- und Gesichtsverschleierung

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In Großbritannien und Frankreich hoben diejenigen Frauen, die in muslimisch geprägten Familien aufgewachsen waren, hervor, dass ihr eigenes derzeitiges Verständnis vom Islam und dem Tragen des Vollschleiers von dem ihrer jeweiligen Familien abweiche. In keinem Fall der französischen Frauen und nur in vereinzelten Fällen aus Großbritannien lassen die Studien der Analyse und Auswertung von Bouteldja zufolge den Schluss zu, dass die religiöse Erziehung seitens der Eltern bereits im Kindesalter handlungsleitend für den Entschluss zum Tragen eines Vollschleiers gewesen sei. Diverser stelle sich dies in späteren Jahren dar. Hier sei durchaus in einigen Fällen zu beobachten gewesen, dass es Ermutigungen aus dem familiären und sozialen Umfeld zum Tragen des Vollschleiers gegeben habe, etwa durch Freundinnen oder Schwestern. Für Zwang habe es aber keine Anhaltspunkte in den Interviewantworten gegeben. Dagegen gaben mehrere Frauen aus Frankreich und Großbritannien an, ihre Entscheidung für den Vollschleier habe zu innerfamiliären Konflikten geführt.83 Gleichwohl ist anzumerken, dass in einem Fall aus Großbritannien die befragte Frau durchaus angab, dass ihr Ehemann sie darum „gebeten“ habe, den Vollschleier zu tragen und sie – seine Zustimmung als erforderlich ansehend – davon ausgehe, dass er einem Ablegen des Vollschleiers an öffentlichen Orten widersprechen würde.84 b) Innere Beweggründe: Ausdruck starken Glaubens, Nachahmung der Ehefrauen Mohammeds, Frömmigkeit und Stärke Die interviewten Frauen in Belgien gaben unter anderem an, dass sie den Schleier nicht für sich gewählt hätten, um mit ihrem Leben bis dahin zu brechen, sondern um ihren Glauben zu vertiefen und zu vervollkommnen. Sie sähen das Tragen des Vollschleiers als eine Möglichkeit an, sich in ihrer Frömmigkeit gegenüber anderen hervorzutun.85 Auch in Dänemark befragte Vollschleierträgerinnen ließen die Tendenz erkennen, dass der Niqab ihrer Ansicht nach als Stärke des eigenen Glaubens anzusehen sei.86 Als Inspiration und Wunsch gaben Frauen in Dänemark und Belgien an, sie wollten es den Ehefrauen des Propheten Mohammeds gleichtun und glaubten daran, ihre Taten würden im Jenseits belohnt werden.87 Die in den Niederlanden interviewten Frauen gaben ebenfalls an, durch das Tragen des Vollschleiers das Gefühl zu haben, ihren Glauben weiter vertiefen zu können, als es ihnen ohne diesen möglich wäre. Der Schleier sei für 83

Bouteldja, S. 130 ff., 135. Bouteldja, S. 137. 85 Brems et al., S. 82. 86 Institut for Tværkulturelle og Religions Studier, Københavns Universitet, Rapport om brugen af niqab og burka, S. 5. 87 Für Belgien vgl. Brems et al., S. 82; für Dänemark vgl. Institut for Tværkulturelle og Religions Studier, Københavns Universitet, Rapport om brugen af niqab og burka, S. 5. 84

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1. Teil: Die Geschichte des muslimischen Gesichtsschleiers

sie Teil ihres Bekenntnisses und ihrer (Selbst-)Verpflichtung, eine bessere Muslima zu sein.88 Er sei Ausdruck einer besonderen Frömmigkeit, zugleich verleihe er ihnen ein Gefühl von Stärke.89 Auch in Frankreich und Großbritannien gaben die Frauen als vorrangige Motivation ihren tiefen Glauben an. Zudem äußerten sie, dass der Schleier ihnen ein Gefühl von Glück und Erleichterung verschaffe. Am häufigsten assoziierten sie „Freiheit“ mit dem Niqab.90 c) Äußere Beweggründe: Mittel des Zugangs zum öffentlichen Raum Einige Frauen in Belgien betonten auch, dass der Schleier für sie eine effektive Möglichkeit darstelle, sich in die Öffentlichkeit zu begeben, ohne die Blicke anderer Menschen, vorrangig von Männern, fürchten zu müssen. In dieser Funktion stellt der Vollschleier ein Mittel für die Frauen dar, ihre private Sphäre zu verlassen und den öffentlichen Raum zu betreten, ohne sich unwohl zu fühlen. Dieses Motiv wurde zum Teil in Kombination, zum Teil gerade als Gegensatz zum Motiv des Verlangens nach einem Ausdruck von eigener Frömmigkeit genannt.91 An dieser Stelle ist aber anzumerken, dass eine solche Motivation wohl eher eine untergeordnete Rolle spielen dürfte – alleinige Motivation kann sie kaum sein. Andere Wege wären denkbar und insbesondere der religiöse Kontext und die religiöse Konnotation lassen darauf schließen, dass ein „Schutz vor den Blicken“ erwünscht ist, gerade weil dies der eigenen religiös geprägten (Sexual-)Moral entspricht. Insofern ist dieser Beweggrund dann wiederum doch eng verknüpft mit dem unter b) dargestellten Wunsch nach Frömmigkeit und Sittsamkeit. In Großbritannien schilderten einige Frauen als initialen Beweggrund zum zumindest erstmaligen Tragen des Vollschleiers Erfahrungen von Belästigungen durch männliche Passanten in der Öffentlichkeit. Mit der Zeit überwiege aber auch bei diesen Frauen die intrinsische religiöse Motivation.92 d) Auswirkungen auf Sozial- und Berufsleben In den in Belgien mit den Vollschleier tragenden Frauen geführten Interviews gaben einige von ihnen an, zum Zeitpunkt ihres Entschlusses den Schleier zu tragen, noch Schülerinnen gewesen zu sein. Einige hätten sich entschlossen, den Schleier beim Betreten der Schule abzulegen, andere hätten sich ab diesem Zeitpunkt für Privatunterricht zuhause entschieden. Einige der Frauen hatten auch

88 89 90 91 92

Moors, Face veiling in the Netherlands, S. 28, 30. Moors, Face veiling in the Netherlands, S. 30. Bouteldja, S. 151. Brems et al., S. 83. Bouteldja, S. 150.

A. Begründungsmodelle der Ganzkörper- und Gesichtsverschleierung

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einen Arbeitsplatz, wenngleich die sozialen Aktivitäten der Interviewten sich insgesamt zum Tätigkeitsspektrum ihrer Rolle als Mutter und Hausfrau zuordnen lassen.93 Andere Ergebnisse zeigten sich hier in den Studien aus Frankreich und Großbritannien: hier wies die überwiegende Zahl der befragten Frauen einen guten Bildungsstand auf und gab an, einer beruflichen Tätigkeit nachzugehen – wobei sie teilweise am Arbeitsplatz auf den Vollschleier verzichteten – oder nachgehen zu wollen.94 Auch in Dänemark und den Niederlanden gaben Frauen an, den Niqab nicht permanent, sondern nur zu besonderen Ereignissen zu tragen oder ihn etwa beim Besuch von Bildungseinrichtungen abzulegen.95 So schilderte es auch die den Niqab tragende französische Beschwerdeführerin im Verfahren S.A.S. gegen Frankreich vor dem EGMR.96 Die Frauen in Dänemark gaben auch an, dass andere Personen davon abgehalten würden oder werden könnten, mit ihnen in Kontakt zu treten oder sie anzusprechen. Auch würden einige Menschen eher den sie begleitenden Mann als sie selbst ansprechen. Umgekehrt gelte dies jedoch nicht, die Frauen selbst würden keine Barriere empfinden, Kontakt zu anderen Menschen aufzunehmen.97 Dennoch würden einige Frauen bemerken, dass der Vollschleier ein Gefühl der Angst bei ihrem Gegenüber auslöse, dass sich erst durch eine Kontaktaufnahme ihrerseits aufheben ließe.98 Auch würden einige den Schleier abnehmen, um mit anderen von Angesicht zu Angesicht zu kommunizieren.99 Gleichwohl bedeutet dies auch, dass ein Zustandekommen dieser Form der auch nonverbalen Kommunikation im Belieben der jeweiligen Niqab tragenden Frau liegt oder in der Praxis zumindest den Studienergebnisse zufolge vorrangig auf ihrer Initiative beruht. Nichtsdestotrotz zeigen die Ergebnisse der Studien, dass alle Frauen soziale Begegnungen und Kommunikation mit Fremden im Alltag erleben.100

IV. Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich damit festhalten, dass soziale, religiöse und gesetzlich verankerte Bekleidungsvorschriften und -normen kein neues Phänomen 93

Brems et al., S. 96. Bouteldja, S. 123. 95 Institut for Tværkulturelle og Religions Studier, Københavns Universitet, Rapport om brugen af niqab og burka, S. 5; Moors, Face veiling in the Netherlands, S. 26. 96 EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffer 12. 97 Vgl. Interviewauszüge bei Brems et al., S. 98 f. 98 Brems et al., S. 99. 99 Ebenda. 100 Brems et al., S. 101, mit dem Hinweis, dass diese Ergebnisse sich jedoch auf die Zeit vor Inkrafttreten des belgischen Verbotsgesetzes beziehen. 94

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1. Teil: Die Geschichte des muslimischen Gesichtsschleiers

darstellen. Die Geschichte der Verschleierung der Frau reicht bis ins vorislamische Zeitalter zurück. In der historischen Fülle von staatlichen und religiösen Verboten und Geboten finden sich nahezu unzählige Begründungsmodelle zur Ver- und Entschleierung der Frau. Religiöse, soziale, patriarchale, politische und moralische Aspekte können je nach Akteur und Ziel Begründung und die Normen staatlicher, sozialer oder religiöser Natur sein. Während damals wie heute eine von außen auferlegte Bekleidungsnorm häufig Aspekte von Sittsamkeitsund Moralvorstellungen aufgreift, können intrinsische Motivationen und Begründungen seitens der Frauen selbst für eine Verschleierung vielfältiger Art sein. Sie können in einem Wunsch nach Abgrenzung zur Außenwelt liegen oder in dem Wunsch nach besonders gesteigerter Zugehörigkeit zu einem Glauben oder einer Gruppe von Gläubigen und einem Wunsch nach Ausdruck besonderer Frömmigkeit. Sie können in dem Wunsch nach einem Gefühl von Stärke und Selbstsicherheit bestehen oder – wie in einem Fall – auch in der Sorge vor den Konsequenzen eines Ablegens des Schleiers. Dieser Fall ist entgegen der Studienzusammenfassung von Bouteldja aber nach hier vertretener Auffassung auch als ein Fall von wenigstens mittelbar wirkendem Zwang aufzufassen. Es lässt sich gleichwohl feststellen, dass im Rahmen der Studien zur eigenen Motivation zur Vollverschleierung von Frauen in Europa zwar die Abgrenzung zur Außenwelt als initialer Beweggrund in einigen Fällen auftrat, die Motivation zum Tragen des Vollschleiers über einen längeren Zeitraum bei allen Frauen aber in einem religiösen Selbstverständnis wurzelt.

B. Das Verhältnis von Staat und Religion in Frankreich und der Islam Wurde im vorangegangenen Kapitel die Geschichte und Hintergründe des muslimischen Schleiers beleuchtet, so soll nun der Islam und die Thematik seiner religiösen Symbole in den französischen Kontext gesetzt werden und die dortige rechtliche Integration des Islam – und damit auch der muslimischen Religionsausübung – in den Blick genommen werden. So soll der Rahmen und Raum komplettiert werden, in den das Verbotsgesetz von 2011 als erstes allgemeines Verbotsgesetz hinsichtlich des Tragens des Vollschleiers in Europa einzuordnen ist. Nur dann können Details der Gesetzgebungsgeschichte, der Regelung selbst und späterer Rechtsprechung sowie Reaktionen richtig analysiert und bewertet werden. Erforderlich sind mithin eine Betrachtung der religionsund verfassungsrechtlich relevanten Normen im Allgemeinen sowie des Umgangs mit Muslimen in rechtlicher und gesellschaftspolitischer Hinsicht im Besonderen.

B. Das Verhältnis von Staat und Religion in Frankreich und der Islam

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I. Grundsätze und Rechtsquellen 1. Der Begriff „laïcité“ Frankreich ist ein säkularer laizistischer Staat. Der französische Begriff der „laïcité“ wird in dieser Arbeit mit „Laizität“ übersetzt, auch wenn es um diese Terminologie Uneinigkeit gibt.101 Es überzeugt jedoch, den Begriff des Laizismus hier aufgrund dessen feindseliger Konnotation nicht im Sinne der laïcité zu verwenden. Wie A. Müller darstellt, ist der Begriff Laizismus eher dem französischen laïcisme zuzuordnen und dann tauglich, wenn eine ideologische Strömung benannt werden soll, die die kämpferisch-antiklerikale Komponente des Ursprungs des Begriffs beinhaltet.102 In Abgrenzung dazu wird in der vorliegenden, das Verfassungsprinzip behandelnden Arbeit von Laizität gesprochen bei gleichzeitigem Bewusstsein, dass Lesart und Übersetzungen je nach Kreis der Akteure und Disziplin variieren und anders begründet werden können.103 Nach Müller ist eine taugliche Übersetzung des Adjektivs laïc/laïque auch „säkular“ oder „weltanschaulich neutral“.104 In den Urteilen des EGMR, die offiziell in französischer und englischer Sprache ergehen, wird das französische principe de laïcité regelmäßig mit principle of secularism wiedergegeben.105 Wie Pesch mit Verweis auf den Soziologen und Historiker Baubérot aber zurecht anmerkt, ist die Terminologie der sécularité im französischen Raum nicht synonym mit laïcité zu verwenden. Während letzteres die Rolle der Religion gegenüber dem Staat beschreibe, sei sécularité Ausdruck eines Verlusts sozialer Relevanz der Religion im weltlichen Kontext.106 2. Religionsrecht in Frankreich Dem vorherrschenden sehr allgemeinen Verständnis des französischen Laizitätsregimes zufolge ist Religion Privatsache und eine Angelegenheit des zivilen Individuums und ziviler Vereinigungen, nicht aber des Staates und seiner Institutionen. Eine konkretere allgemein in der Forschung vertretene Definition fehlt jedoch bis heute.107 Die laïcité stellt vielmehr einen komplexen Ordnungsrahmen der französischen Gesellschaft und ein Produkt französischer Geschichte dar, das 101

Ausführlich dargestellt bei Müller, A., Wie laizistisch ist Frankreich wirklich?, S. 70 ff. 102 Müller, A., Laizität und Zivilreligion in Frankreich, S. 142 f. 103 Dazu ausführliche Übersicht bei Pesch, S. 27 f., der etwa auf die verschiedenen laïcité-Begriffe und Kategorien des Politikwissenschaftlers Olivier Roy eingeht. Auch Müller verdeutlicht, dass der Begriff der Laizität vielschichtig sein kann und mit verschiedenen Auffassungen von Idealen, Ideen, Konzepten und Systementwürfen aufgeladen ist, vgl. Müller, A., Laizität und Zivilreligion in Frankreich, S. 142 f. 104 Müller, A., Laizität und Zivilreligion in Frankreich, S. 142 f. 105 Pesch, S. 27. 106 Pesch, a. a. O.; Baubérot, S. 56. 107 Almeida, S. 11.

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1. Teil: Die Geschichte des muslimischen Gesichtsschleiers

bis heute für juristische, politische und philosophische Auseinandersetzungen sorgt. Ihre Auslegung und Deutung sind höchst umstritten. So ist etwa die Auffassung, Religion sei ausschließlich Privatsache und nur im privaten Raum zuzulassen, nur eine Auffassung von mehreren und dem Neorepublikanismus zuzuordnen. Der Streit um Definition, Auslegung und Inhaltsbestimmung des Laizitätskonzepts wird im weiteren Verlauf dargestellt werden (B. I. 3.). Die Laizisierungsprozesse in Frankreich verliefen etappenweise. Die Idee der Laizität spielte zwar vor allem 1905 beim Beschluss des Gesetzes zu Trennung von Kirche und Staat108 eine entscheidende Rolle. Die Trennung von Staat und Religionen hat ihren Ursprung aber bereits in der französischen Revolution 1789 und der napoleonischen Zeit der Dritten Republik (1871–1940). Das Ende des 18. Jahrhunderts und das gesamte 19. Jahrhundert waren geprägt von rivalisierenden und zum Teil gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen geistlichen und staatlichen Kräften, zwischen Vertretern der „alten Ordnung“ und der „neuen Ordnung“, wobei letztere versuchten, die Werte der Revolution von 1789 zu etablieren.109 Ziel der letztlich erfolgreichen Befürworter des Gesetzes von 1905 war es, den Einfluss der Kirchen in staatlichen Angelegenheiten zu beenden und stattdessen ein aufklärerisches Modell im Sinne der Revolution durchzusetzen, mithin eine Entkonfessionalisierung staatlicher Institutionen zu erreichen. Gleichzeitig sollte das Gesetz die Auseinandersetzungen durch die strikte Trennung der beiden Bereiche nachhaltig beenden. Die Befürworter der „Trennung“ waren ihrerseits aber dennoch keine homogene Gruppe mit einheitlichen Vorstellungen. Neben den genannten und letztlich erfolgreichen Vertretern einer liberaleren Lösung in Form der staatlichen Neutralität verbunden mit dem Grundsatz der Nichtanerkennung, gab es auch stärker anti-klerikal geprägte Bestrebungen, die die katholische Kirche gezielt finanziell und institutionell schwächen wollten.110 Die katholische Kirche sollte an Bedeutung in der Gesellschaft verlieren. Die entsprechenden Initiativen fanden in das Gesetz von 1905 jedoch keinen Eingang.111 Auch vor diesem Hintergrund sollte der Genauigkeit wegen heute nicht von Laizismus, sondern akonfessioneller Laizität gesprochen werden. (vgl. oben unter B. I. 1.). 108 Loi du 9 décembre 1905 concernant la séparation des Eglises et de l’État. Das Gesetz gilt allerdings nicht in Elsass-Lothringen und Moselle, die bei Verabschiedung des Gesetzes noch unter deutscher Herrschaft standen, sowie auch nicht in den die Übersee-Départements Martinique, La Réunion und Guadeloupe. 109 Basdevant-Gaudemet, Staat und Kirche und Frankreich, S. 172 ff. unter ausführlicher Darstellung verschiedener Gesetze und Dekrete aus dieser Zeit. 110 Almeida, S. 15. 111 Almeida, a. a. O., verweist hierbei insbesondere auf einen Gesetzesentwurf vom 7. April 1903, der eine Vermietung verstaatlichter religiöser Gebäude an Glaubensgemeinschaften vorsah. Dies hätte zu einer enormen finanziellen Belastung für die Kirchen geführt. Ein anderer Entwurf vom 10. November 1904 sah die zahlenmäßige Begrenzung von Kultvereinen auf Département-Ebene vor, was zu Aufspaltungen und damit zu schwindender Relevanz hätte führen können, Almeida, a. a. O.

B. Das Verhältnis von Staat und Religion in Frankreich und der Islam

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Das Prinzip der Laizität umfasst zwei wesentliche Aspekte, die in Art. 1 und 2 des Gesetzes von 1905112 normiert sind, wenngleich der Begriff laïcité selbst nicht auftaucht: Art. 1 garantiert jedem Bürger Gewissensfreiheit und das Recht auf Ausübung seiner Religion in den Grenzen der öffentlichen Ordnung. Art. 2 schreibt vor, dass der Staat Religionsgemeinschaften nicht anerkennt, finanziert oder subventioniert. Laïcité kann damit als ein staatliches Konzept öffentlicher Ordnung begriffen werden, das den Bürgerinnen und Bürgern gerade (auch) die Religionsausübung ermöglichen soll und dazu den nötigen Schutz etwa vor Proselytismus und äußerem Druck, sich zu einer bestimmten Religion bekennen zu müssen, bietet. Insoweit kommen dem Staat auch positive Pflichten zu. Folglich ist ein Verständnis von laïcité im Sinne eines schlichten Ausschlusses der Religionen aus dem öffentlichen Raum zu unpräzise und oberflächlich. In der Verfassung findet das Prinzip der Laizität erstmals 1946 Erwähnung, wenn auch nicht unmittelbar ausdrücklich durch das Substantiv laïcité, sondern in Form des Adjektivs.113 Dort heißt es in Art. 1: „La France est une République indivisible, laïque, démocratique et sociale.“ (dt.: Frankreich ist eine unteilbare, laizistische, demokratische und soziale Republik). Dieser Grundsatz verpflichtet den Staat zu konfessioneller Neutralität und Gleichbehandlung (bzw. „Nicht-Behandlung“) der Religionsgemeinschaften. Auch die Religionsfreiheit ist verfassungsrechtlich geschützt. In der Präambel seiner Verfassung bekennt sich Frankreich zur Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, in deren Art. 10 die Gewissensfreiheit garantiert ist. Dieser Verweis ist typisch für die Systematik der Verfassung von 1958. Der Conseil Constitutionnel entschied 1971, dass die Präambel der Verfassung selbst auch Verfassungsrang hat und mithin auch die Menschen- und Bürgerrechte aus der Erklärung von 1789, auf die sie verweist.114 Folglich ist die Gewährleistung der dort in Art. 10 verankerten Gewissensfreiheit ein Grundrecht mit Verfassungsrang. Verfassungsrechtlich essentiell für das Recht auf Religionsfreiheit ist zudem Art. 2 der Verfassung. Nach Art. 2 S. 2 der Verfassung achtet der Staat alle Glaubensrichtungen, gem. Art. 2 S. 1 der Verfassung wird die Gleichbehandlung aller Bürger vor dem Gesetz ohne Unterschiede im Hinblick auf unter anderem die Religion sichergestellt. Dieser Gleichbehandlungsgrundsatz ist damit zu-

112 In den Regionen Elsass-Lothringen und Moselle existiert dagegen bis heute ein Modell der Anerkennung von Religionsgemeinschaften, in dem es eine Kirchensteuer gibt und die Geistlichen vom Staat bezahlt werden. Auch gibt es hier Religionsunterricht an staatlichen Schulen, der Staat ist außerdem zuständig für die Unterhaltung der katholischen und evangelischen Fakultäten an der Universität Straßburg. 113 Woehling sieht hierin eine ausdrückliche Erwähnung des Prinzips, vgl. Woehling, S. 179. Dies ist jedoch ungenau und lässt einen um den Begriff der Laizität bestehenden Definitionsstreit sämtlicher wissenschaftlicher Disziplinen außer Acht, bei dem der juristische Terminus aber durchaus ein Ansatz sein kann. 114 Conseil Constitutionnel, Décision nº 71-44 DC du 16 juillet 1971.

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1. Teil: Die Geschichte des muslimischen Gesichtsschleiers

gleich ein Diskriminierungsverbot aufgrund der Religion.115 Weitere Bezugspunkte für die Religionsfreiheit finden sich in der Verfassung nicht. Art. 1 des Gesetzes von 1905 verpflichtet den Staat überdies einfachgesetzlich zum Schutz der Glaubensfreiheit.116 Übergesetzlicher Rang, jedoch kein Verfassungsrang, kommt gem. Art. 55 der Verfassung von 1958 der EMRK zu, mithin auch der Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK. Die nationalen Gerichte sind verpflichtet, Gesetze auch auf ihre Konformität mit der EMRK zu überprüfen und im Falle eines Verstoßes für rechtswidrig zu erklären.117 Die Trennung von Kirche und Staat in Frankreich ist eine andere als in Deutschland, wenngleich beide Modelle historisch gewachsen sind und durchaus ähnliche Phasen durchlebt haben.118 Der französische Staat ist an religiösen Angelegenheiten grundsätzlich nicht beteiligt. Religionsgemeinschaften werden grundsätzlich nicht staatlich anerkannt und genießen dementsprechend grundsätzlich auch keinen spezifischen Körperschaftsstatus. Auf der anderen Seite nehmen Religionsgemeinschaften keine staatlichen Aufgaben wahr und werden aus staatlichen Verantwortungsbereichen weitestgehend ausgeschlossen: Es gilt grundsätzlich das Institut der Nichtanerkennung von Glaubensgemeinschaften seitens des Staates gem. Art. 2 des Gesetzes von 1905. Folglich kommen den Religionsgemeinschaften auch nicht die mit einer Anerkennung als Körperschaften des öffentlichen Rechts möglicherweise verbundenen Privilegien zu. An staatlichen Schulen in Frankreich gibt es keinen Religionsunterricht, Religionsgemeinschaften dürfen nicht in Rundfunkbeiräten sitzen, dürfen keine Steuern erheben und werden selbst nicht vom Staat finanziell unterstützt.119 Der Staat erkennt jedoch christliche Feiertage an, muslimische und jüdische dagegen nicht. Dass

115 Ein Verbot von Diskriminierung aufgrund der Religion findet sich auch in der Präambel der Verfassung von 1946: „Nul ne peut être lésé, dans son travail ou dans son emploi, en raison de ses origines, de ses opinions ou de ses croyances.“ (dt.: Niemand darf bei seiner Arbeit oder Anstellung wegen seiner Abstammung, seiner Überzeugung oder seines Glaubens geschädigt werden. – Übersetzung von Kimmel/Kimmel, Die Verfassungen der EU-Mitgliedsstaaten, Textausgabe, S. 194.) Die Präambel der Verfassung von 1946 genießt ebenfalls Verfassungsrang, vgl. Ganz, S. 47. 116 Zum Teil wird vertreten, dass der Conseil Constitutionnel auch dem Art. 1 des Gesetzes von 1905 Verfassungsrang zuerkannt hat, indem er zusätzlich zu dem der Glaubensfreiheit bereits durch die Präambel der Verfassung von 1958 i.V. m. Art. 10 der Erklärung über die Menschen- und Bürgerrechte von 1789 garantierten Verfassungsrang den Status eines fundamentalen Verfassungsprinzips zugestanden hat, Heun, ZevKR 2004 (49), 275; dem folgend auch Ganz, S. 48. 117 Ganz, a. a. O. 118 Anders als in Deutschland waren die weltlichen Aufklärungsbestrebungen in Frankreich aber deutlich feindlich-antiklerikaleren Charakters. Für einen ausführlicheren Vergleich zur Entwicklung der beiden heutigen Modelle vgl. Ziegler, S. 143 ff. 119 Anders nur in den Regionen Elsass-Lothringen und Moselle, in denen das Gesetz von 1905 nicht gilt.

B. Das Verhältnis von Staat und Religion in Frankreich und der Islam

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die tatsächliche Ausgestaltung des säkularen laizistischen Prinzips in Frankreich aber nicht allumfassend strikt und – auch durch die Geschichte bedingt – nicht immer vollständig neutral ist, sondern auch zahlreiche Kompromisse vor allem gegenüber der katholischen Kirche gegenüber beinhaltet, dass es durchaus Dialoge und Zusammenarbeit auf politischer Ebene gibt, werden die folgenden Abschnitte zeigen. 3. Definitions- und Auslegungsstreit zur laïcité Die französische Laizität ist ein komplexes Konzept. Über ihre Bedeutung für die nationale französische Identität nach den lang währenden Auseinandersetzungen vom 18. bis ins 20. Jahrhundert herrscht Einigkeit.120 Baubérot hat dies einmal durch die Formulierung beschrieben, die Laizität und der Republikanismus seien mittlerweile selbst zu einer Art „säkularen Religion“ Frankreichs geworden.121 Um die Auslegung des „vielschichtigen wandlungsfähigen Begriffs der laïcité“ 122 und die daraus folgenden Fragen der konkrete Ausgestaltung und Umsetzung der Laizität besteht dagegen ein intensiver Streit. Bis heute hat der Conseil d’État123 als oberstes Verwaltungsgericht Frankreichs keine Definition vorgenommen. Der Conseil d’État nimmt als rechtsprechendes Organ aber seit einigen Jahren eine Vorreiterrolle bei der Auflockerung des Laizitätskonzepts ein und hat mehrfach die positive Religionsfreiheit gegen eine strenge und ausgrenzende Laizität verteidigt.124 Auch die Gesetzgebungsmaterialien zur Verfassung geben kei120

Laborde, Constellations 9 (2002) issue 2, 163 (178). Baubérot, BYU Law Review (2003) issue 2, 451 (460). 122 Müller, A., Wie laizistisch ist Frankreich wirklich?, S. 71. Kursive Hervorhebung durch die Verfasserin. 123 Der französische Conseil d’État findet im deutschen Staatsorganisationsrecht und Institutionengefüge keine Parallele, vgl. Vollmer, S. 1. Die Geschichte dieses Gremiums reicht in ihren Anfängen zurück bis ins hohe Mittelalter. Seine heutige Form geht auf die napoleonische Verfassung von 1799 zurück, Vollmer, S. 5. Trotz einiger Änderungen bezüglich seiner Zuständigkeiten wurde die Funktion des Conseil d’État durch keine der rund 30 teils entworfenen, teils beschlossenen Verfassungen im 19. und 20. Jahrhundert wesentlich in Frage gestellt. Dem Conseil d’État kommt innerhalb der staatlichen Organe noch immer eine „Doppelfunktion“ (Müller, W., DRiZ 1983, 210) zu, indem er einerseits der Regierung, mithin der Exekutive, als beratendes Gremium in Rechtsfragen zur Seite steht, andererseits aber auch als oberstes Verwaltungsgericht tätig wird. Seit 1983 ist er kein Berufungsgericht mehr, sondern nur noch Revisionsinstanz, vgl. Giquel, S. 608. Der Conseil d’État ist damit ein gewissermaßen die Gewaltenteilung durchbrechendes Organ, vgl. Müller, W., DRiZ 1983, 210. Der Conseil d’État diente anderen Ländern als Vorbild bei der Einrichtung von beratenden Organen. Er ist kein reines Alleinstellungsmerkmal des französischen Staatsorganisationsrechts und Institutionengefüges. So gibt es in den Niederlanden den Raad van State, in Belgien den belgischen Raad van State/Conseil d’État und Italien verfügt über den Consiglio di Stato. In seiner jetzigen Form und Funktion besteht der Conseil d’État seit 1945, mit der Einschränkung, dass ihm die Verwaltungsgerichtsbarkeit bis 1953 ausschließlich oblag und erst danach 41 erstinstanzliche Verwaltungsgerichte sowie acht Verwaltungsberufungsgerichte eingerichtet wurden. 124 Müller, A., Wie laizistisch ist Frankreich wirklich?, S. 72. 121

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1. Teil: Die Geschichte des muslimischen Gesichtsschleiers

nen weiteren Aufschluss. Zur Definitionsproblematik des unscharfen Begriffs der Laizität mag auch beigetragen haben, dass er häufig eher als ein politischer, praxisorientierter Slogan im Lichte der vergangenen Kämpfe denn als bzw. für ein eigenständiges und eindeutiges philosophisches, juristisches und politisches Konzept verwendet wurde.125 In der Folge sollen hier nicht alle in der jüngeren Geschichte unternommenen Definitionsversuche dargestellt werden, sondern mit den von A. Müller und Almeida entworfenen Differenzierungskriterien eine Unterscheidung anhand der Frage vorgenommen werden, ob Laizität als ein Konzept mit rechtlichem und philosophischem Gehalt begriffen werden muss, das wiederum in eine moralische Gesamtkonzeption einzubetten und einer religiösen Doktrin überlegen ist, oder selbst ein eigenes politisches Ordnungsinstrument mit Kooperationsmöglichkeiten darstellt.126 Im Kern der Problematik steht die Frage, wie absolut die Trennung von Staat und Religion zu verstehen ist und welche Kooperationen und Interventionen andererseits möglich sein können, solange die Neutralität gewahrt bleibt. Die Konsequenzen der jeweiligen Ergebnisse in den rechtsphilosophischen und rechtspolitischen Diskursen sind dabei weitreichend und betreffen zahlreiche politische, aber auch private Bereiche. a) Geschlossene oder republikanische Auslegung Vertreten wird einerseits eine streng republikanische Sichtweise. Nach dieser ist die Laizität nicht nur in ihrer rechtlichen, sondern auch philosophischen Substanz zu begreifen und umzusetzen. Das Laizitätsprinzip ist danach schlechthin konstituierend für die Republik, ohne sie ist Republikanismus nicht denkbar. A. Müller beschreibt dies als „Konsubstanzialität von Republik und Laizität“.127 Nicolet nennt die Laizität ein „zwingendes Attribut der öffentlichen Institutionen“.128 Vertreter dieser Lesart verlangen nach Müller eine äußerst strenge Trennung von Staat und Religionen, einen „radikalen Ausschluss jeder möglichen denkbaren Bezugnahme des Staates auf eine göttliche Transzendenz“.129 Der tägliche Einsatz eines jeden für die deutliche Abgrenzung einer politisch-öffent-

125

Laborde, Constellations 9 (2002) issue 2, 163 (178). Müller, A., Wie laizistisch ist Frankreich wirklich, S. 73 ff.; Almeida, S. 28 ff. Wie Letzterer aufzeigt werden zur Beschreibung der beiden Hauptströmungen häufig dichotome Begriffspaare verwendet. So werden Laizitätsverständnisse einander als offenes und geschlossenes Konzept, liberal-pluralistisches und republikanisches Verständnis oder als liberale Laizität und einem im emanzipatorischen Aufklärungsideal verankerten Laizismus gegenübergestellt. Almeidas Ausführungen sollen sodann auch nicht weitere Begriffspaare schaffen, sondern eine konzeptuelle Grundlage zur Analyse liefern, bei der er die beiden unterschiedlichen Lesarten der Laizität als substanziell bzw. prozedural bezeichnet, vgl. Almeida, S. 28. 127 Müller, A., Wie laizistisch ist Frankreich wirklich?, S. 73. 128 Nicolet, S. 106. 129 Müller, A., Wie laizistisch ist Frankreich wirklich, S. 73. 126

B. Das Verhältnis von Staat und Religion in Frankreich und der Islam

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lichen von einer religiös-privaten Sphäre gehört für Neorepublikaner zur Bürgerpflicht.130 Hier kann auch die oben genannte Aussage Baubérots eingeordnet werden, der eine „Sakralisierung“ des Laizitätsprinzips und der Republik selbst beschreibt. Die Laizität stellt nach dieser Lesart einen Bestandteil eines umfassenden gesellschaftlichen Gesamtkonzepts von Moral und zugleich für sich eine eigene Moralkonzeption mit eigener rechtlicher und philosophischer Substanz dar.131 b) Pluralistisch-liberale Auslegung und Verständnis als „positive Neutralität“ Gestützt auf verschiedene Denktraditionen, die allesamt Einfluss auf die Entstehung des Laizitätsprinzips genommen haben – auch solche, die ihren Ursprung in der Kirche hatten132, kritisiert Pierre Kahn, dass ein antiklerikales Laizitätsverständnis, welches religiöse Wertvorstellungen als unemanzipatorisch kennzeichnet und für unterlegen hält, die Laizität selbst zu einer spezifischen Doktrin erhebt, die unvermeidbar im Widerstreit zu anderen in der Gesellschaft vertretenen Vorstellungen des guten Lebens stehen muss. Würden aber bestimmte Weltanschauungen als generell unterlegen erachtet, könne auch die Laizität als eigenständiger Wert innerhalb der Gesellschaft keine Universalität beanspruchen.133 Stattdessen soll sich nach Auffassung der Vertreter einer offenen und pluralistischen Lesart die Laizität aus dem Grundsatz der Gewissensfreiheit ableiten. Dem Staat ist es dabei verwehrt, eine Anschauung – religiös oder nichtreligiös – zu begünstigen, sondern ihm kommt die Aufgabe zu, zu gewährleisten, dass jedes Individuum seine Vorstellung von einem guten Leben individuell verwirklichen kann.134 Gleichzeitig sei dies wiederum nicht mit völliger Wertneutralität des Staates gleichzusetzen, sodass staatlicherseits eine Favorisierung des Säkularismus genauso möglich sei wie Asymmetrien hinsichtlich der Behandlung von unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften.135 Almeida fasst diesen Ansatz zusammen, indem er anmerkt, dass auch dieser in sich nicht frei von Wertvorstellungen sei, er aber zurückgehend auf Rawls Gerechtigkeitskonzeptionen eine Deutung der Laizität darstelle, „die von jedem vernünftigen Anhänger einer vernünftigen Doktrin verstanden und akzeptiert werden könne“.136

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Müller, A., Wie laizistisch ist Frankreich wirklich, S. 74. Almeida, S. 28; Müller, A., a. a. O. 132 Almeida, S. 56. 133 Kahn, SPIRALE Revue de recherches en éducation (2007) nº 39, 29 (33). 134 Kahn, a. a. O. 135 Ausgehend von Kahns Ansatz findet sich hierzu eine ausführliche Herleitung und Einordnung bei Almeida, S. 57 ff. 136 Almeida, S. 57. 131

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1. Teil: Die Geschichte des muslimischen Gesichtsschleiers

II. Organisation und rechtlicher Status der Glaubensgemeinschaften Religionsgemeinschaften in Frankreich haben keine einheitliche Rechtsform, sondern können verschiedene vereinsrechtliche Organisationsformen erlangen. Die Glaubensgemeinschaften in Frankreich haben mithin durchaus unterschiedliche Rechtsformen.137 Dabei handelt es sich jedoch nicht um rechtliche Status, die den Religionen bzw. einer gesamten Kirche oder Religionsgemeinschaft als solcher allgemein staatlicherseits zuerkannt werden, sondern um Rechtsformen, die einzelne Gruppen, Organisationen oder Institutionen der Gemeinschaft nach bestimmten Vorschriften erlangen können.138 1. Organisation in Kultvereinen Titel IV des Gesetzes von 1905 sieht vor, dass Religionsgemeinschaften zur Ausübung ihres Glaubens und zur sonstigen internen (insbesondere finanziellen) Organisation Kultvereine („associations cultuelles“) gründen sollen.139 Diese Kultvereine sind juristische Personen des Privatrechts und ähneln eingetragenen Vereinen nach dem Vereinigungs- und Koalitionsgesetz von 1901.140 Dennoch weist diese Rechtsform einige Besonderheiten auf: die Kultvereine dürfen gem. Art. 19 des Gesetzes von 1905 ausschließlich den Zweck der Religionsausübung verfolgen und unterliegen diesbezüglich der Kontrolle der staatlichen Verwaltung.141 Das beim Innenministerium angesiedelte Bureau Central des Cultes wacht darüber, dass Kultvereine tatsächlich nur den Zweck der Religionsausübung verfolgen und sich innerhalb der Grenzen der ordre public (dt.: öffentlichen Ordnung) bewegen. Letzteres ist ein ungeschriebenes Kriterium für die Anerkennung als Kultverein, das der Conseil d’État entwickelt hat.142 Gleichzeitig können Kultvereine anders als eingetragene Vereine steuerliche und sonstige 137 In den Gebieten Elsass und Lothringen sind vier Religionsgemeinschaften sogar öffentlich-rechtlich anerkannt: die katholische Kirche, zwei protestantische Kirche und das Judentum, Walter, S. 219. 138 Basdevant-Gaudemet, Staat und Kirche in Frankreich, S. 177. 139 Gem. Art. 4 des Gesetzes von 1905 sollte das bewegliche und unbewegliche Vermögen der Kirchen binnen eines Jahres ab Inkrafttreten des Gesetzes auf diese Kultvereine übertragen werden. 140 Walter, S. 219. 141 Walter, S. 219 f. 142 Walter, S. 227. Ausgangspunkt war eine Entscheidung des Conseil d’État aus dem Jahr 1985, in der dieser den Zeugen Jehovas die Anerkennung als association cultuelle verweigerte, obwohl jene durchaus ausschließlich religiöse Zwecke verfolgten. Walter verdeutlicht, dass der Conseil d’État mithin die Anerkennung nicht deshalb verweigerte, weil außerreligiöse Zwecke zu erkennen seien, sondern gerade die religiösen Zwecke ihrem Inhalt nach eine Ablehnung begründeten. Folglich habe der Conseil d’État hier erstmals eine inhaltliche Bewertung einer Religion vorgenommen.

B. Das Verhältnis von Staat und Religion in Frankreich und der Islam

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finanzielle Vorteile genießen.143 Die spezialgesetzlichen Ausgestaltungen bezüglich ihres rechtlichen Status führen somit zu einer von anderen nach dem Gesetz von 1901 gegründeten eingetragenen und nicht eingetragenen Vereinen abweichenden und durch bestimmte Rechte wie auch Beschränkungen gekennzeichneten Position. Gem. Art. 18 des Gesetzes von 1905 müssen auch die Kultvereine gem. Art. 5 ff. des Vereinigungs- und Koalitionsgesetzes von 1901 gegründet werden, wobei die Regelungen des Gesetzes von 1905 vorrangige Anwendung finden. Gem. Art. 20 des Gesetzes von 1905 können die Religionsgemeinschaften einen Antrag auf Anerkennung ihrer Strukturen und Organisation als Kultverein stellen gem. Art. 7 des Ausführungsdekrets vom 16. August 1901 zum Vereinigungsund Koalitionsgesetz. Zuständig für die Prüfung des Antrags ist der Conseil d’État. Er prüft nach dem Gesetz von 1905 nicht nur, ob die oben genannten Voraussetzungen des ausschließlichen Zwecks der Religionsausübung und die Einhaltung der ordre public vorliegen, sondern auch, ob die Mitglieder der Glaubensgemeinschaft regelmäßig in förmlichen Zeremonien zusammenkommen, die Gemeinschaft schon über einen gewissen Zeitraum besteht und ob das Bekenntnis allgemeine Prinzipien zum Inhalt hat. Kultvereine wurden in Frankreich von der protestantischen Kirche und dem Judentum gebildet.144 2. Organisation der katholischen Kirche in Diözesanvereinen Etwas anderes gilt für die katholische Kirche. Diese verweigerte 1905 die Anerkennung und Umsetzung des Gesetzes zur Trennung von Kirche und Staat unter anderem wegen der Befürchtung, es könnten sich zahlreiche Kultvereine gründen, die sich zwar auf die katholische Kirche berufen würden, aber nicht von ihr kontrolliert werden könnten.145 Papst Pius bekräftigte diese Position am 11. Februar 1906 durch die Enzyklika Vehementer nos.146 Kurz vor Ablauf der Jahresfrist aus Art. 4 des Gesetzes von 1905, binnen derer das Vermögen der katholischen Kirche auf (erst zu gründende) Kultvereine hätte übertragen werden 143 Die associations cultuelles sind seit Inkrafttreten des Finanzgesetzes von 1960 von Schenkungs- und Erbschaftssteuer befreit, seit 1987 können Spenden an einen Kultverein in bestimmtem Maße von der Einkommens- und Körperschaftssteuer abgezogen werden und Kultvereine sind von der Grundsteuer für solche Gebäude befreit, die der Religionsausübung dienen, vgl. Walter, S. 220. Vgl. im Übrigen auch zur Kirchenfinanzierung von Campenhausen, S. 410. 144 Basdevant-Gaudemet, Staat und Kirche in Frankreich, S. 177. 145 Basdevant-Gaudemet, Staat und Kirche in Frankreich, S. 178. 146 Papst Pius X., Enzyklika vehementer nos, passim. Papst Pius betont zu Beginn der Enzyklika, dass das Trennungsgesetz niemanden überraschen könne, der die Politik der Jahre zuvor verfolgt habe. Er bezieht sich dabei unter anderem ausdrücklich auf die schon zuvor initiierte Laizisierung der Schulen und Krankenhäuser, vgl. ASS 1906 (39), S. 3.

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1. Teil: Die Geschichte des muslimischen Gesichtsschleiers

müssen und nach Ablauf derer auch nur noch Kultvereine hätten Gottesdienste abhalten dürfen, wurde jedoch eine Einigung erzielt, die als „Rückzieher“ 147 von der konsequenten Umsetzung des Trennungsgesetzes gewertet werden kann. Am 2. Januar 1907 wurde ein Gesetz148 verabschiedet, das bestimmte, dass mit Ausnahme der Kirchengebäude das durch das Konkordat von 1802 den Kirchen zur Verfügung gestellte Vermögen wieder auf den staatlichen Eigentümer zurückfallen sollte, sollte kein Kultverein Ansprüche darauf geltend machen. Gleichzeitig bestimmte das Gesetz aber auch, dass die Nutzung von Kirchengebäuden kostenlos und unabhängig von Kultvereinen möglich sein solle.149 Nach dem Ersten Weltkrieg einigten sich Frankreich und der Heilige Stuhl schließlich darauf, dass die katholische Kirche in Frankreich Diözesanvereine gründen könne, die grundsätzlich Kultvereine im Sinne der Gesetze von 1901 und 1905 sind.150 3. Organisation in eingetragenen, nicht eingetragenen oder gemeinnützigen Vereinen Darüber hinaus können sich die Religionsgemeinschaften auch als eingetragene (association déclarée), nicht eingetragene (association de fait) oder gemeinnützige Vereine (association d’utilité publique) nach dem Gesetz von 1901 organisieren. Möglich geworden war dies durch das Gesetz vom 2. Januar 1907, das die strenge Kopplung der Religionsausübung an die Organisationsform des Kultvereins gelockert hatte. Im Unterschied zu den Kultvereinen nach dem Gesetz von 1905 dürfen Vereine nach dem Gesetz von 1901 i.V. m. dem Gesetz von 1907 auch andere Zwecke als religiöse verfolgen, etwa soziale oder erzieherische. Andererseits genießen sie die (z. B. steuerlichen) Vorteile der Kultvereine nicht. Art. 238b des Allgemeinen Steuergesetzbuches erlaubt zwar immerhin Unternehmen und Einzelpersonen, den Betrag einer Spende an eine gemeinnützige Organisation von Gewinnen und Einkünften anzusetzen. Damit die Spendenden diese Vorteile genießen, ist die Anerkennung der Gemeinnützigkeit aber Voraussetzung.151 Wie von Campenhausen richtig anmerkt, liegt hierin auch eine Durchbrechung der Nichtanerkennung von Religionsgemeinschaften „durch die Hintertür“: zwar wird die Religionsgemeinschaft nicht selbst anerkannt und bedarf dieser Anerkennung zu ihrer Existenz auch nicht, die finanziellen Folgen

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von Campenhausen, S. 402. Loi du 2 janvier 1907 concernat l’exercice publique des culte. 149 von Campenhausen, S. 403. 150 Basdevant-Gaudemet, Staat und Kirche in Frankreich, S. 178. Der Conseil d’État bestätigte die Vereinbarkeit dieser Vereinbarung (Modellstatut) mit den Gesetzen von 1905 und 1901, Basdevant-Gaudemet, S. 179. Vgl. ebenda ausführlicher zu den gleichwohl bestehenden Unterschieden zwischen Kultvereinen und Diözesanvereinen. 151 von Campenhausen, S. 410. 148

B. Das Verhältnis von Staat und Religion in Frankreich und der Islam

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sind aber wiederum abhängig von der Anerkennung der Gemeinnützigkeit durch den Staat.152 Nicht eingetragenen Vereinen gemäß dem Gesetz von 1901 fehlt sogar die Rechtspersönlichkeit.153 Die meisten muslimischen Gemeinden sind als eingetragene Vereine nach dem Gesetz von 1901 organisiert.

III. Rechtliche Integration des Islam in Frankreich Als das Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat 1905 verabschiedet wurde, verlief die konfliktgeladene Spaltung der Gesellschaft zwischen republikanischen und geistlichen Vertretern. Das Lager der Religionsvertreter war in sich weitgehend homogen und der Katholizismus die bei weitem vorherrschende Religion. Heute ist dies anders. Die Zahl der in Frankreich lebenden Muslime wurde den Jahren 2007 bis 2015 auf vier bis fünf Millionen geschätzt.154 Nach Untersuchungen des privaten Forschungsinstituts Montaigne aus dem September 2016 liegt der Anteil der Muslime an der französischen Bevölkerung bei 5,6 %, bei unter 25-Jährigen bei 10 %.155 Damit ist der Islam zwar die zweitgrößte, aber gleichwohl eine noch relativ junge Religionsgemeinschaft in Frankreich und wurde 1905 bei der Gesetzgebung nicht berücksichtigt. Wie sich aber der Islam und die Organisation muslimischer Gemeinden in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben, war und ist durchaus von Relevanz in Bezug auf seine Sichtbarkeit und die mit dieser Präsenz und Größe der Gemeinschaft wachsenden Forderungen seiner Anhänger nach gleichen Rechten, Partizipation und Mitsprachemöglichkeiten bei gesellschaftspolitischen Themen. Eine Herausforderung besteht in diesem Zusammenhang heute darin festzustellen, inwieweit Privilegien der vormals eher homogenen Gruppe der Gläubigen im heutigen Religionspluralismus auch den nicht-christlichen und nicht-jüdischen Religionsgemeinschaften, insbesondere den Muslimen zugestanden werden sollen oder aus Gründen der Gleichbehandlungspflicht und Vermeidung von Diskriminierung zugestanden werden müssen. Die Auseinandersetzungen haben sich von den Konflikten zwischen Staat und Kirche um Spannungen bezüglich Mitsprache und Mitgestaltung zwischen dem Staat und Muslimen ergänzt und gewandelt.

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von Campenhausen, S. 411. Walter, S. 220. 154 Aufgrund der laizistischen Staatsform wird die Religionszugehörigkeit der Bürger in Frankreich vom Zensus nicht erfasst. Die Daten basieren auf Daten zu Zuwanderung und fremden Staatsangehörigkeiten in Frankreich, wobei zu beachten ist, dass eine stark steigende Anzahl der Muslime in Frankreich (auch) die französische Staatsbürgerschaft hat und/oder in Frankreich geboren wurde, Basdevant-Gaudemet, The Legal Status of Islam in France, S. 97. 155 Institut Montaigne, Un islam français est possible, Rapport Septembre 2016, S. 19. 153

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1. Teil: Die Geschichte des muslimischen Gesichtsschleiers

Um 1870 kamen erste algerische Händler nach Frankreich, ihnen folgten algerische und marokkanische Arbeiter um die Jahrhundertwende. Im Zuge des ersten Weltkriegs kamen zahlreiche weitere Muslime aus den Maghreb-Staaten nach Frankreich, vorrangig deshalb, weil sie in der französischen Armee kämpften, aber auch, um fehlende Fabrikarbeiter zu ersetzen. In der französischen Armee kämpften allein 175.000 Algerier.156 In den darauf folgenden Jahrzehnten unterlag die Zahl der zugewanderten und zuwandernden Menschen aus den Maghrebstaaten Schwankungen, ehe nach der Unabhängigkeit der Kolonien und im Zuge des Anwerbens von Arbeitern aus muslimischen Staaten ab den 1960er eine stetigere Zuwanderung einsetzte.157 In den späten 1970er Jahren wurde der Islam schließlich auch zu einem Thema gewisser Relevanz in der öffentlichen Wahrnehmung und Debatte.158 Dies hatte seinen Grund nicht in einem rasanten Anstieg der Zuwanderungszahlen in dieser Zeit, sondern vielmehr in der Tatsache, dass die bereits eingewanderten Muslime in Frankreich blieben und Familien gründeten, deren Kinder die nach Geburtsort vergebene französische Staatsangehörigkeit erhielten (ius soli), erwachsen wurden und ebenfalls Mitsprache für ihre Religionsgemeinschaft einforderten. Französische Staatsangehörigkeit und muslimischer Glaube standen nicht mehr in einem Alternativverhältnis.159 Die muslimische Gemeinde wurde hör- und sichtbar. Mit dieser Entwicklung ging auch die Notwendigkeit eines Dialogs zwischen staatlichen Stellen und (Vertretern) der muslimischen Gemeinde einher. Die Realisierung dessen erwies sich aufgrund der starken Differenzen und unterschiedlichen Strömungen innerhalb der muslimischen Gemeinde jedoch als konfliktträchtig und mitunter schwierig.160 Nichtsdestotrotz mussten Lösungen zur rechtlichen, gesellschaftlichen und schließlich auch politischen Integration dieser „neuen“ Religionsgemeinschaft gefunden werden. Wie auch die christlichen Religionen und das Judentum war die Rechtsform und der rechtliche Status vor dem Hintergrund des Trennungsgesetzes von 1905 zu sehen und zahlreiche muslimische Gemeinden sind heute als eingetragene Vereine organisiert. Spezielle Probleme ergeben sich hierbei wie zuvor abstrakt dargestellt in finanzieller Hinsicht. Zweck dieser Vereine ist gerade nicht ausschließlich die Religionsausübung, sondern z. B. auch die Errichtung von Koranschulen. Mithin genießen Spender keine Steuervorteile, solange die Gemein156 von Krosigk, S. 9. Die Verbindung von Frankreich zu Muslimen und damit dem Islam hat ihren Ursprung allerdings bereits im 19. Jahrhundert, als Algerien bereits unter französischer Kolonialherrschaft stand und in der Folge auch Tunesien besetzt und unter französisches Protektorat gestellt wurde, Marokko folgte 1911. Auch der Libanon und Syrien unterlagen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwei Jahrzehnte lang französischer Verwaltung. 157 von Krosigk, S. 9. 158 von Krosigk, S. 164. Die Anwerbung fand ca. von 1955–1985 statt; BasdevantGaudemet, The Legal Status of Islam in France, S. 99. 159 Basdevant-Gaudemet, The Legal Status of Islam in France, S. 98. 160 Ebenda.

B. Das Verhältnis von Staat und Religion in Frankreich und der Islam

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nützigkeit des Vereins nicht anerkannt wurde.161 Für den Islam im Allgemeinen bestand und besteht aber auch heute noch innerhalb dieser religionsrechtlichen Systematik eine weitere erhebliche Hürde: Er ist anders als die christliche Kirche gerade nicht einheitlich organisiert. Mehr noch, die muslimische Gemeinschaft in Frankreich ist zwar mehrheitlich dem sunnitischen Islam zuzuordnen, dennoch sind die Unterschiede der einzelnen Strömungen innerhalb dieser diversen Gruppe so wesentlich (insbesondere auch im Selbstverständnis der Muslime), dass es eine große Herausforderung darstellt, überhaupt einen Repräsentanten auszumachen, der für „die muslimische Gemeinde“ sprechen und in den Dialog mit den staatlichen Stellen treten kann.162 Auf eben einem solchen institutionsgeprägten Repräsentationsmodell konfessionalisierter Glaubensgemeinschaften beruht aber das französische Verständnis von Laizität, von Trennung von Kirche und Staat und mithin auch das Gesetz von 1905.163 So konnten sich Muslime zwar organisieren und Organisationsformen nach den oben genannten Gesetzen wählen, einer effiziente Teilhabe an und Mitsprache bei gesellschafts- und religionspolitischen Themen stand aber das Problem der mangelnden Repräsentation im Weg. Entsprechend fehlten auch öffentlichen Stellen und der Politik ein Ansprechpartner. Lösungsmöglichkeiten für das Repräsentationsproblem wurden lange Zeit nicht diskutiert. In den 1970er und 1980er Jahren basierte die Beziehung von Staat und Islam in Frankreich eher auf einem Modell stummer Duldung denn auf Dialog.164 Dies änderte sich 1989. Wie Basdevant-Gaudemet ausführt, wurde die Frage der Repräsentation damals wie auch noch heute unter großem Einfluss der von algerischen Einwanderern dominierten und von Algerien finanzierten Grand Mosquée de Paris165 (GMP, dt.: Große Moschee von Paris) diskutiert, welche jedoch selbst nicht in der Lage war, ein entscheidungsbefugtes und repräsentatives Gremium einzurichten.166 Im Jahr 1989, als auch das muslimische Kopftuch zum Gegenstand öffentlicher Debatte wurde (dazu unten C. I. 1.), lud der damalige Innenminister Pierre Joxe sechs prominente Vertreter zu einem Treffen ein, um über Wege einer besseren Verständigung zwischen den einzelnen Strömungen 161

von Campenhausen, S. 411. Zur Diversität aufgrund von Herkunft, Sprache und Geschichte vgl. Leveau, S. 17. 163 Hervieu-Léger, S. 30. 164 Laurence/Vaïsse, S. 137. 165 Während sämtliche heute relevanten größeren muslimischen Verbände frühestens in der 1980er Jahren gegründet wurden, besteht die GMP bereits seit 1926, vgl. Laurence/Vaïsse, Integrating Islam, S. 101. 166 Basdevant-Gaudemet, The Legal Status of Islam in France, S. 99. Ausführlich zum bedeutenden Einfluss der seit 1982 unter algerischer Aufsicht stehenden Großen Mosche und weiterer muslimischer Vereinigungen auf die muslimischen Gemeinden in Frankreich Klause, S. 73 f. Klause weist dort auch darauf hin, dass die Große Moschee in Angelegenheiten, die den Islam betreffen, eine Beratungsfunktion gegenüber der Regierung wahrnimmt. 162

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1. Teil: Die Geschichte des muslimischen Gesichtsschleiers

zu beraten. Am 9. März 1990 wurde hieraufhin der Conseil de réflexion sur l’islam en France (CORIF; dt.: Rat zur Reflexion über den Islam in Frankreich) gegründet.167 Ob der Zweck der Gründung jedoch tatsächlich eine verbesserte Verständigung war, wird zuweilen bezweifelt. Während Basdevant-Gaudemet in der Gründung einen ernsthaften Versuch der einheitlichen Repräsentation des Islam und ein Gremium zur Dialogführung mit staatlichen Stellen sieht168, verneint Pesch dies und bezeichnet den CORIF vielmehr als ein „informelles und provisorisches Beratungsgremium des Innenministers“ 169, mithin sei eher das Vorhandensein eines Ansprechpartners denn die Repräsentation Beweggrund gewesen. Hervieu-Léger meint wiederum in der Gründung dieses Gremiums den Versuch zu erkennen, die Kommunikation zwischen den einzelnen Strömungen untereinander zu fördern.170 Letztgenannte Ansicht verneint dabei nicht, dass mit der Förderung des Dialogs zwischen den Strömungen auch der Beweggrund einherging, den polyzentrischen Islam in Frankreich in seinen Strukturen und seiner Organisation dem institutionsgeprägten einheitlichen Repräsentationsmodell annähern zu wollen. Folglich hatte die Gründung auch ein nach innen gerichtetes Ziel und nicht nur eines, das lediglich auf äußere Repräsentation gerichtet wäre, wobei beide Zwecke miteinander einhergehen. Ungeachtet dessen, welcher Zweck mit der Gründung des CORIF letztlich verfolgt wurde, leitete der Regierungswechsel 1993 und der rechtskonservativen Rassemblement pour la République (RPR) angehörende neue Premierminister Édouard Balladur einen Strategiewechsel ein. Die Zusammenarbeit mit dem CORIF wurde eingestellt und stattdessen erneut versucht, die GMP zur Repräsentantin aller Muslime zu machen. Unter ihrer Führung wurde der Conseil consultatif des musulmans de France (dt.: Konsultationsrat der Muslime in Frankreich) gegründet. Dies bedeutete, dass die stark algerisch geprägte Auffassung des Islam, die die Große Moschee vertritt, als „das Islambild“ in Frankreich gelten sollte, woran viele Muslime nicht-algerischer Herkunft Anstoß nahmen.171 Schließlich sollte in den späten 1990er Jahren ein muslimischer Dachverband als repräsentatives Gremium gegründet werden. Während der Vorbereitungen hierzu wurden die französischen Behörden mit über 1600 muslimischen Gemeinden und Dutzenden Eliten und Vertretern konfrontiert, die eine Führungsrolle bei der Repräsentation der Muslime beanspruchten.172 2003 wurde in Paris schließlich erstmals der Conseil français du culte du musulman (CFCM) nach dem Gesetz von 1901 gegründet und seine Mitglieder gewählt.173 Diesem Dachverband 167 168 169 170 171 172 173

Hervieu-Léger, S. 32. Basdevant-Gaudemet, The Legal Status of Islam in France, S. 101. Pesch, S. 43. Hervieu-Léger, S. 32. Hervieu-Léger, S. 33. Laurence/Vaïsse, S. 99. Klause, S. 74.

B. Das Verhältnis von Staat und Religion in Frankreich und der Islam

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gehören die algerisch dominierte GMP, die von marokkanischen Einwanderern dominierte Fédération Nationale des Musulmans de France (FNMF), die Union des Organisations Islamique de France (UOIF), die in dem Ruf steht, den Muslimbrüder in Ägypten nahezustehen174, und das von türkischen Einwanderern dominierte Comité de coordination des musulmans turcs de France (CCMTF) an. Bei ihnen allen handelt es sich um privatrechtliche Vereine. Der Dachverband soll die unterschiedlichen Strömungen repräsentieren und gegenüber dem Staat die Interessen der Muslime vertreten. In Art. 2 seines Statuts beschreibt der CFCM dieses und weitere Ziele und Aufgaben.175 Die Erfüllung dieser Aufgabe stellt sich aufgrund der Heterogenität der Gruppe jedoch noch immer als schwierig dar. Im September 2016 gab gerade einmal ein Drittel der in Frankreich lebenden Muslime an, den CFCM zu kennen, nur 12 % gaben an, sich von ihm repräsentiert zu fühlen.176

IV. Religionsgemeinschaften und Laizität heute: Trennung und Dialog Mit der Forderung nach Mitsprache, gesellschaftlicher und politischer Teilhabe der Muslime ging zeitgleich und hierdurch mitbedingt eine Debatte über eine mögliche Öffnung des Begriffs der Laizität im Sinne eines toleranten, offenen, pluralistischen Konzepts einher, die bereits 1981 unter Beteiligung von Vertretern verschiedenster Wissenschaftsdisziplinen und Interessen begann177 und noch heute andauert. Neben der wachsenden Pluralität und Forderungen der „neuen Religionen“ wurde die Debatte auch durch eine damit einhergehende „Verunsicherung des nationalen Bewusstseins“ 178 motiviert sowie durch allgemeine Probleme des Republikanismus. Während das Prinzip der Laizität zu Beginn der Dritten Republik Ausdruck des Willens einer institutionenbezogenen Trennung der christlichen Kirchen vom Staat war und so als einheitliches ideenpolitisches Konzept funktionierte, muss es heute wie gezeigt im Kontext neuer religionsrechtlicher Herausforderungen betrachtet werden. Die Gesellschaft ist heute pluralistischer, multikultureller, multiethnisch.179 Folglich kann auch das Prinzip der Laizität nicht mehr eindimensional gedacht werden. Andererseits ist die französische Laizität – uns war es auch bereits zuvor – nicht schlicht als strikte Trennung 174

Laurence/Vaïsse, S. 99. Grundlage für das Statut ist laut dessen Präambel eine Rahmenvereinbarung vom 3. Juli 2001, die Accord cadre du 3 juillet 2001: Principes et fondements juridiques régissant les rapports entre les pouvoirs publics et le culte musulman en France. Zuletzt wurde das Statut durch die Reform des CFCM vom 23. Februar 2013 geändert. 176 Institut Montaigne, Un islam français est possible, Rapport Septembre 2016, S. 37. 177 Müller, A., Laizität und Zivilreligion in Frankreich, S. 142. 178 Müller, A., Laizität und Zivilreligion in Frankreich, S. 145. 179 Müller, A., Laizität und Zivilreligion in Frankreich, S. 143. 175

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1. Teil: Die Geschichte des muslimischen Gesichtsschleiers

zwischen Religion als Privatsache und säkularer Öffentlichkeit zu verstehen. Zahlreiche Diskurse zwischen Politik, Regierung und den Religionsgemeinschaften zeigen, dass Religionen eben nicht grundsätzlich aus dem öffentlichen Leben verbannt werden und eine solche Darstellung der Ideengeschichte und den verschiedenen Lesarten der Laizität nicht gerecht wird.180 Wie zuvor bereits insbesondere am Fall des Islam verdeutlicht bestehen auch in Frankreich dialogorientierte Strukturen zwischen der Politik und den großen Religionsgemeinschaften. Auch wenn Religionsgemeinschaften keine Steuern erheben dürfen, nicht in Rundfunkbeiräten sitzen, es an staatlichen Schulen keinen Religionsunterricht gibt und religiöse Symbole dort verboten sind, entsteht der Eindruck, dass diese Beispiele in der Darstellung der französischen Laizität gerade im rechtswissenschaftlichen Diskurs überpräsentiert werden. Insbesondere bezüglich des Konfliktraums und Handlungsfeldes Schule und Religion dient das Laizitätsregime Frankreichs immer wieder als Vergleich mit der in Deutschland geltenden Neutralitätspflicht des Staates. Die politischen und juristischen Auseinandersetzungen insbesondere um die Ausgestaltung und Reichweite der staatlichen Neutralitätspflicht ähneln sich dabei durchaus. Analysen und Argumentationen werden dennoch häufig auf die Unterschiede gestützt. Diese Arbeitsweise mag letztlich zu vertretbaren Schlüssen kommen, vermag aber die Komplexität der Thematik nicht zu verdeutlichen. Auch wenn sich die beiden Modelle des Religionsrechts stark unterscheiden, so ist dennoch anzumerken, dass die Darstellung des französischen Modells heute oft nur oberflächlich und weitgehend unter dem Gesichtspunkt der „Andersartigkeit“ dargestellt wird. Dies wird weder der speziellen Ausgestaltung, noch dem diskursiven Potential oder der Komplexität der Laizitätskonzeption gerecht. Beide säkularen Rechtsstaaten werden vor verfassungsrechtliche Herausforderungen durch multireligiöse, multikulturelle Gesellschaftsstrukturen gestellt – und auch in Frankreich ist die heutige Ausgestaltung der Trennung unter dem Laizitätsprinzip nicht so streng wie sie in Deutschland oft dargestellt wird. Teilweise wird zur Beschreibung des heutigen Laizitätsverständnisses der Begriff der religionsfreundlichen akonfessionellen Laizität verwendet.181 Wie oben bereits dargestellt, ist das Laizitätsprinzip aufgrund seines schon unbestimmten Begriffs, der fehlenden eindeutigen Definition und der ihm auch dadurch innewohnenden Wandlungsfähigkeit unterschiedlichen Deutungen und Ausgestaltungen zugänglich. Im Sinne einer laïcité ouverte sind gewisse Kooperationen, aber auch Interventionen seitens des Staates nicht nur möglich, sondern sogar erforderlich, um allen Religionsgemeinschaften und ihren Anhängern die im Gesetz von 1905 garantierte und auch der Laizität innewohnenden Religionsfreiheit zu gewährleisten. Beispiele hierfür gibt es zahlreiche. Auch in Frankreich dürfen sich politische Parteien heute offen nach einer Konfession aus180 181

Almeida, S. 15 f. von Campenhausen/de Wall, S. 346.

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richten und religiöse Symbole verwenden, im Nationalen Ethikrat sitzen Theologen, die mittelbar die Religionsgemeinschaften repräsentieren und Religionsgemeinschaften beteiligen sich an politischen Debatten.182 Die den Gemeinden und ihren Vereinigungen vorstehenden Personen werden bei wichtigen gesellschaftlichen Fragestellungen mit Religionsbezug konsultiert. Das im Innenministerium angesiedelte Bureau Central des Cultes ist einerseits zuständig für eine staatliche Kontrolle der Strukturen der Religionsgemeinschaften und ihrer Religionsausübung183, engagiert sich aber gleichzeitig für die gesellschaftliche Integration der Muslime.184 Der Staat arbeitet mit Religionsgemeinschaften, vor allem mit der katholischen Kirche in sozialen Bereichen wie Erziehung und Fürsorge zusammen.185 Religionsgemeinschaften machen darüber hinaus auch von der oben aufgezeigten Möglichkeit Gebrauch, gemeinnützige Vereine und Stiftungen zu gründen. Deren Struktur unterscheidet sich zwar von der einer religiösen Vereinigung, die für die Anerkennung der Gemeinnützigkeit erforderliche Betätigung muss aber gerade über einen religiösen Zweck hinausgehen und der Erziehung, Bildung, Wissenschaft, humanitären, sozialen, sportlichen, familiären oder ökologischen Zwecken dienen. Zwar untersagt Art. 2 des Gesetzes von 1905 die Finanzierung von Glaubensgemeinschaften, die Rechtsprechung hat jedoch eine Reihe von indirekten Finanzierungen für zulässig erklärt, etwa die finanzielle Unterstützung des Baus von Kirchen und Moscheen.186 Auch in spezifischem Bezug auf den Islam könnte eine gewisse Kooperation oder zumindest Dialogstruktur erkennbar sein. Die Regierung kooperiert mit dem CFCM in Fragen der Berufung von Gefängnisgeistlichen, bei der Gestaltung von Seminaren für Imame sowie deren Durchführung selbst und bei der Regulierung von Geldgebern zur Finanzierung von Moscheen.187 Im August 2016 gab der damalige französische Innenminister Bernard Cazeneuve bekannt, dass die Regierung die Gründung einer Islam-Stiftung plane, gegründet wurde die Stiftung am 6. Dezember 2016. Die Stiftung leitet der ehemalige Innenminister Jean-Pierre Chevènement. Die Stiftung sollte nach Angaben Cazeneuves im August 2016 über ein aus durch Spen182

Almeida, S. 16. „Culte“ meint dabei nicht allgemein die Religion oder den Kult, sondern bezieht sich vielmehr auf deren Ausübung und innere Strukturen. Die Einrichtung dieser Beobachtungsstelle geht bereits auf die Articles organiques im Jahr 1802 zurück. Diese etablierten gemeinsam mit dem napoleonischen Konkordat das sogenannte Système des cultes reconnus, welches die katholische Kirche dem Staat faktisch unterordnete und heute als ein erster Schritt in der etappenweisen Entwicklung des Prinzips der Laizität bewertet wird, Ziegler, S. 149. Die Einrichtung des heutigen Bureau Central des Cultes findet ihre Rechtsgrundlage in Art. 25 des Gesetzes von 1905, der die Einrichtung einer Religionspolizei vorsieht. 184 von Campenhausen, S. 413 Fn. 48. 185 von Campenhausen/de Wall, S. 346. 186 Müller, Wie laizistisch ist Frankreich wirklich?, S. 73. 187 Laurence/Vaïsse, S. 138. Die Regulierung selbst wiederum kann auch als Ausdruck der Kontrolle gesehen werden. 183

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den und Steuergelder generiertes Budget von fünf bis sechs Millionen Euro verfügen können und pädagogische, kulturelle und soziale Zwecke verfolgen, darunter die weltliche Bildung von Imamen, die universitäre Islamforschung und die Finanzierung des Baus von Moscheen.188 Auch hier könnte eine gewisse Kooperation, einerseits gerichtet auf Integration, verbunden aber auch mit Möglichkeiten des Erkenntnisgewinns zur besseren Beobachtung und Kontrolle gesehen werden. Es bleibt abzuwarten, ob die Stiftung eine Kooperation und/oder einen beidseitig verpflichtenden Integrationsgedanken in den Vordergrund ihrer Arbeit stellt, ob sie vornehmlich Muslime zur Integration verpflichten will oder staatlichen Stellen als Beobachtungsstelle bis hin zur Überwachung, die über diejenige durch die Verwaltung bezüglich auch der anderen Religionsgemeinschaften hinausgeht, dienen wird. In der Tendenz dürfte nach jetziger Einschätzung aber die Beobachtung im Vordergrund stehen. Dem Vorhaben mag ein gewisser Wunsch nach Verständigung und Kooperation innewohnen, mit den Terroranschlägen von Paris 2015 und Nizza 2016 in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Präsentation der Vorschläge erscheint aber die Einrichtung der beiden Organisationen als Kontrollinstrumente wahrscheinlicher, um der Bildung von Parallelgesellschaften entgegenzuwirken. Auch eine Schwächung der Einflussnahme muslimischer Staaten, insbesondere Marokko und Algerien etwa bezüglich der Finanzierung des Baus von Moscheen, mag hier ein Ziel darstellen. Insgesamt ist jedoch zu erkennen, dass es einen Wandel dergestalt gibt, dass Kooperation und Kompromisse seitens des Staates nicht mehr nur gegenüber den christlichen Kirchen stattfinden. Ziegler sieht insgesamt in den oben dargestellten Entwicklungen eine pragmatische Annäherung an ein Kooperationsmodell.189 Jedenfalls verdeutlichen diese Vorgänge aber, dass eine Beschreibung des französischen Systems als strikte Trennung, bei der Religion „Privatsache“ sei, zu verkürzt ist. Aus juristischer Perspektive sind oben dargestellte Tendenzen und Entwicklungen unter anderem gerade aufgrund verfassungsrechtlicher Flexibilität durch auslegungsbedürftige Rechtsbegriffe und Ermessensspielräume möglich. Laizität im juristischen Sinn ist dabei ein solcher Begriff bzw. Konzept, dessen genauer Inhalt Gegenstand von ständiger Diskussionen ist. Die „Nichtanerkennung“ der Religionsgemeinschaften aus Art. 2 des Gesetzes von 1905 wird daher heute auch eher als eine grundsätzliche „Nicht-Behandlung“ verstanden, zu der es Ausnahmen geben kann, die aber keineswegs mit „Gleichgültigkeit“ gleichgesetzt werden sollte. Die Norm solle so gelesen werden, dass der Staat sich nicht mit einer Religionsgemeinschaft identifizieren oder sie bevorteilen darf.190 Raum für Interaktion in 188 Anne-Bénédicte Hoffner, La Fondation de l’islam de France est créée, Le Croix vom 6. Dezember 2016, abrufbar unter http://www.la-croix.com/Religion/Islam/LaFondation-lislam-France-creee-2016-12-06-1200808426. 189 Ziegler, S. 18. 190 Vianney Sevaistre, Chef des Bureau Central des Cultes von 2002–2004, interviewt und zitiert von Bowen, Why the French don’t like headscarves, S. 18.

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gewissem Maße verbleibt. Eine strenge Trennung im räumlichen Sinne ist nicht das Wesen der tatsächlich zur Zeit gelebten Laizität in Frankreich, auch eine inhaltliche Konnotation des Feindseligen geht heute fehl oder ist zumindest eine unzureichende Charakterisierung. Viele der oben geschilderten Entwicklungen weisen gerade einen anderen Weg im Umgang mit dem wandlungsfähigen, offenen Begriff und Prinzip der Laizität. Eine positive institutionelle Trennung, das Bestehen staatlicher Neutralitätspflicht bei gleichzeitiger Kooperation, Konsultation und Dialog sowie andererseits das Bestehen des staatlichen Interventionsrechts kennzeichnen die moderne Laizität. Oben aufgezeigte Maßnahmen und Entwicklungen verdeutlichen, dass die Lesart der offenen Laizität an vielen Stellen der realen Ausgestaltung des Religionsrechts in Frankreich entspricht und staatliches Handeln kennzeichnet. Die Frage nach einer explizit zeitgemäßen inhaltlichen Bestimmung des Begriffs Laizität bleibt dennoch Diskussionsgegenstand. Das Observatoire de la laïcité, eine Beobachtungsstelle, die die Regierung dabei unterstützt, Handlungen im Einklang mit dem Prinzip der Laizität vorzunehmen, hat in seiner Erklärung zur Laizität im Oktober 2016 die hohe Bedeutung der Laizität für Frankreich betont und dabei gleichzeitig die konstituierenden Staatsprinzipien der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit betont.191 Das Verständnis von Laizität ist nicht nur eher eine juristische und philosophische Debatte, eher eine umfassende Konzeption denn ein konkretes Konzept – es ist auch ein immer währendes Politikum im französischen Tagesgeschehen. Die Auslegungsfrage erlangt insbesondere dann Relevanz, wenn das Verfassungsprinzip der Laizität in seinem Element der Neutralitätspflicht und der Neutralität staatlicher Stellen und staatlich-öffentlicher Räume mit der ebenfalls garantierten Religionsfreiheit in Konflikt gerät und politisch einen Beweggrund für ein Handeln sowie gleichzeitig juristisch ein möglicherweise legitimes Eingriffsziel darstellt. Die Frage, ob die Laizität etwa Eingriffe in die Religionsfreiheit rechtfertigen kann, kann erst dann beantwortet werden, wenn geklärt wurde, wie Laizität heute zu verstehen, auszulegen und ausgestaltet ist. Die Debatten um Pluralismus und Integration, Auslegung der Laizität und die wachsende Präsenz des Islam sind in einem gemeinsamen Kontext zu betrachten und bedingen sich gegenseitig. Laizität ist dabei ein Prinzip, das je nach Lesart unterschiedlichen Ansichten als ein Argument dienen kann. Dies wird in der Folge bezüglich der Gesetzgebungsgeschichte zum muslimischen Schleier und insbesondere dem Gesichtsschleier verdeutlicht werden.

191 Observatoire de la laïcité, Déclaration pour la laïcité, Paris 3. Oktober 2016, abrufbar unter http://www.gouvernement.fr/sites/default/files/contenu/piece-jointe/2016/ 10/1._declaration_pour_la_laicite.pdf.

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C. Regulierung, Verwaltungspraxis und Urteile bezüglich des muslimischen Schleiers in Frankreich und Europa In der vergangenen Dekade war der muslimische Schleier in seinen unterschiedlichen Formen häufig Gegenstand von Verwaltungshandeln, Gesetzgebung oder Gesetzesvorhaben sowie zahlreicher politischer Debatten in Frankreich und Europa, wenngleich in unterschiedlichen Ausprägungen und Intensitäten. Die relevanten Entwicklungen sollen in der Folge beginnend bei Frankreich und anschließend für weitere Mitgliedsstaaten der EMRK überblicksartig dargestellt werden. Die Darstellung bezieht sich schwerpunktmäßig auf den untersuchungsgegenständlichen Gesichtsschleier in den Formen der Burka und des Niqabs. Ausführlich werden diejenigen Staaten behandelt, in denen ein allgemeines Gesichtsverschleierungsverbot gilt sowie diejenigen, in denen dies zwar nicht der Fall ist, die Debatten hierüber aber schon zu vergleichsweise frühen Zeitpunkten sehr intensiv und konkret geführt wurden.

I. Frankreich 1. Anfänge der Verschleierungsdebatte und erste Gesetze Im laizistischen Frankreich blickt man auf eine verhältnismäßig lange Historie intensiver Debatten und Gesetzgebung bezüglich des islamischen Schleiers zurück. Die bis in die Zeit der französischen Kolonialherrschaft in Algerien, Tunesien und Marokko im 19. und 20. Jahrhundert zurückreichende Verbindung von Frankreich und dem Islam hat auch in früheren Zeiten zu Diskussionen und staatlichen Maßnahmen in den besetzten Gebieten bezüglich des Schleiers geführt.192 Im Oktober 1989 ereignete sich dann ein Fall an einer öffentlichen Schule in der Gemeinde Creil in Frankreich, der als Beginn der bis heute geführten „Kopftuchund Verschleierungsdebatte“ in Europa angesehen werden kann. In dem Fall ging es um drei marokkanische Mädchen im Alter von 13 bis 14 Jahren, die mit Kopftüchern im Unterricht erschienen. Die Schulleitung untersagte dies mit der Begründung, ein solches Verhalten und die Duldung dessen stünden in Widerspruch zum Trennungsgesetz von 1905 und zum Prinzip der Laizität an staatlichen Schulen. Das Prinzip der Laizität war zuvor in die Schulordnung aufgenommen worden, nachdem jüdische Mädchen aus religiösen Gründen an den schulpflichtigen Samstagen regelmäßig gefehlt hatten. Im Zuge der Änderung der Schulordnung war hier auch ein Kopftuchverbot aufgenommen worden.193 Als sich die muslimischen Mädchen weigerten, ihre Kopftücher abzulegen, wurden sie der

192 193

Vgl. ausführlich dazu die Schilderungen bezüglich Algerien von Fanon, S. 62 ff. Pesch, S. 43.

C. Regulierung, Verwaltungspraxis und Urteile

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Schule verwiesen.194 Eine öffentliche Debatte um die Vereinbarkeit von Islam und Laizität war die Folge.195 Sie war zugleich eng mit der seit 1981 geführten Debatte um ein zeitgemäßes Verständnis der Laizität196 verwoben. Die Diskussionen um das Kopftuch in öffentlichen Schulen ebbte in den 1990er Jahren zwar wieder ab, verschwand aber nie vollständig.197 Der damalige Bildungsminister François Bayrou erließ mehrere Rundschreiben zu der Thematik. In einem Rundschreiben vom 20. September 1994 verfasste er einen Formulierungsvorschlag für Schulordnungen, der das Tragen und Zeigen ostentativer religiöser Symbole durch Schülerinnen und Schüler wie auch Lehrerinnen und Lehrer untersagen sollte. Er begründete seine Vorschläge nicht nur mit den Aspekten der Laizität und Religionsfreiheit, sondern verwies auch auf ein „projet républicain“ (dt.: republikanisches Projekt) und die Schule als einen Ort, an dem Schülerinnen und Schüler das „vivre ensemble“, das Zusammenleben, in gegenseitigem Respekt erlernen würden.198 Damit fügte Bayrou der Debatte eine neue Ebene hinzu, die 15 Jahre später in der Debatte um den Vollschleier entscheidend werden sollte. Die Entscheidung darüber, ob Schülern und Lehrern das Tragen sichtbarer religiöser Symbole wie das Kopftuch oder auch das christliche Kreuz an öffentlichen Schulen durch die jeweilige Schulordnung erlaubt oder verboten sein sollten, oblag jedoch weiterhin der jeweiligen Schulleitung. Gem. Art. 10 Abs. 1 des Gesetzes 89-436 vom 10. Juli 1989 oblag allen Schülerinnen und Schülern die Pflicht, sich an die Regelungen zu halten, die das Funktionieren des Miteinanders in der schulischen Gemeinschaft zum Ziel haben.199 Art. 10 Abs. 2 des Gesetzes 89-436 garantiert den Schülerinnen und Schülern Informations- und Meinungsfreiheit im Sinne des Pluralismus und unter Wahrung des Prinzips der Neutralität staatlicher Bildung. Die Ausübung dieser Freiheiten soll aber den Unterricht nicht beeinträchtigen, Art. 10 Abs. 2 S. 2 des Gesetzes 89-436. Weitere gesetzliche Regelungen seitens der Legislative unterblieben. Auch Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst war das Tragen religiöser Symbole zum Teil durch Verwaltungsvorschriften untersagt, die Verbote wurden jedoch nur selten durchgesetzt.200 194

Pauly, R. Jr., S. 33. Ausführliche Darstellung bei Pesch, S. 44 ff. 196 Müller, A., Laizität und Zivilreligion in Frankreich, S. 142. 197 Ausführliche Darstellung bei Pesch, S. 51 ff. 198 Ministre de l’Education nationale, de la Jeunesse et des Sports: Circulaire nº 1649 du 20 septembre 1994 relative à la neutralité de l’enseignement public: port de signes ostentatoires dans les établissements scolaires. 199 Loi nº 89-436 du 10 juillet 1989 d’orientation sur l’éducation. 200 So zum Beispiel im Falle einer Mitarbeiterin des öffentlichen Dienstes in Lyon, die wegen ihrer Weigerung das Kopftuch während der Arbeit abzulegen vom Dienst suspendiert worden war. Die Suspendierung wurde verwaltungsgerichtlich bestätigt, Cour administrative d’Appel de Lyon, Urteil vom 27. November 2003, Ben Abdallah ./. Ministre des Affaires sociales et de l’Equipement. 195

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2. Das Verbotsgesetz religiöser Symbole an öffentlichen Schulen von 2004 Die Situation änderte sich Anfang des Jahres 2004. Mit der Zielvorgabe, einen neutralen Raum in einem diversen und konfliktanfälligen Umfeld zu schaffen und die säkulare Erziehung zu gewährleisten, erließ der französische Gesetzgeber ein Verbotsgesetz bezüglich des ostentativen Tragens religiöser Symbole an öffentlichen Schulen.201 Seinen Ursprung hatte dieses Gesetz in den Empfehlungen zweier Kommissionen Ende 2003. Eine der Kommissionen war vom Parlament eingesetzt worden, die andere vom damaligen Präsidenten Jacques Chirac (La Commission Stasi202).203 Der personelle Anwendungsbereich des Gesetzes erfasst auch die Schülerinnen und Schüler. Damit adressierte der parlamentarische Gesetzgeber nicht mehr nur diejenigen Personen, die aufgrund ihrer Position – Beamte oder Angestellte des öffentlichen Dienstes – den laizistischen Staat repräsentieren, sondern auch private Personen – Schülerinnen und Schüler –, die aufgrund der staatlichen Schulpflicht diese Institutionen in Anspruch nehmen. Wenngleich personell umfassend, betrifft das Verbot aber nur den staatlich verantworteten Raum der öffentlichen Schulen. Das Verbot wurde seinerzeit als eine „französische Eigenheit“, als ein Symbol der laïcité française betrachtet.204 In seiner Entstehungsgeschichte betonten seine Unterstützer konstant eine Gefahr für die Laizität als Verfassungsprinzip, hielte man Religionen aus dem sensiblen und staatlich verantworteten Ort der öffentlichen Schule nicht heraus.205 Obwohl der Wortlaut des Gesetzes selbst die religiösen Symbole aller Glaubensrichtungen gleichermaßen betrifft, bezogen sich die Argumente der Unterstützer damals fast ausschließlich auf Gefahren für die Laizität durch einen radikalen Islam.206 Das Verbot war selbst nicht Gegenstand vor dem EGMR.207 Die Urteile in den Fällen Dogru gegen Frankreich und Kervanci gegen Frankreich, beide vom 201 Loi nº 2004-228 du 15 mars 2004 encadrant, en application du principe de laïcité, le port de signes ou de tenues manifestant une appartenance religieuse dans les écoles, collèges et lycée publics, JORF nº 65 du 17 mars 2004, S. 5190. 202 Umgangssprachlich wurde (bzw. wird) diese Kommission häufig „Commission Stasi“ genannt, bezugnehmend auf ihren Vorsitzenden Bernard Stasi. 203 Bowen, Why the French don’t like headscarves, S. 1. 204 Hunter-Henin, ICLQ 61 (2012), 613 (615). 205 Bowen, Why the French don’t like headscarves, S. 1. Auch hier zeigt sich, dass die französische Geschichte die Gegenwart stark prägt. Staatliche Schulen werden als Orte definiert, an denen den Schülern und Schülerinnen Werte der Republik vermittelt werden sollen, sie sollen zu mündigen Staatsbürgern der Republik erzogen werden. Dieses Verständnis ist auf die Zeit und die Auseinandersetzungen während der französischen Revolution und die Gründung der Dritten Republik zurückzuführen, vgl. zuvor B. I. 1. 206 Bowen, Why the French don’t like headscarves, S. 1. 207 Mit Hunter-Henin, ICLQ 61 (2012), 613 (615), ließe sich aber vertreten, dass der EGMR dennoch durch seine Urteile vom 4.12.2008, Kervanci gegen Frankreich,

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4. Dezember 2008208, ergingen zwar nach Inkrafttreten des Gesetzes 2004-228, betrafen aber Fälle, die sich im Januar 1999 ereignet hatten, sodass die angegriffenen Maßnahmen nicht auf dem Gesetz 2004-228 beruhten. In den Fällen hatten 2004 bzw. 2005 zwei muslimische Schülerinnen geklagt. Sie hatten sich 1999 im Alter von zwölf Jahren trotz mehrmaliger Aufforderung geweigert, im Sportunterricht ihr Kopftuch abzulegen und waren daraufhin vom Unterricht suspendiert worden. Die Schule begründete die Maßnahme damit, die Schülerinnen hätten nicht aktiv am Sportunterricht teilnehmen können und seien damit ihren schulischen Verpflichtungen nicht nachgekommen. Die Schülerinnen brachten vor, dies verletze ihre Religionsfreiheit gem. Art. 9 Abs. 1 EMRK, im Übrigen läge auch ein Verstoß gegen Art. 2 des Ersten Zusatzprotokolls zur EMRK (1. ZP EMRK), der das Recht auf Bildung garantiert. Der EGMR folgte dieser Sichtweise nicht. Zwar stellte er fest, dass jeweils ein Eingriff in die Religionsfreiheit vorliege, dieser sei jedoch gesetzlich vorgeschrieben, diene den legitimen Zielen der Sicherheit und Gesundheit und dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer gem. Art. 9 Abs. 2 EMRK und sei auch verhältnismäßig. Insbesondere die Frage, ob die Maßnahme eine Grundlage im staatlichen Recht habe und welche Qualität diese Grundlage aufweisen müsse, war in den Verfahren relevant, da das Gesetz 2004-228 bei diesen zeitlich früheren Fällen gerade nicht als Grundlage dienen konnte.209 Der EGMR vertrat ohne die Bezugnahme auf das Gesetz von 2004, dass es in einer demokratischen Gesellschaft durchaus notwendig sein könne, die Religionsfreiheit einzuschränken, um unterschiedliche Interessen in Ausgleich zu Nr. 30645/04 und Dogru gegen Frankreich, Nr. 27058/05, die französische „Tradition“, wie Hunter-Henin sie nennt, religiöse Symbole zu verbieten, aufrechterhalten hat. Diese Wortwahl birgt allerdings die Gefahr, missverstanden zu werden, da sie eine Entscheidung bezüglich des Gesetzes 2004-228 implizieren kann, eine solche erging jedoch nie. 208 EGMR, Urteil vom 4.12.2008, Kervanci gegen Frankreich, Nr. 30645/04 und EGMR, Urteil vom 4.12.2008, Dogru gegen Frankreich, Nr. 27058/05; NJOZ 2010, 1193. 209 EGMR, Urteil vom 4.12.2008, Dogru gegen Frankreich, Nr. 27058/05, Rn. 49 ff.; NJOZ 2010, 1193 (1194). Da es zu dieser Zeit gab es kein entsprechendes allgemeines Gesetz gab, dass Schülerinnen das Tragen religiöser Symbole verbot, galt noch die unter C. I. 1. dargestellte Rechtslage. Somit waren die die jeweilige Schulordnung der Schule, das Gesetz 89-436 sowie Rundschreiben, Vermerke und Anstaltsanordnungen maßgeblich. Im Fall Dogru ./. Frankreich handelte die Schule folglich gem. Art. 10 des Gesetzes 89-436 i.V. m. ihrer Schulordnung, in der normiert war, dass das unentschuldigte Fehlen zu sanktionieren sei, Schüler und Schülerinnen sich im Einklang mit den Vorschriften zu Gesundheit und Sicherheit zu kleiden hätten und am Sportunterricht in Sportkleidung teilzunehmen sei, EGMR, Dogru gegen Frankreich, Nr. 27058/05, D. 25. Überdies bezog sich die Schule auf Verordnungen und Erlasse sowie interne Vermerke und Entscheidungen des Conseil d’État, mithin der Rechtsprechung. Der EGMR urteilte, damit genüge die rechtliche Grundlage der Maßnahme materiell und formell der Anforderung, staatliches Recht zu sein, Dogru gegen Frankreich, Nr. 27058/05, Rn. 59, und unterstrich damit seine ständige Rechtsprechung, dass auch Regelungen unterhalb Gesetzesranges den Anforderungen genügen können, EGMR, Dogru gegen Frankreich, Nr. 27058/05, Rn. 52 unter Zitierung EGMR, Urteil vom 18. Juni 1971, De Wilde, Ooms und Versyp gegen Belgien, Nr. 2832/66, Rn. 93.

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bringen. Dem Mitgliedsstaat, hier Frankreich, käme dabei ein erheblicher Ermessensspielraum zu.210 Indirekt kann dies zumindest als Indiz gesehen werden für die Frage, wie der EGMR hinsichtlich des Gesetzes von 2004 entschieden hätte. Das Verbotsgesetz selbst wurde im Allgemeinen als ein Beitrag zur Sicherung der Laizität im staatlich verantworteten Raum betrachtet. Sowohl Befürworter als auch Gegner des Verbots argumentierten auf Grundlage des Laizitätsprinzips. Während die Gesetzesgegner jedoch argumentierten, dass die Laizität gerade auch Religionsfreiheit gewährleiste, was sich mit Art. 2 der Verfassung und der dort proklamierten Bindung des französischen Staates an die Menschenrechte belegen lässt211, setzten sich mehrheitlich die Befürworter durch, für die das Gesetz die Manifestation der Laizität im staatlich verantworteten, sensiblen Raum der öffentlichen Schulen bedeutete.212 Auch sie konnten neben der Auffassung, dass dieser Raum frei von religiösen Einflüssen zu sein habe, argumentieren, dass durch das Verbot wiederum auch die negative Religionsfreiheit geschützt und die positive Religionsfreiheit insofern geachtet werde, als die Religionsausübung auch deshalb eingeschränkt werde, um Auseinandersetzungen zu vermeiden. Die Kritiker des Gesetzes waren dagegen vornehmlich Vertreter der offenen Lesart von Laizität, denen eine Adressierung der Schülerschaft zu weit ging. Sie vertraten vielmehr die Auffassung, dass durch das Prinzip der Laizität nur der Staat und seine Bediensteten, hier also der Lehrkörper, zur religiösen Neutralität verpflichtet werden könnten. Nur so ließe sich verdeutlichen, dass Laizität Ausdruck einer Haltung des Staates zu Religion sei, nicht aber das Individuum bei Inanspruchnahme staatlicher Gewährleistungen gleichsam verpflichtet werde.213 Die Kritiker nahmen damit eine Haltung ein, die die Laizität sehr stark in die Nähe beispielsweise des deutschen Umgangs mit Religionen im Staatsdienst und vor allem an Schulen rückt.214 Schließlich bleibt jedoch die Erkenntnis, dass das Gesetzgebungsverfahren 2004 von einem Deutungsstreit bezüglich der Laizität geprägt war. Ihr Schutz und ihre Stärkung nach streng republikanischer Auslegung war das Ziel des Verbots. 3. Das Verbot der Gesichtsverhüllung in der Öffentlichkeit von 2011 Die nächste – und für diese Arbeit entscheidende – Rechtsänderung ereignete sich am 11. Oktober 2010. Das französische Parlament beschloss ein generelles 210

EGMR, Urteil vom 4.12.2008, Dogru gegen Frankreich, Nr. 27058/05, Rn. 75,

77. 211

Müller, A., Wie laizistisch ist Frankreich wirklich?, S. 75. Hunter-Henin, ICLQ 61 (2012), 613 (619). 213 Hunter-Henin, ICLQ 61 (2012), 613 (619). 214 Ausführlich zum Vergleich der französischen und deutschen rechtspolitischen Diskussionen und Maßnahmen vgl. Ziegler, S. 50 ff. 212

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Gesichtsverschleierungsverbot für den gesamten öffentlichen Raum, das Gesetz 2010-1192.215 Dessen Inhalt und Entstehung soll im Folgenden dargestellt werden, wobei die Begründungen für das Gesetz hier zunächst nur dargestellt und an späterer Stelle vertieft analysiert werden sollen. a) Regelungsgehalt des Gesetzes 2010-1192 Das Gesetz 2010-1192 untersagt es jeder Person, ihr Gesicht an öffentlichen Orten zu verhüllen: „Nul ne peut, dans l’espace public, porter une tenue destinée à dissimuler son visage.“ (dt.: Niemand darf im öffentlichen Raum Kleidung tragen, die sein Gesicht verhüllen soll), Art. 1 des Gesetzes 2010-1192. Art. 2 Abs. 2 des Gesetzes bestimmt allerdings wiederum zahlreiche Ausnahmen von dem Verbot. So findet das Gesetz keine Anwendung, wenn eine Bedeckung oder Verhüllung des Gesichts durch Gesetze oder behördliche Anordnungen vorgeschrieben oder genehmigt ist, wenn sie aus gesundheitlichen oder beruflichen Gründen gerechtfertigt ist oder wenn sie im Rahmen von sportlichen Aktivitäten, Festlichkeiten oder künstlerischen oder traditionellen Veranstaltungen erfolgt. Der Wortlaut des Gesetzes ist religiös und weltanschaulich neutral formuliert. Dem Wortlaut nach bezieht es sich gerade nicht nur auf den islamischen Vollschleier, vielmehr ergibt sich die spezifische und einzelfallartige Wirkung erst durch den Ausnahmenkatalog aus Art. 2 Abs. 2 des Gesetzes. Der Wortlaut in Art. 1 bezieht sich dagegen zunächst auf jede Form von Gesichtsbedeckung. Im Falle eines Verstoßes droht gem. Art. 3 Abs. 1 des Gesetzes 2010-1192 eine Geldstrafe von bis zu 150 Euro. Gem. Art. 3 Abs. 2 des Gesetzes 2010-1192 kann zusätzlich zu der Geldstrafe oder anstelle dieser auch die Teilnahme an einem Staatsbürgerkundekurs angeordnet werden. Derjenige, der eine andere Person zum Verhüllen des Gesichts in der Öffentlichkeit nötigt, wird gem. Art. 4 des Gesetzes 2010-1192 mit Freiheitsstrafe von einem Jahr und einer Geldstrafe bis 30.000 Euro bestraft; findet die Handlung gegenüber einer minderjährigen Person statt, so beträgt die Freiheitstrafe zwei Jahre und es wird eine Geldstrafe in Höhe von 60.000 Euro verhängt.216 Art. 2 Abs. 1 definiert den öffentlichen Raum im Sinne des Gesetzes als einen der Öffentlichkeit zugänglichen Ort und Orte des öffentlichen Dienstes.

215 Loi nº 2010-1192 du 11 octobre 2010 interdisant la dissimulation du visage dans l’espace public. 216 Hierzu wurde der Art. 225-4-10 (Section ter) im fünften Kapitel des Titel II im zweiten Buch des Code Pénal eingefügt.

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b) Chronik des Gesetzgebungsverfahrens und Gesetzesbegründung Einen ersten, wenngleich erfolglosen Versuch, ein allgemeines Gesichtsverschleierungsverbot beschließen zu lassen, unternahm 2008 Jacques Myard als Mitglied der Nationalversammlung in Reaktion auf einen Entscheidung des Conseil d’État217, einer Bürgerin unter anderem aufgrund ihrer radikalen Auslegung des Islam die französische Staatsangehörigkeit zu verweigern.218 Die Frau trug einen Niqab und obwohl der Conseil d’État es vermied, diesem Kleidungsstück eine symbolhafte Bedeutung beizumessen, ist die Lesart der Entscheidung, das Gericht habe sich seine Überzeugung von der fundamentalistischen Einstellung der Klägerin wesentlich auch aufgrund ihres Niqabs gebildet, nicht abwegig.219 Die ernsthafte Diskussion um ein Verbot des Vollschleiers in Frankreich begann im darauffolgenden Jahr, nachdem der damalige Präsident Nicolas Sarkozy am 22. Juni 2009 vor beiden Kammern des Parlaments in einer Rede geäußert hatte, die Burka sei in Frankreich nicht willkommen.220 Während des darauffolgenden Jahres befassten sich diverse Organe, Komitees und Institutionen mit dem Gesichtsschleier und diesbezüglichen verschiedenen Regelungsmöglichkeiten. Von der Nationalversammlung wurde eine parlamentarische Kommission, die Mission d’information sur la pratique du port du voile intégral sur le territoire national, eingesetzt, die die Praxis und Verbreitung der Vollverschleierung in Frankreich untersuchen sollte. Sie sollte Fakten und Daten über die Vollverschleierungspraxis in Frankreich zusammenzutragen. Die Parlamentarische Kommission stand unter Leitung von André Gerin, weshalb sie auch „Gérin-Kommission“ genannt wird und bestand aus insgesamt 32 Mitgliedern. Die Parlamentarische Kommission führte zahlreiche Anhörungen durch. Auffallend ist dabei, dass unter den angehörten Personen nicht eine einzige den Vollschleier tragende Muslima war. Die angehörten Personen äußerten sich ausschließlich negativ über den Vollschleier.221 Am 26. Januar 2010 legte die Parlamentarische Kommission ihren abschließenden Bericht vor. Sie betonte darin, dass das Tragen des Vollschleiers mit den Grundwerten der französischen Republik nicht vereinbar sei.222 Das Tragen des Vollschleiers durch Individuen im öffentlichen Raum stelle jedoch keine Verletzung des Prinzips der Laizität im rechtlichen Sinne dar, da diese gerade

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CdÉ, séance du 26 mai 2008, nº 286798. Assemblée Nationale, No. 1121, proposition du loi visant à lutter contre les atteintes à la dignité de la femme résultant de certaines pratiques religieuses. 219 So auch Bowen, Social Research 48 (2011), 325 (334). 220 Spiegel Online vom 22.06.2009, Vollverschleierung: Sarkozy hält nichts von Burkas, abrufbar unter http://www.spiegel.de/politik/ausland/vollverschleierung-sarkozyhaelt-nichts-von-burkas-a-631883.html. 221 Joppke/Torpey, S. 23. 222 Mission d’information sur la pratique du port du voile intégral sur le territoire national, Rapport d’information, dem Präsidenten der Nationalversammlung am 26. Januar 2010 übergeben, S. 187. 218

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nicht Privatpersonen, sondern nur staatlichen Stellen das Bekenntnis untersage.223 Gleichzeitig konnten keine Zahlen über die tatsächliche Verbreitung dieser religiösen Praxis geliefert werden. Ebenso wie in anderen Staaten Europas ging jedoch auch die Parlamentarische Kommission in ihrem Bericht davon aus, dass das Phänomen des Vollschleiers in Frankreich nur äußerst marginal auftrete. Ein generelles Verbot in Gesetzesform befand die Parlamentarische Kommission als letztlich nicht empfehlenswert, vielmehr empfahl sie, den Vollschleier dort zu verbieten, wo öffentliche Dienstleistungen erbracht werden.224 Auch der Conseil d’État gab eine Stellungnahme zu dem Vorhaben ab. Er kam in seinem Bericht vom 25. März 2010 ebenfalls zu dem Ergebnis, dass ein generelles Verbot des Vollschleiers in der gesamten Öffentlichkeit nicht empfehlenswert, da verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigen sei.225 Es existiere keine rechtliche Grundlage für ein allumfassendes Verbot.226 Stattdessen sprach sich der Conseil d’État für eine Regelung aus, die nur Anwendung finden solle, wenn die öffentliche Sicherheit konkret gefährdet oder eine Identifizierung der Person in der konkreten Situation erforderlich wäre.227 Damit stellte sich auch der Conseil d’État mit seiner juristischen Einschätzung gegen ein generelles Verbot, jedoch aus rechtlichen, und nicht wie die Gerin-Kommission aus gesellschaftlichpolitischen Gründen. Am 11. Mai 2010 nahm die Nationalversammlung mit einer Mehrheit von 434 von 435 Stimmen228 einen Antrag an, der den Vollschleier als unvereinbar mit den Werten der französischen Republik erklärte.229 Die in seinem Bericht dargelegten Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines generellen Verschleierungsverbot des Conseil d’État vermochten die politischen Entscheidungsträger nicht zu überzeugen. Am 19. Mai 2010 brachte die Regierung den Gesetzesentwurf zum Gesetz 2010-1192 in die Nationalversammlung ein.230 In der Begründung zu dem Ent223 Mission d’information sur la pratique du port du voile intégral sur le territoire national, Rapport d’information, S. 92. Die Kommission folgte hier der Einschätzung des Professors und Juristen Bertrand Mathieu aus der Anhörung vom 25. November 2009. 224 Mission d’information sur la pratique du port du voile intégral sur le territoire national, Rapport d’information, S. 187. 225 Conseil d’État, Rapport sur les solutions juridiques d’interdiction du port du voile intégral, JCP 2010, act 406. 226 Conseil d’État, a. a. O., S. 35. 227 Conseil d’État, a. a. O., S. 37 f. 228 Eine Gegenstimme gab es nicht, einzig der Präsident der Nationalversammlung enthielt sich. 229 Assemblée Nationale, Résolution sur l’attachement au respect des valeurs républicaines face au développement de pratiques radicales qui y portent atteinte, texte adopté nº 459, 11 mai 2010. 230 Assemblée Nationale, No. 2520, Projet de loi interdisant la dissimulation du visage dans l’espace public, 19 mai 2010.

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wurf heißt es, der Vollschleier sei zu verbieten, da er die grundlegenden Anforderungen an das Zusammenleben in der französischen Gesellschaft (vivre ensemble) missachte, ebenso die fraternité und die Mindestvoraussetzungen sozialer Interaktion.231 Überdies stelle die Praxis des Tragens des Vollschleiers die Würde der betroffenen Frauen wie auch derjenigen, die ihnen gegenübertreten, und den Grundsatz der Geschlechtergleichberechtigung infrage.232 Auch eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit könne unter Umständen bestehen.233 Mit dieser Begründung stellt das Gesetz von 2011 keine logische Fortführung der Gesetzgebung von 2004 dar. Im Rahmen der Begründung des Gesetzesvorhabens von 2010 werden der Schutz und die Durchsetzung der Laizität nicht als Grund für die Maßnahme angeführt. Hierin besteht ein entscheidender Unterschied zum Gesetz 2004-228. Damals war es gerade die Laizität, die einen Eingriff in das Recht auf freie Ausübung der Religion der Lehrenden und der Schülerschaft rechtfertigte. Die Laizität stellte das Hauptargument der Befürworter dar. Dies war möglich, weil sich das Verbot allein auf den staatlich verantworteten Raum der öffentlichen Schulen bezog. Die rechtliche Begründung des im gesamten öffentlichen Raum geltenden Gesetzes 2010-1192 löste sich dagegen von der laizitätsbezogenen Argumentation. Es handelte sich nicht mehr um den klassischen Streit zwischen Staat und Religion oder staatlich verantwortetem öffentlichem Raum und zivilgesellschaftlich-öffentlichem Raum. Die laïcité konnte daher keine taugliche Argumentationsbasis mehr bieten. Sie war nicht betroffen. Das seinem Wortlaut nach neutrale Vorhaben zielte wie die Ausnahmen in Art. 2 Abs. 2 (zum Beispiel für den christlichen Brautschleier als Tradition bei einer Festlichkeit) und seine Begründung zeigen, anders als das umfassend für alle Religionen geltende Gesetz von 2004, auf die Regulierung einer bestimmten Form der Religionsausübung einer bestimmten Glaubensgemeinschaft.234 Am 13. Juli 2010 stimmte die Nationalversammlung dem Gesetzesentwurf zu, am 14. September 2010 folgte der Senat als zweite Kammer. Durch die zuvor ergangene Stellungnahme Conseil d’État zwar nicht abgehalten, aber doch ver-

231 Assemblée Nationale, No. 2520, Projet de loi interdisant la dissimulation du visage dans l’espace public, Exposé des motifs, 19 mai 2010, S. 3. 232 Ebenda. 233 Assemblée Nationale, a. a. O., S. 4. 234 Verdeutlicht wurde dies im Jahr 2011 auch nochmal durch ein Rundschreiben des Premierministers vom 31. März 2011 an den Innenminister und die Ministeriumsmitarbeitenden, in welchem der Anwendungsbereich des Gesetzes spezifiziert wurde: von dem Gesetz erfasst seien Kleidungsstücke, die eine Identifizierung der Person unmöglich machen. Eine nicht abschließende Liste führte neben Sturmhauben und Masken nur den Vollschleier explizit auf und nannte Burka und Niqab dabei ausdrücklich als Beispiele, Circulaire du 2 mars 2011 relative à la mise en œuvre de la loi nº 2010-1192 du 11 octobre 2010 interdisant la dissimulation du visage dans l’espace public, NOR: PRMC1106214C, JORF nº 0052 du 3 mars 2011.

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unsichert, legten beide Kammern das Gesetz dem Conseil Constitutionnel235 zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit vor. Dieser entschied am 7. Oktober 2010, dass das Gesetz verfassungsmäßig sei. Das Gesetz wurde drei Tage später ausgefertigt und bekanntgegeben und trat schließlich am 11. April 2011 in Kraft. Gerichtsverfahren, die in der Folge vor nationalen Gerichten gegen Maßnahmen aufgrund des Gesetzes 2010-1192 geführt wurden, blieben erfolglos. Der Cour de cassation als höchstes ordentliches Gericht Frankreichs hatte 2013 ein Revisionsverfahren zu entscheiden, in dem er sich zur Vereinbarkeit des Gesetzes mit der EMRK äußerte. Die Klägerin war zuvor wegen des Tragens eines Gesichtsschleiers im Rahmen einer Demonstration gegen das Gesetz 2010-1192 vor dem Élysée-Palast zu einem zweiwöchigen Staatsbürgerkundekurs verurteilt worden. Der Cour de cassation urteilte, dass das Gesetz 2010-1192 dem Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung i. S. d. Art. 9 Abs. 2 EMRK diene und dieses legitime Ziel in angemessener Weise verfolge.236 4. Verbotsverordnungen bezüglich „Burkinis“ Im Sommer 2016, unmittelbar nachdem in Nizza im Juli 2016 ein islamistischer Terroranschlag verübt worden war, erließen die Bürgermeister der benachbarten Gemeinden Villeneuve-Loubet und Cagnes-sur-Mer und der Stadt Cannes Änderungen in den jeweiligen Nutzungsverordnungen der kommunalen Strände, die das Tragen von Burkinis an den Stränden untersagten. Burkinis sind Ganzkörperanzüge, die zum Baden und Schwimmen getragen werden können. Die Anzüge, meist schwarz oder in dunkler Farbe, verfügen über eine Art Kapuze, die über den Kopf gezogen werden kann. Das Gesicht bleibt genau wie Hände und Füße unbedeckt. Die Bürgermeister der Gemeinden Villeneuve-Loubet und Cagnes-sur-Mer begründeten ihre Erlasse damit, dass der Burkini als ostentatives religiöses Symbol die Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung zeige und mit der öffentlichen Ordnung nach den Terroranschlägen von Nizza nicht vereinbar sei. Außerdem verstoße das Tragen eines Burkinis gegen Hygienevorschriften. Der Conseil d’État hob die Verordnung der Gemeinde Villeneuve-Loubet in einem einstweiligen Verfahren durch Beschluss vom 26. August 2016 auf. Der Conseil d’État stellte in dieser Grundsatzentscheidung zu den Burkiniverboten fest, dass der Bürgermeister mit dem Erlass der geänderten Nutzungsverord235 Der Conseil Constitutionnel (dt.: Verfassungsrat) ist ein Verfassungsorgan und das Verfassungsgericht Frankreichs. Als solches ist er auch für die verfassungsrechtliche Kontrolle von Legislativakten im Wege der Normenkontrolle gem. Art. 61 der französischen Verfassung zuständig. Ihm kommt aber auch eine beratende Funktion zu. Gem. Art. 16 der Verfassung muss er etwa konsultiert werden, bevor der Präsident der Republik von seinen Ausnahmerechten oder Ausnahmebefugnissen aus der Verfassung Gebrauch macht. 236 Cour de cassation, Chambre criminelle, 5 mars 2013, nº 12-80.891.

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nung seine Befugnisse überschritten habe. Eine Gefahr für die öffentliche Ordnung durch das Tragen von Burkinis habe zu keinem Zeitpunkt nachgewiesen werden können. Folglich sei der durch das Verbot erfolgte Eingriff in die persönliche Freiheit und die Religionsfreiheit der betroffenen Frauen nicht gerechtfertigt gewesen und das Verbot offensichtlich rechtswidrig.237 In der Folge wurden auch die übrigen Burkiniverbote an öffentlichen Stränden durch die Verwaltungsgerichte in Frankreich nach und nach aufgehoben oder von den Gemeinden selbst zurückgenommen. Dagegen entschied der Conseil d’État im Juni 2022, dass eine Änderung der Schwimmbadordnung für öffentliche Schwimmbäder der Stadt Grenoble, die das Tragen von Burkinis dort erlauben sollte, unzulässig sei. Die vom Stadtrat im Mai 2022 beschlossene Änderung der bis dahin geltenden Schwimmbadordnung bezog sich allerdings nicht allein auf den Burkini. Vielmehr ersetzte der Stadtrat den Begriff des Badeanzugs in der Schwimmbadordnung durch den der Badekleidung und strich zudem die Festlegung, dass Badekleidung höchstens von den Knien bis zum Nacken reichen dürfe. Der Conseil d’État begründete seine Entscheidung damit, dass die Änderung der Schwimmbadordnung letztlich ein Nachgeben gegenüber religiösen Forderungen sei, das die staatliche Neutralitätspflicht verletze und ein Funktionieren der öffentlichen Einrichtungen und der Gleichbehandlung aller Nutzergruppen gefährde.238

II. Belgien 1. Rechtliche Rahmenbedingungen Das Verhältnis von Staat und Religion in Belgien ist durch das Prinzip des Pluralismus und der Neutralität des Staates geprägt. Es zeichnet sich durch Unabhängigkeit und gegenseitige Anerkennung der Existenz des anderen aus.239 Der Staat hat sich in religiösen Angelegenheiten neutral zu verhalten. Die belgische Verfassung regelt dieses Verhältnis und die Rechte und Freiheiten in religiösen Angelegenheiten in ihren Art. 19, 20, 21 und 181. Art. 19 der belgischen Verfassung gewährleistet die Religionsfreiheit und umfasst dabei sowohl die Freiheit der eigenen inneren Überzeugung als auch die Ausübungsfreiheit. Art. 20 der belgischen Verfassung schützt daneben die negative Religionsfreiheit und bestimmt, dass niemand gezwungen werden darf, an religiösen Riten oder gottesdienstlichen Handlungen teilzunehmen oder Feiertage einer Religion zu beachten. Art. 21 der belgischen Verfassung wird als die Freiheit der internen Selbstorganisation der Religionsgemeinschaften verstanden. Er bestimmt, dass es dem Staat nicht zusteht, auf die Ernennung oder Einführung von Geistlichen einzuwirken. Zudem darf der Staat den Religionsgemeinschaften die Korrespondenz 237 238 239

Conseil d’État, ordonnance du 26 août 2016, décision Nº 402742, 402777. Conseil d’État, décision nº 464648 du 21 juin 2022. Torfs, S. 12 f., m.w. N.

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mit ihren geistlichen Anführern und Veröffentlichungen von Presse- und Druckerzeugnissen nicht untersagen, solange die allgemeinen darauf anwendbaren Haftungsbestimmungen geachtete werden. Begeben sich Glaubensgemeinschaften aber auf andere Gebiete des gesellschaftlichen Lebens wie etwa die Kindererziehung, Bildung oder Gesundheitsförderung, so sind sie hier an die staatlichen Gesetze gebunden und müssen zur Aufnahme solcher Tätigkeiten gem. dem Gesetz vom 27. Juni 1921 Vereinigungen nach bürgerlichem Recht gründen.240 Art. 181 der belgischen Verfassung bestimmt schließlich, dass der Staat Gehälter und Pensionen der Geistlichen zahlt. Gem. Art. 4 des Gesetzes vom 13. Juli 2001241 sind die Regionen – und nicht mehr der Bundesstaat – zuständig für die materielle Organisation der Religionsgemeinschaften.242 Religionsgemeinschaften in Belgien können durch Gesetz oder aufgrund von Gesetzen offizielle Anerkennung erlangen. Mit der Anerkennung einher gehen einige Vorteile wie etwa die staatliche Bezuschussung des Baus und der Reparatur religiöser Gebäude oder die Zahlung der Gehälter für Geistliche nach Art. 181 der belgischen Verfassung.243 Voraussetzungen für die Anerkennung sind eine bestimmte Größe der Gemeinschaft, eine gute Organisationsstruktur und ein Bestehen der Gemeinde in Belgien seit einigen Jahrzehnten bis zur Gegenwart. Zudem muss die Religionsgemeinschaft eine gewisse soziale Bedeutsamkeit haben und darf keinerlei Aktivitäten unternommen haben oder unternehmen, die eine Gefahr für die soziale Ordnung darstellen.244 Der Islam ist bereits seit 1974 offiziell anerkannt.245 Damit wurde dem Islam in Belgien als erstem Land der Europäischen Union der gleiche rechtliche Status zuerkannt wie dem Christentum und Judentum.246 Dennoch bedeutet die Anerkennung des gleichen Status nicht immer auch die gleiche tatsächliche Behandlung der Religionsgemeinschaften in allen Bereichen. Grund dafür ist, dass hierfür häufig eine Organisationsstruktur mit klaren Hierarchien nachgewiesen werden muss, die sich deutlich an den Strukturen der römisch-katholischen Kirche orientiert.247 Die katholische Kirche genießt aufgrund der Historie im Vergleich zu den anderen anerkannten Religionsgemeinschaften 240

Moniteur belge/Belgisch Staatsblad, 1. Juli 1921. Moniteur belge/Belgisch Staatsblad, 3. August 2001. 242 Torfs, S. 11. 243 Ausführlicher zu den Privilegien siehe Torfs, S. 14 f. 244 Van de Wetering/Karagül, S. 132. 245 Loi du 19 juillet 1974 portant reconnaissance des administrations chargées de la gestion du temporel du culte islamique, Moniteur belge, 23. August 1974. 246 Directorate General Internal Policies of the Union, Policy Department Structural and Cohesion Policies, European Parliament, Islam in the European Union: What’s at stake in the future?, Studie vom 14. Mai 2007, S. 11. 247 Torfs, S. 15. 241

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in der Praxis noch immer Vorteile und wird daher auch als „primus inter pares“ 248 bezeichnet. 2. Muslime in Belgien Im Vergleich zur muslimischen Gemeinde in Frankreich ist die muslimische Gemeinde in Belgien in absoluten Zahlen verhältnismäßig klein. Verlässliche Zahlen sind aber auch hier schwer zu finden, da der Staat keine Zahlen zur Religionszugehörigkeit der Bürgerinnen und Bürger erhebt oder veröffentlicht. Im Jahr 2007 gingen Schätzungen der EU von 320.000 bis 450.000 Personen muslimischen Glaubens in Belgien aus.249 An der belgischen Gesamtbevölkerung wäre das ein Anteil von ca. 4 %. 2010 kamen Umfragen auf 630.000 Menschen muslimischen Glaubens.250 2016 gingen Schätzungen von 780.000 Personen muslimischen Glaubens in Belgien aus.251 Die dort angewandte Methode kann kritisiert jedoch werden, da sie sich allein an den Herkunftsländern der zugewanderten Muslime orientiert und damit sowohl Menschen nicht-muslimischen Glaubens aus den Herkunftsländern einschließt, wie auch aber andererseits Konvertiten und Konvertitinnen nicht berücksichtigt. Unter den muslimischen Frauen sollen Schätzungen zufolge etwa 200 bis 300 einen Vollschleier tragen.252 Durch die im Verhältnis zu anderen Religionsgemeinschaften mit Ausnahme der katholischen Kirche hohe Präsenz des Islam in der belgischen Gesellschaft – vor allem im Raum Brüssel – kam es seit Beginn des 21. Jahrhunderts vermehrt zu Debatten über Religion und Integrationsmöglichkeiten, Islamophobie, Rassismus und Radikalisierung.253 Repräsentatives Organ der Muslime gegenüber dem Staat ist seit 1999 der Exécutif de musulmans de Belgique (EMB), bei dessen Besetzung auf die gleichmäßige Verteilung der Sitze nach den jeweiligen Herkunftsländern geachtet wurde.254 Spannungen blieben dennoch nicht aus. So löste sich der EMB 2003 auf, kam 2005 wieder zusammen, wird jedoch seit 2011 durch die ebenfalls 248

Torfs, S. 16. Directorate General Internal Policies of the Union, Policy Department Structural and Cohesion Policies, European Parliament, Islam in the European Union: What’s at stake in the future?, Studie vom 14. Mai 2007. 250 Pew Research Center Religion & Public Life, The Future of World Religions: Population Growth Projections, 2010–2015, veröffentlicht 2015. 251 Husson, S. 106. 252 Die Zahlen gehen auf Schätzungen des Centre interfédéral pour l’égalité des chances/Interfederaal Gelijkekansencentrum zurück, vgl. Brems et al., S. 78. 253 Ausführlich dazu Husson, S. 88 ff. 254 Zuvor war die die Muslime gegenüber dem Staat vertretende Organisation das bereits 1969 gegründete Centre Islamique et Culture (ICC). Dessen enge Verbindungen zu Saudi-Arabien führten aber immer wieder zu Kritik, insbesondere fühlten sich die mehrheitlich aus Marokko und der Türkei stammenden Muslime nicht adäquat repräsentiert, Schmitz, S. 353. 249

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einen Vertretungsanspruch äußernde Alternative Démocratique des Musulmans de Belgique wiederum in Frage gestellt.255 Islamischen Geistlichen können nach Art. 181 der belgischen Verfassung Gehälter vom Staat bezahlt werden. Bereits seit 1978 wird an öffentlichen Schulen Belgiens islamischer Religionsunterricht angeboten256 und im Jahr 1981 wurde in Brüssel mit der Al-Ghazi-Schule die erste Schule in islamischer Trägerschaft eröffnet. Auch gab es Versuche, politische Parteien auf einer islamischen Grundlage zu gründen257, die Versuche waren bislang – mit Ausnahme der Parti ISLAM – jedoch nicht erfolgreich. 3. Regulierung des Gesichtsschleiers und nationale Gerichtsentscheidungen Auch der belgische Gesetzgeber entschied sich zu einer Regulierung des Gesichtsschleiers. Nach seiner Verkündung am 1. Juni 2011 gilt seit dem 23. Juli 2011 auch in Belgien ein landesweites Gesichtsverschleierungs- und Vermummungsverbot in der Öffentlichkeit. Die Geschichte der Regulierung von gesichtsbedeckender Kleidung reicht jedoch auch hier weiter zurück und hat insbesondere innerhalb des letzten Jahrzehnts für viel Aufmerksamkeit gesorgt. Auch in Belgien wurde 2004 die Möglichkeit erwogen, wie in Frankreich, religiöse Symbole an staatlichen Schulen zu verbieten. Eine entsprechende Initiative im Parlament hatte jedoch keinen Erfolg.258 Der frankophone Teil Belgiens hatte zuvor entschieden, die Entscheidung über Verbote den Schulen zu überlassen, Flandern folgte noch im gleichen Jahr.259 Die belgischen Gerichte entschieden einheitlich, dass diese Ermächtigung ebenso wie die auf ihrer Grundlage durch einige Schulen erlassenen Verbote rechtmäßig seien. Das Gleichheitsprinzip und die Neutralitätspflicht staatlicher Bildungseinrichtungen wiegen schwerer als die individuelle Religionsfreiheit. Ein Verbot des Tragens sämtlicher religiöser Symbole an staatlichen Schulen wurde in der Region Flandern dennoch 2013 erlassen.260 Während die Thematik des Kopftuchs anders als in Frankreich zu keinen größeren Kontroversen führte, wurde die Debatte um den Gesichts- und Vollschleier in Belgien sehr intensiv geführt. Bereits seit dem 19. Jahrhundert existieren in Belgien regionale Gesichtsvermummungsverbote, die Masken, Kostüme oder 255

Schmitz, S. 355. Moniteur belge/Belgisch Staatsblad, 11. März 1978, S. 2733. 257 Dazu gehörten die Parti des Jeunes Musulmans (PJM), Parti Citoyenneté et Participation (PCP), Parti Noor in der Region Brüssel, Mouvement pour l’Education (MPE) in der Wallonie und Moslim Demokratische Parti in den flämischen Regionen. 258 McGoldrick, S. 211. 259 McGoldrick, S. 211 f. 260 Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages, WD 3 – 3000 – 223/19, S. 5. 256

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sonstige Verkleidungen verbieten.261 Anwendungsfeld waren ursprünglich Karnevalsveranstaltungen, bis die Normen 2004 und 2005 neu interpretiert und allgemein auf den Gesichtsschleier angewendet wurden.262 In diesen Zeitraum fallen auch die ersten regionalen Gesetze263, die explizit ein Verbot der Gesichtsbedeckung und im Besonderen des muslimischen Schleiers in der Öffentlichkeit normieren: Seit 2004 erließen zahlreiche Gemeinden Verschleierungsverbote. Dabei lassen sich die Verbote grundsätzlich in zwei Gruppen einteilen: einige Gemeinden erließen Gesetze, die ein Verbot gesichtsbedeckender Kleidung in Form von Masken, Verschleierungen oder Kostümen in der Öffentlichkeit normieren.264 Diese Verbote stellen also auf die Art der Bedeckung bzw. den dazu genutzten Gegenstand ab.265 Andere Gemeinden trafen generellere Regelungen und erließen Verbote, wonach es untersagt ist, in der Öffentlichkeit nicht identifizierbar oder nicht erkennbar zu sein, weil das Gesicht durch irgendetwas verhüllt oder bedeckt ist.266 Diese Verbote haben mithin einen weiteren Anwendungsbereich, da hier nicht danach unterschieden wird, warum und wodurch das Gesicht nicht zu sehen ist. Entscheidend ist das Kriterium der „Erkennbarkeit“.267 Verstöße gegen die jeweiligen Verbote werden mit einem Bußgeld geahndet, dessen Höchstsumme von Gemeinde zu Gemeinde variiert. Das Maximum beträgt 250 Euro. Während der Anwendungsbereich der zweiten Gruppe von Regelungen den muslimischen Gesichtsschleier klar einschließt, ist dies bei der ersten Gruppe, die sich auf Masken, Verkleidung und Vermummung bezieht, nicht ganz eindeutig. Wie Vrielink, Ouald Chaib und Brems anmerken, besteht in etwa bei der Hälfte der Gemeinden, die eine solche Regelung der ersten Art erlassen haben, 261

Brems, S. 4. Ebenda. 263 Auch vorher gab es in Belgien – wie in anderen europäischen Staaten – bereits Polizeigesetze, die die Vermummung anlassbezogen und situationsspezifisch untersagten, so etwa bei Demonstrationen. Diese seien hier aber nicht weiter diskutiert, da sie einen konkreten, situationsspezifischen Anwendungsbereich haben und in erster Linie Identitätskontrollen ermöglichen sollen, nicht aber bei Androhung von Sanktionen eine generelle Pflicht dahingehend verankern, dass grundsätzlich Jedermann im gesamten öffentlichen Raum jederzeit sein Gesicht zeigen muss. 264 Vrielink/Ouald Chaib/Brems, The Belgian ,burqa ban‘, S. 145. 265 Zu diesen Gemeinden zählten Aals, Aarlen, Anderlecht, Asse, Beauvechain, Beveren, Charleroi, Doornik, Gingelom, Hoeilaart, La Louviére, Liége, Mouscron, Nieuwerkerken, Oudergem, Schaarbeek, Seraing, Sint-Gillis, Sint-Truiden, Ukkel, Vorst und Watermaal-Bosvoorde. 266 Entsprechende Regelungen finden sich etwa in den Gemeinden Antwerpen, Bilzen, Brüssel, Dislen-Stokkem, Dison, Etterbeek, Ganshoren, Ghent, Hoeselt, Jette, Kasterlee, Koekelberg, Korttijk, Lebbeke, Lie, Maaseik, Mechelen, Pepinster, Riemst, Ronse, Sint-Agatha-Berchem, Sint-Jans-Molenbeek, Sint-Lambrechts-Woluwe, Sint-Peters-Woluwe, Turnhout und Verviers. 267 Vrielink/Ouald Chaib/Brems, The Belgian ,burqa ban‘, S. 145. 262

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die Auffassung, dass der muslimische Gesichtsschleier nicht von dem Anwendungsbereich erfasst sei.268 Regelungen beider Gruppen waren in den folgenden Jahren Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen. Die belgische Rechtswissenschaft hebt dabei immer wieder zwei gegensätzliche Entscheidungen hervor: Einen Fall aus der Gemeinde Maaseik aus dem Jahr 2006269 und einen Fall aus Etterbeek in der Region Brüssel von 2011270.271 Die Gemeinde Maaseik hatte ihr Verbotsgesetz nach Art der zweiten Gruppe ausgestaltet. Mithin bezog sich der Anwendungsbereich der Verbotsregelung auf sämtliche Kleidungsstücke oder sonstige Gegenstände, die das Gesicht in einer Art bedeckten, dass die betreffende Person nicht mehr identifizierbar war. Etterbeek dagegen hatte eine Regelung des ersten Typus erlassen, nach der gesichtsbedeckende Masken, Kostüme oder sonstige Verkleidungen untersagt waren. In dem fünf Jahre früher und damit deutlich vor Erlass des nationalen Verbots entschiedenen Fall aus Maaseik hatte die Klägerin mit ihrer Klage keinen Erfolg. Die Klägerin, eine Frau, die regelmäßig einen Niqab in der Öffentlichkeit trug und daraufhin im April 2005 zu einer Bußgeldzahlung in Höhe von 75 Euro aufgefordert wurde, machte vor dem zuständigen Polizeigericht eine Verletzung ihres Rechts auf Religionsfreiheit aus Art. 19 der belgischen Verfassung und Art. 9 Abs. 1 EMRK geltend.272 Sie beklagte einerseits, dass der Anwendungsbereich des Gesetzes nicht klar genug formuliert sei. Insbesondere sei nicht dargetan, weshalb ein Niqab eine Gefahr darstellen könne. Im Übrigen bestünden auch keine Identifizierungsprobleme bezüglich ihrer Person, da sie in der Gemeinde die einzige Frau sei, die überhaupt einen Niqab trage. Ferner verstieße das Verbot gegen das Gleichheitsgebot und das Diskriminierungsverbot. Das Gericht wies die Klage als unbegründet ab und stellte dabei zunächst fest, dass das Gesetz ein legitimes Eingriffsziel verfolge, nämlich die öffentliche Sicherheit. Es war weiter der Auffassung, dass wenn ein religiöses Symbol ein Gesetz oder eine sonstige Regelung verletze, dieses Symbol entsprechend der Rechtsfolge des Gesetzes zu behandeln und die Person die, es trägt, gemäß dem Gesetz zu bestrafen sei. Vorliegend verletze das Tragen des Niqabs die kommunale Regelung, sodass ihre Rechtsfolge anzuwenden sei. Diese Argumentation wurde in der belgischen Rechtswissenschaft zurecht kritisiert. Die Entscheidung missachtet, dass verfassungsrechtlich und völkerrechtlich garantierte Rechte nicht zugunsten anders lau-

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Vrielink/Ouald Chaib/Brems, The Belgian ,burqa ban‘, S. 147. Politierechtbank Tongeren, Abteilung Maaseik, Entscheidung vom 12. Juni 2006. 270 Politierechtbank Brussel, Entscheidung vom 26. Januar 2011. 271 Vgl. sehr ausführlich Vrielink/Ouald/Brems, The Belgian ,burqa ban‘, S. 148 ff.; dies., Boerkaverbod. Juridische aspecten van lokale en algemene verboden op gezichtsverhulling in België, NjW 2011, 398 ff. 272 Vrielink/Ouald/Brems, The Belgian ,burqa ban‘, S. 150. 269

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tender kommunaler Regelungen verdrängt werden können.273 Das Gericht sah auch den Gleichheitsgrundsatz nicht verletzt. Das Gesetz sei allgemein und auf alle Bürger gleichermaßen anwendbar ohne Ansehen der ethnischen Herkunft, Religion oder Hautfarbe der Person.274 Ungeprüft blieb aber, ob gerade diese Gleichbehandlung möglicherweise unterschiedlicher Situationen zu einer Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes und einer mittelbaren Diskriminierung geführt haben könnte – denn anders als bei anderen Bürgern bedeutet die Regelung für muslimische Frauen, die einen Gesichtsschleier aus Glaubensgründen tragen möchten, einen Eingriff in ihre Religionsfreiheit. Im 2011 entschiedenen Fall aus Etterbeek dagegen hatte die Klägerin mit ihrer Klage Erfolg.275 Sie war von der Polizei zweimal zur Zahlung eines Bußgelds aufgefordert worden, als sie mit einem Niqab bekleidet ihre Kinder von der Schule abgeholt hatte. Das Gericht prüfte die Vereinbarkeit des regionalen Verbots aus Art. 12 der Gemeindeordnung von Etterbeek auf seine Vereinbarkeit mit Art. 9 EMRK und stellte fest, dass in dem von den Behörden vorgebrachten Zweck, dass Gesetz solle der öffentlichen Sicherheit dienen, zwar ein legitimes Ziel gem. Art. 9 Abs. 2 EMRK läge, ein generelles Verbot der Vollverschleierung an öffentlichen Plätzen aber weder erforderlich, noch angemessen und damit der Eingriff in die von Art. 9 Abs. 1 EMRK geschützte Religionsfreiheit nicht gerechtfertigt sei.276 Einerseits gebe es zahlreiche andere Situationen, in denen die Gesichter von Menschen nicht sofort und jederzeit erkennbar seien – etwa im Winter durch Schals und Mützen – andererseits sei die öffentliche Sicherheit auch immer dann noch leicht zu gewährleisten gewesen, wenn Ausnahmen von dem Gesetz einschlägig waren wie etwa in der Karnevalszeit.277 Beachtlich ist, dass das zweite Urteil erging, als ein nationales generelles Verbot schon über mehrere Jahre immer wieder im Parlament diskutiert wurde. Ihm ist daher auch ein erhebliches politisches Gewicht beizumessen. Die ersten politischen Diskussionen um ein nationales Verschleierungsverbot begannen im Jahr 2004. Die rechtsextreme Partei Vlaams Blok278 legte damals den ersten Gesetzesentwurf vor. 2005 folgte ein Vorschlag an das flämische Parlament für einen Erlass, der speziell das Tragen von Burka und Niqab regulieren sollte. Von 2007 bis 2010 folgten weitere zahlreiche Gesetzesinitiativen für ein 273

Ebenda. Vrielink/Ouald/Brems, The Belgian ,burqa ban‘, S. 150 f. 275 Politierechtbank (Etterbeek), Urteil vom 26. Januar 2011, abrufbar in französischer Sprache unter http://www.legalworld.be/legalworld/uploadedFiles/Rechtspraak/ De_Juristenkrant/Pol.%20Brussel%20(niqabverbod%20Etterbeek).pdf?LangType=2067. 276 Vrielink/Ouald/Brems, The Belgian ,burqa ban‘, S. 148 f. 277 Ebenda. 278 Nach einem Gerichtsurteil gegen die Partei wegen systematischer Verbreitung von Rassismus gründete sich die Partei im November 2004 als „Vlaams Belang“ neu. 274

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landesweites Verbot von unterschiedlichen Parteien, ehe im Frühjahr 2010 der Innenausschuss der belgischen Abgeordnetenkammer schließlich eine von ihnen einstimmig annahm.279 Daniel Bacquelaine, damaliger Fraktionsvorsitzender der frankophonen Liberalen nannte die Burka in diesem Zusammenhang ein „mobiles Gefängnis“.280 Doch an dem Vorhaben wurde auch Kritik geübt: die stellvertretende Vorsitzende des Islamrats Isabelle Praile etwa kritisierte die Maßnahme als freiheitsfeindlich.281 Dennoch wurde der Vorschlag über das Verbotsgesetz in erster Lesung vom Parlament angenommen. Ehe allerdings der Senat dem Gesetz zustimmen konnte, kam es am 7. Mai 2010 zur Auflösung der damaligen Regierung und vorgezogenen Neuwahlen und damit nicht zu einer Verabschiedung und Inkrafttreten des Gesetzes. Dieser Umstand sorgte dafür, dass nicht Belgien als erstes Land ein landesweites Verbot erließ, sondern wie oben dargestellt Frankreich. Ein Jahr später nahm die Abgeordnetenkammer einen neuerlichen, wenn auch auf dem Vorschlag von 2010 beruhenden282, Gesetzesvorschlag an.283 Am 1. Juni 2011 stimmte auch der Senat als zweite Kammer dem Gesetz zu. Ein allgemeines Verbot gesichtsbedeckender Kleidung war damit endgültig beschlossen.284 Eine Anhörung von Experten und Expertinnen hatte zuvor nicht stattgefunden, auch der belgische Conseil d’État/Raad van State, der den Gesetzgeber bei Gesetzgebungsverfahren zu Fragen der Rechtmäßigkeit und Verfassungsmäßigkeit beraten kann, wurde vor der Verabschiedung nicht einbezogen. Ein Änderungsantrag zu dem Gesetzentwurf, der darauf abzielte, in der amtliche Überschrift des Gesetzes explizit klarzustellen, dass es sich um ein Verbot von Burka und Niqab handele, wurde zuvor abgelehnt.285 Das in dieser Hinsicht neutral formulierte „Gesetz zur Einführung eines Verbots von Kleidung, die das Gesicht

279 Dabei handelte es sich um den Entwurf der Liberalen, vgl. Abgeordnetenkammer, Parlamentsdokument DOC 52 2289/008. Im Übrigen vgl. zur Historie ausführlich Vrielink/Ouald/Brems, The Belgian ,burqa ban‘, S. 151 f. 280 ZEIT online vom 31. März 2010, Belgien will das Tragen der Burka verbieten, abrufbar unter https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2010-03/belgien-burkaverbot?utm_referrer=https %3A %2F %2Fwww.google.com %2F. 281 Abgeordnetenkammer, Parlamentsdokument DOC 52 2289/008. 282 Dass der neuerliche Entwurf den zuvor von der Kammer angenommenen Entwurf aus dem Frühjahr 2010 übernehmen sollte, wurde in der Sondersitzung vom 28. September 2010 noch einmal ausdrücklich hervorgehoben, vgl. Abgeordnetenkammer, Parlamentsdokument DOC 53 0219/001, S. 3. 283 Die Kammer des Parlaments stimmte am 18. April 2011 mit 129 Ja-Stimmen bei gleichzeitig einer Gegenstimme und zwei Enthaltungen dem Verbot zu, vgl. Abgeordnetenkammer, Parlamentsdokument DOC 53 0219/004. 284 Der letztlich beschlossene Entwurf stammte auch hier von der liberalen Partei. Wie schon in den Jahren zuvor brachten aber auch in dieser Zeit andere Parteien Initiativen, so die Christdemokraten und die bereits erwähnte rechte Partei Vlaams Belang. Alle Entwürfe sahen dabei eine Änderung des Strafgesetzbuches vor und nahmen in ihrem Wortlaut keinen ausdrücklichen Bezug auf den muslimischen Gesichtsschleier. 285 Abgeordnetenkammer, Parlamentsdokument DOC 53 0219/003.

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vollständig oder größtenteils verbirgt“ 286 wurde am 13. Juli 2011 offiziell verkündet und trat am 23. Juli 2011 schließlich in Kraft.287 Durch das Gesetz wurde das belgische Strafgesetzbuch um einen Art. 563bis ergänzt. Dieser lautet wie folgt: „(1) Mit einer Geldstrafe von 15 bis 25 Euro und mit Freiheitsstrafe von einem Tag bis zu sieben Tagen oder mit einer dieser Rechtsfolgen allein wird bestraft, wer an Orten, die für die Öffentlichkeit zugänglich sind, mit vollständig oder teilweise bedecktem Gesicht erscheint und in der Folge nicht erkennbar ist, es sei denn, dass andere Regelungen dem entgegenstehen. (2) Der erste Absatz findet keine Anwendung auf Menschen, die mit vollständig oder teilweise bedecktem Gesicht an Orten, die der Öffentlichkeit zugänglich sind, erscheinen und in der Folge nicht erkennbar sind, wenn sie hierzu durch arbeitsrechtliche Bestimmungen verpflichtet sind oder eine kommunale Anordnung dies ausdrücklich im Rahmen von Festlichkeiten erlaubt.“

Der weite Anwendungsbereich lässt keinen Zweifel, dass die Burka und der Niqab von der Regelung erfasst sind. Mithin ist es seit dem 23. Juli 2011 in Belgien eine strafbewehrte Handlung, in der Öffentlichkeit eine Burka oder einen Niqab zu tragen. Überdies enthält das Gesetz in seinem Art. 3 auch eine Regelung bezüglich der Anwendbarkeit der bereits in den Gemeinden zum Teil bestehenden Verbotsgesetze. Grundsätzlich kann eine Person gem. Art. 119bis des Neuen Gemeindegesetzes (Nouvelle Loi communale/Nieuwe Gemeentewet) nur dann nach kommunalen Gesetzen zu einer Bußgeldzahlung verurteilt werden, wenn der Fall nicht von einem höherrangigen Gesetz oder einer Verordnung geregelt wird. Dies ist Ausdruck des ne bis in idem-Prinzips. Art. 119bis Abs. 2 regelt jedoch Ausnahmen von diesem Grundsatz: Danach sind kommunale Regelungen durchaus auch weiterhin neben den dort aufgezählten Normen anwendbar. Es steht der Staatsanwaltschaft in diesen Fällen frei, sich auf die regionalen statt auf die nationalen Regelungen zu berufen. Art. 563bis des Strafgesetzbuches wurde in die Aufzählung gem. Art. 119bis Abs. 2 Nouvelle Loi communale/Nieuwe Gemeentewet aufgenommen, sodass die regionalen Verbote weiterhin als Rechtsgrundlage für eine Verurteilung dienen können. In diesen Fällen ist dann aber wegen des ne bis in idem-Prinzips eine Verurteilung auf Grundlage von Art. 563bis des belgischen Strafgesetzbuches ausgeschlossen. In der Gesetzesbegründung und der den Entwurf betreffenden Plenardebatte wurde vor allem auf die Notwendigkeit einer solchen Verbotsregelung zum 286 Das Gesetz kann in niederländischer Sprache hier http://www.ejustice.just.fgov. be/cgi_loi/change_lg.pl?language=nl&la=N&cn=2011060108&table_name=wet und französischer Sprache hier http://www.ejustice.just.fgov.be/cgi_loi/change_lg.pl?language= fr&la=F&cn=2011060108&table_name=loi eingesehen werden. Alle Übersetzungen ins Deutsche stammen von der Verfasserin. 287 Moniteur Belge/Belgisch Staatsblad, 13 Juli 2011, S. 41434.

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Schutz der öffentlichen Sicherheit288, der Freiheit und Würde der Frau289 und der demokratischen Dynamik in der Gesellschaft durch die Erkennbarkeit des Gesichts290 verwiesen. Auch sei das nationale Gesetz erforderlich, um Rechtssicherheit zu schaffen. Diese sei durch die vielen unterschiedlichen Regelungen der Gemeinden zuvor nicht gegeben gewesen.291 Beachtenswert ist bei einer Gesamtbetrachtung der Verschleierungsdebatte, dass die Diskussionen auch bei den nur regionalen Verboten anders als in Frankreich nicht auf einen vom Staat verantworteten öffentlichen Raum beschränkt waren. Vielmehr ging es seit 2004 in Belgien auf regionaler wie später nationaler Ebene um Regelungen, die die zivile Öffentlichkeit betrafen. Auch wenn wie zuvor gezeigt die Laizität auch in Frankreich bei dem Gesetz 2010-1192 weder Rechtfertigung sein konnte, noch die – zumindest juristische – Debatte dies ernsthaft erwog, so ist die Entwicklung und der Kontext beider Gesetze ein anderer. Belgien hatte bezüglich genereller Verschleierungs- und Verhüllungsverbote eine Art eigener „Vorreiterrolle“ inne, auch wenn ein nationales Verbot aufgrund der politischen Verhältnisse erst nach demjenigen in Frankreich erlassen wurde. In Ermangelung eines dem französischen System vergleichbaren Laizitäts-konzepts fokussierte sich die belgische Debatte von Beginn an auch in der politischen Kommunikation – nicht erst in der juristischen Debatte – auf andere Rechtfertigungsgründe: Schutz der öffentlichen Sicherheit, Menschenwürde, Gleichberechtigung der Geschlechter und Schutz demokratischer Dynamiken im öffentlichen Raum. Am 6. Dezember 2012 hatte der belgische Verfassungsgerichtshof über das Verbotsgesetz zu entscheiden und urteilte, dass das Verbot mit der Verfassung in Einklang stehe.292 In dem Verfahren wurden fünf Klagen zusammengefasst, darunter auch eine Klage einer weiblichen Atheistin und eines männlichen Nicht-Muslim. Die Klägerinnen und Kläger rügten eine Verletzung des Bestimmtheitsgebots, da das Gesetz zu unbestimmt formuliert und nicht von vornherein erkennbar sei, welches Verhalten nach dem neuen Gesetz strafbar sei. Insbesondere die Begriffe „identifizierbar“ und „für die Öffentlichkeit zugängliche Orte“ seien zu unbestimmt und verstießen damit gegen Art. 12 und 14 der belgischen Verfassung in Verbindung mit Art. 7 EMRK.293 Der Gerichtshof wies die Klagen als unbegründet ab. 288

Abgeordnetenkammer, Parlamentsdokument DOC 53 0219/004, S. 10 und 13. Abgeordnetenkammer, Parlamentsdokument DOC 53 0219/004, S. 9. Die Burka stehe für die „Unterwerfung und Negierung der Frau“, so der Abgeordnete André Frédéric von der Sozialdemokratischen Partei PS. 290 Abgeordnetenkammer, Parlamentsdokument, DOC 53 0219/004, S. 10. 291 Abgeordnetenkammer, Parlamentsdokument, DOC 53 0219/004, S. 11. 292 Belgischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 6. Dezember 2012, Nr. 145/ 2012. 293 Belgischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 6. Dezember 2012, Nr. 145/ 2012, S. 12. 289

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Die Vorarbeiten zu dem Gesetz sowie andere bereits in Kraft getretene Gesetze, die ebenfalls Bezug nähmen auf den Begriff der öffentlichen Zugänglichkeit, genügten für eine ausreichende Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit im Sinne des Bestimmtheitsgebots.294 Ausführlicher beschäftigten sich die Richterinnen und Richter mit der gerügten Verletzung der Religionsfreiheit aus Art. 19 der belgischen Verfassung in Verbindung mit Art. 9 EMRK. Sie kamen jedoch auch hier zu dem Schluss, dass der – durchaus bestehende – Eingriff gerechtfertigt sei. Insbesondere die vom Gesetzgeber angeführten „bestimmte Auffassung vom ,Zusammenleben‘ in einer Gesellschaft“, die als ein Element der Rechte und Freiheiten anderer im Sinne des Art. 9 Abs. 2 EMRK betrachtet werden könne, könne den Eingriff zum Wohle eines demokratischen Gesellschaftsverständnisses rechtfertigen.295 Auch die Gleichheit von Mann und Frau vermöge dies, selbst wenn sich die betroffene Frau aus freier Überzeugung zum Tragen eines Vollschleiers entschlossen habe296 und auch der Schutz der öffentlichen Ordnung wirke rechtfertigend.297 Der Schutz dieser Ziele, die Schranken der Religionsfreiheit darstellten, sei notwendig in einer demokratischen Gesellschaft und durch das Gesetz in angemessener Weise verfolgt worden. Auch im Übrigen wurden die zusammengefassten Klagen in dem Verfahren als unbegründet abgewiesen. Es lägen keine Verletzungen der Meinungsfreiheit (Art. 19 der belgischen Verfassung i.V. m. Art. 10 EMRK), der individuellen Freiheit (Art. 12 der belgischen Verfassung i.V. m. Art. 5 EMRK), des Rechts auf Achtung der Privatsphäre (Art. 22 der belgischen Verfassung i.V. m. Art. 8 EMRK), des Rechts auf menschenwürdige Behandlung (Art. 23 der belgischen Verfassung i.V. m. Art. 3 EMRK), des Gleichbehandlungsgrundsatzes (Art. 10 der belgischen Verfassung) i.V. m. dem Diskriminierungsverbot (Art. 11 der belgischen Verfassung i.V. m. Art. 14 EMRK und i.V. m. Art. 1 des 12. ZP zur EMRK) vor.298

294 Belgischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 6. Dezember 2012, Nr. 145/ 2012, S. 12 ff. 295 Belgischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 6. Dezember 2012, Nr. 145/ 2012, S. 19 f. 296 Belgischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 6. Dezember 2012, Nr. 145/ 2012, S. 20. 297 Belgischer Verfassungsgerichtshof, Entscheidung vom 6. Dezember 2012, Nr. 145/ 2012, S. 18 f. 298 Insofern als die klagenden Parteien eine Verletzung einzelner Rechte aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gerügt hatten, wurden ihre Klagen als unzulässig abgewiesen, da deren Anwendungsbereich nicht eröffnet war. Art. 51 Abs. 1 GRCh bestimmt, dass diese für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union gilt. Dies war hier nicht der Fall.

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III. Österreich Auch in Österreich gilt ein umfassendes Gesichtsverschleierungsverbot im öffentlichen Raum. Und auch hier zeigen alle geführten Debatten, dass einziges tatsächliches Ziel der Gesetzgebung ein Verdrängen von Niqab und Burka aus dem öffentlichen Raum war. 1. Rechtliche Rahmenbedingungen Das Verhältnis zwischen Staat und Religionen in Österreich ist durch eine institutionelle Trennung gekennzeichnet. Es besteht keine Staatskirche und der Staat ist in religiösen Angelegenheiten zu Neutralität verpflichtet. Er akzeptiert das Wirken von anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Öffentlichkeit299, sodass die Trennung keine feindliche ist. In Österreich befinden sich die zentralen religionsrechtlichen Normen im Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger (StGG) von 1867, welches im Jahr 1920 durch Art. 149 Abs. 1 des österreichischen Bundesverfassungsgesetzes (B-VG) zu einem Verfassungsgesetz erklärt wurde. Art. 14 StGG gewährt die positive (Abs. 1) wie auch negative (Abs. 3) Religionsfreiheit für jedermann. Art. 15 StGG bezieht sich auf die Religionsgemeinschaften und gewährt den anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften u. a. das Recht auf gemeinsame Religionsausübung und interne Selbstverwaltung. Überdies wird die Religionsfreiheit verfassungsrechtlich aber auch durch Art. 9 EMRK gewährt, da die EMRK in Österreich im Rang der Verfassung steht. Art. 9 EMRK als Verfassungsnorm überlagert die Normen des StGG und fasst die dort normierten Rechte und Freiheiten in einer „aggregierten Grundrechtsnorm“ 300 zusammen. Mehrere einfachgesetzliche Bestimmungen gestalten das österreichische Religionsrecht konkret aus.301 Religionsgemeinschaften können in Österreich den Status einer anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft, einer eingetragenen religiösen Bekenntnisgemeinschaft oder eines Vereins haben. Anerkannte Kirchen und Religionsgesellschaften sind Körperschaften des öffentlichen Rechts. Voraussetzung für die An299

Potz, S. 430. Berka, ÖJZ 16 (1979), 428. 301 Vgl. das Gesetz vom 20. Mai 1874, betreffend die Anerkennung von Religionsgesellschaften, das die Anerkennungsvoraussetzungen regelt; RGBl. Nr. 68/1874 (AnerkennungsG); das Bundesgesetz über die Rechtspersönlichkeit von religiösen Bekenntnisgemeinschaften, welches den Erwerb der Rechtspersönlichkeit für Bekenntnisgemeinschaften regelt, die nicht anerkannte Kirchen oder Religionsgemeinschaften sind, ÖBGBl. I Nr. 19/1998 i. d. F. ÖBGBl. I Nr. 78/2011 (BekGG); Gesetz vom 25. Mai 1868, wodurch die „interconfessionellen (sic!) Verhältnisse“ der Staatsbürger in den darin angegebenen Beziehungen geregelt werden, RGBl. Nr. 49/1868 i. d. F. dRGBl. I S. 384/1939. 300

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erkennung und damit den Status der öffentlich-rechtlichen Körperschaft ist, dass sich die Religionsgemeinschaft zum demokratischen Rechtsstaat bekennt und verfassungskonform agiert. An die Rechtsstellung gekoppelt ist dann die Möglichkeit zur Kooperation der Religionsgesellschaft mit dem Staat. Der Staat wiederum kann von den anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften die Übernahme öffentlicher Aufgaben wie Seelsorge verlangen und Kooperation im Bildungswesen verlangen. Basierend auf dem Anerkennungsgesetzes von 1874 (AnerkennungsG) wurde das Gesetz vom 15. Juli 1912 betreffend die Anerkennung der Anhänger des Islams als Religionsgesellschaft (im Folgenden IslamG 2012)302 als Reaktion auf die staatsrechtliche Integration Bosniens und Herzegowinas erlassen. Entsprechend bezogen sich auch zahlreiche Normen in dem Gesetz explizit auf Bosnien und Herzegowina. Es sollte den Muslimen in der Habsburgischen Monarchie weitegehend gleiche Rechte und Freiheiten wie den Angehörigen der anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften sichern.303 Ihnen wurde gem. Art. 1 § 1 IslamG 1912 Selbstverwaltung und Selbstbestimmung zuerkannt, dies jedoch unter staatlicher Aufsicht. Eine institutionelle Anerkennung des Islam bzw. einer muslimischen Gemeinschaft war 1912 dagegen noch nicht Ziel des Gesetzes. Anerkannt wurde daher die „Religionsgesellschaft der Anhänger des Islam“. Auch einigten sich die Gesetzesväter auf die einschränkende Formulierung, dass nur Muslime der (anders als etwa sunnitische Muslime tatsächlich in Bosnien und Herzegowina lebenden) hanefitischen Rechtsschule vom IslamG 1912 erfasst werden sollten. Zudem wurden keine die Muslime den anderen anerkannten Kirchen und Religionsgemeinschaften gleichstellenden Regelungen zur Eheschließung, die damals rein konfessionell ausgestaltet war, aufgenommen.304 Nach Ende der Monarchie konstituierte sich 1979 dennoch auf Grundlage des IslamG 1912 die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) als erste muslimische Kultusgemeinde, der nach achtjähriger Verhandlungsphase am 2. Mai 1979 der Status einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft zuerkannt wurde.305 Die Frage, welche weiteren islamischen Rechtsschulen von der Anerkennung erfasst sein sollten, wurde dabei der Religionsgemeinschaft selbst überlassen. Am 2. August 1988 wurde das IslamG 1912 durch die sog. Islam-Verordnung306 geändert und die Beschränkung auf die hanefitische Rechtsschule aufgehoben307, ehe es 2015 weitergehend überarbeitet wurde.308 2013 wurde auch 302

RGBl. Nr. 159/1912. Potz, SIAK-Journal 1/2013, 45. 304 Potz, SIAK-Journal 1/2013, 45 (48 f.). 305 Potz, SIAK-Journal 1/2013, 45 (51). 306 ÖBGBl. 57. Stk. Nr. 164/1988. 307 Der Verordnung war eine Entscheidung des österreichischen Verfassungsgerichtshofs (VfGH) vorausgegangen, in der dieser den Ausschluss anderer Rechtschulen als 303

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die Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich (ALEVI) anerkannt.309 Konstituiert hatte sie sich aufgrund ihrer besonderen Situation: die übrigen muslimischen Gemeinschaften erkannten die Aleviten nicht als rechtsgläubige Muslime an und verweigerten ihnen folglich die Zugehörigkeit zur anerkannten muslimischen Glaubensgemeinschaft IGGÖ. Die IGGÖ und ALEVI sind damit Körperschaften des öffentlichen Rechts. Weitere islamische Glaubensgemeinschaften haben Rechtspersönlichkeit nach dem Bekenntnisgemeinschaftengesetz (BekGG) und damit den Status eingetragener religiöser Bekenntnisgemeinschaften erhalten.310 In Österreich besteht die Besonderheit, dass für als gesellschaftlich relevant erachtete Religionen separate Gesetze verabschiedet werden. Dies geschieht jedoch in quasi-vertraglicher Aushandlung mit den jeweiligen Religionsgemeinschaften. So wurde auch das IslamG 2015 nicht ohne Verhandlungen mit der IGGÖ und ALEVI ausgearbeitet. Die IGGÖ kritisierte dabei, dass es nicht angemessen sei, „den Islam“ in einem Gesetz zu regeln, anstatt den unterschiedlichen Gemeinden und Strömungen der Religion jeweils eigene Gesetze zu widmen, vergleichbar den christlichen Kirchen.311 Das IslamG 2015 enthält sowohl Regelungen zu äußeren Rechtsverhältnissen der beiden anerkannten Religionsgemeinschaften sowie Bestimmungen zu Aufbau und Aufgaben und zur Anerkennung weiterer islamischer Religionsgemeinschaften. Auch die Voraussetzungen für eine Aberkennung der Rechtsstellung als anerkannte Religionsgemeinschaft regelt das IslamG 2015. 2. Muslime in Österreich In Österreich leben ca. 500.000 Muslime. 2010 gab die IGGÖ an, dass bei ihr 124.465 Mitglieder registriert seien.312 Schon in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde an österreichischen Schulen auch islamischer Religionsunterricht

mit der staatlichen Neutralitätspflicht unvereinbar gewertet hatte, VfGH Erkenntnis vom 10.12.1987, G 146, 147/87-14. 308 ÖBGBl. I Nr. 39/2015. 309 ÖBGBl. II Nr. 133/2013. 310 Potz, S. 434 Fn. 18. 311 Hierbei ist jedoch anzumerken, dass sich im IslamG jeweils eigene Abschnitte spezifisch für die IGGÖ und die ALEVI finden: Der 3. Abschnitt (§§ 9–15) regelt die „Rechte und Pflichten der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich“, der 4. Abschnitt (§§ 16–22) normiert die „Rechte und Pflichten der Islamischen Alevitischen Glaubensgemeinschaft in Österreich“. Zur weiteren Kritik der IGGÖ an den Normen und an der Verhandlungsführung siehe IGGÖ, Stellungnahme der Islamischen Glaubensgemeinschaft zum Entwurf Islamgesetz (2014) vom 05.11.2014, S. 2 ff., abrufbar unter http://www.derislam.at /deradmin/news/Islamgesetz /Stellungnahme_05.11.2014. pdf. 312 Potz, SIAK-Journal 1/2013, 45 (53).

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angeboten. Im Schuljahr 2016/2017 nahmen über 73.000 Schülerinnen und Schüler am islamischen Religionsunterricht an österreichischen Schulen teil.313 Im Juni 2018 kündigte die seinerzeitige österreichische konservativ-rechtspopulistische Regierung an, erstmals vom IslamG 2015 dergestalt Gebrauch machen zu wollen, dass sie plane, mehrere Moscheen schließen und Imame ausweisen zu wollen. Ihnen wurden u. a. Positionen salafistischen Hintergrunds und Bestrebungen des politischen Islam vorgeworfen.314 § 4 IslamG 2015 fordert für den Bestand einer Religionsgemeinschaft bzw. Kultusgemeinde deren positive Grundeinstellung zu Gesellschaft und Staat. Sollte tatsächlich § 4 IslamG 2015 im Zuge der Schließungen der Moscheen zur Anwendung kommen, wird der Oberste Gerichtshof (OGH) wohl über die Verfassungsmäßigkeit des auslegungsbedürftigen § 4 IslamG 2015 zu entscheiden haben. Bisherige Beschwerden der IGGÖ waren allein aufgrund formeller Fehler abgewiesen worden.315 3. Regulierung des Gesichtsschleiers Bis etwa 2005 gab es in Österreich keine nennenswerten Diskussionen um Regelungsvorhaben wie in anderen Staaten bezüglich des islamischen Schleiers, weder in Form des Kopftuchs, noch in Form der Vollverschleierung. Die ersten größeren öffentlich geführten Diskussionen begannen im Jahr 2008. Anlass war, dass eine Angeklagte vor dem Strafgericht zu ihrem Gerichtsprozess in einem Niqab erschien. Die Frau wurde von dem Vorsitzenden Richter mehrfach aufgefordert, den Schleier von ihrem Gesicht zu nehmen. Als die Frau den Weisungen nicht nachkam, schloss das Gericht sie von der Verhandlung aus. Hiergegen wehrte sich die betroffene Frau vor dem OGH. Dieser entschied mit Urteil vom 27. August 2008, dass der Ausschluss rechtmäßig gewesen sei.316 Konkrete Pläne für ein allgemeines Vollverschleierungsverbot wurden schließlich Anfang 2017 bekannt. Die damalige Regierung aus SPÖ und ÖVP präsentierte ihr Vorhaben für ein Integrationspaket, das auch ein Verbot der Vollverschleierung enthalten sollte. Am 28. März 2017 wurde ihr heftig kritisierter Entwurf des Anti-Gesichtsverhüllungsgesetzes (AGesVG)317 schließlich als Teil 313 Österreichischer Integrationsfonds, Fact-Sheet 32 „Islamischer Religionsunterricht in Österreich“, Oktober 2019, S. 1. 314 Löwenstein, Gehaltschecks aus der Türkei, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. Juni 2018, abrufbar unter http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/islamgesetzwird-in-oesterreich-erstmals-angewendet-15630259.html. 315 Ebenda. 316 OGH, Erkenntnis vom 27.08.2008, 13Os83/08t. 317 Beschluss des Nationalrats über ein Bundesgesetz, mit dem ein Integrationsgesetz und ein Anti-Gesichtsverhüllungsgesetz erlassen sowie das Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz, das Asylgesetz 2005, das Fremdenpolizeigesetz 2005, das Staatsbürger-

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eines Integrationspakets vom Ministerrat angenommen und der Gesetzesentwurf an den Nationalrat weitergeleitet.318 Dieser beschloss das Gesetz am 16. Mai 2017. Am 1. Juni 2017 verzichtete der Bundesrat auf einen Einspruch gegen das Gesetz, sodass es am 8. Juni 2017 verkündet wurde und schließlich am 1. Oktober 2017 in Kraft trat.319 Das Verbotsgesetz gilt auch hier für den gesamten öffentlichen Raum. Es ist Teil eines Gesetzgebungspakets, in dessen Rahmen auch ein Integrationsgesetz verabschiedet und Änderungen weiterer Gesetze (Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz, Asylgesetz, Fremdenpolizeigesetz, Staatsbürgerschaftsgesetz und Straßenverkehrsordnung) erlassen wurden. § 1 AGesVG nennt die Integrationsförderung „durch die Stärkung der Teilhabe an der Gesellschaft und die Stärkung des friedlichen Zusammenlebens in Österreich“ als Ziel des Gesetzes. § 2 Abs. 1 AGesVG normiert anschließend das Verhüllungsverbot: „§ 2 (1) Wer an öffentlichen Orten oder in öffentlichen Gebäuden seine Gesichtszüge durch Kleidung oder andere Gegenstände in einer Weise verhüllt oder verbirgt, dass sie nicht mehr erkennbar sind, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit einer Geldstrafe bis zu 150 Euro zu bestrafen. Die Verwaltungsübertretung kann durch Organstrafverfügung gem. § 50 VStG in der Höhe von bis zu 150 Euro geahndet werden. Öffentliche Orte oder öffentliche Gebäude sind Orte, die von einem nicht von vornherein beschränkten Personenkreis ständig oder zu bestimmten Zeiten betreten werden können, einschließlich der nicht ortsfesten Einrichtungen des öffentlichen und privaten Bus-, Schienen-, Flug- und Schiffsverkehrs.“ 320

Ausnahmen, in denen die Verhüllung oder das Verbergen des Gesichts an öffentlichen Orten oder in öffentlichen Gebäuden erlaubt sein soll, sind in § 2 Abs. 2 AGesVG aufgeführt. Danach liegt kein Verstoß gegen das Verbot vor, „wenn die Verhüllung oder Verbergung der Gesichtszüge durch Bundes- oder Landesgesetz vorgesehen ist, im Rahmen künstlerischer, kultureller oder traditioneller Veranstaltungen oder im Rahmen der Sportausübung erfolgt oder gesundheitliche oder berufliche Gründe hat“.

Das das AGesVG flankierende Integrationsgesetz beinhaltet zudem Einschränkungen bezüglich des Verteilens des Korans und sieht den Ausbau von Deutschund Wertekursen im Rahmen eines Integrationsjahres für Asylsuchende sowie

schaftsgesetz 1985 und die Straßenverkehrsordnung 1960 geändert werden, einsehbar unter http://archiv.bundeskanzleramt.at/DocView.axd?CobId=65746. 318 Meldung auf RP online vom 29. März 2017, abrufbar unter http://www.rp-online. de/politik/burka-verbot-in-oesterreich-beschlossen-aid-1.6720555; vgl. auch BMEIAAT.4.36.42/0369-VIII/2017, Vortrag an den Ministerrat zum Entwurf des Gesetzes vom 28.3.2017. 319 ÖBGBl. I Nr. 68/2017, S. 13. 320 Ebenda.

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eine Verpflichtung zu ehrenamtlicher Arbeit für drei Monate vor.321 Anders als in Frankreich und Belgien ist das österreichische Verbot Teil eines Gesetzespakets. Wenngleich Teil eines Gesetzespakets ist das AGesVG selbst in seinem Wortlaut an das französische und das belgische Verbot angelehnt und systematisch wie inhaltlich nahezu identisch mit diesen. Mithin ist auch hier der Wortlaut zwar neutral gehalten, die Gesetzesbegründung und die Gesetzgebungshistorie, insbesondere der Kontext des gesamten Gesetzespakets, offenbaren jedoch auch hier, dass es konkreter Zweck des Gesetzes ist, allein den muslimischen Vollschleier zu verbieten. Im April 2018 kündigte die österreichische Bundesregierung zudem an, das islamische Kopftuch für Mädchen in Kindergärten und Grundschulen verbieten zu wollen.322 Im Mai 2019 beschloss der Nationalrat ein Kopftuchverbot für Grundschülerinnen bis zur Vollendung des zehnten Lebensjahres.323 Andere religiöse oder weltanschauliche Symbole oder Kleidungsstücke von Schülerinnen und Schülern, solange sie nicht den Kopf verhüllten, oder auch Kreuze an den Wänden der Einrichtungen blieben von der Regelung unberührt. Vor dem Verfassungsgerichtshof hatte das Gesetz in der Folge auch keinen Bestand. Der VfGH urteilte, dass das Gesetz verfassungswidrig sei. Es diskriminiere muslimische Schülerinnen aufgrund ihrer Religion und ihres Geschlechts, da das selektive Verbot allein sie betreffe. Die betroffenen Schülerinnen würden damit in diskriminierender Weise von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern abgegrenzt.324 Das Verbot leiste auch einer sozialen Ausgrenzung Vorschub. Es stigmatisiere das Kopftuch und damit auch die betroffenen Mädchen und grenze islamische Herkunft und Tradition aus, anstatt sie – wie vorgeblich eigentlich bezweckt – in den Schulalltag und die Schülerschaft zu integrieren.325 Damit war das Gesetz wegen Verstoßes gegen Art. 7 B-VG, Art. 2 StGG i.V. m. Art. 9 Abs. 1 EMRK, Art. 14 Abs. 2 StGG als verfassungswidrig aufzuheben.

321 Die Presse vom 28. März 2017, Regierung einigt sich auf Integrationspaket, abrufbar unter http://diepresse.com/home/innenpolitik/5191024/Regierung-einigt-sichauf-Integrationsgesetz. 322 Tagesschau online vom 04.04.2018, Österreich will Kindern das Kopftuch verbieten, abrufbar unter https://www.tagesschau.de/ausland/kopftuch-oesterreich-101.html. 323 Hierzu wurde § 43a Schulunterrichtsgesetz entsprechend geändert, ÖBGBl I Nr. 54/2019. Der Wortlaut bezieht sich auf Schülerinnen und Schüler, die Begrenzung des Wortlauts der geänderten Norm allerdings auf „weltanschaulich oder religiös geprägte Bekleidung, mit der eine Verhüllung des Hauptes verbunden ist“ verdeutlicht, dass es allein um das von Mädchen getragene Kopftuch gehen sollte. 324 VfGH, Urteil vom 11. Dezember 2020, G 4/2020-27, Rn. 149. 325 VfGH, Urteil vom 11. Dezember 2020, G 4/2020-27, Rn. 144.

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IV. Dänemark Auch in Dänemark gilt ein allgemeines Gesichtsverschleierungsverbot im öffentlichen Raum. Ob der äußerst marginalen Verbreitung des Gesichtsschleiers in Dänemark war dieses Gesetz besonders umstritten. 1. Rechtliche Rahmenbedingungen In Dänemark kann faktisch von einem System des Staatskirchentums gesprochen werden. § 4 der dänischen Verfassung nennt die lutherisch-evangelische Kirche jedoch „Volkskirche“ (dän.: Folkekirken), nicht „Staatskirche“. Der Staat selbst ist konfessionslos.326 Die Kirche ist aber vollständig in die staatliche Verwaltung integriert, Leiter der kirchlichen Verwaltung ist der Minister für Kirchenangelegenheiten. Die kirchliche Gesetzgebung obliegt dem Parlament, alle Rechtsentscheidungen der Volkskirche sind vom Parlament oder dem Minister für Kirchenangelegenheit zu treffen.327 Auch der König/die Königin soll gem. § 6 der Verfassung Mitglied der Volkskirche sein. Die Volkskirche erhält staatliche finanzielle Leistungen, gem. § 4 der Verfassung ist der Staat zur Unterstützung der Volkskirche verpflichtet. Auch eine Kirchensteuer wird erhoben, aus der etwa 75 % des Kircheneinkommens generiert werden.328 Andere Religionsgemeinschaften werden nach § 69 der Verfassung ebenfalls anerkannt und ihre Verhältnisse durch Gesetz näher geregelt. Die Pflicht des Staates aus § 4 der Verfassung, die Volkskirche zu unterstützen, bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass andere Religionsgemeinschaften nicht unterstützt werden dürfen.329 Die Bürgerinnen und Bürger haben gem. § 67 der Verfassung das Recht, sich nach eigener Überzeugung in Religionsgemeinschaften zusammenzuschließen. Dieser Paragraph verankert die Religionsfreiheit in der Verfassung. § 70 der Verfassung, der festlegt, dass niemand aufgrund seiner religiösen Überzeugung oder seiner Abstammung vom vollen Genuss der bürgerlichen und politischen Rechte ausgeschlossen werden oder sich einer Bürgerpflicht entziehen darf, stellt eine Antidiskriminierungsklausel dar. Weiterhin darf gem. § 71 der Verfassung keinem „Dänen“ aufgrund seiner Religionszugehörigkeit die Freiheit entzogen werden. Durch die Inkorporierung der EMRK und damit auch deren Art. 14 in dänisches Recht im Jahr 1992 wird § 71 der Verfassung mittlerweile materiell nicht mehr nur dänischen Staatsangehörigen zugestanden, auch wenn der Wortlaut der Norm formell bislang nicht geändert wurde.330

326 327 328 329 330

Weitling, ZevKR 19 (1974), 124 ff. Weitling, ZevKR 19 (1974), 124 ff.; Dübeck, S. 64. Dübeck, S. 77 f. Dübeck, S. 62. Dübeck, S. 64.

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Nach dänischem Recht gibt es neben der Volkskirche anerkannte Religionsgemeinschaften, Religionsgemeinschaften mit dem Recht zur Eheschließung und andere Religionsgemeinschaften ohne Anerkennung im formellen Sinn. Sie alle unterfallen den „anderen Religionsgemeinschaften als der Volkskirche“ i. S. d. § 69 der Verfassung. Ihre Rechte und Pflichten sind in dem „Gesetz über Religionsgemeinschaften außer der Volkskirche“ 331 geregelt, das u. a. auch die Voraussetzung der formellen Anerkennung bestimmt. In Dänemark sind etliche muslimische Gemeinschaften als Religionsgemeinschaften der zweiten Gruppe, also solche, die das Recht zur Eheschließung haben, anerkannt. Das Recht zur Eheschließung hat ein Geistlicher dieser Religionsgemeinschaften dann, wenn er vom Minister für Kirchenangelegenheiten hierzu ermächtigt wurde, §§ 16 Abs. 3, 17 Abs. 2 des dänischen Gesetzes über das Eingehen und Auflösen einer Ehe.332 Des Weiteren hat die Anerkennung als Religionsgemeinschaft mit dem Recht zur Eheschließung zur Folge, dass Spenden von 500 bis 5.000 dänischen Kronen an diese Gemeinschaften nach dem Einkommenssteuergesetz 791/2002 abzugsfähig sind. Im Übrigen gelten diese Gemeinschaften als private Organisationen, häufig organisiert als privatrechtliche Vereinigungen, ohne Anspruch auf staatliche finanzielle Unterstützung, wenngleich diese nicht gesetzlich untersagt ist (s. o.). Des Weiteren werden Religionsgemeinschaften aller drei Gruppen durch einzelne Strafgesetze geschützt. § 137 des dänischen Strafgesetzbuchs stellt die Behinderung und den Versuch des Störens einer religiösen Zeremonie unter Strafe, § 140 des dänischen Strafgesetzbuchs sieht eine Geld- oder Haftstrafe für denjenigen vor, der öffentlich das Glaubensbekenntnis oder die Verehrung eines Gottes einer rechtmäßigen Religionsgemeinschaft beleidigt oder verspottet. „Rechtmäßig“ ist dabei jede Religionsgemeinschaft, die mit den Werten der Verfassung in Einklang steht.333 Das verfassungsrechtliche Diskriminierungsverbot aus § 70 der Verfassung erfährt in § 266b des dänischen Strafgesetzbuchs eine einfachgesetzliche Ausgestaltung. Die Norm sieht strafrechtliche Sanktionen für solche öffentlichen oder zur Verbreitung bestimmten Äußerungen vor, die eine Personengruppe aufgrund ihrer Rasse, Herkunft, Hautfarbe, sexueller Orientierung oder ihres Glaubens bedroht, beleidigt oder erniedrigt. Erfüllt die Äußerung die Voraussetzungen der Propaganda, wirkt dies gem. § 266b Abs. 2 des dänischen Strafgesetzbuchs strafschärfend. 2. Muslime in Dänemark Eine wissenschaftliche Studie der Universität Kopenhagen aus dem Jahr 2009, die die Regierung in Auftrag gegeben hatte, kommt in ihrem Abschlussbericht zu 331 Gesetz Nr. 1533 vom 19.Dezember 2017 („Lov om trossamfund uden for folkekirken“). 332 Gesetz Nr. 147 vom 09. März 1999, zuletzt geändert am 07. Juni 2006 („Lov om ægteskabs indgåelse og opløsning“). 333 Dübeck, S. 79.

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dem Ergebnis, dass in Dänemark etwa 100 bis 200 Frauen im Jahr 2009 den Vollschleier trugen.334 Insgesamt lebten im Jahr 2013 etwa 250.000 Muslime in Dänemark. Bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 5,6 Millionen Menschen stellen Muslime mit ca. 4–5 % mittlerweile die zweitgrößte Religionsgemeinschaft nach den Protestanten dar und sind damit die größte Gruppe der religiösen Minderheiten, noch vor den Katholiken, die mittlerweile nur noch etwa 0,75–1 % (etwa 50.000 Personen) der Gesamtbevölkerung ausmachen. Genauere Angaben zu den Zahlen der Mitglieder der anderen Glaubensgemeinschaften als denen der Volkskirche können dabei allerdings nicht gemacht werden, da die Führung öffentlicher oder privater Register über die Religionszugehörigkeit unzulässig ist.335 3. Regulierung des Gesichtsschleiers Anders als in einigen anderen Vertragsstaaten der EMRK pflegt Dänemark seit bald zwei Jahrhunderten eine Kultur der Sichtbarkeit des Gesichts in der Öffentlichkeit, die in ihrer Intensität durchaus hervorzuheben ist. In der dänischen Kultur und dem dänischen Selbstverständnis ist die Vorstellung tief verankert, dass wer seine Rechte und Freiheiten ausüben und in der Öffentlichkeit für sie kämpfen will, was durchaus gewünscht ist, dies mit offenem Gesicht tun müsse. Ein Beispiel für die Verankerung und Gegenwärtigkeit dieses Prinzips ist die nach wie vor sehr verbreitete Erzählung von Holger Danske, einer fiktiven Figur erfunden von B. S. Ingemann, die den Kampf mit freiem Gesicht als Erfordernis sieht, um wahrlich „dänisch“ zu sein. Nach der Figur wurden Opernhäuser und Widerstandsgruppen im Zweiten Weltkrieg benannt. Die gesellschaftliche Befürwortung und Befolgung des Prinzips des offenen Gesichts war auch ein Grund für den breiten gesellschaftlichen Zuspruch zu dem 1993 in Kraft getretenen Vermummungsverbots bei Versammlungen, Aufzügen, Zusammenkünften und dergleichen im öffentlichen Raum gem. § 134b des dänischen Strafgesetzbuchs.336 Am 1. August 2018 trat ein Änderungsgesetz zum § 134b des Strafgesetzbuchs in Kraft, welche zum Ziel hatte, den muslimischen Gesichtsschleier in der Öffentlichkeit zu verbieten, ohne diesen jedoch ausdrücklich zu nennen. Dem waren neun Jahre Diskussionen um eine derartige Gesetzesänderung vorausgegangen. Begonnen hatten die Debatten um den (regulatorischen) Umgang mit der Vollverschleierung in der Öffentlichkeit wie in den anderen Staaten aber auch hier etliche Jahre zuvor, nämlich im Jahr 2009. Kurz zuvor hatte die damalige Regie334 Institut for Tværkulturelle og Religions Studier, Københavns Universitet, Rapport om brugen af niqab og burka, S. 4, abrufbar unter http://www.e-pages.dk/ku/322/. 335 Dübeck, S. 59. 336 Christoffersen, S. 173 mit weiteren Ausführungen zum gesellschaftlichen Konsens bezüglich des Kampfes für Rechte und Freiheiten mit frei erkennbarem Gesicht und der Figur Holger Danske.

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rung ein Gesetz verabschiedet, dass Richterinnen und Richtern sowie Angestellten an den Gerichten das Tragen religiöser Symbole untersagte. Nach dem Gesetz sollte es aber möglich bleiben, ein Kreuz als Schmuck zu tragen. Richterinnen und Richter kritisierten das Gesetz.337 Private Arbeitgeber hatten nach dem Arbeitsrecht auch zu diesem Zeitpunkt schon in gewissem (verfassungsmäßigem) Rahmen das Recht, Bestimmungen für den Aufenthalt am Arbeitsplatz einzuführen und Anweisungen für die Art und Weise der Ausführung der Arbeiten zu erteilen – auch in Bezug auf das Tragen bestimmter oder einheitlicher Kleidung.338 Bezüglich der Vollverschleierung im öffentlichen Raum brachten Abgeordnete der rechtspopulistischen Danske Folkeparti (Dänische Volkspartei, DF) den ersten Beschlussantrag im Parlament am 8. Oktober 2009 ein.339 Der Titel des Antrags lautete damals „Antrag auf einen Parlamentsbeschluss für ein Verbot des Tragens von Burka und Niqab im öffentlichen Raum“ 340 und bezog sich damit explizit und ausschließlich auf Burka und Niqab. Die damals in Koalition mit den Liberalen regierende konservative Partei kündigte im August desselben Jahres an, als Teil eines Programms zur „demokratischen Integration“ 341 an einem „Verbot von Burkas arbeiten“ 342 zu wollen. Ähnlich wie letztlich in Österreich 2017 geschehen, sollte das Verbot Teil eines Maßnahmenpakets werden, das sich an Migrantinnen und Migranten richtet. Zur Begründung des geplanten Verschleierungsverbots führten seine Befürworter an, dass der Gesichtsschleier für religiöse Unterdrückung stehe und ein durch Burka oder Niqab verdecktes Gesicht nicht mit einem offenen Gesellschaftsmodell vereinbar sei. Im Zuge der Debatten um ein mögliches Verbot richtete die Regierung eine Kommission ein, die dem Innenministerium unterstellt war und untersuchen sollte, wie ein solches Verbot rechtssicher ausgestaltet werden könnte. Die Kommission wiederum beauftragte die Universität Kopenhagen damit, in einer Studie herauszufinden, wie viele Frauen in Dänemark einen Gesichtsschleier zu dieser Zeit trugen. Ergebnis der Studie war der oben bereits angeführte Bericht, in dem die Universität die Zahl der Vollschleier tragenden Frauen auf 100 bis 200 schätzte. Die Studie zeigte aber auch, dass der Gesichtsschleier unter in Dänemark geborene Konvertitinnen verbreiteter ist (bzw. war) als unter im Ausland geborenen und zugewanderten Muslimas. Zudem kam das Justizministerium in seiner Antwort auf eine 337

Christoffersen, S. 178. Vgl. Gesetzesbegründung zum Gesetz von 2018, Justitsmin., j.nr. 2017-00900233, Folketingstidende A, Lovforslag L 219, S. 3. 339 Folketing, dokumenter samling 2009–10, beslutningsforslag B11, 8. Oktober 2009. 340 „Forslag til Folketingsbeslutning om forbud mod at bære burka og niqab i det offentlige rum.“ 341 Zitiert nach Østergaard/Warburg/Schepelern Johansen, S. 43. Diese sind zugleich die Verfasserinnen der Studie der Universität Kopenhagen, zu dieser im Folgenden. 342 Zitiert nach Østergaard/Warburg/Schepelern Johansen, S. 43. 338

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Anfrage des Ausschusses für Einwanderung und Integration am 11. Oktober 2010 zu dem Schluss, dass ein sich spezifisch gegen Kleidungsstücke einer Religionsgemeinschaft richtendes Verhüllungsverbot im öffentlichen Raum sowohl verfassungs- als auch konventionsrechtswidrig sein dürfte.343 Das Vorhaben der Regierung zur Verabschiedung des sog. Integrationspakets einschließlich eines Verbots der Vollverschleierung wurde daraufhin zunächst verworfen. Die Reaktionen auf die Burka und den Niqab sind Christoffersen zufolge in der dänischen Gesellschaft überwiegend negativ, wenngleich beide mehrheitlich als selbst gewählte religiöse Praxis der Frauen und nicht als Zwang durch deren Ehemänner und männliche Familienmitglieder gesehen werden.344 Diese Einschätzung steht im Einklang mit der tiefen Verankerung des Prinzips der Sichtbarkeit in der dänischen Gesellschaft. Nichtsdestotrotz wurde zum 1. Juli 2010 der Straftatbestand der Nötigung in § 260 des dänischen Strafgesetzbuchs um einen neuen Absatz 3 ergänzt, in dem festgeschrieben wurde, dass wer eine andere Person zum Tragen eines Kleidungsstücks, das das Gesicht bedeckt zwingt, mit Freiheitsstrafe bis zu vier Jahren bestraft werden kann.345 Das Verbotsvorhaben bezüglich auch des freiwilligen Tragens des Vollschleiers in der Öffentlichkeit wurde im Oktober 2014 im Nachgang der EGMR-Entscheidung im Fall S.A.S. gegen Frankreich, in der der EGMR bezüglich des französischen Verbotsgesetzes keinen Verstoß gegen die EMRK erkannte346, wieder aufgenommen. Der Titel des erneuten Antrags zur Beschlussfassung durch das Parlament der DF war dieses Mal anders als 2009 in religions-neutralem Wortlaut gehalten.347 Auch dies stellte eine Reaktion auf die vom EGMR festgestellten Anforderungen an ein Verbot im Fall S.A.S. gegen Frankreich dar. So lautete der Titel des Vorhabens nun „Vorschlag für einen Parlamentsbeschluss für ein Verbot von Maskierungen und gesichtsbedeckender Kleidung im öffentlichen Raum“.348 Die Initiatoren verzichteten auf die explizite Nennung der beiden Formen des muslimischen Gesichtsschleiers. Zur Begründung für ihre Initiative führte die DF an, in der dänischen und westlichen Kultur sei es Teil der Beziehung der Menschen zueinander, einander ins Gesicht sehen zu können. Für das Zusammenleben der Menschen in Dänemark sei es daher entscheidend, dass 343 Justitsministeriet, Svar på Spørgsmål 304 på Udvalget for Udlændinge- og Integrationspolitik 2009–10 (UUI) alm. del. 344 Christoffersen, S. 171 (174). 345 Justitsmin., j.nr. 2010-730-1106. Das Strafmaß entspricht damit demjenigen in § 260 Abs. 2 des dänischen Strafgesetzbuchs, der die Zwangsverheiratung einer anderen Person unter Strafe stellt. 346 EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR-2014-III. 347 Folketing, dokumenter samling 2014–15, beslutningsforslag B 10 vom 21. Oktober 2014. 348 „Forslag til folketingsbeslutning om forbud mod maskering og heldækkende beklædning i offentligt rum.“

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Maskierungen und gesichtsbedeckende Kleidung wie Burka und Niqab generell im öffentlichen Raum verboten seien. Wiederum gebe es aber auch Ausnahmen, in denen eine Vermummung des Gesichts geboten sein könne.349 Diese wortlautneutrale und sichtbarkeitsbezogene Argumentation ist anders als die Geschichten um die Figur Holger Danske keine dänische Besonderheit. Vielmehr stellte sie im Jahr 2014 eine (zumindest teilweise) Übernahme der französischen und belgischen Argumentationslinien und der letztlich entscheidenden Passage zum legitimen Eingriffsziel aus dem Urteil S.A.S. gegen Frankreich dar, in dem der EGMR das Verbotsgesetz nicht als Verstoß gegen die EMRK wertete.350 Obwohl darauf verwiesen wurde, dass das Gesetz neutral und nicht islambezogen formuliert werden müsse, bezogen sich die Initiatoren in den Anmerkungen zu der Vorlage wiederum explizit auf Burka und Niqab.351 Trotz der zuvor ergangenen EGMR-Entscheidung zum französischen Verbotsgesetz und des nun religionsneutralen Gesetzeswortlauts wurde auch diese Vorlage im Parlament abgelehnt. Es dauerte jedoch nur zwei Jahre, ehe die Vorlage mit leichten Änderungen und neuen Anmerkungen wieder aufgenommen und erneut im Parlament eingebracht wurde.352 Die Initiative ging abermals von der DF aus. In den Anmerkungen zu diesem Antrag bezieht sich die DF noch einmal auf die Vorlage von 2014 und geht auf die damaligen Bedenken der sozialdemokratischen Justizministerin Mette Frederiksen ein. Frederiksen war zu dem Schluss gekommen, dass eine allgemeine Regelung wohl rechtlich möglich wäre, wenn das Verbot einen legitimen Zweck verfolge und nicht darauf gerichtet wäre, die Anhängerinnen einer Glaubendgemeinschaft zu diskriminieren. Sei dies gegeben, so gehe es nur noch um eine politische Diskussion und Entscheidung.353 In ihren Anmerkungen schildern die Antragsteller ihre Gründe, weshalb sie die Zeit dafür nun für gekommen hielten. Zum Anlass für die neuerliche Antragsstellung nahmen sie eine vierteilige Reportage des Fernsehsenders TV2. Dieser hatte im März 2016 eine Reportage mit dem Titel „Moskeerne bag sløret“ (dt.: „Die Moscheen hinter dem Schleier“) ausgestrahlt. In dieser erhielten getarnte Reporter und eine Reporterin über Monate mit verborgener Kamera Zugang zu Moscheen in der Stadt Aarhus, wie etwa der Grimhøj-Moschee. Die entstandenen Aufnahmen sorgten für viel Diskussion in der dänischen Öffentlichkeit. Die Reportage zeigt Sitzungen eines Scharia-Rates und Predigten, die Aufrufe zu Gewalt enthalten, wie etwa zur Steinigung von Frauen, sollten sie Ehebruch begehen. In der Grimhøj-Moschee wurde der dort abgehaltene Scharia-Unterricht gefilmt. Nach Aus349

Folketing, dokumenter samling 2014–15, beslutningsforslag B 10, S. 2. EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR-2014-III, Ziffer 117. 351 Folketing, dokumenter samling 2014–15, beslutningsforslag B 10, S. 2. 352 Folketing, dokumenter samling, 2016–17, beslutningsforslag B 8 vom 17. November 2016. 353 Folketing, dokumenter samling, 2016–17, beslutningsforslag B 8, S. 2. 350

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strahlung der Reportage erhoben sich gleichfalls aber auch viele Stimmen, die darauf verwiesen, dass es sich bei den gefilmten Personen und Begebenheiten um eine radikale Minderheit handele. Die Antragsteller nahmen diese Reportage gleichwohl zum Anlass für ihre erneute Forderung nach einem Verbot gesichtsbedeckender Kleidung im öffentlichen Raum. Trotz wiederum neutralen Wortlauts blieb die Motivation für die Initiative dieselbe wie schon 2009. Die Reportage habe gezeigt, dass sich Radikalisierung und Islamisierung weiter verbreitet hätten anstatt zurückzugehen. Auch auf die wachsende Anzahl Geflüchteter und den Nachzug derer Familienmitglieder sprechen die Antragsteller an: es sei wichtig, dass diese in eine Gemeinschaft kämen, in der die dänischen Werte gezeigt würden, was auch die Gleichstellung von Mann und Frau bedeute. Daher sei gesichtsverhüllende Kleidung im öffentlichen Raum nicht zu akzeptieren.354 Die Argumentation für das Verbot bezog sich auch 2016 mithin wiederum auf die Religionsgemeinschaft der Muslime und eine Form der Religionsausübung, ein spezifisches religiös konnotiertes Kleidungsstück. Anders als 2014, als die Diskussion sich im Nachgang der S.A.S.-Entscheidung des EGMR hauptsächlich auf den Wert des freien Gesichts als Zeichen der dänischen Gesellschaft konzentriert hatte, wurde 2016 verstärkt das Argument der Gleichstellung der Geschlechter und darüber hinaus auch das Argument, der Vollschleier könnte bei terroristischen Angriffen oder bei der Begehung sonstiger Straftaten zur Tarnung dienen, angeführt.355 In Anbetracht der Tatsache dass die Grimhøj-Moschee dafür bekannt war, dass aus ihrer Mitte besonders häufig junge Männer in die Kriege im Irak und Syrien zogen, zielte diese Argumentation darauf, eine auch durch die Reportage in Teilen der Gesellschaft hervorgerufene islamfeindliche Stimmung aufzugreifen. Nichtsdestotrotz wurde auch dieser Antrag mit 77 zu 24 Stimmen im Parlament abgelehnt. Im Herbst 2017, nur ein Jahr später, folgte der nächste Versuch der DF. Zwar war ihr Antrag ein Jahr zuvor unter derselben Regierung abgelehnt worden, nämlich der sich seit dem 28. November 2016 im Amt befindlichen Regierung aus Rechtsliberalen, Konservativen und Liberaler Allianz. Da es sich bei dieser jedoch um eine Minderheitsregierung handelte, war sie zuweilen auch auf Stimmen der DF angewiesen. Der am 4. Oktober 2017 eingereichte „Vorschlag für einen Parlamentsbeschluss für ein Verbot von Masken und gesichtsbedeckender Kleidung im öffentlichen Raum“ 356 stellte eine nur leicht geänderte Fassung des Vorschlags von 2016 dar. In dem neuerlichen Entwurf werden zwei Fragen ge354

Folketing, dokumenter samling, 2016–17, beslutningsforslag B 8, S. 2. Folketing, dokumenter samling, 2016–17, beslutningsforslag B 8, S. 2. 356 „Forslag til folketingsbeslutning om forbud mod maskering og heldækkende beklædning i offentligt rum“, Folketing, dokumenter samling, 2017–18, beslutningsforslag B 1. 355

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stellt und aus Sicht der Initiatoren beantwortet: Ist es rechtlich möglich, ein Verhüllungsverbot zu erlassen und welche Gründe sprechen dafür? Auch auf die Erfahrungen anderer Länder wird abermals eingegangen. Zur ersten Frage führen die Initiatoren aus, dass das Justizministerium „früher“ noch davon ausgegangen sei, dass ein Verbot von Burka und Niqab im öffentlichen Raum verfassungs- und konventionsrechtswidrig sei. Diese Ausführung bezieht sich auf oben angeführte Beantwortung der Fragen des Einwanderungs- und Integrationsausschusses durch das damalige Justizministerium. Der EGMR, so die Initiatoren, habe im Juli 2014 jedoch das französische Gesetz zum Verbot der Gesichtsverhüllung im öffentlichen Raum gebilligt und damit gezeigt, dass derartige Verbotsgesetze nicht konventionswidrig seien. Die Initiatoren machen ferner deutlich, dass – obwohl sie sich auf das Urteil zu einem neutral formulierten Gesetz berufen – ihre Intention und Motivation für eine entsprechende Regelung noch dieselbe ist wie schon 2009: ein Verbot gerade des muslimischen Vollschleiers in der Öffentlichkeit. Die in der Folge der EGMR-Entscheidung im Fall S.A.S. abgegebene Stellungnahme der Justizministerin Frederiksen wiederholen die Initiatoren an dieser Stelle gleichwohl und zitieren die von Frederiksen genannten Voraussetzungen, die ein (möglicherweise) rechtmäßiges Verbot erfüllen müsste. Frederiksen kam wie oben dargestellt zu dem Schluss, dass das Verbot keine Diskriminierung einer Religionsgruppe darstellen und daher gerade nicht zum Ziel haben dürfe, allein die muslimische Verschleierung zu verbieten. Darüber hinaus gehe es um eine politische und gesellschaftliche Entscheidung. In der Folge präsentieren die Initiatoren ihre politischen Argumente für ein Verbot. Wie bereits 2014 unmittelbar nach der S.A.S.-Entscheidung des EGMR baut die Argumentation des Vorschlags von 2017 nun wieder verstärkt auf der Konzeption auf, dass es in der dänischen und westlichen Gesellschaft für zwischenmenschliche Interaktion und das Zusammenleben entscheidend sei, dass die Bürgerinnen und Bürger einander ins Gesicht schauen können und es dementsprechend nicht akzeptabel sei, wenn Personen im öffentlichen Raum ihr Gesicht verhüllten. Wie 2014 nennen die Initiatoren beispielhaft für nach ihrer Ansicht verbotswürdige Kleidungsstücke einzig Burka und Niqab und betonen gleichzeitig, dass es andere Situationen und Kleidungsstücke geben könne, für die Ausnahmen vorgesehen werden müssten. Das Gesetz müsse aber grundsätzlich weltanschaulich neutral formuliert sein und allgemein Anwendung finden. So könne dem Vorwurf der Diskriminierung entgangen werden. Verstöße sollten mit einer Geldstrafe und gegebenenfalls mit der verpflichtenden Teilnahme an einem Kurs über dänische und westliche Werte geahndet werden oder auch mit einer Haftstrafe.357 Schließlich bemerken die Initiatoren auch noch einmal, dass der Ganzkörperschleier Ausdruck einer niederen Stellung der Frau sei und daher nicht mit dänischen Werten vereinbar sei. Auch die Reportage von TV2 wird nochmals – nachdem sie bereits 2016 Anstoß und

357

Folketing, dokumenter samling, 2017–18, beslutningsforslag B 1, S. 2 f.

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Begründung für den damaligen Vorschlag war – aufgegriffen und betont, dass diese gezeigt habe, wie radikale Muslime in bestimmten Moscheen der Integration von Muslimen in die dänische Gesellschaft verhindern würden.358 Das Anführen dieser Reportage und die Betonung einer Integrationsunwilligkeit sowie der Bildung von Parallelgesellschaften, verdeutlichen die unveränderte Zielrichtung des Gesetzesvorhabens. Der Vorschlag wurde dennoch diesmal mit den Stimmen der DF, der Konservativen Partei sowie der oppositionellen Sozialdemokraten angenommen. Die Regierung erarbeitete daraufhin einen Entwurf, der am 11. April 2018 ins Parlament eingebracht wurde. Der Entwurf umfasste ein Änderungsgesetz zu dem bereits existenten § 134b des dänischen Strafgesetzbuchs.359 Die Norm lautete bis dahin wie folgt: „§134b. (1) Derjenige, der in Zusammenhang mit einer Versammlung, Zusammenkünften, Aufzügen oder dergleichen an einem öffentlichen Ort sein Gesicht vollständig oder teilweise mit einer Haube, Maske, Bemalung oder dergleichen bedeckt, um eine Identifizierung zu verhindern, wird mit einer Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten bestraft. (2) Gleichermaßen ist auch derjenige zu bestrafen, der sich in der Öffentlichkeit befindet und Gegenstände bei sich trägt, die als zur Bedeckung des Gesichts in der in Abs. 1 genannten Weise bestimmt anzusehen sind. (3) Das in Abs. 1 und 2 genannte Verbot gilt nicht für eine Bedeckung des Gesichts, die zum Schutz gegen das Wetter bestimmt ist oder einem anderen anerkennungswürdigem Zweck dient.“ 360

Der Entwurf sah vor, den als einzigen ausdrücklich genannten Rechtfertigungsgrund für eine Vermummung in den genannten Kontexten, nämlich den „Schutz gegen das Wetter“ ersatzlos zu streichen. Anders als in Frankreich, Belgien und Österreich wählten die dänischen Initiatoren damit nicht den Weg, die Ausnahmen vom grundsätzlichen Verbot der Gesichtsverhüllung an öffentlichen Orten explizit zu nennen. Was jedoch einen „anerkennungswürdiger Zweck“ im Sinne der Norm darstellen kann, bleibt damit der Auslegung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs überlassen. In den Erwägungsgründen zu dem Gesetzentwurf heißt es dazu, es werde „davon ausgegangen, dass Verhüllungen oder ähnliches 358

Folketing, dokumenter samling, 2017–18, beslutningsforslag B 1, S. 3. Justitsmin., j. nr. 2017-0090-0233, Folketingstidende A, Lovforslag L 219: Forslag til Lov vom ændring af staffeloven, (tildækningsforbud). 360 „§ 134b. Den, der i forbindelse med møder, forsamlinger, optog eller lignende på offentligt sted færdes med ansigtet helt eller delvis tildækket med hætte, maske, bemaling eller lignende på en måde, der er egnet til at hindre identifikation, straffes med bøde eller fængsel indtil 6 måneder. Stk. 2. På samme måde straffes den, som på offentligt sted besidder genstande, der må anses for bestemt til tildækning af ansigtet under de i stk. 1 nævnte omstændigheder. Stk. 3. De i stk. 1 og 2 nævnte forbud gælder ikke for tildækning af ansigtet, der foretages for at beskytte mod vejrliget, eller som tjener andet anerkendelsesværdigt formål.“, dt. Übersetzung der Verfasserin. 359

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aus religiösen Gründen nicht gem. § 134b verboten sind, wenn sie im Zusammenhang mit einer konkreten religiösen Handlung oder dergleichen stattfinden, zum Beispiel in einem religiösen Gebäude oder in Verbindung mit einem Hochzeitsoder Bestattungsritual“.361 Die Gesetzesbegründung verweist auch darauf, dass die Gesichtsverhüllung durchaus als vom Schutzbereich des Grundrechts aus § 67 der Verfassung erfasst angesehen werden kann, es sprächen jedoch auch gewichtige Gründe für ein Verbot wie das vorgeschlagene: zwar könne die Gesichtsverschleierung eine Religionsausübung darstellen und genieße entsprechenden Schutz, das Verbot sei jedoch von dem angemessenen Anliegen getragen, die soziale Interaktion und das Zusammenleben, die in einer Gesellschaft wesentlich seien, zu fördern.362 Der Entwurf fand die erforderliche Mehrheit im Parlament. Am 1. Juni 2018 wurde das Gesetz – vor seinem Inkrafttreten – noch einmal geändert. Die Änderung fügte dem § 134 noch den neuen § 134c hinzu. Gestrichen wurde damit letztlich die ausdrückliche Erwähnung des legitimen Zwecks in § 134b Abs. 3 des dänischen Strafgesetzbuchs, das Gesicht zum Schutz gegen das Wetter zu bedecken. Die Ausnahme vom allgemeinen Gesichtsverhüllungsverbot nach § 134 Abs. 3 lautet nunmehr: „(3) Die Verbote der vorherigen Absätze gelten nicht für eine Bedeckung des Gesichts, die einem anerkennungswürdigen Zweck dient.“ 363

In § 134c wurde festgeschrieben, dass Verstöße mit einer Geldstrafe zu bestrafen sind.364 Das heute geltende dänische Verbot trat zum 1. August 2018 in Kraft.365 Auch in Dänemark ist damit das Ergebnis eines durch (vermeintliche) WerteDiskussionen geprägten Gesetzgebungsprozesses ein im Wortlaut neutrales (Änderungs-)Gesetz, dessen eigentlicher Zweck jedoch darin besteht, das Tragen des muslimischen Gesichtsschleiers im gesamten öffentlichen Raum unter Strafe zu stellen.

V. Schweiz Schließlich hat als derzeit letztes Land die Schweiz ein bundesweites Gesichtsverschleierungsverbot für den gesamten öffentlichen Raum erlassen. Das Schweizer Gesetz trat am 7. März 2021 in Kraft und ist damit das jüngste der derzeit 361 Justitsmin., j. nr. 2017-0090-0233, Folketingstidende A, Lovforslag L 219: Forslag til Lov vom ændring af staffeloven, (tildækningsforbud), S. 5 f. 362 Justitsmin., j. nr. 2017-0090-0233, Folketingstidende A, Lovforslag L 219: Forslag til Lov vom ændring af staffeloven, (tildækningsforbud), S. 6. 363 „Stk. 3 De i stk. 1 og 2 nævnte forbud gælder ikke for tildækning af ansigtet, der tjener et anerkendelsesværdigt formål.“ 364 Justitsmin., j. nr. 2017-0090-0233, Lov nr. 717 vom 8. Juni 2018. 365 Justitsmin., j. nr. 2017-0090-0233, § 2 Lov nr. 717 vom 08. Juni 2018.

C. Regulierung, Verwaltungspraxis und Urteile

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geltenden allgemeinen und landesweiten Verschleierungsverbote im Raum der EMRK-Mitgliedsstaaten. Die Diskussionen um eine Regulierung des Vollschleiers reichen in der Schweiz aber insbesondere auf Ebene der Kantone bereits mehr als zehn Jahre zurück. In Anbetracht der Tatsache, dass die jüngste Gesetzgebung aus der Schweiz der juristischen Auseinandersetzung mit den Verschleierungsverboten keine neuen Aspekte mehr zu verleihen vermag, soll die Darstellung der Schweizer Verhältnisse kurz gehalten und im Folgenden nur überblicksartig dargestellt werden. 1. Rechtliche Rahmenbedingungen und der Islam in der Schweiz Bis in die 1970er Jahre war auch die Schweizer Bevölkerung hinsichtlich der in ihr vertretenen Glaubensgemeinschaften eine weitestgehend homogene Gruppe. Neben der katholischen und evangelischen Kirche, die öffentlich-rechtlich anerkannt und damit einhergehend Trägerinnen von besonderen Rechte und Pflichten zuteil waren, gab es damit auch keine andere Glaubensrichtung, die staatlicherseits Beachtung gefunden hätte.366 Dies änderte sich in den vergangenen Jahrzehnten allerdings gravierend. Laut der Schweizer Strukturerhebung betrug der Anteil der Muslime im Jahr 2019 an der Gesamtbevölkerung ca. 5,4 %.367 Damit stellen Muslime die drittgrößte Glaubensgemeinschaft in der Schweiz dar. In rechtlicher Hinsicht sind die einzelnen Schweizer Kantone gem. Art. 72 Abs. 1 der Schweizer Bundesverfassung autonom hinsichtlich der Ausgestaltung ihrer Beziehungen zu den jeweiligen Religionsgemeinschaften, die sich in ihrem Gebiet befinden.368 Gem. Art. 3 der Schweizer Bundesverfassung reicht diese Souveränität so weit wie sie nicht durch die Bundesverfassung begrenzt wird. Die christlichen Kirchen sind in allen Kantonen als Landeskirchen anerkannt. Dagegen wurde bislang in keinem Kanton eine muslimische Glaubensgemeinschaft öffentlich-rechtlich anerkannt. Die muslimischen Gemeinden sind zumeist als Vereine gem. Art. 60 ff. Schweizerisches Zivilgesetzbuch (ZGB) oder Stiftungen gem. Art. 80 ff. ZGB organisiert.369 Die größte muslimische Organisation der Schweiz ist die Föderation Islamischer Dachorganisationen Schweiz (FIDS), deren Ziel es ist, muslimische Vereine und Dachverbände mit einer Stimme auf Bundesebene zu vertreten. Die FIDS wurde 2006 gegründet und ist ebenfalls als 366 Pahud de Mortanges, S. 245. Mit der öffentlich-rechtlichen Anerkennung einher geht etwa das Recht, Steuern erheben zu können. 367 Schweizer Bundesamt für Statistik, Schweizer Strukturerhebung, Religionszugehörigkeit 2017–2019 kumuliert, abrufbar unter https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/ statistiken/bevoelkerung/sprachen-religionen/religionen.html; ausführlich zur Entwicklung des Anteils der Menschen muslimischen Glaubens an der Schweizer Gesamtbevölkerung seit den 1960er Jahren vgl. Schatz, S. 11. 368 Pahud de Montaigne, S. 251. 369 Schatz, S. 16.

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1. Teil: Die Geschichte des muslimischen Gesichtsschleiers

Verein organisiert. Derzeit gehören ihr zwölf Mitgliedsorganisationen an.370 Gemeinsam mit der schon älteren Organisation Koordination Islamischer Organisationen Schweiz (KIOS), die auch über Einzelmitglieder verfügt, bildet die FIDS die Arbeitsgemeinschaft IVS – Islamische Vereinigungen Schweiz.371 Die Religions- und Weltanschauungsfreiheit wird durch Art. 15 der Schweizer Bundesverfassung umfassend gewährt und kann nur zum Schutz der Rechte Dritter aus der Verfassung oder wegen der Notwendigkeit für ein öffentliches Interesse und unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit beschränkt werden.372 Der Staat hat sich in religiösen und weltanschaulichen Fragen neutral zu verhalten, wenngleich diese Pflicht Kooperationen nicht ausschließt.373 Die Autonomie der Kantone gegenüber muslimischen Glaubensgemeinschaften wird durch Art. 72 Abs. 3 der Schweizer Bundesverfassung begrenzt. Danach ist der Bau von Minaretten verboten. Eine vergleichbare Regelung hinsichtlich der religiösen Bauten anderer Glaubensgemeinschaften gibt es nicht. Das Bauverbot für Minarette wurde 2009 per Volksabstimmung vom 29. November 2009 in die Bundesverfassung aufgenommen.374 Dem war eine viel beachtete Debatte vorausgegangen. Unterstützt wurde das Vorhaben seinerzeit von der rechts-konservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) und der christlichen, nationalkonservativen Eidgenössisch-Demokratischen Union (EDU). Nach ihrer Ansicht symbolisiere das Minarett einen Machtanspruch des Islam. Alle übrigen Parteien, Kirchen und Islamverbände hatten das Vorhaben abgelehnt.375 Lanciert hatte das Vorhaben aber das sog. Egerkinger Komitee, ein zivilrechtlich organisierter Verein, dem rechtskonservative Politiker, Anwälte und Verleger angehören und der nach eigener Darstellung gegen eine „Islamisierung der Schweiz“ eintritt. Das Referendum war, wenn auch für viele überraschend, erfolgreich und das Minarettbauverbot fortan Teil der Schweizerischen Bundesverfassung. Die Regelung dürfte bis heute offenkundig wenig ausgerichtet haben gegen etwaige radikale islamistische Strömungen, wenngleich sich Zahlen hierzu nicht erheben lassen. Sie kann gerade in Verbindung mit der seinerzeit aggressiven und islamophoben Kampagne376 der initiierenden Parteien als rein populistisches Vorhaben und symbolhafte Regelung verstanden werden. 370 Vgl. https://www.inforel.ch/wissen/religionsgemeinschaften/foederation-islami scher-dachorganisationen-in-der-schweiz-fids. 371 Vgl. https://www.inforel.ch/wissen/religionsgemeinschaften/koordination-islami scher-organisationen-schweiz-kios. 372 Pahud de Montaigne, S. 253. 373 Ebenda. 374 BBl 2010, 3437. 375 Taz.de vom 29. November 2009, Schweizer für Minarett-Verbot, abrufbar unter https://taz.de/Volksabstimmung/!5151760/. 376 SVP und EDU hatten mit einer Plakatkampagne für die Initiative geworben, bei der eine Frau im Niqab vor mehreren auf einer Schweizer Flagge stehenden Minaretten

C. Regulierung, Verwaltungspraxis und Urteile

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2. Regulierung des Gesichtsschleiers Der italienischsprachige Kanton Tessin war im Jahr 2013 der erste Schweizer Kanton, in dem ein Gesichtsverschleierungsverbot zur Abstimmung gebracht wurde. Das Vorhaben sah vor, in die Tessiner Kantonverfassung einen neuen Art. 9a aufzunehmen, der wie folgt lauten solle, der es jedermann untersagen sollte, sein Gesicht im öffentlichen Raum und an Orten zu verbergen oder zu verhüllen, die allgemein zugänglich sind (ausgenommen Sakralstätten) oder die der Erbringung von Publikumsdienstleistungen dienen. Gem. Art. 9a Abs. 2 sollte es gleichfalls jedermann verboten sein, eine andere Person aufgrund ihres Geschlechts zu einer Gesichtsverschleierung zu zwingen. Art. 9a Abs. 3 schließlich sollte bestimmen, dass Sanktionen und Ausnahmen durch ein Ausführungsgesetz geregelt werden sollten. In der Abstimmung vom 22. September 2013 wurde das Referendum angenommen377 und schließlich am 11. März 2015 von der Schweizerischen Bundesversammlung beschlossen.378 Die zugehörigen Ausführungsgesetze, das Legge sulla dissimulazione del volto negli spazi pubblici (dt. Gesetz über das Verbergen des Gesichts im öffentlichen Raum) sowie Änderungen des Regolamento sull’ordine pubblico e sulla dissimulazione del volto negli spazi pubblici (dt. Verordnung über die öffentliche Ordnung und das Verbergen des Gesichts im öffentlichen Raum) erließ der Große Rat des Kantons Tessin, dem Kantonsparlament, am 8. November 2015.379 Zum 1. Juli 2016 trat der neue Kantonsverfassungsartikel in Kraft. Gemäß Art. 5 Abs. 1 des Ausführungsgesetzes können Verstöße mit Geldbußen von 100 bis 1.000 Schweizer Franken, im Wiederholungsfall auch bis zu 10.000 Franken geahndet werden. Das Verbot sollte gem. Art. 4 des Legge sulla dissimulazione del volto negli spazi pubblici nicht gelten, wenn die Verhüllung des Gesichts durch andere gesetzliche Bestimmungen vorgeschrieben oder aus Gründen des Gesundheitsschutzes, der Sicherheit, der Berufs- oder Sportausübung gerechtfertigt ist oder wenn sie im Rahmen von religiösen, traditionellen oder künstlerischen Veranstaltungen erfolgt. Hinsichtlich der Ausnahmetatbestände entschied das Schweizer Bundesgericht im September 2018, dass diese zu restriktiv gefasst seien und die Meinungs- und Versammlungsfreiheit unangemessen beschränkten. Insoweit wurde dem Großen Rat des Kantons Tessin aufgegeben, das Gesetz um zusätzliche Ausnahmetatbestände zu ergänzen.380 zu sehen war, wobei die Minarette schwarz gehalten waren und ihrer Form nach – wie wohl beabsichtigt – an Raketenköpfe erinnerten, um ein besonderes und in der Realität nicht vorzufindenden Bedrohungsszenario zu inszenieren. 377 BBl 2014, 9091 (9107). 378 Bundesbeschluss über die Gewährleistung geänderter Kantonsverfassungen vom 11. März 2015, BBl 2015, 3035, Art. 1 Ziff. 8. 379 Bollettino ufficiale delle leggi 17/2016, S. 196. 380 Schweizer Bundesgericht, Urteil vom 20. September 2018, 1C_211/2016, 1C_212/2016.

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1. Teil: Die Geschichte des muslimischen Gesichtsschleiers

Wenngleich die Norm weltanschaulich neutral formuliert ist, so waren die Unterstützer der Initiative zur Volksabstimmung als sogenannte Islamkritiker bekannt381 und ihre politische Intention, nämlich allein gegen Niqab und Burka vorzugehen, nicht zu übersehen. Art. 1 des Legge sulla dissimulazione del volto negli spazi pubblici formuliert als Zweck des Gesetzes auch lediglich die Bewahrung der Grundbedingungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und den Schutz der rechte eines jeden und der Freiheiten anderer – Formulierungen, die später in Frankreich von größter Relevanz werden sollten. Die Geschäftsführerin von Amnesty International Schweiz, Manon Schick, kommentierte den Erfolg der Initiative als einen Vorgang, bei dem Angst und ein künstlich geschaffenes Problem, das es gar nicht gebe, über Rationalität und Respekt gesiegt hätten, auf Kosten der Grundrechte der ganzen Bevölkerung.382 Bis zum Jahr 2020 wurden lediglich 28 Verstöße gegen das Gesetz registriert. Als zweiter Kanton beschloss St. Gallen am 23. September 2018 ein allgemeines Verschleierungsverbot für den gesamten öffentlichen Raum. Die Initiative war hier aus dem Kantonsparlament gekommen, unterstützt von der SVP und der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP). Anders als im Tessin gab es seit Inkrafttreten des Verbots in St. Gallen keinen einzigen Verstoß gegen das Gesetz. Die örtliche Polizei nannte das Verbot daher auch im Jahr 2021 noch „völlig sinnlos“.383 Aber auch auf Bundesebene begannen die Debatten um ein landesweites Verbot schon im Jahr 2016. Am 16. März 2016 lancierte das islamfeindliche Egerkinger Komitee, das auch schon die Initiative für das Minarettbauverbot hervorgebracht hatte, die Unterschriftensammlung für eine Volksabstimmung über ein bundesweites allgemeines Gesichtsverhüllungsverbot, das sich an dem Wortlaut des Art. 9a der Tessiner Kantonsverfassung orientieren und in die Bundesverfassung aufgenommen werden sollte.384 Das Egerkinger Komitee reichte die Initiative am 15. September 2017 ein und die Schweizer Bundeskanzlei ließ Volksabstimmung am 17. Oktober 2017 zu.385 Die größte Unterstützung erfuhr die

381 Spiegel Online vom 22. September 2013, Tessiner stimmen für Burka-Verbot, abrufbar unter https://www.spiegel.de/politik/ausland/schweiz-tessin-stimmt-fuer-burkaverbot-a-923774.html. 382 Amnesty International Schweiz, Medienmitteilung vom 22. September 2013, abrufbar unter https://www.amnesty.ch/de/laender/europa-zentralasien/schweiz/dok/ 2013/burka-abstimmung-zeichen-der-intoleranz. 383 Spiegel Online vom 6. März 2021, Abstimmung über Burka-Verbot in der Schweiz. „Natürlich, es ist völlig sinnlos!“, abrufbar unter https://www.spiegel.de/aus land/schweiz-abstimmung-ueber-burka-gesetz-natuerlich-es-ist-voellig-sinnlos-a-ebed2c 8d-8f04-413b-b240-7240400e662f. 384 Vgl. https://verhuellungsverbot.ch/lancierung-der-volksinitiative-ja-zum-verhuel lungsverbot/. 385 BBl 2017, 6447.

C. Regulierung, Verwaltungspraxis und Urteile

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Initiative dabei in den deutschsprachigen Kantonen Zürich und Bern.386 Die Initiatoren des Abstimmungskomitees und des Egerkinger Komitees brachten die aus den anderen Staaten bekannten Argumente für ihre Initiative vor: zu einer freien Gesellschaft gehöre es, sich einander mit freiem Gesicht zu begegnen. Zudem sei es ein Gebot der Gleichberechtigung, dass dies sowohl für Frauen als auch Männer gelte. Und schließlich führten auch die Schweizer Befürworter das Argument des Schutzes der öffentlichen Sicherheit an: Die Initiative richte sich „ausdrücklich auch gegen jene Verhüllung, der kriminelle und zerstörerische Motive zugrunde l[ä]gen“.387 Der Bundesrat verabschiedete im März 2019 eine Botschaft, in der er empfahl die Initiative abzulehnen. Gleichzeitig teilte der Bundesrat darin aber durchaus die Ansicht, dass das Zeigen des freien Gesichts eine wichtige Rolle bei der sozialen Interaktion spiele. Burka und Niqab stünden dem entgegen und wiesen auf eine Integrationsverweigerung hin. Es handele sich aber um ein sehr seltenes Phänomen, das wenn überhaupt zumeist Touristinnen betreffe. Im Übrigen würden die bis dahin geltenden Gesetze zur Erreichung der von der Initiative verfolgten Ziele ausreichen.388 Die Ablehnungsempfehlung gründete damit eher auf der Einschätzung, dass es am tatsächlichen Vorkommen der Vollverschleierung in der Schweiz fehle. Grund- und menschenrechtliche Bedenken brachte der Bundesrat dagegen nicht vor. Am 15. März 2019 verabschiedete der Bundesrat zudem einen indirekten Gegenvorschlag des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD), eine Überarbeitung eines Gegenvorschlags aus dem Juni 2018. Regelungen für de öffentlichen Raum zu erlassen sei Sache der jeweiligen Kantone. Einige Kantone hätten sich bewusst für, andere bewusst gegen ein allgemeines Verhüllungsverbot entschieden. Diese Differenzen würden im Falle einer nationalen Regelung ignoriert. Auf nationaler Gesetzesebene solle dagegen nur geregelt werden, dass Personen ihr Gesicht zeigen müssen, wenn dies zur Identifizierung der Person erforderlich ist. Darüber hinaus würden die bestehenden Regelungen aber ausreichen, um Problemen durch die Gesichtsverschleierung zu begegnen. Insbesondere sei es gem. Art. 181 StGB (Nötigung) bereits strafbar, eine andere Person zur Vollverschleierung zu zwingen.389 Am 26. September 2019 stimmte der Ständerat dem Gegenvorschlag des Bundesrats zu und empfahl seinerseits die Initiative zur Ablehnung390, ihm folgte 386 Ebenda. In Bern wurden 21.296 gültige Unterschriften abgegeben, in Zürich 17.641. 387 Abstimmungskomitee „Ja zum Verhüllungsverbot“, Kurz-Argumente, Stand Dezember 2020, abrufbar unter https://verhuellungsverbot.ch/wp-content/uploads/2020/ 12/Kurz-Argumente-Ja-Verhuellungsverbot.pdf. 388 BBl 2019, 2913 f. 389 Vgl. Medienmitteilung des Bundesrats vom 15. März 2019, abrufbar unter https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-74352. html. 390 Amtliches Bulletin der Bundesversammlung, Ständerat, Sitzung vom 26. September 2019, 19.023.

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1. Teil: Die Geschichte des muslimischen Gesichtsschleiers

am 12. Dezember 2019 der Nationalrat, wobei dieser forderte, den Gegenvorschlag um gleichstellungspolitische Forderungen zu ergänzen.391 Beide Räte einigten sich am 11. März 2020 auf einen gemeinsamen Gegenentwurf 392 und am 19. Juni 2020 empfahl schließlich die Bundesversammlung die Ablehnung der Initiative.393 Gleichwohl wurde die Initiative in der Volksabstimmung am 7. März 2021 mit 51,21 % der Stimmen angenommen und trat am selben Tag in Kraft.394 Seitdem lautet Art. 10a der Schweizer Bundesverfassung wie folgt: „(1) Niemand darf sein Gesicht im öffentlichen Raum und an Orten verhüllen, die öffentlich zugänglich sind oder an denen grundsätzlich von jedermann beanspruchbare Dienstleistungen angeboten werden; das Verbot gilt nicht für Sakralstätten. (2) Niemand darf eine Person zwingen, ihr Gesicht aufgrund ihres Geschlechts zu verhüllen. (3) Das Gesetz sieht Ausnahmen vor. Diese umfassen ausschliesslich (sic!) Gründe der Gesundheit, der Sicherheit, der klimatischen Bedingungen und des einheimischen Brauchtums.“ 395

Es bleibt abzuwarten, wie die Ausführungsgesetze aussehen werden. Zuständig für diese sind nach Auffassung des Bundesrates grundsätzlich die einzelnen Kantone.396 Der Vorstand der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren teilte dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartment jedoch mit, dass die Kantone keinen Anspruch auf eine kantonale Umsetzung erheben würden, sondern vielmehr aus Gründen der Einheitlichkeit eine Umsetzung durch den Bund für zweckmäßig hielten.397 In der Folge erarbeitet der Bundesrat einen Entwurf zur Änderung des Strafgesetzbuchs und der Einführung eines neuen Art. 332a StGB (Schweiz). Diesen Entwurf gab der Bundesrat zur Stellungnahme (sog. Vernehmlassung) an die Kantone, politische Parteien und Organisationen. Der Entwurf lautet wie folgt:

391 Amtliches Bulletin der Bundesversammlung, Nationalrat, Sitzung vom 12. Dezember 2019, 19.023. 392 Mitteilung der Bundesversammlung vom 11. März 2020, abrufbar unter https:// www.parlament.ch/fr/services/news/Pages/2020/20200311095642541194158159041_ bsf047.aspx. 393 BBl 2020, 5507. 394 Mitteilung des EJPD, abrufbar unter https://www.parlament.ch/fr/services/news/ Pages/2020/20200311095642541194158159041_bsf047.aspx. 395 BBl 2021, 1185. 396 Stellungnahme des Bundesrates vom 12. Mai 2021 zur Motion 21.3194, abrufbar unter https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId= 20213194. 397 Auszug aus dem Protokoll des Regierungsrates Zürich, Sitzung vom 26. Januar 2022, Ziffer 140.

C. Regulierung, Verwaltungspraxis und Urteile

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„(1) Wer sein Gesicht an öffentlichen oder an privaten Orten verhüllt, die der Allgemeinheit zur entgeltlichen oder unentgeltlichen Nutzung offenstehen, wird mit Busse [sic] bestraft. (2) Nicht strafbar sind Gesichtsverhüllungen: a) in Sakralstätten; b) zum Schutz und zur Wiederherstellung der Gesundheit; c) zur Gewährleistung der Sicherheit; d) zum Schutz vor klimatischen Bedingungen; e) zur Pflege des einheimischen Brauchtums sowie bei künstlerischen und unterhaltenden Darbietungen; f) bei Auftritten zu Werbezwecken; g) bei Einzelauftritten und Versammlungen im öffentlichen Raum, wenn die Gesichtsverhüllung zur Ausübung der Grundrechte der Meinungsäusserungsfreiheit [sic] oder der Versammlungsfreiheit notwendig ist oder wenn es sich dabei um eine bildliche Meinungsäusserung [sic] handelt, die die öffentliche Sicherheit und Ordnung nicht beeinträchtigt.“ 398

Sollte das Gesetz in dieser Fassung – und wie in Belgien als Tatbestand im Strafgesetzbuch – in Kraft treten, würde das Verbot sowohl öffentliche Räume wie auch private Räume, die der Öffentlichkeit entgeltlich oder unentgeltlich zugänglich sind, umfassen und damit nochmals umfassender ausgestaltet sein.

VI. Stand der Regulierung und Debatten in weiteren Mitgliedsstaaten Auch in weitern Mitgliedsstaaten gibt es Verschleierungsverbote – sie alle sind jedoch nicht mit den obigen vergleichbar. So haben einige Staaten bereichsspezifische Verbote erlassen, wie zum Beispiel Deutschland. Hier trat zum 15. Juni 2017 das „Gesetz zu bereichsspezifischen Regelungen der Gesichtsverhüllung und zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften“ 399 in Kraft. Zuvor war die Vermummung des Gesichts bereits bei Teilnahme an einer öffentlichen Versammlung unter freiem Himmel gem. § 17a Abs. 2 Nr. 1 VersG untersagt. Durch das o. g. Gesetz wurden für Beamte Verschleierungsverbote während der Ausübung des Dienstes in § 61 BBG und § 34 BeamtStG sowie für Soldatinnen und 398 Einsehbar auf der Webseite des schweizerischen Bundesamts für Justiz unter https://www.bj.admin.ch/bj/de/home/aktuell/mm.msg-id-85515.html. 399 BGBl. I S. 1570. Ursprünglich hatten einige Innenminister der Länder der CDU/ CSU am 18. August 2016 eine „Berliner Erklärung“ unterzeichnen wollen mit dem Inhalt, das Tragen eines Vollschleiers in der Öffentlichkeit als Ordnungswidrigkeit zu ahnden sein solle. Schließlich einigten sie sich aber auf die Forderung nach bereichsspezifischen Verboten, Der Tagesspiegel online vom 18.8.2016, „Berliner Erklärung“. Innenminister der Union wollen Burka-Verbot light, abrufbar unter https://www.tages spiegel.de/politik/berliner-erklaerung-innenminister-der-union-wollen-burka-verbot-light/ 14428120.html.

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Soldaten in § 17 SG eingeführt. § 10 Abs. 2 BWahlG wurde dahingehend ergänzt, dass auch Wahlhelfer und Wahlhelferinnen in Ausübung ihrer Tätigkeit ihr Gesicht nicht verhüllen dürfen. Gemäß dem durch das o. g. Gesetz neu eingeführten § 56 Abs. 6 S. 1 Nr. 1a BWO sind Wahlberechtigte, die sich auf Verlangen des Wahlvorstands nicht ausweisen können oder die zur Feststellung der Identität erforderliche Mitwirkung verweigern, von der Stimmabgabe auszuschließen. Ferner wurden die Bestimmungen zur Identitätsfeststellung gem. § 1 PAuswG und § 47a AufenthG entsprechend geändert. Seit Oktober 2017 ist auch das Tragen jeglicher Kleidung, die das Gesicht derart verhüllt, dass die Person nicht mehr erkennbar ist, beim Führen eines Kraftfahrzeugs (§ 23 Abs. 4 StVO) untersagt.400 Gem. § 176 Abs. 2 GVG dürfen an Gerichtsverhandlungen beteiligte Personen ihr Gesicht während der Sitzung ebenfalls nicht verhüllen, wobei Ausnahmen durch den Vorsitzenden Richter zugelassen werden können, wenn es auf die Erkennbarkeit der Person nicht ankommt. Daneben haben einige Bundesländer Verbote zum Tragen religiöser Symbole für Lehrerinnen und Lehrer und andere im öffentlichen Dienst tätige Personen erlassen, wobei hier abzuwarten bleibt, ob diese auch nach neuerer Rechtsprechung von BVerfG und BAG Bestand haben können. Insbesondere für das strikte Neutralitätsgesetz des Landes Berlins dürfte dies nicht zu erwarten sein.401 Le400 53. Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, BGBl. I S. 3549. 401 Das Land Berlin erließ im Jahr 2005 sein Neutralitätsgesetz, dass es Lehrkräften an staatlichen Schulen untersagte, sichtbare religiöse Symbole gleich welcher Art im Dienst zu tragen. Dies geschah nach der ersten sog. „Kopftuch-Entscheidung“ des BVerfG im Jahr 2003 (BVerfGE 108, 282). Danach sollte ein Verbot religiöser Symbole nur dann mit Art. 4 GG vereinbar sein, wenn es eine spezifische gesetzliche Grundlage habe und für die das Tragen von Symbolen aller Religionen gleichermaßen gelte. Dieser Rechtsprechung des Zweiten Senats widersprach der Erste Senat in einem Beschluss vom 27. Januar 2015 (BVerfGE 138, 296), der eine Norm des Schulgesetzes NordrheinWestfalens zum Gegenstand hatte. Der Erste Senat entschied, dass ein pauschales Verbot nicht gerechtfertigt sei. Vielmehr sei erforderlich, dass der Schulfrieden durch das Tragen des religiösen Symbols konkret gefährdet werde. Die Bildungsverwaltung des Landes Berlin bestritt daraufhin eine Bindungswirkung dieser Entscheidung, weil die Rechtsprechung des BVerfG uneinheitlich sei. Diese Auffassung erfährt in Literatur und Rechtsprechung allerdings kaum Unterstützung, vgl. dazu Hecker, NZA 2021, 480. Im Jahr 2020 bestätigte schließlich auch der Zweite Senat die Rechtsprechung des Ersten Senats von 2015, BVerfG, Beschluss vom 14. Januar 2020 – 2 BvR 1333/17, NJW 2020, 1049. Im gleichen Jahr hatte sich auch das BAG mit dem Berliner Neutralitätsgesetz zu befassen. Es stellte dabei fest, dass die Rechtsprechung des BVerfG aus 2015 für das Land Berlin Bindungswirkung habe und das Neutralitätsgesetz jedenfalls verfassungskonform auszulegen sei. Die in dem Streit gegenständliche Ablehnung einer Bewerberin als Lehrerin allein aufgrund deren Kopftuchtragens sei danach nicht gerechtfertigt, das Land hätte vielmehr eine konkrete Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität belegen müssen, BAG, Urteil vom 27. August 2020 – 8 AZR 62/ 19, Rn. 57, 59.

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diglich die Länder Bayern und Niedersachsen haben in ihren Schulgesetzen Regelungen erlassen, die sich explizit auf die Gesichtsverschleierung beziehen und Schülerinnen und Schüler adressieren.402 Ein Gesichtsverschleierungsverbot für den gesamten öffentlichen Raum gegenüber allen Personen brachten einzelne Parteiverbände oder Politikerinnen und Politiker auch in Deutschland zwar von Zeit zu Zeit ins Gespräch403, eine ernsthafte politische oder juristische Debatte ist insoweit bislang aber nicht zu beobachten.404 Auch in Luxemburg gilt seit dem 26. April 2018 ein Gesichtsverschleierungsverbot in bestimmten Bereichen des öffentlichen Lebens. Die Verhüllung des Gesichts ist danach in Gerichtsgebäuden, Verwaltungsgebäuden, Schulen, Krankenhäusern und öffentlichen Verkehrsmitteln untersagt.405 In Ungarn gibt es bislang kein nationales generelles Burkaverbot. Die Gemeinde Asotthalom hatte im November 2016 jedoch auf Initiative des Bürgermeisters von der rechtsradikalen Jobbik-Partei eine Verordnung erlassen, die ein generelles Verbot von Niqab und Burka in der Öffentlichkeit vorsah. Auch der Ruf des Muezzins sowie Engagement für die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe sollten mit der Verordnung Verboten werden. Die Verordnung wurde jedoch vom ungarischen Verfassungsgericht im Frühjahr 2017 außer Kraft gesetzt, da eine Gemeinde keine Verordnungen erlassen dürfe, die Grundrechte unmittelbar beeinträchtigen.406 402 Vgl. § 56 Abs. 2 S. 4 Bayerisches Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG); § 58 Abs. 2 S. 2 Niedersächsisches Schulgesetz (NSchG). Entsprechende Debatten in anderen Bundesländern mündeten bislang nicht in Beschlüssen vergleichbarer Gesetze. 403 Die Delegierten der CSU beschlossen auf ihrem Parteitag im November 2015 die Forderung nach einem allgemeinen Verschleierungsverbot, vgl. Reuters online vom 20. November 2015, CSU will Verbot der Vollverschleierung in Deutschland, abrufbar unter https://www.reuters.com/article/deutschland-integration-csu-idDEKCN0T924220 151120; gleiches forderte die CDU Politikerin Julia Klöckner 2015 (vgl. Zeit Online vom 1. Dezember 2014, CDU-Vize Klöckner verlangt Burka-Verbot, abrufbar unter https://www.zeit.de/gesellschaft/2014-12/julia-kloeckner-burka-nikab-kopftuch-schleiermuslime) und der CDU-Politiker Jens Spahn (vgl. SZ online vom 30. Juli 2016, CDUPolitiker Spahn will Burka-Verbot, abrufbar unter https://www.sueddeutsche.de/politik/ migration-cdu-politiker-spahn-will-burka-verbot-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-16 0730-99-875568). 404 Auf Landesebene brachte die FDP 2016 einen Entwurf für ein „Gesetz zur Gewährleistung offener Kommunikation und Identifizierbarkeit“ in den baden-württembergischen Landtag ein, Landtag Baden-Württemberg, Drs. 16/896. Diesen Antrag lehnte die Mehrheit der Landtagsabgeordneten jedoch der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Soziales und Integration (Landtag Baden-Württemberg, Drs. 16/1944) folgend in der Sitzung vom 10. Mai 2017 ab. 405 Wissenschaftliche Dienste des Bundestages, WD 3 – 3000 – 223/19, S. 7. 406 kurier.at vom 12.04.2017, Ungarisches Verfassungsgericht kippte Burka-Verbot, einsehbar unter https://kurier.at/politik/ausland/ungarisches-verfassungsgericht-kippteburka-verbot/257.933.920.

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Im Folgenden sollen in kurzer Abhandlung diejenigen Länder vorgestellt werden, in denen es allgemeine Vermummungsverbote bereits vor der Debatte um die islamische Vollverschleierung gegeben hat (Italien), die zwar keine landesweit geltenden Verbote haben, allerdings die Debatten mit am intensivsten und längsten führten (Niederlande, Spanien) oder in denen einzelne Regionen allgemeine Gesichtsverschleierungsverbote für den öffentlichen Raum erlassen haben (Spanien). Abschließend soll der Vollständigkeit halber der Blick auf Bulgarien und Lettland gerichtet werden. Dort gelten zwar ebenfalls Verschleierungsverbote für den gesamten öffentlichen Raum, die Rechtfertigungsansätze unterscheiden sich jedoch erheblich von denjenigen der übrigen Staaten. Angesichts der geringen Relevanz für diese Arbeit, die insbesondere das geschlechterbezogene Gleichheitsargument und das Argument um das gesellschaftliche Zusammenleben untersucht, soll dies jedoch nur überblicksartig und ohne weitere Einordnung in den jeweiligen nationalen religionsrechtlichen Rahmen geschehen. 1. Italien In Italien trat bereits 1975 ein allgemeines Vermummungsverbot in Kraft. Auslöser hierfür war allerdings keine Debatte über religiöse Symbole bzw. den spezifisch muslimischen Gesichtsschleier, sondern das Gesetz stellte eine Reaktion auf politisch motivierte Terrorakte durch die sogenannten Roten Brigaden in Italien dar. Im Unterschied zu den Diskussionen in Frankreich und Belgien ist die italienische Verbotsdebatte stark vom Schutzgut der öffentlichen Sicherheit geprägt und weniger von Argumenten bezüglich „westlicher Werte“ in einer demokratischen Gesellschaft oder der Laizität wie etwa in Frankreich. Folglich gab es in Italien auch keine nennenswerte „Kopftuchdebatte“ wie in den anderen Staaten, vielmehr bezog sich die Diskussion von Beginn an auf den Vollschleier, der vor allem auch das Gesicht bedeckt.407 Die Basis für die heutige Verbotsgesetzdebatte bieten einerseits Art. 5 der Disposizioni a tutela dell’ordine pubblico (D.T.D.O.P., Bestimmungen zum Schutz der öffentlichen Ordnung) vom 22. Mai 1975, n. 152 – das sogenannte Legge Reale408 – sowie andererseits Art. 85 des Testo Unico delle leggi di pubblica sicurezza (T.U.L.P.S., Gesetz zur öffentlichen Sicherheit)409.410 Art. 85 T.U.L.P.S. verbietet es jedermann, maskiert an einem öffentlichen Ort zu erscheinen.411 Art. 5 D.T.D.O.P. dagegen stellt den Gebrauch von Schutzhelmen und anderen Gegen407

Möschel, S. 8. Die Bezeichnung „Legge Reale“ erhielt das Gesetz inoffiziell nach dem damaligen Justizminister Oronzo Reale, der den Gesetzesentwurf initiiert hatte. 409 Das Gesetz stammt aus dem Jahr 1931 und wurde zuletzt im Jahr 2003 geändert. Art. 85 aber blieb unverändert. 410 Ferrari, A., S. 39. 411 „È vietato comparire mascherato in luogo pubblico“, Art. 85 Abs.1 T.U.L.P.S. 408

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ständen, die geeignet und bestimmt sind die Identifizierung einer Person zu erschweren, an öffentlichen Plätzen oder der Öffentlichkeit zugänglichen Orten unter Strafe, wenn nicht ein rechtfertigender Grund vorliegt. Ein Vergehen kann mit ein bis zwei Jahren Haft (bei schwerer Schuld) oder einer Geldstrafe von 1.000 bis 2.000 Euro bestraft werden. Handelt es sich aber um eine Demonstration an einem öffentlichen Ort, so entfällt die Möglichkeit der Rechtfertigung. Eine Ausnahme stellen Sportereignisse dar, bei denen etwaige notwendige Schutzkleidung getragen wird. Ursprünglich zur Bekämpfung von linksextremen terroristischen Gruppen erlassen ist dieses allgemeine Vermummungsverbot ist bis heute in Kraft und erlebte im letzten Jahrzehnt ein überraschendes „Revival“, als mehrere Bürgermeister norditalienischer Kleinstädte es als Rechtsgrundlage für das Vorgehen gegen Vollverschleierung in der Öffentlichkeit heranzogen.412 Obwohl diese allgemeinen Regelungen weiterhin Bestand haben, entbrannten ab dem Jahr 2004 – zu einem Zeitpunkt, als in Frankreich gerade einmal die religiösen Symbole in Schulen, noch lange aber nicht die Vollverschleierung im gesamten öffentlichen Raum – in Italien Debatten um Verbotsgesetze, die explizit Burka- und Niqabträgerinnen adressieren sollten. Die Bürgermeister der Gemeinden Drezzo und Azzano Decimo beschlossen im Juli 2004 die sogenannten „Zwillings-Erlasse“ auf Grundlage des Art. 5 D.T.D.O.P – allerdings mit einem Zusatz im Wortlaut: neben den Schutzhelmen und sonstigen Gegenständen wurde in den Erlassen nun auch der „Schleier, der das Gesicht verdeckt“ explizit aufgeführt.413 Wegen Kompetenzüberschreitung der Bürgermeister wurden die Erlasse allerdings durch die jeweiligen Präfekte der Regionen annulliert.414 Diese Entscheidung bestätigte im Fall der Gemeinde Azzano Decimo am 19. Juni 2008 schließlich auch das oberste Verwaltungsgericht Italiens, der Consilio di Stato, in einem für die gesamte Diskussion bedeutenden Urteil.415 Der Consilio di Stato führte aus, dass Art. 85 T.U.L.P.S. nicht auf die muslimische Verschleierung anwendbar sei, da es sich bei dieser offensichtlich nicht um eine Maskierung im Sinne des Gesetzes handele. Auch Art. 5 D.T.D.O.P sei hier nicht einschlägig, da ein Gesichtsschleier nicht dazu bestimmt sei, gerade die Erkennbarkeit zu erschweren oder zu verhindern. Vielmehr sei er Ausdruck einer bestimmten Tradition. Überdies könne dem Ziel der öffentlichen Sicherheit genüge getan werden, wenn sich Verbote weiterhin auf Demonstrationen beschränkten und im Übrigen Frauen im Rahmen einer polizeilichen Identitätskontrolle zum

412

Möschel, S. 9. Ferrari, A., S. 41. 414 Möschel, S. 11. 415 CdS, sez. VI, 19. Juni 2008, n. 3076. Vgl. dazu auch Ferrari, A., S. 42 f., der die Bedeutung der Entscheidung genauer untersucht und einordnet. Das Urteil fand auch deshalb viel Aufmerksamkeit, da es klarstellte, dass der Präfekt die Kompetenz zur Annullierung der Verordnung hatte. 413

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Ablegen des Schleiers verpflichtet werden könnten.416 Das Urteil war auch deshalb von großer Bedeutung, weil es klarstellte, dass die Bürgermeister der Gemeinden keine Kompetenz zum Erlass von verwaltungsrechtlichen Sicherheitsgesetzen haben. Auch in strafrechtlicher Hinsicht ist es den Bürgermeistern nicht gestattet, Sachverhalte durch Analogiebildung und extensive Norminterpretation zu regeln und Strafbarkeiten zu schaffen. Dies obliegt allein dem Gesetzgeber. Gerade vor dem Hintergrund der Debatte um die Kompetenzen der Bürgermeister der Gemeinden in Sicherheitsfragen ist relevant, dass die Regierung von Silvio Berlusconi damals zeitgleich ein Dekret, das sogenannte „Sicherheitspaket“ vorstellte417, welches schließlich im Juli 2008 als Gesetz beschlossen wurde.418 Hiernach sollten die Bürgermeister gerade mehr Kompetenzen in Sicherheitsfragen erhalten. In der Folge entschlossen sich erneut zahlreiche Bürgermeister, Verordnungen bezüglich der Vollverschleierung zu erlassen, die wiederum ihrerseits Gegenstand von gerichtlichen Verfahren waren und für rechtswidrig erklärt wurden.419 Gleichwohl blieben die Fragen danach, ob Burka und Niqab in den Anwendungsbereich von Art. 5 D.T.D.O.P. fallen und wenn ja, ob Religion gleichwohl ein rechtfertigender Grund sein könne, auch in der Folge umstritten.420 Im Dezember 2015 trat schließlich ein regional begrenztes, aber der Intention der Befürworter und seiner Begründung zufolge religionsspezifisches Gesetz in der von der rechten Lega Nord regierten Lombardei in Kraft, wonach vollverschleierten Personen der Zugang zu öffentlichen Einrichtungen und Behörden sowie Krankenhäusern untersagt wurde. Bislang wurde das Gesetz gerichtlich nicht aufgehoben. Es bleibt abzuwarten, ob der CdS dem folgen und seine Rechtsprechung aus 2008 ändern oder das Gesetz aufheben wird. 2. Niederlande In den Niederlanden existiert bislang noch kein landesweites Verbot des Gesichtsschleiers in der Öffentlichkeit. Lediglich bereichsspezifische Verbotsgesetze traten am 1. August 2019 in Kraft. Danach ist die Gesichtsverschleierung an öffentlichen Orten wie Schulen, Krankenhäusern, im öffentlichen Personennahverkehr, in Behörden und bei Gerichten untersagt.421 Dem waren jedoch jah416

CdS, sez. VI, 19. Juni 2008, 3076; Ferrari, A., S. 42. Decreto-legge 23 maggio 2008, n. 92, veröffentlicht in der Gazzetta Ufficiale n. 122 del 26 maggio 2008. 418 Legge 24 luglio 2008, n. 125, veröffentlicht in der Gazzetta Ufficiale n. 173 del 23 luglio 2008. 419 Ferrari, A., S. 44 f. 420 Wissenschaftliche Dienste des Bundestages, WD 3 – 3000 – 223/19, S. 7. 421 Wissenschaftliche Dienste des Bundestages, WD 3 – 3000 – 223/19, S. 7. 417

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relange Diskussionen vorausgegangen, während derer wiederholt strengere Regelungen wie diejenigen in Frankreich und Belgien gefordert worden waren. Bis 2014 waren auch regionale allgemeine Verbote der Gesichtsverschleierung in den Niederlanden eher selten, und wenn es Verbotsnormen gab, so waren diese in einem neutralen, nicht religiös konnotierten Wortlaut gehalten. Die Recht- und Verfassungsmäßigkeit dieser Regelungen war dabei hoch umstritten, was letztlich zu einer nur noch sehr vereinzelten Anwendung der Normen führte.422 Dennoch hat es in den letzten beiden Jahrzehnten in den Niederlanden immer wieder Initiativen für eine entsprechende Gesetzgebung gegeben und das Thema gewann innerhalb weniger Jahre hohe Aufmerksamkeit in der (politischen) Öffentlichkeit. Schon im Jahr 2006 wurde eine Expertengruppe mit Mitgliedern unterschiedlicher Disziplinen eingerichtet, die die niederländische Ministerin für Immigration und Integration in der Frage um potenzielle Verbote der Vollverschleierung beraten sollte. Im Ergebnis erachtete diese Gruppe ein generelles Verbot, den Gesichtsschleier in der Öffentlichkeit tragen zu dürfen, als eine Verletzung der Religionsfreiheit. Ein Verbot bedeute letztlich durch Bevormundung motivierten staatlichen Zwang zur Selbstbefreiung, was mit einem liberalen Rechtsstaat nicht vereinbar sei.423 Und auch ein neutral formuliertes Verbot jeglicher Gesichtsbedeckung sei nur schwer zu rechtfertigen und gesellschaftlich unerwünscht.424 Gerichtliche Auseinandersetzungen um den Vollschleier und entsprechend Entscheidungen hatte es aber bereits zuvor gegeben. Die erste Entscheidung zum Verbot von Gesichtsschleiern traf die für Klagen aufgrund des niederländischen Gleichbehandlungsgesetzes zuständige Kommission für Gleichbehandlung schon im Jahr 2000.425 Im damaligen Fall wurde eine sich noch in der Ausbildung befindende Pharmazie-Assistentin von der Berufsschule ausgeschlossen, weil sie einen Gesichtsschleier trug. Als Argument führte die Schule an, dass der Schleier eine offene Kommunikation verhindere. Dem widersprach die Kommission. Eine Kommunikation sei immer noch in ausreichendem Maße möglich und überdies solle sich die Schule darüber im Klaren sein, dass in einer multikulturellen Gesellschaft wie der niederländischen nicht jeder und jede seine oder ihre Gefühle

422

Brems, S. 5. Vermeulen (Vors.) u. a., Bericht „Overwegingen bij een boerkaverbod“ vom 3. November 2006, S. 5. 424 Loenen, S. 324, Fn. 5; Vermeulen (Vors.) u. a., Bericht „Overwegingen bij een boerkaverbod“ vom 3. November 2006, S. 5. 425 Die Kommission für Gleichbehandlung (CGB) kann in Verfahren aufgrund des niederländischen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes entscheiden. Nach diesem Gesetz ist Diskriminierung aufgrund von Rasse, Geschlecht und Religion in Bezug auf Arbeit untersagt. Die Kommission ist seit 2012 Teil des Niederländischen Instituts für Menschenrechte. Ihre Entscheidungen sind nicht bindend, haben in Gerichtsprozessen aber durchaus Gewicht, vgl. Moors, Face Veiling in the Netherlands, S. 20; Loenen, S. 324. 423

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durch Mimik ausdrücke.426 Die Entscheidung erregte ihrer Zeit keine große Aufmerksamkeit.427 Gegenteilig entschied die Kommission aber in bemerkenswerter Weise im Jahr 2003 in einem Fall dreier marokkanisch-niederländischer Schülerinnen einer Berufsschule. Diese waren bereit, ihre Niqabs im Klassenzimmer abzulegen, jedoch nicht wie von der Behörde gefordert auf dem gesamten Schulgelände. Hier sah die Kommission das Verbot des Schleiers als einen gerechtfertigten Eingriff in die Religionsfreiheit der Schülerinnen an und folgte der Argumentation der Behörde, dass nur so eine offene Kommunikation stattfinden könne und das Verbot auch nicht diskriminierend sei, da es für sämtliche Gesichtsbedeckungen gleichermaßen gelte.428 Der nächste Fall, den die Kommission zu entscheiden hatte, betraf die Vorlage eines Schuldirektors im Jahr 2004, der sich geweigert hatte mit einer Mutter zu reden, die ihr Kind an der Schule anmelden wollte, weil sie einen Gesichtsschleier trug. Er verwies ebenfalls auf das Argument, dass der Schleier eine offene Kommunikation verhindere. In diesem Fall erkannte die Kommission dies aber nicht als ausreichende Rechtfertigung an.429 Im Dezember 2005 verfassten eine parlamentarische Mehrheit aus Christdemokraten und Parteien des rechtskonservativen Spektrums einen Antrag an die Regierung, das Tragen von Burka und Niqab in der Öffentlichkeit landesweit zu verbieten.430 Zur Rechtfertigung eines solchen Verbots wurde angeführt, dass der Gesichtsschleier ein Symbol der Unterdrückung der Frau darstelle und damit unmenschlich sei. Überdies sei es inakzeptabel, dass sich Menschen in der Öffentlichkeit bewegten, die nicht identifiziert werden könnten und schließlich vergrößere diese Art der Verschleierung muslimischer Frauen die Schere zwischen gebürtigen Niederländern und Bürgern mit Migrationshintergrund bzw. Zuwanderern.431 Trotz starker Zweifel der eigens von ihr eingesetzten Expertenkommission an der Rechtmäßigkeit eines solchen Verbots äußerte die damalige Ministerin für Migration und Integration Rita Verdonk 2006 entgegen des Berichts der Kommission, dass ein generelles Verbot Gesichts möglich sei und angestrebt 426

CGB, Entscheidung 2000-63. Ausführlicher dazu Moors, Face Veiling in the Netherlands, S. 21. 428 Moors, Face Veiling in the Netherlands, S. 21; CGB, Entscheidung 2003-40. 429 CGB, Entscheidung 2004-95; ausführlicher zu dieser Entscheidung in deutscher Sprache vgl. Loenen, S. 326 f. 430 Der Antrag stammte von dem Rechtspopulisten Geert Wilders vom 10. Oktober 2005, Kammerstukken II, 2005/2006, 29754, Nr. 41. Der Antrag wurde am 21. Dezember 2005 angenommen, was in dieser Thematik bis dahin in noch keinem Parlament in Europa geschehen war. Das Vorhaben wurde jedoch nicht realisiert, da nach den Neuwahlen im November 2006 ab Anfang 2007 eine neue Regierung im Amt war und diese nun regierende Koalition das Vorhaben nicht unterstützte. 431 Moors, Face Veiling in the Netherlands, S. 21. 427

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werde.432 Aufgrund von Neuwahlen im Februar 2007 kam es jedoch nicht dazu. Die neue Regierung aus dem Mitte-Links-Lager setzte sich im April 2008 stattdessen für Verbote mit begrenztem Anwendungsbereich bzw. Adressatenkreis ein: erstmals wurde nun ein Verbot des Tragens von Burka und Niqab in öffentlichen Bildungseinrichtungen, im Gesundheitswesen, öffentlichen Verkehrsmitteln und für Angestellte im öffentlichen Dienst diskutiert.433 Auch hier war das Hauptargument wiederum dasjenige der offenen Kommunikation, die es zu wahren gelte.434 Besondere politische Bedeutung erlangte das Thema drei Jahre später, im Jahr 2010. Die aus den Wahlen hervorgegangene Minderheitsregierung aus dem Christen Democratisch Appél (CDA) und der liberalen Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD) schloss mit der rechten Freiheitspartei (PVV) ein sogenanntes „Unterstützungsabkommen“ 435 ab. Die Unterstützung der PVV für die Regierungskoalition war an die Zusage der Koalition geknüpft, sich für ein generelles Verbot der Gesichtsverschleierung im öffentlichen Raum einzusetzen. Diese Absicht wurde in die Koalitionsvereinbarung aufgenommen.436 In der Folge verabschiedete die Regierung eine Erklärung dahingehend, dass Integration sich künftig an niederländischen Werten auszurichten hätte – in Abkehr des zuvor verfolgten multikulturellen Ansatzes.437 Einen ersten Gesetzesentwurf für ein generelles Verschleierungsverbot in der Öffentlichkeit erarbeitete das Kabinett dann im Jahr 2011438 und brachte diesen – nach scharfer Kritik und entgegen der

432

Moors, The Dutch and the face-veil, S. 399. Moors, Face Veiling in the Netherlands, S. 24. 434 Ausführlich zu der damals geführten parlamentarischen Debatte Moors, The Dutch and the face-veil, S. 400 f. 435 Durch dieses Abkommen konnte sich die Minderheitsregierung der Unterstützung durch die PVV im Parlament sicher sein. Ein solches Abkommen führt aber nicht dazu, dass die unterstützende Partei Koalitionspartner wird, vielmehr ist die Unterstützung an feste Zusagen gekoppelt. Vgl. hierzu Overbeeke, S. 104. 436 In der Koalitionsvereinbarung heißt es: „Het kabinet komt met een voorstel voor een algemeen verbod op gelaatsbedekkende kleding zoals boerka’s.“ (dt.: Das Kabinett wird einen Vorschlag für ein allgemeines Verbot von gesichtsbedeckender Kleidung wie Burkas erarbeiten.), Vrijheid en verantwoordelijkheid, Regeerakkoord VVD-CDA vom 30.09.2010, S. 26. 437 Moors, Face Veiling in the Netherlands, S. 25. 438 Kammerstukken II 2011–2012, 33165, Nr. 2. Der Entwurf sah ein Verbot gesichtsbedeckender Kleidung an öffentlichen Plätzen, in öffentlichen Bildungseinrichtungen, in Einrichtungen des Gesundheitswesens und in öffentlichen Verkehrsmitteln vor, vgl. Art. 1 des Entwurfs. Ausnahmen sollten dann gelten, wenn die Bedeckung zum Schutz des Körpers oder der Gesundheit notwendig sei, es sich um Berufskleidung oder notwendige Sportausrüstung handele oder sie im Zusammenhang mit „Sinterklaas“(dt.: Nikolaus-)Feierlichkeiten, Karneval, dem Weihnachtsfest, Ostern, Halloween, einer Hochzeit, Beerdigung oder Einäscherung, einer Theateraufführung oder einer sonstigen Veranstaltung, für deren Dauer der Bürgermeister einer Gemeinde diese Bekleidung gestattet hat, oder im privaten Raum oder an solchen öffentlichen Orten, die der Religionsausübung dienen, getragen werde. Nach Art. 2 des Entwurfs sollte ein Verstoß mit einer Geldstrafe geahndet werden. 433

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Empfehlung des Staatsrates439 – am 6. Februar 2012 in die zweite Kammer des Parlaments ein.440 Der Gesetzesbegründung zufolge sollte es vor allem der Sicherheit und der offenen Kommunikation der Bürgerinnen und Bürger dienen. Aufgrund einer neuerlichen Regierungskrise stimmte das Kabinett im Februar 2012 dem Entwurf zwar noch zu, das Gesetz trat aber nicht mehr wie geplant zum 1. Januar 2013 in Kraft.441 Aus den Neuwahlen im September 2012 ging eine Koalition aus Sozialdemokraten (PvdA) und der rechtsliberalen VVD hervor. Wie bereits 2008 unterstützten die Sozialdemokraten kein generelles Verbot im gesamten öffentlichen Raum, sondern nur eines mit begrenztem Anwendungsbereich.442 Einen Gesetzentwurf hierfür legte die Regierung schließlich im Mai 2015 vor: Gesichtsbedeckende Kleidung sollte danach an öffentlichen Schulen, in staatlichen Gebäuden, in öffentlichen Verkehrsmitteln und in Krankenhäusern verboten werden. Zudem sollte die Pflicht bestehen, gesichtsbedeckende Kleidung zu Zwecken der Identitätsfeststellung abzulegen. Auch war die Möglichkeit vorgesehen, Frauen, die den Gesichtsschleier tragen, Sozialleistungen kürzen zu können, wenn sie sich im Rahmen von Weiterbildungsmaßnahmen weigerten, auf die Gesichtsverschleierung zu verzichten und so ihre Chancen auf den Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt minderten.443 Verstöße gegen das Gesetz können mit Geldstrafe von bis zu 400 Euro geahndet werden. Die Zweite Kammer des Parlaments stimmte dem Gesetz am 29. November 2016 zu. Die Erste Kammer schloss sich dem erst am 26. Juni 2018 an. Das Gesetz trat schließlich am 1. August 2019 in Kraft. 439 Kammerstukken II, 2011–2012, 33165, Nr. 4. In seiner Stellungnahme vom 28. November 2011 führt der Staatsrat aus, dass das Verbot stelle einen Eingriff in die Religionsfreiheit aus Art. 9 EMRK darstelle, welcher vorliegend nicht gerechtfertigt sei. Weder könne das Argument der Gleichstellung der Frau hier gelten, wenn die Frauen selbst dadurch in ihrem Recht der Religionsfreiheit verletzt werden (S. 4), noch vermöge dies ein subjektives Gefühl der Unsicherheit (S. 4). Zudem habe die Regierung nicht ausreichend dargestellt, weshalb es überhaupt eines generellen Verbotes bedürfe. Sie habe es versäumt darzulegen, weshalb eine gesichtsbedeckende Kleidung prinzipiell der gesellschaftlichen Ordnung widerspreche (S. 2). Die Gesetze und darin normierten Befugnisse, die es bereits gebe, seien ausreichend, um auf spezifische Situationen reagieren zu können, eines generellen Verbots bedürfe es daher nicht (S. 3). Allenfalls könne man darüber nachdenken, diese spezialgesetzlichen Befugnisnormen zu überarbeiten oder zu ergänzen (S. 4). Das Verbot sei daher nicht erforderlich, der Eingriff in die Religionsfreiheit folglich nicht gerechtfertigt und das vorgeschlagene allgemeine Verbot damit nicht mit Art. 9 EMRK vereinbar (S. 4). Auf die Begründung der Regierung, dass es in einer offenen Gesellschaft möglich sein müsse, einander in der Öffentlichkeit ins Gesicht zu sehen und ein Verbot der Gesichtsverschleierung die notwendige offene Kommunikation schütze, ging der Staatsrat nicht ein. 440 Overbeeke, S. 105, Fn. 26. 441 Moors, Face Veiling in the Netherlands, S. 25. 442 Vgl. die Koalitionsvereinbarung vom 29. Oktober 2012 Regeerakkoord VVDPvdA „Bruggen slaan“, S. 31. 443 So wurde bereits gegenüber einer Frau in Utrecht im Jahr 2013 vorgegangen. Die Frau klagte gegen die Kürzung der Leistung, die Gerichte gaben den Behörden jedoch Recht, Centrale Raad van Beroep, Urteil vom 9. Mai 2017, 15/6047 WWB.

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3. Spanien Auch in Spanien existiert derzeit kein allgemeines landesweites Gesichtsverschleierungsverbot. Ab Mai 2010 wurden jedoch regionale Verbotsgesetze erlassen, die sich wiederum – ähnlich wie in Belgien – in zwei Gruppen einteilen ließen. Die katalanische Stadt Lleida änderte im Mai 2010 die Zutrittsbestimmungen zu öffentlichen Gebäuden und erließ ein Verbot des Ganzkörperschleiers in Form von Niqab und Burka für diese Bereiche. Bei einem Verstoß drohte den Frauen eine Geldstrafe in Höhe von 300 bis 600 Euro.444 Katalonien hatte seinerzeit mit 250.000 Personen muslimischen Glaubens einen verhältnismäßig hohen Anteil muslimischer Bevölkerung. Nichtsdestotrotz ist und war die Präsenz von Burka und Niqab in Spanien – und auch in Katalonien – marginal.445 Die überwiegende Mehrheit muslimischer Migrantinnen in Spanien stammt aus Nordafrika, insbesondere aus Marokko446 – einem Land, in dem der Gesichtsschleier weder vorgeschrieben noch kulturell verankert ist. Über Konvertitinnen, die den Vollschleier tragen, liegen keine Zahlen vor. Nur wenige Wochen nach dem Vorstoß Lleidas entschied sich auch die Stadtverwaltung von Barcelona gesetzgeberisch tätig zu werden. Sie verbot jedoch nicht allein den Gesichtsschleier, sondern gleichzeitig auch andere das Gesicht bedeckende Kleidungsstücke wie Helme oder Schals, die geeignet sein können, die Identifizierbarkeit einer Person zu erschweren oder zu verhindern.447 Der räumliche Anwendungsbereich bezog sich auch hier auf öffentliche Gebäude. Ein Vorschlag, den Gesichtsschleier im gesamten öffentlichen Raum zu verbieten, hatte dagegen keine Mehrheit gefunden.448 Während in Belgien die Unterschiede bezüglich der Reichweite des Anwendungsbereichs zwischen den Regelungen der einzelnen Gemeinden also noch recht fein waren, wurden sie in Spanien für Jedermann offenbar: Einerseits wurde ein Gesetz spezifisch gegen muslimische Gesichtsverschleierung erlassen, andererseits ein Gesetz, dessen Anwendungsbereich weiter gefasst ist und vielfältige Arten gesichtsbedeckender Kleidung betrifft. In beiden Gemeinden kamen die 444 Giles Tremlett, Burqa bans spread across Catalonia, The Guardian vom 2. Juli 2010, abrufbar unter: https://www.theguardian.com/world/2010/jul/02/lleida-burqaban-spain. 445 Motilla, S. 133. 446 Vgl. statistische Erhebungen zur spanischen Bevölkerungsstruktur des Instituto Nacional de Estadística, Cifras de Población a 1 de enero de 2015 Estadística de Migraciones 2014, veröffentlicht am 25.6.2015, S. 4, abrufbar unter: http://www.ine.es/ prensa/np917.pdf; Erhebung von Eurostat, Main countries of citizenship and birth of the foreign-born population, 1.1.2014, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/eurostat/statis tics-explained/index.php/File:Main_countries_of_citizenship_and_birth_of_the_foreign_ foreign-born_population,_1_January_2014_( %C2 %B9)_(in_absolute_numbers_and_as_ a_percentage_of_the_total_foreign_foreign-born_population)_YB15-de.png. 447 Motilla, S. 132. 448 Ute Müller, Barcelona erlässt ein Burkaverbot, Welt Online vom 16. Juni 2010, abrufbar unter: http://www.welt.de/welt_print/politik/article8067481/Barcelona-erlaesstein-Burka-Verbot.html.

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Gesetze mit Unterstützung des rechten Flügels der christlich-konservativen Partido Popular (Volkspartei, PP), der Partido Socialista Obrero Español (Spanische Sozialistische Arbeiterpartei, PSOE) und dem katalanischen bürgerlich-liberalen Parteienverbund Convergència i Unió (CiU) zustande.449 Den „Vorbildern“ Barcelonas und Lleidas folgten jeweils weitere, meist katalanische Gemeinden.450 Jene, die ausschließlich den muslimischen Ganzkörper- bzw. Gesichtsschleier verboten, führten zur Rechtfertigung der jeweiligen Bestimmungen an, dass das Tragen eines Ganzkörperschleiers die Würde von Frauen verletze und der Gleichstellung von Mann und Frau widerspreche. Damit einher ginge die Annahme, die Frau sei dem Mann unterlegen. Die Vollverschleierung widerspreche dem Grundsatz des friedlichen Zusammenlebens und stelle eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar. Dadurch entstünden Barrieren für eine erfolgreiche Integration. Schließlich nahmen die Befürworter der Gesetze an, dass Burka und Niqab kulturelle Gepflogenheiten darstellten, die mit denen der spanischen Mehrheitsgesellschaft nicht vereinbar seien. Die Vertreter der Gemeinden mit Verbotsgesetzen der zweiten Gruppe unterließen es dagegen, sich ausdrücklich auf den muslimischen Ganzkörper- und Gesichtsschleier zu beziehen und beriefen sich in ihren Begründungen weitgehend allein auf Aspekte der öffentlichen Sicherheit.451 Das Verbotsgesetz der Stadt Lleida wurde schließlich Gegenstand eines Verfahrens vor dem Tribunal Supremo, Spaniens Oberstem Gerichtshof. Am 6. Februar 2013 entschied dieser, dass die Stadt bei Erlass des Burkaverbots im Jahr 2010 ihre Kompetenzen überschritten habe. Der Fall betreffe ein hochgradig politisches Problem. Die spanische Verfassung gewähre Religionsfreiheit, in die durch das Verbotsgesetz im vorliegenden Fall eingegriffen worden sei. Eine Beschränkung der Grundrechte sei aber nur aufgrund eines nationalen Gesetzes, nicht eines kommunalen möglich, die kommunale Bestimmung folglich verfassungswidrig.452 Anlässlich der oben dargestellten kommunalen Regelungsvorstößen begann auch die Diskussion um ein Verbotsgesetz auf nationaler Ebene. Im Juni 2010 hatte schließlich nach längerer Debatte der spanische Senat auf Antrag der damaligen Oppositionspartei PP über die Regulierung der Vollverschleierung zu entscheiden. Ziel des Antrags sollte es sein, die Regierung zu drängen, „die notwendigen Reformen zu beschließen, um ein Verbot gesichtsbedeckender Kleidung, die nicht zwingend religiösen Zwecken diene, im öffentlichen Raum oder

449 450 451 452

2011.

Motilla, S. 132. Ebenda. Motilla, S. 132 f. Tribunal Supremo (Sección Séptima), Sentencia Recurso Casación Num. 4118/

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bei öffentlichen Veranstaltungen zu erlassen“.453 Begründet wurde der gesamtstaatliche Ansatz mit dem Bedürfnis, die unterschiedlichen kommunalen Regelungen zu vereinheitlichen. 454 Grundsätzlich bedürfe es einer Regulierung, da der Gesichts- und Ganzkörperschleier die Identifizierbarkeit der Person und die visuelle Kommunikation erschwere oder gar verhindere. Ferner wurden auch hier die bereits auf kommunaler Ebene vorgebrachten Argumente vertreten: die Praxis der Vollverschleierung sei in den Augen der Mehrheit der spanischen Bevölkerung diskriminierend, eine Verletzung der Würde der Frauen und unvereinbar mit der Gleichstellung der Geschlechter.455 Auch das Argument, dass die Vollverschleierungspraxis integrationshindernd sei, prägte die allgemeine Debatte maßgeblich.456 Mit knapper Mehrheit stimmte der Senat dem Antrag zu und verpflichtete damit die Regierung, sich mit der Thematik zu befassen.457 Ein entsprechendes nationales Gesetz wurde in der Folge jedoch nicht beschlossen, was die Diskussion für die nächsten Jahre aber keineswegs beendete. Spaniens damaliger Innenminister Jorge Fernández Díaz äußert sich noch am 3. September 2014 auf einer Pressekonferenz offen gegenüber einem Verbotsgesetz der Gesichtsverschleierung auch außerhalb von Versammlungen im Rahmen der seinerzeit laufenden Gesetzgebung zu einem neuen Sicherheitsgesetz. Er halte ein solches Verbot zwar nicht für notwendig, aber möglicherweise sei der Moment gekommen dennoch darüber nachzudenken, ein Verbot aus Gründen der Sicherheit zu erlassen.458 Geschehen ist dies bislang jedoch nicht. 4. Lettland In Lettland gilt seit April 2016 ein allgemeines Vollverschleierungsverbot im gesamten öffentlichen Raum. Ein vorheriger Versuch war 2015 noch gescheitert.459 Hauptargument der Befürworter des Gesetzes war der „Schutz der lettischen Identität“ wie es der Justizminister Dzintars Rasnacs ausdrückte. Erst in zweiter Linie gehe es auch um die Sicherheit und Schutz vor Terrorismus. Auch in Lettland war die Debatte um das Verbotsgesetz damit kulturell geprägt und 453

Boletín Oficial de las Cortes Generales, Serie I, núm, 484 vom 23. Juni 2010, S. 16, abrufbar unter: http://www.senado.es/legis9/publicaciones/pdf/senado/bocg/I 0484.PDF. 454 Ebenda. 455 Ebenda. 456 Motilla, S. 135. 457 Spiegel Online vom 23. Juni 2010, Vollverschleierung: Spanischer Senat votiert für Burka-Bann, abrufbar unter: http://www.spiegel.de/politik/ausland/vollverschleie rung-spanischer-senat-votiert-fuer-burka-bann-a-702396.html. 458 The Local vom 04.09.2014, abrufbar unter: http://www.thelocal.es/20140904/ spain-opens-door-to-burqa-ban-catalonia-women-rights. 459 Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages, WD 2 – 3000 – 094/17, S. 15.

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1. Teil: Die Geschichte des muslimischen Gesichtsschleiers

durch das Bemühen eines Abgrenzungsmechanismus gekennzeichnet. Stärker noch als in den anderen Staaten dürfte es sich dabei in Lettland um eine rein symbolisch-normative Debatte gehandelt haben – Schätzungen gehen von weniger als zehn Frauen aus, die das Gesetz tatsächlich betrifft.460 5. Bulgarien In Bulgarien ist die Verschleierung des Gesichts in der Öffentlichkeit seit dem 30. September 2016 verboten. Das Gesetz wurde von der rechten Regierungskoalition „Patriotische Front“ in das Parlament eingebracht und seine Notwendigkeit von den Befürwortern mit einer angeblichen Gefahr durch Terrorismus und Islamismus begründet, Frauenrechte oder die Frage der offenen Kommunikation als Merkmal und Wert einer offenen demokratischen Gesellschaft spielten keine Rolle. Das Gesetz ist allerdings neutral formuliert und umfasst alle Arten der Gesichtsverhüllung. Zuwiderhandlungen können mit einer Geldstrafe von bis zu 770 Euro bestraft werden, was für bulgarische (Lebens-)Verhältnisse eine erhebliche Strafe darstellt.461 Muslime machen etwa 10 % der bulgarischen Bevölkerung aus. Das Tragen des Vollschleiers ist unter ihnen keine verbreitete Praxis.462

VII. Zusammenfassung Die religionsrechtlichen Systeme der Staaten zeigen sowohl Gemeinsamkeiten, als auch Unterschiede und Eigenheiten auf. Frankreichs im Vergleich strikte Trennung im Sinne der laïcité und Dänemarks System der de facto-Staatskirche bilden dabei die jeweiligen Enden der Bandbreite. Gemeinsam ist den Staaten, dass dennoch alle Systeme durch ein System der Kooperation gekennzeichnet sind, wenn auch mit unterschiedlich starker Ausprägung. Der Staat unterliegt grundsätzlich der Neutralitätspflicht in religiösen Fragen und ist zur Parität verpflichtet. Religionsgemeinschaften, am stärksten die christlichen Kirchen, beeinflussen dennoch in unterschiedlichem Maße auch den staatlich verantworteten Bereich, vor allem in den Bereichen Bildung und Seelsorge, und gestalten diesen mit. Allgemeine Verbote des Vollschleiers gelten derzeit in Frankreich, Belgien, Österreich, Dänemark und der Schweiz (und – wenngleich aus vorgeblich teilweise oder gänzlich anderen Beweggründen – Lettland und Bulgarien). Belgien ist dabei der einzige Staat, der die Verbotsnorm als Strafnorm ins Strafgesetzbuch aufgenommen hat, während die Gesetze in Frankreich, Österreich und Dänemark Normen des Ordnungswidrigkeitsrechts darstellen. In der Schweiz wurde 460 461 462

Ebenda. Ebenda. Ebenda.

C. Regulierung, Verwaltungspraxis und Urteile

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das Verbot zunächst in die Bundesverfassung aufgenommen, ein Ausführungsgesetz in Form eines bundesweiten Straftatbestands erscheint wahrscheinlich. Alle Staaten regulieren mit den Gesetzen nicht mehr nur den staatlich verantworteten Raum – wie öffentliche Schulen und staatliche Universitäten – sondern den gesamten der Öffentlichkeit zugänglichen Raum. Obwohl in allen Staaten die Debatten um die Verbotsgesetze den Islam und insbesondere die islamische Vollverschleierung in den Fokus stellten, sind alle Gesetze mit Blick auf etwaige verfassungs- und konventionsrechtliche Anforderungen weltanschaulich neutral formuliert. Der Wortlaut keines Gesetzes nennt den Schleier explizit. Als Argumente für die Verbotsgesetze wurde die Gleichberechtigung der Geschlechter genauso angeführt wie auch die öffentliche Sicherheit. Insbesondere der gesellschaftspolitische Aspekt, man müsse in einer offenen Gesellschaft einander in der Öffentlichkeit ins Gesicht sehen können, stellte aber in allen Ländern, die ein allgemeines Verbot der Gesichtsverschleierung in der Öffentlichkeit erlassen haben, einen Schwerpunkt der Rechtfertigung dar. Dieser Aspekt wird im Rahmen der Abhandlungen zu den Verschleierungsverboten im Rahmen der EMRK besondere Aufmerksamkeit erfahren. Alle Verbotsgesetze erfassen die freiwillige Gesichtsverhüllung. Keines der Verbotsgesetze beschränkt seine Zwecke darauf, Frauen vor einer zwangsweisen Verschleierung zu schützen. Die Gesetze unterscheiden sich zum Teil in der ihnen innenwohnenden Rechtsdogmatik. Zwar normieren alle Gesetze ein grundsätzliches Verbot, von dem sie wiederum Ausnahmen normieren. Hierbei gehen Frankreich, Belgien und Österreich (und zukünftig auch die Schweiz) jedoch so vor, dass sie die in den vorangegangenen Anhörungen und Beratungen als notwendig dargestellten Ausnahmen explizit benennen, wohingegen der dänische Gesetzgeber sich dafür entschieden hat, einen bis dahin bestehenden Ausnahmetatbestand zu einem bereits bestehenden Verbot zu streichen, um zu verhindern, dass sich betroffene Personen auf ihn berufen könnten, um ihre eigentlich religiös motivierte Verschleierung zu rechtfertigen. Übrig blieb in Dänemark daher ein Ausnahmetatbestand, der bewusst offen und unbestimmt gehalten ist. Konkretisiert wird dieser in der Begründung zum Gesetzesentwurf – nicht jedoch im Wortlaut des Gesetzes selbst. Hintergrund ist auch hier – letztlich wie in den anderen Staaten – die Sorge, dass andernfalls ein Gesetz geschaffen würde, das eine direkte Diskriminierung aufgrund der Religion und ggf. eine indirekte Diskriminierung aufgrund des Geschlechts darstellt. Da der den Debatten zu entnehmende Regelungsgegenstand, nämlich der muslimische Gesichtsschleier, Gegenstand dieser Arbeit ist, wird der für die Regelungen im Folgenden Begriff der „Verschleierungsverbote“ verwendet, auch wenn durch spezifische Ausgestaltungen der Regelungen andere Verhüllung- oder Vermummungshandlungen ebenfalls erfasst sein können (vgl. etwa in Österreich).

Zweiter Teil

Allgemeine Verschleierungsverbote als konventionsrelevante Maßnahmen unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR A. Die Fälle S.A.S. gegen Frankreich und Belcacemi und Oussar gegen Belgien Im Folgenden sind zur Vorbereitung auf die Analyse der rechtsdogmatischen Besonderheiten der Rechtfertigungsansätze bei den Vollverschleierungsverboten sowie der Analyse der diesbezüglichen Rechtsprechung des EGMR die bisher vor dem Gerichtshof geführten Verfahren kurz zu schildern. Während sich einerseits im Zeitraum zwischen dem jeweiligen Inkrafttreten des französischen und belgischen Gesetzes und im Vorfeld der Entscheidung des EGMR im Fall S.A.S. gegen Frankreich zahlreiche Veröffentlichungen mit der Thematik der Vereinbarkeit von Vollverschleierungsverboten im öffentlichen Raum und der EMRK auseinandersetzten und andererseits die S.A.S.-Entscheidung des EGMR viel Kritik erfuhr1, fehlte es doch stets an einer umfassenden gemeinsamen Betrachtung der Gesetzeshistorien, der begleitenden politischen und rechtlichen Debatten und der Rechtsprechung des Gerichtshofs. Die folgende Untersuchung soll dies unter Berücksichtigung der dennoch veröffentlichten Beiträge ändern und zudem das Urteil im Fall Belcacemi und Oussar gegen Belgien2 mit in den Blick nehmen. Dabei soll in diesem Abschnitt zunächst herausgearbeitet werden, ob und in welcher Ausprägung es sich bei den Verbotsgesetzen um konventionsrechtlich relevante Maßnahmen handelt. Es sollen zu Beginn die vom Gerichtshof entschiedenen Verfahren kurz skizziert werden, ehe sich die Untersuchung dann auf die einzelnen, gerade nicht beantworteten, sondern sich vielmehr durch die Entscheidung erst ergebenen Rechtsfragen fokussiert. Da der Schwerpunkt auf der Schrankenregelung der Rechte und Freiheiten anderer liegen wird, werden sämtliche hierfür 1 Statt vieler z. B. Finke, Das französische Burka-Verbot und der Schutz von Rechten, die es nicht gibt, juwiss-Blog vom 2. Juli 2014, abrufbar unter https://www. juwiss.de/84-2014/; Lembke, Burka-Verbot: Der EGMR verkürzt den menschenrechtlichen Diskriminierungsschutz in Europa, juwiss-Blog vom 9. Juli 2014, abrufbar unter https://www.juwiss.de/87-2014/; Schadendorf, (Un-)Verschleierte Diskriminierung, juwiss-Blog vom 9. Juli 2014, abrufbar unter https://www.juwiss.de/88-2014/. 2 EGMR, Urteil vom 11. Juli 2017, Belcacemi und Oussar gegen Belgien, Nr. 37798/13.

A. Die Fälle S.A.S. gegen Frankreich und Belcacemi/Oussar gegen Belgien

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methodischen, dogmatischen und theoretischen Erörterungen allerdings auch erst anschließend im Rahmen der Analyse der Rechtfertigungsansätze aufgegriffen werden.

I. Der Fall S.A.S. gegen Frankreich Der EGMR hat in seiner Entscheidung vom 14. Juli 2014 das französische Verbotsgesetz als mit der EMRK vereinbar erklärt und etwaige Verletzungen von Menschenrechten aus der EMRK verneint.3 Die Beschwerdeführerin, eine 1990 in Pakistan geborene französische Staatsangehörige, hatte sich selbst als eine streng gläubige Muslima bezeichnet, als die sie zu besonderen Anlässen einen Niqab tragen wolle. Dies tue sie freiwillig, weder ihr Ehemann noch sonstige Familienangehörige würden sie dazu zwingen. Die Beschwerdeführerin betonte, den Niqab nicht dauerhaft tragen zu wollen, sondern nur etwa zu hohen religiösen Festen. Sie sei bereit, ihn für Sicherheitskontrollen abzulegen und tue dies auch bei Arztbesuchen oder wenn sie Kontakte knüpfen wolle. Sie wolle jedoch die Möglichkeit haben, sich gelegentlich durch das Tragen des Vollschleiers auch in der Öffentlichkeit zu ihrem Glauben zu bekennen.4 Das generelle Verbot der Gesichtsverhüllung verletze sie in ihren Rechten aus Art. 8 (hier Recht auf Achtung des Privatlebens), Art. (hier Recht auf Religionsfreiheit), Art. 11 (hier Recht auf Vereinigungsfreiheit) und Art. 3 (hier Verbot der erniedrigenden Behandlung) EMRK, jeweils allein und in Verbindung mit dem Diskriminierungsverbot gem. Art. 14 EMRK. Es liege schon gar kein legitimer Zweck für die Eingriffe in die jeweiligen Rechte vor, jedenfalls seien sie jedoch unverhältnismäßig und folglich nicht gerechtfertigt.5 Die französische Regierung trug dagegen vor, mit dem Gesetz beabsichtige man einerseits, die öffentliche Sicherheit schützen wollen, andererseits diene das Gesetz auch der Sicherstellung von „Respekt für einen Mindestbestand an Werten für eine offene und demokratische Gesellschaft“, wobei sich die Regierung dabei auf drei Werte bezog: die Würde der Frauen, die Gleichheit der Geschlechter und die Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben.6 Dies seien legitime Eingriffszwecke, die von dem in Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK genannten Eingriffsziel „Schutz der Rechte und Freiheiten anderer“ umfasst seien.7

3 EGMR, Urteil vom 2014-III. 4 EGMR, Urteil vom 2014-III, Ziffer 10 ff. 5 EGMR, Urteil vom 2014-III, Ziffer 76. 6 EGMR, Urteil vom 2014-III, Ziffern 115 f. 7 EGMR, Urteil vom 2014-III, Ziffer 82.

14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR-

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2. Teil: Verschleierungsverbote als konventionsrelevante Maßnahmen

Der EGMR prüfte in dem Verfahren eine mögliche Verletzung der Art. 8 und 9 EMRK. Er erkannte den Schutz der öffentlichen Sicherheit zunächst als legitimes Eingriffsziel an, verneinte hier jedoch letztlich die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs.8 Dagegen verneinte er im vorliegenden Fall das Eingriffsziel der Gleichheit der Geschlechter. Zwar sei dieses Ziel der EMRK grundsätzlich nicht fremd. Es könne aber dann nicht für eine Maßnahme ins Feld geführt werden, wenn die zu verbietende Handlung von den Frauen selbst verteidigt werde.9 Auch die Würde der Frauen erkannte der Gerichtshof nicht als ein legitimes Eingriffsziel des französischen Gesetzgebers an. Der Vollschleier möge manchen Menschen zwar befremdlich anmuten, ihn zu tragen sei aber auch Ausdruck kultureller Identität, die wiederum Teil eines gelebten Pluralismus sei. Auch seien keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass die den Vollschleier tragenden Frauen ihrerseits die Würde anderer verletzen wollten.10 Dagegen folgte der Gerichtshof aber der Auffassung der französischen Regierung, die „Mindestanforderungen an das Zusammenleben“ könnten ein legitimes Eingriffsziel gem. Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK darstellen, indem sie einen Aspekt der Rechte und Freiheiten anderer bildeten. Der EGMR erachtete es als nachvollziehbar, dass der französische Gesetzgeber das freie Gesicht als besonders wichtig für die soziale Interaktion begreife. Es ei nachvollziehbar, dass Personen an öffentlichen Orten es nicht gern sähen, dass sich dort Praktiken etablierten, die die Möglichkeit offener zwischenmenschlicher Kommunikation fundamental in Frage stellen würden. Die offene Kommunikation stelle Kraft gesellschaftlicher Übereinkunft ein unverzichtbares Element des Zusammenlebens in der Gesellschaft dar. Einen Vollschleier zu tragen könne daher als Verletzung des Rechts der anderen angesehen werden, in einem sozialen Raum zu leben, der das Zusammenleben in der Gemeinschaft erleichtere. 11 In der Folge gestand der EGMR Frankreich auch einen äußerst großzügigen Beurteilungsspielraum für die zur Förderung des Ziels erforderlichen Maßnahmen zu. Zwar räumte der EGMR ein, dass der Eingriff für die betroffenen Frauen schwer wiege und die betroffenen Frauen in ein unlösbares Dilemma führe – gegen staatliche Gesetze oder ihre religiösen Glaubenssätze zu verstoßen. Auch sei bedenklich, dass die Gesetzgebungsdebatte von islamophoben Äußerun-

8 EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 2014-III, Ziffern 115, 139. 9 EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 2014-III, Ziffer 119. 10 EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 2014-III, Ziffer 120. 11 EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 2014-III, Ziffern 121 f.

43835/11, ECHR43835/11, ECHR43835/11, ECHR43835/11, ECHR-

A. Die Fälle S.A.S. gegen Frankreich und Belcacemi/Oussar gegen Belgien

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gen begleitet worden sei.12 Letztlich habe sich der Gerichtshof aber in Zurückhaltung zu üben, insbesondere auch deshalb weil zum Zeitpunkt der Entscheidung in der Frage des Umgangs mit dem Vollschleier in der Öffentlichkeit kein Konsens zwischen den Mitgliedsstaaten erkennbar sei.13 Die Große Kammer entschied allerdings nicht in allen Punkten einstimmig. Die Richterinnen Jäderblom und Nußberger schlossen sich er Entscheidung nicht an und stellten in ihrem Sondervotum eine Verletzung von Art. 9 Abs. 1 und Art. 8 Abs. 1 EMRK fest.

II. Der Fall Belcacemi und Oussar gegen Belgien Das zweite Urteil des EGMR zu einem Verbot der Gesichtsverschleierung in der Öffentlichkeit hatte das belgische Verbotsgesetz zum Gegenstand und erging am 11. Juli 2017, mithin fast exakt drei Jahre nach der S.A.S.-Entscheidung. Anders jedoch als im Fall S.A.S. entschied hier nicht mehr die Große Kammer. Geklagt hatten zwei in Belgien lebende muslimische Frauen, eine von ihnen belgischer, die andere marokkanischer Staatsangehörigkeit. Erstere ist zugleich diejenige Klägerin, deren Klage vor dem Brüsseler Polizeigericht gegen das regionale Verbotsgesetz in Etterbeek mit der Entscheidung vom 26. Januar 2011 stattgegeben wurde.14 Die Frau hatte vor dem EGMR angegeben, auch nach Inkrafttreten des nationalen Verbotsgesetzes zunächst entschieden zu haben, den Gesichtsschleier weiterhin in der Öffentlichkeit tragen zu wollen. Unter dem durch das Verbot entstandenen Druck habe sie sich dann jedoch anders entschieden. Als Mutter einer Familie trage sie Verantwortung und habe keine andere Wahl, wenn sie sich in der Öffentlichkeit nicht der Angst vor einer Strafe, der durch das Gesetz begründeten Stigmatisierung und dem hohen Risiko, dass die Strafe auch eine Haftstrafe sein könne, aussetzen wolle.15 Gegen beide Frauen waren Geldstrafen verhängt worden, allerdings jeweils aufgrund der regionalen Verordnungen in Etterbeek bzw. Molenbeek-Saint-Jean.16 Der EGMR entschied auch in diesem Verfahren, dass das belgische Verbotsgesetz keine Verletzung der Konventionsrechte darstelle. Art. 8 und 9 EMRK seien nicht verletzt, weder allein noch in Verbindung mit Art. 14 EMRK. Wiederum stellen nach Ansicht des EGMR, der auf seine Entscheidung im Fall S.A.S. verweist, die Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben als Teil der Rechte und Freihei12 EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffern 146, 149. 13 EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffer 156. 14 Vgl. Erster Teil, C. II. 3. 15 EGMR, Urteil vom 11. Juli 2017, Belcacemi und Oussar gegen Belgien, Nr. 37798/13, Ziffer 9. 16 Zu den regionalen Verordnungen in Belgien vgl. Erster Teil, C. II. 3.

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2. Teil: Verschleierungsverbote als konventionsrelevante Maßnahmen

ten anderer das legitime Ziel dar, zu dessen Schutz der Eingriff in die Rechte aus Art. 8 und 9 EMRK gerechtfertigt sei. Auch Belgien komme dabei ein weiter Beurteilungsspielraum bei der Frage zu, welche Maßnahmen in einer demokratischen Gesellschaft notwendig seien, das Ziel zu erreichen.17 Die ebenfalls durch die Klägerinnen geltend gemachten Verletzungen ihrer Rechte aus Art. 3, 5 und 11 EMRK allein und i.V. m. Art. 14 EMRK sowie Art. 14 i.V. m. Art. 2 ZP 4 wies der EGMR als unzulässig gem. Art. 35 Abs. 3, 4 EMRK zurück. Auch in diesem Fall entschied die Kammer aber nicht einstimmig. Die Richter Spano (Präsident) und Karakas¸ stellten unter Bezugnahme auf das Sondervotum der Richterinnen Jäderblom und Nußberger in der S.A.S.-Entscheidung auch in ihrem Sondervotum eine Verletzung von Art.8 und 9 EMRK fest. Das „vivre ensemble“, die Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben, könnten nicht als legitimes Ziel anerkannt werden, da sie stets zur Disposition der Mehrheit stünden.18

III. Zusammenfassung und Ausblick Die Zulässigkeit von Verbotsgesetzen bezüglich der Vollverschleierung in der Öffentlichkeit und die sich aus der Rechtsprechung dazu ergebenen rechtlichen Probleme sind in der Folge zu untersuchen. Untersuchungsgegenstand sind dementsprechend die generellen Verbotsgesetze aus Frankreich, Belgien, Österreich, Dänemark und der Schweiz, wobei Frankreich hier den Schwerpunkt bilden soll und die übrigen Staaten und ihre Regelungen, wenn erforderlich, vergleichend herangezogen werden. Landeseigene Besonderheiten sowie Aspekte aus anderen Konventionsstaaten werden an den jeweils relevanten Stellen berücksichtigt. Im Fokus stehen bei der Untersuchung die neuartige Konzeptualisierung und Konzeptualisierungsversuche der Rechte und Freiheiten anderer und der öffentlichen Ordnung als legitime Eingriffsziele sowie die besondere Fokussierung der Debatten und Urteile auf die Gleichstellung der Geschlechter als Rechtfertigungsgrund und das dem zugrunde liegende Verständnis von Frauenrechten (auch) als entsubjektivierender Kulturwert. Auch die Anwendung der Margin of Appreciation-Doktrin in den konkreten Fällen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Anforderungen, die an die Notwendigkeit und die Angemessenheit des Eingriffs zu stellen sind, werden beleuchtet. Es wird dabei zunächst von der Prämisse ausgegangen, dass sich die betroffenen Frauen – wie auch in den Verfahren vor dem EGMR durch die Beschwerdeführerinnen dargestellt – freiwillig und selbst für die Vollverschleie17 EGMR, Urteil vom 11. Juli 2017, Belcacemi und Oussar gegen Belgien, Nr. 37798/13, Ziffer 61. 18 EGMR, Sondervotum zum Urteil vom 11. Juli 2017, Belcacemi und Oussar gegen Belgien, Nr. 37798/13, Ziffer 6 f.

B. Verschleierungsverbote als Eingriff in den Schutzbereich von Art. 9 EMRK 125

rung entschieden haben. An denjenigen Stellen, an denen ein Zwang angenommen und diskutiert wird, wird dies explizit hervorgehoben.

B. Verschleierungsverbote als Eingriff in den Schutzbereich von Art. 9 EMRK – Freiheit der Religion, des Gewissens und der Weltanschauung Auch wenn der Wortlaut der Verbotsgesetze neutral gehalten ist und nicht explizit auf Religionen oder Weltanschauungen Bezug nimmt, wirken die Gesetze unmittelbar auf Frauen, die in der Öffentlichkeit den Vollschleier tragen oder tragen wollen. Der Vollschleier wird von muslimischen Frauen weit überwiegend, wenn auch nicht unbedingt ausschließlich, aus religiösen Gründen getragen.19 Folglich ist die durch Art. 9 EMRK garantierte Religionsfreiheit hier näher zu betrachten. Art. 9 EMRK lautet: Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (1) Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen. (2) Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.20

Relevant ist hier das Element der Religionsfreiheit. Der Inhalt dieses Menschenrechts ist zunächst genauer zu erläutern, ehe die Problematiken der Verbotsgesetze und der Rechtsprechung des EGMR in Bezug auf diese untersucht werden können.

I. Die Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK Die Religionsfreiheit ist Teil des „Grundkanon[s] der Menschenrechte“ 21 und wird durch sämtliche völkerrechtliche Verträge über Menschenrechte gewährleistet.22 Der EGMR hebt ihre Bedeutung immer wieder in seinen Entscheidungen 19

Vgl. Erster Teil, A. III. 2. Amtliche Übersetzung, BGBl. 2002 II, 1054. Die erste amtliche Übersetzung findet sich in BGBl. 1952 II, 685. Mit den Änderungen der EMRK durch das 11. Zusatzprotokoll wurde jedoch eine neue amtliche Übersetzung angefertigt. Sie weicht z. T. erheblich von der ursprünglichen Version ab. 21 Lembke, S. 188. 22 Ebenda; vgl. Art. 18 AEMR, Art. 18 IPbpR, Art. 8 Banjul Charta, Art. 12 AMRK, Art. 10 GRCh, Art. 14 Abs. 1 KRK und Art. 9 EMRK. 20

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2. Teil: Verschleierungsverbote als konventionsrelevante Maßnahmen

hervor und betont, sie gehöre zum „Fundament einer demokratischen Gesellschaft“.23 1. Neutralität, Toleranz und Parität Die Religions- und Weltanschauungsfreiheit ist eines der Grund- und Menschenrechte, die in einer pluralistischen Gesellschaft am stärksten gefordert wird. Die Wirksamkeit und Gewährleistung dieses Freiheitsrechts basiert daher auf bestimmten Konzeptionen und Prinzipien, ohne die sie nicht verwirklicht werden kann. Dazu zählen die Neutralität und Unparteilichkeit des Staates, Toleranz, eine offene Geisteshaltung und Parität. Die Religionsfreiheit kann nur dann effektiv von allen Bürgerinnen und Bürgern ausgeübt werden, wenn in der Gesellschaft ein Klima der (religiös-weltanschaulichen) Toleranz herrscht. Der EGMR hat hierzu festgestellt, dass es eine aus Art. 9 Abs. 1 EMRK resultierende positive Verpflichtung des Staates ist, Toleranz in der Gesellschaft zu gewährleisten („to ensure tolerance“).24 Die Konventionsstaaten hätten die Pflicht, gegenüber allen Rechtsträgern von Art. 9 EMRK die Möglichkeit zur friedlichen Ausübung ihrer Religion zu gewährleisten. Damit gehe in pluralistischen Gesellschaften – und der Pluralismus sei der EMRK als Wert immanent – aber auch einher, dass die jeweiligen Personen nicht erwarten könnten, bezüglich ihres Glaubens und der Ausübung dessen frei von jeder Kritik zu bleiben.25 In einer weiteren Entscheidung stellte der Gerichtshof zudem klar, dass Spannungen zwischen rivalisierenden religiösen Gruppen eine unausweichliche Konsequenz des Pluralismus sei. Die Rolle des Staates und seiner Institutionen sei es dann nicht, solche Spannungen zu beseitigen, indem der Pluralismus beseitigt würde, sondern vielmehr sicherzustellen, dass die rivalisierenden Gruppen einander tolerierten.26 Die vom EGMR in dieser Weise geforderte Toleranz innerhalb der Gesellschaft, die wiederum durch den Staat sicherzustellen ist, bleibt im Weiteren aber inhaltlich unbestimmt. Auch andere völkerrechtliche Vertragswerke wie z. B. die Präambel der Charta der Vereinten Nationen27 belassen es bei dem unbestimmten 23 EGMR, Urteil vom 25. Mai 1993, Kokkinakis gegen Griechenland, Nr. 14307/88, Series A260-A, Ziffer 31. 24 EGMR, Urteil vom 3. Mai 2007, 97 Mitglieder der Gldani Gemeinde der Zeugen Jehovas u. a. gegen Georgien, Nr. 71156/01, Ziffer 132; EGMR, Urteil vom 20. September 1994, Otto Preminger Institut gegen Österreich, Nr. 13470/87, Series A295-A, Ziffer 47. 25 EGMR, Urteil vom 20. September 1994, Otto Preminger Institut gegen Österreich, Nr. 13470/87, Series A295-A, Ziffer 47. 26 EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffer 127; EGMR, Urteil vom 14. Dezember 1999, Serif gegen Griechenland, Nr. 38178/97, Ziffer 53; vgl. so auch in EGMR, Urteil vom 21. Juni 1988, Plattform „Ärzte für das Leben“ gegen Österreich, Nr. 10126/82, Series A139, S. 12, § 32. 27 „(. . .) And for these ends to practice tolerance and live in peace with one another as good neighbours.“

B. Verschleierungsverbote als Eingriff in den Schutzbereich von Art. 9 EMRK 127

Begriff der Toleranz in ihren Texten, das jeweils dahinterliegende Konzept bleibt unklar. Es ist aber möglich, die „Toleranz“ nach dem EGMR im Sinne des Toleranzbegriffs bei Huster zu verstehen. Huster plädiert dafür, Toleranz als Praxis und persönliche Tugend zu definieren. Dabei stellt sich die Praxis der Toleranz zunächst so dar, dass ein Mensch sich tolerant verhält, wenn er einen anderen Menschen gewähren lässt und ihn einschließlich seiner Überzeugungen und Lebensweise duldet. Hinzukommen muss jedoch, dass dieses „Gewährenlassen“ aufgrund einer bestimmten Haltung und aus eigener Überzeugung für die Toleranz erfolgt, und nicht aus bloßer Indifferenz.28 Daraus folgt nach Huster auch, dass von Toleranz in einem umfassenden Sinne nur gesprochen werden kann, wenn der Duldende Vorbehalte gegenüber dem Verhalten oder der Lebensweise – oder eben Religion – des anderen hat. Denn andernfalls ist er überhaupt nicht auf Toleranz angewiesen. Und zugleich muss die Duldung auch eine normative Grundlage haben, das heißt, der Duldende muss der Überzeugung sein, dass die andere – für ihn gleichwohl abzulehnende – Meinung, Haltung oder Lebensweise nicht unterdrückt werden darf. Dieses scheinbare Paradox lässt sich nach Huster auflösen, indem man zwischen der tolerierten Lebensweise oder Überzeugung einerseits und der respektierten Person und ihrer Autonomie andererseits unterscheidet und diese Unterscheidung zum zentralen Aspekt der Toleranz macht.29 Damit beschreibt Huster genau diejenige Situation als Grundvoraussetzung für echte Toleranz, die auch der EGMR als unausweichliche Konsequenz des Pluralismus nennt und deren Auflösung der Gerichtshof gleichfalls durch Schaffung eines Klimas der Toleranz durch den Staat verlangt. Es geht nicht darum, Konflikte zu vermeiden oder entgegenstehende Ansichten, mögen sie sich dem jeweiligen Gegenüber auch noch so sehr als falsch aufdrängen, zu nivellieren. Echte Toleranz verlangt gerade nach Ablehnung der anderen Auffassung bei gleichzeitiger Überzeugung, diese aber dulden zu können. Bürgerinnen und Bürger müssen gerade nicht neutral oder in der Sache einig sein. Vielmehr ist die (sachliche) Auseinandersetzung, das Ringen um „das Richtige“ Ausdruck einer freiheitlichen und pluralistischen Gesellschaft.30 Der Toleranzbegriff nach Huster bringt damit eine Haltung zum Ausdruck, die jeder Bürger und jede Bürgerin in einer pluralistischen Gesellschaft haben muss, „die Fähigkeit zum friedlichen und gleichberechtigten Zusammenleben, obwohl man viele Überzeugungen und Lebensformen seiner Mitbürger entschieden ablehnt“.31 Da danach der Aspekt der Ablehnung die Toleranz definiert, handelt es sich auch um eine durchaus anspruchsvolle Bürgerpflicht. Auch Kotzur stimmt diesem Verständnis zu und be28 29 30 31

Huster, ARSP 91 (2005) 1, S. Huster, ARSP 91 (2005) 1, S. Huster, ARSP 91 (2005) 1, S. Huster, ARSP 91 (2005) 1, S.

21. 22. 33. 34.

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2. Teil: Verschleierungsverbote als konventionsrelevante Maßnahmen

schreibt Toleranz in ihrer simpelsten Ausprägung zunächst als eine Form der „Konfliktvermeidung“, die aber stets auch erst in Konfliktsituationen relevant wird.32 Darüber hinaus bedeute Toleranz aber gerade im Kontext religiöser Vielfalt eine wechselseitige Achtung der Menschen und der Gemeinschaften.33 Nach Huster liegt hierin der entscheidende Unterschied zwischen der bloßen Praxis der Toleranz und der Tugend der Toleranz.34 Das erforderliche Klima für all dies hat der Staat zu schaffen. Mit dieser Verpflichtung des Staates darf aber nicht übersehen werden, dass die eigentlichen Adressaten des Toleranzgebots die Bürgerinnen und Bürger bleiben. Der Staat dagegen hat in religiös-weltanschaulichen Fragen Neutralität zu wahren. Es ist ihm versagt, Religionen und Weltanschauungen inhaltlich zu bewerten – das wäre aber gerade die Voraussetzung, um etwas überhaupt ablehnen und dennoch tolerieren zu können. Durch seine neutrale Haltung schafft der Staat vielmehr die Voraussetzungen für einen gleichen Schutz der Religionsfreiheit aller Rechtsträgerinnen und Rechtsträger. Dennoch gilt: der Staat muss neutral sein, aber nicht blind. Er hat im Zweifel einen angemessenen Ausgleich zwischen den ihre Rechte ausübenden Bürgerinnen und Bürgern schaffen. Er hat im Falle rivalisierender Gruppen die Rolle eines neutralen und unparteiischen Schlichters zu übernehmen. Als dieser regelt er die Ausübung der unterschiedlichen Glaubensrichtungen und Überzeugungen, ohne sich jedoch eine der Auffassungen zu eigen zu machen oder auch nur inhaltlich zu bewerten. Jegliche inhaltliche Bewertung ist ihm versagt.35 Die Rolle des Schlichters erfordert mithin eine neutrale Haltung des Staates und dessen Erfüllung seiner Verpflichtung, gegenseitige Toleranz zwischen den einzelnen Gruppen herzustellen.36 Schließlich geht die Pflicht zur Unparteilichkeit und Neutralität auch mit der Verpflichtung des Staates zur Gleichbehandlung der Religionen und Gläubigen einher. Die EMRK gewährleistet die Gleichbehandlung – anders als die Konzepte von Toleranz und Neutralität – explizit durch das Diskriminierungsverbot in Art. 14 EMRK. Die Aspekte Pluralismus, Toleranz, Neutralität und Parität formen damit das Umfeld und zugleich grundlegende Prinzipien einer effektiv gewährleisteten Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Pluralistische Gesellschaften verlangen 32

Kotzur, AdV 48 (2010), S. 165, 167. Kotzur, AdV 48 (2010), S. 171. 34 Huster, ARSP 91 (2005) 1, S. 23. 35 Meyer-Ladewig/Schuster, in: Meyer-Ladewig u. a., EMRK, Art. 9 Rn. 13; EGMR, Urteil vom 15. September 2009, Mirolubovs u. a. gegen Lettland, Nr. 98/05, Ziffer 80; EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR-2014III, Ziffer 55; EGMR, Entscheidung vom 15. Januar 2013, Eweida u. a. gegen Vereinigtes Königreich, Nrn. 48420/10, 59842/10, 51671/10 und 36516/10, Ziffer 81. 36 EGMR, Urteil vom 10. November 2005, Leyla S ¸ ahin gegen Türkei, Nr. 44774/98, ECHR-2005-XI, Ziffer 107. 33

B. Verschleierungsverbote als Eingriff in den Schutzbereich von Art. 9 EMRK 129

nach Dialog, Diskurs und Kooperation. Der Staat hat hierbei nicht von vornherein ein reguliertes Umfeld zu schaffen – im Sinne der Toleranztugend seiner Bürgerinnen und Bürger aber das Klima für diese Aspekte zu schaffen. 2. Verhältnis zu anderen Grundfreiheiten der EMRK Häufige Überschneidungspunkte ergeben sich bei Art. 9 EMRK mit dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gem. Art. 8 EMRK, dem Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit gem. Art. 10 EMRK und der Vereinigungsfreiheit gem. Art. 11 EMRK.37 Der EGMR behandelt die Meinungsäußerungsfreiheit dabei jedoch in Angelegenheiten religiöser Bekleidungsvorschriften gegenüber Art. 9 EMRK subsidiär.38 Auch Art. 2 ZP1 zur EMRK steht mit Art. 9 EMRK in engem Zusammenhang. Gem. Art. 2 ZP1 hat jeder Mensch ein Recht auf Bildung. Dabei hat der Staat bei Ausübung der von ihm übernommenen Aufgaben in den Bereichen Bildung und Erziehung das religiöse und weltanschauliche Erziehungsrecht der Eltern zu achten. Gleichfalls kann Art. 2 ZP 1 auch berührt sein, wenn der Staat religiöse Kleidung in staatlichen Bildungseinrichtungen – wie z. B. das Kopftuch für Studentinnen an staatlichen Universitäten – verbietet. Aufgrund der außerordentlichen Wichtigkeit des Rechts auf Bildung sieht der EGMR hierin zwar eine Überschneidung beider Rechte, gleichwohl aber auch einen eigenständigen Gehalt von Art. 2 ZP 1.39 In besonders engem Verhältnis zu Art. 9 EMRK steht das Diskriminierungsverbot aus Art. 14 EMRK, welches wie in den Fällen der Verschleierungsverbote aus Frankreich und Belgien neben dem isolierten Art. 9 EMRK gleichzeitig in Verbindung mit diesem gerügt wird. Art. 14 EMRK wird dabei schon dann geprüft, wenn nur der Anwendungsbereich des Art. 14 EMRK eröffnet ist.40 Inwieweit dies durch den Gerichtshof in den Verfahren um die Gesichtsverschleierungsverbote ausreichend geschehen ist, wird an späterer Stelle ausführlich erörtert.

II. Das Tragen des Vollschleiers als religiöses Bekenntnis? – Der Schutzbereich von Art. 9 Abs. 1 EMRK Die Frage, ob ein Verbot der Gesichtsverschleierung überhaupt eine Maßnahme darstellt, die die Religionsfreiheit der einzelnen Personen berühren kann, 37 Meyer-Ladewig/Schuster, in: Meyer-Ladewig u. a., EMRK, Art. 9 Rn. 29; hinsichtlich Art. 8 und 9 EMRK insbesondere auch bei EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR-2014-III, Ziffer 106 f. 38 EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffer 163. 39 EGMR, Urteil vom 10. November 2005, Leyla S ¸ ahin gegen Türkei, Nr. 44774/98, ECHR-2005-XI, Ziffer 129. 40 Meyer-Ladewig/Schuster, in: Meyer-Ladewig u. a., EMRK, Art. 9 Rn. 28.

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2. Teil: Verschleierungsverbote als konventionsrelevante Maßnahmen

ist nicht unumstritten. Denn dazu muss es sich bei der islamischen Gesichtsverschleierung überhaupt erst einmal um eine religiöse Praxis handeln. Der gesamte Umfang des Rechts des Einzelnen ergibt sich dabei erst aus dem Zusammenspiel des tatbestandlichen Umfangs des jeweiligen Freiheitsrechts, dem Schutzbereich, einerseits und den Schrankenvorbehalten bzw. legitimen staatlichen Eingriffszielen andererseits. In diesem Zusammenhang soll jedoch auf allgemeine völkerrechtliche und EMRK-spezifische Auslegungsmethoden erst auf Ebene der Abhandlungen zu den Schrankenkatalogen der betroffenen Freiheitsrechte ausführlich eingegangen werden. 1. Sachlicher Schutzbereich Art. 9 Abs. 1 EMRK gewährleistet mit der Religions- und Weltanschauungsfreiheit Schutz in einem Bereich persönlicher Überzeugungen, die für die Identität des Individuums von großer Bedeutung sind. Geschützt sind durch Art. 9 Abs. 1 EMRK alle Glaubensrichtungen auch jenseits der großen Weltreligionen sowie die Gewissens- und Gedankenfreiheit und damit auch die Überzeugungen von Atheisten, Agnostiker, Skeptiker und Gleichgültige.41 Der EGMR sieht hierin eine der Grundfesten der demokratischen Gesellschaften und des über Jahrhunderte entwickelten Pluralismus.42 Der EGMR hat die einzelnen Freiheiten des Art. 9 Abs. 1 EMRK jedoch weder definiert, noch scharf voneinander abgegrenzt.43 Auch der Begriff der „Religion“ hat keinen klar umrissenen Inhalt, sondern ist stets vom jeweiligen vertraglichen und verfassungsrechtlichen Kontext abhängig.44 In der Rechtswissenschaft wird im Allgemeinen von einer Definition der Religion als eine „die den Menschen verpflichtende Inanspruchnahme durch die ihn bedingende Macht über- und außermenschlichen Seins“ 45 ausgegangen, sie beinhaltet folglich Vorgaben für das eigene Handeln und die eigene Lebensweise unter Hinzuziehung eines transzendenten Elements in Form eines Kultes. Dass der Islam eine Religion nach diesem Verständnis darstellt, ist nicht zu bezweifeln. Geschützt ist ferner nicht nur die innere Überzeugung (forum internum), sondern auch das nach Außen getragene Bekenntnis (forum externum) und deren Art und Weise, die implizit mit dem Bekenntnis in Art. 9 Abs. 1 a. E. EMRK genannt und deren mögliche Erscheinungsformen im zweiten Halbsatz des ersten Absatzes genannt sind.46 Demnach kann das Bekenntnis einzeln oder 41 EGMR, Urteil vom 25. Mai 1993, Kokkinakis gegen Griechenland, no. 14307/88, Nr. 14307/88, Series A260-A, Ziffer 31. 42 EGMR, Urteil vom 25. Mai 1993, Kokkinakis gegen Griechenland, no. 14307/88, Nr. 14307/88, Series A260-A, Ziffer 31. 43 Meyer-Ladewig/Schuster, in: Meyer-Ladewig u. a., EMRK, Art. 9, Rn. 3. 44 Blum, S. 44. 45 Bürkle, Staatslexikon, Sp. 799. 46 EGMR, Urteil vom 25. Mai 1993, Kokkinakis gegen Griechenland, Nr. 14307/88, Nr. 14307/88, Series A260-A, Ziffer 31.

B. Verschleierungsverbote als Eingriff in den Schutzbereich von Art. 9 EMRK 131

in Gemeinschaft, privat oder öffentlich und im Wege des Gottesdienstes, Unterrichts oder des Praktizierens von Bräuchen und Riten stattfinden.47 Dabei stellt sich zunächst die Frage, ob die Aufzählung der Erscheinungsformen abschließend zu verstehen ist. Hierbei weist Borowski zurecht darauf hin, dass bei einem Verständnis der Aufzählung als abschließend gefordert werden müsste, dass die Bekenntnisformen klar definiert und voneinander abgegrenzt würden. Dies dürfte jedoch kaum zu bewältigen sein. Zudem würde ein solches Verständnis, wie Borowski auch anmerkt, die Gefahr der Verengung auf bestimmte (und schon bekannte) Traditionen bergen.48 Die Aufzählung ist daher als eine beispielhafte, jedoch nicht abschließende zu verstehen.49 Grundsätzlich bleibt es jedem Individuum überlassen, welche Form es für die Ausübung seines Glaubens wählt.50 Mit der Frage nach der Abgeschlossenheit des Kanons im Schutzbereich in engem Zusammenhang steht die Frage, wem die Definitionshoheit darüber zukommt, ob eine Handlung eine Religionsausübung darstellt und damit auch, ob eine subjektive oder objektive Bestimmung zu erfolgen hat, folglich, auf wessen Sicht es ankommt: diejenige der Glaubenden selbst oder auch ihrer Glaubensgemeinschaft oder diejenige eines objektiven Beobachters. Wie weit der Schutzbereich bezüglich der Bekenntnisfreiheit reichen soll, ist in der Rechtswissenschaft umstritten. Gerade im Rahmen der rechtlichen Diskussion um die islamische Vollverschleierung, die weder von der Mehrheit der Muslime befürwortet, noch einhellig (allein) als ein Ausdruck einer Religion aufgefasst wird51, erlangt diese Frage mit Blick auf das hohe Schutzniveau aber besondere Bedeutung.52 Auch die zuvor ausgeführten nationalen Gesetzgebungsverfahren und Debatten verdeutlichen, dass dieser Punkt auch in einem rechtswissenschaftlichen Diskurs argumentativ beleuchtet werden sollte. Es ist daher ein berechtigtes Anliegen, die Reichweite des Art. 9 Abs. 1 EMRK in Bezug auf das forum externum näher zu betrachten.

47 Die authentischen Sprachfassungen nennen die Gebräuche und Riten nicht, sondern sprechen lediglich von „practice“ bzw. „pratique“. Darauf wird an späterer Stelle einzugehen sein. 48 Borowski, S. 151. 49 So auch Blum, S. 63. 50 EKMR, Beschluss vom 12. März 1981, X. gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 8160/78, Ziffer 5. 51 Vgl. Erster Teil, A. und C. 52 Die Religionsfreiheit wird in der EMRK nicht wie im deutschen Grundgesetz ohne expliziten Schrankenvorbehalt gewährt wird. Während die in Deutschland nach nationalem Verfassungsrecht gewährleistete Religionsfreiheit nur durch kollidierende Rechtsgüter von gleichfalls Verfassungsrang beschränkt werden kann, enthält Art. 9 Abs. 2 EMRK einen eigenen Schrankenkatalog.

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2. Teil: Verschleierungsverbote als konventionsrelevante Maßnahmen

a) Subjektive Bestimmung des sachlichen Schutzbereichs durch die betroffene Person Der EGMR legt seiner Rechtsprechung heute eine weite Auffassung dessen, was ein Bekenntnis darstellt, zugrunde und vertritt grundsätzlich die Auffassung, die Definitionsmacht bezüglich der Religion und dessen, was ein nach außen gebrachtes Bekenntnis dieser darstellt, liege (zunächst) beim glaubenden Individuum. Früh wurde jedoch kritisiert, dass eine rein subjektive Bestimmung die Gefahr birgt, dass die Religion sowie ein Bekenntnis darstellende Handlungen und damit der Schutzbereich der Religionsfreiheit „bis zur Konturenlosigkeit verschwimmt“.53 Bei rein subjektiver Bestimmung darüber, welche Handlung ein religiöses Bekenntnis darstellt, würde es im Fall des Gesichts- und Ganzkörperschleiers allein auf die Sicht der Rechtsträgerin, also der den Schleier tragenden Frau ankommen. Dass der Schleier von anderen Frauen auch aus anderen Gründen getragen werden kann oder die Mehrheit der Muslime den Vollschleier ablehnt, wie auch dass es keine expliziten Koranstellen gibt, die eine entsprechende religiöse Pflicht vorsehen, wäre hier nicht relevant. Entscheidend wäre allein, dass die betroffene Person ein nicht-staatliches, hier religiös-kulturelles Postulat als für sich handlungsleitend erachtet. b) Objektive Bestimmung des sachlichen Schutzbereichs Eine rein objektive Bestimmung des Schutzbereichs nach einer feststehenden Definition ist bezüglich der Religionsfreiheit jedoch schon mangels klarer Definition dessen, was „Religion“ ist, schwerlich praktikabel und wäre im Hinblick auf religiöse Minderheiten auch zurückhaltend anzuwenden. Eine objektive Bestimmung bei Außerachtlassung jeglicher subjektiver Gesichtspunkte würde zwar zur Vermeidung einer Banalisierung der Religionsfreiheit beitragen können. So wäre es für den Schutzbereich unbeachtlich, wenn eine Handlung lediglich subjektiv als religiös motiviert dargestellt werden würde, entscheidend wäre allein eine objektive Sichtweise. Allerdings kann zunächst weder der staatliche Gesetzgeber noch können die jeweiligen staatlichen Gerichte wegen ihrer Verpflichtung zur Neutralität in religiösen Angelegenheiten festlegen, welche Überzeugungen und Handlungen auf einer Religion gründen bzw. zu welchen Verhaltensweisen ein religiöser Glaube verpflichtet. Der Staat darf hier grundsätzlich weder bestimmen, wann es sich bei Überzeugungen um eine Religion handelt, noch welchen Inhalt sie hat oder haben darf oder wozu sie die Gläubigen verpflichtet.54 Mithin scheidet der Staat als derjenige, der objektive Kriterien festlegen kann, aus. Gleichwohl ist hier zu beachten, dass im Rahmen der EMRK kein Staat, 53 54

Blum, S. 70. Siehe oben unter B. I. 1.

B. Verschleierungsverbote als Eingriff in den Schutzbereich von Art. 9 EMRK 133

sondern ein internationales Gericht die Grenzen des Schutzbereichs festlegen würde. Die Religionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 1 EMRK ist nicht originär in einen staatskirchenrechtlichen Rahmen eingebettet. Die Neutralitätspflicht trifft zwar Konventionsstaaten und ihre Organe, nicht jedoch den EGMR. Die Entscheidung im Fall Kokkinakis gegen Griechenland weist, wie von Ungern-Sternberg zurecht anmerkt, durchaus in Richtung einer objektiven Bestimmung in der Konventionsrechtsprechung durch den EGMR. In dem Fall stellte der Gerichtshof bei der Frage, welche Grenzen für das Missionieren gelten sollen, nicht auf die Ausführungen der Beschwerdeführer ab, sondern bezog sich auf die Anmerkungen des christlichen Weltrates der Kirchen – diesem gehören die Zeugen Jehovas selbst, um die es in dem Verfahren ging, jedoch nicht an.55 Nichtsdestotrotz ist aber anzumerken, dass eine rein objektive Bestimmung des Schutzbereichs auch immer an Maßstäben erfolgt, die bestimmten (nicht notwendigerweise rechtlichen) Normen entstammen und etablierte und weithin bekannte Religionen folglich bevorteilen könnten. Kleinere, neue oder unbekannte Religionen liefen Gefahr, schon gar nicht dem Schutzbereich von Art. 9 Abs. 1 EMRK zu unterfallen, was aus Gründen des Minderheitenschutzes und des Diskriminierungsverbots und Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 14 EMRK nicht vertretbar ist. Eine rein objektive Bestimmung einer „Religion“ und dessen, was ein „religiöses Bekenntnis“ darstellt, erscheint mithin problematisch. Art. 9 Abs. 1 EMRK schützt nicht nur die bekannten Religionen, sondern jede identifizierbare56 Religion und damit auch das Bekenntnis zu ihr. Dieser Schutz muss effektiv bleiben. Dies wird auch dadurch gestützt, dass die deutsche Übersetzung der EMRK zwar vom Praktizieren von Bräuchen und Riten spricht, die englische und französische Fassung jedoch lediglich von „practice“ bzw. „pratique“ sprechen. Während die deutsche Fassung eine Tradition als Voraussetzung nahelegt, tun die beiden authentischen Sprachfassungen dies gerade nicht. Die Identifizierbarkeit rein objektiv zu bestimmen, birgt die Gefahr der Benachteiligung der Gläubigen unbekannter, kleiner und neuer Religionen. Es ist daher zunächst von einer subjektiven Perspektive auszugehen, deren Reichweite und mögliche Grenzen aber kritischer Betrachtung zu unterziehen sind. Es ist dabei unter Bezugnahme auf die Konventionsrechtsprechung zu erörtern, ob und inwieweit objektive Kriterien zur Begrenzung des Schutzbereichs geeignet und geboten sind.57 55 EGMR, Urteil vom 19. April 1993, Kokkinakis gegen Griechenland, Nr. 14307/88, Series A260-A, Ziffer 48. 56 Grabenwarther, ECHR Commentary, Art. 9, Rn. 7. 57 Auch in Deutschland werden bezüglich Art. 4 GG beständig Diskussionen geführt, ob der Schutzbereich bezüglich der Ausübungsfreiheit strenger zu begrenzen sei, etwa auf Zeremonien und Gottesdienste unter Ausschluss von bloßen Alltagspraktiken. Anders als das Grundgesetz, das die „Ausübung“ schützt, schützt Art. 9 Abs. 1 EMRK das Bekenntnis und suggeriert damit eher, dass auch Verhaltensweisen geschützt sind,

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2. Teil: Verschleierungsverbote als konventionsrelevante Maßnahmen

c) Möglichkeiten zur Begrenzung des grundsätzlich subjektiv bestimmten Schutzbereichs durch objektive Kriterien Die rein subjektive Bestimmung durch das Individuum oder auch eine Glaubensgemeinschaft dahingehend, ob eine Handlung ein Bekenntnis darstellt und somit den Schutz von Art. 9 Abs. 1 EMRK genießt, kann wie angesprochen die Gefahr bergen, die Religionsfreiheit zu banalisieren und auszunutzen, um jedwede Handlung stärker vor staatlichen Eingriffen zu schützen. Dass dies nicht geschehen soll, entspricht auch der grundsätzlichen Haltung des EGMR, dessen Rechtsprechung zu dieser Thematik, wie sich zeigen wird, jedoch nicht einheitlich ist. Daher sind Ansätze und Lösungswege zu diskutieren, ob und wenn ja welche objektiven Festlegungen und Anforderungen im Tatbestand eine taugliche Begrenzung des grundsätzlich subjektiv zu bestimmenden religiösen Bekenntnisses darstellen können. Diese Ausführungen beschränken sich allein auf das forum externum, die religiös motivierte Handlung, da hier das Konfliktpotenzial innerhalb einer Gesellschaft zutage tritt. Das reine Glauben, die Überzeugung „im Inneren“ ist dagegen absolut geschützt und rein subjektiv zu bestimmen. aa) Begrenzung auf Handlungen, in denen die Religion „zum Ausdruck kommt“ Die ehemalige Europäische Kommission für Menschenrechte (EKMR) hielt 1978 in ihrem Bericht zu dem Fall Arrowsmith gegen Vereinigtes Königreich erstmals fest, dass der Schutzbereich nicht jedwedes Handeln erfassen könne, dem irgendein religiöses oder weltanschauliches Gebot zugrunde liege.58 Vielmehr könnten nur solche Handlungen als ein Bekenntnis angesehen werden, in denen die religiöse Überzeugung auch zum Ausdruck komme.59 Damit verlangte die EMRK einen Ausdruck der Religion selbst, nicht eine Verhaltensweise, die lediglich durch die Religion motiviert ist. Eine solche Beurteilung stellt allerdings keine sonderlich handhabbare und rechtssichere Lösung dar, da sie eine klare

die nicht den klassischen religiösen Bräuchen und Riten wie Gottesdienste o. ä. entsprechen. Für eine Begrenzung des Schutzbereichs von Art. 4 GG siehe Huster, Die ethische Neutralität des Staates, S. 376 ff.; Kästner, JZ 1998, 974 (979 f.); zum Argument der Hypertrophie und anderen siehe auch Borowski, S. 378 ff. Im Übrigen wäre die Konsequenz des Ausschlusses von Alltagspraktiken im Rahmen der EMRK weniger drastisch, da hier immer noch Art. 8 EMRK mit einem fast gleichlautenden Schrankenkatalog einschlägig wäre – anders als beim Grundgesetz, in dessen Rahmen die Betroffenen dann auf den wesentlich geringeren Schutz des Art. 2 Abs. 1 GG angewiesen wären. 58 EKMR, Bericht vom 12. Oktober 1978, Arrowsmith gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 7050/75, DR 19,5 Ziffer 71. 59 EKMR, Bericht vom 12. Oktober 1978, Arrowsmith gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 7050/75, DR 19,5 Ziffern 69, 71.

B. Verschleierungsverbote als Eingriff in den Schutzbereich von Art. 9 EMRK 135

Abgrenzung schuldig bleibt und eine kaum vorhersagbare Kasuistik schafft.60 Wenn eine religiöse Überzeugung in einer Handlung zum Ausdruck kommen muss, damit sie als Bekenntnis anerkannt wird, bedeutet dies letztlich einen Zirkelschluss: denn ausgehend von einem selbstbestimmten und nicht unter Zwang handelnden Individuum kann nur dieses selbst für sich letztlich festlegen, wie es seinen Glauben ausübt und welche Handlungen es dabei für konstituierend erachtet – und welche nicht. Die Frage danach, ob dabei die Religion „zum Ausdruck kommt“, stellt aber nicht per se auf das Selbstverständnis und die Selbstbestimmung des Individuums ab, sondern auf einen externen Beobachter und darauf, ob die Religion bei der Handlung oder Verhaltensweise zu erkennen und in gewissem Maße nachvollziehbar ist. Folglich wird die Religionsausübung zumindest mittelbar danach beurteilt, ob sie bekannte Elemente und Verhaltensweisen enthält oder bekannte Muster wiedergibt. Zudem wird es so zur Pflicht des Individuums, das Gericht davon zu überzeugen, dass seine Handlung Ausdruck seiner Religion ist. In den in der Folge ergangenen Entscheidungen des EGMR, in denen ein „zum Ausdruck Kommen“ gefordert wurde, erscheint es, als sei es in diesen Fällen schlicht nicht entscheidend gewesen, eine Verletzung von Art. 9 EMRK eingehend zu prüfen und festzustellen, da in den jeweiligen Fällen auch die Meinungsfreiheit aus Art. 10 EMRK betroffen war.61 In letzter Konsequenz würde eine solche Begrenzung des Schutzbereichs bei gleichzeitiger Unschärfe ihrer Grenzen bedeuten, dass durch eine Religion vorgeschriebenes Verhalten geschützt ist, von ihr nur unterstütztes oder willkommenes dagegen nicht. bb) Begrenzung durch ein Notwendigkeitserfordernis Das Problem der schwerlich vorhersagbaren Kausistik kann unter Umständen durch einen Weg abgefangen werden, den die EKMR in anderen Entscheidungen einschlug. Die EKMR prüfte in diesen anstelle des oben beschriebenen Erfordernisses des „zum Ausdruck Kommens“ ein Notwendigkeitserfordernis. Danach ist es für das Bekenntnis nicht ausreichend, dass eine Handlung religiös motiviert ist, im Zweifel auch nicht, dass sie einer Praxis entspricht, sondern es handelt sich erst dann um ein Bekenntnis im Sinne von Art. 9 Abs. 1 EMRK, wenn die Handlung durch die Religion zwingend vorgeschrieben ist. So verneinte die Kommission das Vorliegen eines Bekenntnisses im Falle eines in einem Gefängnis inhaftierten Buddhisten, dem die Veröffentlichung eines Beitrags untersagt worden war. Dies wertete die Kommission nach dem Vortrag des Betroffenen nicht als religiöse Pflicht.62 In einer späteren Entscheidung betonte die EKMR, dass das Notwendigkeitserfordernis aber außerhalb des Gefängnisses gewöhnlich 60

So die berechtigte Kritik von Walter, in: EMRK/GG-Komm, Kap. 17 Rn. 57. Ungern-Sternberg, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art. 9, Rn. 18 m.w. N. 62 EKMR, Entscheidung. vom 20. Dezember 1974, X. gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 5442/72, DR 1, 41 (42). 61

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2. Teil: Verschleierungsverbote als konventionsrelevante Maßnahmen

nicht zu fordern sei.63 Dennoch prüfte die Kommission die Unverzichtbarkeit im Fall eines gläubigen Buddhisten, der die Reisekosten zu einem Zen-Zentrum bei der Höhe der Unterhaltszahlungen berücksichtigt wissen wollte. Die Kommission stellte fest, dass eine Unverzichtbarkeit nicht vorliege und verneinte daher eine Verletzung von Art. 9 Abs. 1 EMRK wegen Nichtberücksichtigung der Reisekosten.64 In anderen Fällen, bei denen es um das Tragen des muslimischen Kopftuchs seitens einer Grundschullehrerin65, den Bau eines Friedhofs66 oder die Missionierung der Zeugen Jehovas67 ging, ließ der EGMR hingegen offen, ob einer Handlung eine religiöse Pflicht zugrunde- und mithin eine Notwendigkeit vorlag und bejahte die Eröffnung des Schutzbereichs von Art. 9 Abs. 1 EMRK dennoch. Die Rechtsprechung der Kommission und des EGMR lassen insgesamt nicht darauf schließen, dass grundsätzlich das strenge Notwendigkeitserfordernis erfüllt sein muss.68 Gerade bezüglich des muslimischen Schleiers kann mit Verweis auf den Ersten Teil der Arbeit festgestellt werden, dass von einer „Notwendigkeit“, einer zwingenden Pflicht, zumindest insoweit nicht gesprochen werden kann, als nicht alle Muslime und Muslima diese Form des Bekenntnisses als eine Pflicht verstehen.69 Wiederum daran schließt sich aber auch der Aspekt an, dass es hierbei gerade auf

63 EKMR, X gegen Vereinigtes Königreich, Entscheidung vom 12. März 1981, DR 22, 27 (34 ff.). 64 EKMR, Entscheidung vom 6. September 1996, Logan gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 24875/94. 65 EGMR, Urteil vom 15. Februar 2001, Dahlab gegen Schweiz, Nr. 42393/98. ECHR-2001-V, S. 446. 66 EGMR, Entscheidung vom 10. Juli 2001, Johannische Kirche und Peters gegen Deutschland, Nr. 41754/98, ECHR-2001-VIII, S. 547 f. 67 EGMR, Urteil vom 25. Mai 1993, Kokkinakis gegen Griechenland, Nr. 14307/88, Series A260-A, Ziffer 36. 68 Schwerlich nachvollziehbar hierzu Evans, S. 115, die das den „Arrowsmith test“ nennt. Ausgehend vom Arrowsmith-Fall schlussfolgert Evans, dass grundsätzlich nur Handlungen und Verhaltensweisen als „practice“ i. S. d. Art. 9 Abs. 1 EMRK geschützt seien, die notwendig sind. Wie Evans selbst aber anmerkt, wurde das Notwendigkeitserfordernis in der Arrowsmith-Entscheidung aber weder diskutiert, noch entwickelt, C. Evans., a. a. O., Fn. 82. Vielmehr stellte die Kommission hier fest, dass nicht jedes religiös motivierte Verhalten von Art. 9 Abs. 1 EMRK geschützt ist, EKMR, Bericht vom 12. Oktober 1978, Arrowsmith gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 7050/75, DR 19, 5 Ziffer 71, vgl. dazu unter aa). Die Kommission sagt in dem Fall aber nicht, welche Verhaltensweisen genau denn geschützt seien, noch begrenzt sie den Schutzbereich auf die „notwendigen“ Verhaltensweisen. Die Arrowsmith-Entscheidung ist dementsprechend einer Vorgehensweise zuzuordnen, die gerade weniger strenge Anforderungen als das Notwendigkeitserfordernis aufstellt. 69 Auch der EGMR hat bewusst offengelassen, ob das Tragen eines muslimischen Kopftuchs immer eine religiöse Pflicht darstellt, EGMR, Urteil vom 10. November 2005, S¸ahin gegen Türkei, Nr. 44774/98, ECHR-2005-XI, Ziffer 78.

B. Verschleierungsverbote als Eingriff in den Schutzbereich von Art. 9 EMRK 137

die jeweilige Strömung des Islam ankommt. Obliegt die Definitionsmacht der Mehrheit, so besteht die Notwendigkeit nicht. Sie besteht auch dann nicht, wenn der Koran in seinem Wortlaut und nach seiner verbreitetsten Auslegung gelten soll. Entscheidend muss aber die Argumentation der Betroffenen sein. Dabei kann eine Notwendigkeit gerade nicht von einer Mehrheitsmeinung abhängen (dazu unter cc)), sondern müsste durch die Betroffene dargelegt werden. Dies zu fordern würde den Schutzbereich allerdings sehr weit einschränken. Das Kriterium der Notwendigkeit kann auf gewisse Weise die Problematik der unvorhersehbaren Kasuistik zwar eindämmen, dennoch vermag es dies nicht ausreichend, wie die uneinheitliche Rechtsprechung zeigt. Zudem muss sich auch diese Art der Beschränkung den Vorwurf gefallen lassen, von einer Religion nicht unbedingt vorgeschriebene, aber in ihrem Wertekanon enthaltene und willkommene Verhaltensweisen vom Schutzbereich auszuschließen und so auch die Gefahr zu bergen, unbekannte und wenig traditionsreiche Formen des Bekenntnisses auszuschließen. Auch die uneinheitliche Rechtsprechung der EKMR bzw. des EGMR offenbart, dass eine eindeutige Antwort hier häufig große Probleme birgt und zulasten der Betroffenen geht. Die oben genannten Entscheidungen des EGMR verdeutlichen, dass häufig unklar ist oder bezweifelt werden kann, ob tatsächlich eine Pflicht besteht, der religiöse Zusammenhang aber dennoch offenbart wird und ein Verneinen bereits des Schutzbereichs unbillig erscheint. Auffällig ist zudem, dass es sich bei den Fällen, in denen eine Notwendigkeit zwar nicht geprüft oder gefordert, der Schutzbereich aber dennoch als eröffnet beurteilt wurde, Verhaltensweisen Gegenstand waren, die allgemein weitgehend bekannt sind und mit einer Religion assoziiert werden. Vor allem bei etablierteren Verhaltensweisen scheint der Gerichtshof geneigt, den Schutzbereich zu bejahen ohne das Notwendigkeitserfordernis ernsthaft zu prüfen. Daran offenbart sich auch zumindest die angesprochene Gefahr, Bekenntnisformen von Minderheiten innerhalb einer Religionsgemeinschaft oder unbekannte oder ungewöhnliche Bekenntnisformen strengeren Anforderungen für den Nachweis der Notwendigkeit zu unterwerfen. Zudem birgt ein solcher Ansatz die Problematik, dass es dem Staat und den staatlichen Gerichten aufgrund der Neutralitätspflicht verwehrt ist, über den Inhalt einer Religion – also auch über ihren „notwendigen“ Inhalt – zu befinden. Dieser Widerspruch scheint nur schwerlich auflösbar. Eine tatbestandsimmanente Beschränkung anhand vorgeschriebener religiöser Pflichten auf das Notwendige hinsichtlich der Reichweite des Schutzbereichs begegnet daher ernst zu nehmenden Bedenken. cc) Beschränkung auf mehrheitlich vertretene Glaubensgrundsätze einer Religionsgemeinschaft Als eine weitere Möglichkeit zur Beschränkung des Schutzbereichs hinsichtlich der Ausübungsfreiheit wurde auch angedacht, dass nur solche Handlungen und Verhaltensweisen geschützt sein sollen, die von der Mehrheit der Gläubigen

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2. Teil: Verschleierungsverbote als konventionsrelevante Maßnahmen

einer Glaubensrichtung in gleicher oder ähnlicher Weise ausgeübt werden.70 Die Praxis der Vollverschleierung könnte hiernach kein Bekenntnis im Sinne des Art. 9 Abs. 1 EMRK darstellen. Der EGMR entschied 1983 in einem Fall, dass eine Handlung nur dann eine Religionsausübung in Form eines Brauchs darstelle, wenn sie eine in der jeweiligen Glaubensgemeinschaft übliche Praxis darstellt und nicht nur wie etwa in diesem Fall eine familiäre Tradition.71 Allerdings ist die Religionsausübung in Form eines Brauchs auch nur eine der in Art. 9 Abs. 1 EMRK genannten Formen der Ausübung und die dortige Aufzählung nicht abschließend. Einem Brauch mag das Merkmal des „Üblichen“ innewohnen, für sämtliche Ausübungsformen verallgemeinert werden darf dieses Erfordernis unter Beachtung der systematischen Konzeption von Art. 9 Abs. 1 EMRK jedoch nicht. Zudem ist das Merkmal „üblich“ auch für Bräuche weit auszulegen, um effektiven Schutz zu gewährleisten. Ein mehrheitliches Praktizieren innerhalb einer Glaubensgemeinschaft darf aus Gründen des Schutzes religiöser Minderheiten auch innerhalb einer Glaubensrichtung nicht gefordert werden. Ein Mehrheitserfordernis kann kein Kriterium darstellen, um eine Handlung als Bekenntnis zu qualifizieren.72 dd) Begrenzung durch das Sittsamkeits- und Werteempfinden einer Gesellschaft Wiederum eine andere Möglichkeit der Beschränkung des Schutzbereichs könnte darin liegen, ihn nur für solche Bekenntnisformen zu bejahen, die nicht gegen das Sittlichkeits- und Werteempfinden derjenigen Gesellschaft verstoßen, in der sie ausgeübt werden sollen. Bezüglich des Vollschleiers korreliert dieser Gedanke mit den zahlreichen politischen, allerdings vorrangig nicht juristischen Ausführungen der Befürworter allgemeiner Verschleierungsverbote, der Vollschleier passe nicht in die westliche Wertegemeinschaft und Lebensweise.73 Diese politischen, häufig auch emotionalen Äußerungen sind von der juristischen Bewertung zu trennen. Wie oben festgestellt, stellt Art. 9 Abs. 1 EMRK und insbesondere die Bekenntnisfreiheit eine Säule des Pluralismus in demokratischen Gesellschaften dar. Eine Begrenzung durch Mehrheitsempfinden bezüglich unbestimmter und wandelbarer Kategorien wie Sittsamkeits- und Werteempfinden würde dem zuwiderlaufen. Den Schutzbereich auf diese Weise zu beschränken würde bedeuten, religiöse Vielfalt nur dann zu schützen, wenn sie von der Mehrheit als bereichernd empfunden wird. Art. 9 Abs. 1 EMRK schützt dagegen aber gerade auch solche Bekenntnisformen, die im Zweifel eher als eine Belastung 70 So noch u. a. Blum, S. 96, unter Verweis auf den Wesenszug der „Gemeinschaftgebundenheit“ der Religionsausübung; Loschelder, S. 154. 71 EGMR, Urteil vom 6. Dezember 1981, D. gegen Frankreich, Nr. 10180/82, DR 35, 199 (202). 72 So feststellend auch EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR-2014-III, Ziffer 56. 73 Vgl. exemplarisch im Fall Frankreichs Erster Teil, C. I. 3.

B. Verschleierungsverbote als Eingriff in den Schutzbereich von Art. 9 EMRK 139

empfunden werden können.74 Eine Schutzbereichsbegrenzung kann mit einem solchen Ansatz nicht begründet werden, wenngleich das vom EGMR vertretene Konzept von Pluralismus in der folgenden Diskussion um die Praxis der Vollverschleierung auf der Rechtfertigungsebene noch eine wesentliche Rolle spielen wird. Bezüglich der Vollverschleierung bedeutet dies, dass selbst aufgrund gegenläufigen Mehrheitsempfindens und Wertevorstellungen der Schutzbereich aufgrund des Mehrheitsempfindens und der mehrheitlichen Lebensweise in einer Gesellschaft nicht einzugrenzen ist. Die Assoziationen der Vollverschleierung mit der Unterdrückung oder zumindest Nicht-Gleichstellung der Frau gegenüber dem Mann ist zwar durchaus vorhanden und in einer unbekannten Anzahl von Fällen wohl auch im Rahmen der Vollverschleierung der Realität entsprechend. Diese Fälle betreffen aber nicht den hier zu untersuchenden Fall der Verbotsgesetze, die auch solche Frauen treffen, die sich frei von Zwang im zumindest juristischen Sinn für den Vollschleier entscheiden. Die geschlechtsspezifische Komponente des Vollschleiers wie auch spiegelbildlich des Verbots bleibt damit zwar offenbar, ist jedoch nicht auf der Ebene des Schutzbereichs zu erörtern. Wenn sich eine Frau entschließt, sich zu verschleiern, mag das einer Mehrheit in der Gesellschaft widerstreben. Dennoch ist das Verhalten als solches nicht deshalb aus dem Schutzbereich von Art. 9 EMRK auszuschließen. Vielmehr ist auch bei der Bejahung dessen ein Eingriff in das Recht durch ein Verbot bzw. aufgrund eines solchen gerade möglich, solange er die Anforderungen des Abs. 2 erfüllt. Gleichsam verhält es sich mit Argumentationen, wonach die Vollverschleierung den Gepflogenheiten der westlichen Kommunikation diametral entgegenstehe.75 Mithin sind solche Ausführungen auf die Ebene der Verhältnismäßigkeit zu verlagern, auf der widerstreitende Rechte und Interessen abzuwägen sind. An dieser Stelle bleibt jedoch festzuhalten, dass Empfindungen der Mehrheit einer Gesellschaft den Schutzbereich der Bekenntnisfreiheit einer kleineren oder irgendeiner Gruppe nicht vorgeben dürfen, sondern im Sinne vor allem effektiven Minderheitenschutzes auch unliebsames oder gar belastendes Verhalten zunächst einmal dem Schutzbereich unterfällt. Eine Schutzbereichsbegrenzung anhand des Sittsamkeits- und Werteempfindens einer Gesellschaft ist nicht tauglich. ee) Begrenzung durch inneren Zusammenhang zu einem Glauben von gewissem Maße an Stichhaltigkeit, Ernsthaftigkeit, Kohärenz und Bedeutsamkeit Der EGMR stellte in der S.A.S.-Entscheidung fest, dass Art. 9 Abs. 1 EMRK solche Überzeugungen schützt, die ein gewisses Maß an Stichhaltigkeit, Ernst74

Kälin/Wyttenbach, S. 261. Vgl. Darstellung der jeweiligen Debatten oben Erster Teil, C. Auch in Deutschland wurde entsprechend von der AfD-Fraktion im Bundestag bei Begründung eines Antrags auf ein Verbotsgesetzentwurf argumentiert, BT-Drs. 19/829, S. 2. 75

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2. Teil: Verschleierungsverbote als konventionsrelevante Maßnahmen

haftigkeit, Kohärenz und Bedeutsamkeit erreichen. Bekenntnisse dessen seien wiederum geschützt, wenn sie damit in ausreichendem Zusammenhang stünden.76 In seiner jüngeren Rechtsprechung widerspricht der EGMR dem Erfordernis einer zwingenden religiösen Pflicht ausdrücklich und prüft durchweg lediglich einen Zusammenhang zur Religion: „In particular, applicants claiming that an act falls within their freedom to manifest their religion or beliefs are not required to establish that they acted in fulfillment of a duty mandated by the religion in question“.77 Die in den Entscheidungen Eweida u. a. gegen Vereinigtes Königreich und S.A.S. gegen Frankreich vom EGMR genannten Kriterien eigenen sich zur Begrenzung des Schutzbereichs, da sie an die Motivation und subjektive Sicht des Betroffenen anknüpfen und diese einem angemessen Maß an Objektivität zuführen. Ob von einer Religion ausgegangen werden kann, ist zunächst nach objektiven, aber gleichwohl niedrigschwelligen Kriterien zu beurteilen. Allein Stichhaltigkeit, Ernsthaftigkeit, Kohärenz und eine gewisse Bedeutsamkeit müssen hierzu plausibel gemacht werden. Die Person (oder Gemeinschaft), die den Schutz des Art. 9 Abs. 1 EMRK beansprucht, kann und muss sodann selbst plausibel darlegen, dass es sich bei der in Rede stehenden Verhaltensweise oder Praxis um ein Bekenntnis zu dieser Religion handelt. Der Maßstab ist hier aber wesentlich niedriger als bei dem unter bb) dargestellten Kriterium der Notwendigkeit. Zwar darf nicht lediglich ein entfernter Zusammenhang zwischen der Verhaltensweise und der Religion bestehen, die Verhaltensweise muss aber keine Erfüllung einer religiösen Pflicht darstellen. Die Kriterien setzen somit eine Grenze für den Schutzbereich von Art. 9 Abs. 1 EMKR und verhindern, dass er beliebig, banal und konturenlos wird. Gleichzeitig belassen sie die Hoheit über die Erfüllung dieser Kriterien weitestgehend bei dem Rechtsträger, ohne religiöse oder gesellschaftliche Mehrheiten als Maßstab zu nehmen oder dem Staat die Aufgabe zukommen zu lassen, sich entgegen seiner Neutralitätspflicht näher mit dem Inhalt einer Religion auseinanderzusetzen. ff) Zusammenfassung und Stellungnahme Wie die Ausführungen gezeigt haben, ist die Bestimmung dessen, was ein religiöses Bekenntnis darstellt, subjektiv durch die betroffene, das Bekenntnis ausübende Person zu bestimmen. Das Anliegen, den Schutzbereich von Art. 9 Abs. 1 EMRK bezüglich der Ausübung einer Religion tatbestandsimmanent zu begrenzen, um eine Banalisierung des Menschenrechts zu verhindern und Grenzen zu 76 EGMR, Urteil vom 14. Juli 2015, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffer 55. 77 EGMR, Entscheidung vom 15. Januar 2013, Eweida u. a. gegen Vereinigtes Königreich, Nrn. 48420/10, 59842/10, 51671/10 und 36516/10, Ziffer 82; EGMR, Urteil vom 10. November 2005, S¸ahin gegen Türkei, Nr. 44774/98, ECHR-2005-XI, Ziffern 78, 105.

B. Verschleierungsverbote als Eingriff in den Schutzbereich von Art. 9 EMRK 141

definieren, hat dennoch seine Berechtigung. Die diskutierten Ansätze hierzu verdeutlichen, dass dabei insbesondere darauf zu achten ist, die Begrenzung objektiv, aber nicht zulasten von Minderheiten auszugestalten. Der Ansatz, der das Sittsamkeits- und Werteempfinden der jeweiligen Gesellschaft zum Maßstab macht, kann deshalb nicht überzeugen. Auch der vom EGMR teilweise gewählte Lösungsansatz, nach dem er fordert, dass die Religion in dem Bekenntnis „zum Ausdruck kommt“, ist aufgrund seiner Unbestimmtheit problematisch. Wie Walter zurecht anmerkt, ist die Unvorhersehbarkeit ein großes Manko dieses Ansatzes. Die Begrenzung des Schutzbereichs durch die Voraussetzung der Notwendigkeit des Bekenntnisses vermag in gewisser Weise hier eine klarere Struktur zu bieten, sie bedeutet aber wiederum eine Gefahr für unbekannte oder neue Religionen oder Praxen von Minderheiten auch innerhalb einer Glaubensrichtung. Die Begrenzung auf das „Notwendige“ würde zudem Verhaltensweisen aus dem Schutzbereich ausschließen, die in einer Religion bzw. durch diese zwar erwünscht oder willkommen, aber nicht erforderlich sind. Eine solche Begrenzung würde die staatlichen Gerichte in ein „theologisches Dilemma“ 78 führen, in dem zumindest die Gefahr bestünde, dass der religiös neutrale Staat über den „wahren Inhalt“ einer Religion zu befinden hätte. Ein solcher Ansatz kann daher nach hier vertretener Auffassung ebenfalls nicht überzeugen. Vielmehr hat sich gezeigt, dass den Anforderungen, der Glaubende solle zuvorderst selbst definieren, was ein Bekenntnis seiner Religion darstellt, und anschließend solle objektiv sichergestellt werden, dass eine Banalisierung des Art. 9 Abs. 1 S. 2 EMRK nicht zu befürchten steht, am besten ein Ansatz gerecht wird, der eine Art Plausibilitätskontrolle verlangt. Der Glaubende muss danach lediglich darlegen können, dass ein gewisses Maß an Stichhaltigkeit, Ernsthaftigkeit, Kohärenz und Bedeutung seinen Glauben kennzeichnen und ein innerer Zusammenhang zur in Rede stehenden Verhaltensweise oder Handlung besteht. So bleibt der Glaubende die in erster Linie definierende Instanz. Die Gefahr der Definition durch die Mehrheitsgesellschaft ist hier bestmöglich eingedämmt. Es sind nicht nur zwingende Pflichten oder etablierte bekannte Traditionen geschützt, sondern bei plausibler Darlegung auch solche Verhaltensweisen, die unpopulär oder für andere Menschen unliebsam sind, die von einer Religion „nur“ unterstützt oder die allgemein nur von Minderheiten ausgeübt werden. Mithin ist dieser Lösungsansatz der hier favorisierte.

78 Roy, The International Spectator 48 (2013), 5 (7 f.), der dies auf den Islam und die Integration von Muslimen bezieht. Das theologische Dilemma bestünde darin, dass der Staat, der eine Religion nicht inhaltlich bewerten darf, dies dennoch tut, um den objektiven und letztlich unveränderlichen Wertekanon einer Religion zu bestimmen. Damit würde aber vorausgesetzt, dass die Anhänger einer Glaubensrichtung eine homogene Gruppe bilden, die Religion selbst sei damit „kalt“ und entindividualisiert.

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2. Teil: Verschleierungsverbote als konventionsrelevante Maßnahmen

d) Das Tragen des Vollschleiers als Schutzgut von Art. 9 Abs. 1 EMRK Mehrmals hatte sich der EGMR mit der Zulässigkeit von Verboten bezüglich religiöser, im Besonderen auch muslimischer Bekleidung zu beschäftigen. Der Fall S.A.S. gegen Frankreich stellte jedoch den ersten dar, in dem sich der EGMR mit dem Gesichts- und Vollschleier auseinander setzen musste. Bereits zuvor hatte er entschieden, dass das Tragen des muslimischen Kopftuchs, des Hijabs, in den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 1 EMRK falle.79 Auch das Tragen eines Turbans in der Öffentlichkeit durch Sikhs hatte der EGMR bereits als von Art. 9 Abs. 1 EMRK geschützte Verhaltensweise angesehen.80 Nach dem oben dargestellten Maßstab obliegt es in erster Linie dem betroffenen Individuum, plausibel und in gewissem Maße in stichhaltiger und ernsthafter Weise darzulegen, dass es sich beim Tragen des Vollschleiers um ein religiöses Bekenntnis handelt. Die Handlung muss weder der Religion nach zwingend notwendig, noch von der Mehrheit der Glaubensgemeinschaft in gleicher oder ähnlicher Weise praktiziert oder von der Gesellschaft insgesamt als bereichernd oder (sozial-)normkonform empfunden werden. Die Praxis kann sogar bei der Mehrheit der Bevölkerung auf Missfallen stoßen, ohne dass ihr allein deshalb der Schutz aus Art. 9 Abs. 1 EMRK versagt bleiben könnte. Das Tragen des Gesichts- und Vollschleiers stellt nach diesen Kriterien ein religiöses Bekenntnis dar. Ob die Praxis der Vollverschleierung daneben noch weitere Aussagen – zwingend oder lediglich plausibel – vermittelt, ist an dieser Stelle nicht relevant. Dem Staat dagegen obliegt hier nicht die Deutungshoheit, ob es sich beim Tragen des Vollschleiers tatsächlich um ein zwingendes Gebot des Islam handelt. Erstens hat er in religiösen Angelegenheiten die Neutralitätspflicht zu wahren, zweitens kommt es nach ohnehin nicht darauf an, ob es sich um eine zwingende religiöse Pflicht handelt. Auch ist nicht entscheidend, wie die Mehrheit der Muslime zur Vollverschleierung als Religionsausübung steht. Wie auch der EGMR feststellt: Allein das Individuum hat dies für sich zu entscheiden, solange nur das im Rahmen des Schutzbereichs zu fordernde Maß an Ernsthaftigkeit und Bedeutsamkeit gewahrt und ein innerer Zusammenhang zwischen Glauben und Praxis erkennbar ist.81 Nicht geschützt wäre dagegen dem EGMR zufolge die Propaganda für politische Ziele unter dem Deckmantel der Religion wie etwa durch islamistisch-fun79 EGMR, Urteil vom 15. Februar 2001, Dahlab gegen Schweiz, 42393/98, ECHR2001-V; EGMR, Urteil vom 10. November 2005, S¸ahin gegen Türkei, Nr. 44774/98, ECHR-2005-XI; EGMR, Urteil vom 4. Dezember 2008, Dogru gegen Frankreich, Nr. 27085/05. 80 EGMR, Urteil vom 23. Februar 2010, Arslan u. a. gegen Türkei, Nr. 41135/98. 81 EGMR, Urteil vom 14. Juli 2015, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffer 55.

B. Verschleierungsverbote als Eingriff in den Schutzbereich von Art. 9 EMRK 143

damentalistische Organisationen.82 Der muslimische Gesichts- und Vollschleier als solcher ist aufgrund der bereits im Ersten Teil dargestellten Historie, der unterschiedlichen und zum Teil individuellen Begründungsmodelle und insbesondere der Motivationen der den Schleier tragenden Frauen hier jedoch nicht einzuordnen, auch wenn einige Stimmen in der Politik dies so vertreten83 und er von außenstehenden Beobachtern subjektiv entsprechend assoziiert werden könnte. Dies ist an dieser Stelle jedoch nicht entscheidend. Eine womöglich von anderen als propagandistisch empfundene oder provozierende Wirkung des Bekenntnisses ist nach allem oben Gesagten auf der Ebene des tatbestandlichen Schutzbereichs von Art. 9 Abs. 1 EMRK nicht relevant. Es ist auf den Beweggrund und die Auslegung der Religion der einzelnen Person abzustellen. Der Vollschleier ist auch unter Muslimen höchst umstritten84, den Schutzbereich von Art. 9 Abs. 1 EMRK berührt dies indes nicht. Unbeachtlich ist auch, ob die betroffene Person das jeweilige Bekenntnis beständig praktiziert. Wenn eine Frau den Vollschleier nicht dauerhaft, sondern lediglich anlassbezogen trägt, bleibt dies folglich ebenfalls ohne Auswirkung auf die Eröffnung des Schutzbereichs. Das Tragen des muslimischen Vollschleiers ist mithin eine von Art. 9 Abs. 1 EMRK geschützte Form des religiösen Bekenntnisses. 2. Persönlicher Schutzbereich a) Jedermannsrecht Die Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK ist in erster Linie ein Individualrecht, welches grundsätzlich jeder natürlichen Person zusteht. Jeder Gläubige, Atheist, Agnostiker oder Gleichgültige ist Rechtsträger der Religionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 1 EMRK.85 Die Ausübung, das Bekenntnis der Religion erfolgt häufig – anders bei der Vollverschleierung – gemeinschaftlich. Auch Glaubensgemeinschaften können sich wegen Art. 34 EMRK auf die Religionsfreiheit berufen, wenngleich auch nur auf die Bekenntnisfreiheit im Rahmen des forum externum, nicht dagegen auf den Bereich des höchstpersönlichen forum internum. Ihnen stehen gleichwohl eigene und von ihren Mitgliedern unabhängige Rechte aus 82 EGMR, Urteil vom 18. Januar 2001, Zaoui gegen Schweiz, Nr. 41615/98, Ziffer 1. Hier war allerdings die Meinungsfreiheit nach Art. 10 EMRK berührt. 83 In Deutschland nannte die CSU die Burka in einem Beschluss des Parteivorstands im September 2016 „eine Uniform des Islamismus“, vgl. Beschluss des CSU-Parteivorstands vom 9./10. September 2016, Klarer Kurs bei der Zuwanderung, Humanität, Ordnung, Begrenzung, S. 3, abrufbar unter: http://www.csu.de/common/csu/content/csu/ hauptnavigation/aktuell/meldungen/Veranstaltung/Klausur_Schwarzenfeld/Papiere/Kla rer_Kurs_bei_der_Zuwanderung.pdf. 84 EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffer 108. 85 EGMR, Urteil vom 25. Mai 1993, Kokkinakis gegen Griechenland, Nr. 14307/88, Series A260-A, Ziffer 31.

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2. Teil: Verschleierungsverbote als konventionsrelevante Maßnahmen

Art. 9 Abs. 1 EMRK zu.86 Frauen, die den Vollschleier tragen, sind als natürliche Personen und Individuen grundsätzlich Trägerinnen des Rechts aus Art. 9 Abs. 1 EMRK. b) Beschränkung durch ein besonderes Näheverhältnis zum Staat? Anders als dies nach den einzelnen originär nationalen Rechtsordnungen der Fall sein kann, sind natürliche Personen auch dann Rechtsträger von Art. 9 EMRK, wenn sie in einem besonderen Näheverhältnis zum Staat stehen. Der Eintritt in die Armee etwa führt letztlich zwar im Ergebnis dazu, dass sich die Person im Falle eines Verstoßes gegen die mit dem Eintritt akzeptierten Disziplinarvorgaben aus religiösen Gründen nicht mehr auf Art. 9 EMRK berufen kann. Dabei beschränkt der EGMR aber wohl nicht den Schutzbereich von Art. 9 EMRK für Angehörige der Armee, sondern senkt vielmehr die Rechtfertigungshürden im Falle eines Eingriffs ab.87 Auch Standesbeamte88 sowie Lehrer und Lehrerinnen an staatlichen Schulen89 sind Rechtsträger der Rechte und Freiheiten aus Art. 9 EMRK. Damit ist grundsätzlich zunächst einmal unbeachtlich, ob die Frauen, die sich gegen die Verschleierungsverbote wenden, im öffentlichen Dienst tätig sind. Beachtlich kann dies dann aber auf der Ebene der Rechtfertigung werden, etwa weil öffentliche Schulen einen staatlich verantworteten Raum darstellen, in dem der Staat und auch seine Vertreter und Vertreterinnen Neutralität in religiösen Fragen zu wahren haben. Dieser Neutralitätspflicht kann dann gegenüber der individuellen Religionsfreiheit im Rahmen einer Abwägung das größere Gewicht zukommen. Diese spezifischen Bereiche, die zum Teil in den Mitgliedsstaaten auch besonderen bereichsbezogenen Regelungen unterliegen90, wirken sich aber noch nicht im Rahmen des Schutzbereichs auf die betroffenen Personen aus.

86 Grabenwarter, FS Rüfner, S. 147 (148). Ursprünglich war Art. 9 EMRK aber als reines Individualrecht konzipiert, vgl. Grabenwarter, ECHR-Commentary, Art. 9 Rn. 3. 87 EGMR, Urteil vom 1. Juli 1997, Kalaç gegen Türkei, Nr. 20704/92, ECHR-1997IV, Ziffer 27 f., wobei der EGMR in diesem Fall ein Eingriff letztlich sogar verneinte, a. a. O., Ziffer 31. 88 EGMR, Urteil vom 15. Januar 2013, Eweida u. a. gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 48420/10, 59842/10, 51671/10 und 36516/10, Ziffer 102 (bei den nach Art. 42 Abs. 1 EGMR-VerfO verbundenen Beschwerden handelte es sich bei der Beschwerdeführerin Ms. Ladele um eine Londoner Standesbeamtin, a. a. O., Ziffer 25). 89 EGMR, Urteil vom 15. Februar 2001, Dahlab gegen Schweiz, Nr. 42393/98, ECHR-2001-V, S. 477 (461). 90 In Deutschland normieren die Landesschulgesetze beispielsweise spezifische Verhaltenspflichten für Lehrerinnen und Lehrer an öffentlichen Schulen und untersagen ihnen das Tragen sichtbarer religiöser Symbole, vgl. Erster Teil, C. VI.

B. Verschleierungsverbote als Eingriff in den Schutzbereich von Art. 9 EMRK 145

c) Beschränkung durch sonstiges besonderes Verhältnis zum Staat? Auch sonstige Situationen, in denen sich natürliche Personen in einem irgendwie gearteten besonderen Verhältnis zum Staat befinden, sind für den persönlichen Schutzbereich irrelevant. Der bereits oben unter 1. c) cc) zitierte Fall des inhaftierten Buddhisten verdeutlicht, dass auch das Antreten und Ableisten einer Haftstrafe in staatlichen Gefängnissen nichts daran ändern, dass die betroffene Person Rechtsträger von Art. 9 Abs. 1 EMRK ist, wenngleich der Staat in solchen Konstellationen besonderen Einfluss auf die Lebensführung des Einzelnen nimmt. In dem geschilderten Fall verlangte die EKMR im Rahmen der Prüfung des Schutzbereichs von Art. 9 EMRK zwar den Nachweis einer Notwendigkeit der in Rede stehenden Handlung und lehnte die Eröffnung des Schutzbereichs mangels ausreichenden Nachweises ab.91 Dies betraf aber in erster Linie den sachlichen Schutzbereich. Im Nachgang der Entscheidung relativierte die EKMR die Voraussetzung der Notwendigkeit für die Eröffnung des Schutzbereichs, indem sie festhielt, dass außerhalb des Gefängnisses eine solche jedenfalls nicht nachzuweisen wäre.92 Damit suggeriert die EKMR gleichwohl eine Beschränkung des persönlichen Schutzbereichs für Gefängnisinsassen. Die Beschränkung mittels eines Notwendigkeitskriteriums betrifft jedoch allenfalls die Reichweite des sachlichen Schutzbereichs, auch wenn die spezifische Situation des Betroffenen ihren Anknüpfungspunkt darstellt. Wie dargelegt ist eine derartige tatbestandsimmanente Beschränkung aber auch nicht zu befürworten. Mithin kann sie auch nicht über eine etwaige Begründung im Rahmen des subjektiven Schutzbereichs erreicht werden. Dies würde die oben dargestellten berechtigten Bedenken ignorieren. d) Zusammenfassung Rechtsträger von Art. 9 EMRK sind in erster Linie natürliche Personen. Auch Religionsgemeinschaften können vermittelt über Art. 34 EMRK Rechtsträger sein, allerdings nur derjenigen Rechte und Freiheiten, die im Rahmen des forum externum bestehen. Der persönliche Schutzbereich ist auch dann eröffnet, wenn sich die betroffene Person in einem besonderen Näheverhältnis zum Staat befindet. Solche Näheverhältnisse können sich daraus ergeben, dass die Person im Dienste des Staates arbeitet, z. B. als Beamte, Armeeangehörige oder sonstige Angestellte im öffentlichen Dienst, oder eine Haftstrafe in einem staatlichen Gefängnis verbüßt. Für Frauen, die den Vollschleier tragen, ist der persönliche Schutzbereich mithin eröffnet – unabhängig davon, in welcher Situation sie den Vollschleier tragen. 91 EKMR, Entscheidung. vom 20. Dezember 1974, X. gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 5442/72, DR 1, 41 (42). 92 EKMR, X. gegen Vereinigtes Königreich, Entscheidung vom 12. März 1981, DR 22, 27 (34 ff.).

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2. Teil: Verschleierungsverbote als konventionsrelevante Maßnahmen

Erst in der Folge ist zu differenzieren, wie weit ein Verbot der Vollverschleierung reicht und welche Rechtfertigung daraus folgend erforderlich ist. Der Anwendungsbereich der hier untersuchten allgemeinen Verbotsgesetze ist derart weit gefasst, dass gerade nicht nur Frauen im staatliche verantworteten Raum seine Adressatinnen sind, ob als Staatsbedienstete oder Person, die diesen Dienst in Anspruch nimmt, sondern jede verschleierte Frau, die sich an einem öffentlich zugänglichen Ort aufhält. Aber auch bezüglich etwaiger Verbote mit begrenztem Anwendungsbereich ergibt sich hier nichts anderes. Auch die dortigen Adressatinnen, etwa Lehrerinnen an öffentlichen Schulen, sind Rechtsträgerinnen der Religionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 1 EMRK. Eine unterschiedliche Behandlung kann sich erst auf der Ebene der Rechtfertigung des Eingriffs in diese ergeben.

III. Eingriff in die Religionsfreiheit durch allgemeine Verschleierungsverbote Die jeweiligen Verbotsgesetze können nur dann eine Verletzung von Art. 9 EMRK darstellen, wenn sie als staatliche Maßnahme eine Handlung oder ein Unterlassen, die bzw. das von Art. 9 EMRK geschützt ist, unmittelbar einschränken oder unmöglich machen und mithin überhaupt einen Eingriff in die Religionsfreiheit darstellen.93 Das französische Verbotsgesetz wie auch diejenigen in Belgien, Österreich, Dänemark und der Schweiz untersagen es dem Individuum als Rechtsträger von Art. 9 EMRK, das Gesicht in der Öffentlichkeit zu verhüllen, mithin auch den Gesichtsschleier in der Öffentlichkeit zu tragen. Während der Wortlaut des französischen Gesetzes („l’espace public“) genauso wie das dänische Gesetz („offentligt sted“) das Verbot zunächst auf den „öffentlichen Raum“ bezieht, nennt das belgische Gesetz als räumlichen Anwendungsbereich die „der Öffentlichkeit zugänglichen Orte“ („voor het publiek toegankelijke plaatsen“ bzw. „les lieux accessibles au public“). Auch das französische Gesetz definiert jedoch in seinem Art. 2 den öffentlichen Raum als öffentliche Straßen und für die Öffentlichkeit zugängliche Plätze und Einrichtungen. Das österreichische Gesetz bezieht sich in seinem Wortlaut auf öffentliche Orte und öffentliche Gebäude, § 2 Abs. 1 AGesVG. Hier wird das Merkmal der Zugänglichkeit nicht eigens erwähnt oder zu Legaldefinitionszwecken herangezogen. Das schweizerische Gesetz beschreibt den räumlichen Anwendungsbereich besonders ausführlich als öffentlichen Raum und Orte, die öffentlich zugänglich sind oder an denen grundsätzlich von jedermann beanspruchbare Dienstleistungen erbracht werden. Trotz der unterschiedlichen Wortlaute ist der Anwendungsbereich bei allen Gesetzen generell und allgemein ausgestaltet, er bezieht sich auf den gesamten öffentlichen und der Öffentlichkeit zugänglichen Raum. Etwas anderes soll nur in den durch die Gesetze selbst vorgesehenen Ausnahmen gelten. Die Ausnahme93

Grabenwarter, in: Pabel/Schmahl, IntKommEMRK, Art. 9, Rn. 68.

B. Verschleierungsverbote als Eingriff in den Schutzbereich von Art. 9 EMRK 147

tatbestände beziehen sich allesamt auf bestimmte persönlich, situative oder vergängliche Gegebenheiten. Raumbezogene Ausnahmen sind außer für Gotteshäuser nicht vorgesehen. Die öffentlichen bzw. öffentlich zugänglichen Orte sind damit gänzlich erfasst, lediglich die sich dort ergebene Situation (Veranstaltungen oder Festlichkeiten) oder die spezifischen Eigenschaften einer Person (Verhüllung des Gesichts aus beruflichen oder gesundheitlichen Gründen) sowie andere Gesetze (Helmpflicht im Straßenverkehr) können zu einer Ausnahme führen.94 Eine unterschiedliche Behandlung der Verbotsgesetze ist dementsprechend hier nicht erforderlich. Die Eingriffsintensität unterscheidet sich nicht. Der Wortlaut der Verbotsgesetze ist jedoch jeweils neutral gefasst und bezieht sich nicht explizit auf religiöse Bekleidung. Der EGMR hat in der Vergangenheit einen Eingriff regelmäßig verneint, wenn allgemeine Gesetze ohne expliziten Bezug zur Religionsfreiheit Auswirkungen auf diese haben konnten.95 Etwas anderes kann aber gelten, wenn eine Handlung der Religionsausübung und des religiösen Bekenntnisses verboten und strafbewehrt ist.96 Das generelle Verbot, sein Gesicht an öffentlichen bzw. der Öffentlichkeit zugänglichen Orten zu verhüllen, verkürzt unter Strafandrohung die Freiheit der betroffenen Frauen, ihre Religion nach ihrem Verständnis und ihren Vorstellungen gemäß auszuüben. Unbeachtlich ist dabei, ob die Person bereits sanktioniert wurde oder dies nur zu erwarten hat. Ausreichend ist wie der EGMR erkennt bereits, dass die Person sich in dem Dilemma befindet, sich entweder gesetzeskonform zu verhalten oder ihre Religion nach ihren Vorstellungen auszuüben und in letzterem Fall zu riskieren, entsprechend bestraft zu werden.97 Die Verbote stellen damit unmittelbar freiheitsverkürzende Eingriffe in die Religionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 1 EMRK der den muslimischen Gesichts- und Vollschleier freiwillig tragenden Frauen in Frankreich, Belgien, Dänemark, Österreich und der Schweiz dar.

94 Art. 2 Abs. 2 loi 2010-1192 (Frankreich); § 2 Abs. 2 AGesVG (Österreich); Art. 563bis Abs. 2 Code pénal/Strafwetboek (Belgien); § 134b Stk. 3 straffeloven (Dänemark); für die Schweiz bleiben die Ausführungsgesetze abzuwarten. Die Ausnahmen im belgischen Gesetz sind im Vergleich restriktiver ausgestaltet. Ein Verstoß liegt hier lediglich dann nicht vor, wenn arbeitsrechtliche Bestimmungen eine Vermummung erfordern oder wenn im Rahmen von Festlichkeiten eine polizeiliche Anordnung eine Verhüllung, etwa Masken, ausdrücklich erlaubt, vgl. Erster Teil, C. II. 3. 95 Meyer-Ladewig/Schuster, in: Meyer-Ladewig u. a., EMRK, Art. 9, Rn. 6. So können z. B. Steuerzahler nicht unter Berufung auf Art. 9 EMRK verlangen, dass Steuergelder nicht für bestimmte Zwecke aufgewendet werden, EGMR, Urteil vom 15. Dezember 1983, C. gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 10358/83, Series A142. 96 EGMR, Urteil vom 25. Mai 1993, Kokkinakis gegen Griechenland, Nr. 14307/88, Series A260-A, Ziffer 36; EGMR, Urteil vom 24. Februar 1998, Larissis u. a. gegen Griechenland, Nr. 23372/95, Ziffer 38. 97 EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffern 57 m.w. N. zur Rechtsprechung, 110.

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2. Teil: Verschleierungsverbote als konventionsrelevante Maßnahmen

C. Verschleierungsverbote als Eingriff in den Schutzbereich von Art. 8 EMRK – Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens Die allgemeinen Verschleierungsverbote betreffen die private und – so die Prämisse der hier untersuchten Fallkonstellation – selbstbestimmte Lebensführung der Frauen jenseits ihres religiösen Bekenntnisses, indem sie Bekleidungsvorschriften im Alltag darstellen. Insoweit ist auch, wie in den Fällen S.A.S. gegen Frankreich und Belcacemi und Oussar gegen Belgien geschehen, auf Art. 8 EMRK einzugehen, wenngleich aufgrund der spezifisch religiösen Bedeutung des Vollschleiers Art. 9 EMRK im Weiteren den Schwerpunkt bilden wird.

I. Der Schutzbereich von Art. 8 EMRK Art. 8 Abs. 1 EMRK gewährleistet insgesamt vier Rechte: Die Achtung des Privatlebens, des Familienlebens, der Wohnung und der Korrespondenz. Insoweit bündelt die Norm Rechte, die sich in anderen Vertragswerken wie der GRCh oder auch im deutschen Grundgesetz in verschiedenen Artikeln finden (Art. 1 GG – Schutz der Menschenwürde, Art. 6 GG – Schutz der Ehe und Familie, Art. 10 GG – Schutz des Briefgeheimnisses und Art. 13 GG – Schutz der Wohnung). Entsprechend groß sind auch die Bedeutung von Art. 8 EMRK und seine Rolle im Rahmen der Rechtsprechung des EGMR. 1. Sachlicher Schutzbereich Hinsichtlich der allgemeinen Gesichtsverschleierungsverbote ist das Recht auf Achtung des Privatlebens bedeutsam. Der Begriff des Privatlebens i. S. d. Art. 8 Abs. 1 EMRK ist umfassend und nicht abschließend zu verstehen, was sich aus der Autonomie des Menschen ergibt, dem Art. 8 EMRK ein Recht auf Selbstbestimmung gewährt.98 Der Inhalt des Rechts aus Art. 8 EMRK ist offen für gesellschaftlichen Wandel und divergierende Anschauungen.99 Das Recht auf Achtung des Privatlebens gewährleistet jeder Person eine Sphäre, in der sie sich selbstbestimmt und frei entwickeln und der eigenen Persönlichkeit Ausdruck verleihen kann.100 Insgesamt lassen sich vier wesentliche Bestandteile herausfiltern, die den sachlichen Schutzbereich des Rechts auf Achtung des Privatlebens gem. Art. 8 Abs. 1 EMRK ausmachen: der Schutz der körperlichen und psychischen Integrität einer Person, der Schutz der Privatsphäre (im Sinne einer Privatheit), das Selbstbestimmungsrecht und der Schutz privater und beruflicher Beziehungen. 98

Meyer-Ladewig/Nettesheim, in: Meyer-Ladewig u. a., EMRK, Art. 8 Rn. 7. EGMR, Urteil vom 29. April 2002, Pretty gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 2346/02, ECHR-2002-III, Ziffer 61. 100 EKMR, Entscheidung vom 11. Juli 1980, Deklerck gegen Belgien, Nr. 8307/78, DR 21, 116 (124). 99

C. Verschleierungsverbote als Eingriff in den Schutzbereich von Art. 8 EMRK 149

Das Recht auf Achtung des Privatlebens ist dabei nicht auf den privaten Raum beschränkt. Auch in der Öffentlichkeit können die Interaktionen einer Person mit anderen vom Schutzbereich des Art. 8 EMRK erfasst sein. Beziehungen zu anderen Personen aufzubauen und zu unterhalten, ist gerade ein wesentlicher Aspekt des Privatlebens, auch wenn es im öffentlichen Raum stattfindet.101 Gleichzeitig schützt Art. 8 Abs. 1 EMRK in diesem Zusammenhang in seiner negativen Ausprägung auch das Recht, soziale Kontakte zu verweigern und nicht am öffentlichen Leben teilzunehmen.102 Art. 8 Abs. 1 EMRK schützt damit auch die Freiheit, nicht mit anderen kommunizieren, interagieren oder in sonstiger Weise soziale Kontakte ermöglichen zu müssen. Die EMRK gewährt gleichsam das Recht, ein „Außenseiter“ sein zu dürfen.103 Das Recht auf Selbstbestimmung und eine selbstbestimmte Lebensführung beinhaltet auch den Schutz der Freiheit, sowohl im privaten wie auch im beruflichen Kontext und auch im öffentlichen Raum grundsätzlich in einer selbst gewählten äußeren Erscheinung aufzutreten.104 Insbesondere zählt hierzu auch das Recht auf Wahl der eigenen Kleidung.105 Ungeachtet seiner religiösen Aussagekraft umfasst das auch das Tragen eines Vollschleiers.106 Insofern überschneiden sich die Schutzbereiche der Art. 8 und Art. 9 EMRK. In den Fällen religiöser Bekleidung stellt der EGMR allerdings auf deren spezifische glaubensbezogene Bedeutung für die Betroffenen ab und behandelt diese Fälle vorrangig (wenn nicht weiter erforderlich) im Rahmen von Art. 9 EMRK.107 Art. 8 EMRK überträgt dem Staat auch positive Schutzpflichten. Kommt der Staat diesen nicht nach, liegt eine Verletzung von Art. 8 EMRK durch Unterlassen vor. Die positive Schutzpflicht kann dabei auch darin bestehen, bestimmte 101 EGMR, Urteil vom 16. Februar 2000, Amann gegen Schweiz, Nr. 27798/95, ECHR-2000-II, Ziffer 65. 102 Finke, NVwZ 2010, 1127 (1131). 103 So nennen es die Richterinnen Jäderblom und Nußberger in ihrem Sondervotum zu EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Sondervotum Ziffer 8. („right to be an outsider“). 104 EKMR, Entscheidung vom 1. März 1978, Sutter gegen Schweiz, Nr. 8209/78, DR 16, 166 (Haarschnitt); EKMR, Entscheidung vom 3. März 1986, Stevens gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 11674/85, DR 46, 245 (Schuluniformen). 105 EKMR, Entscheidung vom 15. Mai 1980, McFeeley gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 8317/78, DR 20, 44 (93); EKMR, Entscheidung vom 6. März 1982, X. gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 8231/78, DR 28, 5 (29). 106 EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR-2014-III, Ziffer 107. 107 EGMR, Urteil vom 10. November 2005, Leyla S ¸ ahin gegen Türkei, Nr. 44774/ 98, ECHR-2005-XI; EGMR, Urteil vom 23. Februar 2010, Arslan u. a. gegen Türkei, Nr. 41135/98; EGMR, Urteil vom 4.12.2008, Dogru gegen Frankreich, Nr. 27058/05; EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR-2014III (hier erfolgte die Prüfung von Art. 8 und 9 EMRK gemeinsam, der Fokus lag gleichwohl auf Art. 9 EMRK, vgl. a. a. O., Ziffer 107).

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2. Teil: Verschleierungsverbote als konventionsrelevante Maßnahmen

Gesetze zu erlassen.108 Dies gilt auch für den privaten Bereich.109 Darunter können beispielsweise Schutzgesetze für von Zwang und Drohung betroffene Frauen fallen. Allerdings wäre eine Handlungspflicht nicht gegeben, wenn bereits existierende Vorschriften diese Situationen erfassen würden. Im Falle einer zwangsweisen Vollverschleierung würden in allen hier näher betrachteten Staaten die Strafvorschriften über die Nötigung eingreifen. Die Schaffung eines neuen Gesetzes wäre damit nicht erforderlich, der Nicht-Erlass folglich auch kein Eingriff in und keine Verletzung von Art. 8 EMRK. 2. Persönlicher Schutzbereich Träger der Rechte aus Art. 8 EMRK sind alle natürlichen Personen. Nach überwiegender der Auffassung gilt dies auch für Minderjährige.110 Für die vorliegende Untersuchungen ergeben sich hier keinerlei Besonderheiten.

II. Allgemeine Verschleierungsverbote als Eingriff in den Schutzbereich von Art. 8 EMRK Die Verbote, das eigene Gesicht in der Öffentlichkeit bzw. an Orten, die der Öffentlichkeit allgemein zugänglich sind, zu verhüllen, bedeutet ein Verbot entsprechend konzipierter Kleidung an diesen Orten. Damit verkürzen die Gesetzgeber unter Androhung von Strafen die Freiheit solcher Frauen, die gemäß eigener Willensentscheidung in der Öffentlichkeit ihr Gesicht mittels eines Schleiers verdecken möchten. Unbeachtlich ist auch hier wieder wie bei Art. 9 EMRK, ob die Person bereits sanktioniert wurde oder dies nur zu erwarten hat, da sich die Person auch insoweit in dem Dilemma befindet, entweder ihr Leben ihren Vorstellungen entsprechend selbstbestimmt zu führen oder sich gesetzeskonform zu verhalten. Unter Beachtung der hiesigen Prämisse, dass sich die Frauen selbstbestimmt für die Gesichtsverschleierung entschieden haben, bedeuten die Gesetze darüber hinaus auch einen Eingriff in das gem. Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Recht, nicht am öffentlichen Leben teilnehmen, mit anderen kommunizieren und interagieren und soziale Kontakte ermöglichen zu müssen.

108 EGMR, Urteil vom 6. Februar 1981, Airey gegen Irland, Nr. 6289/73, Series A32, Ziffer 32. 109 Meyer-Ladewig/Nettesheim, in: Meyer-Ladewig u. a., EMRK, Art. 8 Rn. 5. 110 Grabenwarter, ECHR-Commentary, Art. 8 Rn. 3 mit Verweis auf EGMR, Urteil vom 13. Juni 1979, Marckx gegen Belgien, Nr. 6833/74 (vgl. dort Ziffer 37), in dem der Gerichtshof die Frage nicht einmal problematisierte.

Dritter Teil

Diskussion möglicher Eingriffsziele und Rechtfertigungen unter Beachtung der Rechtsprechung des EGMR vor der S.A.S.-Entscheidung Jeder staatliche Eingriff in die Religionsausübungsfreiheit ist nur dann konventionskonform, wenn er gem. Art. 9 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt ist. Ebenso verhält es sich mit Eingriffen in Art. 8 Abs. 1 EMRK, die gem. Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt sein können. Hinsichtlich der Gesichtsverschleierungsverbote wurden mehrere der in den Schrankenkatalogen genannten legitimen Eingriffsziele angeführt und diskutiert. Neben der öffentlichen Sicherheit spielte dabei das legitime Ziel „Schutz der Rechte und Freiheiten anderer“ die größte Rolle. Eine nähere Untersuchung der möglichen Rechtfertigungsansätze kann mit Blick auf die Forschungsfragen nicht ohne Einordnung in die bis zum Inkrafttreten der Allgemeinen Verbotsgesetze durch den EGMR ergangene Rechtsprechung geschehen. Folglich sind die vom EGMR im Rahmen seiner Rechtsprechung zu Verboten religiöser Bekleidung entwickelten Konzepte und Prinzipien herauszuarbeiten und die allgemeinen Gesichtsverschleierungsverbote und die wiederum zu ihnen ergangene EGMR-Rechtsprechung daran zu messen. Dabei sollen zunächst diejenigen Rechtfertigungsansätze untersucht werden, die die EMRK ausdrücklich oder zumindest nach allgemeiner Auffassung vorsieht oder die der EGMR bereits in früherer Rechtsprechung bereits anerkannt hat. Dies gilt insbesondere für solche anerkannten Prinzipien und Grundsätze, die nach allgemeiner Auffassung zu den „Rechten und Freiheiten anderer“ gezählt werden können. Erst im darauf folgenden Kapitel wird sich die Untersuchung sodann dem durch die Begründungsmodelle der Verschleierungsverbote neu entwickeltem Eingriffsziel der „Mindestanforderungen an das Zusammenleben“ und dem Erfordernis des freien Gesichts zur offenen Kommunikation in einer demokratischen Gesellschaft zuwenden. Es ist dabei nicht das Erkenntnisinteresse, die Entscheidungen des EGMR in den Vollverschleierungsverfahren als materiellrechtlich richtig oder falsch zu beurteilen, sondern vielmehr die innere Struktur der außergerichtlichen Debatten und Entwicklungen und der folgenden gerichtlichen Argumentationslinien zu analysieren. Darüber hinaus ist zu erörtern, inwieweit insbesondere der vom EGMR in seinen Entscheidungen zu den Gesichtsverschleierungsverboten vernachlässigte Grundsatz der Geschlechtergleichheit möglicherweise geeignet sein

152

3. Teil: Diskussion möglicher Eingriffsziele und Rechtfertigungen

könnte, die Eingriffe in Art. 8 und 9 EMRK durch allgemeine Gesichtsverschleierungsverbote zu rechtfertigen.

A. Allgemeine Anforderungen an die Rechtfertigung gem. Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 I. Der Schrankenkatalog von Art. 9 Abs. 2 und Art. 8 Abs. 2 EMRK Art. 8 und Art. 9 EMRK gehören zu einer Gruppe von Freiheitsrechten der Konvention, den Art. 8–11 EMRK, die eine gemeinsame Struktur aufweisen. Die hier normierten Rechte und Freiheiten zeichnen sich durch einen erhöhten Sozialbezug aus und gewinnen vor allem dann an Relevanz, wenn sie in der Gesellschaft ausgeübt werden.1 Gleichzeitig stellt sich damit in erhöhtem Maße die Problematik, dass vielfältige Fall- und Konfliktsituationen auftreten können. Um dieser Herausforderung begegnen zu können, sind die Schranken der Art. 8–11 EMRK durch unbestimmte und auslegungsbedürftige Begriffe geprägt. Die Rechtfertigung eines Eingriffs in diese Rechte erfordert das Vorliegen eines legitimen Eingriffsziels. Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK sehen jeweils einen Katalog legitimer Eingriffsziele vor, zu deren Erreichen oder auch nur Fördern, ein Eingriff in das Freiheitsrecht gerechtfertigt sein kann. Die Aufzählung der dort genannten Ziele ist abschließend.2 Um eine effektive Gewährleistung der Rechte aus Art. 8 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 1 EMRK sicherzustellen, sind die jeweiligen Ziele restriktiv auszulegen.3 Auch kennt die EMRK das Prinzip der verfassungsimmanenten Schranken nicht, wie es beispielweise im deutschen Verfassungsrecht besteht. Es ist mithin immer eine Subsumtion hinsichtlich der explizit geschriebenen Eingriffsziele erforderlich. Ein Eingriff in die Rechte des Art. 9 Abs. 1 EMRK kann nur zum Schutz der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer erfolgen. Eingriffe in Art. 8 Abs. 1 EMRK können dagegen gem. Art. 8 Abs. 2 EMRK im Interesse der nationalen oder öffentlichen Sicherheit, des wirtschaftlichen Wohls des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer erfolgen. Diese genannten Schranken stellen (Rechts-)Begriffe dar, die in erhöhtem Maße der Auslegung bedürfen. Der Eingriff hat ferner gem. Art. 8 Abs. 2

1

Eiffler, S. 8. Frowein, in: Peukert/Frowein, EMRK-Kommentar, Vorb. Art. 8–11 Rn. 10. 3 Human Rights Committee (HRC), General Comment No. 22 of 30 July 1993, CCPR/C/21/Rev.1/Add.4; EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR-2014-III, Ziffer 113. 2

A. Anforderungen an die Rechtfertigung gem. Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 153

und Art. 9 Abs. 2 EMRK immer auf Grundlage eines Gesetzes zu erfolgen und muss in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein. Während die beiden erstgenannten Voraussetzungen weitgehend objektiv bestimmbar sind, ist im Rahmen der Prüfung der Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzunehmen, bei der insbesondere auch ein dem jeweiligen Mitgliedsstaat verbleibender Beurteilungsspielraum, die „margin of appreciation“, Bedeutung erlangen kann.

II. Gesetzliche Grundlage der Maßnahme („prescribed by law“) 1. Allgemeines Staatliche Maßnahmen, die die Religionsfreiheit oder das Recht auf Achtung des Privatlebens einschränken, müssen gem. Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK „gesetzlich vorgesehen“ sein. Den Terminus „gesetzlich“ bezieht der EGMR dabei auf das nationale Recht der Konventionsstaaten.4 Insoweit bestehen in den vorliegenden Fällen Besonderheiten: Die Verbote der Gesichtsverschleierung stellen als Parlamentsgesetze selbst die gesetzliche Grundlagen für die Eingriffe in die Bekenntnisfreiheit der betroffenen Frauen dar – und zugleich auch den Eingriff selbst (s. o.). Den Frauen kann nicht zugemutet werden, Maßnahmen aufgrund der Gesetze erst abzuwarten. Schon die Verbotsgesetze selbst, die Rechtsgrundlage für noch weitere Eingriffe sein können, wirken unmittelbar freiheitsverkürzend. Sie sind Eingriff und gesetzliche Grundlage zugleich. Die Gesetze im Sinne der Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK müssen darüber hinaus auch zugänglich und hinreichend bestimmt sein. Letzteres verlangt, dass die betroffenen Personen vorhersehen können müssen, welche Folgen das 4 Hierzu gehören nach Ansicht des EGMR nicht nur Parlamentsgesetze, sondern auch Richterrecht, Gewohnheitsrecht (EGMR, Urteil vom 24. April 1990, Huvig gegen Frankreich, Nr. 11105/84, Series A30, Ziffer 28) und common law (EGMR, Urteil vom 26. April 1979, Sunday Times gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 6538/74, Series A30, Ziffer 47). Der EGMR betrachtet den Terminus „gesetzlich“ nicht in formellem, sondern in materiell qualitativem Sinn, vgl. EGMR, Urteil vom 10. November 2005, Leyla S¸ahin gegen Türkei, Nr. 44774/98, ECHR-2005-XI, Ziffer 88. Anders Grabenwarter/ Pabel, § 18 Rn. 7, 20, die es als erforderlich ansehen, dass die Rechtsgrundlage, auf der der Eingriff beruht, zumindest auf ein Parlamentsgesetz zurückführbar sein müsse. In diese Richtung auch schon Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Vorb. Art. 8–11, Rn. 3, auf den sich auch Grabenwarter/Pabel berufen. Diese Ansicht ist aus demokratietheoretischer Sicht beachtenswert und steht in enger Beziehung zur etwa vom deutschen BVerfG entwickelten Wesentlichkeitstheorie bei Grundrechtseingriffen, BVerfGE 49, 89. In ebendiese Richtung, letztlich aber differenzierter schon Schilling, AVR 44 (2006), 57 (60 ff.). Schilling verweist unter Analyse von Entscheidungen des EGMR darauf, dass entscheidend sei, dass das Parlament die Rechtsgrundlage duldet bei gleichzeitiger Möglichkeit, diese aufzuheben, Schilling, a. a. O., S. 67. Überdies sieht er auch bei Frowein, a. a. O., die Tendenz, die Rückführbarkeit auf ein Parlamentsgesetz nur für Kontinentaleuropa, nicht jedoch das common law zu verlangen.

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3. Teil: Diskussion möglicher Eingriffsziele und Rechtfertigungen

Gesetz für eine bestimmte Handlung vorsieht.5 Hier zeigt sich das autonome Element der EMRK bezüglich des Terminus „gesetzlich vorgesehen“. Die Voraussetzung erfährt an dieser Stelle eine konventionskonforme Ausformung. 2. Zugänglichkeit und hinreichende Bestimmtheit der Verbotsgesetze Die Zugänglichkeit eines Gesetzes ist ausreichend gewährt, wenn Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit haben, die gesetzliche Grundlage des Eingriffs zu ermitteln und deren Inhalt zu erfahren.6 Dies ist bei den jeweiligen Verbotsgesetzen durch die Verkündung in den nationalen offiziellen Gesetzesblättern ausreichend gewährleistet. Die Rechtsgrundlage des Eingriffs muss zudem auch vorhersehbar sein. Dieses Kriterium verlangt, dass die Rechtsgrundlage derart hinreichend bestimmt ist, dass Anwendungsbereich und Rechtsfolgen für die Bürger vorhersehbar sind und sie ihr Verhalten entsprechend an der Norm ausrichten können. Eine absolute Sicherheit ist damit nicht gemeint, vielmehr muss es dem Einzelnen möglich sein, ggf. auch unter Hinzuziehung fachlicher Beratung die Folgen in angemessenem Umfang vorherzusehen.7 Die Bestimmtheit der allgemeinen nationalen Verhüllungsverbote bereitet an dieser Stelle keine weitergehenden Probleme. Sowohl das sanktionsbewehrte Handeln, als auch die jeweilige Rechtsfolge bei Verstoß gegen die Normen sind vorhersehbar und die Normen mithin hinreichend bestimmt.

B. Beachtlichkeit des Pluralismusaspekts – Pluralismus als Voraussetzung für die Wahrnehmung von Individualrechten und als gesamtgesellschaftliches Merkmal der Demokratie Die Rechte aus Art. 8 und Art. 9 EMRK mit ihrem erhöhten Sozialbezug sind deshalb so konfliktträchtig, weil divergierende Lebensweisen, Haltungen und Religionen in einer Gesellschaft sicht- und hörbar aufeinandertreffen. Die weder in religiösen Angelegenheiten noch sonstiger privater Lebensweise homogenen europäischen Gesellschaften stellen dabei auch für die Rechtspraxis eine besondere Herausforderung dar. Die Rechte aus Art. 8 und Art. 9 EMRK gelten für Jedermann, ungeachtet dessen, ob seine oder ihre Lebensweise oder Religion und religiösen Bekenntnisse weit verbreitet oder hoch individuell sind. Die Rechtfertigung von Eingriffen in Art. 8 und Art. 9 EMRK haben stets den pluralistischen Charakter der Gesellschaften zu respektieren und ihn im Sinne 5 EGMR, Urteil vom 26. April 1979, Sunday Times gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 6538/74, Series A30, Ziffer 49. 6 Ebenda. 7 Meyer-Ladewig/Nettesheim, in: Meyer-Ladewig u. a., EMRK, Art. 8 Rn. 105.

B. Beachtlichkeit des Pluralismusaspekts

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effektiver Rechtsausübung zu schützen. Das Konzept des Pluralismus ist auf die oben dargestellten grundlegenden Prinzipien der Toleranz und offene Geisteshaltung, Neutralität und Parität angewiesen. Ohne sie kann es keinen gelebten Pluralismus geben. In der Folge soll herausgearbeitet werden, inwieweit der Pluralismus Anforderungen an die Rechtfertigung von Eingriffen unter Beachtung der EGMR-Rechtsprechung stellt und wie sich dies insbesondere bei den Verschleierungsverboten darstellt.

I. Pluralismus als Herausforderung für die Rechtspraxis Heterogenität und Diversität der kulturellen Gruppen in einer Gesellschaft stellen Herausforderungen für die Gruppen selbst – bezüglich ihrer Repräsentation und Empowerment – wie auch für die Gesellschaft als Ganze – hinsichtlich Zusammenhalts, gegenseitiger Toleranz und friedlichen Zusammenlebens – dar. Dabei sind insbesondere auch rechtliche Grundprinzipien und Menschenrechte gefordert. Minderheitenschutz, Diskriminierungsverbote und die individuelle und kollektive Ausübung von Grundfreiheiten stellen in einer diversen Gesellschaft diese selbst wie auch Gesetzgeber und Gerichte vor Herausforderungen. Von der Diversität hin zum Pluralismus bedarf es aber noch weiterer Schritte. Denn Pluralismus bedeutet nicht nur Diversität, mithin keine reine Koexistenz verschiedener kultureller und soziokultureller Gruppen, sondern vielmehr, dass diese Gruppen die Möglichkeiten haben, miteinander zu interagieren, um Räume und Repräsentation zu ringen, miteinander in Dialog treten und aufeinander eingehen können.8 Damit ist der gelebte Pluralismus nicht nur Deskription, sondern zugleich auch ständiger Anspruch und Herausforderung. Er ist Herausforderung für und an eine Gesellschaft, die sich selbst zum Ziel gesetzt hat, pluralistisch zu sein und damit gleichzeitig auch Anspruch an und Herausforderung für ihre Gesetzgeber und Rechtsprechungsorgane. Der EGMR hat diesen Anspruch in seiner Rechtsprechung mehrfach betont und stellte schon 1976 fest, dass Pluralismus ein Charakteristikum sowie gleichzeitig Voraussetzung einer demokratischen Gesellschaft sei.9 Nach diesem Verständnis ist der Pluralismus auf eine tolerante Gesellschaft angewiesen. „Toleranz“ in Form des gegenseitigen Duldens auch im Falle der Ablehnung der Position, Haltung oder Lebensweise des Anderen bei gleichzeitiger Achtung der Person10 stellt damit das Fundament einer friedlichen pluralistischen Gesellschaft dar.

8

Wiater, S. 142 f. EGMR, Urteil vom 07.12.1976, Handyside gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 5493/72, Series A24, Ziffer 49; EGMR, Urteil vom 07.12.1976, Kjeldsen, Busk, Madsen und Pedersen gegen Dänemark, Nr. 5095/71, 5920/72, 5926/72, Series A23, Ziffer 50. 10 Vgl. ausführlich oben Zweiter Teil, B. I. 1. 9

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3. Teil: Diskussion möglicher Eingriffsziele und Rechtfertigungen

II. Die Rechtsprechung des EGMR zu Pluralismus im Rahmen von Art. 8 und Art. 9 EMRK Das Konzept des Pluralismus im Rahmen von Art. 8 und 9 EMRK ist durch die Rechtsprechung des EGMR stets weiterentwickelt und inhaltlich ausgeprägt worden. Es bildet die Basis für die Ausübung zahlreicher Freiheitsrechte auch entgegen etwaiger Mehrheitspositionen.11 Durch eine Darstellung der wesentlichen Aussagen und Entscheidungen des EGMR können wiederkehrende Argumentationsmuster verdeutlicht und inhaltliche Ausprägungen des Konzepts aufgezeigt werden. Die hierbei ausgewählten Fälle haben sowohl Streitigkeiten um religiöse Symbole und Verhaltensweisen zum Gegenstand, als auch andere Konstellationen, die vom EGMR als pluralismusrelevant erkannt wurden. 1. Pluralismus als wesentliches Fundament für die und Ergebnis der Ausübung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK und der Religionsfreiheit aus Art. 9 EMRK In einer heterogenen Gesellschaft ist konstituierendes Merkmal für ihre bloße Existenz in Vielfalt und ihr Funktionieren zunächst das Tolerieren unterschiedlicher Lebensweisen innerhalb eines gesamtgesellschaftlich gesetzten (Rechts-) Rahmens. Diesen Rahmen stellen Grund- und Verfassungsrechte sowie die universellen Menschenrechte dar. Zu ihnen gehört daher auch die Garantie, das eigene Leben an eigenen Glaubenssätzen und Überzeugungen auszurichten, solange dadurch nicht schwerwiegendere Interessen oder Rechte anderer berührt werden. Der EGMR betonte diese Bedeutung der Religions-, Glaubens- und Gewissensfreiheit in seiner Kokkinakis-Entscheidung. Pluralismus sei untrennbar mit einer demokratischen Gesellschaft verbunden und setze eben diese Freiheit voraus.12 Seinen eigenen Überzeugungen und Glaubenssätzen gemäß leben zu können und das Leben hieran – sowohl im Inneren, als auch nach außen und für jedermann erkennbar – ausrichten zu können, bedeutet folglich eine Voraussetzung für eine pluralistische Gesellschaft – Pluralismus ist hiernach das Ergebnis der Ausübung bzw. der Möglichkeit zur Ausübung der individuellen Rechte in unterschiedlicher Weise. Unterschiedliche soziale und kulturelle Gruppen können nur dann auf Augenhöhe in fruchtbare Diskurse um gemeinsame Regeln des Zusammenlebens treten, Räume untereinander aufteilen und Dialoge führen, wenn sie als solche ihre Positionen und Interessen leben und vertreten dürfen. Die Ausübung der Religionsfreiheit ist hierbei essentiell. Die heterogene Gesellschaft muss Diversitäten nicht nur aushalten, sie muss sie im Sinne eines funktionierenden demokratischen Miteinanders und demokratischer Auseinandersetzungen so11

Nieuwenhuis, S. 373. EGMR, Urteil vom 25. Mai 1993, Kokkinakis gegen Griechenland, Nr. 14307/88, Series A260-A, Ziffer 31. 12

B. Beachtlichkeit des Pluralismusaspekts

157

gar fördern und ermöglichen, um wirklich pluralistisch zu sein. Entsprechend bezeichnet der EGMR den (jeweiligen) Vertragsstaat als „ultimate guarantor“ 13 des Pluralismus, als den neutralen und unparteilichen Organisator für die Ausübung verschiedener Religionen.14 Als solcher soll der Vertragsstaat den Pluralismus schützen, indem er die entsprechenden Bedingungen für ihn schafft, nämlich Toleranz und Respekt gegenüber andersartigen Lebensweisen und Überzeugungen.15 Gleiche Rechte und Sichtbarkeiten sind dabei wiederum wesentliche Voraussetzung für gegenseitige Anerkennung und Dialogbereitschaft. Pluralismus ist damit nicht nur Ergebnis der Ausübung von Freiheitsrechten, er ist auch eine Voraussetzung dafür, dass diese Rechte effektiv ausgeübt werden können.16 Dies betonte der EGMR schon 1976 in seiner Handyside-Entscheidung, in der er feststellte, dass es ohne Pluralismus, Toleranz und offene Geisteshaltung keine demokratische Gesellschaft geben könne.17 In einer pluralistischen Gesellschaft bestehen unterschiedliche Überzeugungen dessen, was die „rechte Art zu leben“ ist, nebeneinander. Wie auch im Rahmen des Glaubens und des Glaubensbekenntnisses nach Art. 9 EMRK, gewährleistet auch Art. 8 EMRK das Recht des Individuums, nach den eigenen Maßstäben und Überzeugungen zu leben und die eigene Lebensführung daran auszurichten, was es als für sich „richtig“ und „gut“ erachtet. Art. 8 EMRK bezieht sich auf das private Leben und das Familienleben und deren jeweilige Facetten. Auch hier ist entscheidend, dass jedermann die Möglichkeit hat, diese Rechte auszuüben und auch hier sind die Rechte eng mit den vom EGMR betonten Ideen von Offenheit und Toleranz verbunden. Auch wenn religiöse Verhaltensweisen, Überzeugungen oder Lebensweise eines anderen Individuums nicht den eigenen entsprechen, sind sie im Zweifel auszuhalten. Konsequenterweise hat der EGMR Pluralismus auch in einen engen Zusammenhang mit dem Schutz von Minderheiten gebracht. So zitierte er in seiner Entscheidung im Fall Gorzelik u. a. gegen Polen eine Passage der Präambel des Rahmenübereinkommens zum Schutz nationaler Minderheiten des Europarats18, in der es heißt, die unterzeichnenden Staaten seien zu dem 13 EGMR, Urteil vom 24. November 1993, Informationsverein Lentia gegen Österreich, Nr. 13914/88, 15041/89,15717/89, 17207/90, Series A276, Ziffer 38. 14 EGMR, Urteil vom 10. November 2005, Leyla S ¸ ahin gegen Türkei, Nr. 44774/98, ECHR-2005-XI, Ziffer 107. 15 EGMR, Urteil vom 25. Mai 1993, Kokkinakis gegen Griechenland, Nr. 14307/88, Series A260-A, Ziffer 33; EGMR, Urteil vom 10. November 2005, Leyla S¸ahin gegen Türkei, Nr. 44774/98, ECHR-2005-XI, Ziffer 106; EGMR, Urteil vom 14. Dezember 1999, Serif gegen Griechenland, Nr. 38178/97, ECHR-1999-IX, Ziffer 52 f. 16 Nieuwenhuis, European Constitutional Law Review 3 (2007), 367 (373); Rödiger/ Valentiner, AVR 53 (2015), 360 (362). 17 EGMR, Urteil vom 07.12.1976, Handyside gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 5493/72, Series A24, Ziffer 49: „Such are the demands of pluralism, tolerance and broadmindedness, without which there is no ,democratic society‘.“ 18 Nach erfolglosen Versuchen, den Minderheitenschutz in einem eigenen Zusatzprotokoll zur EMRK zu verankern, beschloss die Vertragsstaaten 1993 stattdessen das Rah-

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3. Teil: Diskussion möglicher Eingriffsziele und Rechtfertigungen

Rahmenübereinkommen unter anderem „in der Erwägung, daß [sic] eine pluralistische und wahrhaft demokratische Gesellschaft nicht nur die ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität aller Angehörigen einer nationalen Minderheit achten, sondern auch geeignete Bedingungen schaffen sollte, die es ihnen ermöglichen, diese Identität zum Ausdruck zu bringen, zu bewahren und zu entwickeln“ gekommen.19 Dies korrespondiert mit den Ausführungen zum Schutzbereich des Art. 9 Abs. 1 EMRK: Der Umfang des Schutzes aus Art. 9 EMRK darf nicht zur Disposition der Mehrheit stehen. Unter Beachtung des mit dieser Maxime in Spannung stehenden Demokratieprinzips muss es daher eine Grenze des mehrheitsgeprägten Entscheidungsspielraums geben, die den Schutz von Minderheiten sicherstellt.20 So betonte es auch der EGMR.21 Einen Widerspruch im Rahmen des Pluralismus bedeutet dies jedoch nicht. Pluralismus ist damit Ergebnis einer demokratischen Gesellschaft, und dies insbesondere dann, wenn er auch Minderheiten und Minderheitenrechte schützt. Demokratie bedeutet nicht Diktatur der Mehrheit, sondern (auch) Selbstbestimmung jedes einzelnen Bürgers und jeder einzelnen Bürgerin in der Gemeinschaft und damit auch derjenigen, die nicht mit dem Mehrheitsempfinden übereinstimmen. Letztlich bedeutet dies die Gewährleistung, das Diskriminierungsverbot zu achten. Schließlich verlangt die Freiheit, Entscheidungen über die eigene Lebensweise treffen zu können, in der Regel auch nach bereits bestehender Vielfalt, die eine Wahl ermöglicht. Bestehende Vielfalt und ferner bestehender Pluralismus sind Anreiz und Inspirationsquelle für die Ausübung der eigenen Freiheitsrechte durch ein Individuum. Wie Nieuwenhuis in Bezug auf die ebenfalls pluralismusprägenden und Pluralismus voraussetzenden Menschenrechte der freien Meinungsäußerung, der Vereinigungsfreiheit und Informationsfreiheit zurecht anmerkt: „The average person does not found an association or a political party. On the contrary, he chooses from among the existing possibilities. The average person does not publish a newspaper, he chooses one. Without any given diversity he would not have a real choice.“ 22 Folglich ist Pluralismus zugleich auch Voraussetzung für die Ausübung von Freiheitsrechten, auch hinsichtlich Art. 8 und 9 EMRK, durch jeden Einzelnen in informierter Selbstbestimmung.

menübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten (SEV – Nr. 157), welches am 01. Februar 1998 in Kraft trat und zum gegenwärtigen Zeitpunkt von 39 Staaten ratifiziert wurde, nicht jedoch von Belgien und Frankreich. 19 EGMR, Urteil vom 17. Februar 2004, Gorzelik u. a. gegen Polen, Nr. 44158/98, ECHR-2004-I, Ziffer 93. 20 So im Ergebnis auch Rödiger/Valentiner, AVR 53 (2015), 360 (364). 21 EGMR. Urteil vom 18. Oktober 1982, Young, James und Webster gegen Vereintes Königreich, Nr. 7601/76, 7806/77, Serie A55, Ziffer 63. 22 Nieuwenhuis, European Constitutional Law Review 3 (2007), 367 (373).

B. Beachtlichkeit des Pluralismusaspekts

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2. Pluralismus als begrenzender Faktor von Art. 8 und 9 EMRK Wie Rödiger und Valentiner richtig ausführen, erkennt der EGMR den Pluralismus aber nicht allein als Grundbedingung für die Ausübung der Freiheitsrechte des Einzelnen und zugleich als Ergebnis dieser an, sondern prägt darüber hinaus mit ihm auch eine Argumentation zur Begrenzung eben dieser Rechte.23 Dies ist zunächst eine paradox erscheinende Konzeption von Pluralismus. Es gilt daher auch hier, auf jene Entscheidungen einzugehen, in denen der EGMR den Pluralismus zur Argumentation für eine Begrenzung eben dieser Freiheitsrechte herangezogen hat. Dem Gerichtshof zufolge können Eingriffe auch dann gerechtfertigt werden, wenn dies dem Ziel diene, den inneren Frieden und echten religiösen Pluralismus zu sichern, was in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sei.24 Dies folge aus Art. 9 Abs. 2 EMRK und der Verpflichtung der Staaten gem. Art. 1 EMRK, gegenüber jeder Person in ihrem Hoheitsgebiet die Rechte der Konvention zu gewährleisten.25 Hieran zeigt sich die Ambivalenz des Pluralismusarguments in der Rechtsprechung des EGMR. Der Pluralismus in der Konzeption des EGMR ist nicht nur Fundament und Ergebnis von sichtbarer und gelebter Vielfalt, er kann bisweilen auch um seines eigenen Schutzes willen zur Beschränkung von eben jenen Freiheitsrechten führen. In dieser Eigenschaft wirkt er folglich als „limitierender Faktor“ 26 der Freiheitsrechte und stellt weniger eine Garantie für den Einzelnen als vielmehr ein gesamtgesellschaftliches Charakteristikum dar. Sowohl in der Entscheidung Dahlab gegen Schweiz, in der es um das Kopftuch einer Grundschullehrerin während des Unterrichtens ging, als auch in der Entscheidung Leyla S¸ahin gegen Türkei, die den Ausschluss einer Studentin von Prüfungen wegen eines Verstoßes ihrerseits gegen eine Verordnung an der staatlichen Universität, die das Tragen des islamischen Kopftuchs bei Lehrveranstaltungen und Prüfungen untersagte, zum Gegenstand hatte, argumentierte der EGMR, dass die Versöhnung unterschiedlicher Interessen und Gewährleistung gegenseitigen Respekts in pluralistischen Gesellschaft freiheitsbeschränkende Maßnahmen rechtfertigen könne.27 In beiden Fällen ging es um sichtbare islamische Symbole in öffentlichen und staatlich verantworteten Räumen, wobei im Fall Dahlab gegen Schweiz hinzukam, dass hier eine verbeamtete Lehrerin und damit auch

23

Rödiger/Valentiner, AVR 53 (2015), 360 (369 ff.). EGMR, Urteil vom 25. Mai 1993, Kokkinakis gegen Griechenland, Nr. 14307/88, Series A260-A, Ziffer 33. 25 EGMR, Urteil vom 10. November 2005, Leyla S ¸ ahin gegen Türkei, Nr. 44774/98, ECHR-2005-XI, Ziffer 106. 26 Finke, NVwZ 2010, 1127 (1130). 27 EGMR, Urteil vom 10. November 2005, Leyla S ¸ ahin gegen Türkei, Nr. 44774/98, ECHR-2005-XI, Ziffer 106; EGMR, Urteil vom 15. Februar 2001, Dahlab gegen Schweiz, Nr. 42393/98. ECHR-2001-V, S. 461. 24

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3. Teil: Diskussion möglicher Eingriffsziele und Rechtfertigungen

Repräsentantin des in religiösen Fragen zu Neutralität verpflichteten Staates auf Verletzung ihrer Freiheitsrechte aus der Konvention klagte. Während der Gerichtshof im Fall der Leyla Sahin anführte, dass es dem Vertragsstaat obliege einzuschätzen, ob das Tragen des Kopftuchs die säkulare Ordnung stören und andere Studierende unter Druck setzen könne und der Staat deshalb entsprechende Maßnahmen ergreifen dürfe28, wurde bei Frau Dahlab ausgeführt, dass die Kinder, die sie unterrichtete und denen gegenüber sie eine Vorbildfunktion erfülle, religiös beeinflusst werden könnten.29 Beiden Fällen ist aber gemein, dass sie in einem Kontext rechtspluralistischer Normkonflikte stehen: Auf der einen Seite bestehen die staatlichen Regelungen und Prinzipien, etwa Neutralität des Staates – im Falle S¸ahins strikte Neutralität des staatlich verantworteten und laizistischen Raums, im Falle Dahlabs die Neutralitätspflicht des Staates und seiner Repräsentanten – sowie die negative Religionsfreiheit der Studierenden bzw. Schülerinnen und Schüler30 als Elemente der Rechte und Freiheiten anderer gem. Art. 9 Abs. 2 EMRK, auf der anderen Seite die von der Betroffenen für sich als verbindlich empfundenen religiösen Verhaltensnormen. Die verhaltensleitenden religiösen Normen des Individuums konfligieren hier mithin nicht nur mit Individualinteressen anderer, sondern auch oder vor allem mit gesamtgesellschaftlichen Konzepten und staatlichen Grundsätzen.31 In diesem Spannungsfeld stellt der EGMR fest, dass zur Sicherung der „Rechte und Freiheiten anderer“, also in allen hier geschilderten Kontexten der Rechte und Freiheiten der Anders- oder Nicht-Gläubigen, eine Beschränkung der Rechte aus Art. 8 und 9 EMRK gerechtfertigt sein kann. Denn dies könne notwendig sein, um sicherzustellen, dass ein jeder seine Rechte frei von Druck und Beeinflussung ausüben könne. In dieser Argumentation wirkt der Schutz des Pluralismus als freiheitsbeschränkendes Konzept für den Einzelnen hinsichtlich der von ihm als handlungsleitend angesehenen religiösen Normen (und zugleich wirkt er weiterhin freiheitsbegründend für den Anderen). Dort wo also die unterschiedlichen Ausübungen der Freiheitsrechte oder auch gerade der Verzicht darauf in einer Gesellschaft aufeinandertreffen, lässt sich das Konzept des Pluralismus letztlich für alle Seiten ins Feld führen. Gleichwohl ist der Pluralismus auch nach diesen Entscheidungen kein Selbstzweck. Einen Verzicht auf das Vorliegen eines der legitimen Eingriffsziele aus Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK vermag er nicht zu begründen.

28 EGMR, Urteil vom 10. November 2005, Leyla S ¸ ahin gegen Türkei, Nr. 44774/98, ECHR-2005-XI, Ziffer 116, 122. 29 EGMR, Urteil vom 15. Februar 2001, Dahlab gegen Schweiz, Nr. 42393/98, ECHR-2001-V, S. 463. 30 Im Fall Dahlab gegen Schweiz wurde insbesondere auch die leichte Beeinflussbarkeit der noch jungen Grundschüler und -schülerinnen betont, EGMR, Urteil vom 15. Februar 2001, Dahlab gegen Schweiz, Nr. 42393/98. ECHR-2001-V, S. 462. 31 Rödiger/Valentiner, AVR 53 (2015), 360 (369).

C. Gleichheit der Geschlechter als Element der Rechte und Freiheiten anderer 161

In einem solchen rechts- und religionspluralistischen Kontext und Konflikt bewegen sich auch die Betroffenen der Vollverschleierungsverbote.32 Sie erachten die Befolgung ihrer religiösen Normen als identitätsstiftend, sind zugleich aber verpflichtet, die staatlichen Gesetze zu achten, die ein gegenteiliges Verhalten von ihnen verlangen. Darüber hinaus entspricht ihre Form der Religionsausübung durch die Gesichtsverhüllung weder dem Mehrheitsempfinden innerhalb der muslimischen Glaubensgemeinschaften noch dem der Gesamtgesellschaft. Mithin wird auf die besondere Ambivalenz des Pluralismus zwischen Minderheitenschutz und freiheitsbeschränkendem Element in pluralistisch geprägten Konfliktsituationen in der Rechtsprechung des EGMR auch dezidiert bei der Betrachtung der Vereinbarkeit von allgemeinen Verschleierungsverboten und dem Diskriminierungsverbot nach Art. 14 EMRK einzugehen sein. Aus dem Vorangegangenen ergibt sich ein Konflikt zwischen der freiheitssichernden und der individualfreiheitsbeschränkenden Komponente von Pluralismus in (religions-)pluralistisch gelagerten Konfliktfällen. Im Rahmen der Abhandlungen zu möglichen legitimen Eingriffszielen wird dieser Aspekt vor allem dann zu berücksichtigen sein, wenn es um die Vorstellungen von Mindestvoraussetzungen für das gesellschaftliche Zusammenleben geht. Es bedarf in diesen Fällen einer sensiblen Abwägung, die gleichwohl klare Grenzen zieht. Nur so kann sichergestellt werden, dass insbesondere der minderheitsschützende Aspekt des Pluralismus nicht durch die Gesellschaftskonzeption einer wenngleich demokratischen Mehrheit unterlaufen wird.

C. Gleichheit der Geschlechter als Element der Rechte und Freiheiten anderer und Eingriffsziel eines Verbots geschlechtsspezifischer religiöser Kleidung Sowohl in den Debatten um allgemeine Vollverschleierungsverbote33 als auch in den Verfahren um das Tragen des Kopftuchs vor dem EGMR34 wurde das 32 Zu rechtspluralistischen Konflikten vor dem EGMR und möglichen völkerrechtsdogmatischen Lösungsansätzen vgl. ausführlich Wiater, passim. 33 Exemplarisch Assemblée Nationale, No. 2520, Projet de loi interdisant la dissimulation du visage dans l’espace public, Exposé des motifs, 19 mai 2010, S. 3; vgl. im Übrigen auch Zweiter Teil, C., passim. 34 EGMR, Urteil vom 15. Februar 2001, Dahlab gegen Schweiz, Nr. 42393/98, ECHR-2001-V, S. 463 (wobei hier der Gleichheitsgrundsatz selbst nicht als Eingriffsziel behandelt wurde, sondern die Gleichheit der Geschlechter und eine ihr möglicherweise widersprechende Symbolik des Kopftuchs im Rahmen der negativen Religionsfreiheit der Schülerinnen und Schüler als legitimes Eingriffsziel argumentativ angeführt wurde); EGMR, Urteil vom 10. November 2005, Leyla S¸ahin gegen Türkei, Nr. 44774/ 98, ECHR-2005-XI, Ziffer 116; vgl. zum Argument der Geschlechtergleichheit im Rahmen der Rechtfertigung des französischen Verbotsgesetzes bezüglich ostentativer religiöser Symbole an öffentlichen Schulen von 2004 Vakulenko, Human Rights Law Review 9 (2009), 143.

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3. Teil: Diskussion möglicher Eingriffsziele und Rechtfertigungen

Argument angeführt, ein Verbot könne damit gerechtfertigt werden, dass der muslimische Schleier dem Grundsatz der Gleichheit der Geschlechter widerspreche, denn er sei Symbol für eine Unterlegen- und Untergebenheit der Frau gegenüber dem Mann. Der EGMR hat in seinen Entscheidungen S.A.S. gegen Frankreich und Oussar und Belcacemi gegen Belgien den Schutz der Geschlechtergleichheit nicht als legitimes Ziel des jeweiligen Eingriffs anerkannt, da man zum Zweck des Schutzes der Geschlechtergleichheit nicht solche Verhaltensweisen untersagen könne, die von den Frauen selbst verteidigt würden.35 Die Tatsache, dass die Beschwerdeführerin im Fall S.A.S. gegen Frankreich selbst das Gesetz als eine Diskriminierung der muslimischen Frau gegenüber dem muslimischen Mann bezeichnete, ist hierbei durchaus zu benennen, kann letztlich aber nicht entscheidend sein, die Geschlechtergleichheit grundsätzlich als legitimes Ziel auszuschließen. Dieser Punkt erlangt vielmehr an späterer Stelle, nämlich im Rahmen des Art. 14 EMRK, Bedeutung. Der EGMR prüft im Rahmen der Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK die vorgetragenen individuellen Verletzungshandlungen im jeweiligen Einzelfall. Die Beschwerdeführerin rügte, dass wenn sie den Vollschleier nicht ablegen würde, ihr diskriminierende Maßnahmen aufgrund ihrer Religion und ihres Geschlechts drohten. Das Verbotsgesetz wirke diskriminierend gegen muslimische Frauen.36 Dieser zu einem späteren Zeitpunkt zu untersuchende Punkt schließt aber nicht aus, dass damit weiterhin auch die Frage zu klären bleibt, ob ein Verbot nicht auch, wie von der französischen Regierung vorgetragen, den Schutz der Geschlechtergleichheit zum legitimen Ziel im Sinne der EMRK-Schrankenklauseln haben könnte. Aus diesen Gründen ist im Folgenden zu untersuchen, ob und unter welchen Voraussetzungen der Schutz der Geschlechtergleichheit nicht doch ein legitimes Ziel gem. Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK der Verbotsgesetze darstellen könnte.

I. Freiwilligkeit der Vollverschleierung und der Grundsatz der Geschlechtergleichheit – Tauglichkeit des Eingriffsziels der Geschlechtergleichheit 1. Relevanz und Auswirkung der Freiwilligkeit Im Rahmen der Diskussion, ob der Schutz Geschlechtergleichheit legitimes Eingriffsziel sein kann, ist zunächst die Frage der Freiwilligkeit der Vollverschleierung anzusprechen. Im Falle ausgeübten Zwangs gegen die Frauen durch Angehörige, Ehemänner oder sonstige Menschen aus ihrem Umfeld ist die 35 EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffer 119; EGMR, Urteil vom 11. Juli 2017, Belcacemi und Oussar gegen Belgien, Nr. 37798/13, Ziffer 49. 36 EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffer 80.

C. Gleichheit der Geschlechter als Element der Rechte und Freiheiten anderer 163

Gleichheit zwischen den Geschlechtern in jedem Fall berührt und kann als legitimes Eingriffsziel dienen.37 Die Parlamentarische Versammlung des Europarats38 formulierte in ihrer Resolution zu Islam, Islamismus und Islamophobie in Europa diesbezüglich: „Keine Frau sollte von ihrer Familie oder Gemeinde gezwungen werden, ein religiöses Kleidungsstück zu tragen. Jeder Akt der Unterdrückung, des Zwangs oder der Gewalt stellt eine Straftat dar, die auf Grundlage eines Gesetzes zu bestrafen ist. Die weiblichen Opfer dieser Straftaten, unabhängig ihrer Position, sind von den Vertragsstaaten zu schützen und sie müssen Unterstützung und rehabilitierende Maßnahmen erfahren.“ 39 Ob ein Verbot der Vollverschleierung diesen Frauen tatsächlich hilft, ist bislang fraglich geblieben. Eine solche Annahme erscheint zumindest zweifelhaft. Vielmehr muss sie sich entgegenhalten lassen, dass die Möglichkeit besteht, dass die betroffenen Frauen das private Haus entweder gar nicht mehr verlassen dürften oder gezwungen würden, die Strafen in Kauf zu nehmen und diese bzw. die den Frauen daraus mittelbar innerhalb des familiären Gefüges erwachsenen Folgen selbst zu tragen hätten. Der ehemalige Kommissar für Menschenrechte des Europarats, Thomas Hammarberg, merkte daher an, es sei nicht nachgewiesen, dass diese Frauen, die zur Vollverschleierung gezwungen würden, ein Verbot begrüßen würden.40 Gleichzeitig sind solche Fälle der Nötigung aber auch in allen hier gegenständlichen Vertragsstaaten bereits strafbar. Ein Verbot der zwangsweisen Vollverschleierung könnte die Geschlechtergleichheit dennoch plausibel als legitimes Ziel verfolgen, die Notwendigkeit einer solchen Regelung bliebe jedoch zu diskutieren.41 Gegenständlich sind in dieser Arbeit jedoch Verbotsgesetze, die allgemein und unabhängig von der Motivation und der Frage der Freiwilligkeit gelten. Ob die Frauen sich selbstbestimmt für den Gesichtsschleier entschieden haben, ist für die Tatbestandserfüllung der Verbotsgesetze irrelevant. Für die Frage, ob die Verbotsgesetze dem Ziel der Geschlechtergleichheit dienen können, ist dieser Um37 EGMR, Urteil vom 10. November 2005, Leyla S ¸ ahin gegen Türkei, Nr. 44774/98, ECHR-2005-XI, Ziffer 111. 38 Die Parlamentarische Versammlung des Europarats, ursprünglich „Beratende Versammlung“, ist gem. Art. 10 der Satzung des Europarats neben dem Minister-Komitee eines von zwei Organen des Europarats. In der Parlamentarischen Versammlung sitzen gem. Art. 25 der Satzung Vertreter der nationalen Parlamente der Vertragsstaaten. Sie ist gem. Art. 22 der Satzung das beratende Organ des Europarats und kann gem. Art. 23 in dieser Funktion über alle Fragen beraten, die in die Zuständigkeit des Europarats fallen. 39 Parlamentarische Versammlung des Europarats, Resolution 1743 vom 23. Juni 2010, Ziffer 15. 40 Hammarberg, Human Rights in Europe: no grounds for complacency. Viewpoints 2011, S. 40. 41 Gleichwohl bliebe auch hier zu diskutieren, ob eine Befreiung „vom Schleier“ tatsächlich gleichzusetzen wäre mit einer „Befreiung der Frau“ und weshalb die „freie Frau mit Schleier“ in diesem Denkansatz nicht möglich erscheint, vgl. dazu ausführlich und kritisch Kapur, S. 141 ff.

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3. Teil: Diskussion möglicher Eingriffsziele und Rechtfertigungen

stand dagegen entscheidend. Wenn sich Frauen selbstbestimmt für die Vollverschleierung entscheiden, wie es die Frauen, deren Interviews im Ersten Teil der Arbeit vorgestellt wurden, und auch die Klägerinnen in den Verfahren vor dem EGMR angaben, so kann das legitime Eingriffsziel der Geschlechtergleichheit als Element der Rechte und Freiheiten anderer gem. Art. 8 und 9 Abs. 2 EMRK nicht ohne Weiteres in seiner ursprünglichen Form als Individualrecht oder -interesse als legitimes Ziel dienen. Dies hätte zur Folge, dass fundamentale Freiheitsrechte der Frauen eingeschränkt würden, um ihre Gleichberechtigung zu erreichen.42 Neben der Tatsache, dass dies bereits dem Wortlaut der Konvention widersprechen würde (Rechte und Freiheiten anderer), widerspräche dies auch dem Grundsatz, dass Freiheitsrechte nicht gegen das Individuum, das selbst Rechtsträger ist, angewendet werden können. Etwas anderes könnte sich nur dann ergeben, wenn dem Staat eine weitergehende Schutzpflicht für die Geschlechtergleichheit zukäme, die Bedeutung über das Individuum hinaus entfalten kann.43 2. Emanzipatorische Perspektive der EMRK: Die Geschlechtergleichheit als eigenständiger Konventionswert jenseits eines Individualrechts Nimmt man eine selbstbestimmte Entscheidung der Frauen für den Vollschleier an, so kann die Förderung der Gleichheit der Geschlechter also nur dann als legitimes Ziel dienen, wenn sie zugleich ein allgemeines Prinzip, ein überindividuelles Kollektivinteresse darstellt, das durch das Tragen eines Vollschleiers gefährdet wird und das zugleich ein Recht und/oder eine Freiheit anderer darstellt, dessen bzw. deren Schutz der Eingriff dient.44 Nur wenn der emanzipatorische Wert der Geschlechtergleichheit für sich einen Konventionswert darstellt, können um seinetwillen die Freiheitsrechte der Frauen beschränkt werden.

42 So statt vieler Holzleithner, S. 312; Schiek, ILJ 33 (2004) 1, 68, die in ihrer Kritik aber hier enden und einen möglichen breiteren Ansatz der Geschlechtergleichheit über ein Individualrecht hinaus auf Schrankenebene nicht diskutieren. 43 Ähnlicher Ansatz auch in EKMR, Entscheidung vom 12. Juli 1978, X. gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 7992/77, DR 14, 234. Hier entschied der EGMR, dass eine Helmpflicht aus Gründen des Gesundheitsschutzes auch entgegen der Interessen des Betroffenen und insbesondere unter Einschränkung seiner Religionsausübung (Helm statt Turban) zulässig sei. 44 In diese Richtung kann der Ansatz der französischen Regierung im Verfahren S.A.S. gegen Frankreich gedeutet werden, in dem Frankreich die Geschlechtergleichheit nicht unmittelbar als Recht oder Freiheit i. S. d. Art. 8 Abs. 2, Art. 9 Abs. 2 EMRK anführte, sondern als einen Bestandteil des „Mindestbestands an Werten in einer offenen und demokratischen Gesellschaft“ („minimum set of values of an open and democratic society“), EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR-2014-III, Ziffer 82.

C. Gleichheit der Geschlechter als Element der Rechte und Freiheiten anderer 165

a) Entwicklung der EGMR-Rechtsprechung Die EMRK enthält keinen ausdrücklichen geschlechtsspezifischen Gleichheitssatz, normiert in seinem Art. 14 EMRK „nur“ die Pflicht des Staates dafür Sorge zu tragen, dass die Konventionsrechte ohne Benachteiligung aufgrund bestimmter Merkmale – auch des Geschlechts – gewährleistet werden. Der EGMR hat jedoch in zahlreichen Entscheidungen betont, dass er die Gleichheit der Geschlechter als einen der EMRK zugrunde liegenden Wert anerkenne und die Geschlechtergleichheit eines der wesentlichen Prinzipien der EMRK darstelle.45 In seinen Entscheidungen in den Fällen Dahlab gegen Schweiz und S¸ahin gegen Türkei sah der EGMR das Verbot des Tragens eines muslimischen Kopftuchs gegenüber Lehrerinnen bzw. Studentinnen als gerechtfertigt an und gründete seine Entscheidung neben der staatlichen Neutralitätspflicht bzw. dem Verfassungsprinzip des Laizismus seinerzeit noch maßgeblich auf das Prinzip der Geschlechtergleichheit.46 In seiner Entscheidung zum französischen Gesichtsverschleierungsverbot rückte der EGMR von dieser Sichtweise ohne weitere Begründung für seinen Wandel ab. Die Ausführungen aus der S.A.S.-Entscheidung sind für sich genommen nicht fehlerhaft, lassen aber die Fragen, weshalb der EGMR von früheren Entscheidungen abrückt und ob das Urteil nunmehr so zu verstehen sein soll, dass sich der Grundsatz der Geschlechtergleichheit in einem Individualrecht erschöpft, unbeachtet. Es könnte insoweit durchaus eingewendet werden, dass die Bedeutung der Geschlechtergleichheit ein gesamtgesellschaftlicher Grundsatz ist, der ein Kollektivinteresse darstellt, eine Wertentscheidung, die auch der EMRK als Ganzes zugrunde liegt und von dieser, wie Art. 14 EMRK zeigt, geschützt wird. Damit würde sich die Geschlechtergleichheit gerade nicht in der Funktion, die einzelne Frau vor Benachteiligungen zu schützen, erschöpfen. In allein dieser Funktion könnte sie vielmehr auch dann als legitimes Eingriffsziel dienen, wenn sie gegen eben jene den Vollschleier selbstbestimmt tragende und damit ihr Freiheitsrecht ausübende Frau selbst gerichtet wird.

45 EGMR, Urteil vom 28. Mai 1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 9214/80, 9473/81, 9474/81, Series A94, Ziffer 78; EGMR, Urteil vom 24. Juni 1993, Schuler-Zgraggen gegen Schweiz, Nr. 14518/89, Series A263, Ziffer 67; EGMR, Urteil vom 22. Februar 1994, Burghartz gegen Schweiz, Nr. 16213/ 90, Series A280-B, Ziffer 27; EGMR, Urteil vom 21. Februar 1997, Van Raalte gegen Niederlande, Nr. 20060/92, ECHR-1997-I, Ziffer 39; EGMR, Urteil vom 27. März 1998, Petrovic gegen Österreich, Nr. 20458/92, ECHR-1998-II, Ziffer 37; EGMR, Urteil vom 15. Februar 2001, Dahlab gegen Schweiz, Nr. 42393/98, ECHR-2001-V, S. 463, S. 464. 46 EGMR, Urteil vom 15. Februar 2001, Dahlab gegen Schweiz, Nr. 42393/98. ECHR-2001-V, S. 463; EGMR, Urteil vom 10. November 2005, Leyla S¸ahin gegen Türkei, Nr. 44774/98, ECHR-2005-XI, Ziffer 115 f.

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3. Teil: Diskussion möglicher Eingriffsziele und Rechtfertigungen

b) Entwicklung des Grundsatzes der Geschlechtergleichheit im Völkerrecht: Von der formalen Gleichheit zur substanziellen Gleichheit in Vielfalt Die Rechtsprechung des EGMR im Allgemeinen zeigt also, dass er die Geschlechtergleichheit als wesentlichen Wert und Grundprinzip der EMRK anerkennt, mittlerweile gerade aber in religiös gelagerten Kontexten darauf verweist, dass die Geschlechtergleichheit nicht gegen die Freiheitsausübung derjenigen ins Feld geführt werden soll, denen der Grundsatz dabei eigentlich zum Schutz bestimmt ist. Diese Argumentation ist nachvollziehbar. Nichtsdestotrotz stellt sie einen nicht weiter begründete Abkehr von früherer Rechtsprechung dar, schließt die Geschlechtergleichheit schon auf der Ebene des Eingriffsziels aus und setzt sich nicht mit einer etwaigen objektiven Symbolbedeutung der Gesichts- und Vollverschleierung auseinander.47 Ein etwas differenzierterer Blick auf die Historie von Menschenrechtsschutz und Gleichberechtigung zeigt jedoch, dass der emanzipatorische Wert letzterer längst nicht nur in den klassischen „Frauenrechten“ liegt, sondern auch allen anderen Geschlechtern – auch dem männlichen – zur effektiven Ausübung ihrer Freiheitsrechte verhilft und einen Wert darstellt, der folglich der gesamten Gesellschaft in allen Bereichen zugutekommt. Insoweit kann eine Betrachtung der Geschlechtergleichheit in anderen menschenrechtlichen Verträgen und Konventionen einer Kontextualisierung dienen und so den konzeptionell vom EGMR vage belassenen konventionsspezifischen Gleichheitssatz konkretisieren. Auch der EGMR selbst orientiert sich zuweilen an grundrechtskonkretisierenden Entscheidungen von Gerichten anderer Rechts- und Normkreise und nutzt auf diese Weise breite systematische Erkenntnisquellen.48 Menschenrechte und Geschlechtergleichheit sind seit langer Zeit, wenngleich auch nicht von Beginn an, untrennbar verbunden. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 schlossen Frauen noch aus und bezeugen damit die damalige Vorstellung von der Frau als dem Mann nicht gleichwertige Person. Dies änderte sich durch die sogenannte erste Frauenbewegung im 19. Jahrhundert. Dank ihr fand die Gleichheit der Geschlechter Eingang in nationale Verfassungen und 1945 schließlich auch in die Charta der Vereinten Nationen.49 Rudolf zeichnet die Historie von Menschenrechten und der Kategorie Geschlecht in vier Etappen nach. So lassen sich wesentliche Kulminationspunkte erkennen: Die ersten etwa dreißig Jahre, bis 1979 und der Annahme des Übereinkommens über die Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau (Convention on the Elimi47 So auch die Kritik von von Ungern-Sternberg, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art. 9 Rn. 37. 48 Ronc, S. 101 ff., der sodann nach dieser Methode hinsichtlich der Menschenwürde verfährt. Zur Gebotenheit eines solchen Vorgehens auch Mahlmann, EuR 2011, 469 (475). 49 Rudolf, S. 25 ff. mit weitergehenden Ausführungen zu dieser Entwicklung.

C. Gleichheit der Geschlechter als Element der Rechte und Freiheiten anderer 167

nation of All Forms of Discrimination against Women, CEDAW)50, prägte eine Betonung der Geschlechtslosigkeit der Menschenrechte. Eine Gleichstellung und Gleichberechtigung der Frauen sollte durch Diskriminierungsverbote wie beispielsweise im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) und geschlechtsneutrale Formulierungen der Menschenrechte – zuweilen auch gegen erhebliche Widerstände51 – gewährleistet werden. Dabei blieb der Anknüpfungspunkt für die Beurteilung, ob eine Diskriminierung vorläge, zunächst die rein rechtliche Behandlung aufgrund des biologischen Geschlechts. Außer Acht gelassen wurden bei diesem vergleichenden Ansatz geschlechterstereotype Vorstellungen, die der Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung zugrundliegen können. Mit anderen Worten: Die Zwecke, die eine Ungleichbehandlung rechtfertigen konnten, wurden ihrerseits nicht dahingehend hinterfragt, ob sie selbst nicht von stereotypen Rollenbildern ausgingen und sie so reproduzierten.52 Als Beginn der zweiten Etappe kann mit Rudolf die Annahme der CEDAW gesehen werden, angestoßen durch die zweite Frauenbewegung und zahlreiche internationale Frauenkonferenzen. Geprägt war die Gleichheitsbewegung nun von dem Ziel, substanzielle Gleichheit zu erreichen, also Chancengleichheit bei der Freiheitsausübung und damit verbundene Pflichten des Staates, deren Erfüllung eine Berücksichtigung der Lebenswirklichkeit der Frauen erforderte. Die CEDAW stellte einen wesentlichen Meilenstein dar. Das Abkommen zielt auf die Gleichberechtigung und Gleichstellung der Frau im öffentlichen und politischen Leben, in der Bildung, im Arbeits- und Wirtschaftsleben, in den Bereichen Gesundheit, Staatsangehörigkeit und im Zivilrecht einschließlich dem Ehe- und Familienrecht.53 Dabei geht die CEDAW in dem Verständnis, welche Faktoren Ungleichheit begründen und welche Muster es zu überwinden gilt, wesentlich weiter als die bis dahin verabschiedeten Menschenrechtsabkommen. Schon in der Präambel bekräftigten die Staaten, dass sich die Rollenbilder wandeln müssten, wenn echte und volle Gleichberechtigung erreicht werden solle. Die CEDAW verlangt damit auch einen Wandel gesellschaftlicher Konventionen, um Geschlechterstereotype aufzulösen. Insbesondere Art. 5 lit. a) CEDAW greift dieses Ziel auf. Gem. Art. 5 lit. a) CEDAW treffen die Vertragsstaaten „alle geeigneten Maßnahmen, um einen Wandel in den sozialen und kulturellen Verhaltensmustern von Mann und Frau zu bewirken, um so zur Beseitigung von Vorurteilen sowie von herkömmlichen und allen sonstigen auf der Vorstellung von der Unterlegenheit oder Überlegenheit des einen oder anderen Geschlechts oder der stereo-

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BGBl. 1985 II, 647. So lautete der Entwurf zu Art. 1 AEMR beispielsweise zunächst „all men are brothers (. . .) They are born equal in dignity and rights“, ehe sich auf Betreiben der indischen Delegierten Hansa Mehta schließlich die Formulierung „all human beings are born free and equal in dignity and rights“ durchsetzen konnte, Rudolf, S. 28 f. 52 Rudolf, S. 32 f. 53 Rudolf, S. 34. 51

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3. Teil: Diskussion möglicher Eingriffsziele und Rechtfertigungen

typen Rollenverteilung von Mann und Frau beruhenden Praktiken zu gelangen“. Damit geht die CEDAW weit über das hinaus, was andere völkerrechtliche Verträge und Konventionen, einschließlich der EMRK, hinsichtlich der Geschlechtergleichheit fordern bzw. (ausdrücklich) garantieren. Die CEDAW verfolgt mit dem Konzept der substanziellen Gleichheit, die auch gesellschaftlich verbreitete Stereotype und Rollenverteilungen in den Blick nimmt, das Ziel, die Grenze zwischen privatem und öffentlichen Bereich zu überschreiten und auf diese Weise Ungleichheiten umfassend zu beseitigen.54 Nichtsdestotrotz fristete die CEDAW ein eher abseitiges Leben von den übrigen UN-Menschenrechtsverträgen und wurde erst 1993 schließlich in den allgemeinen Diskurs zu Menschenrechten integriert. Diese von Rudolf als dritte Etappe ausgemachte Phase kennzeichnete die Betonung, dass Frauen- und Mädchenrechte keine „Sonderrechte“, sondern integraler Bestandteil der universellen und unveräußerlichen Menschenrechte seien.55 Seit Mitte der 1990er Jahre, initiiert durch entsprechende Anstöße auf der Weltfrauenkonferenz in Peking 1995, setzte sich schließlich die Erkenntnis durch, dass substanzielle Gleichheit nur durch das Bemühen aller Menschen, gleich welchen Geschlechts, erreicht werden kann – so wie auch Geschlechterstereotype alle Menschen treffen. Zugleich rückten auch die Menschenrechte von LGBTQI*-Personen weiter in den Fokus und heteronormative und binäre Geschlechterverhältnisse wurden hinterfragt.56 Hieraus entwickelte sich ein Verständnis von Gleichheit, das sich nicht länger auf die binären Kategorien Mann/ Frau fokussiert, sondern Geschlechterverhältnisse relational anhand von Fragen nach Machtverhältnissen und äußeren Zuschreibungen denkt.57 Auch Fragen von Mehrfachdiskriminierungen und Intersektionalität fanden so Eingang in den völkerrechtlichen Diskurs.58 Beide Ansätze (binär und non-binär) werden heutzutage verfolgt. Das emanzipatorische Potenzial der Geschlechtergleichheit kann nur dann seinen gesamtgesellschaftlichen Nutzen ausschöpfen, wenn alle Geschlechter nicht 54 Rudolf, S. 36, die auch darauf verweist, dass die CEDAW anstatt als Konkretisierung bereits geltender menschenrechtlicher Postulate als eine Art „Sonderrechtskonvention für Frauen“ missgedeutet wurde und zahlreiche Staaten daher bei der Ratifikation Vorbehalte gegen die Konvention einbrachten, dies., S. 38. 55 Weltkonferenz über Menschenrechte, Wiener Erklärung und Aktionsprogramm, UN-Dokument A/CONF.157/23 vom 12.Juli 1993, § 18; Rudolf, S. 41. 56 Weitergehend zum Begriff des „Geschlechts“ im Völkerrecht und dem Umfang und Schutz der Rechte von LGBTQI* vgl. Chebout, S. 132 ff. 57 Rudolf, S. 46. 58 Der Begriff der Intersektionalität geht auf Kimberlé Crenshaw zurück. Sie erfasste mit dem Konzept der Intersektionalität solche mehrdimensionalen Diskriminierungen, die sich insbesondere aus dem Zusammentreffen verschiedener Diskriminierungsmerkmale ergeben und zusätzlich zu solchen Diskriminierungen auftreten, die aufgrund nur eines der Merkmale – ggf. auch in Summe – stattfinden. Crenshaw behandelte exemplarisch den Fall einer schwarzen Frau in den USA, die gerade als schwarze Frau diskriminiert wurde, während schwarze Männer und weiße Frauen keine Diskriminierung erfuhren, Crenshaw, University of Chicago Legal Forum 1989, issue 1, 134 (149).

C. Gleichheit der Geschlechter als Element der Rechte und Freiheiten anderer 169

lediglich formal, sondern substanziell gleichberechtigt sind. Dazu gehören insbesondere auch die Beseitigung von strukturellen Hindernissen und der Abbau von stereotypen Geschlechterrollen und -zuschreibungen. Hierauf hat ein Staat bei umfassend materiellem Verständnis des Gleichheitsgebots im Völkerrecht genauso hinzuwirken wie auf die Verhinderung von Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Gleichzeitig hat der Diskurs zur Geschlechtergleichheit hervorgebracht, dass ein Bewusstsein für Stereotype und Rollenbilder alle Menschen in den Diskurs einbezieht. Alle Personen sind zugleich Betroffene wie auch Teil der Auflösung solcher Stereotype. Damit kommt der Gleichheit der Geschlechter ein offensichtlicher gesamtgesellschaftlicher und ganz unmittelbarer Nutzen im Sinne einer umfassend ermöglichten Freiheitsausübung jeder einzelnen Person zu. Nach einem modernen Gleichheitsverständnis bedarf es der Beseitigung struktureller Hindernisse und Benachteiligungen aufgrund des Geschlechts in einem substanziellen Sinne, die über die formelle (rechtliche) Gleichstellung hinausgeht. Ein solches Gleichheitsverständnis ist mit der CEDAW in den völkerrechtlichen Diskurs gelangt und kann auch zu einem weitergehenden Verständnis von Geschlechtergleichheit im Rahmen anderer Konventionen wie der EMRK beitragen. c) Geschlechtergleichheit als emanzipatorischer Wert der EMRK Behält man das so herausgearbeitete heutige Verständnis von einem substanziellem Gleichheitsgebot im Völkerrecht im Blick, könnte sich auch im Rahmen der EMRK ein weitergehendes Verständnis von der Gleichheit der Geschlechter als legitimes Eingriffsziel ergeben. Der Gleichheitsgrundsatz könnte, anders als vom EGMR in der S.A.S.-Entscheidung überhaupt geprüft, als legitimes Eingriffsziel anerkannt werden, wenn der Vollschleier und das Tragen dessen das Prinzip der Geschlechtergleichheit als elementaren Konventionswert berührt. Das Völkerrecht geht grundsätzlich von einer Vereinbarkeit der Religionsausübungsfreiheit und der Geschlechtergleichheit aus (vgl. z. B. Art. 55 lit. c) UN-Charta).59 Der Religionsfreiheit kommt im Völkerrecht eine wichtige Stellung zu, die es erforderlich macht, dass ein entgegenstehendes Menschenrecht als öffentliches Interesse besonders schwerwiegt, um eine Einschränkung der Religionsfreiheit rechtfertigen zu können.60 In der EMRK ist diese Gewichtung kodifiziert, die Religionsfreiheit kann nur aus den in Art. 9 Abs. 2 EMRK genannten Gründen eingeschränkt werden. Ebenso verhält es sich mit dem Recht auf Achtung der privaten Lebensführung gem. Art. 8 EMRK. Gleichzeitig stellen der Grundsatz der Geschlechtergleichheit und das spiegelbildliche Verbot der Geschlechterdiskriminierung völkerrechtliche Prinzipien dar, denen ebenfalls grundsätzliche Bedeutung zugemessen wird, indem sie als Voraussetzung der Menschenwürde und 59 60

Helbling, S. 239. Helbling, S. 240.

170

3. Teil: Diskussion möglicher Eingriffsziele und Rechtfertigungen

Ausfluss des menschenrechtlichen Universalitätsprinzips erachtet werden.61 Zum Gehalt des Prinzips der Menschenwürde wiederum gehört ganz grundlegend ein Verständnis vom Subjektstatus des Menschen, der eine Werthaftigkeit aller Menschen allein aufgrund ihres Menschseins bedeutet. Der Mensch in seinem Wert ist Selbstzweck.62 Aus dem Menschenwürdekonzept lässt sich insoweit sogar ableiten, dass eine Unverzichtbarkeit schon auf Individualrechtsebene stets dann anzunehmen ist, wenn der Menschenwürdekern eines Rechts betroffen ist, mithin der Wert des Menschseins selbst.63 Auch der EGMR hat eine Unverzichtbarkeit auf Konventionsrechte durch den einzelnen Rechtsträger im Rahmen rassistischer Diskriminierung festgestellt.64 Ein Spannungsverhältnis ergibt sich daraus, dass in religiösen Überzeugungen stereotype Geschlechterrollen und hegemoniale Geschlechterbilder wie Zweigeschlechtlichkeit und Heteronormativität weit verbreitet sind.65 Auch in dem Vollschleier ist – soweit sei dem folgenden Abschnitt vorgegriffen – nicht allein ein religiöses Symbol, sondern auch Ausdruck einer bestimmten Geschlechter- und Sexualmoral zu sehen.66 Sexuelle und persönliche Autonomie im Rahmen des Art. 8 EMRK verlangen nach gleichberechtigter Entscheidungsfreiheit, um effizient gewährleistet zu sein.67 Auch hier können dem Staat Schutzpflichten zukommen – genauso wie er auch zu gewährleisten hat, dass auch Frauen und Mädchen nicht andererseits aufgrund ihrer Religion diskriminiert werden, Art. 14 EMRK. Hinzukommt ferner, dass auch innerhalb der Religionen hinsichtlich Geschlechter- und Sexualmoral häufig unterschiedliche Auffassungen und Auslegungen existieren, sodass auch ein gewisser Binnenpluralismus zu berücksichtigen bleibt. Die Darlegung dieser Spannungsverhältnisse verdeutlicht, dass die Frage nach der Zulässigkeit der Geschlechtergleichheit als Postulat von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung als legitimes Eingriffsziel nicht ohne Weiteres zu beantworten ist. Gleichwohl sind Gleichheitsgrundsatz einerseits und Religionsfreiheit (und das Recht auf Achtung der privaten Lebensführung) andererseits konventionsrechtlicher Ausdruck dieser vielfältigen Perspektiven auf die Proble61

Helbling, S. 242 m.w. N. Ronc, S. 365, 367; vgl. unten E. I. 63 Wie vor. Zur Frage, ob der Menschenwürdekern der Gleichberechtigung berührt ist vgl. in diesem Teil, unter C. II. 3. b) sowie zur Frage der Menschenwürde selbst als möglichem Eingriffsziel vgl. unter E. 64 EGMR, Urteil vom 13. November 2007, D. H. u. a. gegen Tschechien, Nr. 57325/ 00, ECHR-2007-VI, Ziffer 204; EGMR, Urteil vom 11. Dezember 2012, Sampanis u. a. gegen Griechenland, Nr. 32526/05, Ziffer 93 ff. 65 Lembke, S. 189 f. m.w. N. und etlichen Beispielen. 66 Hierzu sehr ausführlich Hörnle, Leviathan, 1/2017, 8 ff. 67 Der Rechtsprechung des EGMR ist bislang noch kein umfassendes eigenständiges Recht auf sexuelle Autonomie zu entnehmen. Vielmehr beschränkt sich der EGMR darauf, einzelne Aspekte des „sexual life“ als Teil des Privatlebens im Rahmen des Schutzbereichs von Art. 8 EMRK anzuerkennen. Ausführlich dazu Valentiner, S. 15 ff., 28. 62

C. Gleichheit der Geschlechter als Element der Rechte und Freiheiten anderer 171

matik.68 Beide Elemente zählen zum menschenrechtlichen Grundkanon, die den Kern des „Personseins, der Lebensführung und des Weltverständnisses betreffen und nicht in größerem Ausmaß relativierbar sind“.69 Dennoch stellen die Rechte aus Art. 8 und Art. 9 EMRK Individualrechte dar und nicht wie etwa die Toleranz(-tugend) oder der Kultur- und Religionspluralismus von den Rechtsträgern weitgehend losgelösten Grundprinzipien der Konvention. Die geschlechtsbezogenen Diskriminierungsverbote aus Art. 5 lit. a) CEDAW, Art. 3 und 26 IPbpR, Art. 10 GRCh und auch Art. 14 EMRK sind völkerrechtliche Postulate des Menschenrechtsschutzes und Ausdruck unter anderem der Bedeutung der Geschlechtergleichheit und des Gleichheitsgebots. Den völkerrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsätzen und Diskriminierungsverboten wohnt ein menschenrechtlich emanzipatorisches Potenzial inne, dessen Bedeutung durchaus überindividuell verstanden werden kann. Zwar hat jede Person grundsätzlich die Möglichkeit, auf ihre Menschenrechte zu verzichten und das eigene Leben an anderen Überzeugungen auszurichten, solange sie dies autonom, also ohne Zwang, und höchstpersönlich entscheidet.70 Eine Konformität der Menschen ist nicht das Ziel der universalen Menschenrechte im Allgemeinen71 oder der EMRK im Besonderen. Strikte Loyalität mit den Rechten aus der Konvention kann von den jeweiligen Rechtsträgern nicht verlangt werden. Es bleibt jeder Privatperson unbenommen, sich kritisch zur Gleichberechtigung und Gleichstellung zu äußern, wenngleich sie Konventionswert ist. Gleichwohl ist an dieser Stelle eine differenzierte Sichtweise angebracht: die Bedeutung des Grundsatzes der Geschlechtergleichheit als grundlegender Konventionswert und gewichtiges Postulat im gesamten völkerrechtlichen Menschenrechtsschutz trägt auch die Argumentation, dass seine Durchsetzung grundsätzlich Aufgabe der Vertragsstaaten ist. Insbesondere Art. 5 lit. a) CEDAW verdeutlicht den Stellenwert der Geschlechtergleichheit im Völkerrecht, wenngleich jenes Vertragswerk nicht unmittelbaren Einfluss auf den Inhalt der eigenständigen EMRK haben kann. Der durchgehend emanzipatorische Wert der Menschenrechte im Allgemeinen und der Geschlechtergleichheit im Besonderen führen aber dazu, dass der Grundsatz der Geschlechtergleichheit zunächst als ein legitimes Ziel zur Einschränkung der Freiheitsrechte aus Art. 8 und 9 EMRK anerkannt werden kann. Die legitimen Ziele aus den Schrankenkatalogen der Art. 8 Abs. 2, Art. 9 Abs. 2 EMRK stellen zunächst abgeschlossene Aufzählungen solcher Rechte und Werte dar, die grundsätzlich so schwer wiegen können, dass zu ihrem Schutz eine Einschränkung des hohen Guts der Religionsfreiheit und des Rechts auf Achtung der privaten Lebensführung möglich sein kann. Das emanzipatorische Potenzial der Ge68 69 70 71

Lembke, S. 191. Ebenda. Lembke, S. 193. Helbling, S. 244.

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3. Teil: Diskussion möglicher Eingriffsziele und Rechtfertigungen

schlechtergleichheit ist ein gesamtgesellschaftlicher Wert, der auf Individuen rückführbar ist, sich aber nicht auf individueller Ebene erschöpft. Insoweit kann ist die Geschlechtergleichheit auch dann unter die Rechte und Freiheiten anderer zu fassen, wenn einzige individuell betroffene Person der Maßnahme zum Schutz der Gleichheit diejenige ist, die sich in Ausübung ihrer Religion gegebenenfalls freiwillig gegen die Geschlechtergleichheit wendet. Dieses Verständnis wird auch durch Art. 17 EMRK unterstützt, der besagt, dass die Konventionsrechte nicht derart ausgelegt werden dürfen, dass sie ein Recht verleihen, Handlungen vorzunehmen, die darauf abzielen, die Konventionsrechte abzuschaffen oder sie stärker einzuschränken als vorgesehen. Art. 17 EMRK richtet sich ausdrücklich auch an „Personen“. Die Norm soll vor Missbrauch schützen. Insoweit zeigt sie, dass es der EMRK nicht fremd ist, einzelne Personen, die grundsätzlich die Rechtsträger der Konventionsrechte sind, in die Pflicht zu nehmen, nicht entgegen der konventionsrechtlichen Gewährleistungen und Postulate zu agieren bzw. ihr andernfalls den Schutz der Freiheitsrechte zu verweigern.72 Die Schrankenkataloge sagen dabei noch nichts über die Art und Weise einer zulässigen Beschränkung aus. Dies geschieht erst im weiteren Verlauf der Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK, nämlich im Rahmen der dort geforderten Notwendigkeit des Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft. Diese Differenzierung, mit der es möglich ist, sowohl die Bedeutung und den Stellenwert des Grundsatzes gender equality im Rahmen der EMRK zu verdeutlichen und gleichzeitig aber die Aspekte der Autonomie und Freiwilligkeit nicht zu vernachlässigen, fehlt in der Auseinandersetzung um Verbote religiöser Bekleidung bislang.73 Den Schutz und die Förderung der Geschlechtergleichheit bereits als legitimes Ziel abzulehnen, ist verfehlt. Ein solcher Ansatz wird der Unterscheidung von legitimem Ziel und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht gerecht. Er unterschlägt zudem die notwendige Debatte um (objektive) Symbolik und diesbezügliche Deutungshoheit bei der religiös motivierten Vollverschleierung. Auch der EGMR versäumt es so zu erörtern, weshalb er einen Schutz der Betroffenen selbst entgegen seiner früheren Rechtsprechung ablehnt74, ohne sich zumindest mit der Frage 72 Zu den Schutzgütern von Art. 17 EMRK gehören als Allgemeinprinzipien die Demokratie und das Rechtsstaatsprinzip, wohl aber auch das Anerkenntnis der gleichen Würde aller Menschen und damit einhergehende Diskriminierungsverbote, vgl. Struth, S. 233 f. 73 Vgl. Sondervotum Tulkens zu EGMR, Urteil vom 10. November 2005, Leyla S¸ahin gegen Türkei, Nr. 44774/98, ECHR-2005-XI, Ziffer 12, der das Prinzip zunächst als legitimes Ziel ablehnt, im weiteren Verlauf es aber dann doch als Eingriffsziel für den (hypothetischen) Fall darzustellen scheint, dass ein Kopftuch dem Gleichheitsgrundsatz generell symbolisch widerspräche; exemplarisch auch Howard, IJDL 12 (2012) issue 3, 147 (158), die inhaltlich zwar auf die Notwendigkeit des Eingriffs abstellt, jedenfalls begrifflich aber gender equality als legitimes Eingriffsziel bereits verneint. 74 EKMR, Entscheidung vom 12. Juli 1978, X. gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 7992/77, DR 14, 234 (235) (Helmpflicht); EGMR, Urteil vom 15. Februar 2001, Dahlab gegen Schweiz, Nr. 42393/98. ECHR-2001-V, S. 463; EGMR, Urteil vom

C. Gleichheit der Geschlechter als Element der Rechte und Freiheiten anderer 173

nach einer objektiven Symbolik des Vollschleiers auseinanderzusetzen. Ob dem Ziel der Geschlechtergleichheit im Weiteren dann gedient sein kann, wenn sich Maßnahmen gegen Frauen richten, die autonom auf ihre Gleichstellung verzichten oder sich selbst kritisch zu ihr verhalten, ist eine Frage der Notwendigkeit, also der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme – aber nicht der Legitimität des Eingriffsziels. Ein Ansatz, der den Grundsatz der Geschlechtergleichheit als Allgemeinwert der EMRK anerkennt, muss zugleich aber stets in besonderer Weise bedacht sein, nicht selbst zum Instrument eines „Kulturkampfes“ zu werden. Eine Externalisierung des Problems von Geschlechterdiskriminierung allein auf (hier religiöse) Minderheiten in dem Glauben, selbst die Gleichberechtigung aller Geschlechter in allen Bereichen erreicht zu haben, birgt die Gefahr eines „blinden Kulturkampfes“ zur „Befreiung der fremden Frau“.75 Um dies zu verhindern, soll hier auch stets das Individuum wieder in den Blick genommen werden. So kann verhindert werden, dass eine Debatte nur noch entlang von „Gruppen“ geführt wird, die letztlich auch eine Verobjektivierung der von Ungleichheit betroffenen Personen zur Folge haben kann. Es stellt sich daher die Frage, ob dem Vollschleier eine objektive Symbolik zugemessen werden kann, die im Widerspruch zum Grundsatz der Geschlechtergleichheit steht und damit ein staatliches Handeln zugunsten des Schutzes dieses Wertes rechtfertigen könnte. Dabei kann es an dieser Stelle nicht darum gehen, dass das Tragen des Vollschleiers als Symbol auch eine religiöse Handlung darstellen kann, dies wurde bereits im Rahmen der Erläuterung des Schutzbereichs behandelt.76 Gegenstand der Untersuchung nun ist die Frage nach einer objektiven Symbolhaftigkeit des Kleidungsstückes selbst. Nur wenn sich eine objektive Symbolhaftigkeit und Aussagekraft des Vollschleiers dergestalt ermitteln lässt, dass der Vollschleier einen Angriff auf den Grundsatz der Geschlechtergleichheit darstellt, muss es in der Folge darum gehen, ob die betroffenen Frauen Adressatinnen des Verbots, mithin Verpflichtete insofern sein können, als ihnen als Privatpersonen aufgegeben wird, sich nicht konträr oder ablehnend gegenüber diesem Wert zu verhalten. Nur wenn dem Vollschleier ein Angriff auf die Geschlechtergleichheit zu entnehmen ist, kann ein Verbot überhaupt dem Schutz der Geschlechtergleichheit dienen.

10. November 2005, Leyla S¸ahin gegen Türkei, Nr. 44774/98, ECHR-2005-XI, Ziffer 115 f. 75 Lembke, S. 195. 76 Vgl. Zweiter Teil, C. II. 1. d).

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3. Teil: Diskussion möglicher Eingriffsziele und Rechtfertigungen

II. Der Schleier als Symbol 1. Definition eines „Symbols“ Aus der Perspektive der Kulturanthropologie sind Symbole, abgeleitet vom griechischen Wort symbolon (dt.: Zusammengelegtes, Zusammenhang, Sinnbild)77, körperliche Gegenstände, Laute oder Farben, denen ein Sinngehalt zugeordnet ist, der außerhalb des Symbols liegt und nicht ohne weitere Kenntnis von Sinngehalt und Sinnzusammenhang aus den physischen Eigenschaften abgeleitet oder verstanden werden kann.78 Ein Gegenstand, der (auch) ein Symbol ist, ist also „für sich“ und steht zugleich für etwas anderes. Dieses Andere zu erkennen bedarf aber der Kenntnis von Konventionen, nach denen ein Zusammenhang zwischen Gegenstand und einer außerhalb seiner selbst liegenden Bedeutung hergestellt werden kann. Mithin ist das Symbol nur in einem Beziehungssystem zu verstehen.79 2. Symbolhaftigkeit der Verschleierung Grundsätzlich ist denkbar, dass jeder Gegenstand auch ein Symbol bilden kann, wenn ihm eine über sich selbst hinausgehende Sinnhaftigkeit zugemessen und diese in einem Beziehungssystem festgelegt wird, sodass Sender und Empfänger die übergeordnete Bedeutung erkennen und verstehen können. Kleidungsstücke können seit jeher auch eine über ihren rudimentärsten Zweck (Bedecken und Wärmen des Körpers) hinausgehende soziale und/oder kulturanthropologische Bedeutung in sich tragen und auf etwas außerhalb ihrer selbst verweisen. So ließen sich in der Geschichte anhand der Kleidung Adelige, Priester, Bauern und Krieger erkennen.80 Symbole funktionierten hier auch als Zugehörigkeitszeichen zu einer Gruppe oder Klasse. Nichts anderes gilt auch im religiösen Bereich. Der Nonnenhabit, die Priester- oder Bischofsrobe, das Gewand des Papstes, Turbane der Sikhs, Kopftücher der Muslimas und die Kippa der Juden sind religiöses Symbol, Zeichen der Zugehörigkeit und zum Teil auch der Position innerhalb der Glaubensgemeinschaft sowie Kleidungsstück zugleich. Sie symbolisieren den Glauben der Person. Vergleichbar verhält es sich auch mit dem Gesichtsschleier. Wenngleich nicht im selben Maße zwingend eindeutig, so stellt er zumindest auch die Zugehörigkeit zu einer Religion, dem Islam, und hierbei zu einer sehr konservativen Strömung dessen dar. Davon zu trennen sind die inneren Beweggründe der Trägerinnen, die wesentlich diverser sein können. So gab etwa die Klägerin im Fall S.A.S. gegen Frankreich an, den Schleier aus ihrem spirituellen Empfinden heraus zu manchen Zeiten tragen zu wollen, um ihren Glauben nach

77 78 79 80

Hillmann, S. 877. Willems, in: Bernsdorf, Wörterbuch der Soziologie, S. 1138. Ebenda. Willems, in: Bernsdorf, Wörterbuch der Soziologie, S. 1139.

C. Gleichheit der Geschlechter als Element der Rechte und Freiheiten anderer 175

außen zu zeigen, jedoch ohne zu provozieren.81 Andere Niqabträgerinnen gaben an, mit dem Schleier eine besondere Frömmigkeit ausdrücken zu wollen oder den Frauen des Propheten Mohammeds möglichst nahekommen zu wollen.82 So kann es zu der Situation kommen, dass ein Betrachter eine andere Bedeutung aus dem Symbol liest als die vordergründig durch die Trägerin intendierte. Allein ein neutrales, schlichtes, nicht bedeutungsbehaftetes Gewand kann der Gesichts- und Vollschleier dagegen nicht darstellen.83 Möglich ist nur, dass der Empfänger das gesendete Symbol nicht entschlüsseln kann, wenn ihm der kulturell-religiöse Bedeutungszusammenhang nicht bekannt ist. Welcher Bedeutungsgehalt erkannt wird, ist abhängig von Wissen, Prägung und kulturellem Umfeld des Empfängers. Menschen mit ähnlichem Wissen, ähnlicher Prägung und aus einem ähnlichen kulturellen Umfeld können eine sog. „Interpretationsgemeinschaft“ 84 bilden, innerhalb derer die Bedeutungen eines Symbols überschaubar sind und die Kommunikation mittels des Symbols funktionieren kann.85 Insofern kann durchaus davon ausgegangen werden, dass innerhalb des europäischen Raums auch der Vollschleier heute eine begrenzte Zahl an Bedeutungen zwischen Sender und Empfänger vermittelt. Bezüglich des Tragens des Gesichtsschleiers als religiöse Praxis und als Ausdruck des eigenen Glaubens ist an dieser Stelle auf die Ausführungen im Rahmen des Schutzbereichs des Art. 9 Abs. 1 EMRK zu verweisen.86 Es bleibt aber zu erörtern, welche objektiven Bedeutungen der Vollschleier vermitteln kann, insbesondere im Hinblick auf Geschlechtergleichheit und ob diese relevant sein können im Rahmen eines allgemeinen Verbots des Tragens des Vollschleiers im öffentlichen Raum. 3. Mögliche Bedeutungen und Deutungshoheit Ein Eingriff in die Religionsfreiheit kann zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer nach Art. 8 und 9 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt sein. Dann müsste der Eingriff aber auch in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sein. Dies kann grundsätzlich der Fall sein, wenn der Vollschleier bzw. das Tragen dessen 81 EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffer 112. 82 Siehe Erster Teil, A. III. 2. b). 83 Aus diesem Grund hinkt in dieser Hinsicht auch der von Nussbaum angeführte Vergleich von (religiös motivierter) Gesichtsverschleierung und dem Mundschutz eines Zahnarztes oder der Bekleidung mit Sonnenbrille vor den Augen und Schal vor dem Mund, Nussbaum, S. 94. Auch ein ab dem Frühjahr 2020 zuweilen angestellter Vergleich mit Schutzmasken im Rahmen der Covid19-Pandemie hinkt insoweit. Anders dagegen wohl Wiese zum muslimischen Kopftuch, das auch lediglich ein Tuch sein könne, Wiese, S. 81. Geht es dagegen um die isolierte Frage der reinen Sichtbarkeit des Gesichts, können die Vergleiche tragfähig sein. 84 Wiese, S. 81. 85 Ebenda, m.w. N. 86 Siehe Zweiter Teil, B. II. 1. d).

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3. Teil: Diskussion möglicher Eingriffsziele und Rechtfertigungen

ein Recht oder eine Freiheit anderer gefährdet oder verletzt. Die Geschlechtergleichheit kann ein solches Recht anderer auch in ihrer überindividuellen Dimension wie gezeigt darstellen. Der Vollschleier müsste aber als Symbol auch eine Verletzung oder Bedrohung derer darstellen. Verbote des Vollschleiers im öffentlichen Raum wurden in politischen und gesellschaftlichen Diskussionen und Äußerungen, in medialen Beiträgen sowie wissenschaftlichen Abhandlungen und Essays damit gerechtfertigt, dass der Vollschleier dem Grundsatz der Geschlechtergleichheit widerspreche, er symbolisiere sogar die ausdrückliche Ablehnung des Grundsatzes. Der ehemalige französische Präsident Sarkozy, unter dem das französische Gesetz zustande kam, nannte den Vollschleier ein „Zeichen der Unterwerfung, ein Zeichen der Unterdrückung“.87 Die Begründungen zu den Gesetzesentwürfen in Frankreich und Belgien führten das Argument ebenfalls an. So hieß es in der Begründung zum belgischen Gesetz, das Tragen des Vollschleiers symbolisiere das Statut der unterdrückten Frau.88 In der Erklärung der französischen Assemblée Nationale zu den Beweggründen für das Verbotsgesetz hieß es, der Vollschleier stelle die Werte der Republik – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – infrage, die das Fundament für unter anderem die Gleichstellung der Geschlechter darstellten.89 In Dänemark argumentierten die Initiatoren des Gesetzes dagegen einzig mit der Erwägung, der Vollschleier schade dem gesellschaftlichen Zusammenleben dadurch, dass die jeweiligen Personen ihr Gesicht verbergen würden. Dies dürfte darin begründet liegen, dass der letztlich beschlossene dänische Entwurf erst nach der Entscheidung des EGMR in der Rechtssache S.A.S. gegen Frankreich abgefasst wurde und sich insofern auf die vom EGMR akzeptierten Begründungen beschränkte. In den Debatten zu früheren Entwürfen war jedoch wie oben ausführlich erörtert auch hier argumentiert worden, der Vollschleier widerspreche dem Grundsatz der Geschlechtergleichheit. Sämtliche Äußerungen und Ansichten dahingehend, dass der Vollschleier die Unterwerfung, Unterdrückung und Unterlegenheit der Frau gegenüber dem Mann symbolisiere, wurden von Personen getätigt, die selbst den Vollschleier selbst nie trugen oder tragen würden oder von Personen, die hierzu gezwungen worden waren, mithin keine freiwillige, selbstbestimmte Entscheidung getroffen hatten, oder von Vertretern staatlicher Institutionen. Anders jedoch äußerten sich diejenigen Frauen, die den Schleier nach eigenen Angaben selbst gewählt haben.90 Mithin ist auch zu untersuchen, wem die Deutungshoheit über die Symbolik an dieser Stelle obliegt. 87 Spiegel Online vom 22. Juni 2009, „Vollverschleierung. Sarkozy hält nichts von Burkas“, abrufbar unter: http://www.spiegel.de/politik/ausland/vollverschleierung-sar kozy-haelt-nichts-von-burkas-a-631883.html. 88 Abgeordnetenkammer, Parlamentsdokument DOC 0219/004, S. 6. 89 Assemblée Nationale, No. 2520, Projet de loi interdisant la dissimulation du visage dans l’espace public, Exposé des motifs, 19 mai 2010, S. 2. 90 Vgl. Erster Teil, A. III.

C. Gleichheit der Geschlechter als Element der Rechte und Freiheiten anderer 177

a) Deutungshoheit über die Symbolik Die in Belgien durchgeführten Interviews mit vollverschleierten Frauen haben gezeigt, dass diese ihren Niqab nicht als Widerspruch zum Grundsatz der Geschlechtergleichheit verstehen und auch nicht verstanden wissen wollen. Die Frauen gaben an, sich Gott unterordnen zu wollen, nicht jedoch anderen Menschen und bezeichneten Frauen, die den Vollschleier tragen, zum Teil als außergewöhnlich stark und selbstbewusst.91 Demgegenüber wurde aber auch gezeigt, dass Mitglieder der nationalen Parlamente dem Schleier sehr wohl die Symbolik zuweisen, den Grundsatz der Geschlechtergleichheit infrage zu stellen. Auch die Gesetzesbegründungen nehmen wie gezeigt überwiegend Bezug auf die Geschlechtergleichheit und führen sie als Beweggrund für das jeweilige Verbot – mit Ausnahme des dänischen Gesetzgebers beim letztlich beschlossenen Entwurf – an. Damit stellt sich die Frage, wessen Sichtweise und damit Deutung hier entscheidend ist. Diese Frage bewegt sich in einem ähnlichen Feld wie die Diskussion um die Bestimmung des Schutzbereichs der Religionsausübungsfreiheit und ob das Tragen des Vollschleiers von Art. 9 EMRK geschützt sein kann, ist aber dogmatisch von dieser zu trennen. Zunächst könnte angenommen werden, dass die den Vollschleier tragenden Frauen, mithin die Rechtsträgerinnen selbst, die alleinige Deutungshoheit über die Symbolhaftigkeit innehaben. Sie sind diejenigen, deren Sichtweise auch maßgeblich dafür ist, ob das Tragen des Vollschleiers die Ausübung einer Religion und Ausdruck ihrer – und welcher – Identität darstellt. Überprüft wird ihre subjektive Darstellung im Rahmen des Schutzbereichs wie gezeigt lediglich mittels einer Plausibilitätskontrolle. Ein Abstellen auf die Deutung der Rechtsträgerinnen würde mit der Bestimmung des Schutzbereichs in Einklang stehen. Dies ist jedoch kritisch zu hinterfragen. Die Ebene der Schrankenregelungen ist nicht gleichzusetzen mit derjenigen des Schutzbereichs. Im Rahmen des Schutzbereichs ist es dem in religiösen Fragen neutralen Staat untersagt, eine Religion zu bewerten oder deren Inhalt zu bestimmen. Lediglich kann gefordert werden, dass das Individuum, wenn es sich auf den Schutz der Religionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 1 EMRK beruft, plausibel darlegt, weshalb eine Handlung oder Verhaltensweise für es selbst aus religiösen Motiven erfolgt. Eine weitergehende Prüfung findet durch Staat oder Gericht im Rahmen des Schutzbereichs nicht statt. Nichts anderes gilt im Rahmen des Art. 8 Abs. 1 EMRK. Es bleibt grundsätzlich die Entscheidung des Individuums, wie es sein privates Leben führt. Anders muss es sich jedoch im Rahmen der Schranken gem. Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK verhalten. Hier kann es nicht mehr nur um das subjektive Empfinden des Einzelnen allein gehen. Der Schutz der Rechte und Freiheiten anderer als legitimes Ziel gem. Art. 8 und 9 Abs. 2 EMRK wäre letztlich wirkungslos, wenn es

91

Brems et al., S. 87.

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3. Teil: Diskussion möglicher Eingriffsziele und Rechtfertigungen

allein auf die Perspektive der den Vollschleier tragenden Frauen oder – allgemeiner – der ihre Religion ausübenden Person ankäme.92 Die Verpflichtung des Staates, auch die Rechte und Freiheiten anderer Bürgerinnen und Bürger zu schützen, liefe Gefahr unerfüllt zu bleiben, wenn die Schranke, die diesem Schutz dienen soll, letztlich zur Disposition der Rechtsträger des einschränkbaren Rechts stünde. Wiederum als direkter Gegensatz zur Bestimmung durch die Betroffenen könnte angedacht werden, diejenigen über die Symbolwirkung final entscheiden zu lassen, die mit dem Symbol, dem Vollschleier, konfrontiert werden. Dies wären vorliegend sämtliche Menschen an öffentlichen Orten bzw. der Öffentlichkeit zugänglichen Orten. Für diese Lösung könnte angeführt werden, dass Art. 9 Abs. 2 EMRK auch die negative Religionsfreiheit schützt. Die Lösung ignoriert in dieser Form aber, dass die negative Religionsfreiheit nicht vor jeglichem Anblick religiöser oder zumindest vom Gläubigen als solche interpretierten Symbole schützen kann.93 Diese aus der Verhältnismäßigkeitsprüfung stammenden Erwägungen müssen im Sinne einer kongruenten Anwendung der Konventionsrechte auch hier Beachtung finden. Im Rahmen der Rechtfertigung kann die Bestimmung der Bedeutung eines (religiösen) Symbols nicht in die Hände der mit ihm konfrontierten Dritten gelegt werden, deren negative Religionsfreiheit erstens nicht vor jeder Begegnung mit religiösen Symbolen schützen kann und denen zweitens im Sinne eines effektiven Minderheitenschutzes auch nicht der Gleichheitssatz zur alleinigen Disposition überlassen werden kann. Dies ist vielmehr Aufgabe eines gesamtgesellschaftlichen Diskurses und im Zweifel der Gerichte. Mithin muss mindestens eine staatliche Kontrolle der Plausibilität der zugemessenen Bedeutung stattfinden. Schließlich könnte man also die Interpretation des Symbols und die Deutungshoheit dem Staat, den staatlichen Gerichten und dem Gesetzgeber zusprechen. Problematisch wäre dabei aber, dass gerade im Bezug auf von den Betroffenen als religiös deklarierte Symbole der Staat hiermit die Aufgabe bekäme, festzustellen, welche „tatsächliche“ oder zumindest überwiegende Bedeutung das Symbol innehat und somit Gefahr liefe, seiner Neutralitätspflicht zuwider einzelne Aspekte einer Religion zu bewerten. Die Frage, ob das Symbol dem Grundsatz der Geschlechtergleichheit widerspricht, kann von dieser Problematik nicht losgelöst werden. Entsprechend vertreten Autoren zuweilen auch die Auffassung, dass es dem Staat daher ausnahmslos untersagt sei, religiösen Symbolen die Bedeutung der Frauendiskriminierung zuzuschreiben.94 Gleichzeitig zwingt dies aber nicht zu der Schlussfolgerung, dass die Deutung der Betroffenen oder den

92 93 94

Vgl. dazu hinsichtlich der Thematik Kopftuch tragender Lehrerinnen Wiese, S. 82. EGMR, Urteil vom 18. März 2011, Lautsi u. a. gegen Italien, Nr. 30814/06. Wrase, Anm. zu BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2002 2 C 21.01, JZ 2003, 256 (258).

C. Gleichheit der Geschlechter als Element der Rechte und Freiheiten anderer 179

Betrachtenden alleinig zuzugestehen wäre. Die bislang dargestellten Argumentationen für die jeweiligen Lösungsansätze sind an dieser Stelle vielmehr eingedenk der rechtsdogmatischen Tatsache, dass diese Frage auf der Schrankenebene erörtert wird – und nicht im Rahmen des Schutzbereichs – abzuwägen. Dabei ist zunächst festzuhalten, dass der Staat auf der Ebene der Schranken in ein Recht eingreift, dies aber zu einem von der Konvention anerkannten legitimen Zweck tut. Es ist gerade Aufgabe des Rechtsstaates, nicht nur Grund- und Menschenrechte zu achten und ohne entsprechende Rechtfertigung nicht freiheitsverkürzend zu intervenieren, sondern er hat auch dafür zu sorgen, die Menschenrechte seiner Bürgerinnen und Bürger positiv zu schützen. Die Geschlechtergleichheit stellt einen objektiven Wert der Konvention dar. Um diesen effektiv schützen zu können, muss der Staat tatsächliche Handlungen auch bewerten können. Wenn sich im öffentlichen Raum Menschen begegnen, von denen die einen Vollverschleierung religiös begründen und die anderen eben diese Vollverschleierung als Widerspruch zum Grundsatz der Geschlechtergleichheit und als Übergriff 95 auf ihre Rechte und Freiheiten sehen, entsteht ein rechtliches Dilemma, das mangels vorhandener Kriterien auf dieser Ebene ohne staatliche Instanz nicht aufzulösen ist. Die Maxime aus dem Schutzbereich lautet, dass es für die Religionsfreiheit aus Art. 9 EMRK und auch das Recht auf private Lebensführung gem. Art. 8 EMRK elementar ist, dass der Rechtsträger und nicht der Staat hier die Hoheit über das „Wie“ der Ausübung innehat. Auf der Schrankenebene fehlen solche eindeutigen Maßstäbe. Auffassungen der Betroffenen und der Konfrontierten widersprechen einander. Den Staat wiederum treffen Schutzpflichten für beide Gruppen. Es bietet sich daher an, den Schutzpflichten des Staates auf Schrankenebene dergestalt gerecht zu werden, indem die Einschätzungsprärogative hier dem Staat zukommt und zudem Kriterien festgelegt werden, die Willkür verhindern.96 Der Staat darf dabei aber nur die tatsächliche Handlung, hier also das Tragen des Vollschleiers in der Öffentlichkeit, nicht jedoch die dahinter liegenden religiösen Ansichten und Gebote, mithin nicht den Inhalt einer Religion bewerten. Eine Pflicht der betroffenen Frauen zum konventionskonformen Denken geht damit nicht einher. Der Staat muss aber sehr wohl nach objektiven Kriterien auf der Schrankenebene entscheiden können, welche symbolische Bedeutung dem Vollschleier zukommt, um zu beurteilen, ob die tatsächliche Handlung eine Gefahr für andere Konventionswerte, hier die Geschlechtergleichheit, darstellen könnte. Ob der objektive Wert der Geschlechtergleichheit verletzt ist, steht nicht zur Disposition der Betroffenen oder Konfrontierten im Rahmen derer subjektiver Auf-

95 An dieser Stelle wird der Begriff „Übergriff“ statt „Eingriff“ verwendet, da es sich nicht um eine freiheitsverkürzende Maßnahme des Staates handelt, sondern um ein Verhalten einer anderen Privatperson, vgl. Calliess, § 44 Rn. 4 ff.; Gerbig, S. 60 ff. 96 So auch der Ansatz bei Wiese, S. 84.

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3. Teil: Diskussion möglicher Eingriffsziele und Rechtfertigungen

fassungen. Der Staat muss hier eine eigene Beurteilung treffen können.97 Grundsätzlich hat er dabei alle infrage kommenden plausiblen Bedeutungen zu berücksichtigen. Wenngleich die Einschätzungsprärogative aber beim Staat liegt und diesem ein Ermessenspielraum zugebilligt wird, muss der EGMR sodann überprüfen können, ob die gewählte Deutung den Plausibilitätskriterien genügt. Ein solcher Ansatz lässt sich auch in der Rechtsprechung des EGMR erkennen: Der Gerichtshof entschied in dem Fall Lautsi u. a. gegen Italien überzeugend, dass das Kruzifix unzweifelhaft auf das Christentum verweist und von dieser religiösen Symbolhaftigkeit nicht gänzlich losgelöst werden kann.98 Die Argumentation des italienischen Staates, das Kruzifix symbolisieren auch weltliche Werte, ändere hieran nichts. Eine vollständige Loslösung des Kruzifix von der christlichen Religion sei nicht plausibel. Gleichfalls kann für den Vollschleier argumentiert werden. Wenngleich weitergehende symbolische Bedeutungen zu diskutieren sind, so ist die Feststellung, dass es sich (auch) um ein religiöses Symbol handelt, wohl nur schwerlich zu widerlegen. Wenngleich wie im Ersten Teil dargestellt Muslime weit überwiegend keine religiöse Verschleierungspflicht im Islam annehmen, so wird wie dort dargestellt der Vollschleier dennoch ausschließlich von religiösen Muslimas und keiner anderen Personengruppe getragen. Eine rein weltliche Begründung und Symbolik losgelöst vom Islam ist dem Vollschleier nicht zu entnehmen.99 Eine solche Auffassung würde den Plausibilitätstest mithin wohl nicht bestehen.100 b) Schlüssige Bedeutungen des Vollschleiers im Kontext der Geschlechtsspezifität Wenn es um den islamischen Schleier geht, geht es nie rein nur um ihn, sondern immer auch um das, was er symbolisiert, vermeintlich symbolisiert oder symbolisieren soll. Eltahawy beschreibt das Tragen Schleiers (in ihrem Fall eines Kopftuchs) als einen Vorgang, der mit Bedeutungen überfrachtetet ist: „unterdrückte Frau, reine Frau, konservative Frau, starke Frau, asexuelle Frau, verklemmte Frau, befreite Frau“.101 Nicht alle (vermeintlichen) Bedeutungen sind 97 Ebenda mit Verweis auf BVerfGE 105, 279 (294); 102, 370 (394) für die Frage der objektiven Beurteilung durch den Staat im Rahmen von Art. 4 GG. Nach BVerfG muss es dem Staat möglich sein, nach weltlichen Kriterien beurteilen zu können, ob Verfassungswerte wie der Gleichheitsgrundsatz durch religiöse Handlungen gefährdet werden. 98 EGMR, Urteil vom 18. März 2011, Lautsi u. a. gegen Italien, Nr. 30814/06, ECHR-2011-III (in Auszügen), Ziffer 71. 99 Anders dem politischen Konzept, das sich ebenfalls hinter dem Begriff „Hijab“ verbergen kann, vgl. Erster Teil, A. III. 2. 100 Vgl. Erster Teil, A. III. 2, vgl. ebenda auch zur nicht überzeugenden Annahme einiger Teilnehmenden an den öffentlichen Debatten zu Verbotsvorhaben und in der Wissenschaft, der Vollschleier sei generell kein religiöses Symbol. 101 Eltahawy, S. 35.

C. Gleichheit der Geschlechter als Element der Rechte und Freiheiten anderer 181

aber auch rechtlich relevant. Im Rahmen der Untersuchung der Konventionskonformität der Verbotsgesetze sind nur diejenigen Bedeutungen des Symbols „Vollschleiers“ zu betrachten, die auch rechtliche Relevanz entfalten. Fraglich ist jedoch, nach welchen Kriterien der Staat bzw. die Gerichte die Beurteilung der Bedeutung vorzunehmen haben.102 Wiese verweist bezüglich der Bestimmung der Bedeutung des muslimischen Kopftuchs durch den Staat auf die Konstruktion des objektiven Empfängerhorizonts.103 Das deutsche BVerfG hatte zuvor auf diesen abgestellt, um beurteilen zu können, ob das Tragen eines Kopftuchs einen Eignungsmangel einer Lehrerin an einer staatlichen Schule darstellen könne.104 Die Konstruktion des objektiven Empfängerhorizonts ist im deutschen Recht vor allem im Zivilrecht bekannt. Danach sind empfangsbedürftige Willenserklärungen aus Rücksicht auf den Verkehrsschutz nicht allein nach dem Willen desjenigen auszulegen, der die Erklärung abgibt. Maßgeblich ist vielmehr, wie ein objektiver verständiger Dritter die Erklärung verstehen durfte.105 Das Gericht entscheidet nach Maßgabe der Auffassung einer fingierten verständigen und objektiven Person. Die Festlegung dieses Kriteriums ermöglicht in der Folge zwar eine Plausibilitätskontrolle der gerichtlichen Bedeutungsfestlegung und verhindert eine reine Willkürentscheidung. Gleichwohl ist mit Wiese aber anzumerken, dass damit die Methode der Feststellung dieses objektiven Empfängerverständnisses nicht geklärt ist.106 Wiese schlägt auf nationaler Ebene im Rahmen der Frage nach der Zulässigkeit von Kopftüchern bei Lehrerinnen vor, der Staat bzw. das Gericht solle aus der Menge der möglichen Bedeutungen diejenigen auswählen, „die nach dem Vorverständnis der deutschen Interpretationsgemeinschaft plausibel erscheinen“.107 Zu Recht stellt sie fest, dass der Staat nicht erst dann eine Festlegung bezüglich der Bedeutung treffen dürfe, wenn diese allgemein konsentiert sei. Diese Anforderung dürfte nur sehr selten erfüllt sein, sodass dieser Ansatz kaum Lösungen verspricht. Insbesondere der Islam mit seinen vielen, zum Teil sehr unterschiedlichen Strömungen stellt eine Religion dar, bei der über sehr viele Ansichten und Praktiken schon innerhalb der Glaubensgemeinschaft kein Konsens besteht. Mit der Forderung nach Konsens über die Bedeutung eines Symbols würde es letztlich dem Staat in wohl vielen Fällen verwehrt, überhaupt auf bestimmte Deutungen abzustellen. Andererseits kann es vor dem Hintergrund 102 In seiner Entscheidung Dahlab gegen Schweiz stellte der EGMR fest, dass das Kopftuch ein Symbol der Ungleichheit der Geschlechter darstellen könne. Ein Anhaltspunkt, unter Anwendung welcher Methoden der Gerichtshof zu diesem Ergebnis kam, ist der Entscheidung aber nicht zu entnehmen, EGMR, Urteil vom 15. Februar 2001, Dahlab gegen Schweiz, Nr. 42393/98, ECHR-2001-V. 103 Wiese, S. 85 f. 104 BVerfG, NJW 2003, 3111 (3114). 105 BGHZ 195, 126, Rn. 18 = NJW 2013, 598 (599). 106 Wiese, S. 86. 107 Wiese, S. 87.

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3. Teil: Diskussion möglicher Eingriffsziele und Rechtfertigungen

der Ausführungen zur Schutzbereichsbestimmung bei Art. 9 EMRK auch nicht auf eine reine Mehrheitsauffassung innerhalb der Gesellschaft ankommen.108 Wie auf Schutzbereichsebene bereits erörtert schützen die Konventionsrechte auch gerade Minderheiten. Dieser Minderheitenschutz darf nicht auf Ebene der Schranken umgangen werden. Spricht man die Deutungshoheit über die Bedeutung eines religiösen Symbols der Mehrheitsgesellschaft zu, könnte dies den Minderheitenschutz der Konvention in diesem Bereich aber zu einer leeren Hülle verkommen lassen. Mithin ist auch der Minderheitenschutz stets im Blick zu behalten. aa) Der Schleier als geschlechtsspezifisches Symbol Dass der Schleier zunächst ein geschlechtsspezifisches Symbol ist, dürfte unstreitig sein. Damit ist jedoch mit Blick auf seine Geschlechtsspezifität noch nicht genug gesagt. Auch andere Kleidungsstücke werden in einer binären Geschlechterordnung mit Frauen assoziiert – zum Beispiel Röcke oder Kleider, Schuhe mit hohen Absätzen. Wenngleich sich hierbei im Alltag Grenzen zuweilen auflösen, so ist dies im Kontext der aus religiösen Motiven getragenen Kleidung bislang nicht zu beobachten. Der Vollschleier ist ein dezidiert geschlechtsspezifisches Kleidungsstück, welches ausschließlich von Frauen getragen wird. Er existiert zudem als geschlechtsspezifisches Kleidungsstück in einer Gemeinschaftsordnung, die noch heute weithin männlich dominiert ist und auf Geschlechtertrennung beruht109, wenngleich islamische Feministinnen Ansätze entwickelt haben, diese Strukturen zu dekonstruieren.110 Mernissi spricht in ihrer Untersuchung des Schleiers in diesem Zusammenhang von einer „doppelten Perspektive auf den Frauenkörper als eine symbolische Repräsentation der Gemeinschaft“.111 Die Geschlechtertrennung wird dennoch zuweilen von Autoren neben der Bedeutung der Ehe und dem Ausschluss nicht-ehelichen Geschlechtsverkehrs als das einzige Prinzip des islamischen Soziallebens gesehen, über das sich alle Rechtsschulen einig seien.112 Ein Verweis auf eine Trennung der Geschlechter ist dem Schleier damit inhärent, wenngleich wie oben erörtert von der männlichen Dominanz nicht per se unmittelbar auf Zwang geschlossen werden kann. bb) Der Schleier als Symbol sittsamen Verhaltens Neben der bereits erörterten religiösen Bedeutung und der plausiblen Symbolik der Geschlechtertrennung kann auch plausibel angenommen werden, dass mit 108

Ebenda. Bilgin, S. 261. 110 So etwa Fatima Mernissi, Sa’diyya Shaikh oder auch die Organisation „Revolutionäre Vereinigung von Frauen in Afghanistan“, vgl. ausführlich dazu Sirri, passim. 111 Mernissi, The veil and the male elite, S. 99. 112 Seufert, S. 415. 109

C. Gleichheit der Geschlechter als Element der Rechte und Freiheiten anderer 183

dem Vollschleier eine Haltung dahingehend vermittelt werden soll, welches Verhalten von Frauen in der Öffentlichkeit als religiös besonders ehrwürdig anzusehen sei. Der Schleier könnte als eine „Sittsamkeitspraxis“ 113 begriffen werden, die die Aussage in sich und damit auch nach außen trägt, Frauen hätten ihren Körper und ihr Gesicht in der Öffentlichkeit zu verhüllen, damit sie für Männer außerhalb ihrer Familie nicht erkennbar seien. Einige der in Belgien interviewten Frauen gaben selbst auch an, den Vollschleier als Ausdruck ihrer Sittsamkeit und Keuschheit zu tragen. Dagegen gaben andere Frauen an, der Schleier schütze sie primär vor unerwünschten Blicken männlicher Mitbürger, Keuschheit auszudrücken sei ihnen dagegen weniger wichtig.114 Vorliegend ist jedoch anhand des objektiven Empfängerhorizonts zu beurteilen, ob das Tragen des Vollschleiers in der Öffentlichkeit die Bedeutung vermittelt, Frauen hätten sich – anders als Männer – in der Öffentlichkeit bis zur Nicht-Identifizierbarkeit zu verhüllen. Der Vollschleier als geschlechtsspezifisches Symbol ist in heutiger Zeit vor allem in arabischen Staaten präsent, die autoritär regiert wurden oder werden, wie Afghanistan bis 2001 und erneut seit 2021 unter den radikalislamischen Taliban oder das Königreich Saudi-Arabien. Der Vollschleier in diesen Regionen war und ist Ausdruck einer Gesellschaftsordnung, in der die Frau sich allein ihrem Ehemann und ihren männlichen Verwandten gegenüber unverschleiert zu erkennen geben darf. Diese Verhaltensweise kennzeichnet in der entsprechenden Gesellschaftsordnung die „sittsame“ Frau. Im europäischen Raum ist die Vollverschleierung ein wenig verbreitetes Phänomen, seine Wirkung ist jedoch auch hier eine Abschottung der Frau in der Öffentlichkeit. Außerhalb der Familie ist sie nicht individuell erkennbar. Damit kann die Vollverschleierung auch hier plausibel als Ausdruck der Unterstützung einer Gesellschaftsordnung gesehen werden, in der das Gesicht und der Körper der Frau in der Öffentlichkeit nicht erkennbar sein sollen. Das Tragen des Vollschleiers ist unabhängig von den individuellen Beweggründen der jeweiligen Frau und unabhängig seiner religiösen Dimension immer auch das Tragen eines „uniformierenden“ Kleidungsstückes, das die Frau abschottet und nicht-identifizierbar macht.115 Es entindividualisiert die Frau. Es ist mithin auch plausibel, dem Vollschleier die Bedeutung zuzumessen, die Frau habe in der Öffentlichkeit sämtliche individuellen äußeren Merkmale und „Reize“ zu verbergen und sich entsprechend vollständig zu verschleiern. Ist dies der Fall, gilt sie als besonders sittsam im Sinne einer spezifischen Gesellschaftsordnung. Männlichen Gläubigen wird ein solches Verhalten dagegen nicht abverlangt. Damit einher geht die Verdeutlichung einer traditionellen sexualmoralischen Vorstellung. Die Trennung der Geschlechter, ausgedrückt in dem Vollschleier, kann in verständiger Weise durch einen objektiven Betrachter so aufgefasst werden, dass die Frau sich zu bedecken und sämtliche individuellen 113 114 115

Hörnle, Leviathan 1/2017, 8. Brems et al., S. 83. So auch Hörnle, Leviathan 1/2017, 8 (11).

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3. Teil: Diskussion möglicher Eingriffsziele und Rechtfertigungen

Merkmale und Reize zu nivellieren, sich also sittsam zu verhalten und keusch zu sein habe.116 Es ist damit auch vor dem Hintergrund anders lautender Motive von betroffenen Frauen nicht ausgeschlossen, dem Vollschleier eine entsprechende Bedeutung zuzumessen. Der Staat und die Gerichte dürfen eine solche Bedeutungsdimension mithin in ihrer Beurteilung, ob ein Verbot des Vollschleiers in der Öffentlichkeit dem Schutz des Grundsatzes der Förderung der Geschlechtergleichheit dient, berücksichtigen. cc) Der Schleier als Symbol einer patriarchalen Geschlechterhierarchie Nachdem erörtert wurde, dass der Vollschleier als ein Symbol der Geschlechtertrennung sowie als geschlechtsspezifisches Symbol für sittsames Verhalten und mithin als Sittsamkeitspraxis gesehen werden kann, lassen sich daran Überlegungen anschließen, ob dem Vollschleier eine symbolische Bedeutung in Form einer spezifischen Geschlechterhierarchie und der Untergebenheit der Frau gegenüber dem Mann plausibel beigemessen werden kann. Der Schleier wird von einigen Autoren als ein Symbol der „bedeckten Frau“ gesehen, das ihre Zugehörigkeit zu einem bestimmten Mann kennzeichne.117 In der traditionellen muslimischen Gemeinschaft sei die soziale Stellung der Frau religiös begründet, sie sei an den Mann gebunden und von diesem abhängig. Die soziale Stellung der Frau werde damit als gottgegeben erachtet. Eine Gemeinschaft, die religiöse Symbole wie den Schleier bzw. „die verschleierte Frau“ nutze, um dies ausdrückten, sei daher stets patriarchal und hierarchisch organisiert.118 Damit einher gehe dann die „klare Definition von Geschlechterrollen“.119 Diese traditionelle patriarchale Struktur und die damit verbundene Vorstellung der Rolle der Frau als Hausfrau und Mutter finde sich auch heute noch in muslimischen Gesellschaften wieder.120 Das Tragen des Schleiers stelle als Symbol der Anerkennung dieser Rolle der Frau als einem Mann zugehörig auch eine Möglichkeit dar, bei gleichzeitiger Abschottung und Erhalt der Ehre den Raum des Privaten zu verlassen.121 Es zeigt sich dabei jedoch, dass die Rolle der Frau nach einem solchen Verständnis gerade durch den Mann bestimmt ist, die Frau ist von ihm abhängig und dem Mann zugeordnet und hat sich ehrbar zu verhalten. Soll die Verschleierung die Zugehörigkeit zu einem Mann symbolisieren und die Frau gleichzeitig im öffentlichen – dem männlich assoziierten – Le116

Ebenda. Seufert, S. 112. 118 Seufert, S. 114 f. 119 Seufert, S. 115. 120 Seufert, S. 120 unter Berufung auf eine repräsentative Befragung Istanbuler Frauen, Bog˘aziçi Üniversitesi ˙lktisadî-l˙darî Bilimler Fakültesi; Kadın Aras¸tırması 1990– 1991, Istanbul 1991. 121 Seufert, S. 426. 117

C. Gleichheit der Geschlechter als Element der Rechte und Freiheiten anderer 185

ben abschotten, so wird der Schleier als Werkzeug und gleichzeitig Symbol dessen zum Ausdruck einer patriarchalen Gesellschaftsordnung. Die Frau hat ihre Zugehörigkeit auszudrücken, wird abgeschottet, trägt zudem ein Symbol ihrer Sittsamkeit und verhält sich dank dessen auch nach diesen Maßstäben sittsam und ehrbar. Dieses binärgeschlechtliche Gesellschaftsmodell basiert auf der Vorstellung des Mannes als Oberhaupt der Familie und damit auf streng patriarchalhierarchischen Strukturen. Der Frau kann danach jedenfalls nicht der gleiche gesellschaftliche Rang zukommen wie dem Mann. Der Vollschleier als strengste Form der Verschleierung und damit auch wirksamste Abschottung, die auch nach Vorstellung der Trägerinnen zugleich nur gegenüber dem Ehemann und einigen weiteren Familienmitgliedern abgelegt werden darf, kann somit plausibel als ein Symbol patriarchaler gesellschaftlicher Ordnung betrachtet werden, in der die Frau zumindest in der Öffentlichkeit nur in Abhängigkeit vom und in Zuordnung zum Mann existiert und ihm jedenfalls im öffentlichen Leben untergeordnet ist. Ferner können diese Überlegungen auch zu der Frage führen, ob dem Vollschleier plausibel die Bedeutung entnommen werden kann, die Frau unterstehe dem Mann nicht nur in gesellschaftlicher Hinsicht, sondern sei per se minderwertig gegenüber ihm. Eine solche Bedeutung würde nicht mehr allein den Grundsatz der Geschlechtergleichheit betreffen, sondern wäre auch mit Blick auf die Menschwürde zu diskutieren. Der Frau wird der private Raum zugewiesen – bzw. weist sie ihn sich selbst zu oder unterstützt dies zumindest, indem sie diesen Weg für sich wählt. Damit ist ihr der Bereich zugeteilt, in dem sie für Kindererziehung und Reproduktions- und Pflegearbeit zuständig ist, also auch derjenige Bereich, in dem sie kaum oder gar keine Chance auf ein eigenes Einkommen hat. Einer Bedeutung der „Minderwertigkeit“ im Wortsinne vermag damit aber nicht begründet werden. Eher geht hiermit eine durchaus plausible Bedeutung des Rückzugs ins Private einher. Auch wenn es Frauen gibt, die angeben, den Vollschleier nur zu bestimmten Zeiten oder Anlässen zu tragen, so erschwert ein solcher in der Praxis das Berufsleben aus seiner Natur erheblich. Dies korrespondiert mit dem der Frau zugewiesenen Raum. Wenngleich eine Bedeutung und damit auch vertretene Ansicht der Betroffenen, die Frau sei minderwertig, wohl zu sehr auf Mutmaßungen basieren würde, so kann jedoch plausibel darauf erkannt werden, dass der Vollschleier Ausdruck einer männlich dominierten Gesellschaftsordnung und ein daraus resultierendes eingeschränktes Möglichkeitsspektrum für die Frau darstellt. Eine Ungleichheit der Geschlechter wird durch den Vollschleier ebenso symbolisiert wie auch die Bedeutung der Abhängigkeit der Frau vom Mann und eine Abschottung der Frau plausible Bedeutungen sind. Eine geringere Wertschätzung der Frau im Sinne einer „Minderwertigkeit“ lässt sich unter Beachtung des Aspekts des selbstbestimmten Schleiertragens aber eher nicht plausibel darlegen. Im Rahmen der zwangsweise und fremdbestimmten Verschleierung, bei der der Frau keine Autonomie über ihr Auftreten und Erscheinungsbild bis hin zu ihrem eigenen Körper zugebilligt wird, kann eine an-

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3. Teil: Diskussion möglicher Eingriffsziele und Rechtfertigungen

dere Auffassung aber plausibel werden. Objektiv ist dies für den europäischen Interpretationsraum derzeit aber nicht der Fall. Nach derzeitigem Kenntnisstand ist die zwangsweise Verschleierung in Europa nicht die vorrangige Form, sodass die Praxis des Schleiertragens sie objektiv auch nicht in jedem Fall zu symbolisieren vermag. dd) Der Schleier als Symbol der Unterdrückung der Frau durch den Mann Eine Bedeutung dahingehend, dass der Schleier ein Symbol der Unterdrückung der Frau sei, wird ebenfalls vertreten. „Unterdrückung“ meint, eine andere Person, häufig mit Gewalt oder unter Androhung von Gewalt oder anderen negativen Konsequenzen im Falle eines Widersetzens, daran zu hindern, frei zu entscheiden und entsprechend zu handeln. Für den Vollschleier ist derzeit nicht bekannt, wie viele Fälle von Zwang existieren. Jedenfalls im Geltungsbereich der EMRK ist allerdings bekannt, dass wie dargestellt Frauen den Vollschleier auch aus eigenen Beweggründen tragen, ihn als Teil ihrer Identität betrachten und glaubwürdig darlegen, dass sie sich selbstbestimmt zu dieser Lebensweise entschlossen haben. Es ist derzeit nicht plausibel, dem Vollschleier die Bedeutung der Unterdrückung, so wie sie hier definiert wird, dergestalt beizumessen, dass er diese stets und immer symbolisiert – auch wenn dies nicht bedeutet, dass er nicht dennoch das Ergebnis von Zwang sein kann: Im Anwendungsraum der EMRK, in dem anders als etwa in Saudi-Arabien keine gesetzlichen Pflichten zur Verschleierung bestehen, kann durchaus Zwang im Privaten auf betroffene Frauen ausgeübt werden. Diese Fälle sind nicht zu leugnen, ihre Zahl und ihr Anteil an der Zahl aller in Europa den Vollschleier tragenden Frauen sind unbekannt. Es ließe sich argumentieren, dass diese Zahl auch nicht entscheidend sein kann, wenn normativ zu bestimmen ist, welche Bedeutung dem Vollschleier zukommen soll. Es ist aber zu beachten, dass die hier diskutierte Bedeutung der Unterdrückung direkt an eine individuelle Handlung anknüpft: die Drohung durch den jeweils den Zwang Ausübenden. Wenn diese in einem Gegenstand symbolisiert sein soll, ist es relevant, ob und in welchem Maße bzw. Verhältnis sie tatsächlich vorliegt. Auf der anderen Seite stehen Fälle von Frauen, die sich selbstbestimmt für den Vollschleier, teilweise auch gegen den Unwillen der Familie und des (zukünftigen) Ehemannes, entschieden haben. Auch aufgrund dieser anders gelagerten Fälle, in denen Frauen ihren Vollschleier als ihre eigene Wahl verteidigen, kann nicht unmittelbar auf symbolische Bedeutung der Unterdrückung der Frau geschlossen werden. Derzeit ist es damit nicht plausibel, von einer Symbolbedeutung der Unterdrückung auszugehen, sehr wohl aber wie oben gezeigt, von einer Symbolhaftigkeit der Abschottung und Abhängigkeit der Frau, einer patriarchalen Gesell-

C. Gleichheit der Geschlechter als Element der Rechte und Freiheiten anderer 187

schaftsordnung und Sexualmoral und folglich einer Ablehnung der Gleichstellung der Geschlechter.

III. Zwischenergebnis Der Schutz und die Förderung der Geschlechtergleichheit kann grundsätzlich ein legitimes Eingriffsziel gem. Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK darstellen. Als ein der EMRK zugrundeliegendes elementares Prinzip kann sie ein Element der in den Abs. 2 genannten „Rechte und Freiheiten anderer“ angesehen werden. Die Geschlechtergleichheit ist ein derart grundlegendes Prinzip, dass es die Ausübung der Freiheitsrechte frei von staatlicher Willkür überhaupt erst ermöglicht. Vorliegend ist nicht bekannt, wie viele Frauen zum Tragen des Vollschleiers gezwungen werden, sodass ein allgemeines Verbot dem Individualinteresse dieser Frauen dienen könnte. Gleichzeitig können solche Fälle aber auch nicht ausgeschlossen werden. Es ist auch möglich, dass die Mehrheit der den Vollschleier tragenden Frauen dies freiwillig tut und gleichzeitig dennoch andere Frauen auch hierzu gezwungen werden. Nichtsdestotrotz kann der Schutz der Förderung der Geschlechtergleichheit auch dann legitimes Eingriffsziel sein, wenn Frauen sich freiwillig und selbstbestimmt für diesen entscheiden. Die emanzipatorische Bedeutung der Geschlechtergleichheit ist ein gesamtgesellschaftlicher Wert. Er ist auf Individuen und Individualrechte rückführbar, erschöpft sich aber nicht auf der individuellen Ebene. Die Geschlechtergleichheit kann als grundlegendes Prinzip der EMRK vielmehr auch dann unter die Rechte und Freiheiten anderer zu fassen sein, wenn die individuell durch die Maßnahme zum Schutz der Gleichheit betroffene Person diejenige ist, die sich in Ausübung ihrer Religion freiwillig gegen die Geschlechtergleichheit wendet. Dieses Verständnis wird auch durch Art. 17 EMRK gestützt. Den Schutz und die Förderung der Geschlechtergleichheit bereits als legitimes Ziel abzulehnen, ist dagegen verfehlt. Ein solcher Ansatz wird der Unterscheidung von legitimem Ziel und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht gerecht. Um sodann beurteilen zu können, ob der Grundsatz der Geschlechtergleichheit durch die Praxis der Vollverschleierung berührt ist, muss ermittelt werden, welche Symbolik dem Vollschleier zukommt. Hierbei ist ein objektiver Maßstab anzulegen, der Willkür verhindert. Es kann – anders als weitestgehend im Rahmen des Schutzbereichs – hierbei nicht allein auf die Sicht der Betroffenen ankommen. Die Geschlechtergleichheit ist ein objektiver Konventionswert. Ob dieser berührt ist, müssen die Mitgliedsstaaten und der EGMR objektiv beurteilen dürfen. Abzustellen ist dabei auf einen objektiven Empfängerhorizont einer verständigen Dritten Person, die mit dem Vollschleier als Symbol konfrontiert wird. Dem Vollschleier können danach als Symbol die Bedeutungen Geschlechtertrennung, Gesellschaftsordnung unter männlicher Dominanz und patriarchaler Hierarchie, Abschottung der Frau sowie geschlechtsspezifische Gebote zu Sittsamkeit und Keuschheit beigemessen werden. Diese Bedeutungen können aus

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3. Teil: Diskussion möglicher Eingriffsziele und Rechtfertigungen

der Perspektive eines objektiven Empfängers innerhalb der europäischen Interpretationsgemeinschaft dem Vollschleier entnommen werden. Gerichte können diese objektiv ermittelbaren Bedeutungen der Vollverschleierungspraktik auf der Schrankenebene in ihren Erwägungen berücksichtigen, ohne damit den Inhalt einer Religion zu bewerten. Weitergehende Motive der den Schleier selbst tragenden Frauen bleiben hiervon unberührt. Bedeutungen dahingehend, dass der Schleier unmittelbar eine Minderwertigkeit der Frau oder deren Unterdrückung nach der hier vertretenen Definition symbolisiert, können dagegen derzeit im europäischen Kontext nicht ohne Weiteres als allgemein plausibel erachtet werden. Der Schutz der Förderung des Gleichheitsgrundsatzes kann damit grundsätzlich in seiner Ausprägung als konsensgetragener Verfassungswert und grundlegender Konventionswert legitimes Ziel sein.

D. Schutz der öffentlichen Sicherheit als Eingriffsziel eines Verbots religiöser Kleidung Ein weiteres öffentlich diskutiertes Eingriffsziel und schließlich auch eine Begründung für die Verbotsgesetze war der Schutz der öffentlichen Sicherheit.122 Die vollständige Verhüllung könne zum Begehen von Straftaten genutzt werden, eine Identifizierung der Person etwa durch Zeugen sei nicht möglich. So bezog sich die französische Abgeordnete Françoise Briand von der UMP auf einen Bankraub im Februar 2010, bei dem zwei Personen den Vollschleier getragen hatten, als sie darauf verwies, dass Zeugen nicht einmal hätten sagen können, ob es sich bei den Tätern bzw. Täterinnen um Männer oder Frauen gehandelt habe.123 Das Eingriffsziel der öffentlichen Sicherheit ist sowohl in Art. 8 Abs. 2 als auch in Art. 9 Abs. 2 EMRK aufgeführt. Der Begriff wird jedoch in den authentischen Sprachfassungen nicht einheitlich verwendet. Während Art. 8 Abs. 2 EMRK in der französischen Sprachfassung von „sûreté publique“ und daneben von der „sécurité nationale“ (dt.: nationale Sicherheit) als legitime Eingriffsziele spricht, wird in Art. 9 Abs. 2 EMRK von „sécurité publique“ gesprochen. In der englischen Sprachfassung wird sowohl in Art. 8 Abs. 2 EMRK als auch in Art. 9 Abs. 2 EMRK einheitlich das Eingriffsziel „public security“ genannt. Die Ver122 Für Frankreich: Assemblée Nationale, Documents parlementaire Projet du Loi nº 2520 vom 19. Mai 2010, S. 4; für Belgien: Kamer van Volksvertegenwoordigers/ Chambre des Représentants, DOC 53 0219/004, S. 10, 13; in den Verfahren: EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR-2014-III, Ziffer 82, 115; EGMR, Urteil vom 11. Juli 2017, Belcacemi und Oussar gegen Belgien, Nr. 37798/13, Ziffer 48. Die Begründungen der Gesetze in Dänemark, Österreich und der Schweiz führten dieses Ziel nicht mehr auf. 123 Assemblée Nationale, XIIIe législature, Session extraordinaire 2009–2010, 11e séance, Compte rendu intégral, séances 7 juillet 2010, Journal officiel de la République française 70, 5413.

D. Schutz öffentlicher Sicherheit

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wendung der unterschiedlichen Formulierungen veranlasste einige Autoren zu der Ansicht, dass die öffentliche Sicherheit im Sinne der Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK nicht gleichzusetzen sei mit nationalen Konzeptionen der öffentlichen Sicherheit, etwa in Polizeigesetzen. 124 Der EGMR misst dem Unterschied der Wortlaute in der französischen Sprachfassung dagegen keine weitere Bedeutung bei.125 In der deutschen amtlichen Übersetzung wurde der Begriff der öffentlichen Sicherheit schließlich 2002 im Zuge einer Neuübersetzung in Art. 8 Abs. 2 EMRK aufgenommen. Bis dahin nannte die deutsche, nicht authentische Sprachfassung der EMRK in Art. 8 Abs. 2 nicht die „öffentlichen Sicherheit“, sondern die „öffentliche Ruhe und Ordnung“ als legitimes Eingriffsziel und damit ebenfalls in den Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK je unterschiedliche Begriffe.126 In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, dass anders als in Art. 8 Abs. 2 EMRK in Art. 9 Abs. 2 EMRK die „Verhinderung von Straftaten“ nicht als legitimes Eingriffsziel genannt wird, die es aber jedenfalls in Art. 8 Abs. 2 EMRK grundsätzlich von der öffentlichen Sicherheit abzugrenzen gilt. Nichtsdestotrotz besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass die in beiden Artikeln genannte „public safety/sûreté publique“ bzw. „sécurité publique“ auch solche Maßnahmen umfasst, die der Prävention zukünftiger Straftaten dienen127, insbesondere auch deshalb, weil das Ziel der Verhinderung von Straftaten vorrangig der Rechtfertigung von Maßnahmen der Strafverfolgung dient.128 Das Eingriffsziel der öffentlichen Sicherheit i. S. d. Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK umfasst nach allgemeiner Auffassung die Sicherheit des Staates und seiner Einrichtungen sowie die Sicherheit von Leben und Gesundheit der Bevölkerung und von Sachgütern.129 Der EGMR hat es auch hinsichtlich der öffentlichen Sicherheit bislang aber unterlassen, eine verbindliche Definition zu treffen.130

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Grabenwarter, in: Pabel/Schmahl, IntKommEMRK, Art. 9 Rn. 83; Hauer, S. 129. Exemplarisch EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR-2014-III, Ziffer 115. 126 Vgl. amtliche Übersetzungen in BGBl. 1952 II, 689 und BGBl. 2002 II, 1059. Die österreichische Übersetzung nennt in Art. 8 Abs. 2 EMRK auch heute noch die öffentliche Ruhe und Ordnung anstelle der öffentlichen Sicherheit. Die beiden deutschsprachigen amtlichen Übersetzungen übersetzen die Termini „public safety/sûreté publique“ damit unterschiedlich. 127 Blum, S. 114. 128 Wildhaber/Breitenmoser, in: Pabel/Schmahl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 621; EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR-2014III, Ziffer 115, der insbesondere auch das Ziel der Verhinderung von Identitätsbetrug mittels Gesichtsverschleierung im Rahmen der öffentlichen Sicherheit anerkennt. 129 Grabenwarter, in: Pabel/Schmahl, IntKommEMRK, Art. 9 Rn. 83; zur Erfassung der Sicherheit von Personen und Gegenständen sowie Verhinderung von Straftaten vgl. EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR-2014III, Ziffer 115. 130 Dies korreliert mit der Praxis des EGMR, Eingriffe nur in seltenen Ausnahmefällen an einem fehlenden Eingriffsziel scheitern zu lassen. 125

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3. Teil: Diskussion möglicher Eingriffsziele und Rechtfertigungen

Der EGMR erkannte im Verfahren S.A.S. gegen Frankreich die öffentliche Sicherheit als mit dem Gesetz und dessen Durchsetzung verfolgtes legitimes Ziel an, wenngleich er Zweifel äußerte, ob die öffentliche Sicherheit tatsächlich das mit dem Gesetz verfolgte Ziel gewesen sei.131 Es ist im Rahmen der Frage, ob die Verbotsgesetze der öffentlichen Sicherheit dienen können, ausreichend, dass es zumindest nicht ausgeschlossen ist, dass eine Verhüllung des Gesichts an öffentlich zugänglichen Orten bei und zur Begehung von Straftaten verwendet werden kann, um deren Verfolgbarkeit mangels Identifizierbarkeit durch Zeugen zu verhindern. Insofern ist auch der weite Entscheidungsspielraum, den der EGMR den Vertragsstaaten bei der Bestimmung des Zwecks, den sie mit der Maßnahme verfolgen, zu beachten. Anzeichen für eine Überschreitung dieses Spielraums, zumal im Rahmen einer solch engen Auslegung der öffentlichen Sicherheit zur Verhinderung von Straftaten, liegen an dieser Stelle nicht vor. Mithin können die allgemeinen Verschleierungsverbote das legitime Ziel der öffentlichen Sicherheit verfolgen.

E. Schutz der Menschenwürde Schließlich ist in gebotener Kürze auch darauf einzugehen, dass die Menschenwürde den Verbotsgesetzen – wie im Ergebnis auch vom EGMR festgestellt – nicht als legitimes Eingriffsziel im Rahmen der Rechte und Freiheiten anderer gem. Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK dienen kann. Der EGMR beschränkte seine Feststellungen darauf, dass die Würde der von den Verboten adressierten Frauen nicht als Eingriffsziel dienen könne. Der Schleier sei (im Falle der Freiwilligkeit) vielmehr gerade Ausdruck ihrer Identität und des gesamtgesellschaftlichen Pluralismus. Auch lägen keine Erkenntnisse vor, dass die Frauen mittels der Verschleierung die Menschenwürde anderer Menschen angreifen wollten.132 Zu einer weiteren Dimension der Menschenwürde als allgemeines Prinzip der EMRK über ein Individualrechtsgut hinaus und zur Frage einer Unverzichtbarkeit durch die Rechtsträgerinnen hat sich der EGMR in seinen Entscheidungen zu den Verschleierungsverboten nicht geäußert.

I. Die Menschenwürde als Wert der EMRK Die Menschenwürde ist in der EMRK an keiner Stelle explizit genannt, allein die Präambel des Zusatzprotokolls Nr. 13 über die vollständige Abschaffung der Todesstrafe bezieht sich auf die Würde des Menschen. Der Inhalt und positive Gehalt des Konzeptes Menschenwürde nach der EMRK wurde bislang nicht ab131 EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffer 115. 132 EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffer 120.

E. Schutz der Menschenwürde

191

strakt formuliert.133 Aus einer Analyse der Rechtsprechung des EGMR lässt sich mit Ronc aber festhalten, dass zum materiellen Gehalt der Menschenwürde als grundlegendes Prinzip der EMRK eine Werthaftigkeit des Menschen allein aufgrund seines Menschseins gehört. Der Mensch ist Subjekt, sodass eine Verobjektivierung und Instrumentalisierung des Menschen zum bloßen Werkzeug die Menschenwürde verletzt. Zudem stellen Selbst- und Fremdachtung Aspekte der Menschenwürde dar, sodass der Mensch vor Erniedrigung zu schützen ist.134 Die Menschenwürde kann als derart grundlegendes Prinzip angesehen werden, dass sie schon in ihrer individuell ausgeprägten Dimension hinsichtlich jedes einzelnen Menschen – nicht erst als grundlegende Konventionskonzeption – als nicht dispositives Rechtsgut erachtet werden kann. Der EGMR hat die Unverzichtbarkeit auf ein Konventionsrecht bislang allein für rassistische Diskriminierungen festgestellt.135 Insoweit ließe sich aber mit Ronc argumentieren, dass dort, wo der Menschenwürdekern eines Konventionsrechts betroffen ist, die Verzichtbarkeit durch den Rechtsträger selbst auch endet.136 Der EGMR hat es versäumt, hierzu im Rahmen der Verfahren um die Gesichtsverschleierungsverbote Stellung zu beziehen.

II. Bezugnahme auf die Menschenwürde im Rahmen der Verschleierungsverbote Eine Bezugnahme auf die Menschenwürde als Schutzgut dürfte aber jedenfalls nur dann zulässig sein, wenn die Menschenwürde durch die Praxis der Vollverschleierung überhaupt berührt würde. Denn wenn die Praxis der Vollverschleierung eine Wirkung hätte, die grundsätzlich mit der Menschenwürde in Konflikt stünde, könnte eine Maßnahme auch gegen Frauen gerichtet werden, die den Schleier freiwillig tragen. Dies ist derzeit jedoch nicht anzunehmen. Denn dem Vollschleier als Symbol ist derzeit keine generelle Bedeutung dahingehend zu entnehmen, dass er neben der Unkenntlichmachung auch in jedem Fall unweigerlich eine Objektivierung der Frau symbolisiert. Zwar symbolisiert der Schleier die Geschlechtertrennung und ist auch Ausdruck einer patriarchalen Ordnung sowie bestimmten Sittsamkeits- und Sexualmoral. Dies mag aus frauenrechtlicher Perspektive nur schwer erträglich sein, ein Angriff auf die Menschenwürde als Kern des Menschseins ist wohl aber erst dann zu bejahen, wenn nach objektivem Empfängerhorizont allein durch den Schleier auch eine Minderwertigkeit und 133

Ronc, S. 361. Grundlegend zum Prinzip der Menschenwürde nach EMRK Ronc, passim. Im Besonderen ders., S. 363 ff. 135 EGMR, Urteil vom 13. November 2007, D.H. u. a. gegen Tschechien, Nr. 57325/00, ECHR-2007-VI, Ziffer 204; EGMR, Urteil vom 11. Dezember 2012, Sampanis u. a. gegen Griechenland, Nr. 32526/05, Ziffer 93 ff. 136 Ronc, S. 385. 134

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3. Teil: Diskussion möglicher Eingriffsziele und Rechtfertigungen

Verobjektivierung der Frau symbolisiert würde, mithin ein Angriff auf ihren Wert als Mensch stattfände. Hieran sind angesichts der Bedeutsamkeit der Würde des Menschen – und der Folgen einer Unverzichtbarkeit auf sie – hohe Hürden zu stellen. Ein Angriff auf die Menschenwürde und daraus folgend Schutzpflichten des Staates wären zu bejahen, wenn sich belegen ließe, dass die Vollverschleierung überwiegend zwangsweise erfolgt. Dies ist derzeit aber wie gezeigt nicht der Fall.137

F. Verhältnismäßigkeitsprüfung I. Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit Nach der in dieser Arbeit vertretenen Auffassung ist die Geschlechtergleichheit als grundsätzlich legitimes Eingriffsziel der allgemeinen Verschleierungsverbote anzuerkennen. Es ist dabei unerheblich, dass die Gesetze allgemein formuliert sind und in ihrem Wortlaut selbst nicht auf den geschlechtsspezifischen muslimischen Gesichtsschleier hinweisen. Ferner ist auch der Schutz der öffentlichen Sicherheit ein legitimes Eingriffsziel. Damit die Eingriffe aufgrund der Verbotsnormen im Sinne der Konvention gerechtfertigt sind, müssen sie das legitime Ziel aber auch in verhältnismäßiger Weise verfolgen: Gem. Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK sind die Eingriffe nur dann rechtmäßig, wenn sie in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind. Notwendig sind sie wiederum dann, wenn ein „pressing social need“, mithin ein dringendes gesellschaftliches Bedürfnis für den Eingriff zur Erreichung des Ziels besteht.138 Gleichwohl kommt dem jeweiligen Mitgliedsstaat bei der Beurteilung, ob ein solch dringendes Bedürfnis vorliegt, ein Beurteilungsspielraum (margin of appreciation) zu, der je nach betroffenem Rechtsgut, kollidierendem Schutzgut und Eingriffsintensität variieren kann.139 Grund hierfür ist, dass die Fragen der Verhältnismäßigkeit 137 Vgl. dazu in diesem Teil unter C. II. und III. Im Falle der zwangsweisen Verschleierung dürfte die Menschenwürde gleichwohl berührt sein. Auch insoweit ist aber auf den Fokus der vorliegenden Arbeit zu verweisen. Zudem greifen in solchen Fällen der Negierung der Autonomie der Frau Strafgesetze über die Nötigung, sodass allgemeine Verschleierungsverbote weder erforderlich sind, noch sind sie geeignet, da sie allein den öffentlichen Raum und nicht den gesamten Lebensraum der Frauen betreffen, sodass ein „Verbannen der Frauen ins Private“ realistischerweise befürchtet werden könnte (dazu im Folgenden). 138 EGMR, Urteil vom 26. April 1979, Sunday Times gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 6538/74, Series A30, Ziffer 59, 62; EGMR, Urteil vom 10. November 2005, Leyla S¸ahin gegen Türkei, Nr. 44774/98, ECHR-2005-XI, Ziffer 115; Meyer-Ladewig/Nettesheim, in: Meyer-Ladewig u. a., EMRK, Art. 9 Rn. 110. Das Prinzip entspricht weitgehend dem Verhältnismäßigkeitsprinzip in der Grundrechtsrechtsprechung und der Rechtsprechung im Verfassungs- und öffentlichen Recht der Mitgliedstaaten insgesamt, Wildhaber/Breitenmoser, in: Pabel/Schmahl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 660. 139 Grabenwarter, ECHR-Commentary, Art. 9 Rn. 31, Art. 8 Rn. 51. Insbesondere im Rahmen von Art. 8 EMRK richten sich die Anforderungen an die Notwendigkeit auch danach, welche Sphäre des geschützten Rechtsguts betroffen ist (Privat- oder Intimsphäre).

F. Verhältnismäßigkeitsprüfung

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stets nur im Wege einer Abwägung zu beantworten ist, bei der auch nationale Besonderheiten zu berücksichtigen sind. Ein weiterer Beurteilungsspielraum kann sich ergeben, wenn die nationalen Regelungen der Mitgliedsstaaten sehr unterschiedlich ausfallen und sich ein gemeinsamer Regelungsstandard nur schwer oder gar nicht ermitteln lässt. Nichtsdestotrotz verbleibt die Letztentscheidungskompetenz über das Vorliegen des dringenden gesellschaftlichen Bedürfnisses und der Angemessenheit des Eingriffs stets beim Gerichtshof.140 Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung berücksichtigt der EGMR die grundlegenden Prinzipien des Pluralismus, der Toleranz und der offenen Geisteshaltung.141

II. Verhältnismäßigkeit hinsichtlich der Geschlechtergleichheit Vorab ist hinsichtlich der Erreichung des Ziels des Schutzes der Geschlechtergleichheit anzumerken, dass es schon zweifelhaft ist, ob die Verbote bezüglich der Frauen, die tatsächlich zum Tragen des Vollschleiers gezwungen werden, die Voraussetzung der Geeignetheit erfüllen. Gute Gründe sprechen dafür, dass wenn Frauen auf eine Art und Weise zu einer Vollverschleierung gezwungen werden, die sie vom sozialen Leben abschotten sollen, durch die gegenständlichen Verbotsnormen tatsächlich aus ihrer Zwangslage befreit werden könnten oder nicht vielmehr dann gezwungen werden würden, sich gänzlich vom öffentlichen gesellschaftlichen Leben fernzuhalten. Damit würde es neben der wegen bereits bestehender Regelungen in den nationalen Strafgesetzen zur Nötigung bereits fehlenden Erforderlichkeit auch an der Geeignetheit zur Erreichung des verfolgten Ziels mangeln. Anderes gilt im Hinblick auf jene Frauen, die sich selbstbestimmt für die Vollverschleierung entscheiden. Hierbei ist hervorzuheben, dass sich die Verbotsnorm an Privatpersonen richtet, die sich im öffentlichen, der Allgemeinheit zugänglichen Raum bewegen. Wird von diesen Personen nun gefordert, ihre Religionsausübung zu unterlassen, um nicht mit der Sprache eines Symbols gegen einen allgemeinen Grundsatz der Konvention zu verstoßen, so nähme man die einzelne, ihr Freiheitsrecht ausübende Frau in die Pflicht, die Werte der Konvention im Alltag dergestalt zu vertreten, dass sie keine ablehnende Haltung gegenüber den Konventionswerten vertritt. Es muss aber auch die Freiheit der privaten Person sein können, mit staatlichen Zielen nicht einverstanden zu sein. Mehr noch, die Frauen als Privatpersonen sind nicht unmittelbar Verpflichtete der EMRK. Dies sind die Staaten. Auch eine mittelbare Drittwirkung dürfte der EMRK nicht generell beigemessen werden können. Zwar ließe sich die Entscheidung des EGMR 140

Grabenwarter, ECHR-Commentary, Art. 8 Rn. 45, Art. 9 Rn. 31. EGMR, Urteil vom 29. April 1999, Chassagnou u. a. gegen Frankreich, Nr. 25088/94, 28331/95, 28443/95, ECHR-1999-III, Ziffer 112; EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR-2014-III, Ziffer 123 ff. 141

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3. Teil: Diskussion möglicher Eingriffsziele und Rechtfertigungen

im Fall Kokkinakis gegen Griechenland in diese Richtung verstehen. Hier entschied der Gerichtshof immerhin, dass auch Private verpflichtet sein können, die negative Religionsfreiheit der anderen zu respektieren und zu wahren. Dennoch dürfte diese Entscheidung nicht dahingehend zu generalisieren sein, dass auch Private Verpflichtete aus der EMRK sind.142 Vielmehr ist die Urteilspassage im Lichte der staatlichen Schutzpflichten zu sehen, zu denen es gehört, ein entsprechendes gesellschaftliches Klima der Toleranz zu schaffen (s. o.). Schließlich dürfte im Sinne der Geschlechtergleichheit auch das weithin vertretene Modell der Trennung des privaten und des öffentlichen Raums, wobei der private Bereich der Religionsausübung ohne staatliche Einflussnahme vorbehalten sein soll, ungeeignet sein, wenn die Gleichberechtigung das Ziel einer Maßnahme sein soll. Denn die Religionsfreiheit und auch die Ausübung eines Glaubens prägen die Identität ebenso umfassend, wie auch die Gleichberechtigung der Geschlechter als staatliche Aufgabe nicht allein auf den öffentlichen Bereich beschränkt ist.143 Die Geeignetheit einer Maßnahme, die allein den öffentlichen Raum in den Blick nimmt, kann daher durchaus als im Hinblick auf die Gleichberechtigung ungeeignet erachtet werden. Eine plausible Symbolbedeutung der Geschlechtertrennung, die auf Ebene der Schranken angenommen werden darf, wiegt bei alledem auch nicht schwer genug, als dass eine hinreichende Gefahr für den allgemeinen Grundsatz der Förderung der Geschlechtergleichheit angenommen werden könnte. Wenngleich es die Allgemeinheit oder zumindest die Mehrheit der Menschen im öffentlichen Raum stören kann, mit einem Symbol, das, wenngleich nicht zwangsläufig aus subjektiver Sicht der den Vollschleier tragenden Frau, so doch aus objektiv nachvollziehbarer Sicht für die Trennung der Geschlechter und eine patriarchale Gesellschaftsordnung steht, so stellt dies noch keine ausreichende Gefahr dar, die ein Verbot dieser Form der Religionsausübung und der privaten Lebensführung rechtfertigen kann. Der Eingriff in die Rechte der betroffenen Frauen wiegt dagegen schwer. Die freiwillige Verschleierung ist Religionsausübung und Ausdruck der eigenen Identität und des Selbstverständnisses. Solange der Angriff auf die Geschlechtergleichheit nicht ein gewisses Gewicht erreicht, kann der Schutz der Geschlechtergleichheit einen solchen Eingriff nicht rechtfertigen. Anders wäre dies, wenn dem Vollschleier objektiv eine Symbolbedeutung dergestalt innewohnen würde, dass eine Unterdrückung der Frau befürwortet und der Menschenwürdekern der Geschlechtergleichheit, der gleiche Wert des Menschseins, berührt würde. Dies ist aber nach dem oben Festgestellten nicht der Fall. Etwas anderes könnte sich auch ergeben, wenn sich das Verbot auf den staatlich verantworteten Raum bezöge und etwa verbeamtete Lehrerinnen adressieren

142 143

So auch Dujmovits, S. 161. Lembke, S. 192.

F. Verhältnismäßigkeitsprüfung

195

würde. Bezüglich eines solchen Verbots mit begrenztem räumlichen und persönlichen Anwendungsbereich ließe sich argumentieren, dass durch die verantwortungsvolle soziale und den religiös neutralen Staat repräsentierende Rolle der Lehrerin das Allgemeininteresse der Förderung des Grundsatzes der Geschlechtergleichheit in höherem Maße berührt wäre, sodass eine hinreichende Gefahr bejaht werden könnte.144 Auch dies ist aber nicht der Fall. Der einzelnen Frau muss grundsätzlich zugestanden werden, sich indirekt durch die Ausübung ihrer Rechte aus Art. 8 und Art. 9 EMRK gegen Grundsätze der EMRK wenden zu können. Von ihr zu Verlangen, sich in der Öffentlichkeit zur Förderung der Geschlechtergleichheit zu bekennen oder ihr zumindest nicht zu widersprechen, ist im Sinne des Schutzes der Geschlechtergleichheit nicht verhältnismäßig. Auch ein gegebenenfalls weiter Beurteilungsspielraum der Mitgliedsstaaten vermag hieran nicht zu ändern. Zunächst kann bereits angezweifelt werden, ob ein solcher – zumindest in den Entscheidungen S.A.S. gegen Frankreich und Belcacemi und Oussar gegen Belgien – wie vom EGMR für Frankreich und Belgien angenommen werden konnte.145 Denn diese beiden Staaten konnten sich zum Zeitpunkt der beiden Verfahren jedenfalls nicht auf einen breiten Konsens unter den Mitgliedsstaaten zu ihren Gunsten berufen. Vielmehr war zu diesem Zeitpunkt von einem gegenteiligen Konsens auszugehen: alle anderen Staaten hatten den Vollschleier gerade nicht allgemein in der gesamten Öffentlichkeit verboten.146 In einer demokratischen Gesellschaft ist ein allgemeines Verbot, das sich an Privatpersonen im gesamten öffentlichen Raum richtet, derzeit nicht angemessen und mithin nicht notwendig i. S. d. Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK.

III. Verhältnismäßigkeit hinsichtlich der öffentlichen Sicherheit Auch ein Eingriff zum Schutz der öffentlichen Sicherheit ist nicht als verhältnismäßig anzusehen. Zwar ist mit dem EGMR festzustellen, dass der Staat ein berechtigtes Interesse an der Verhinderung und Aufklärung von Straftaten haben kann. Hierzu kann die Erkennbarkeit und Identifizierbarkeit von Personen dienen. Insbesondere an besonders sensiblen und sicherheitsrelevanten Orten oder im Rahmen von spezifischen Sicherheitskontrollen – wie beispielsweise an Flughäfen – oder bei der Erstellung von Passbildern kann ein Verbot auch religiöser 144

Hörnle, Leviathan 1/2017, 8 (15). EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffer 129 f., 156. Da der EGMR die Geschlechtergleichheit allerdings schon als legitimes Ziel abgelehnt hat, trifft er seine Feststellungen zum Konsens im Rahmen der von ihm akzeptierten anderen Eingriffszwecke. 146 So statt vieler z. B. Ibold, KJ 48 (2015) 1, 83 (88). Dass die Gesetzgeber (bzw. Initiatoren) in Dänemark, Österreich und der Schweiz durch die Entscheidungen des EGMR wenigstens bestärkt wurden, lässt sich naheliegend vermuten, letztlich aber nicht belegen. 145

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3. Teil: Diskussion möglicher Eingriffsziele und Rechtfertigungen

Kleidungsstücke (bzw. die Pflicht zum Ablegen dieser) nach der Rechtsprechung des EGMR durchaus angemessen sein.147 Für ein generelles Gesichtsverschleierungsverbot im gesamten öffentlichen Raum bedürfte es aber der entsprechenden Notwendigkeit. Mit dem EGMR könnte eine solche nur angenommen werden, wenn es eine allgemeine Bedrohungslage für die öffentliche Sicherheit gäbe.148 Dies konnte bislang jedoch in keinem der Staaten, die ein allgemeines Verschleierungsverbot erlassen haben, nachgewiesen oder auch nur substantiiert behauptet werden. Auf der anderen Seite wiegt der Eingriff in die Rechte der betroffenen Frauen wie festgestellt schwer. Sie sind verpflichtet, einen Teil ihrer Identität bzw. des Ausdrucks ihrer Identität und Selbstbestimmung aufzugeben und die von ihnen (freiwillig) gewählte Form der Religionsausübung vollständig zu unterlassen.149 Dem Interesse des Schutzes der öffentlichen Sicherheit könnte dagegen gleichzeitig durch mildere und weniger grundrechtsintensive Maßnahmen gerecht werden, nämlich durch Verbotsgesetze mit räumlich und/oder personell beschränktem Anwendungsbereich. Die Verhältnismäßigkeit der Verbotsgesetze ist daher mangels Erforderlichkeit und Angemessenheit mit dem EGMR zu verneinen.

147 EGMR, Urteil vom 11. Januar 2005, Phull gegen Frankreich, Nr. 35753/03, ECHR-2005-I; EGMR, Urteil vom 4. März 2008, El Morsli gegen Frankreich, Nr. 15585/06 (Sicherheitskontrollen); EGMR, Urteil vom 13. November 2008, Mann Singh gegen Frankreich, Nr. 24479/07 (Pflicht zum Ablegen religiöser Kopfbedeckung auf Passbildern). 148 EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffer 139. 149 Ebenda.

Vierter Teil

Besondere Betrachtung der Mindestanforderungen des „vivre ensemble“ als Instrument der Rechtfertigung von Eingriffen in Art. 8 Abs. 1 und Art. 9 Abs. 1 EMRK Im vorliegenden Problemfeld der Vollverschleierungsverbote lassen sich zwei kulturrelevante Verhaltensweisen erkennen, die miteinander in Konflikt stehen: Die frei gewählte Verhüllung des Gesichts in der Öffentlichkeit kollidiert mit der sozialen Erwartung an ein in der Öffentlichkeit freies und sichtbares Gesicht. Während ein Eingriff zum Schutz der Geschlechtergleichheit nach hier vertretener Auffassung zwar ein grundsätzlich legitimes Ziel verfolgt, aber nicht verhältnismäßig ist, und auch ein Eingriff zum der Schutz der öffentlichen Sicherheit nicht gerechtfertigt werden kann, da er nicht erforderlich wäre und schließlich auch der Schutz der öffentlichen Ordnung nach Auffassung des EGMR kein legitimes Eingriffsziel nach Art. 8 Abs. 2 EMRK darstellt1, nimmt der Gerichtshof letztlich „die Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben“, das „vivre ensemble“, als Element der Rechte und Freiheiten anderer gem. Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK und damit legitimes Eingriffsziel an. Dieses sei in Ausgleich mit der religiös motivierten Handlung und damit der Religionsausübungsfreiheit sowie dem Recht auf private Lebensführung der betroffenen Personen zu bringen. Das Konstrukt der Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben erlaubt es, die Besonderheit des umfassenden Anwendungsbereichs der Verbotsgesetze – personell wie örtlich – zu berücksichtigen. Anders als das Argument der Laizität in Frankreich könnte eine Art „Bürgerinnenpflicht“ zur Wahrung dieser Mindestanforderungen auch solche Frauen verpflichten, die allein Privatpersonen sind und nicht als Repräsentantinnen des Staates auftreten oder sich in staatlich verantworteten Räumen bewegen. In den Gesetzgebungsverfahren zu den Vollverschleierungsgeboten wurde stets auf die Besonderheit der Beschaffenheit des Vollschleiers verwiesen: Dieser verdeckt – anders als andere, auch geschlechtsspezifische religiöse Symbole – das Gesicht, sodass die ihn tragende Person nicht identifizierbar ist. Mit dieser Eigenschaft stelle der Vollschleier folglich auch ein Hindernis in der zwischenmenschlichen Kommunikation dar. Dies habe auch Auswirkungen auf das soziale

1 EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffer 117.

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4. Teil: Betrachtung der Mindestanforderungen des „vivre ensemble‘‘

Miteinander in den europäischen Gesellschaften, in denen es einen normativen Wert darstelle, dass Menschen einander mit offenem Gesicht begegneten. Eine solche Argumentation ist nicht auf den französischen Rechtsraum – wie die laïcité – begrenzt, sondern kann europaweite Relevanz entfalten. Die Verbotsgesetze in Belgien, Dänemark, Österreich und der Schweiz erscheinen an diesem Punkt wie Echos der französischen Debatte und der in diesem Punkt der Argumentation der französischen Regierung folgenden Urteilsbegründung des EGMR im Verfahren S.A.S. gegen Frankreich.2 Mehr noch als bei den übrigen angeführten Eingriffszielen wird hier der Wertebezug der Argumentation deutlich. Es wird ein „Wir“ beschrieben, von dem sich einzelne „andere“ Personen abgrenzen wollten und so die Mindestanforderungen an das Zusammenleben und gesellschaftliche Grundwerte nicht achten würden. An dieser Stelle ergeben sich mehrere Punkte, die der näheren Betrachtung bedürfen. Zunächst ist zu untersuchen, wie die sich die Argumentation um die Mindestanforderungen an das Zusammenleben in den Debatten im Vorfeld der Verabschiedung der Verbotsgesetze entwickelt hat und ob sich daraus eine allgemeinere Aussage dahingehend treffen lässt, was unter den Mindestanforderungen an das Zusammenleben zu verstehen ist. Die Herleitung der schließlich juristischen Begründungsmodelle und ihrer Dogmatik aus ursprünglich staatsphilosophischen, politischen und gesellschaftstheoretischen Konzeptionen wird herausgearbeitet und kritisch beleuchtet, um notwendige Fragestellungen und mögliche Lösungswege aufzuzeigen. Daraus folgt die Frage, welches legitime Eingriffsziel der Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK diesbezüglich einschlägig sein kann. Die vom EGMR vertretene Auffassung, die Mindestanforderungen an das Zusammenleben könnten als Element der Rechte und Freiheiten anderer angesehen werden, deren Schutz einen Eingriff in Art. 8 und 9 Abs. 1 EMRK ggf. zu rechtfertigen vermag, wirft zwei wesentliche Fragen auf: Wer sind die „anderen“ und was ist unter deren „Rechten und Freiheiten“ im Sinne der Art. 8 und 9 Abs. 2 EMRK zu verstehen? Der EGMR bleibt eine Herleitung an dieser Stelle schuldig. Insbesondere stellt sich hierbei auch die Problematik der Abgrenzung zur in Art. 9 Abs. 2 EMRK genannten Schranke des Schutzes der öffentlichen Ordnung und der in Art. 8 Abs. EMRK genannten Aufrechterhaltung der Ordnung und ob die Mindestanforderungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens hier überzeugend subsumiert werden könnten. Eine theoretische Analyse soll hier Antworten liefern, die – mangels eigener Definition – vom Gerichtshof an dieser Stelle nicht zu erhalten sind.

2

Siehe Erster Teil, C. I. 3. und II. 3., III. 3., IV. 3., V. 2.

A. Die Entwicklung der „vivre ensemble‘‘-Argumentation

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A. Die Entwicklung der „vivre ensemble“-Argumentation im Zuge des französischen Gesetzgebungsverfahrens zum Verbotsgesetz Loi nº 2010-1192 und der Versuch der begrifflichen Annäherung Die von den Befürwortern eines allgemeinen Verbotsgesetzes angeführten Argumente zu Geschlechtergleichheit, Schutz der öffentlichen Sicherheit und der Würde der den Vollschleier tragenden Frauen wurden im Rahmen eines Diskurses dargebracht, der darüber hinaus wesentlich grundsätzlicher verlief und die Zugehörigkeit des Individuums zur Gesellschaft als republikanischem Kollektiv und die dieser Gemeinschaft zugrundeliegenden Werte thematisierte. Anders als in der Debatte um das Verbot religiöser Symbole an öffentlichen Schulen in den Jahren 2003 und 2004 diente dabei aufgrund der Ausweitung des gewünschten Anwendungsbereichs auf den allgemeinen öffentlichen Raum sowie Privatpersonen als Adressaten aber nicht vorrangig die laïcité als Anknüpfungspunkt, sondern das allgemeine gesellschaftliche „Miteinander“, das Zusammenleben, das „vivre ensemble“ – und seine Mindestvoraussetzungen. Zwar wurde auch das Prinzip der laïcité in der Debatte um ein Verbot des Vollschleiers angeführt, aber mangels Beschränkung des Anwendungsbereichs auf den staatlich verantworteten Raum eher als philosophisches und staatstheoretisches Konzept denn als ein der Praxis des Vollschleiertragens unmittelbar entgegenstehendes Verfassungsprinzip.3 Neben der Geschlechtergleichheit und der Menschenwürde wurde in der französischen Gesetzesbegründung 2010 unter Verweis auf das Prinzip der fraternité dargebracht, die Verhüllung dürfe im Sinne einer Wahrung der Mindestanforderungen an das Zusammenleben nicht geduldet werden.4 Die oben bereits dargestellte Entstehungsgeschichte des Gesetzes ist an dieser Stelle unter besonderer Betrachtung eben dieses „vivre ensemble“ wiederaufzugreifen und die politische Diskussion in einen rechtlichen Rahmen zu setzen. Bei der Betrachtung der „Mindestvoraussetzungen für das gesellschaftliche Zusammenleben“ als mögliches Eingriffsziel im Rahmen von Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK ist zunächst eine inhaltliche Annäherung an diesen unbestimmten und einer politischen Debatte entstammenden Terminus erforderlich.

3 Assemblée Nationale, Nº 2262, Rapport d’information au nom de la mission d’information sur la pratique du port du voile intégral sur le territoire nationale vom 26. Januar 2010, S. 93 f. 4 Assemblée Nationale, Nº 2520 Projet de Loi interdisant la dissimulation du visage dans l’espace public, S. 11.

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4. Teil: Betrachtung der Mindestanforderungen des „vivre ensemble‘‘

I. Entwicklung der Argumentation um das „vivre ensemble“ im Bericht der Gérin-Kommission 1. (Fehlende) Perspektiven Nachdem im Jahr 2008 sowohl der Conseil d’État als auch die bis 2011 existente Antidiskriminierungsbehörde Haute Autorité de lutte contre les discriminations et pour l’égalité (HALDE) in jeweils einer Entscheidung dem Vollschleier wenigstens implizit (so im Falle des CdÉ) eine mit den Werten der französischen Republik unvereinbare Bedeutung beigemessen hatten5, vollzog sich auch die darauf folgende Debatte unter der ständigen Frage, welche Bedeutungen dem Vollschleier innewohnen würden und ob sie und damit auch der Vollschleier als solcher mit den Werten der französischen Republik (un-)vereinbar wäre. Bereits ohne weitergehende inhaltliche Auseinandersetzung ist ein Aspekt bemerkenswert, der die Zusammensetzung der Akteure im Rahmen der seinerzeitigen öffentlichen Debatte um die Verbotsgesetze betrifft: Die Zumessung spezifischer Bedeutungen des Vollschleiers erfolgte durch Vertreter der Politik der öffentlichen Gewalt, mithin des Staates, unter ihnen Vertreter der Exekutive wie auch der Legislative und mit dem CdÉ der Judikative. Wenngleich die Prüfung und Beurteilung der Plausibilität dem Staat durchaus im Rahmen der Rechtfertigung eines freiheitsbeschränkenden Eingriffs wie in dieser Arbeit vertreten zugestanden werden kann, so ist dennoch augenscheinlich, dass die politische Diskussion um den Vollschleier die Perspektiven derjenigen, die den Vollschleier trugen oder gar dazu gezwungen wurden, aus erster Hand kaum berücksichtigte. Dies gilt auch für die im Juni 2009 eingesetzte Enquete-Kommission zur Untersuchung der Praxis der Vollverschleierung im französischen Staatsgebiet (sog. GérinKommission).6 Der abschließende Bericht7 dieser 32-köpfigen Kommission, der das Ergebnis der Anhörungen von 200 Personen aus unterschiedlichen Disziplinen zusammenfasst, kommt zu dem Schluss, dass ein allgemeines Verbot nicht empfohlen wird, sondern andere Maßnahmen wie Aufklärungs- und Bildungsprogramme ergriffen werden sollten. Unter den angehörten Personen befanden sich lediglich zwei Frauen, die selbst Erfahrungen mit dem Tragen des Vollschleiers gemacht hatten. Eine der beiden Frauen trug den Vollschleier zum Zeitpunkt der Anhörung regelmäßig und schilderte dies als ihre freiwillige, selbstbestimmte Entscheidung. Die andere der beiden Frauen, eine Belgierin, gab an, in der Vergangenheit von ihrer Familie zum Tragen des Vollschleiers gezwungen worden

5 Conseil d’État, Entscheidung vom 27. Juni 2008, nº 286798; HALDE, délibération nº 2008-193 du 15 septembre 2008. 6 Vgl. Erster Teil, C. I. 3. b). 7 Assemblée Nationale, Nº 2262, Rapport d’information au nom de la mission d’information sur la pratique du port du voile intégral sur le territoire nationale vom 26. Januar 2010 (im Folgenden auch „Gérin-Bericht“).

A. Die Entwicklung der „vivre ensemble‘‘-Argumentation

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zu sein.8 Im Übrigen äußerten sich Personen, die unmittelbar selbst keine Erfahrungen mit dem Tragen des Vollschleiers gemacht hatten. Damit stellt sich die Debatte als nahezu exemplarischer Fall eines kulturalistischen Diskurses dar, bei dem wesentliches Kennzeichen die fehlende Wahrnehmung des Gegenübers als autonomes Subjekt ist. Statt Individuen werden Gruppen wahrgenommen.9 Der Bericht vermag gleichwohl trotz dieser nahezu vollständig fehlenden Perspektive der Betroffenen erste Erkenntnisse zumindest darüber zu liefern, wie der Terminus der Mindestvoraussetzungen für das Zusammenleben verstanden werden kann und weshalb die dahinterliegenden Vorstellungen mit dem Vollschleier nach Auffassung der angehörten Expertinnen und Experten in Konflikt geraten können sollen. 2. Darstellung der Argumentation im Gérin-Abschlussbericht Der Bericht der Gérin-Kommission setzt sich nach einer Abhandlung der Geschichte des Vollschleiers, einer Untersuchung seiner Verbreitung in Frankreich sowie einer Darstellung der Debatten und Regulierungen bezüglich des Vollschleiers in anderen europäischen Staaten mit der Frage der Kompatibilität von Gesichtsverschleierung und republikanischen Werten auseinander. Der Bericht verfolgt dabei den Ton, dass der Vollschleier einen Rückzug aus der öffentlichen Zivilgesellschaft darstelle und damit eine Subversion der republikanischen Werte bedeute. Dabei stellt sich die Frage, welche der so bezeichneten republikanischen Werte hier in Rede stehen und inwiefern der Gesichts- und Vollschleier ein Werkzeug der Subversion darstellen kann. In dem Abschlussbericht der Gérin-Kommission wird an insgesamt 16 Stellen das „Zusammenleben“ explizit genannt, davon dreimal im Rahmen der Auswertung und der Lösungsvorschläge der Kommission. Gleich zu Beginn bezieht sich der Präsident der Kommission André Gérin in seinem Vorwort auf das Zusammenleben: Gérin äußert einleitend die Einschätzung, dass die Praxis der Vollverschleierung den Wunsch der Frauen darstelle, sich aus der Gesellschaft auszuschließen. Der Schleier sei mit der Menschenwürde und der Gleichstellung der Geschlechter unvereinbar und stelle eine Ablehnung der gesellschaftlichen Durchmischung dar.10 Im weiteren Verlauf schildert Gérin seine Einschätzung, dass die Anhörungen gezeigt hätten, dass viele Personen Unbehagen empfänden, wenn sie einer Frau mit Vollschleier begegneten. Er nennt hierbei Ärzte, Beamte, Verkäufer und Lehrer und bezieht sich auf einen Vorfall in der Region Lyon, bei dem einer Frau von ihrem Ehemann verboten worden sei, sich von einem männlichen Arzt behandeln zu lassen. Ob die Frau einen Vollschleier trug, lässt Gérin 8

Assemblée Nationale, Gérin-Bericht, S. 44, 50. Lembke, S. 195; kritisch zum fehlenden Blick auf Individuen im Rahmen menschenrechtlicher Diskussionen und zur Fokussierung auf Schlagworte und Gruppen allgemein auch Baer, Constellations 20 (2013) 1, 68 (73). 10 Assemblée Nationale, Gérin-Bericht, S. 13. 9

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4. Teil: Betrachtung der Mindestanforderungen des „vivre ensemble‘‘

offen, er fordert aber ausgehend von dieser Begebenheit: „Wann immer eine solche Aggression auftritt, ist es unser Zusammenleben, das verletzt wird, und das auf dem Geist der Aufklärung gründet.“ 11 Das Vorwort des Berichts setzt damit den Ton, der den Bericht in der Folge durchzieht: Die Praxis der Vollverschleierung stehe im Widerspruch zum französischen Gesellschaftsverständnis, das auf den Errungenschaften der Aufklärung beruhe. Die Kommission zitiert im Rahmen des ersten Teils des Berichts Anouar Kbibech, den Generalsekretär des CFCM, der sich dahingehend äußert, dass nach Auffassung des CFCM das Tragen des Vollschleiers keine religiöse Pflicht darstelle, wobei Kbibech sodann auch die Ansicht vertritt, dass „das Tragen des Vollschleiers vollkommen unvereinbar mit den Bedingungen des Zusammenlebens in Frankreich und sogar in muslimischen Ländern“ 12 sei. Weitere Ausführungen zu diesen „Bedingungen“ bleiben an dieser Stelle aus. Besondere Bedeutung entfaltet die Argumentation um das Zusammenleben und dessen Gefährdung bzw. demonstrative Ablehnung durch das Tragen des Vollschleiers im zweiten Teil des Berichts, der den Titel „Eine Praktik, die den Werten der Republik entgegensteht“ 13 trägt. Einleitend zu diesem Teil stellt die Kommission drei Thesen auf, welche in der Folge begründet werden: Der Vollschleier sei mehr als ein Angriff auf die laïcité, nämlich eine Negation des Prinzips „Freiheit“, da er eine Manifestation von Unterdrückung darstelle. Seine reine Existenz missachte sowohl die Gleichheit der Geschlechter als auch das Prinzip der gleichen Würde aller Menschen. Schließlich drücke der Vollschleier seiner Natur nach die Ablehnung jeglicher Brüderlichkeit aus durch die Zurückweisung des anderen und den frontalen Angriff auf „unsere“ Konzeption des Zusammenlebens. Der Dreiklang aus diesen Thesen, die der Bericht in der Folge zu begründen versucht, beinhaltet bereits die drei Elemente der Losung der französischen Revolution von 1789: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Im Rahmen der Erörterung des Prinzips der Freiheit bezieht sich der Bericht auf das Freiheitsrecht der Person, die eigene Kleidung frei zu wählen, der Abschnitt zur Gleichheit befasst sich mit der Gleichheit der Geschlechter und der gleichen Würde aller Menschen. Das gesellschaftliche Zusammenleben wird unter dem Punkt der fraternité, genauer unter der Überschrift „Ablehnung der Brüderlichkeit“ (Le refus de la fraternité), erörtert. Ausgehend von der Anhörung des Philosophen und Autors Abdennour Bidar befasst sich die Kommission im ersten Abschnitt dieses Unterkapitels mit der Bedeutung des Gesichts für die Gesellschaft. Dies erfolgt unter Bezugnahme auf den 1906 geborenen litauisch-französischen Philosophen Emmanuel Levinas14 und dessen Werk zur Bedeutung des 11 12 13 14

Assemblée Nationale, Gérin-Bericht, S. 14. Assemblée Nationale, Gérin-Bericht, S. 39. „Une pratique aux antipodes des valeurs de la République“, Gérin-Bericht, S. 87. Zuweilen in französischer Schreibweise auch Lévinas.

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Gesichts für die soziale Interaktion. Der Bericht zitiert Bidars Aussage, dass die Voraussetzung dafür, eine Person kennenzulernen die Auseinandersetzung mit deren Gesicht sei. Wie Emmanuel Levinas gesagt habe, spreche das Gesicht zu einem. Wenn eine Person ihr Gesicht nicht zeige, lehne sie die dem öffentlichen Raum innewohnende Existenz von Kommunikation ab. In dieser Eigenschaft sei er [„ich“, gemeint ist mithin Bidar bzw. jeder andere mit der den Vollschleier tragenden Person konfrontierte Mensch] berechtigt, das Verhalten als symbolische Gewalt, die ihm zugefügt werde, zu betrachten. Der Vollschleier stelle eine ungleiche Beziehung zwischen der Frau, die sich selbst nicht zu erkennen gebe, und derjenigen Person dar, die dieser mit freiem Gesicht begegne.15 Die Kommission merkt an, dass sich mehrere der befragten Personen in ihren Anhörungen auf Levinas, der die Bedeutung des Gesichts zu einem zentralen Punkt seiner Arbeit gemacht habe, bezogen hätten.16 Sie verfasst in ihrem Bericht entsprechend einen eigenen Abschnitt mit dem Titel „Das ,Gesicht als Spiegel der Seele‘ (Emmanuel Levinas)“ (Le „visage miroir de l’âme“ (Emmanuel Lévinas)).17 In diesem zitiert sie vor allem den Professor für vergleichende Literaturwissenschaft Abdelwahab Meddeb. Meddeb ging in seiner Anhörung ebenfalls auf Levinas ein und vertrat die Ansicht, der Vollschleier entziehe den ihn tragenden Menschen derjenigen Offenheit, die Politik, Ästhetik, Ethik oder auch Metaphysik erfordern würden. Er stelle eine Maske dar, die das Gesicht ausmerze und verschwinden ließe und damit auch die Gesichtsausdrücke, die das Anderssein bezeugen würden. Die Frauen würden mithin zu „Geistern“, sie würden anderen Menschen den Zugang zu den unsichtbaren Wahrheiten verweigern, welche der Sichtbarkeit entzogen seien.18 Im Folgenden wendet sich die Kommission in ihrem Bericht dann auch selbst Levinas Werk zu. Obwohl sie anmerkt, sich nicht in weiterer Tiefe mit Levinas beschäftigen zu wollen, zitiert sie sodann aus dessen Arbeiten „Totalité et infini“ 19 sowie „Éthique et infini“ 20 und interpretiert diese auch selbst. So habe Levinas in „Totalité et infini“ geschrieben: „Was ich vom Anderen sehe, ist sein Gesicht, nicht unter anderem, sondern als erstes. Es ist sein Gesicht, auf das sich meine Suche bezieht, mein aufmerksamer Blick ist fixiert. Das Gesicht ist sichtbar. Aber über das Sichtbare hinaus hat das Gesicht einen besonderen Status: Es ist jederzeit ausdrucksvoll.“ 21 Die Kommission schlussfolgert daraus, Levinas 15

Assemblée Nationale, Gérin-Bericht, S. 116. Assemblée Nationale, Gérin-Bericht, S. 117. 17 Assemblée Nationale, Gérin-Bericht, S. 116–118. 18 Assemblée Nationale, Gérin-Bericht, S. 117. 19 Titel der deutschen Ausgabe: „Totalität und Unendlichkeit“. 20 Titel der deutschen Ausgabe: „Ethik und Unendliches“. 21 Assemblée Nationale, Gérin-Bericht, S. 117: „Ce que je vois d’autrui c’est son visage, non pas entre autres choses à voir de lui, mais ce que je vois d’abord. C’est à son visage que s’adresse ma quête, que se fixe mon regard attentif. Le visage est visible. 16

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habe so die Idee entwickelt, dass die Begegnung von Angesicht zu Angesicht über den sozialen Kontakt hinaus eine sehr viel größere Dimension habe, nämlich eine stets ethische.22 Aus Levinas Arbeit „Éthique et infini“ zitiert die Kommission anschließend eine weitere Passage, die die Bedeutung des Gesichts für die zwischenmenschliche Kommunikation und deren Komplexität darlegen soll: „Wenn Sie eine Nase, Augen, eine Stirn oder ein Kinn sehen und Sie diese(s) beschreiben können, wenden Sie sich an ihn [den Anderen] wie an einen Gegenstand. Die beste Art, jemanden kennenzulernen, ist, seine Augenfarbe nicht einmal zu beachten! Wenn wir die Augenfarbe beachten, stehen wir zu dem Anderen nicht in einer sozialen Beziehung. Die Beziehung zum Gesicht kann mit Sicherheit von solcher Wahrnehmung dominiert sein, aber was spezifisch das Gesicht ist, ist nicht darauf zu reduzieren.“ 23 Die Kommission folgert daraufhin, es entstehe so die Idee, dass das durch Ausdrücke belebte Gesicht ein Ganzes sei und nicht auf einzelne Elemente reduziert werden könne. Ab dem Moment, ab dem nur die Augen einer Frau zu sehen seien und das übrige Gesicht maskiert werde, sei man gezwungen, dieser menschlichen Person wie einem bloßen Objekt gegenüberzutreten.24 Die wenigen Zitate erlauben es der Kommission zufolge, den „ganzen Reichtum“ eines Kontakts von Angesicht zu Angesicht zwischen zwei Personen zu verstehen. Eine Reduzierung auf das rein Verbale, ohne die Emotionen des Anderen fühlen zu können, schwäche die Bedeutung (wohl im Sinne von Intensität und Bedeutsamkeit) eines Dialogs zwischen zwei Personen erheblich.25 Nach der immerhin zweiseitigen, in Anbetracht des Umfangs Levinas’ Werkes und seiner Philosophie jedoch sehr verdichteten Darstellung der Bedeutung des Gesichts nach Levinas wendet sich die Kommission in einem Abschnitt mit der Überschrift „Eine grundsätzlich boshafte Einstellung“ (Une attitude fondamentalement perverse) einem weiteren Punkt im Rahmen der Abhandlung des SichAusschließens mittels des Vollschleiers zu und bezieht sich dabei nun auf die Philosophieprofessorin und bekannte Vertreterin feministischer Positionen Élisabeth Badinter. Badinter vertrat in ihrer Anhörung wie auch Bidar die Auffassung, dass der Vollschleier eine Ablehnung der Reziprozität im Rahmen menschlicher Beziehungen bedeute und nennt diese „Nicht-Reziprozität“ eine „symbolische Gewalt“.26 Diese Ablehnung der Reziprozität widerspreche Badinter zufolge der Mais dans le visible le visage a un statut particulier: il est en même temps expressif. Il ne se laisse pas enfermer dans une forme plastique. Il déborde ses expressions. Il est irréductible à une prise, à une perception prédatrice“ (Übersetzung durch die Verfasserin). In der deutschen Übersetzung von Wolfgang Nikolaus Krewani findet sich als Übersetzung für „visage“ das „Antlitz“, vgl. in deutscher Übersetzung Lévinas, passim. 22 Ebenda. 23 Assemblée Nationale, Gérin-Bericht, S. 118. 24 Ebenda. 25 Ebenda. 26 Assemblée Nationale, Gérin-Bericht, S. 118 f.

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civilité (dt. Höflichkeit) und dem Prinzip der fraternité. Die Kommission fasst Badinters Anhörung zusammen, indem sie in dem Bericht festhält, für Badinter bedeute das Tragen des Vollschleiers den Bruch des „code sociale“ (dt. sozialer/ gesellschaftlicher Kodex), die Ablehnung von Integration sowie eine Ablehnung des Dialogs und der Demokratie. Das beabsichtigte Fehlen jeden Kontakts mit anderen ruiniere jede Brüderlichkeit und Empathie.27 Ferner zitiert die Kommission Badinters Ausführungen dazu, dass die Frauen selbst ein Paradox darstellten: Sie wollten nicht gesehen werden, schauten jedoch die anderen an und würden aufgrund ihrer auffälligen Verschleierung dabei selbst wiederum doch zu einem herausgehobenen und durch neugierige Blicke beobachteten Objekt. Die Kommission beendet den Abschnitt mit einer Frage: „Können wir auf einer solchen Vision menschlicher Beziehungen eine Gesellschaft aufbauen?“ 28 Und beantwortet sich diese sogleich: „Sicherlich nicht“.29 Schließlich setzt sich die Kommission nach diesen Vorarbeiten im Rahmen der Diskussion um die fraternité im zweiten Teil weitergehend mit der These auseinander, das Tragen des Vollschleiers im öffentlichen Raum bedeute eine Ablehnung des vivre ensemble. Hierbei zitiert die Kommission zunächst die türkische Soziologin und heutige Studiendirektorin des CESPRA-Instituts an der École des Hautes Études en Sciences Sociales, Nilüfer Göle. Göle zufolge könne das Tragen des Vollschleiers zumindest als der Wille verstanden werden, mit der Reziprozität und dem Austausch in einer Gesellschaft zu brechen. Dem fügt die Kommission hinzu, dass eben diese beiden Faktoren – Reziprozität und Austausch – zwei wesentliche Begriffe der Republik seien.30 Die französische Gesellschaft sei zudem seit der Klassik zutiefst vom Begriff civilité geprägt. Die Kommission präzisiert diesen Begriff in dem Bericht dergestalt, dass er die Vorstellung beschreibe, in einer Gesellschaft hätten alle Menschen Manieren zu beherrschen und Regeln zu respektieren, um einen zivilisierten Austausch zwischen den Individuen zu ermöglichen. Es sei, so die Kommission, kein Zufall, dass in der französischen Sprache viele weitere der civilité verwandte Begriffe zu finden seien: „civilité, civisme, cité, citoyenneté, civilisation ou politesse, politique“.31 Während die Ausführungen bis zu diesem Punkt in dem Bericht eher philosophischer Natur sind, bringt die Kommission im Folgenden den von Badinter in ihrer Anhörung erwähnten code sociale in eine engere Verbindung zur Bedeutung des Gesichts in der Gesellschaft. In dem Abschnitt, der mit „Ein Angriff auf unseren code social“ (Une atteinte à notre code social) überschrieben ist, greift 27

Assemblée Nationale, Gérin-Bericht, S. 118. Assemblée Nationale, Gérin-Bericht, S. 119. 29 Ebenda. 30 Ebenda. 31 Ebenda; dt.: „Höflichkeit, Bürgersinn, Stadt, Staatsbürgerschaft, Zivilisation oder Anstand, politisch“. 28

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die Kommission zudem einen weiteren Terminus in diesem Zusammenhang auf, den ordre public social. Unter den angehörten Personen hätte in weiten Teilen Übereinstimmung bestanden, dass das Tragen des Vollschleiers gegen den ordre public social verstoße. Wörtlich ist dies weder dem Bericht noch den Transkriptionen der Anhörungen zu entnehmen. Die Kommission zitiert dennoch an dieser Stelle den Juristen Guy Carcassonne, der sich ausweislich des im Bericht angeführten Zitats allerdings auf den ordre public, mithin den juristischen Terminus ohne den Zusatz „social“ bezieht. Nach der im Bericht zitierten Ansicht Carcassonnes bestehe seit 1789 ein gesellschaftlicher Konsens, den er „aus Gründen der Bequemlichkeit code social“ 32 nenne und der auf einer Basis implizierter Werte gründe. Es erübrige sich damit auch eine Diskussion über die öffentliche Ordnung („ordre public“), da die codes sociaux – Carcassone benutzt den Plural – bereits festlegten, dass man gewisse Teile des Körpers zeige und andere nicht.33 Schließlich bezieht sich die Kommission auf die Kunsthistorikerin Nadeije Laneyrie-Dagen. Diese habe in ihrer Anhörung gezeigt, dass „der Westen“ eine besondere Einstellung zum „Gesicht“ habe, es sei anders als in orientalischen Traditionen etwas Besonderes in der westlichen Kunst. Laneyrie-Dagen untermalt ihre Ausführungen mit dem Beispiel der Bedeutung der Portraitmalerei in der westlichen Kunst, die man in dieser Verbreitung etwa in Asien nicht finden könne.34 Auch der damalige Außenminister Xavier Darcos bezeichnete in seiner Anhörung die Möglichkeit, sich in dem Gesicht des Gegenübers wiederzuerkennen, als Grundregel des sozialen Umgangs. Dies sei ein für die republikanische Ordnung wesentliches Prinzip.35 Zusammenfassend wird daraus deutlich, dass sich die Argumentation der Enquete-Kommission in ihrem Abschlussbericht bezüglich des vivre ensemble in Verbindung mit dem code social auf die alleinige Sichtbarkeit des Gesichts bezieht, welche schon an sich aufgrund ihrer Bedeutung für die Interaktion zwischen zwei Menschen sowie ihres kulturhistorischen Hintergrundes einen Wert der Gesellschaft und der Republik darstelle. Der code social, der auf die Errungenschaften der französischen Revolution bezogen wird, stelle ein normatives Grundgerüst der Gesellschaft und der Republik dar, gegen das im Falle der systematischen, wenngleich freiwilligen Verhüllung des Gesichts durch den Vollschleier verstoßen werde. Sowohl die durch die Kommission ausgewählten angehörten Personen und deren Zitate sowie der Begriff des code social und der lediglich einmal explizit angesprochene ordre public social bedürfen aber weiterer Analyse und Untersuchung. 32 33 34 35

Assemblée Nationale, Gérin-Bericht, S. 120. Ebenda. Assemblée Nationale, Gérin-Bericht, S. 121. Assemblée Nationale, Gérin-Bericht, S. 617 f.

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3. Analyse und Kontextualisierung der Argumentationen im Gérin-Bericht Aus der Darstellung der Argumentation bezüglich des vivre ensemble wird deutlich, dass das vivre ensemble im Rahmen der Beschreibung eines Kollektivs und seiner sozialen und kulturellen Werte stattfindet. Dabei ist nicht das Verfassungsprinzip der laïcité Anknüpfungspunkt, sondern die Reziprozität zwischenmenschlicher Kontakte und Begegnungen. Der Bezugspunkt ist damit in einem sozialen Umfeld gesetzt, nicht in einem staatstheoretischen. In der Folge wird der Gesichtsschleier auch unter einem anderen Aspekt gesellschaftlicher Konzeption als etwa das muslimische Kopftuch verhandelt, welches die Sichtbarkeit des Gesichts seiner Trägerin nicht berührt. Der Vollschleier wird als ein Symbol des sich aus „der Gesellschaft Zurückziehens“ verhandelt, symbolisiert durch eine physische Barriere für die nonverbale Kommunikation. a) Die Sichtbarkeitsmaxime als kultureller Wert Die dargestellten Argumente und Aussagen, die die Kommission in ihren Bericht aufgenommen hat, verdeutlichen, dass nicht allein die Frage der Religion, genauer des Islam, der Debatte zugrunde lagen, sondern dass Aspekte der Sichtbarkeit eines Menschen in der Zivilgesellschaft sowie seine (freiwillige) Abschottung und Selbstausgrenzung aus diesem Kollektiv von zentraler Bedeutung waren. Eine Abschottung der eigenen Person von der Gesellschaft bei gleichzeitiger physischer Anwesenheit berührt die Grundvoraussetzungen gesellschaftlichen Zusammenlebens aber nur dann, wenn sie einem gemeinschaftlichen Konsens dieser Gemeinschaft widersprechen, der zugleich für das Zusammenleben unabdingbar ist. Die Kommission kommt unter Berufung auf die Stellungnahme Laneyrie-Dagens zu dem Ergebnis, dass die Sichtbarkeit des Gesichts in westlichen Kulturen von besonderer Bedeutung und seine Präsenz in der westlichen Kunst wesentlich stärker sei als in anderen Kulturen. Der Kommission gelingt es auf diese Weise, dem Gesicht als solchem einen kulturellen Wert beizumessen. Diesen Ansatz verfolgte als erster Bruno Nassim Aboudrar, Professor für Ästhetik an der Universität Paris III – Sorbonne Nouvelle. Er argumentiert, dass die Verhüllung des Gesichts zuvorderst einen Bruch des westlichen Prinzips der Sichtbarkeit darstelle. Demgegenüber begegne man dem Blick in der islamischen Kultur grundsätzlich eher misstrauisch.36 Die Maxime der Sichtbarkeit des Gesichts erhält durch diese Argumentation eine kulturelle Dimension: Sichtbarkeit als Kulturwert der westlichen Gesellschaft(en).

36

Aboudrar, S. 20, 171.

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b) Die Sichtbarkeitsmaxime als Element der sozialen Reziprozität unter Bürgern und der Gleichheit der Bürger Neben der Betonung des kulturhistorischen Hintergrunds und der so begründeten Besonderheit der Sichtbarkeit des Gesichts als eine Art Kulturwert westlicher Gesellschaften stellt die Kommission in ihrem Bericht aber eine weitere, hiermit verbundene Bedeutung der Sichtbarkeit in das Zentrum ihres Berichts. So äußerte Badinter – wenngleich der Abschlussbericht diese Passage ihrer Stellungnahme nicht zitiert – unter Bezugnahme auf Philosophen und Philosophinnen wie Hannah Arendt, dass in europäischen Demokratien die sozialen Akteure zu Bürgern würden, sobald sie in der Öffentlichkeit erschienen. Badinter folgert daraus das Erfordernis einer „gewissen Sichtbarkeit“ in der Öffentlichkeit.37 Die weitere Betonung der Reziprozität durch Badinter und Bidar, der die soziale Bedeutung unter Bezugnahme auf die Theorie Levinas’ verdeutlicht, geht dabei auch einher mit einer Betonung der Gleichheit der Menschen im öffentlichen Raum als Bürgerinnen und Bürger. Die Kommission greift diese Argumentation auf.38 Das Tragen des Vollschleiers wird so zu einem Ausdruck und Mechanismus der Ablehnung der Reziprozität in der Gesellschaft und dadurch zu einer Verletzung der Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger: Wenn eine Person im gemeinsamen öffentlichen Raum einer anderen begegnet und deren Gesicht sehen kann – und sieht –, zugleich diesem Gegenüber den Anblick des eigenen Gesichts aber verweigert, so sei dies eine Verweigerung der Reziprozität und damit eine Ablehnung einer Grundvoraussetzung der Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger. Die beiderseitige Sichtbarkeit des Gesichts wird damit als Bedingung der Reziprozität und folglich unabdingbare Voraussetzung gesellschaftlicher Gleichheit dargestellt. c) Sichtbarkeit als Erfordernis der demokratischen Gesellschaft – die Bürgerin als Adressatin Die Reziprozität für sich genommen zwingt jedoch noch nicht zu dem Schluss, dass jede Person im öffentlichen Raum diese zu wahren hätte oder anders formuliert, dass die Reziprozität im öffentlichen Raum ein unverzichtbares Gut und eine Pflicht für jedermann darstellt. Diese Kluft lässt sich jedoch argumentativ und konzeptionell überwinden, indem die Reziprozität als ein Element der fraternité begriffen wird, die die Menschen in der Öffentlichkeit als (Staats-)Bürgerinnen und (Staats-)Bürger kennzeichnet und denen gewisse Pflichten und wechselseitige Verantwortlichkeiten zukommen.39 Anknüpfungspunkt bildet somit die Bezugnahme auf die Zeit der Aufklärung und die dort entwickelten Prinzipien. Die Maxime der Verantwortlichkeit des Bürgers wird ausgeweitet auf jede ein37 38 39

Assemblée Nationale, Gérin-Bericht, S. 592. Assemblée Nationale, Gérin-Bericht, S. 118. Assemblée Nationale, Gérin-Bericht, S. 116, 118.

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zelne Person auch im nicht-politischen Raum und betrifft in der Folge nicht nur diejenigen Mitglieder der Gesellschaft, denen auch eine öffentliche Aufgabe zukommt, sondern jedermann im sozialen Gefüge.40 Das vivre ensemble findet in dem Raum statt, in dem Menschen aufeinandertreffen, sich begegnen können und sich auch rein zufällig begegnen in Form von Zufallskontakten. Es handelt sich um denjenigen Raum, zu dem Menschen notwendigerweise im alltäglichen Leben Zugang haben und haben müssen. Die Gérin-Kommission stellt für eben diese Begegnungen und die bloße Anwesenheit in diesem sozialen Raum die Bedeutung der (auch) auf Sichtbarkeit gegründeten Reziprozität fest, indem sie letztere unter Zugrundelegung eines erweiterten Verständnisses der fraternité als einen elementaren Wert der französischen (Zivil-)Gesellschaft markiert. d) Der code social und die civilité – Umgangsformen und Konventionen als Werte der Republik Nach der Abhandlung der Bedeutung des Gesichts für die soziale Interaktion und die dafür notwendige Reziprozität, die ihrerseits wiederum Voraussetzung für die Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger ist, wird seitens der Kommission der Begriff des code social aufgenommen. An dieser Stelle des Berichts wird durch Zitieren des Rechtsprofessors Guy Carcassonne der im Vorwort des Berichts schon angedeutete Bezug zu den Lehren und Errungenschaften der Zeit der Aufklärung explizit. Carcassone stellt insbesondere wie oben dargestellt aber auch klar, dass er die Bezugnahme auf den ordre public nicht für notwendig erachte, da die codes sociaux festlegen würden, welche Teile des Körpers man bedecke und welche nicht. Der code social ist danach – weitere Ausführungen bleiben seitens der Kommission aus – als ein Sammelbegriff für soziale Konventionen und Umgangsformen zu verstehen, zu denen nach der Darstellung im Bericht auch gesellschaftlich konsentierte Kleidungssitten zu zählen wären. Hier ist auch die Aussage Darcos’ einzuordnen, wenn er das Zeigen des Gesichts im öffentlichen Raum als eine Grundregel des sozialen Umgangs bezeichnet.41 Mit dieser Argumentation einher geht auch die Bezugnahme auf die civilité, die der Bericht zunächst durch die Zitierung Badinters erwähnt. Civilité bedeutet wörtlich übersetzt „Höflichkeit“. Badinter setzt diese mit der Reziprozität in Verbindung, eine Ablehnung der Reziprozität bedeute auch ein Verhalten, das der civilité widerspreche.42 Die Kommission wiederum kommt zu dem Schluss, dass die Ablehnung der civilité durch Verweigerung der Reziprozität auch einen Bruch des code social bedeute.43 Diese Schlussfolgerung begründet folglich die Annahme, dass der Begriff code social als ein Oberbegriff für gesellschaftliche Konventionen 40 41 42 43

Baehr/Gordon, Economy and Society 42 (2013) 2, 249 (257). Assemblée Nationale, Gérin-Bericht, S. 617 f. Assemblée Nationale, Gérin-Bericht, S. 118 f., vgl. oben unter 2. Assemblée Nationale, Gérin-Bericht, S. 120, vgl. oben unter 2.

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und „Manieren“ zu verstehen sein soll. Bewusste Verhinderung die Sichtbarkeit des Gesichts in der Öffentlichkeit breche mit diesen Konventionen und Umgangsformen. e) Zusammenfassende Stellungnahme Auffällig ist, dass der Bericht kaum greifbare Kriterien entwickelt, sondern mit abstrakten und interpretationsbedürftigen Begriffen und Konzepten arbeitet. In der Gesamtschau ergibt sich dennoch folgendes Schema für das vivre ensemble und den Rahmen, in dem es zu betrachten ist: Ausgehend vom der Aufklärung entstammenden Prinzip der fraternité wird dargestellt, dass diesem die Aspekte der Reziprozität als ständige Wechselbezüglichkeit unter Gleichen und der civilité in Form von Umgangsformen, die die Republik kennzeichnen, zuzuordnen sind. Ein zu diesen Idealen widersprüchliches Verhalten wird als ein Bruch des code social eingeordnet, wobei der code social an anderer Stelle wiederum als bloße konsentierte Verhaltensweisen durch Carcassonne in die Debatte eingebracht wurde. Diese schematische Darstellung verdeutlicht das Problem des von der Kommission gewählten Weges, ein konkretes Phänomen auf konkreter Ebene zu problematisieren (Sichtbarkeit wird durch den Vollschleier verhindert), den Umgang mit diesem Phänomen aber anhand einer abstrakten gesellschaftsphilosophischen Debatte klären zu wollen – indem ausgehend von der fraternité auf die Erforderlichkeit der Reziprozität und der civilité verwiesen wird, deren Ablehnung wiederum einen Bruch des code social bedeute. Dieser wiederum wurde aber in die Debatte als ein – wenn überhaupt – nur sehr schwer von der civilité abzugrenzender Begriff diskutiert, indem auch er konsentierte Verhaltensweisen wie Kleidungssitten beschreibt. Durch diese Unschärfe besteht die Gefahr, Begriffe mit dem jeweils anderen zu definieren und so lediglich zu einem wenig Erkenntnis versprechenden Zirkelschluss zu gelangen. Die Ausführungen der Kommission bewegen sich letztlich in einer unbestimmten Sphäre großer Schlagworte, die je das vorangegangene ergänzen oder präzisieren sollen, ohne dass inhaltliche Schärfe bestünde oder gewonnen würde. Das vivre ensemble wiederum wird im Rahmen der fraternité explizit genannt, der Vollschleier stünde diesem entgegen, was eine Ablehnung der fraternité durch die den Schleier tragende Person bedeute. Letztlich schaltet die Kommission mit dem vivre ensemble ohne Notwendigkeit einen weiteren unbestimmten Begriff zwischen die zuvor genannten: Ablehnung von Reziprozität und Austausch und damit der Gleichheit der Bürger sowie Ablehnung der civilité stelle eine Ablehnung des vivre ensemble dar. Ebenso wurde die Ablehnung der fraternité begründet, das vivre ensemble wird aber wiederum innerhalb der Ablehnung der fraternité behandelt. Es bleibt damit im Bericht der Gérin-Kommission unklar, welchen eigenen Inhalt das vivre ensemble genau haben soll. Bezüglich der Mindestanforderungen für eben dieses vivre ensemble bleibt der Bericht eine genauere Bestimmung schuldig. Die Kommission definiert kein kla-

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res Set an (sozialen) Normen und Verhaltensweisen. Vielmehr nimmt sie als gegeben an, dass es ein solches in Form von gewissen Umgangsformen und Manieren – code social – gebe und dass civilité und Reziprozität unter Bürgerinnen und Bürgern dazugehörten. Die Erwähnung eines ordre public social zeigt dabei auf, dass die Kommission nicht mit dem im französischen Recht bekannten ordre public argumentieren möchte, sondern dieses juristisch umrissene Feld bewusst außen vor lässt und sich stattdessen einer neuen Konzeption der ungeschriebenen gesellschaftlichen Normen zuwendet, die einen höheren Sozialbezug aufweisen und dabei aber gleichzeitig noch unbestimmter sind. Der Verweis auf „Umgangsformen“, „Manieren“ und die civilité verdeutlichen dabei auch eine Tendenz der Kommission, sich auf mehrheitsgeprägte Konzeptionen von Gesellschaft zu fokussieren. Im Ergebnis verdeutlicht der Bericht, dass die Diskussion um die Mindestanforderungen des vivre ensemble eine in hohem Maße abstrakte Debatte ist, die es versäumt, große Schlagworte mit Inhalten zu füllen. Nichtsdestotrotz bleibt nach Auswertung des Berichts die Erkenntnis, dass die Mindestanforderungen für das vivre ensemble eine Gesamtheit ungeschriebener sozialer Verhaltensweisen in der Öffentlichkeit bedeuten, die nicht notwendig den gesellschaftlichen Frieden betreffen, sondern sowohl konsentierte Umgangsformen als auch ein republikanisch-aufklärerisches Ideal des Bürgers und seiner Person als Staatsbürger in der Öffentlichkeit betreffen, indem er etwa jederzeit dem (demokratischen) Austausch mit anderen auch visuell zugänglich erscheint und sich der Möglichkeit des auch non-verbalen Austauschs nicht durch einen faktischen wie auch symbolischen Ausgrenzungsmechanismus entzieht.

II. Das vivre ensemble in der Stellungnahme des Conseil d’État: La vie en société Weiteren Aufschluss über den Inhalt der Mindestvoraussetzungen für das Zusammenleben könnte der Bericht des Conseil d’État vom 25. März 201044 bieten. Der Conseil d’État als oberstes Verwaltungsgericht befasst sich anders als die Gérin-Kommission nicht mit den Hintergründen, der symbolischen Bedeutung oder den subjektiven Motiven der Frauen, die den Vollschleier tragen, sondern setzt sich ungeachtet dessen mit der Frage der Rechtmäßigkeit eines allgemeinen Gesichtsverhüllungsverbots in Frankreich auseinander. Der Conseil d’État greift die Ergebnisse aus dem Bericht der Gérin-Kommission auf und führt diese einer juristischen Betrachtung zu. Im Ergebnis kommt er zu dem Schluss, dass ein Verbot auf unsicherer rechtlicher Basis stünde.

44 Conseil d’État, Étude relative aux possibilités juridiques d’interdiction du port du voile intégral vom 25. März 2010 (im Folgenden: Étude relative).

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Der Conseil d’État lehnt ein spezifisches Verbot allein des Vollschleiers in der Öffentlichkeit zunächst als nicht rechtmäßig ab.45 Im Rahmen seiner Ausführungen zu allgemeinen Gesichtsverhüllungsverboten setzt er sich anschließend ausführlich und vor dem Hintergrund der in Rede stehenden Eingriffe in Art. 8 und Art. 9 EMRK durch ein solches Verbot mit der von der Gérin-Kommission angestoßenen Frage auseinander, ob bestimmte gesellschaftliche Übereinkünfte als Werte ein solches Verbot rechtfertigen könnten, wenn der Vollschleier diesen zuwiderläuft. Dem Conseil d’État zufolge sei der einzig denkbare Rechtfertigungsgrund der ordre public. Dabei bezieht sich der Conseil d’État jedoch nicht auf den Begriff der öffentlichen Ordnung im Sinne der EMRK, sondern auf nationales französisches Recht und die nationale Rechtsprechung. In diesem Zuge stellt er die im französischen Recht bis dato bekannten Dimensionen des ordre public knapp dar. So habe der Terminus sowohl eine substantielle, materielle Dimension – die öffentliche Sicherheit, Frieden und Gesundheit –, sowie auch eine nicht-substantielle, nicht-materielle Dimension – nämlich den Schutz der öffentlichen Moral (auch als „gute Ordnung“ bezeichnet) in spezifischen Kontexten und die Achtung der Würde des Menschen.46 Beide Konzepte erachtet der Conseil d’État als nicht tauglich, um ein allgemeines Verbot der Verschleierung zu rechtfertigen. Vielmehr könne der ordre public nach diesem konventionellen Verständnis lediglich situations- und kontextspezifische Verbote, also solche mit einem begrenzten Anwendungsbereich rechtfertigen.47 Anschließend greift der Conseil d’État die Ergebnisse der Gérin-Kommission auf und diskutiert eine Art Neukonzeption des ordre public. Dieser könne gegebenenfalls auch eine weitere Dimension jenseits des bislang Bekannten enthalten und als ein Konzept mit bestimmter Autonomie und einem bestimmten Inhalt gesehen werden, um als solches „die Mindestbasis („socle minimal“) der wechselseitigen Bedürfnisse und wesentlichen Garantien des Lebens in der Gesellschaft darzustellen“.48 Der Conseil d’État ordnet die philosophischen und staatstheoretischen Ausführungen der Gérin-Kommission damit in ein juristisches Konzept ein, mit der Erkenntnis, das der ordre public im französischen Recht bislang zwei Dimensionen umfasse, die ein allgemeines Gesichtsverhüllungsverbot in der Öffentlichkeit nicht rechtfertigen können. Vielmehr bedürfte es einer dem französischen Recht bis dahin fremden Neukonzeption des ordre public. Der Conseil d’État setzt sich folglich mit einer dritten, gewissermaßen autonomen Bedeutungsdimension auseinander, der der ordre public zugänglich sein könnte. Es wird versucht, die Mindestanforderungen an das vivre ensemble, hier „Leben in der Gesellschaft“, juristisch greifbar zu machen. Ausgangspunkt dafür soll 45 46 47 48

Conseil d’État, Étude relative, S. Conseil d’État, Étude relative, S. Conseil d’État, Étude relative, S. Conseil d’État, Étude relative, S.

21. 25. 25 f. 25.

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nach Ansicht des Conseil d’État sein, dass es sich bei dem ordre public um ein nie eindeutig definiertes Konzept handele, dessen Reichweite nicht unbedingt abschließend geklärt sei. Die vom Conseil d’État selbst aufgestellte Voraussetzung, dass eine solche autonome Konzeption einen bestimmten Inhalt haben müsse, versucht er in der Folge zu konkretisieren: Die Bedürfnisse und Garantien, deren Mindestbasis von dieser Konzeption des ordre public erfasst wären, müssten von solchem Gewicht sein, dass sie die Art und Weise der Ausübung anderer Freiheitsrechte bestimmen und, wenn nötig, es erforderlich machen können, dass die Wirkungen bestimmter vom individuellen Willen getragener Handlungen zurücktreten müssen. Beispielhaft wird an dieser Stelle der Pluralismus genannt.49 Dem Conseil d’État zufolge könnten solche Bedürfnisse dann auch dazu führen, dass wenn ein Individuum sich im öffentlichen Raum befindet und mithin daher wahrscheinlich irgendeiner anderen Personen begegnet, es weder seine Zugehörigkeit zur Gesellschaft leugnen noch verweigern könne, indem es sein Gesicht dem Blick des anderen entziehe, um jedwedes Wiedererkennen zu verhindern. Der ordre public berühre in dieser Form grundlegende Merkmale des Lebens in der Gesellschaft und stelle folglich eine gemeinsame Basis der Voraussetzungen und Bedürfnisse für ein solches dar. In dieser Form könne der ordre public positiv definiert werden anstatt wie bisher als reines „Bollwerk“ 50 gegen Handlungen, die aus unbeschränkter Freiheitsausübung resultierten, konzipiert zu werden. Folglich würde diese Konzeption auch ein Recht darstellen und zu einer gleichen Zugehörigkeit eines Jeden zur Gesellschaft führen.51 Es lässt sich erkennen, dass der Conseil d’État in seiner Stellungnahme nicht das Ziel verfolgt, die Mindestanforderungen an das vivre ensemble näher zu bestimmen. Vielmehr liefert er eine, wenngleich auch von ihm selbst als unsicher beurteilte juristische Handhabe, einem solchen Konzept in der französischen Rechtsordnung ein Fundament zu schaffen. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass dies nur im Zuge einer Neukonzeption des ordre public möglich sei. Anders als etwa Carcassonne in seiner Stellungnahme vor der Gérin-Kommission belässt es der Conseil d’État damit nicht bei einem Verweis auf unbestimmte codes sociaux, die Carcassonne zufolge einen Rückgriff auf den ordre public bereits entbehrlich machen würden, sondern konzipiert gerade innerhalb des ordre public eine neue Dimension, die dem im Gérin-Bericht erwähnten ordre public social sehr nahe kommt. Auffällig ist dabei zudem, dass eingangs der Ausführungen zur Neukonzeption beispielhaft auf den Pluralismus verwiesen wird. An dieser Stelle setzt der Conseil d’État einen entscheidenden Maßstab, der in der Folge zu berücksichtigen sein wird. Im Ergebnis führt die Stellungnahme des Conseil d’État aber nur in sehr geringem Maße zu einer Klärung des Inhalts der Mindest49 50 51

Conseil d’État, Étude relative, S. 26. Conseil d’État, Étude relative, S. 27. Ebenda.

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voraussetzungen für das vivre ensemble. Erkennen lässt sich dagegen vor allem durch Nennung des Beispiels Pluralismus, dass es sich in den Augen des Conseil d’État bei einer Neukonzeption des ordre public und der Erweiterung seiner Reichweite auf die Mindestvoraussetzungen für das Leben in einer Gesellschaft zumindest um solche handeln muss, denen ein derartiges Gewicht zukommt, dass ihr Vorliegen das Ausüben von Freiheitsrechten in der Gesellschaft überhaupt erst ermöglicht.

III. Das vivre ensemble in der Begründung zur französischen Gesetzesbegründung 2010 Die Begründung zum Gesetzesentwurf greift sowohl die Ergebnisse der GérinKommission zur Verbreitung des Vollschleiers in Frankreich, als auch die rechtliche Beurteilung eines Verbotsgesetzes durch den Conseil d’État auf. Das Staatsmotto der französischen Republik eröffnet die Begründung: liberté, égalité, fraternité bilden danach die Basis des französischen „pacte social“ und würden den Zusammenhalt der Nation garantieren. Die Gérin-Kommission sei unzweifelhaft zu dem Ergebnis gelangt, dass die Praxis der Gesichtsverschleierung, auch wenn sie nur ein marginales Phänomen sein sollte, die Ablehnung der republikanischen Werte wie etwa Geschlechtergleichheit und Achtung der Menschenwürde darstelle.52 Die Gesetzesbegründung bezeichnet das Tragen des Vollschleiers als einen Akt der „symbolischen Gewalt“ und greift damit unmittelbar Formulierungen Bidars und Badinters aus deren Anhörungen durch die Gérin-Kommission auf.53 Das systematische Verhüllen des Gesichts widerspreche den grundlegenden Bedingungen des vivre ensemble. In der Folge stützen die Initiatoren der Gesetzesinitiative die Begründung auf die Ausführungen des Conseil d’État zu einer möglichen Neukonzeption des ordre public. Dieser könne danach auch dann ein Verbot rechtfertigen, wenn das untersagte Verhalten den grundlegenden Regeln des republikanischen Gesellschaftsvertrags („contrat social“ 54) zuwiderlaufe. Das Verhüllen des Gesichts widerspreche dem Ideal der fraternité und erfülle nicht die Mindestanforderungen der civilité, die ihrerseits wiederum für soziale Beziehungen erforderlich sei. Die Erwägungen des Conseil d’État würden zeigen, dass es durchaus Rechtsprechung gebe, die eine solch innovative Konzeption des ordre public bereits beinhalteten, ohne diese ausdrücklich benannt oder entsprechend explizit konzipiert zu haben.55 Die Begründung zur Gesetzesinitiative greift somit die wesentlichen Aussagen des Berichts der Gérin-Kommission und der Stellungnahme des Conseil d’État 52

Assemblée Nationale, Nº 2520, Projet de Loi, 19. Mai 2010, S. 3. Ebenda; Assemblée Nationale, Gérin-Bericht, S. 116 (Stellungnahme Bidars) und S. 119 (Stellungnahme Badinters). 54 Assemblée Nationale, Nº 2520, Projet de Loi, 19. Mai 2010, S. 3. 55 Assemblée Nationale, Nº 2520, Projet de Loi, 19. Mai 2010, S. 4. 53

A. Die Entwicklung der „vivre ensemble‘‘-Argumentation

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auf und vertritt die Position einer expansiven Neukonzeption des ordre public. Die Ausführungen dazu, was unter den Mindestanforderungen für das gesellschaftliche Zusammenleben zu verstehen ist bzw. welche Reichweite der Begriff haben soll, bleiben dabei allerdings weiterhin vage und sogar noch hinter den Erwägungen und Definitionsversuchen der Gérin-Kommission und des Conseil d’État zurück. Auch finden sich in der Begründung sowohl Begrifflichkeiten, die im Gérin-Bericht (fraternité, civilité, pacte social) bereits verwendet wurden. Weitere Ausführungen dazu fehlen allerdings. Für eine begriffliche Annäherung an die zu schützenden „Mindestanforderungen für das Zusammenleben (vivre ensemble)“ ist die Begründung des Gesetzentwurfs mithin wenig dienlich.

IV. Zusammenfassung und Zwischenergebnis Die Materialien zum Gesetzgebungsprozess einschließlich der vorbereitenden Anhörungen und Stellungnahmen der Gérin-Kommission und des Conseil d’État vermögen es nicht, die begrifflichen Unklarheiten darüber, was die Mindestanforderungen an das Zusammenleben darstellen sollen, auszuräumen. Eine genaue Analyse der Materialien konnte dennoch einige Erkenntnisse bringen. Der Bericht der Gérin-Kommission verfolgt einen staatstheoretischen und sozialphilosophischen Ansatz zur Begründung eines Verschleierungsverbots und setzt die Praxis der Vollverschleierung in einen Widerspruch zu republikanischen Idealen, die auf die Zeit der Aufklärung zurückzuführen sind. Das vivre ensemble wird dabei im Rahmen der dem Staatsmotto zugehörigen fraternité diskutiert. Diese wiederum beinhalte das Prinzip der Reziprozität zwischenmenschlicher Begegnungen und die civilité. Eine Ablehnung des Prinzips der fraternité bedeute zudem auch den Bruch des code social. Eine Bezugnahme auf den dem französischen Recht bekannten ordre public hält die Kommission insofern für die Rechtfertigung eines Verbotsgesetzes für nicht mehr erforderlich. Dem Bericht der Kommission kann nach alledem folgender Definitionsversuch entnommen werden: Die Mindestanforderungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens sind eine Gesamtheit ungeschriebener sozialer Verhaltensnormen, die nicht notwendig den gesellschaftlichen Frieden, sondern sowohl konsentierte Umgangsformen, als auch ein republikanisch-aufklärerisches Ideal des Bürgers und seiner Person als Staatsbürgers in der Öffentlichkeit betreffen. Der Conseil d’État dagegen verortet seine Diskussion, ob Mindestanforderungen an das Zusammenleben ein Verbotsgesetz rechtfertigen können und was deren Inhalt sein kann, innerhalb des juristischen Konzepts des ordre public. Dabei gelangt er zu dem Schluss, dass es einer Neukonzeption dieses Konzepts dahingehend bedürfe, dass ihm neben den bekannten materiellen und immateriellen Dimensionen eine weitere hinzugedacht werden müsse. Dies sei jedoch möglich, da eine abschließende Klärung über den Inhalt des ordre public nicht gegeben sei. Nach Analyse der Stellungnahme des Conseil d’États konnte dieser folgen-

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des Verständnis entnommen werden: Die weitere Dimension des Konzepts, die sodann auch die Mindestanforderungen des Zusammenlebens darstellt, umfasst danach den Mindestbestand solcher Bedürfnisse und Garantien des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die von derartigem Gewicht sind, dass sie die Art und Weise der Ausübung anderer Freiheitsrechte bestimmen und überhaupt erst ermöglichen. Es zeigt sich somit auch, dass beide Institutionen ausgehend von schon unterschiedlichen Ansätzen (gesellschaftsphilosophisch und staatstheoretisch einerseits, juristisch andererseits) zu sehr unterschiedlichen Ergebnisses gelangen, um welche Belange es sich bei den Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben handeln soll. Die endgültige Gesetzesbegründung vermag hier nicht explizite Aufklärung zu bieten, lässt aber dennoch die Tendenz erkennen, der Argumentationslinie des Conseil d’État jedenfalls weitestgehend nicht entgegentreten zu wollen. Die beispielhafte Nennung des Pluralismus als ein solches Konzept, das von so großer Bedeutung für eine Gesellschaft ist, dass es als Teil eines Mindestbestands an Bedürfnissen und Garantien des gesellschaftlichen Zusammenlebens erachtet werden könne, wiederholt die Gesetzesbegründung nicht. Insofern wird vermieden, eine allzu augenfällige Ambivalenz hinsichtlich dieses Mindestbestands zu kreieren: zu diesem würde der Pluralismus gehören, der nach dem Willen des Gesetzgebers gleichwohl aber im Falle eines allgemeinen Gesichtsverhüllungsverbots zurücktreten müsste hinter das nun konzipierte Bedürfnis eines freien Gesichts zugunsten der permanenten Sichtbarkeit und dadurch bedingte Reziprozität. Gleichzeitig werden die den Gérin-Bericht kennzeichnenden Schlagworte auch hier – in wenig strukturierter Weise – verwendet. So widerspreche die Praxis der Gesichtsverschleierung dem Ideal der fraternité und erfülle nicht die Mindestvoraussetzungen der civilité. Zur Rechtfertigung des Verbots jedoch kann der Gesetzesbegründung die Auffassung entnommen werden, dass diese auf eine Neukonzeption des ordre public gestützt werden soll, die die grundlegenden Regeln des republikanischen Gesellschaftsvertrags umfasse. Die Gesetzesbegründung folgt damit dem rechtsdogmatischen Weg des Conseil d’État, belässt den Inhalt der neuen Dimension des ordre public jedoch durch Bezugnahme lediglich auf den „republikanischen Gesellschaftsvertrag“ in hohem Maße unbestimmt. Insbesondere den strengen Maßstab, den der Conseil d’État an die von der Neukonzeption umfassten Belange anlegt – grundlegende Bedeutung für die Möglichkeit und Art der Ausübung von Freiheitsrechten –, greift die Begründung nicht explizit auf. Diese Unbestimmtheit lässt sich aufgrund der unterschiedlichen Auffassungen, die hier zugrunde gelegt werden können – dies haben die wesentlich unterschiedlichen Ansätze und Ausführungen der Gérin-Kommission und des Conseil d’État gezeigt – bislang anhand einer Analyse der Gesetzgebungshistorie nicht endgültig beseitigen.

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V. Die Übernahme des Konzepts durch den belgischen, österreichischen, dänischen und schweizerischen Gesetzgeber 1. Belgien Der erste Entwurf für ein allgemeines Verschleierungsverbot in Belgien vom 1. Dezember 2009 enthielt bereits Ausführungen dahingehend, dass die Praxis der Vollverschleierung der Vorstellung vom gesellschaftlichen Zusammenleben („vivre ensemble“) in Belgien grundlegend widerspreche. Auch hier wurde der Terminus vivre ensemble zuweilen in Anführungszeichen gesetzt, was darauf hindeuten könnte, dass er nicht im einfachen herkömmlichen wörtlichen Sinne zu verstehen sein, sondern ein spezifisches Konzept darstellen sollte.56 Das Verbot sollte der Begründung zum Entwurf zufolge ausdrücklich nicht auf Erwägungen zur öffentlichen Ordnung, sondern vielmehr auf sozialen Erwägungen beruhen, die für das „vivre ensemble“ in einer emanzipierten Gesellschaft und den Schutz der Rechte aller wesentlich seien.57 In der Folge nimmt auch der erste belgische Gesetzesentwurf Bezug auf den Philosophen Levinas: Das Menschsein manifestiere sich durch das Gesicht, wie bereits Levinas gesagt habe.58 Anschließend zitiert die Begründung zur Gesetzesinitiative einen der Ausschnitte der Stellungnahme Badinters vor der Gérin-Kommission vom 9. September 2009 in Frankreich, welche sich auch im Gérin-Bericht später wiederfinden. Zitiert wird die Aussage Badinters, das Verhüllen des Gesichts widerspreche der fraternité sowie der civilité und damit der Vorstellung vom Verhältnis zu anderen Personen. Den Vollschleier zu tragen bedeute, sich einem Kontakt mit anderen vollständig zu verweigern oder genauer die Ablehnung der Reziprozität.59 Auch im Entwurf des schließlich in Kraft getretenen Gesetzes vom 18. April 2011 wurde auf den Gérin-Bericht der französischen Enquete-Kommission explizit Bezug genommen. So stellte die Abgeordnete Catherine Fonck (cdH) fest, in Belgien bedürfe es keiner weiteren Anhörungen von Sozialwissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen, da der Gérin-Bericht hier bereits umfassende Erkenntnisse liefere und eine neuerliche Untersuchung damit entbehrlich mache.60 Entsprechend verläuft die Argumentation im Weiteren auch weitgehend parallel zu den Erkenntnissen und entscheidenden Passagen aus dem Gérin-Bericht in Frankreich. Das Tragen des Vollschleiers widerspreche einer „Basis von Werten“ 61, das Tragen des Vollschleiers stelle einen wesentlichen Bruch mit den Prinzipien der Gesellschaft, des „vivre ensemble“, der civilité und der Soziabilität dar.62 Diese Termini sind 56 57 58 59 60 61 62

Abgeordnetenkammer, DOC 52 2289/001, S. Abgeordnetenkammer, DOC 52 2289/001, S. Abgeordnetenkammer, DOC 52 2289/001, S. Abgeordnetenkammer, DOC 52 2289/001, S. Abgeordnetenkammer, DOC 53 0219/004, S. Abgeordnetenkammer, DOC 53 0129/004, S. Abgeordnetenkammer, DOC 53 0129/004, S.

3, 5 f. 5. 6. 6; Gérin-Bericht, S. 118 f. 20. 5. 6.

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dem Gérin-Bericht wörtlich und in identischem Kontext entnommen. Auch die Bedeutung des Gesichts als Basis jeder sozialen Beziehung wird betont, es sei das Instrument der Identifikation und Sozialisierung schlechthin.63 Es handele sich daher auch nicht vorrangig um eine Frage, die auf religiöser Ebene zu diskutieren sei, sondern um eine, die das Fundament des „vivre ensemble“ betreffe.64 Es gehe darum, Verhaltensweisen zu untersagen, die mit den „Grundprinzipien“ 65 nicht vereinbar seien. Anders als der französische Gesetzesentwurf bezieht sich der belgische jedoch nicht auf etwaige Mindestanforderungen und -voraussetzungen. Die Notwendigkeit hierfür stellte sich jedoch auch nicht in der gleichen Weise wie in Frankreich, da die belgische Debatte ohne eine etwaige Neukonzeption des ordre public, deren Problematik sich in der französischen nationalen Rechtsprechung stellte, auskommen konnte. 2. Österreich, Dänemark und die Schweiz Die allgemeinen Verschleierungsgesetze in Österreich, Dänemark und der Schweiz sind jeweils nicht nur durch die Regelungen in Frankreich und Belgien geprägt, sondern vor allem auch durch die Entscheidung des EGMR in der Sache S.A.S. gegen Frankreich. Dementsprechend fokussieren sich ihre Begründungen auch weniger bis gar nicht auf die Eingriffsziele der öffentlichen Sicherheit und die Geschlechtergleichheit. Vielmehr stellten die Gesetzgeber die Sichtbarkeitsmaxime und die Bedeutung des freien Gesichts für die zwischenmenschlichen Beziehungen und Begegnungen im öffentlichen Raum einer demokratischen Gesellschaft in das Zentrum ihrer jeweiligen Gesetzesbegründung. Wesentlich expliziter kommt dabei der Aspekt der Kommunikation im Rahmen der Argumentation um das gesellschaftliche Zusammenleben zum Ausdruck. Konkreter als im Zuge des französischen und des belgischen Gesetzgebungsprozess wird in der Begründung zur Regierungsvorlage in Österreich statt auf die noch relativ abstrakte Reziprozität zwischen den Menschen in der Gesellschaft auf die Kommunikationsmöglichkeiten der Menschen im öffentlichen Raum und die daran aus Sicht der Initiatoren zu stellenden Anforderungen eingegangen: „Die Ermöglichung zwischenmenschlicher Kommunikation ist eine wesentliche Funktionsbedingung für ein friedliches Zusammenleben in einem demokratischen 63 Ebenda. An späterer Stelle betont der Abgeordnete André Frédéric (PS), dass eine Person, die ihre Augen verberge, keinerlei demokratische Dynamik zulasse, a. a. O., S. 10. Neben der an den Gérin-Bericht erinnernden Argumentation, das Gesichts zu zeigen und sehen zu können, sei ein Element einer demokratischen Gesellschaft, ist hierbei allerdings auch zu bemerken, dass diese Aussage eine Grundannahme konstruiert, die so nicht zutreffend ist: Der Niqab verdeckt die Augen nicht, vielmehr sind diese gerade durch die entsprechende Aussparung im Stoff sichtbar. Die Augen werden dagegen bei einer Burka verdeckt, für deren Auftauchen es in Belgien – und in den anderen Vertragsstaaten zur EMRK – aber bislang keinen Nachweis gibt. 64 Abgeordnetenkammer, DOC 53 0129/004, S. 20. 65 Abgeordnetenkammer, DOC 53 0129/004, S. 18.

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Rechtsstaat. Für Kommunikation bildet das Erkennen des Anderen bzw. dessen Gesichts eine notwendige Voraussetzung.“ 66

Kompetenzrechtlich stützte der Gesetzgeber das Gesetz auf Art. 10 Abs. 1 Z 7 B-VG (Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit einschließlich der ersten allgemeinen Hilfeleistung, jedoch mit Ausnahme der örtlichen Sicherheitspolizei) und dort insbesondere auf den Schutz der öffentlichen Ordnung in Form des Schutzes des friedlichen Zusammenlebens nach österreichischem Recht gemäß einer Entscheidung des österreichischen Verwaltungsgerichtshofs aus dem Jahr 1948.67 Die österreichische Gesetzesbegründung verdeutlicht ein durch die Entscheidung des EGMR im Fall S.A.S. gegen Frankreich geprägtes Verständnis der Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben in Form der non-verbalen Kommunikationsmöglichkeit zwischen auch willkürlich aufeinandertreffenden Menschen im öffentlichen Raum. Des Weiteren vollzog sich auch die österreichische Debatte um ein gesellschaftliches Kollektiv, zu welchem die Zugehörigkeit durch ein freies Gesicht bedingt sei. Anders als in der 2009 und 2010 in Frankreich geführten Debatte stand diejenige in Österreich unter dem Einfluss hoher Zuwanderungszahlen und steigender Zahlen von nach Europa geflüchteter Menschen, sodass das auch hierdurch politisch motivierte Verschleierungsverbot Teil eines ganzen Maßnahmenpakets zum Thema Integration darstellte. Der Abgeordnete August Wöginger (ÖVP) formulierte im Rahmen der parlamentarischen Debatte vom 16. Mai 2017: „Wenn ich hinausgehe, dann will ich den Menschen ins Gesicht schauen, sie sehen können. (. . .) Man muss in einer offenen Gesellschaft verlangen können, dass sich die Menschen, die zu uns kommen, nicht zuhängen können, sodass man bestenfalls die Augenschlitze sieht. Das ist nicht in Ordnung. Daher ist dieses Verbot gerechtfertigt (. . .).“ 68 Während in Frankreich und Belgien mithin Erkenntnisse darüber vorlagen, dass zumeist Frauen, die in Frankreich und Belgien geboren sind, die Praxis der Vollverschleierung wählen, wurde die Debatte in Österreich im Fokus der Zuwanderung geführt – wenngleich keinerlei Zahlen zu Zuwanderinnen mit Vollschleier vorlagen, mithin keine evidenzbasierte Argumentation erfolgte. Gleichwohl wurde die Argumentationsstrategie Frankreichs und Belgiens aufgegriffen und unter den Aspekten der Rechtsprechung des EGMR dergestalt fortgeführt, dass das Zusammenleben, das man mit dem Gesetz schützen wolle, die Kommunikation mit freiem Gesicht im öffentlichen Raum erfordere. Wenngleich nicht ausdrücklich ist darin eine deutliche Orientierung an der in Frankreich

66 Nationalrat, 1586 der Beilagen XXV. GP – Regierungsvorlagen – Erläuterungen, S. 12. 67 Nationalrat, 1586 der Beilagen XXV. GP – Regierungsvorlagen – Erläuterungen, S. 11; VwSlg 543 A/1948. 68 Nationalrat, Stenographisches Protokoll zur 179. Sitzung XXV. GP vom 16.05. 2017, S. 199.

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durch die Gérin-Kommission initiierte Argumentation um die Reziprozität zwischenmenschlicher Begegnungen im öffentlichen Raum zu sehen. Auch der dänische Gesetzgeber stand unter dem Einfluss der S.A.S.-Entscheidung und passte seine Gesetzesbegründung hieran an, übernahm mithin ebenfalls die Argumentation um die Mindestanforderungen für das gesellschaftliche Zusammenleben. Während die erste Gesetzesinitiative 2009 hauptsächlich die Bekämpfung der Unterdrückung von Frauen als Ziel der Maßnahme nannte und Burka und Niqab ausdrücklich erwähnte, war die Initiative von 2014, aus dem Jahr der S.A.S.-Entscheidung, in religiös-weltanschaulich neutralem Wortlaut gehalten und vorrangig auf eine Argumentation um die Sichtbarkeitsmaxime gestützt. Der Entwurf von 2016 nahm wiederum auch Bezug auf die Geschlechtergleichheit und die öffentliche Sicherheit, ehe der Entwurf von 2017 die Argumentationen verband und sich die Initiatoren in der Begründung auch ausdrücklich auf die S.A.S.-Entscheidung des EGMR bezogen.69 Auch hier wurde ausgeführt, dass die Gesellschaft auf zwischenmenschlichen Beziehungen basiere, für die es von entscheidender Wichtigkeit sei, dass man einander ins Gesicht sehen könne. Folglich wurde die Argumentation auf dem Punkt der Reziprozität als Ausgangspunkt einer funktionierenden Gesellschaft aufgebaut. Der Gesetzesentwurf von 2018 nannte schließlich das explizite Ziel der Förderung der sozialen Interaktion und des Zusammenlebens, die in einer Gesellschaft wesentlich seien. Auf weitere Ausführungen, was das Zusammenleben als solches darüber hinaus kennzeichnet, verzichtet die Begründung. Soziale Interaktionen zwischen Menschen im öffentlichen Raum, auch non-verbale, werden jedoch als wesentliches Element des Zusammenlebens dargestellt.70 Auch der dänische Gesetzgeber gründet seine Argumentation mithin auf die in Frankreich erstmalig diskutierte Konzeption und ergänzt sie wie der österreichische Gesetzgeber um die Ausführungen zur zwischenmenschlichen Interaktion in Form von non-verbaler Kommunikation im Lichte der S.A.S.- (und der Belcacemi und Oussar-)Entscheidung des EGMR. Hinsichtlich der Schweiz schließlich lässt sich ebenfalls feststellen, dass sowohl die regionalen Gesetzesinitiativen, als auch die bundesweite Initiative durch die Argumentationen im französischen Gesetzgebungsprozess und in der S.A.S.Entscheidung des EGMR entscheidend geprägt wurde. Schon Art. 1 des legge sulla dissimulazione del volto negli spazi pubblici, dem Tessiner Ausführungsgesetz zum Verhüllungsverbot in Art. 9a der Kantonsverfassung von 2013 nannte als Zweck des Gesetzes die Bewahrung der Grundbedingungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer – mithin das von Frankreich angeführte und vom EGMR in dieser Form erstmals im S.A.S.-Verfahren akzeptierte Eingriffsziel. Die Initiatoren der Bundesinitiative 69 70

Vgl. Erster Teil, C. IV. 3. Justitsmin., j. nr. 2017-0090-0233, Folketingstidende A, Lovforslag L 219, S. 6.

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bezogen sich ebenfalls auf die Argumentation, dass zu einer freien Gesellschaft ein freies Gesicht gehöre. Nichtsdestotrotz nannten sie überdies aber auch die Geschlechtergleichheit und den Schutz der öffentlichen Sicherheit. Auch der Bundesrat stimmte der Aussage der Initiatoren zu, dass das Zeigen des Gesichts eine wichtige Rolle bei der sozialen Interaktion spiele, grund- und menschenrechtliche Bedenken brachte er nicht an, wenngleich er das Vorhaben schließlich nicht unterstützte.71 Auffällig ist, dass die Schweizer Initiatoren kaum mehr Ausführungen zu den Bedingungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens machten, als die bloße Feststellung zu treffen, dass zu einer freien Gesellschaft die Begegnung mit freiem Gesicht in der Öffentlichkeit gehöre. Im Vergleich zu den anderen Staaten wird hier kaum mehr Begründungsaufwand betrieben. Es entsteht der Eindruck, dass die Konzeptionen und Argumentationslinien, die in Frankreich, aber auch über die Zeit in Dänemark, und im Verfahren S.A.S. gegen Frankreich noch neu waren und großen Begründungsaufwands bedurften, mittlerweile derart verbreitet und bekannt sind, dass sie keiner größeren Erläuterung oder Überzeugungsarbeit mehr bedürfen. Ohne, dass inhaltliche Klarheit erreicht wäre, hat sich das Eingriffsziel der Mindestanforderungen für das gesellschaftliche Zusammenleben als legitimes Eingriffsziel für allgemeine Verschleierungsverbote etabliert. Die damit verbundene ständige Verfügbarkeit der einzelnen Person zur non-verbalen Kommunikation bei Zufallsbegegnungen im öffentlichen Raum als Jedermanns-Pflicht scheint – zumindest in der Schweiz – etabliert und nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt zu werden.

VI. Ergebnis und Versuch der Begriffsdefinition Die Analyse der französischen Gesetzesmaterialien hat gezeigt, dass anders als in den Debatten um Verbote religiöser Symbole an öffentlichen Schulen die nun dargebrachte Rechtfertigung der Freiheitsbeschränkung über den Ansatz einer konkreten Gesellschaftskonzeption in hohem Maße für andere Staaten übernahmefähig ist. Der Gérin-Bericht hatte auch auf den Gesetzgebungsprozess in Belgien unmittelbaren Einfluss. Die zwar nicht in ihrem Wortlaut, wohl aber in ihrer Intention religionsbezogene Argumentation basierend auf dem gesellschaftlichen Zusammenleben (neben der in den Gesetzgebungsprozessen nachfolgender Staaten immer weiter vernachlässigten Gleichheit der Geschlechter und der öffentlichen Sicherheit) bietet einen Anknüpfungspunkt, der systemisch nicht nur im laizistischen Frankreich verfangen kann. Die Gesetze Österreichs, Dänemarks und der Schweiz stehen dabei notwendigerweise auch unter dem Einfluss der EGMREntscheidung im Fall S.A.S. gegen Frankreich und fokussieren den Aspekt der Mindestanforderungen an das Zusammenleben dementsprechend verstärkt. Besonders deutlich wird dies im Falle der Schweiz, deren Gesetz das jüngste ist: 71

Vgl. ausführlich Erster Teil, C.V. 2.

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4. Teil: Betrachtung der Mindestanforderungen des „vivre ensemble‘‘

Hier wurde kaum mehr argumentiert, sondern weitestgehend auf das Eingriffsziel der Rechte und Freiheiten anderer und dessen Ausprägung der Grundbedingungen für das gesellschaftliche Zusammenleben verwiesen. Die inhaltliche Bedeutung der Konzeption bleibt zwar insgesamt einigermaßen vage, lässt jedoch einige wesentliche Elemente erkennen und kann nach Analyse der Materialien wie folgt verstanden werden: Unter den Mindestanforderungen für das gesellschaftliche Zusammenleben lassen sich ungeschriebene, gesellschaftlich konsentierte Grundübereinkünfte und soziale Prinzipien verstehen, die von solch grundlegender Bedeutung für das Funktionieren einer demokratischen freiheitlichen Gesellschaft sind, dass die Art und Weise der Ausübung der Menschen- und Freiheitsrechte unmittelbar durch ihr Vorliegen bestimmt wird. Diese konsentierten Übereinkünfte gründen dabei auf Maximen demokratischer Gesellschaftsformen und stellen selbst Werte einer demokratischen Gesellschaft dar, die sich auf die Zivilgesellschaft beziehen und diese zugleich berechtigen und zu einem eigenen Beitrag verpflichten. Hier wiederum subsumieren die Gesetzgeber die Ermöglichung der sozialen Interaktion und Reziprozität, zu deren Gelingen ein Jeder und eine Jede einen gewissen Beitrag zu leisten habe, wie etwa sich nicht durch Abschottungsmechanismen im öffentlichen Raum dem gesellschaftlichen Kollektiv und der sozialen Interaktion systematisch zu entziehen. Die wertebezogene Gesetzesbegründung unter Betonung der Sichtbarkeitsmaxime, des friedlichen Zusammenlebens und letztlich der Herausstellung einer jederzeitigen (non-verbalen) Kommunikationsmöglichkeit hat sich damit von einer Konzeption, die vorrangig durch geisteswissenschaftliche Theorien und philosophische Konzepte geprägt wurde, zu einem nach dem Verständnis sowohl des EGMR, als auch der nachfolgend entsprechende Gesetze erlassenden Staaten zu einem legitimen Eingriffsziel in die durch Art. 9 Abs. 1 EMRK geschützte Religionsfreiheit und das von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Recht auf private Lebensführung entwickelt. Diese Entstehungsgeschichte verdeutlicht sowohl den Einfluss der Sozialwissenschaften auf den Prozess der Entstehung der Verbotsgesetze72 als auch die „Exportfähigkeit“ der Konzeption. Im Folgenden bedarf es der Betrachtung, inwiefern mit dem auf diese Weise konstruierten Eingriffsziel im Rahmen der Schrankenkatalog der Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK umzugehen ist, welche Problematiken das Vorgehen insbesondere des EGMR hierbei birgt und welche Aspekte daraus resultierend weiterer Untersuchung bedürfen. Inhaltlich wird dabei dem Terminus der Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben der hier gefundene Bedeutungsgehalt zugrunde gelegt.

72 Bezüglich Frankreich vgl. dazu auch Baehr/Gordon, Economy and Society 42 (2013) 2, S. 249 ff.

B. Die Mindestanforderungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens

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B. Die Mindestanforderungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens im Kontext der Schrankenkataloge von Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK I. Auslegungsgegenstand Die Betrachtung des zuerst im französischen Gesetzgebungsverfahren diskutierten und letztlich vom EGMR anerkannten Eingriffsziels der Mindestanforderungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens als Element der Rechte und Freiheiten anderer i. S. d. Art. 8 und 9 Abs. 2 EMRK stellt eine besondere Herausforderung dar. Wissenschaftliche Abhandlungen zu den Grundfreiheiten der EMRK befassen sich häufig ausgiebig mit der Reichweite der Schutzbereiche sowie im Rahmen der Rechtfertigung von Eingriffen mit der „Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft“, mithin der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs. Eine präzise Prüfung der Verhältnismäßigkeit bedarf jedoch einer präzisen Benennung der konfligierenden Interessen und folglich auch der genauen Untersuchung der in den jeweiligen Artikeln genannten Schrankenvorbehalte. Dennoch werden die Inhalte der Schrankenvorbehalte in den Art. 8–11 Abs. 2 EMRK häufig nicht untersucht und ihr Inhalt als weitgehend allgemein anerkannt betrachtet.73 Als mitursächlich hierfür kann die Praxis des EGMR gesehen werden, sich grundsätzlich nicht weitergehend mit der Auslegung und Prüfung des Vorliegens eines legitimen Eingriffsziels auseinander zu setzen, sondern den Mitgliedsstaaten hier einen weiten Beurteilungsspielraum zuzugestehen und rechtliche Probleme im Rahmen der Notwendigkeit der Maßnahme in einer demokratischen Gesellschaft zu prüfen.74 Der Gerichtshof selbst beschreibt seine sonst übliche Vorgehensweise hinsichtlich der Auslegung des legitimen Eingriffszwecks in der S.A.S.Entscheidung als „knapp“.75 Dieses Vorgehen mag seine Berechtigung haben, wenn der Schrankenbegriff per se keinen weiten Auslegungsspielraum zulässt. Anders verhält es sich jedoch bei unbestimmten Schrankenbegriffen, die selbst der Auslegung bedürfen. Die in Art. 8 und 9 Abs. 2 EMRK genannten Eingriffsziele sind zuweilen geprägt durch unbestimmte Rechtsbegriffe und folglich besonders auslegungsbedürftig. Hintergrund hierfür ist, dass die in hohem Maße sozialbezogenen Freiheitsrechte der Art. 8–11 EMRK einer Vielzahl mannigfaltiger Fallkonstellationen gerecht werden müssen. Die Auslegung der Eingriffsziele ist hier gleichsam spiegelbildlich zur Bestimmung des Schutzbereichs von 73

Berka, EuGRZ 1982, 413 (425). Vgl. im Kontext von Verboten religiöser Kleidung uns Symbole etwa EGMR, Urteil vom 23. Februar 2010, Arslan u. a. gegen Türkei, Nr. 41135/98, Ziffer 43; EGMR, Urteil vom 10. November 2005, Leyla S¸ahin gegen Türkei, Nr. 44774/98, ECHR-2005XI, Ziffer 99. 75 EGMR, Urteil vom 1. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffer 114. 74

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4. Teil: Betrachtung der Mindestanforderungen des „vivre ensemble‘‘

wesentlicher Bedeutung für die Reichweite der Gewährleistung des jeweiligen Rechts. Unzulässig wären dagegen Eingriffe, die nicht einem der in den jeweiligen Artikeln selbst genannten Zwecke dienen: Art. 18 EMRK verbietet eine Übertragung von Eingriffszwecken auf andere Gewährleistungen, welche diese nicht selbst aufführen. Eine etwaige „Schrankenleihe“ scheidet damit von vornherein aus. Darüber hinaus sind auch Eingriffe aufgrund neuer, nicht in der EMRK genannte Ziele konventionswidrig.76 Der durch Auslegung erfolgenden Ermittlung der Reichweite der genannten Eingriffsziele kommt damit eine wichtige, wenngleich häufig unterschätzte Bedeutung zu.77 Mithin sollen in der Folge die Auslegungsregeln der EMRK erläutert und anschließend auf diejenigen Schranken angewendet werden, die unter Berücksichtigung der Argumentationen des EGMR einer Subsumtion der „Mindestanforderungen für das gesellschaftliche Zusammenleben“ zugänglich sein und folglich einen legitimen Eingriffszweck darstellen könnten.

II. Auslegung der EMRK Die Regeln der Auslegung der EMRK ergeben sich aus der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK)78, aus der EMRK selbst und aus der Rechtsprechung der Konventionsorgane bzw. heute des EGMR. Auslegungsgegenstand ist allein der Vertrag selbst, nicht der Wille der Parteien, wie dies sonst bei Vertragswerken der Fall ist. Da völkerrechtliche Verträge wie die EMRK nicht nur Beziehungen der Vertragsparteien zueinander betreffen, sondern auch und gerade wegen ihrer Garantien einerseits und der Eingriffsbefugnisse andererseits dritte Rechtssubjekte tangieren, ist Rechtssicherheit hier von noch bedeutenderer Wichtigkeit.79 Die Ermittlung eines wahren Parteiwillens kann daher nicht Auslegungsgegenstand sein.80 1. Klassische Auslegungsmethoden gem. Art. 31–33 WVK Auslegungsregeln für völkerrechtliche Verträge sind in den Art. 31–33 WVK festgehalten. Die EMRK ist als völkerrechtlicher Vertrag (unter anderem) nach der WVK auszulegen.81 Dies ändert sich auch nicht dadurch, dass die Wirkungen der EMRK sich vorrangig im innerstaatlichen Bereich eines Vertragsstaates entfalten. Der EGMR bezog sich erstmals 1975 in einer Entscheidung auf die Aus76

Hoffmann-Remy, S. 53. Berka, EuGRZ 1982, 413 (425); Hauer, S. 116 m.w. N. 78 BGBl. 1985 II, 925. 79 Weiß, S. 41. 80 Nicht zu verwechseln ist dies mit der Heranziehung von Dokumenten der Vertragsverhandlungen durch die Parteien im Wege der historischen Auslegung. 81 EGMR, Urteil vom 29. Januar 2008, Saadi gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 13229/03, ECHR-2003-I, Ziffer 61 f. 77

B. Die Mindestanforderungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens

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legungsregeln aus der Vertragsrechtskonvention. Letztere war zu diesem Zeitpunkt zwar noch nicht in Kraft getreten, nach Ansicht des EGMR kodifiziere sie aber bezüglich der Auslegungskanones ohnehin lediglich schon damals bestehendes Gewohnheitsrecht.82 Die WVK nennt als allgemeine Auslegungsmethoden die Wortlautauslegung (Art. 31 Abs. 1 WVK), die teleologische Auslegung (Art. 31 Abs. 1 WVK), die systematische Auslegung (Art. 31 Abs. 2 WVK). Darüber hinaus sind die spätere Übung der Anwendung (Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVK), spätere Übereinkünfte der Parteien hinsichtlich der Auslegung (Art. 31 Abs. 3 lit. a) WVK) und jeder zwischen den Vertragsparteien anwendbare einschlägige Völkerrechtssatz (Art. 31 Abs. 3 lit c) WVK) bei der Auslegung zu berücksichtigen. Die in Art. 31 Abs. 3 WVK genannten Methoden und Maßstäbe verweisen auf ein dynamisches Auslegungskonzept der WVK. Art. 32 WVK wiederum nennt die historische Auslegung lediglich als ergänzende Auslegungsregel, der somit ein subsidiärer Charakter zukommt. Art. 33 Abs. 1 WVK bestimmt, dass bei völkerrechtlichen Verträgen, die in mehreren authentischen Sprachfassungen geschlossen wurden, alle authentischen Sprachfassungen gleichermaßen maßgebend sein sollen, wenn die Parteien nicht etwas anderes vereinbart haben. Weisen die authentischen Sprachfassungen Abweichungen auf, so ist gem. Art. 33 Abs. 4 WVK diejenige Bedeutung durch Auslegung zu ermitteln, die unter Berücksichtigung des Sinns und Zwecks des Vertrags am ehesten mit den jeweiligen Wortlauten in Einklang steht. Authentische Sprachfassungen der EMRK sind ausweislich ihrer Schlussklausel die englische und die französische Sprachfassung. Eine Vorrangregelung für den Fall von Wortlautabweichungen enthält die EMRK nicht. 2. EMRK-spezifische Auslegungsmethoden: Evolutive und autonome Auslegung der EMRK als „living instrument“ a) Entstehung und Inhalt der evolutiven Auslegungsmethode Die von der WVK normierten Auslegungsregeln werden nach Ansicht des EGMR den Besonderheiten der EMRK nicht vollständig gerecht. Ausgehend von ihrem heute unbestrittenen Charakter als objektive Werteordnung kann die EMRK auch nach für sie spezifisch entwickelten bzw. ausgestalteten Regeln ausgelegt werden. Dies meint die als evolutive oder zuweilen auch als dynamische83 Auslegung bezeichnete Methode, welche dogmatisch eine konventionsspezifische Konkretisierung der teleologischen Auslegung darstellt. Gleichwohl ist die Methode der evolutiven Auslegung in engem Zusammenhang mit der Auslegung gem. Art. 31 Abs. 3 lit. b) und c) WVK zu sehen. Art. 31 Abs. 3 lit. b) und c) 82 EGMR, Urteil vom 21. Februar 1975, Golder gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 4451/70, Series A18, Ziffern 29 ff. 83 Böth, S. 68.

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4. Teil: Betrachtung der Mindestanforderungen des „vivre ensemble‘‘

WVK lassen für völkerrechtliche Verträge eine dynamische Auslegung zu, die auch solche Elemente der Völkerrechtsordnung einbezieht, die außerhalb des auszulegenden Vertrags liegen – nämlich dann, wenn aus späterer Übung bei der Anwendung der Verträge ein entsprechender Parteikonsens hinsichtlich einer bestimmten Auslegung hervorgeht (lit. b))84 oder es sich um einen zwischen den Parteien anwendbaren einschlägigen Völkerrechtssatz handelt (lit. c)). 1968 hatte der Gerichtshof im Fall Wemhoff gegen Deutschland mit Wortlautabweichungen zwischen den beiden authentischen Sprachfassungen umzugehen. Er stellte dabei fest, dass die in Art. 33 Abs. 4 WVK festgelegte Regelung vorsehe, in einem solchen Fall diejenige Bedeutung auszuwählen, die mit beiden Wortlauten am ehesten im Einklang stehe. Die EMRK sei jedoch ein normativer Vertrag, sodass letztlich entscheidend sein müsse, welche Auslegung ihrem Sinn und Zweck am nächsten komme und nicht, welche dem Mitgliedsstaat die geringsten Verpflichtungen auferlege.85 Der EGMR verzichtete mithin auch auf den von Art. 33 Abs. 4 WVK grundsätzlich geforderten Minimalkompromiss zwischen den Wortlauten. Zurückgeführt wird der explizite Begriff der evolutiven Auslegung aber auf Sørensen, der diesen auf dem 4. Internationalen Kolloquium zur EMRK 1975, mithin nach der Wemhoff-Entscheidung, erörterte.86 Er stellte dabei die Frage, ob die Formulierungen in der EMRK 1975 noch dieselbe Bedeutung haben könnten wie zur Zeit ihrer Abfassung im Jahr 1950. Dabei bezog sich Sørensen zunächst nicht auf die Rechtsprechung des EGMR, der eine solche Vorgehensweise bis dahin noch nicht explizit anwendete, sondern auf diejenige des IGH in einer Stellungnahme zum rechtlichen Status des Territoriums Namibias.87 Er vertrat die Auffassung, dass eine dynamische Begriffsauslegung dort, wo die Begriffe entsprechenden Raum bieten, keinen Widerspruch zu den traditionellen völkerrechtlichen Auslegungsmethoden darstelle.88 Vielmehr sei eine solche evolutive Auslegung zulässig, weil die EMRK vergleichbar mit nationalen Verfassungen sei.89 Die evolutive Auslegung stellt heute diejenige völkerrechtliche Auslegungsmethode dar, die sich nach Vertragsschluss vollziehende Entwicklungen bei der Auslegung der Normen einbezieht.90 Im Rahmen der evolutiven Auslegung ist

84

Zur Reichweite dieser Norm vgl. ausführlich Böth, S. 90 ff. EGMR, Urteil vom 27. Juni 1968, Wemhoff gegen Deutschland, Nr. 2122/64, Series A7, S. 23, Ziffer 8; Blum, S. 36. 86 Sørensen, Proceedings of the 4th Colloquy about the European Convention on Human Rights, S. 83 ff. 87 IGH, Reports 1971, S. 16–66. 88 Sørensen, S. 88. 89 Sørensen, S. 89. 90 Böth, S. 69. 85

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also nicht mehr auf die Umstände zum Zeitpunkt der Abfassung der Konvention, sondern auf jene zum Zeitpunkt ihrer Anwendung abzustellen. Dadurch ist es insbesondere möglich, Begriffe im Laufe der Zeit in unterschiedlicher Weise auszulegen, stets im Einklang mit den innereuropäischen und innerstaatlichen gesellschaftlichen Entwicklungen und Verhältnissen.91 Auf diese Weise soll es möglich sein, den Zweck der Konvention auch unter veränderten Umständen zu erreichen.92 Zur Bestimmung der (veränderten) gesellschaftlichen Verhältnisse erfolgt zumeist ein Einbezug der Entwicklungen im innerstaatlichen Recht der Mitgliedsstaaten der EMRK durch den EGMR als ein Indiz für einen Wandel der Verhältnisse und Wertvorstellungen in der Gesellschaft.93 Neben der Zielsetzung, durch die evolutive Auslegungsmethode den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen gerecht zu werden und dadurch den Konventionszweck gegenwartsspezifisch erreichen zu können, soll die evolutive Auslegung aber auch dazu dienen, allgemein formulierte und generelle Begriffe im Sinne der EMRK als Ganzes auslegen und so deren Bedeutungsgehalt, immer im Kontext der gegenwärtigen Verhältnisse und zugleich auf der textlichen Grundlage, bestimmen zu können.94 Dazu lässt sich wiederum anführen, dass eine evolutive Auslegung stets eine gewisse Offenheit der Begriffe voraussetzt, die überhaupt eine sich verändernde Auslegung zulässt, etwa, weil die auslegungsbedürftigen Begriffe Adjektive enthalten, die mit gesellschaftlichen (Wert-)Vorstellungen auszufüllen sind. Beispielhaft kann hier auf den Begriff der erniedrigenden Behandlung in Art. 3 EMRK verwiesen werden.95 Als Grenze der evolutiven Auslegung definiert der EGMR mitunter den Wortlaut der Konventionsnormen.96 Dies steht im Einklang mit der WVK, die ihrerseits nach weitegehend einhelliger Auffassung den Wortlaut sowohl als Ausgangspunkt als auch als Grenze der Auslegung bestimmt.97 91

Karl, S. 26. Bernhardt, S. 35; Böth, S. 66. 93 EGMR, Urteil vom 25. April 1978, Tyrer gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 28957/95, Series A26, Ziffer 31; EGMR, Urteil vom 13. Juni 1979, Marckx gegen Belgien, Nr. 6833/74, Series A31, Ziffer 41; EGMR, Urteil vom 22. Oktober 1981, Dudgeon gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 7525/76, Series A45, Ziffern 46, 56, 58; vgl. ausführlich zu den jeweils evolutiven Aspekten Böth, S. 41 ff.; Mahoney, HRLJ 11 (1990), 59 (61). 94 Grewe, ZaöRV 2001, 459 (466 f.); Mahoney, HRLJ 11 (1990), 59 (63). 95 Eine evolutive Auslegung des Begriffes legte der EGMR seiner Entscheidung im Fall Tyrer gegen Vereinigtes Königreich zugrunde, EGMR, Urteil vom 25. April 1978, Tyrer gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 28957/95, Series A26, Ziffer 31. 96 EGMR, Urteil vom 7. Juli 1989, Soering gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 14038/88, Series A161, Ziffer 103. 97 Kritisch dazu jedoch Busse, S. 39 f., der die Tauglichkeit des Wortlauts als Begrenzung für ungeeignet hält, da dieser ja gerade häufig streitig sei: Linguistisch stünden gerade nicht immer eindeutige Wortbedeutungen fest. Gleichwohl, so Böth, S. 125, bestehe auch unter den Kritikern der Theorie der Wortlautgrenze ein Bedürfnis nach einem begrenzenden Element zugunsten einer einheitlichen Rechtsanwendung und zur Wahrung des Gesetzesbindungspostulats. Die Kritik an der Wortlautgrenze als Grenze 92

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b) Kritik und Stellungnahme Aus den allgemeinen Ausführungen zur Entwicklung der evolutiven Auslegung im Völkerrecht und insbesondere im Hinblick auf die EMRK wird deutlich, dass die Annahme eines „gesellschaftlichen Wandels“ voraussetzt, dass dieser auf einem breiten Konsens hinsichtlich der neuen Annahmen und Wertmaßstäbe beruhen muss. Von veränderten Verhältnissen kann erst dann gesprochen werden, wenn sich in den Gesellschaften der Mitgliedsstaaten zumindest mehrheitlich ein neues (Werte-)Verständnis etabliert hat. Zur Prüfung dessen ist die Anwendung nachvollziehbarer Methoden durch den EGMR erforderlich. Als eine solche bietet sich der Rechtsvergleich hinsichtlich innerstaatlicher Regelungen der Mitgliedsstaaten an.98 Allerdings lässt sich argumentieren, dass eine empirische Herangehensweise nur ein deskriptives Ergebnis des momentanen Zustands liefern würde anstatt eine normative Entscheidung herbeizuführen, auf die es aber gerade ankäme.99 Diese aus der verfassungsrechtlichen Diskussion stammende Kritik ist übertragbar auf die evolutive Auslegung im Völkerrecht: Verträge zum Schutz der Menschenrechte beschreiben einen Zustand, der sein soll, nicht lediglich einen Zustand, der ist. Deshalb kann der vergleichende Ansatz hilfreich, darf aber letztlich nicht allein entscheidend sein, um den Gehalt menschenrechtlicher Normen gegebenenfalls zu verändern. Dies drängt sich schon wegen des Gedankens des Minderheitenschutzes im Rahmen menschenrechtlicher Gewährleistungen auf. Dem Ansatz, der einen Parteienkonsens als erforderlich erachtet, ist aber jedenfalls in seinem Ausgangspunkt zu folgen: Voraussetzung dafür, die evolutive Auslegungsmethode überhaupt anwenden zu können, muss sein, dass sich gesellschaftliche Verhältnisse verändert haben und es bedarf zur Ermittlung, ob eine solche Veränderung denn vorliege, verlässlicher Methoden. Das Abstellen auf einen Parteienkonsens ist dabei gerade auch vor dem Hintergrund von Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVK nicht unvertretbar. Kritik an der Vorgehensweise des EGMR beinhaltet häufig die Forderung nach (wenigstens) einer rechtsvergleichenden Vorgehensweise. So vertrete der EGMR die Grundannahme, die EMRK sei prinzipiell evolutiv auszulegen, mit der Folge, dass eine spezifische Prüfung eines für die evolutive Auslegung im Völkerrecht als notwendig erachteten Parteikonsenses unterlassen werde und stattdessen lediglich ein Hinweis auf die living-instrument-Formel erfolge.100 Diese Kritik ist insoweit berechtigt, als dass der EGMR zwar die living instrument-Formel in seider Auslegung hebt daher zwar im Ergebnis die Ungeeignetheit der Wortlautgrenze hervor, lehnt sie dennoch aber nicht gänzlich als Mittel zur Durchsetzung des Gesetzesbindungspostulats ab, Christensen, S. 69; eingehend zum Theorien- und Meinungsstreit vgl. Böth, 125 f. 98 Mahoney, HRLJ 11 (1990), 57 (74). 99 Monahan, S. 54 f., der diese Argumentation im Rahmen verfassungsrechtlicher Diskurse in Kanada vertritt. 100 Böth, S. 157.

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ner Entscheidung Marckx gegen Belgien aus dem Jahr 1979 erstmals anwendete und die Gründe hierfür auch erörterte: Eine unterschiedliche erbrechtliche Behandlung von ehelichen und nicht-ehelichen Kindern sei zur Zeit der Abfassung der Konvention zwar Konsens zwischen den Vertragsparteien gewesen, es müssten aber die seitdem eingetretenen Entwicklungen in den nationalen Rechtsordnungen der Vertragsstaaten einbezogen werden, die eine Ungleichbehandlung zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht mehr zuließen.101 In den darauf folgenden Entscheidungen des EGMR verweist dieser jedoch nur noch weitgehend floskelhaft auf die so aufgestellte Formel. Konsequenterweise wird daher kritisiert, der EGMR unterlasse es darzulegen, woraus sich die Verpflichtung zur Einbeziehung späterer Entwicklungen in dem jeweiligen Fall denn ergebe. Böth konstatiert in diesem Zusammenhang, dass die Anwendung der evolutiven Auslegung durch den EGMR eher von einem (gegenwärtigen) Wunsch nach effektiverem Menschenrechtsschutz getragen sei, als von der Überzeugung, dass die Vertragsstaaten bei Vertragsschluss tatsächlich von einer Weiterentwicklung der Schutzgehalte ausgegangen seien.102 Hinsichtlich der Bindung an die Auslegungsmethoden der WVK wird von anderen Kritikern in noch schärferer Weise vorgebracht, der EGMR gebe nur noch vor, diese anzuwenden, tatsächlich habe er aber ein „eigenes Interpretationskonzept entwickelt, von dem er nur behauptet, es beruhe auf der WVK“.103 Einerseits zielt die Kritik damit darauf ab, auf die Gefahr einer illegitimen Kompetenzanmaßung des Gerichtshofs hinzuweisen. Findet die Methode der evolutiven Auslegung ohne ausreichende Begründung Anwendung, so besteht die Gefahr, dass sich der Gerichtshof von der das Recht auslegenden und anwendenden Instanz zu einem Quasi-Gesetzgeber entwickelt. Der EGMR verfolge eine moralische Lesart der Konvention und wähle die Argumente, die diese am besten stützten, anstatt sich tatsächlich an einem Parteienkonsens zu orientieren, so die Kritik.104 Vertragsänderungen obliegen jedoch den Vertragsstaaten. Zwar besteht dieses Spannungsfeld grundsätzlich und ist im Rahmen der EMRK besonders markant, da diese zahlreiche unbestimmte Rechtsbegriffe enthält, die im Rahmen der Rechtsprechung zwangsläufig ausgelegt und mit Inhalten gefüllt werden müssen. Gleichwohl wäre es Aufgabe der Vertragsparteien, den Text entsprechend zu ändern, wenn sie neuere Entwicklungen darin explizit berücksichtigt sehen wollten. Dass die Vertragsparteien dies aber gerade nicht tun – weder in eine den Schutz ausweitende, noch eine ihn beschränkende Richtung – kann wiederum auch als Zeichen gedeutet werden, dass sich der EGMR auch aus Sicht der verpflichteten Staaten innerhalb dessen bewegt, was sie bereit sind,

101 EGMR, Urteil vom 13. Juni 1979, Marckx gegen Belgien, Nr. 6833/74, Series A31, Ziffer 41. 102 Böth, S. 158. 103 Zemanek, S. 458. 104 Letsas, EJIL 21 (2010), 509 (528); zustimmend Zemanek, S. 458.

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konsensbasiert mitzutragen. Überdies ist wesentlich zu berücksichtigen, dass der EGMR seine Kompetenzen gerade nicht jenseits der Vertragsstaaten ausweitet und sich zu einer Art Gesetzgeber an ihrer statt auf dem Gebiet der Menschenrechte aufschwingt, sondern sich durch die „Rückkoppelung“ 105 seiner Auslegung an konsensgetragenen Übereinkünften der Staatengemeinschaft orientiert. Dennoch ist bei der Forderung nach genauerer Begründung für die Anwendungsvoraussetzungen der evolutiven Auslegung und Ermittlung des (aktuellen) Parteikonsenses durch den EGMR mit Björnstjern Baade anzumerken, dass der Konsens für die Kompetenz der EGMR, die Konvention überhaupt auszulegen, zwingend ist, gleichwohl ist der Gerichtshof hinsichtlich seiner Auslegungsergebnisse aber nicht an einen Konsens gebunden. Dies ist gerade das als unumstößlich zu begreifende Wesen eines unabhängigen Gerichtshofs.106 Insofern ist es angebracht, dass der EGMR auch aktuelle Entwicklungen und das aktuelles Verständnis von den Konventionsbegriffen in den Vertragsstaaten berücksichtigen soll, seine Ergebnisse können aber nicht an diese gebunden sein. Auch bedeutet ein Einbezug aktualisierter Verhältnisse und unter Umständen auch das Rekurrieren auf andere Völkerrechtsverträge, deren Parteien die Vertragsstaaten sind, letztlich zwar einen geweiteten Blick des EGMR, der als Kompetenzausweitung gesehen werden könnte, letztlich aber vor allem eine Vergewisserung dahingehend, die Konvention und ihre Termini immer auch im Kontext der Zeit und gerade im Sinne der Vertragsstaaten zu verstehen. Wie Baade richtig anmerkt, kann diese Rückkoppelung dann wiederum auch eine Beschränkung der Auslegungsfreiheit bedeuten.107 Eine gänzliche Abwendung von der objektiv-textbezogenen Auslegung ist angesichts der Wortlautgrenze überdies nicht zu befürchten und verstieße auch gegen Art. 32 EMRK. Richtig ist aber der Hinweis, dass evolutive Auslegung dort enden muss, wo materielle Vertragsänderung in Form einer Schaffung neuer Regelungsgehalte beginnt.108 Auch eine kurze Betrachtung des Konzeptes der autonomen Konventionsauslegung stützt die Auffassung, dass der Parteikonsens Ausgangspunkt für die Auslegung sein kann, aber nicht vorweggenommenes Auslegungsergebnis. Der EGMR formuliert regelmäßig, dass Begriffe, die in der Konvention genannt werden, einen eigenen und vor allem von den Rechtsordnungen der Vertragsstaaten unabhängigen Bedeutungsgehalt haben können.109 Dieses Konzept der „autonomen Auslegung“ ist seinem Grunde nach

105

Baade, S. 51. Baade, S. 51. 107 Ebenda. 108 Zu dieser Grenze vgl. auch Joint Dissenting Opinion (Sondervotum) zu EGMR, Urteil vom 29. Mai 1986, Feldbrugge gegen Niederlande, Nr. 8562/79, Series A24-A, Ziffer 24. 109 Erstmals EGMR, Urteil vom 8. Juni 1976, Engel u. a. gegen Niederlande, Nr. 5100/71, Series A22, Ziffer 80; seitdem häufige Praxis; Meyer-Ladewig/Nettesheim, in: Meyer-Ladewig u. a., EMRK, Einleitung Rn. 26. 106

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jedoch ebenso wie die evolutive Auslegung keine in besonderem Maße kritikwürdige Kompetenzerweiterung seitens des EGMR, sondern vielmehr schlichte Notwendigkeit für einen effektiven Menschenrechtsschutz. Andernfalls wäre es den Vertragsstaaten ohne weiteres möglich, durch eigene Gesetzgebung festzulegen, welche Reichweite die Konventionsbegriffe haben sollen – indem sie sie in nationalem Recht etwa legaldefinieren und den Gerichtshof hierdurch binden könnten. Evolutive Auslegung und autonome Auslegung sind daher Methoden, die korrespondierend einerseits veränderte Verhältnisse und Verständnisse in den Gesellschaften der Vertragsstaaten in gewissem Maße berücksichtigen und gleichzeitig die Unabhängigkeit des Gerichtshofs genauso wie die normative Werteordnungsfunktion der Konvention sichern. Ansatzpunkt ist dabei stets der Konventionstext selbst, Grenze ist der Wortlaut. 3. Vermutung zugunsten eines umfangreichen Menschenrechtsschutzes? Die Entscheidungen des EGMR, die methodisch unter anderem auf Auslegungsergebnissen beruhen, bedürfen zu ihrer gesamtheitlichen Legitimität aber auch der Legitimität der jeweiligen Auslegungsmethode. An dieser Stelle ist die oben schon erwähnte Problematik zu verorten, dass der EGMR es häufig unterlässt darzulegen und zu begründen, warum er im Einzelfall von der evolutiven Auslegung Gebrauch macht oder in diesem Einzelfall geradezu zu ihrer Anwendung verpflichtet ist. Der floskelhafte Verweis auf die living-instrument-Formel birgt nach Ansicht mancher die Gefahr, dass zumindest der Eindruck entstehen könne, der EGMR entscheide ohne weitergehende Erläuterung zugunsten einer maximalen Reichweite des Menschenrechtsschutzes.110 Diese Sorge verfängt jedoch gerade nicht auf Ebene der Schrankenauslegung. Der EGMR verfolgt gerade hier eher eine Tendenz, im Zweifel nicht weiter festzulegen, was die jeweiligen – auch unbestimmten – Schrankenbegriffe beinhalten, sondern gesteht den Vertragsstaaten hier einen eher weiten Ermessenspielraum zu. Entscheidungen des EGMR sind in der Mehrheit gerade von einer Zurückhaltung dahingehend geprägt, welchem legitimen Eingriffsziel ein Eingriff dienen kann und entsprechend selten hält sich der Gerichtshof auch mit einer ausführlichen Auslegung der Schrankenbegriffe auf. In der S.A.S.-Entscheidung war dies ausnahmsweise anders. Hier prüfte der EGMR umfangreich, ob ein legitimes Eingriffsziel vorlag. Gleichwohl scheitern Rechtfertigungen von staatlichen Eingriffen äußerst selten am Mangel eines legitimen Ziels. Insofern kann auf dieser Ebene nicht davon gesprochen werden, dass der EGMR gleichsam blind zugunsten der Freiheitsrechte und gegen die Mitgliedsstaaten entscheiden würde.

110

Diese Sorge wohl bei Böth, S. 158.

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4. Keine grenzenlose Auslegungskompetenz: Die Margin of Appreciation-Doktrin auf Schrankenebene und Kritik aus der Rechtswissenschaft Ausgehend von der Natur der EMRK als internationalem Vertragswerk kann bei der Auslegung ihrer Begriffe durch den EGMR aber auch nationalen Besonderheiten Rechnung zu tragen sein, die sich von den Gegebenheiten in anderen Vertragsstaaten unterscheiden. Grund hierfür ist auch, dass die Ausgestaltung der Menschenrechte nur in den Vertragsstaaten vor Ort und durch die dortigen staatlichen Organe realisiert werden kann. Dass es bei dieser Ausgestaltung Unterschiede geben kann und zuweilen auch geben muss, erkennt der EGMR an.111 Vorrangige Relevanz entfaltet die Lehre vom Beurteilungsspielraum (Margin of Appreciation-Doktrin) im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung einer Maßnahme. Die in den Art. 8–11 Abs. 2 EMRK genannte Anforderung, dass der staatliche Eingriff nur dann gerechtfertigt ist, wenn er in einer demokratischen Gesellschaft zur Erreichung des legitimen Eingriffsziels notwendig ist, kann aber auch dazu führen, dass einem Staat nicht nur hinsichtlich der Notwendigkeit seiner ergriffenen Maßnahme ein solcher Beurteilungsspielraum zukommt, sondern auch bereits bei der Bestimmung des Eingriffsziels.112 Dieses Vorgehen korrespondiert mit der Zurückhaltung des EGMR bei der Prüfung, welches Eingriffsziel im konkreten Fall einschlägig ist und wie die einzelnen Ziele voneinander abzugrenzen sein könnten (s. o.). Die Reichweite des nationalen Beurteilungsspielraums kann bei der Bestimmungen des verfolgten Ziels dem EGMR zufolge durchaus variieren. So hat der Gerichtshof den Staaten bezüglich des Ziels „Schutz der Moral“ in den Art. 8–11 Abs. 2 EMRK mitunter einen eher weiten Beurteilungsspielraum zugestanden, wohingegen er für das Ziel „Schutz des Ansehens der Rechtsprechung“ in Art. 10 Abs. 2 EMRK nur eine wesentlich engere nationale Einschätzungsprärogative anerkannte, da hier über den Inhalt der Schranke weitgehend Konsens unter den Staaten herrsche und der individuelle Beurteilungsspielraum eines einzelnen Staates deshalb enger sei.113 Der oben bereits angeführte Parteienkonsens, den der EGMR im Rahmen seiner eigenen Auslegung berücksichtigt, zeigt sich also mitunter auch im Rahmen der Bestimmung der Reichweite des staatlichen Beurteilungsspielraums: Er verengt sich, je eindeutiger Konsens über den Inhalt der Schrankenbestimmung unter den Vertragsstaaten besteht. Diese Variabilität des Beurteilungsspielraums in Bezug auf den Inhalt der jeweiligen Schrankenbestim111

Blum, S. 40. Blum, S. 41. 113 EGMR, Urteil vom 7. Dezember 1976, Handyside gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 5493/72, Series A24, Ziffer 48 (Schutz der Moral); EGMR, Urteil vom 26. April 1979, The Sunday Times gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 6538/74, Series A30, Ziffer 59 (Schutz des Ansehens der Rechtsprechung); Blum, S. 41. 112

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mungen lässt sich jedoch nicht schematisch betrachten, sondern bleibt abhängig vom jeweils zu überprüfenden Einzelfall. So wurde der grundsätzlich eher weite Beurteilungsspielraum hinsichtlich des Schutzes der Moral in der Entscheidung Dudgeon gegen Vereinigtes Königreich wiederum in gewissem Maße beschränkt, wenngleich nicht auf der Ebene der Schrankenbestimmungen, sondern auf der Ebene der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme. Wenn es wie im Fall Dudgeon gegen Vereinigtes Königreich um intime Bereiche des Privatlebens gehe, so könne das legitime Ziel zwar der Schutz der Moral sein, bezüglich der gewählten Maßnahme zum Erreichen dieses Ziels sei der Beurteilungsspielraum dann jedoch restriktiver zu bemessen.114 Die Margin of Appreciation spielt mithin sowohl bei der Bestimmung und dem Inhalt des legitimen Eingriffsziels, als auch bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit der vom Staat ergriffenen Maßnahme eine entscheidende Rolle, wobei beide Aspekte nicht immer nur isoliert voneinander betrachtet werden müssen, sondern vielmehr wie an der DudgeonEntscheidung erkennbar eine Art Wechselbeziehung pflegen können. Konsequenterweise kann festgehalten werden, dass die Reichweite des Beurteilungsspielraums und die Gebrauchmachung des jeweiligen Staates von diesem zwar der Kontrolle des EGMR unterliegen, die Grenzen jedoch häufig unklar bleiben. Hieran knüpft auch die Kritik an der Margin of Appreciation-Doktrin aus der Wissenschaft an.115 Da es an allgemeingültigen Kriterien zur nachvollziehbaren Bestimmung der Reichweite des Beurteilungsspielraums fehle, verbleibe es grundsätzlich bei einer Einzelfallrechtsprechung.116 Gleichwohl ist zu beachten, dass der EGMR in seiner Rechtsprechungspraxis bis heute einige Grundsätze und Tendenzen etabliert hat. So gesteht er dem jeweiligen Vertragsstaat einen eher weiteren Beurteilungsspielraum auf Schrankenebene und vor allem im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu, wenn es um Fragen der Beziehung von Religion und Staat und damit um Fragen der Religionsausübung der einzelnen Bürgerinnen und Bürger geht, wenn also Art. 9 EMRK in Rede steht, da auf diesem Feld viele nationale Besonderheiten zu berücksichtigen seien.117 Ebenfalls großzügiger bemisst der EGMR den Beurteilungsspielraum bei Eingriffen in Grund- und Menschenrechte von Personen, die in einem besonderen (Nähe-)Verhältnis zum Staat stehen, etwa Beamte.118 Dagegen bemisst der EGMR den Beurteilungsspielraum enger, wenn der Eingriff den Kernbereich des 114 EGMR, Urteil vom 22. Oktober 1981, Dudgeon gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 7525/76, Series A45, Ziffer 52. 115 Ausführlich dazu Blum, S. 42 f., Fn. 41 m.w. N. 116 Blum, S. 42. 117 EGMR, Urteil vom 15. Februar 2001, Nr. 42393/98, Dahlab gegen Schweiz, ECHR-2001-V, S. 462; EGMR, Urteil vom 10. November 2005, Nr. 44774/98, Sahin gegen Türkei, ECHR-2005-XI, Ziffer 110, 122. 118 EGMR, Urteil vom 15. Februar 2001, Nr. 42393/98, Dahlab gegen Schweiz, ECHR-2001-V, S. 463.

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4. Teil: Betrachtung der Mindestanforderungen des „vivre ensemble‘‘

jeweiligen Menschenrechts berührt. Schließlich geht der EGMR noch von einem grundsätzlich engeren Beurteilungsspielraum aus, wenn die Rechtsordnungen der Vertragsstaaten bezüglich einer Frage weitgehend einander entsprechende Lösungen vorsehen, mithin (auch) insoweit Konsens herrscht.119 5. Kritik des Vorgehens des EGMR in den Verfahren zu Vollverschleierungsverboten Der Verweis auf die Margin of Appreciation-Doktrin kann auch gerade dann fragwürdig sein, wenn sie sowohl (wenigstens faktisch) auf Schranken- als auch auf Verhältnismäßigkeitsebene angewendet wird. Dies war in der Entscheidung S.A.S. gegen Frankreich der Fall. In dem Urteil erwähnt der EGMR die Margin of Appreciation-Doktrin auf Ebene der Schrankenvorbehalte trotz seiner langen Ausführungen nicht ausdrücklich. Seine Formulierungen, der Gerichtshof „könne aber akzeptieren“, dass das Gesicht bei sozialen Begegnungen in der Öffentlichkeit eine wichtige Rolle spiele, dürfte im Ergebnis aber genau auf einen solchen Beurteilungsspielraum des Staates hinauslaufen. Der Gerichtshof verweist stattdessen aber ausdrücklich – mit im Ergebnis vergleichbarem Effekt – auf die Unklarheit des Terminus „vivre ensemble“ und verschiebt eine sorgfältigere Prüfung auf die Ebene der Verhältnismäßigkeit.120 Dort wiederum verweist er dann ausdrücklich auf die Margin of Appreciation-Doktrin zugunsten Frankreichs121 – sodass letztlich eine dogmatisch saubere und eingehende Prüfung an keiner der beiden Stellen durch den Gerichtshof erfolgt. Gerade diese Gefahr ist in Fällen, in denen dem Mitgliedsstaat im Rahmen der Beurteilung der Notwendigkeit der Maßnahme ein weiter Beurteilungsspielraum zugestanden wird, wie dies auch gerade bei Art. 9 EMRK in religiös gelagerten Fällen grundsätzlich der Fall ist, besonders erheblich. Letztlich versäumt es der Gerichtshof damit schon durch eine nachlässige Prüfung auf Schrankenebene eine effektive Kontrollinstanz zu sein. Der EGMR führt damit im Ergebnis zwar lang aus, dass er die Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben als legitimes Eingriffsziel gem. Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK anerkennen könne, gleichwohl prüft er aber nicht, was darunter zu verstehen sein könnte. In der Entscheidung Belcacemi und Oussar gegen Belgien verweist er nur noch auf seine Ausführungen im S.A.S.-Urteil, ohne weitergehende landesspezifische Betrachtungen anzustellen.122 Eine Klärung dessen, was unter den Mindestanforderungen an das 119

Blum, S. 42. EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffer 122. 121 EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffer 155. 122 EGMR, Urteil vom 11. Juli 2017, Belcacemi und Oussar gegen Belgien, Nr. 37798/13, Ziffer 49. 120

B. Die Mindestanforderungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens

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gesellschaftliche Zusammenleben zu verstehen ist, wird hier nicht einmal mehr angerissen oder die Vagheit des Terminus problematisiert. Damit betrachtet der EGMR nunmehr ein Eingriffsziel für Fälle der allgemeinen Verschleierungsverbote als grundsätzlich zulässig, das er selbst für konturenlos und vage hält. Tatsächlich versäumt es der EGMR damit auf beiden Ebenen – der Schrankenund der Verhältnismäßigkeitsebene –, eine saubere Auslegung und Subsumtion im Sinne der Rechtssicherheit zu liefern. Dem wird sich der folgende Abschnitt vertieft widmen.

III. Auslegung des Eingriffsziels „Rechte und Freiheiten anderer“ und Einordnung der Subsumtion des Gerichtshofs Die vorangegangenen Ausführungen haben verdeutlicht, welche Methoden bei der Auslegung offener (Schranken-)Begriffe der EMRK angewendet werden können und welche Kriterien und Prinzipien dabei Beachtung finden sollen. Bei dem Terminus „Rechte und Freiheiten anderer“ handelt es sich um einen solchen, der in hohem Maße der Auslegung zugänglich ist. Rechte und Freiheiten könnten grundsätzlich in einem streng juristischen, rechtspositivistischen, naturrechtlichen oder sozialnormativen Sinn verstanden werden. Fraglich ist, welcher Ansatz im Lichte der EMRK vertretbar sein kann. Das Eingriffsziel der Rechte und Freiheiten anderer gem. Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK wurde vom EGMR in der S.A.S.-Entscheidung dergestalt verstanden, dass es auch die Mindestanforderungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens, des vivre ensemble, erfassen könne, wobei der Gerichtshof es jedoch unterließ, den Terminus „Rechte und Freiheiten anderer“ auszulegen und den von der Regierung vorgebrachten Wert erst anschließend zu subsumieren. Der Gerichtshof stellte zwar fest, dass sich zunächst keines der in den Schrankenkatalogen von Art. 8 und 9 EMRK genannten Eingriffsziele explizit auf die Achtung der Mindeststandards der Werte einer demokratischen und offenen Gesellschaft beziehe.123 Gleichwohl legte er sodann aber weder den Schrankenbegriff der Rechte und Freiheiten anderer aus, noch ließ er erkennen, was unter dem subsumierten Begriff „Achtung der Mindeststandards der Werte einer demokratischen und offenen Gesellschaft“ zu verstehen sei. Nach Vortrag der französischen Regierung sollte dieser von ihr angeführte Oberbegriff neben der Menschenwürde und der Geschlechtergleichheit auch die Mindestanforderungen des vivre ensemble umfassen. Dies erkannte der Gerichtshof an. Er führte hierzu aus, dass er die Auffassung der französischen Regierung nachvollziehen könne, dass das Gesicht in zwischenmenschlichen Beziehungen eine wichtige Rolle spiele 123 EGMR, Urteil vom 1. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffer 114.

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4. Teil: Betrachtung der Mindestanforderungen des „vivre ensemble‘‘

und dass er die Ansicht verstehen könne, dass Menschen an öffentlich zugänglichen Orten keine Verhaltensweisen sich entwickeln würden sehen wollen, die die Möglichkeit offener zwischenmenschlicher Beziehungen fundamental in Frage stellen würden. Die zwischenmenschlichen Beziehungen würden, so sei es der gesellschaftliche Konsens, ein unverzichtbares Element des Lebens in der Gesellschaft darstellen. Daher sei der EGMR in der Lage zu akzeptieren, dass die Barriere, die gegenüber anderen durch die Gesichtsverschleierung aufgebaut werde, vom französischen Staat als eine Verletzung des Rechts der anderen gesehen werde, in einem Umfeld der Sozialisation zu leben, das das Zusammenleben einfacher mache.124 Der EGMR ist sich dabei der Unbestimmtheit seiner Ausführungen durchaus bewusst, verschiebt die weitere Prüfung – und diesbezügliche Sorgfalt – aber auf die Ebene der Angemessenheitsprüfung: „Nachdem dies gesagt ist, in Anbetracht der Flexibilität des Begriffs „Zusammenleben“ und dem daraus entstehenden Missbrauchsrisikos, wird der Gerichtshof eine sorgfältige Prüfung der Notwendigkeit der streitgegenständlichen Einschränkung vornehmen müssen“.125 Der EGMR kommt somit zu dem Ergebnis, dass die Mindestanforderungen an das Zusammenleben auch das Recht in einer Gesellschaft schützen würden, in einem Umfeld zu leben, das das Zusammenleben „einfacher macht“. Wie er zu diesem Auslegungsergebnis kommt, macht er dabei nicht transparent. Im Rahmen der Ausführungen des EGMR, der letztlich ohne profunde Prüfung (wie dagegen zuvor bei den angeführten Zielen der Geschlechtergleichheit und der Menschenwürde) die von der französischen Regierung angeführten neuen Kategorien übernimmt, ist auffällig, dass hier eine Art stufenweise Subsumtion erfolgt, innerhalb derer immer weitere Kategorien unbestimmter Schranken eröffnet werden: Die Konstruktion einer Art „Oberkategorie“, hier „Achtung der Mindeststandards der Werte einer demokratischen und offenen Gesellschaft“, gleichsam einer Art „Zwischenebene“ innerhalb des Eingriffsziels des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer, von der aus der EGMR sodann darauf schließt, diese könne die Mindestanforderungen für das gesellschaftliche Zusammenleben umfassen und letzteres schließlich das Recht ein, in einem Umfeld zu leben, das das Zusammenleben erleichtere, stellt eine weiteres Novum der S.A.S.-Entscheidung dar und wird in der Folge weitere Beachtung finden. Gleichwohl stellen sich die Fragen, ob sich erstens ein derartiges Verständnis der Schranke „Rechte und Freiheiten anderer“ i. S. d. Art. 8 und 9 EMRK dogmatisch begründen lässt und zweitens welche Konsequenzen sich aus einer rechtsdogmatischen Analyse und Nachzeichnung dieses Aspekts der Entscheidung ergeben können.

124 EGMR, Urteil vom 1. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffer 121. 125 Ebenda.

B. Die Mindestanforderungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens

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1. Die Margin of Appreciation-Doktrin bezüglich der „Rechte und Freiheiten anderer“, Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK Grundsätzlich lassen sich zahlreiche Entscheidungen des EGMR finden, in denen er den jeweiligen Staaten einen eher weiten Beurteilungsspielraum belässt hinsichtlich der Frage, ob ein Eingriff dem „Schutz der Rechte und Freiheiten anderer“ dient, bis hin zur S.A.S.-Entscheidung, in der der Gerichtshof es, wie gezeigt, dem Vertragsstaat einräumt, diverse ausfüllungsbedürftige Unterkategorien zu subsumieren und somit als Rechte und Freiheiten anzuführen. Aus der Rechtsprechung des EGMR lässt sich nicht feststellen, was genau der Terminus Rechte und Freiheiten anderer beinhaltet und wo seine Grenzen liegen.126 In den meisten Fällen belässt es der EGMR wie oben dargestellt bei der Feststellung, dass der Staat ein legitimes Ziel der Art. 8 Abs. 2, Art. 9 Abs. 2 EMRK benannt hat – die Rechte und Freiheiten anderer – und nimmt eine eingehende Prüfung erst auf Ebene der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne vor.127 Dies ist umso bedenklicher, als sich die Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme aus einer Abwägungsprüfung der berührten Interessen ergibt. Ist jedoch nicht erkennbar, ob eines der Interessen überhaupt vom Schrankenkatalog erfasst ist und demnach überhaupt Berücksichtigung finden darf, mithin grundsätzlich rechtfertigende Wirkung auch nur entfalten könnte, besteht die Gefahr einer konturenlosen Ausweitung des Schrankenbegriffs. Ein einheitliches Bild hinsichtlich der Reichweite des Beurteilungsspielraus aus Sicht des EGMR ist hier kaum zu zeichnen. Wiederum ist die EGMR-Rechtsprechung in dieser Frage stark durch die Kausistik geprägt im Sinne einer Würdigung des jeweiligen Einzelfalls. Der EGMR anerkannte etwa einen verhältnismäßig weiten Spielraum der Vertragsstaaten in Fragen des Pflegschaftsrechts bezüglich Kindern. Hier seien vielerlei Faktoren vor Ort zu beachten, wie beispielsweise das soziale Umfeld des Kindes, in die der Vertragsstaat und seine Institutionen wesentlich besseren Einblick hätten als der EGMR.128 Dagegen wurden Fragen des Umgangsrechts wegen möglicher Gefahren für das Familienleben einer deutlich strengeren Überprüfung durch den Gerichtshof unterzogen – obgleich die stark divergierenden nationalen Regelungen, die die Vertragsstaaten auf diesem Feld getroffen haben, einen eher weiteren Beurteilungsspielraum hätten vermuten lassen können.129

126 Joint Partly Dissenting Opinion (Sondervotum) EGMR, Urteil vom 1. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR-2014-III, Ziffer 5. 127 Schabas, S. 436. 128 EGMR, Urteil vom 27. November 1992, Olsson gegen Schweden (No. 2), Nr. 13441/87, A250, Ziffer 90. 129 EGMR, Urteil vom 7. August 1996, Johansen gegen Norwegen, Nr. 17383/90, Reports 1996-III, Ziffer 64.

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Es ist zu untersuchen, ob sich im Wege der Auslegung dennoch Parameter finden lassen oder entwickelt werden können, die den unbestimmten Terminus der „Rechte und Freiheiten anderer“ eingrenzen ließen. 2. Der Terminus der „anderen“ i. S. v. Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK Der Schrankenterminus der „Rechte und Freiheiten anderer“ wirft zunächst die Frage auf, wer „anderer“ in diesem Sinne sein kann. Im Folgenden ist daher zunächst zu untersuchen, wer Träger oder Trägerin der Rechte und Freiheiten sein kann, mithin, wie der Terminus der „anderen“ auszulegen ist. a) Natürliche Personen Natürliche Personen, die die vorrangigen Rechtsträger in der Konzeption der EMRK darstellen, sind jedenfalls „andere“ in diesem Sinne. Die EMRK ist gerade darauf ausgerichtet, dem einzelnen Individuum Schutz seiner Grund- und Menschenrechte gegenüber staatlichen Eingriffen zu gewähren. Sie, die natürlichen Personen, sind nach dem Wortlaut und dem Zweck der EMRK dann auch diejenigen „anderen“, die Rechte und Freiheiten haben, welche in den Fällen der Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK der Ausübung der Freiheitsrechte des von dem Eingriff Betroffenen gegenüberstehen. b) Gruppen und juristische Personen Ferner können bestimmte Gruppen, denen die EMRK als Kollektiv Rechte und Freiheiten gewährt, solche „anderen“ darstellen. So genießen Religionsgemeinschaften die korporative Religionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 1 EMRK jenseits der Rechte des jeweils einzelnen ihrer Mitglieder und sind insoweit selbst Rechtsträger innerhalb des Konventionsgefüges. Dies zeigt auch Art. 34 EMRK, der im Rahmen der Individualbeschwerde auch Personengruppen als beschwerdebefugt anerkennt, wenn sie behaupten, „durch eine der Hohen Vertragsparteien in einem der in dieser Konvention oder den Protokollen dazu anerkannten Rechte verletzt zu sein“. Und auch juristische Personen können „andere“ im Sinne der Schranke darstellen. Dies ergibt sich zunächst nicht unstreitig aus dem Konventionstext selbst, ist aber Ergebnis ständiger Rechtsprechung des EGMR als Auslegungsorgan der EMRK. Art. 1 EMRK bestimmt, dass die verpflichteten Vertragsstaaten allen „Personen“ die Rechte und Freiheiten aus Abschnitt 1 der EMRK zusichern, die unter ihrer Hoheitsgewalt stehen. „Personen“ können auch juristische Personen sein, nämlich dann, wenn das jeweilige Konventionsrecht seinem Wesen nach auch auf juristische Personen anwendbar ist.130 Insbesondere zählen hierzu die 130 Meyer-Ladewig/Nettesheim, in: Meyer-Ladewig/Nettesheim/Raumer, EMRK, Art. 1 Rn. 25.

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Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK), Verfahrensrechte (Art. 6 EMRK) und die Eigentumsgarantie (Art. 1 ZP 1 zur EMRK). c) Ansätze für und wider einer möglichen Ausweitung auf die Allgemeinheit als „andere“ Unklarer liegt der Fall jedoch dann, wenn unter den „anderen“ auch „die Allgemeinheit“ verstanden werden soll in dem Sinne, dass im Ergebnis „Gemeinwohl“ gemeint ist, also nicht nur die Summe der Rechte einzelner. Die bloße Feststellung, die Schranke der Rechte und Freiheiten anderer stelle im Grunde nur eine Wiederholung „der allgemeingültigen Rechtfertigung für den Schrankenvorbehalt von Art. 8 Abs. 2 EMRK insgesamt sowie die dabei vorzunehmende Rechtsgüterabwägung“ 131 dar, ist vorschnell. Richtig ist, dass dieses Schrankenziel deutlicher als andere eine Rechtsgüterabwägung schon ihrer Natur nach beinhaltet, gleichwohl bedarf der in der Literatur132 vertretene Schluss, der Schutz der Rechte und Freiheiten anderer diene in erster Linie der Abwägung von Rechten von Personen, Personengruppen und der Allgemeinheit, insbesondere hinsichtlich letzterer genauerer Betrachtung. aa) Streng personenbezogener Ansatz Anders als andere Schranken, wie etwa der Schutz der Moral oder der Schutz des wirtschaftlichen Wohls des Landes (Art. 8 Abs. 2 EMRK), weist die des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer nicht zwangsläufig Kollektivbezug auf. Die Rechte und Freiheiten anderer ließen sich nach einem streng personenbezogenen Ansatz derart auslegen, dass mit den „anderen“ die anderen Grundund Menschenrechtsträger gemäß der EMRK gemeint sind. Das würde natürliche Personen und in den oben dargestellten Konstellationen auch juristische Personen oder bestimmte Gruppen umfassen, jedoch nicht die abstrakte Allgemeinheit als solche oder das Gemeinwohl. Eine derartige Auslegung wird auch von Art. 1 EMRK unterstützt, der sich explizit auf „Personen“ bezieht. Gleichwohl ist dabei zu beachten, dass Art. 1 EMRK festlegt, wer Träger der Rechte aus der EMRK selbst sein kann. Im Rahmen der Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK stellt sich dagegen die Frage, wessen „Rechte und Freiheiten“ diese Gewährleistungen beschränken können. Die Beantwortung der Frage hängt somit auch eng damit zusammen, welche Rechte und Freiheiten hier gemeint sind. Sollte es sich dabei auch um Kollektivrechte handeln, die in den Vertragsstaaten normiert sind und solche der Allgemeinheit darstellen, wäre dann auch die Allgemeinheit insoweit

131 Wildhaber/Breitenmoser, in: Pabel/Schmahl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 650. Die Aussage kann derart verstanden werden, dass sie auch für die gleichlautende Schranke in Art. 9 Abs. 2 EMRK gelten kann. 132 Wildhaber/Breitenmoser, in: Pabel/Schmahl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 650.

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„anderer“.133 Nichtsdestotrotz lässt sich dem Wortlaut von Art. 1 EMRK jedenfalls entnehmen, dass die EMRK grundsätzlich auf einen Schutz der Rechte von Personen gerichtet ist, nicht auf den Schutz von Rechten und Freiheiten der Allgemeinheit. Spiegelbildlich zu den Schutzbereichen der Rechte muss dies daher zunächst auch für ihre Schranken gelten. Diese Wortlautgrenze wird ignoriert, wenn auch die Allgemeinheit immer und abstrakt „anderer“ sein kann. Für einen streng personenbezogenen Ansatz lassen sich auch systematische Argumente anführen. Eine systematische Betrachtung des Schrankenkatalogs von Art. 9 Abs. 2 EMRK ergibt, dass dort der Schutz der öffentlichen Ordnung explizit genannt ist. Diese Schranke dient im Rahmen des Schutzsystems des Art. 9 EMRK bereits der Berücksichtigung der Interessen der Allgemeinheit. In Art. 8 Abs. 2 EMRK findet sich zwar die Schranke des „prevention of disorder“ bzw. „défense de l’ordre“, in der amtlichen deutschen Fassung übersetzt mit „Aufrechterhaltung der Ordnung“, nicht jedoch der Schutz der öffentlichen Ordnung, zumindest nicht wortgleich. Genannt wird allenfalls in der französischen Fassung die „sûreté publique“, für die sich in der ebenfalls authentischen englischen Sprachfassung jedoch lediglich die Entsprechung „public safety“ findet. Dies spricht dagegen, dass daneben auch die Schranke der Rechte und Freiheiten anderer den Schutz der Allgemeinheit beinhalten soll. Wird ein Verbotsgesetz an den Interessen der Allgemeinheit ausgerichtet und mit dem Schutz der „Rechte und Freiheiten anderer“ gerechtfertigt, könnte das diese wesentlichen systematischen Feinheiten und Intentionen der EMRK ignorieren. bb) Vorrangiger Schutz der Allgemeinheit als Gemeinschaft der „anderen“ Ein sehr viel weitergehender Ansatz läge darin, die Allgemeinheit auch als „anderer“ anzuerkennen, mit der Begründung, die eigentlich individuellen Rechte und Rechtsgüter müssten sogar vor allem im Sinne der Allgemeinheit geschützt werden können, um gesellschaftliche Funktionszusammenhänge in einem sozialen System aufrechtzuerhalten. Dieser an der Strafrechtswissenschaft134 orientierte Ansatz ginge davon aus, dass eine Person nicht um ihrer selbst Willen, sondern zum Wohle der Allgemeinheit geschützt würde.135 Eine solche Auffassung würde aber davon ausgehen, dass hinsichtlich des Rechtsträgers zwischen den einzelnen Schrankenbegriffen in den Art. 8 und 9 Abs. 2 EMRK wiederum ein nur noch theoretischer Unterschied bestünde. Ihm wäre zudem die Gefahr der Überordnung der Allgemeinheit und des Funktionierens eines Systems über den 133

Dazu sogleich unter 3. Vgl. zur dortigen Diskussion Hörnle, S. 67. 135 So in der deutschen strafrechtswissenschaftlichen Diskussion zum „Rechtsgut“ Amelung, S. 366 ff., der dabei betont, dass das Strafrecht als Mechanismus der sozialen Kontrolle die Aufgabe habe, die Struktur des Sozialsystems zu bewahren, S. 370. 134

B. Die Mindestanforderungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens

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Individualschutz zumindest immanent, wenngleich eine Abwägung der Rechte mit dem von der Maßnahme Betroffenen noch ausstünde. cc) Dualistischer Ansatz Der hier als unter bb) angedachte Ansatz ließe sich aber hinsichtlich seiner konzeptionellen Schwäche dahingehend auf die EMRK anpassen, dass ein systemerhaltener, funktionaler Ansatz nicht mehr ein Über- und Unterordnungsverhältnis impliziert, sondern die Allgemeinheit als Interessen- und Rechtsträger neben anderen Menschen stehen könnte. Dieser aus der Soziologie stammende und ebenfalls in der Strafrechtswissenschaft diskutierte136 Ansatz geht in seiner ursprünglichen Form davon aus, dass in einem Sozialsystem auch solche Verhaltensnormen bestünden, die nicht dem Individual- sondern dem Universalgüterschutz dienen.137 Für die vorliegende Auslegungsfrage hinsichtlich des Begriffs der „anderen“ ist damit aber kaum etwas gewonnen. Der Ansatz verdeutlicht übertragen auf die hiesige Situation lediglich, dass auch Kollektivgüter grundsätzlich schützenswert sein können. Argumente des Wortlauts und der Systematik vermag auch er aber wie sich sogleich zeigen wird nicht zu entkräften. dd) Erweitert-personenbezogener Ansatz Schließlich wäre ein Ansatz zu bedenken, der gleichsam im Auge behalten könnte, dass die EMRK als menschenrechtliches Vertragswerk zuvorderst die Rechte der Menschen gegenüber dem Staat schützt, gleichwohl es ihrem Wesen dabei aber auch immanent ist, dass sie ein normatives Wertesystem darstellt.138 Dazu gehört auch, dass die EMRK auf bestimmte Grundprinzipien und Konzepte angewiesen ist, die die Gewährleistung und Ausübung von Freiheits- und Gleichheitsrechten überhaupt erst ermöglichen, wie etwa Toleranz und Pluralismus. Diese Konzepte sind per se nicht notwendig individuelle Rechte, oder zumindest nicht ausschließlich, für den Bestand, Schutz und Art der Ausübung letzterer aber elementar. Hier kann auch die Gleichheit der Menschen und der Geschlechter und das Diskriminierungsverbot verortet werden, wenngleich die Gleichbehandlung auch ein Individualrecht darstellt. Insofern besteht auch hinsichtlich dieser grundlegenden, in Teilen abstrakten Konzepte ein mittelbarer personaler Bezug zum einzelnen Rechtsträger, der eine Person ist. Der hier als erweitert-personenbezogen bezeichnete Ansatz wäre damit in der Lage, unter den „anderen“ immer noch in Einklang mit Wortlaut und Systematik andere Personen zu erkennen, und zwar auch dann, wenn das zu schützende Gut nicht direkt ein solches dieser Person ist, die Ausübung ihrer Rechte aber fundamental bedingt. 136

Hörnle, S. 67. Müssig, S. 206 f. 138 In diese Richtung weist u. a. die von Marx für die Strafrechtswissenschaft formulierte personale Rechtsgutslehre, vgl. Marx, S. 40 ff.; auch Hassemer, S. 68 ff. 137

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ee) Stellungnahme und Zwischenergebnis Ein Ansatz, der die Allgemeinheit stets und immer auch als Rechtsträger und als „anderer“ ansieht und dabei der Allgemeinheit insoweit den Vorrang einräumt, dass auch individuelle Rechte letztlich zugunsten der Allgemeinheit und nicht zum Wohle des Individuums gewährleistet würden, ist abzulehnen. Ein solcher Ansatz widerspricht der Konzeption der EMRK als menschenrechtliches Abwehrinstrument des einzelnen Menschenrechtsträgers gegen den Staat und ignoriert den Wortlaut von Art. 1 EMRK vollends. Ein solches Verständnis birgt die Gefahr einer Über- und Unterordnung nach der Losung, letztlich dienten Individualrechte stets dem Schutz der Allgemeinheit. Das verbietet sich auf Ebene der Schrankeninhaltsbestimmung und kann wenn überhaupt erst auf Ebene der Verhältnismäßigkeitsprüfung im Einzelfall Beachtung finden. Die unter bb) und cc) dargestellten Ansätze sind zudem systemfunktionsbezogenen Ansätze. Die EMRK hat aber anders als nationale Rechtsordnungen gerade nicht den Zweck, Systemfunktionen aufrechtzuerhalten. Insofern bietet sie für einen solchen funktionalen Ansatz auch keinen Anknüpfungspunkt. Auch lassen systematische Vergleiche zu anderen Termini der ERMK erkennen, dass die EMRK die Allgemeinheit als Trägerin gewisser Rechte und auch Interessen durchaus kennt, dort aber nicht auf den Begriff der „anderen“ zurückgreift. Nicht nur innerhalb der Schrankenkataloge der Art. 8 und 9 EMRK zeigt sich dies in Anbetracht der Schrankenvorbehalte Schutz der Moral, der öffentlichen Ordnung oder dem wirtschaftlichen Wohl des Landes: Im 1. Zusatzprotokoll zur EMRK vom 20. März 1952 findet sich sogar die ausdrückliche Formulierung der Allgemeininteressen („general interests“/„l’intérêt général“). Wenn die EMRK also den Begriff „anderer“ nennt, liegt es nahe, dass sie damit andere Menschen, zumindest aber andere Personen (natürliche wie juristische, s. o.) meint. Auch die bis zur Entscheidung S.A.S. ergangenen Vorjudikatur des EGMR zum Gehalt der „Rechte und Freiheiten anderer“ spricht eher für ein enges Verständnis der „anderen“ im Sinne eines personenbezogenen Ansatzes.139 Gleichwohl bleibt zu überlegen, ob der Ansatz, der ausschließlich die Rechte anderer Menschen (bzw. juristischer Personen) anerkennen möchte und auch ohne Frage vom Wortlaut der Norm gedeckt wäre, möglicherweise vor allem unter teleologischen Gesichtspunkten zu eng gefasst ist. Insofern würde ein Ansatz, der zwar nicht die konkreten Rechte des Einzelnen, aber doch der Menschen im 139 EGMR, Urteil vom 22. Oktober 1981, Dudgeon gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 7525/76, A45, Ziffer 49 (Schutz von Jugendlichen); EGMR, Urteil vom 25. Mai 1993, Kokkinakis gegen Griechenland, Nr. 14307/88, A260-A, Ziffer 42 (Staat hat die Pflicht, alle Personen, die in seinem Hoheitsgebiet leben, im Sinne friedlicher Koexistenz von Religionen vor Proselytismus zu schützen); EGMR, Urteil vom 19. Februar 1998, Bowman gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 24839/94, ECHR-1998-I, Ziffer 38 (Gleichheitsrechte von Kandidaten bei einer Kommunalwahl), siehe für weitere Beispiele Grabenwarther, EuGRZ 2015, 1 (3, Fn. 16).

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Allgemeinen bzw. deren Interessen im Auge hat, möglicherweise den vorzugswürdigen Weg darstellen. Dem ist jedoch wiederum die Systematik der Schrankenkataloge von Art. 8 und Art. 9 EMRK entgegenzuhalten: Eine vom personalen Ansatz vollständig entkoppelte Auslegung des Begriffs der „anderen“ würde die Grenzen zu den kollektivbezogenen Schrankenvorbehalten zur Unkenntlichkeit verschwimmen lassen. Dies mag im Rahmen des Art. 9 Abs. 2 EMRK im Ergebnis noch kein gravierenderes Problem darstellen, da dieser auch die öffentliche Ordnung als Eingriffsziel anerkennt, was wohl auch den Grund dafür darstellt, dass sich der EGMR zur Klärung der Frage bislang nicht klarstellend geäußert hat. Abgrenzungsprobleme werden aber dann relevant, wenn ein Schrankenkatalog eines anderen, in dem konkreten Fall gleichfalls berührten Freiheitsrechts, nicht ebenfalls zugleich das Kollektivschutzziel nennt.140 Nach Systematik und Wortlaut ist es mithin überzeugend anzunehmen, dass die Allgemeinheit als solche grundsätzlich nicht „anderer“ im Sinne der Art. 8 und 9 Abs. 2 EMRK sein kann. Dies muss aber nicht bedeuten, dass damit ein kategorischer Ausschluss von Allgemeingüterschutz einhergeht – vielmehr kann dieser dann umfasst sein, wenn und soweit immer noch ein personaler Bezug zu individuellen Rechten und Freiheiten besteht. Dieser Ansatz wird der Tatsache gerecht, dass Individualrechtsgüter nur dann effektiv geschützt und gewährleistet sind, wenn sie auf bestimmte Grundvoraussetzungen treffen und auf diese bauen können. Der personale Bezug muss daher bejaht werden, wenn durch das zu schützende Gut die Ausübung der individuellen Konventionsrechte überhaupt erst ermöglicht wird. Dies gilt etwa für das Pluralismuskonzept oder auch die Geschlechtergleichheit korrespondierend mit dem Diskriminierungsverbot. Die EMRK stellt ausgehend vom Schutz der Menschenrechte ein normatives Wertesystem dar. Diesem Charakteristikum der Konvention wird ein erweitert-personenbezogener Ansatz am ehesten gerecht. Ein solcher Ansatz findet auch Anknüpfungspunkte in der Judikatur des EGMR im Vorfeld der S.A.S.-Entscheidung.141 Mithin ist dem oben als erweitert-personenbezogener Ansatz bezeichneten Konzept zu folgen, wenngleich zuzugestehen ist, dass es das Problem der Konkretisierung und Konturierung aber zu einem nicht unerheblichen Teil auf die Klärung der Frage verschiebt, was „Rechte und Freiheiten“ im Sinne der Schrankenkataloge von Art. 8 und Art. 9 EMRK sein können. 3. Auslegung der „Rechte und Freiheiten“ i. S. v. Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK Die Ausführungen und Analysen zu Beginn dieses Kapitels zur Frage, was überhaupt unter den Mindestanforderungen des gesellschaftlichen Zusammenle140

Dazu unten C. II. hinsichtlich der „öffentlichen Ordnung“. EGMR, Urteil vom 10. November 2005, Leyla S¸ahin gegen Türkei, Nr. 44774/ 98, ECHR-2005-XI, Ziffer 99; EGMR, Urteil vom 23. Februar 2010, Ahmet Arslan u. a. gegen Türkei, Nr. 41135/98, Ziffer 43. 141

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bens verstanden werden kann, haben die immense Unbestimmtheit und Konturlosigkeit dieses Konzepts verdeutlicht. Fraglich ist nun, ob es überhaupt möglich ist, dieses unter die Rechte und Freiheiten anderer i. S. d. Art. 8 und 9 Abs. 2 EMRK zu subsumieren. Dabei stellt sich die Frage der Reichweite des Terminus „Rechte und Freiheiten“ und einer entsprechenden Inhalts- und Grenzbestimmung. Fraglich ist mithin, was unter den „Rechten und Freiheiten“ verstanden werden kann. a) Konventionsinterne Rechte und nationale Individualrechte als Ausdruck eines europäischen Standards Die EMRK garantiert dem Einzelnen Grund- und Freiheitsrechte gegenüber dem Staat. Jedenfalls erfasst von dem Terminus „Rechte und Freiheiten“ sind daher die Individualrechte und -freiheiten, die die Konvention selbst garantiert. Auch die jeweiligen unterschiedlichen Garantien aus einem Artikel der Konvention können einander Schranke in diesem Sinne sein. Dies ist unbestritten, ein anderes Auslegungsergebnis ist nicht denkbar.142 Der EGMR geht zudem in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass auch nationale Rechte von Verfassungsrang unzweifelhaft zu den Rechten und Freiheiten anderer i. S. d. Art. 8 und 9 Abs. 2 EMRK gehören.143 Gleiches gilt auch hinsichtlich anderer nationaler Rechte von Individuen, jedenfalls sofern sie Ausdruck eines europäischen Standards und in den nationalen Rechtsordnungen verankert sind.144 Dies ergibt eine Zusammenschau der Art. 8 Abs. 2 und 9 Abs. 2 EMRK und Art. 14, Art. 18 EMRK: Während Art. 8 Abs. 2 und 9 Abs. 2 EMRK die „Rechte und Freiheiten anderer“ aufführen, beziehen sich die Art. 14 EMRK („rights and freedoms set forth in this Convention“/„des droits et libertés reconnus dans la présente Convention“) und Art. 18 EMRK („the said rights and freedoms“/„auxdits droits et libertés“) ihrem Wortlaut nach explizit auf die Rechte aus der Konvention selbst. Systematisch ist eine derartige Beschränkung bei Art. 8 und 9 EMRK folglich nicht anzunehmen. b) Verfassungsprinzipien, Rechtsgüter und Interessen der Allgemeinheit Zudem ist die oben dargestellte Möglichkeit, dass auch Rechte oder Interessen der Allgemeinheit in bestimmten Grenzen erfasst sein könnten, hier wieder aufzunehmen. Die Judikatur des EGMR zeigt, dass dieser durchaus davon ausgeht, dass bestimmte Kollektivrechtsgüter bzw. -interessen auch Rechte und Freiheiten anderer darstellen sollen. In Komplettierung der oben unter 2. c) ee) vertretenen 142 Joint Partly Dissenting Opinion (Sondervotum) EGMR, Urteil vom 01. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR-2014-III, Ziffer 5. 143 Wildhaber/Breitenmoser, in: Pabel/Schmahl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 649. 144 Z. B. Belange des Kindeswohls und Jugendschutzes, Wildhaber/Breitenmoser, in: Pabel/Schmahl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 652, aber etwa auch Urheberrechte, dies., a. a. O., Rn. 657 f. mit weiteren Beispielen.

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Eingrenzung, dass „die Allgemeinheit“ nur dann Trägerin von Rechten und Freiheiten i. d. S. sein kann, wenn es sich um Gewährleistungen handelt, die die Freiheitsausübung durch Individuen überhaupt erst ermöglichen, ihre Art und Weise bestimmen und mit ihnen wechselseitiger Abhängigkeit stehen und die so einen mittelbaren Personenbezug haben, ist hier festzustellen, dass eine solche Ansicht mit der bis zur S.A.S.-Entscheidung aufgestellten Judikatur des EGMR vereinbar ist: Als Rechte und Freiheiten erkennt der EGMR auch solche Prinzipien an, die sich verfassungsrechtlich begründen lassen und im nationalen Recht der Mitgliedsstaaten Prinzipien von Verfassungsrang darstellen, wie etwa Pluralismus oder Laizismus.145 Wesentlich ist dabei auch, dass diese vom EGMR anerkannten Werte auch solche sein können, die – wie der Laizismus – Verfassungsprinzip in nur dem jeweiligen Mitgliedsstaat sind. Insofern ist kein europäischer Standard gefordert. Eine weitreichende Entscheidung stellt die Entscheidung des EGMR im Fall Francesco Sessa gegen Italien dar, in der der EGMR auch das Recht auf eine funktionierende Justizverwaltung als legitimes Ziel anerkannte.146 Überzeugend ist dies gleichwohl, da auch hier ein verfassungsrechtlicher und individualrechtlicher Bezug herstellbar ist – auch wenn das funktionierende Justizsystem jedenfalls ein Universalgut darstellt, so ist gleichsam auch ein individuelles Recht in Form des Rechts auf ein faires Verfahren einschließlich des Rechts auf eine angemessene, nicht vollkommen unverhältnismäßig lange Verfahrensdauer (Art. 6 Abs. 1 EMRK) auf ein eines funktionierendes Justizsystem grundlegend angewiesen. Ein solcher Maßstab für den Schutz von Gütern der Allgemeinheit korrespondiert folglich mit dem oben vertretenen erweitert-personenbezogenen Ansatz hinsichtlich möglicher Rechtsträger. Güter, die von solchem Gewicht sind, dass sie die Rechtsausübung des Einzelnen bedingen, bestimmen oder durch sie bedingt sind und ein Verfassungsgut darstellen, können jedenfalls Schutzgut im Sinne der Rechte und Freiheiten anderer darstellen. c) Schutz von Individualinteressen, ungeschriebenen Rechten und Gefühlen? Diskussion positivistischer, naturrechtlicher und vermittelnder Ansätze Fraglich ist, ob auch Interessen von Individuen und Personengruppen, die keine in den Rechtsordnungen der Vertragsstaaten geschriebenen Rechte darstel145 EGMR, Urteil vom 10. November 2005, Leyla S ¸ ahin gegen Türkei, Nr. 44774/ 98, ECHR-2005-XI, Ziffer 115 f.; EGMR, Urteil vom 23. Februar 2010, Arslan u. a. gegen Türkei, Nr. 41135/98, Ziffer 43 (Laizismus); EGMR, Urteil vom 2. September 1998, Ahmed u. a. gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 22954/93, ECHR-1998-VI, Ziffer 52 (Schutz der effektiven Demokratie); EGMR, Urteil vom 8. Juni 1999, McGuinness gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 39511/98, ECHR-1999-V, S. 490 (Schutz der verfassungsrechtlichen Prinzipien, die effektiver Demokratie zugrunde liegen). 146 EGMR, Urteil vom 3. April 2012, Francesco Sessa gegen Italien, Nr. 28790//08, Ziffer 38.

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len, Rechte und/oder Freiheiten in diesem Sinne darstellen können. Die Frage umfasst demnach sowohl Interessen, als auch ungeschriebene Rechte. Die Schrankenvorbehalte der Artikel 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK nennen Rechte, Allgemeingüter und Wertvorstellungen (z. B. den Schutz der Moral), die als so wichtig anzusehen sind, dass Staaten die Möglichkeit haben, zu ihren Gunsten die Ausübung der Freiheitsrechte einzuschränken. Es ist daher nicht zu beanstanden, zunächst davon auszugehen, dass nur von den nationalen Rechtsordnungen anerkannte Rechte auch „Rechte“ in diesem Sinne sein können. Auch Interessen hier als „Rechte und Freiheiten“ anzuerkennen, birgt dagegen zumindest die Gefahr der Ausweitung des Schrankenvorbehalts über seinen Wortlaut hinaus zulasten der betroffenen Rechtsträger gegenüber dem Staat. Gleichwohl ist dies im Sinne eines Erkenntnisgewinns hinsichtlich der Auslegung der Schranke „Rechte und Freiheiten anderer“ und der Einordung der Mindestanforderungen für das gesellschaftliche Zusammenleben genauerer Betrachtung zu unterziehen. aa) Rechtspositivistischer Ansatz Es wird weitgehend vertreten, dass die „Rechte und Freiheiten“ i. S. d. Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK nur die Konventionsrechte selbst, Verfassungsrechtspositionen und geschriebene Rechte aus den Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten erfassen sollen.147 Bei Letzteren solle dies allerdings auch nur dann gelten, wenn sie Ausdruck europäischen Standards seien, s. o.148 Die Terminologie in der Literatur ist hier nicht einheitlich, so wird mal von Rechtspositionen149, mal von Rechtsgütern150 anderer gesprochen. Der positivistische Ansatz ist im hier angelegten Verständnis dabei nicht als strenger Gesetzespositivismus zu begreifen, sondern muss auch solche Rechte erfassen, die auf Gewohnheitsrecht und Richterrecht gründen. Ein solcher Ansatz ist jedenfalls mit dem Wortlaut von Art. 8 und 9 EMRK im ursprünglichsten Sinne vereinbar. Ihm könnte gleichwohl entgegen gehalten werden, dass er zu sehr das bereits geschriebene, positive Recht in den Fokus nimmt. Zumindest so weit wie der EGMR auch innerstaatliche Rechte anerkennt kann dies kritisiert werden. Schließlich verlagert ein solcher Ansatz die Frage, was unter den „Rechten“ zu verstehen ist, auf die innerstaatliche Ebene und gibt sie damit in die Hände der nationalen Gesetzgeber, die Recht setzen. Allerdings vermag das Konsenserfordernis hier korrigierend einzugreifen. Besteht man darauf, dass die geschriebenen Rechte Ausdruck eines europäischen Konsens sein müssen, lässt sich diese Entgegnung weitgehend entkräften. Überdies streitet ihre 147 148 149 150

Grabenwarter, in: Pabel/Schmahl, IntKommEMRK, Art. 9 Rn. 86. Wildhaber/Breitenmoser, in: Pabel/Schmahl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 649. Grabenwarter, a. a. O. Wildhaber/Breitenmoser, in: Pabel/Schmahl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 650.

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Praktikabilität stark für eine Handhabung, die sich am positiven, aber durchaus in Grenzen auch nationalen Recht orientiert. Auch die Konvention selbst scheint wie gezeigt davon auszugehen, dass nicht allein die Konventionsrechte selbst beschränkende „Rechte und Freiheiten anderer“ im Sinne der Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK darstellen können. Diesen Schluss lässt die systematische Zusammenschau der beiden Normen mit Art. 17 und Art. 18 EMRK zu. Letztere beziehen sich explizit auf die Rechte und Freiheiten der Konvention selbst, was Art. 8 und 9 EMRK gerade nicht tun. bb) Naturrechtlicher Ansatz Ein naturrechtlicher Ansatz würde die strenge Gegenposition zum positivistischen Ansatz darstellen und davon ausgehen, dass „Rechte“ existieren, vollkommen unabhängig davon, ob sie kodifiziert sind oder nicht. Eine solche rechtsphilosophische Auffassung ist für den Terminus der „Rechte und Freiheiten anderer“ der EMRK nicht vertretbar. Schon die Natur der EMRK als Ausdruck einer europäischen Werteübereinkunft und die Rolle des EGMR als supranationalem, aber subsidiärem Rechtsprechungsorgan lassen eine solch unbestimmte und weite Interpretation jenseits der maßgeblichen geschriebenen Texte nicht zu. cc) Berücksichtigung gewichtiger menschlicher Interessen Weniger ausufernd als der naturrechtliche Ansatz wäre aber ein solcher, der nicht nur die Konventionsrechte selbst, nationale Verfassungsgüter und -prinzipien sowie nationale geschriebene Individualrechte weitgehend europäischen Konsenses, sondern auch weitere – nicht als Rechte kodifizierte – berechtigte menschliche Interessen erfasst und insoweit eine Erstreckung der in der Verhältnismäßigkeit erfolgenden Schutzgüterabwägung auf eben diese mit dem Recht auf private Lebensführung bzw. Religionsfreiheit bedeuten würde. Eine solche Auslegung des Terminus „Rechte und Freiheiten“ wäre womöglich auch den vom französischen Gesetzgeber und vor dem EGMR von der französischen Regierung als gesellschaftlichen Wert deklarierten und letztlich vage gebliebenen Mindestanforderungen für das gesellschaftliche Zusammenleben zugänglich. Dabei wäre jedoch zunächst zu bestimmen, welche Interessen als „gewichtig“ und schützenswert angesehen werden könnten, mithin nach welchen Kriterien diese bestimmt werden sollten, um dem Terminus Konturen zu verleihen. Hörnle, die diesen Ansatz für Strafrechtsnormen im Rahmen der Rechtfertigung für Eingriffe in Art. 2 Abs. 1 GG untersucht hat151, verweist auf die angloamerikanischen Moralphilo151 Gem. Art. 2 Abs. 1 GG genießt jede Person das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, soweit sie nicht die Rechte anderer verletzt, und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. Hörnles Untersuchungen zu den „Rechten anderer“ beziehen sich zwar auf das deutsche Verfassungs- und Strafrecht, ihr Ansatz könnte aber auch für die EMRK fruchtbar sein.

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sophen Feinberg und Kleinig, um Erkenntnisse darüber zu gewinnen, welche vorpositiven Wertungen getroffen werden müssten, um bestimmen zu können, welche Interessen gewichtig genug sein könnten.152 Dabei ist schon zu Beginn anzumerken, dass ein solcher Ansatz aufgrund der notwendig in seine Definition einfließenden Wertung in hohem Maße abhängig von Zeit und Kontext ist und dabei insbesondere im Kontext der EMRK ein Konzept bedeuten würde, dass der evolutiven Auslegungsmethoden besonders zugänglich wäre. Schon an dieser Stelle stellt sich dabei die Erkenntnis ein, dass eine nähere Bestimmung der „Interessen“ notwendig ist, um eine uferlose Ausweitung der „Rechte und Freiheiten“ i. S. d. Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK zu verhindern. Insofern ist zu berücksichtigen, dass der Wortlaut der beiden Normen ein zurückhaltendes Vorgehen verlangt, Interessen werden zunächst schlicht nicht genannt. Hörnle formuliert für Art. 2 Abs. 1 GG und Strafrechtsnormen, der Schutz menschlicher Interessen könne nicht etwa den Schutz von bloß vorübergehenden Wünschen oder spontanen Bedürfnissen umfassen.153 Gleiches muss mindestens für die Art. 8 und 9 EMRK und deren Schrankenkatalog gelten. Feinberg und Kleinig untersuchen jeweils das Konzept des „harm“ (Schaden) im strafrechtlichen und strafrechtsphilosophischen Kontext. Sie gelangen dabei zu der Erkenntnis, dass ein Schaden vorliege, wenn sogenannte „welfare interests“ beeinträchtigt seien, nicht dagegen, wenn es sich um bloße „ulterior interests“ handele. Unter letzteren verstehen Kleinig und Feinberg große Lebensziele von Menschen, die für den eigenen Lebensweg Erfüllung bedeuten, wohingegen die „welfare interests“ solche sein sollen, die die Grundinteressen menschlicher Lebensführung umfassen. Sie mögen im Gegensatz zu den „ulterior interests“ vielleicht klein und weniger beeindruckend erscheinen, nichtsdestotrotz seien sie aber wesentlich essentiellerer Natur.154 Beispielhaft nennt Feinberg hier etwa emotionale Stabilität, Integrität des eigenen Körpers und seiner Funktionen, die Freiheit von Zwang und Demütigung, die Abwesenheit grundloser Ängste sowie auch „eine tolerierbare soziale und physische Umwelt“.155 Damit stellen die „welfare interests“ die „Rahmenbedingungen für die Verfolgung aller weiteren individuellen Lebensentwürfe“ 156 dar, wobei sie sich nicht nur auf Bedingungen physischen Seins beziehen, sondern gerade auch soziale Aspekte umfassen und

152 Hörnle, S. 74, 75 f. bezugnehmend auf Feinberg, Harm to Others, S. 31 ff.; Kleinig, American Philosophical Quarterly 15 (1978), 27 (30 ff.). 153 Hörnle, S. 74. 154 Feinberg, Harm to Others, S. 37, 42; Kleinig, American Philosophical Quarterly 15 (1978), 27 (31). 155 Feinberg, Harm to Others, S. 37. Als Beispiele für die „ulterior interests“ nennt er demgegenüber das Lösen eines wesentlichen wissenschaftlichen Problems, das Erschaffen großer Kunst, das Erreichen eines hohen politischen Amtes, das Bauen eines Traumhauses oder das Erlangen geistlicher Gnade, Feinberg, a. a. O. 156 Hörnle, S. 75.

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hinsichtlich ihrer Erfüllung von zwischenmenschlichen Beziehungen abhängig sind.157 Insofern könnte vertreten werden, dass die Mindestanforderungen an das Zusammenleben und dabei das einander mit offenem Gesicht in der Öffentlichkeit Begegnen, letztlich das Interesse darstellt, in einem sozialen, offenen Umfeld zu leben, das auf zwischenmenschlichen Beziehungen, Begegnungen und Interaktionen beruht und durch diese bestimmt wird. Wiederum dagegen ließe sich jedoch anführen, dass das bloße Verschleiern des eigenen Gesichts bei Zufallsbegegnungen mit fremden Personen keine derartige Relevanz entfalten kann, dass von einem elementaren Interesse einer jeden Person gesprochen werden kann, das so schwer wiegt, dass es tatsächlich die Grundinteressen der Lebensführung berührt. Es zeigt sich, dass auch hier Unklarheiten verbleiben können. Während die „ulterior interests“ lediglich die eigene Lebensführung und -planung betreffen und somit als bloße individuelle Zielsetzungen auch nicht Schutzgut im Sinne der Rechte und Freiheiten anderer sein können, bleibt dies bei den grundlegenden und von jedermann verfolgten „welfare interests“ zu diskutieren. Für die Frage, ob auch solche Interessen von der Schrankenbestimmung „Rechte und Freiheiten anderer“ erfasst sein könnten, selbst wenn sie nicht bereits Ausdruck in subjektiven, kodifizierten Rechten gefunden haben, ist der Ansatz aber soweit wie bislang dargestellt ob seiner Vagheit und Unbestimmtheit noch unbrauchbar. Er würde ohne weitere Eingrenzung zu einer ausufernden Schrankenbestimmung führen, was gerade in Widerspruch zum Sinn und Zweck der Abgeschlossenheit der enumerativen Kataloge der Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK führen würde und in der Folge auch kritisch in Bezug auf den Gedanken des Art. 18 EMRK gesehen werden müsste. Um grundlegende Menschen- und Freiheitsrechte einschränken zu können bedarf es widerstreitender Schutzgüter von einigem Gewicht. Lediglich allein individuell wichtige – wenngleich nachvollziehbare – Interessen oder Vorhaben können hier nicht ausreichen, um auch sie zu den Rechten und Freiheiten zu zählen. Nicht in Bezug auf die EMRK, aber ebenfalls im strafrechtsphilosophischen Diskurs hat daher auch Papageorgiou den Ansatz wegen seiner Vag- und Offenheit kritisiert. Die von ihm mit Wohlfahrtsinteressen übersetzten „welfare interests“ spezifiziert er in seiner Ausarbeitung in Anlehnung an Wilhelm von Humboldt158 als „Sicherheitsinteressen“ und sieht von diesen nur solche Interessen erfasst, denen eine abwehrende Konzeption zugrunde liegen soll. Anders als diejenigen Wohlfahrtsinteressen, die auf die Leistung eines gewissen Wohlfahrtsniveaus ausgerichtet seien, sei Wesen der Sicherheitsinteressen, eine „symbolisch manifestierbare Achtung gegenüber gewissen Positionen, deren symbolische Unverbrüchlichkeit (Sicherheit) eine notwendige Bedingung zur Konzipierung und 157

Kleinig, American Philosophical Quarterly 15 (1978), 27 (35). Papageorgiou bezieht sich dabei auf Wilhelm von Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, 1791; Hörnle, S. 76. 158

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Entfaltung eines würdigen Lebens“ 159 sei. Leistungsinteressen sollen dagegen nicht als Rechtsgut i. d. S. anzuerkennen sein.160 Für die hiesige Betrachtung, bei der es nicht allein um die Rechtfertigung von Strafnormen geht (so allerdings im Falle Belgiens), sondern auch von Ordnungswidrigkeitsvorschriften, ist diese Begrenzung gleichwohl zunächst sinnvoll. Nur solch gewichtige Interessen können eine Dimension erreichen, die es rechtfertigen könnte, sie als „Rechte und Freiheiten anderer“ zu begreifen. Andere Interessen müssen dagegen einfache menschliche Interessen bleiben, die es zwar zu achten gilt, die aber jedenfalls nicht als „Rechte und Freiheiten“ die Freiheiten aus Art. 8 und 9 EMRK einzuschränken vermögen.161 dd) Berücksichtigung von Gefühlen Ausgehend vom Schutz bestimmter gewichtiger Interessen als Schranke im Sinne der „Rechte und Freiheiten anderer“ ist auch zu fragen, ob auch Gefühle anderer als „Rechte und Freiheiten“ Berücksichtigung finden können bzw. wenn nicht, weshalb nicht. Die Analyse der gesetzgeberischen Prozesse zu Beginn des Kapitels hat bereits zutage gefördert, dass Argumente in der Diskussion um die Rechtfertigung der Vollverschleierungsverbote im öffentlichen Raum vielfach emotionsbasiert waren. Insbesondere Gefühle subjektiver Unsicherheit und Unbehaglichkeit wurden thematisiert. Für eine Anerkennung von Gefühlsschutz wäre zunächst Voraussetzung, dass auch schon Interessen (oder zumindest Sicherheitsinteressen) Teil der Rechte und Freiheiten anderer wären. Dies angenommen, stellt sich sodann aber die Problematik, dass ein Schutz von Gefühlen noch konturloser ist als ein Schutz von menschlichen, dauerhaften Sicherheitsinteressen. In der angloamerikanischen Diskussion um Strafnormen zum Schutz von Gefühlen wird zum Teil vertreten, dass der Schutz vor starken negativen Gefühlen, die über solche der Kränkung – etwa wegen Beleidigung – hinausgehen, auch strafrechtliche Verbote rechtfertigen können soll.162 Bestimmte Verhaltensweise, die jemand aus tiefster Überzeugung für ein Übel halte, könnten bei dieser Person Ärger erregen, Scham oder Entrüstung hervorrufen oder sonstige Empörungsreaktionen provozieren.163 Feinberg als Befürworter eines (strafrechtlichen) Gefühlsschutzes erkennt gleichwohl die Gefahr der Ausuferung eines solchen Ansatzes und versucht im Rahmen seiner Kriminalisierungstheorie die Reichweite der im ersten Schritt subjektiv ansetzenden Konzeption wiederum objektiv 159

Papageorgiou, S. 156. Papageorgiou, S. 154 f. 161 Unabhängig davon bleibt aber in jedem Einzelfall zu prüfen, ob solche Interessen gegebenenfalls einem der anderen Schrankenbegriffe der Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK zuzuordnen sein können. 162 Feinberg, Offense to Others, S. 1, 25 ff.; ihm folgend auch Vandeveer, Philosophy and Public Affairs 8 (1979), 175 (179, 192 f.). 163 Feinberg, Offense to Others, S. 25; Papageorgiou, S. 263 f. 160

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einzugrenzen. Allein das Verspüren negativer Gefühle solle nicht ausreichen, vielmehr bedürfe es einer Abwägung zwischen der Ernsthaftigkeit der Belästigung mit dem Wert des zu kriminalisierenden Verhaltens. Hierzu konzipiert er ein differenziertes mehrstufiges Vorgehen.164 Dagegen sei es nicht denkbar, per se einfach „unvernünftige“ Gefühle auszuklammern, da eine Beurteilung dessen nicht dem Staat und nicht einer wenngleich demokratischen Mehrheit obliege.165 Narayan, die die Problematik nicht nur im strafrechtlichen Kontext untersucht, sondern generell im Gesetzgebungskontext, plädiert dagegen für einen Ansatz der „vernünftigen Gründe“. Statt eines psychologischen Ansatzes wie bei Feinberg soll die Frage maßgeblich sein, ob gute Gründe dafür sprechen, sich von dem fraglichen Verhalten, welches untersagt werden soll, in seinen Gefühlen verletzt zu sehen. Dann solle eine Grenze erreicht sein, ab der auch der Gefühlsschutz staatliche Gesetzgebungsvorhaben gegen die in Rede stehende Verhaltensweise rechtfertigen können solle. Nicht entscheidend könne dagegen sein, dass schlicht viele Personen die Verhaltensweise ablehnen oder sich von ihr in ihren Gefühlen verletzt sehen, es bedürfe der rationalen Gründe.166 Ein Ansatz, der die Ernsthaftigkeit der Verletzung („offense“) selbst auch ernst nehme, verlange, anders als Feinberg meine, nicht vom Gesetzgeber Gefühle zu bewerten. Vielmehr sei die Verletzung von Gefühlen etwas anderes als das (bloße) Erleiden einer emotionalen Reaktion. Die Verletzung beinhalte nämlich das Urteil, einem sei Unrecht getan worden und dieses Urteil basiere auf (rationalen) Gründen.167 Narayan untersucht verschiedene Fallgruppen und kommt zu dem Schluss, dass den gefühlverletzenden Verhaltensweisen gemein sei, dass sie Mitmenschen gegenüber den ihnen zustehenden Respekt und Rücksichtnahme vermissen lassen würden.168 Die Anforderungen an Respekt und Rücksichtnahme seien in sozialen Konventionen festgelegt und deren Verletzung böten den Anknüpfungspunkt für eine Rechtfertigung gesetzgeberischer Maßnahmen.169 Der Ansatz Narayans weist damit starke Parallelen zum französischen Gesetzgebungsverfahren zum Verbot der Vollverschleierung und den dort vertretenen Argumentationslinien hinsichtlich des republikanischen Wertekanons und der Wirkung des Vollschleiers auf die mit ihm konfrontierte und selbst unverschleierte Person als „Gegenüber“ auf. Über eine an Feinberg oder Narayan angelehnte Konzeption der „Rechte“ wäre es möglich, diese derart weit auszulegen, dass auch der Schutz vor starken negativen Gefühlen erfasst wäre. 164

Feinberg, Offense to Others, S. 35. Feinberg, Offense to Others, S. 25; zu Feinbergs Theorie auch Darstellung bei Papageorgiou, S. 266. 166 Narayan, S. 151 ff.; ablehnend Hörnle, S. 82. 167 Narayan, S. 153. 168 Narayan, S. 15 ff. 169 Narayan, S. 183, 185. 165

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ee) Rechtsprechung des EGMR Eine Entscheidung des EGMR aus der Zeit vor den Verfahren S.A.S. gegen Frankreich und Belcacemi und Oussar gegen Belgien scheint zunächst ebenfalls in eine Richtung zu weisen, dass zuweilen auch der Schutz von Gefühlen dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer unterfallen könnte. In der Entscheidung Vajnai gegen Ungarn170 machte der Beschwerdeführer, seinerzeit Vizepräsident der staatlich anerkannten ungarischen Arbeiterpartei, eine Verletzung von Art. 10 Abs. 1 EMRK geltend. Im Zuge einer Demonstration hatte er eine Rede in Budapest gehalten und dabei den fünfzackigen roten Stern als Symbol der internationalen Arbeiterbewegung an seiner Jacke getragen. Die Polizei forderte ihn auf, den Stern abzunehmen. In einem darauf folgenden Strafverfahren wurde der Beschwerdeführer auf Grundlage von § 269/B des ungarischen Strafgesetzbuchs verurteilt. Die Strafnorm verbietet das Tragen totalitärer Symbole in der Öffentlichkeit. Der EGMR bejahte in seiner Entscheidung eine Verletzung der in Art. 10 EMRK verbürgten Meinungsfreiheit. Die Regierung habe versäumt darzulegen, dass das Tragen allein des Symbols Ausdruck totalitären Gedankenguts sei, insbesondere in Anbetracht der Tatsache, dass der Beschwerdeführer den Stern bei einer friedlichen Demonstration und in Funktion des Vizepräsidenten einer staatlich anerkannten linken Partei getragen habe. Der Stern sei zwar auch assoziierbar mit totalitärem Gedankengut, gleichwohl sei er aber nicht eindimensional in seiner Bedeutung, sondern unabhängig davon auch immer noch Symbol der internationalen Arbeiterbewegung.171 Gleichwohl erkannte der EGMR zunächst einmal an, dass die Regierung mit dem Verbot die legitimen Ziele des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer und die Aufrechterhaltung der Ordnung verfolge. Eine Verletzung von Art. 10 EMRK stellte er sodann im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung fest. Das Ziel des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer bestimmt der EGMR in der Entscheidung nicht näher.172 Er stellt jedoch fest, dass das Eindämmen rein spekulativer Gefahren als präventive Maßnahme zum Schutz der Demokratie nicht notwendig sei in einer demokratischen Gesellschaft.173 Damit könnte zunächst festgehalten werden, dass der EGMR die Demokratie selbst als Schutzgut im Rahmen der Rechte und Freiheiten anderer anerkennt – und zwar als ein Allgemeingut von Verfassungsrang, dass allen Freiheitsrechten zugrundeliegt. Dabei belässt es der EGMR aber nicht, sondern wendet sich in der Folge auch dem Schutz von Gefühlen zu. 170 EGMR, Urteil 2008-IV. 171 EGMR, Urteil 2008-IV, Ziffer 53. 172 EGMR, Urteil 2008-IV, Ziffer 34. 173 EGMR, Urteil 2008-IV, Ziffer 55.

vom 08. Juli 2008, Vajnai gegen Ungarn, Nr. 33629/06, ECHRvom 08. Juli 2008, Vajnai gegen Ungarn, Nr. 33629/06, ECHRvom 08. Juli 2008, Vajnai gegen Ungarn, Nr. 33629/06, ECHRvom 08. Juli 2008, Vajnai gegen Ungarn, Nr. 33629/06, ECHR-

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Den Stern, dem durchaus unterschiedliche Bedeutungen zukommen könnten, zu tragen, genüge zur Erfüllung des Tatbestandes des § 269/B des ungarischen Strafgesetzbuchs. Wenngleich es nachvollziehbar sei, dass sich Hinterbliebene und Opfer der kommunistischen Diktatur durch das Symbol in ihren Gefühlen verletzt fühlen können, habe es die Regierung versäumt darzulegen, dass es auch nur einen Fall gegeben habe, in dem es infolge des Tragens des roten Sterns zu einer tatsächlichen oder potentiellen Gefahr der Unruhe gekommen sei.174 Es genüge aber jedenfalls nicht den Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in das Freiheitsrecht, wenn das Verbotsgesetz lediglich das „Diktat eines gesellschaftlichen Gefühls befriedigen“ wolle.175 Diese Ausführungen des EGMR lassen zunächst wörtlich genommen noch nicht den Schluss zu, dass der Gefühlsschutz grundsätzlich nicht als legitimes Ziel im Sinne des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer dienen könnte. Der EGMR stellt die Rechtswidrigkeit bzw. die Konventionswidrigkeit der pauschalen Handhabung des Verbotsgesetzes gerade erst auf der Ebene der Angemessenheit fest. Gleichwohl entsteht der Eindruck, dass dies dem grundsätzlichen Vorgehen des EGMR geschuldet sein könnte, das Vorliegen eines legitimen Ziels nicht weiter zu prüfen und den Vertragsstaaten hier einen sehr weiten Spielraum zuzuerkennen. Auch erkannte der EGMR in der Vajnai-Entscheidung das Ziel der Aufrechterhaltung der Ordnung an, sodass die Verhinderung von Unruhen aufgrund verletzter Gefühle auch losgelöst vom Eingriffsziel Schutz der Rechte und Freiheiten anderer Beachtung finden konnte. Andererseits kann die Aussage des EGMR in der Entscheidung, dass es sich in dem vorliegenden Fall um eine pauschale Wertung und nicht um die Berücksichtigung „rationaler Ängste“ (rational fears176) handele, durchaus dahingehend verstanden werden, dass letztere sehr wohl Schutzgut und tauglicher Schrankeninhalt sein können. Ob dies jedoch wiederum lediglich als Anlehnung an einen objektiven Gefahrbegriff zu verstehen sein soll, bleibt ungeklärt. Im Ergebnis dürfte die Entscheidung zurückhaltend aber derart zu bewerten sein, dass die Rechte und Freiheiten auch den Schutz der Demokratie als solche erfassen. Den Schutz von Gefühlen scheint der EGMR in der Entscheidung aber eher im Rahmen der Aufrechterhaltung der Ordnung gem. Art. 10 Abs. 2 EMRK zu berücksichtigen, indem er feststellt, dass verletzte Gefühle zu einer – sodann nachzuweisenden – Gefahr für die Ordnung in Form von Unruhen werden können. Eine Tendenz des EGMR zur Anerkennung von Gefühlsschutz kann aber wohl in der Entscheidung Otto-Preminger-Institut gegen Österreich gesehen wer-

174 EGMR, Urteil vom 08. Juli 2008, Vajnai gegen Ungarn, Nr. 33629/06, ECHR2008-IV, Ziffer 49. 175 EGMR, Urteil vom 08. Juli 2008, Vajnai gegen Ungarn, Nr. 33629/06, ECHR2008-IV, Ziffer 57. 176 Ebenda, wobei die Formulierung für sich schon weitergehende Fragen aufzuwerfen vermag, was unter „rationalen Ängsten“ zu verstehen sein soll.

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den.177 In dem Fall hatte der EGMR zu beurteilen, ob in der Beschlagnahme und Einziehung eines Films178, der u. a. den christlichen, jüdischen und muslimischen Gott als senilen alten Mann darstellte, eine Verletzung der Meinungsfreiheit in Form künstlerischer Äußerungen gem. Art. 10 EMRK läge oder ein solcher Eingriff dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer diene und hierzu auch verhältnismäßig sei. Der EGMR verneinte eine Verletzung und erkannte dabei die religiösen Gefühle indirekt als „Rechte anderer“ an. Er stellte der Meinungsfreiheit damit die Religionsfreiheit anderer gegenüber, wobei er sich aber im Rahmen letzterer explizit auf die „religiösen Gefühle“ bezog und die Schlussfolgerung zog, dass auch blasphemische Darstellungen sodann eine Verletzung des Toleranzgebots darstellen könnten.179 Zunächst stellte der EGMR dabei klar, dass es bei der Religionsausübung keinen Anspruch auf Kritiklosigkeit seitens derer gebe, die den eigenen Glauben nicht teilen. Gleichwohl könnten Schutzpflichten des Staates dort bestehen, wo die Kritik oder das Entgegentreten derart extrem werde, dass es Menschen dazu bewegen könne, von ihrer Religionsausübungsfreiheit aus Art. 9 Abs. 1 EMRK keinen Gebrauch mehr zu machen. In solchen Fällen könne es zum Schutz der Toleranz erforderlich sein, Maßnahmen zu ergreifen.180 Wie in dem Fall Vajnai gegen Ungarn war also nicht eine mögliche Verletzung von Art. 8 oder Art. 9 EMRK Verfahrensgegenstand, sondern ein Eingriff in Art. 10 EMRK. Gleichwohl ging es um die Auslegung der Schranke „Schutz der Rechte und Freiheiten anderer“. Im Rahmen dieser bezog sich der EGMR auf die Freiheit gem. Art. 9 EMRK, mithin auf ein konventionsinternes Freiheitsrecht, und legte dieses sodann derart weit aus, dass auch der Schutz religiöser Gefühle von diesem erfasst sein könne. Auch wenn der Kern der Entscheidung letztlich auf dem Gesichtspunkt der staatlichen Schutzpflichten hinsichtlich des der Konvention zugrundeliegenden Toleranzgebots und damit verbunden dem konventionsinternen Recht der Religionsfreiheit liegt, so zeigt die Entscheidung gleichwohl, dass der Gerichtshof zuweilen – wie nach nicht unvertretbarer Lesart auch in der Vajnai-Entscheidung, wenngleich dort mit anderem Ergebnis – gewillt ist, Gefühle, Gefühlsschutz und Rechte „zusammenzudenken“.181

177 EGMR, Urteil vom 20. September 1994, Otto-Preminger-Institut gegen Österreich, Nr. 13470/87, Series A295-A. 178 Im vorliegenden Fall ging es um den Film „Das Liebeskonzil“ und dessen Beschlagnahme und Einziehung, die österreichische Gerichte auf Grundlage des § 188 StGB-Ö (Herabwürdigung religiöser Lehren) verfügt hatten. 179 EGMR, Urteil vom 20. September 1994, Otto-Preminger-Institut gegen Österreich, Nr. 13470/87, Series A295-A, Ziffer 47. 180 EGMR, Urteil vom 20. September 1994, Otto-Preminger-Institut gegen Österreich, Nr. 13470/87, Series A295-A, Ziffer 47 f. 181 Rödiger/Valentiner, AVR 53 (2015), 360 (370).

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In diesem Sinne Licht lässt sich auch die Entscheidung E. S. gegen Österreich sehen, in der der EGMR den Schutz religiöser Gefühle abermals und insofern anschließend an seine Vorjudikatur als Schutz der Rechte anderer anerkannte.182 Die in Wien lebende Beschwerdeführerin hatte im Oktober und November 2009 zwei Seminare mit dem Thema „Grundlagen des Islam“ bei dem Bildungsinstitut der FPÖ abgehalten. Die Seminare wendeten sich an Parteimitglieder, aber auch an sonstige Personen, insbesondere an junge Wahlberechtigte. Im Rahmen der Seminare machte die Beschwerdeführerin Aussagen über eine angebliche Ehe zwischen dem Propheten Mohammed und der sechsjährigen Aisha und damit angeblich belegbare pädophile Neigungen des Propheten. Dabei tätigte die Beschwerdeführerin unter anderem die Aussagen, Mohammed „hatte nun mal gerne mit Kindern ein bisschen was“ 183 und „Ein 56-Jähriger und eine 6-Jährige? [. . .] Wie nennen wir das, wenn nicht Pädophilie?“.184 Wegen dieser Äußerungen wurde die Beschwerdeführerin am 15. Februar 2011 vom Landesgericht für Strafsachen in Wien gem. § 188 StGB-Ö (Herabwürdigung religiöser Lehren) zu einer Geldstrafe und Ersatz der Verfahrenskosten verurteilt. Mit ihrer Berufung an das OLG Wien scheiterte die Beschwerdeführerin. Auch der Oberste Gerichtshof ließ eine „Erneuerung des Verfahrens“ mit Beschluss vom 11. Dezember 2012 nicht zu. Vor dem EGMR berief sich die Beschwerdeführerin wegen der Verurteilungen auf eine Verletzung ihrer Meinungsäußerungsfreiheit aus Art. 10 Abs. 1 EMRK. Der Gerichtshof wies die Beschwerde ab. Die Maßnahmen des österreichischen Staates seien zur Aufrechterhaltung der Ordnung durch Schutz des religiösen Friedens und zum Schutz der Rechte anderer, nämlich derer religiöser Gefühle erfolgt und verfolge damit legitime Ziele gem. Art. 10 Abs. 2 EMRK.185 Der Eingriff sei auch verhältnismäßig erfolgt. Der EGMR prüfte die Umstände des Einzelfalles sehr ausführlich. Unter Bezugnahme auf seine ständige Rechtsprechung stellte er zunächst fest, dass die Religionsfreiheit aus Art. 9 EMRK nicht vor jeder Ablehnung und Kritik des eigenen Glaubens durch andere schützt. Dort, wo jedoch die Grenzen der Kritik derart überschritten seien, dass die Äußerungen jedenfalls geeignet sind, zu religiöser Intoleranz zu verleiten, könne der Staat diese gerechtfertigt für unvereinbar mit Art. 9 EMRK erklären und die in einer demokratischen Gesellschaften notwendigen Maßnahmen zur Beschränkung solcher Äußerungen treffen.186 Dabei stellte der EGMR fest, dass auch entscheidend sei, ob die Aussage als reines Werturteil jeglichen wahren 182 EGMR, Urteil fer 48. 183 EGMR, Urteil fer 13. 184 Ebenda. 185 EGMR, Urteil fer 41. 186 EGMR, Urteil fer 52, 57.

vom 25. Oktober 2018, E. S. gegen Österreich, Nr. 38450/12, Zifvom 25. Oktober 2018, E. S. gegen Österreich, Nr. 38450/12, Zif-

vom 25. Oktober 2018, E. S. gegen Österreich, Nr. 38450/12, Zifvom 25. Oktober 2018, E. S. gegen Österreich, Nr. 38450/12, Zif-

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Kerns entbehre187 und in welchem Kontext, in welchem Land und zu welcher Zeit die Aussage getroffen worden sei. Insoweit komme dem Vertragsstaat ein erheblicher Beurteilungsspielraum bei der Beurteilung des Gefährdungspotentials der Äußerungen für den religiösen Frieden zu.188 Der EGMR verbindet hier gewissermaßen seine Argumentationen aus den Entscheidungen Vajnai gegen Ungarn und Otto Preminger Institut gegen Österreich. Er stellt sowohl auf das Ziel der Aufrechterhaltung der Ordnung ab, die bei entsprechender Verletzung von Gefühlen berührt sein kann, aber vor allem auch auf das Ziel Schutz der Rechte und Freiheiten anderer, zu dem er über Art. 9 EMRK auch den Schutz religiöser Gefühle zählt. Diese Entscheidungen des EGMR lassen zumindest eine Tendenz erkennen, unter bestimmten Umständen auf eine klare (begriffliche) Trennung bzw. Bestimmung von Gefühlen und Rechten zu verzichten. d) Stellungnahme und Zwischenergebnis Fraglich ist nun, welcher Ansatz im Rahmen der Rechte und Freiheiten i. S. d. Art. 8 und 9 EMRK Bestand haben kann. Ein Ansatz, der lediglich geschriebene Rechte erfasst sehen will, ignoriert schon die unumstrittene Geltung von Gewohnheits- und Richterrecht. Zudem könnten nationale Gesetzgeber so jederzeit über Änderungen des nationalen Rechts auf die Reichweite des Eingriffsziels einwirken. Sie können neue Gesetze, mittels entsprechender Mehrheiten auch neues Verfassungsrecht, erlassen und neue subjektive Rechte schaffen – oder abschaffen. Bei der EMRK handelt es sich aber um ein internationales, völkerrechtliches Vertragswerk. Dieses muss eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber dem nationalen Gesetzgeber behalten, sodass die Kategorien „geschrieben/ungeschrieben“ letztlich kein entscheidendes Kriterium bilden können. Eine Ausweitung des Schrankenbegriffs in die entgegengesetzte Richtung derart, dass der Terminus „Rechte und Freiheiten“ in einem naturrechtlichen Sinne zu verstehen sei, ist wie festgestellt ebenfalls nicht vertretbar, da er mit der Natur der EMRK und dem EGMR nicht vereinbar wäre. Die dadurch eröffneten unbestimmten und ausufernden Spielräume stünden zur Rolle des EGMR als supranationalem, aber subsidiärem Gericht genauso im Widerspruch wie zum Anspruch der EMRK als Instrument des effektiven Menschenrechtsschutzes. Auch ein Ansatz, nach dem auch Gefühle vom Terminus der „Rechte und Freiheiten“ erfasst sein sollen, ist abzulehnen. Hierbei ist zunächst der Ansatz als solcher zu beurteilen, ehe eine Bezugnahme auf die konkrete konventionsbezo187 EGMR, Urteil vom 25. Oktober 2018, E. S. gegen Österreich, Nr. 38450/12, Ziffer 48. 188 EGMR, Urteil vom 25. Oktober 2018, E. S. gegen Österreich, Nr. 38450/12, Ziffer 50, 57 f.

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gene Fragestellung vorzunehmen ist. Richtigerweise kritisiert Hörnle den von Feinberg in der angloamerikanischen Diskussion entwickelten Ansatz als „psychologischen Realismus“, wenn sie darauf hinweist, dass Feinberg praktisch davon ausgeht, dass Menschen „faktisch negative Gefühle“ empfänden.189 „Negative Gefühle“ sind aber in einem Maße subjektiv wie es sonst nur wenige Kategorien sein dürften. Auch Papageorgiou hält einer solchen Theorie entgegen, dass wer auf empfundene Gefühle abstelle, letztlich doch nur aufgrund von (eigenen) Moralvorstellungen urteile. Dies würde lediglich hinter einer „Scheinrationalität“ 190 verdeckt. Tatsächlich exponieren solche Prinzipien wegen ihrer starken normativen bis moralistisch-paternalistischen Aufladung weithin beliebige Spielräume.191 Sie können zudem auf Moralvorstellungen und einer Sozialisierung beruhen, die häufig mehrheitsbezogen sind. Gerade hinsichtlich eines effektiven Minderheitenschutzes im Rahmen der EMRK ist ein solcher Ansatz hinsichtlich der Auslegung der Rechte und Freiheiten daher aus normativen Gesichtspunkten bereits abzulehnen. Jedenfalls zeigt aber die hierin verdeutlichte Tatsache, dass Gefühlsschutz in dieser Konzeption letztlich einen Schutz von Moralvorstellungen bedeuten würde und dass gerade dieser nicht Inhalt der Rechte und Freiheiten sein kann, jedenfalls dann nicht, wenn er letztlich die einzige Dimension bleibt – denn dann ist das legitime Ziel des „Schutzes der Moral“, das Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK ausdrücklich nennen, berührt. Im Sinne einer klaren Bestimmung der Schrankenbegriffe muss daher der psychologische Ansatz für einen Gefühlsschutz im Rahmen der Rechte und Freiheiten ausscheiden, weil andernfalls letztlich für den Schutz der Moral kein eigener Anwendungsbereich verbliebe und dieser Schrankenbegriff damit obsolet wäre. Auch der Ansatz von Narayan kann hier nicht überzeugen. Zwar gehört ein bestimmtes Maß an Respekt und Rücksichtnahme zu den Erwartungen von Menschen in zwischenmenschlichen Kontexten des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die sozialen Normen und Konventionen, die diesem Maß und der Art von Respekt und Rücksichtnahme zugrunde liegen, sind allerdings stets variabel und zeit- sowie kontextabhängig. Sie entstammen zudem unterschiedlichen normativen Systemen, darunter auch religiöse Lehren und Überzeugungen. Überdies unterliegen sie subjektiven Wertungen. Nicht jede soziale und auf Menschen wirkende Norm ist aber auch in (Abwehr-)Rechte zu überführen. Soziale und rechtliche Übereinkünfte sind nicht nur in ihrer Fluktuation und Wandelbarkeit zu unterscheiden, sondern vor allem auch hinsichtlich ihrer Durchsetzbarkeit: die Durchsetzbarkeit von rechtlichen Normen erfolgt letztlich durch staatliche Gewalt. Dieser kann aber nicht die Überwachung der Einhaltung aller sozialen Normen oder Konventionen zustehen. Soziales Fehlverhalten ist nicht stets mit staat-

189 190 191

Hörnle, S. 81. Hörnle, S. 82. Papageorgiou, S. 266.

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licher Gewalt zu ahnden. Wird eine gewisse Grenze, wie zum Beispiel im Falle von Beleidigungen, erreicht, ist mit dem Schutz der Menschenwürde eine staatliche Verbotsnorm gerechtfertigt. Unterhalb dieser Schwelle, etwa hinsichtlich unpassender Bemerkungen, die gleichwohl bei Personen negative Gefühle hervorrufen können, greifen auch soziale Sanktionen. Staatliche Eingriffe in Freiheitsrechte zum grundsätzlichen Schutz vor auch starken negativen Gefühlen gingen dagegen zu weit. Es ergibt sich auch trotz der Vermutungen, die die Vajnai-Entscheidung, die Otto-Preminger-Institut-Entscheidung und die E.S.-Entscheidung des EGMR auf den ersten Blick nahelegen könnten, nicht anderes. Gefühle als solche können nicht einklagbare Rechte darstellen.192 In Anbetracht der Bedeutung von Art. 8 EMRK und insbesondere im Lichte des Art. 9 EMRK und diesbezüglicher Rechtsprechung des EGMR käme ein solcher Ansatz einem Recht auf Konfrontationsschutz mit (anderen als der eigenen) Positionen oder Religionen zumindest sehr nahe. Der EGMR entschied jedoch im Fall Lautsi gegen Italien, dass ein solches Recht gerade nicht existieren könne und zwar nicht einmal dann, wenn die negative Religionsfreiheit anderer berührt ist. Bei genauerer Betrachtung widersprechen die Urteile aber auch weder einander, noch der hier vertretenen Ablehnung des grundsätzlichen Gefühlsschutzes. Die als Anspruch auf Gefühlsschutz deklarierbaren entgegenstehenden Rechte basieren tatsächlich auf Art. 9 EMRK (Schutz religiöser Gefühle statt jeglicher Gefühle) und erfahren so eine konventionsinterne Legitimation. Als solche stehen sie in einem Spannungsverhältnis zu anderen Konventionsrechten wie beispielsweise der Meinungsfreiheit gem. Art. 10 EMRK. Im Rahmen einer Abwägung stellte der EGMR stets fest, dass die Meinungsfreiheit erst dann zurückzutreten habe, wenn die Grenze der (auch harschen) Kritik überschritten sei und es bei der Meinungsäußerung hauptsächlich um Diffamierung und die Herabwürdigung bestimmter Glaubensrichtungen gehe. Insoweit stellt die Meinungsäußerung dann eine Gefahr für den religiösen Frieden und mithin die gegenseitige Toleranz in der Gesellschaft dar. Diese zu gewährleisten ist aber gerade auch Aufgabe der Vertragsstaaten zur Gewährleistung der Freiheit der Religionsausübung gem. Art. 9 Abs. 1 EMRK. Im Ergebnis kann damit der Schutz der Rechte und Freiheiten anderer nicht als ein genereller Schutz von (und vor starken negativen) Gefühlen verstanden werden. Die Tendenz des EGMR, religiöse Gefühle unter den Aspekt der Rechte und Freiheiten zu subsumieren, ist zwar wenigstens aufgrund der teilweise unübersichtlichen dogmatischen Herleitung bedenklich. Über das Element der Rechte anderer kann aber die positive wie negative Religionsfreiheit in solchen Fällen Schranke der Freiheitsrechtsausübung sein. Auch kann ggf. die öffentliche Ordnung tangiert sein. Darüber hinaus aber einen unbestimmten Gefühlsschutz im 192 v. Münch, FS für Schmidt-Jortzig, S. 59; darauf bezugnehmend auch Rödiger/Valentiner, AVR 53 (2015), 360 (381).

B. Die Mindestanforderungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens

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Rahmen der Rechte und Freiheiten anderer als Schranke anzuerkennen, wäre zu weitreichend und ist auch nicht erforderlich. Einzig wenn eine Rückkopplung an konventionsinterne oder nationale Verfassungsrechte und -werte möglich ist wie im Fall des Schutzes religiöser Gefühle, ist dies noch vertretbar. Fraglich bleibt damit, ob auch berechtigte menschliche Individualinteressen in Form der Sicherheitsinteressen „Rechte und Freiheiten anderer“ im Sinne der Schrankenkataloge darstellen können. Jedenfalls lässt sich aus der Zusammenschau der Konvention festhalten, dass die Konvention ihrem Wortlaut nach selbst Unterschiede kennt zwischen „Menschenrechten“ und „Grundfreiheiten“ (Präambel der EMRK), die sie selbst gewährleistet, einerseits, und „Rechten“ und „Freiheiten“ andererseits. Dies ist aber noch kein Argument für einen Schutz auch von bloßen Interessen. Gegen einen solchen lässt sich vielmehr einwenden, dass auch die Konvention begrifflich zwischen „Rechten“ und „Interessen“ unterscheidet: Art. 6 Abs. 1 EMRK nennt ausdrücklich die Interessen Jugendlicher („interests of juveniles“/„les intérêt des mineurs“) und spricht an dieser Stellen nicht von „Rechten“ dieser. Die systematische und wörtliche Auslegung spricht mithin dagegen, auch Interessen vom Terminus „Rechte und Freiheiten“ als erfasst anzusehen. Sonstige menschliche Interessen, auch Sicherheitsinteressen, unterhalb der Schwelle der subjektiven Rechte können damit nach hier vertretener Ansicht nicht als Rechte und Freiheiten anderer im Sinne der Schrankenkataloge der Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK angesehen werden. Auch aus Perspektive eines evolutiven Verständnisses der Konventionsbegriffe ergibt sich nichts anderes. Es ist nicht ersichtlich, dass der EGMR in seiner Rechtsprechung – zumindest bis zur S.A.S.-Entscheidung – einen Weg hätte einschlagen wollen, nach dem er ein anderes Begriffsverständnis vertreten hätte. Auch die Entscheidungen, in denen ihm vorgeworfen werden könnte, Rechte und Gefühle nicht klar abzugrenzen, basieren letztlich auf einem Verständnis von Rechten und Freiheiten, die auf konkrete Menschenrechte und konventionsinterne Prinzipien rückführbar sind.

IV. Subsumtion und Einordnung der Argumentation der französischen Regierung im S.A.S.-Verfahren und der Urteilsbegründung des EGMR: Kategoriebildung der „Achtung eines Mindestbestands an Werten einer offenen und demokratischen Gesellschaft“ als Suggestion eines strengen Maßstabs Die Subsumtion sowie die Einordnung der Argumentationen der französischen Regierung und der Begründungen des EGMR sollen entsprechend der Konzeption des Eingriffsziels im Wege eines zweistufigen Vorgehens stattfinden.

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4. Teil: Betrachtung der Mindestanforderungen des „vivre ensemble‘‘

1. Subsumtion der ersten Stufe „Achtung eines Mindestbestands an Werten einer offenen und demokratischen Gesellschaft“ Geht man nun davon aus, dass die Rechte und Freiheiten anderer derart auszulegen sind, dass sie konventionsinterne sowie nationale subjektive Individualrechte als Ausdruck eines europäischen Standards und nationale Werte von Verfassungsrang erfassen sowie diejenigen Gemeingüter, die überhaupt erst Voraussetzung für die effektive Gewährung und den Schutz von Grund- und Freiheitsrechten sind, so fragt sich, ob die von der französischen Regierung erstmals vorgebrachten und vom EGMR akzeptierten Elemente hier subsumierbar sein können. Zunächst ist dies hinsichtlich der „Achtung eines Mindestbestands an Werten einer demokratischen und offenen Gesellschaft“ zu klären, die die französische Regierung als eine Art Zwischenkategorie vorbrachte.193 Damit soll hier gemeint sein, dass sie die Kategorie – grundsätzlich ohne dass dies notwendig gewesen wäre – im S.A.S.-Verfahren vorbrachte und ihr sodann wiederum die drei Elemente Geschlechtergleichheit, Menschenwürde und die Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben zuordnete. Hier stellen sich zunächst keine weiteren Probleme. Nach allem oben Gesagten muss es auch nach der engsten Auffassung möglich sein, unter Rechten und Freiheiten anderer auch jene Konzepte und Prinzipien zu verstehen, die der Konvention selbst zugrunde liegen. Dies dürfte auch ein Mindestbestand an Werten einer demokratischen Gesellschaft sein. Allein ist mit dieser Aussage und Subsumtion im Ergebnis nichts gewonnen. Denn eine Abgrenzung zwischen „Prinzipien, die der Konvention selbst zugrunde liegen“ und „einem Mindestabstand an Werten einer offenen und demokratischen Gesellschaft“, dürfte kaum möglich sein. Beide sind nach herkömmlichem Begriffsverständnis beinahe austauschbar, die Unterscheidung von „Prinzipien“ und „Werten“ wirkt an dieser Stelle entweder beliebig oder nicht praxistauglich. Die Formulierung des „Mindestbestands an Werten einer offenen und demokratischen Gesellschaft“ suggeriert lediglich, dass es sich hierbei um wesentliche bis unverzichtbare Werte handeln soll. Die Formulierung legt nahe, dass es sich um Prinzipien und Grundwerte wie Pluralismus und Toleranz handeln soll. Solche vom EGMR selbst der Konvention zugrunde gelegten Werte bedürften dieser kategorialen Anbindung aber keineswegs. Nichtsdestotrotz kann an dieser Stelle noch ohne weiterreichende Bedenken zugestimmt werden, dass die „Achtung eines Mindestbestands an Werten in einer offenen und demokratischen Gesellschaft“ zu den Rechten und Freiheiten anderer gezählt werden kann. Insoweit bietet die Entscheidung S.A.S. noch keine substantielle Neuheit. Die Unbestimmtheit auch dieses Begriffs wird im Folgenden jedoch noch zu Problemen führen – und ihr Sinn sich zeigen.

193 EGMR, Urteil vom 01. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffern 82, 116.

B. Die Mindestanforderungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens

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Gleichzeitig ist darauf zu verweisen, dass der EGMR in der Entscheidung Belcacemi und Oussar gegen Belgien auf diese Zwischenstufe verzichtete und unmittelbar zur Subsumtion der „Mindestanforderungen für das gesellschaftliche Zusammenleben“ gelangte.194 2. Subsumtion der zweiten Stufe „Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben“ Sowohl der französische Gesetzgeber, als auch die französische Regierung im S.A.S.-Verfahren haben das Konzept der „Mindestanforderungen für das gesellschaftliche Zusammenleben“ vage und unbestimmt gelassen. Sie haben es auch unterlassen, es durch weitergehende Beispiele als das unverdeckte Gesicht in der Öffentlichkeit und die dadurch ermöglichte non-verbale Kommunikation im öffentlichen Raum anzureichern. Auch der EGMR hat hier keine Abhilfe geschaffen, sondern vielmehr allein die französische Argumentation übernommen, wonach die Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben ebenso wie die Menschenwürde und die Geschlechtergleichheit zum Mindeststandard der Werte einer demokratischen und offenen Gesellschaft gehören sollen. Der EGMR stellt zwar fest, dass das Verbot dem religiösen Pluralismus nicht zuträglich ist, da es Frauen verbietet, ihre religiöse Identität im öffentlichen Raum in dieser von ihnen gewählten Form auszudrücken. Sogleich darauf erkennt er aber an, dass der französische Gesetzgeber mit dem Gesetz den Pluralismus zugleich auch schützen wolle: die Grundregeln der sozialen Kommunikation, zu denen ein freies Gesicht gehöre, seien essentiell für den Ausdruck von Pluralismus, aber auch von Toleranz und geistiger Offenheit.195 Damit baut der EGMR weitere „Brücken“ in der Argumentation: Vom Mindestbestand der Werte einer offenen und demokratischen Gesellschaft gelangt er zu den Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben. Zu diesen gehöre auch die ständige Möglichkeit zur non-verbalen Kommunikation und Begegnung mit freiem Gesicht im öffentlichen Raum, denn eine solche sei wiederum Ausdruck von Pluralismus, Toleranz und Offenheit. Die oben entwickelte inhaltliche Annäherung an das Konzept hat ergeben, dass unter den Mindestanforderungen für das gesellschaftliche Zusammenleben ungeschriebene, gesellschaftlich konsentierte Grundübereinkünfte und soziale Prinzipien verstanden werden können, die von solch grundlegender Bedeutung für das Funktionieren einer demokratischen freiheitlichen Gesellschaft sind, dass die Art und Weise der Ausübung der Menschen- und Freiheitsrechte unmittelbar durch ihr Vorliegen bestimmt wird. Diese konsentierten Übereinkünfte gründen dabei auf Maximen demokratischer Gesellschaftsformen und stellen selbst Werte einer 194 EGMR, Urteil vom 11. Juli 2017, Belcacemi und Oussar gegen Belgien, Nr. 37798/13, Ziffer 48 f. 195 EGMR, Urteil vom 01. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffer 153.

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4. Teil: Betrachtung der Mindestanforderungen des „vivre ensemble‘‘

demokratischen Gesellschaft dar, die sich auf die Zivilgesellschaft beziehen und diese zugleich berechtigen und zu einem eigenen Beitrag verpflichten.196 Diese Definition lässt es zunächst durchaus zu, die „Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben“ als ein Element des „Mindestbestand an Werten einer demokratischen und offenen Gesellschaft“ zu betrachten. Gleichwohl liefert diese begriffliche Annäherung zwar einen bestimmteren Rahmen als die vom französischen Gesetzgeber vorgebrachten Erläuterungen. Dennoch bleibt das Konzept ausfüllungsbedürftig. Der dem Staat auf Schrankenebene zugestandene Beurteilungsspielraum darf dabei nicht zu einem Raum werden, der der Kontrolle durch den EGMR entzogen wäre. Nimmt man die Konzeption der Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben selbst ernst, so muss es sich tatsächlich um „Mindestanforderungen“ handeln, nicht jedoch um solche Beiträge der einzelnen Individuen und Rechtsträger, die lediglich zu einem für den einen oder die andere „angenehmeren“ Zusammenleben führen würden. Dies wären bloße „welfare interests“, mithin solche menschlichen Interessen, die nachvollziehbar und durchaus von gewissem Gewicht sind, jedoch nach obigen Ausführungen nicht als „Rechte und Freiheiten“ i. S. d. Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK angesehen werden können. Denn eine solche Herangehensweise würde einen Schutz von „Wohlfahrtsinteressen“ bis hin zu einem Gefühlsschutz für diejenigen bedeuten, die sich (zumeist als Mehrheit) gegen unliebsame oder störende Verhaltensweisen wenden möchten. Auch wenn eine Handlung von einer Mehrheit abgelehnt wird, kann dies nicht automatisch zu einer Verkürzung des menschenrechtlichen Schutzes für diejenigen führen, die die Handlungen ausführen. Als Sicherheitsinteressen – wollte man diese noch zu den „Rechten und Freiheiten anderer“ fassen –, sind die Mindestanforderungen für das gesellschaftliche Zusammenleben danach folglich aber schon nicht subsumierbar. Das gesellschaftliche Zusammenleben angenehm zu gestalten, zu erleichtern und jede einzelne Person hierzu ihren Beitrag leisten zu lassen, ist ein Leistungsinteresse und nicht auf Abwehr gerichtet. Hieran ändert auch die Argumentation des EGMR über den „Umweg“ des Pluralismus nichts: dieser ist sicher als eine Mindestanforderung an das gesellschaftliche Zusammenleben zu qualifizieren, er ist Grundvoraussetzung für die Ausübung von Freiheitsrechten jedes Einzelnen. Auch der Pluralismus selbst ist aber ernst zu nehmen und vor Banalisierung zu schützen. Ein Rückgriff auf den Pluralismus ändert nichts an der ungleichen Gewichtung von Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben nach der hier vertretenen Begriffsannäherung, dem Pluralismus und dem bloßen Wunsch nach der gesellschaftlich-sozialen Konvention der Begegnung im öffentlichen Raum mit freiem Gesicht. Daraus folgen zwei Erkenntnisse: eine stringente Begriffsbestimmung und Konzeption legt gleichzeitig gewisse Hürden fest, um zu vermeiden, dass bloßer 196

Vgl. Vierter Teil, A. VI.

B. Die Mindestanforderungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens

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Schutz von Interessen oder Gefühlen zu „Rechten und Freiheiten“ erklärt wird. Dies zu kontrollieren wäre bei gleichzeitigem Zugeständnis gewissen nationalen Beurteilungsspielraums Aufgabe des Gerichtshofs. Bei einem solchen Vorgehen muss auffallen, dass die Reziprozität unter Bürgerinnen und Bürgern im öffentlichen Raum und die Ermöglichung zwischenmenschlicher Interaktion vermittels des Gesichts – im Ergebnis also das Festhalten an der Sichtbarkeitsmaxime – hiervon nicht erfasst sein können. Umstände und Verhaltensweisen, die das Zusammenleben einfacher machen, sind nachvollziehbare Interessen und individuelle oder gar mehrheitliche Wünsche. Sie sind aber nicht per se und auch nicht im hier diskutierten Anwendungsfall von derartigem Gewicht, dass sie die Ausübung von Freiheitsrechten ihrer Vertreterinnen und Vertreter grundlegend bestimmen. Sie sind gerade Wünsche, Interessen, nachvollziehbare Anliegen. Sie können aber nach hiesiger Auffassung nicht Rechte und Freiheiten im Sinne der Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK darstellen, selbst wenn die Konzeption der Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben derart bestimmt wird, das zumindest sie selbst noch als „Recht anderer“ angesehen werden kann. Eine Subsumtion der auf der Sichtbarkeitsmaxime basierenden Anliegen an ein freies Gesicht jeder Person im öffentlichen Raum und permanente Verfügbarkeit zur non-verbalem Kommunikation mittels unverdecktem Gesicht kann hier nicht mehr erfasst sein. Ginge man wie der französische Gesetzgeber – und wie es Gesetzgebungsprozessen durchaus immanent ist – gedanklich vom „Ziel“ der Regelung aus, so wäre es bei anderem Verständnis der Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben zwar möglich, hiervon auch die zwischenmenschliche ständige Kommunikationsbereitschaft mit unverschleiertem Gesicht in der Öffentlichkeit zu erfassen. Sodann dürfte es aber nicht mehr gelingen, diese widerspruchsfrei auf eine Ebene mit den beiden anderen Werten einer offenen und demokratischen Gesellschaft, der Menschenwürde und der Geschlechtergleichheit zu „erheben“. Eine genaue konzeptionelle Annäherung zeigt damit deutlich einen Bruch in der Argumentation und der Konzeption der französischen Regierung bzw. des französischen Gesetzgebers aus der Perspektive der EMRK und insbesondere aus Perspektive der Schranke „Rechte und Freiheiten anderer“ gem. Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK. Während die „anderen“ hier als diejenigen Bürgerinnen und Bürger gesehen werden können, die sich im öffentlichen Raum bewegen, und damit dieses Merkmal selbst nach dem streng personenbezogenen und jedenfalls nach erweitert personalen Ansatz gegeben wäre, scheitert dagegen die Subsumtion eines solchen Zwecks, der darin besteht „das Leben in der Gesellschaft einfacher“ 197 zu machen, daran, dass es sich hierbei nicht im Rechte und Freihei197 EGMR, Urteil vom 01. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffer 122.

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4. Teil: Betrachtung der Mindestanforderungen des „vivre ensemble‘‘

ten der Personen handeln kann. Der EGMR selbst geht in der Entscheidung S.A.S. gegen Frankreich einen Weg, der dogmatisch nicht mehr haltbar ist, wenn er subsumiert, dass Menschen an öffentlichen Orten, es „nicht sehen wollen, dass sich dort Handlungen entwickeln, die die Möglichkeit offener zwischenmenschlicher Kommunikation fundamental in Frage stellen“.198 Dies sind berechtigte Interessen, gegebenenfalls auch verbreitete oder sogar auf weitgehendem Konsens beruhende, wichtige Interessen. Aber nach allem hier Herausgearbeiteten keine „Rechte und Freiheiten“ gem. Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK. Auch die negative Religionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 1 EMRK vermag hieran nichts zu ändern. Zwar sind die „anderen“ Träger und Trägerinnen dieses Rechts – es ist in der vorliegenden Konstellation aber nicht berührt. Einen Konfrontationsschutz vor religiösen Symbolen anderer im öffentlichen Raum bietet die negative Religionsfreiheit gerade nicht.

C. Analyse der Dogmatik der Konzeption, Kritik und Stellungnahme: Die „doppelt unbestimmte Schranke“ I. Gefahr der Schaffung von Scheinrechtsgütern Die französische Regierung hat im Verfahren S.A.S. gegen Frankreich wie sich nun zeigt einen bemerkenswerten Weg gewählt: Sie hat nicht nur ein neues Konzept – oder zumindest die vagen Umrisse eines solchen – vorgebracht, um dieses als ein Element der Rechte und Freiheiten anderer i. S. d. Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK zu verstehen, sie tat dies im Wege einer wie sie hier genannt werden soll sogar doppelt unbestimmten Schrankenkonstellation. Die französische Regierung bleibt nicht dabei, die fraternité als Verfassungswert vorzubringen und diese entsprechend auszufüllen. Vielmehr werden die Konzepte der Achtung eines Mindestbestands der Werte in einer offenen und demokratischen Gesellschaft sowie die darunter subsumierten Mindestvoraussetzungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens gebildet. Damit werden zwei Kategorien geschaffen, die ihrerseits in einer Art Stufenverhältnis Rechte und Freiheiten anderer darstellen sollen, und denen im Ergebnis auf dritter Stufe nach Auffassung der französischen Regierung und des EGMR schließlich auch ein Recht auf ein Leben in einem sozialen Umfeld unterfallen soll, das das Zusammenleben in der Gesellschaft leichter und angenehmer macht. Dem stehe die durch das Tragen des Gesichtsschleiers errichtete Barriere entgegen. Durch die Schaffung der beiden (Zwischen-)Kategorien bzw. Konzepte werden Hürden und Maßstäbe suggeriert, die 198 EGMR, Urteil vom 01. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffern 122: „[The Court] can understand the view that individuals who are present in places open to all may not wish to see practices or attitudes developing there which would fundamentally call into question the possibility of open interpersonal relationships, which, by virtue of an established consensus, forms an indispensible element of community life within the society in question.“

C. Analyse der Dogmatik der Konzeption, Kritik und Stellungnahme

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derart hoch seien, dass sie nur in bestimmten Fällen zur Anwendung kommen könnten. Die bedeutungsvoll klingenden Termini des „Mindestbestands von Werten in einer offenen und demokratischen Gesellschaft“ und der „Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben“ sind tatsächlich kaum voneinander abgrenzbar. Sie suggerieren aber eine saubere dogmatische Herleitung, die sie in Wirklichkeit nur scheinbar liefern. Auf diesem Wege wurde es möglich, gewichtige Verfassungswerte gewissermaßen „anklingen“ zu lassen. Tatsächlich müssen an dieser Bedeutungsschwere und den (suggerierten) Maßstäben aber ernsthafte Zweifel aufkommen, wenn es letztlich eben nicht um ein Recht oder eine Freiheit im Sinne der Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK geht, sondern um (wenngleich nachvollziehbare) Interessen im alltäglichen zufälligen Aufeinandertreffen von Personen im öffentlichen Raum. Die Aufstellung der beiden Kategorien impliziert eine Tragweite, die die Subsumtion im Ergebnis nicht mehr tragen können. Sie lässt die wie gezeigt ohnehin schon weniger als zuweilen angenommen bestimmte Schranke der Rechte und Freiheiten anderer vollends verschwimmen. Die beiden Konzeptionen, die bei ernsthafter Subsumtionsanstrengung keine Ausuferung dergestalt zulassen würden, dass auch „welfare interests“ erfasst sein könnten, werden derart gehandhabt, dass sie letztlich eine Brücke darstellen, um im Rahmen der Auslegung der Rechte und Freiheiten anderer bloße Interessen und Wünsche der Mehrheit einer Gesellschaft erfassbar zu machen. Der Weg vom Mindestbestand an Werten in der offenen und demokratischen Gesellschaft über die Mindestanforderungen für das gesellschaftliche Zusammenleben ermöglicht es dem auslegenden Gerichtshof, von den Rechten und Freiheiten einen Bogen zu schlagen hin zu Voraussetzungen für ein angenehmeres Miteinander im öffentlichen Raum aus der Perspektive der Mehrheit der Bevölkerung, die hier „die anderen“ sind. Die damit einhergehende Banalisierung der Schranke der Rechte und Freiheiten anderer hin zu einem Gefühls- und Bedürfnisschutz wird dadurch kaschiert und letzteres zu höherer Bedeutung erhoben, als dies vor dem Hintergrund der Bedeutung der Menschenrechte bei strenger Analyse und Subsumtionsarbeit vertretbar ist. Vielmehr wird hier eine Tendenz erkennbar, Scheinrechtsgüter zu schaffen. Die Konsequenzen eines solchen Vorgehens wiegen dabei umso schwerer, je geringer sodann auch noch die Kontrolldichte auf der Ebene der Verhältnismäßigkeit aufgrund des Zugestehens eines weiten nationalen Beurteilungsspielraum ausfällt.

II. Verhältnis zur „Aufrechterhaltung der Ordnung“ i. S. d. Art. 8 Abs. 2 EMRK und zur „öffentlichen Ordnung“ i. S. d. Art. 9 Abs. 2 EMRK Ein inkonsequentes Verständnis, wie es die nationalen Gesetzgeber aus Frankreich, Belgien, Österreich, Dänemark und der Schweiz den Mindestanforderungen an ein gesellschaftliches Zusammenleben zugrunde legen, indem sie sie

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4. Teil: Betrachtung der Mindestanforderungen des „vivre ensemble‘‘

einerseits zum Mindestbestand an Werten in einer offenen und demokratischen Gesellschaft zählen – also eine gewichtige Bedeutung implizieren –, andererseits hierunter ab sogar bloße „welfare interests“ fassen, wie einander in der Öffentlichkeit stets mit unverdecktem Gesicht zu begegnen – also eine Banalisierung bewirken –, führt auch dazu, dass eine Abgrenzung zur öffentlichen Ordnung gem. Art. 9 Abs. 2 EMRK und zur Ordnung gem. Art. 8 Abs. 2 EMRK kaum mehr möglich ist. Grundsätzlich ist die verbreitete Vorgehensweise des EGMR, gleich mehrere Eingriffsziele einer Maßnahme anzuerkennen oder sich auf dasjenige zu beschränken, das jedenfalls einschlägig ist, und auf eine genauere Abgrenzung innerhalb des Schrankenkatalogs eines Freiheitsrechts zu verzichten, nicht zu beanstanden, da eine Berufung auf mehrere Eingriffsziele stets möglich ist.199 Sie wird vorliegend aber gerade deshalb zu einem Problem, weil der EGMR allein das Ziel „Schutz der Rechte und Freiheiten anderer“ ohne Prüfung der öffentlichen Ordnung anerkennt, da auch nur dieses Ziel wortlautgleich in beiden Schrankenkatalogen, in Art. 8 Abs. 2 wie auch in Art. 9 Abs. 2 EMRK, aufgeführt ist. Der EGMR selbst führt aus, dass er eine Berufung auf das Ziel der „öffentlichen Ordnung“ gar nicht erst prüft, weil dieses in Art. 8 Abs. 2 EMRK ohnehin nicht enthalten sei.200 Hintergrund dieses Gedanken ist Art. 18 EMKR, der die Übernahme von Eingriffszielen aus anderen Artikeln untersagt. Taugliches Eingriffsziel bei Art. 8 Abs. 2 EMRK ist dagegen die „Aufrechterhaltung der Ordnung“. 1. Problematik der Unschärfe der „Aufrechterhaltung der Ordnung“ i. S. d. Art. 8 Abs. 2 EMRK und „Schutz der öffentlichen Ordnung“ gem. Art. 9 Abs. 2 EMRK Das Ziel der Aufrechterhaltung der Ordnung gem. Art. 8 Abs. 2 EMRK wird vom EGMR nur äußerst selten genauer betrachtet.201 Dem jeweiligen Staat kommt auch hier ein beachtlicher Beurteilungsspielraum auf Schrankenebene zu. Der deutsche Wortlaut der Norm orientiert sich an der französischen Sprachfassung der EMRK („défense de l’ordre et la prévention des infractions pénales“), während die englische Sprachfassung eine Negativformulierung enthält („prevention of disorder or crime“). Beide Begriffe erlauben aber ein Handeln des Staates zur Abwehr einer Gefahr, also im Vorfeld eines konkreten Schadeneintritts. Die Aufrechterhaltung der Ordnung (in der deutschen Sprachfassung weiter: und Verhinderung von Straftaten) ist damit ein polizeiliches Schutzgut. Um eine Abgrenzung zu den „Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zu199 EGMR, Urteil vom 22. Oktober 19817525/76, Dudgeon gegen Vereinigtes Königreich, Nr. Series A45, Ziffer 47; EGMR, Urteil vom 26. April 1979, Sunday Times gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 6538/74, Series A30, Ziffer 56. 200 EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffer 117. 201 Villiger, § 21 Rn. 649.

C. Analyse der Dogmatik der Konzeption, Kritik und Stellungnahme

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sammenleben“ im Rahmen der „Rechte und Freiheiten anderer“ zu ermöglichen, ist allerding zunächst der – jeweils individuelle oder ggf. auch ein gemeinsamer – Gehalt der Ordnungsbegriffe in Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK zu ermitteln. a) Auswirkungen der Wortlautabweichungen in den authentischen Sprachfassungen Während die englische Sprachfassung in Art. 9 Abs. 2 EMRK in deutlicher Wortlautabweichung zu Art. 8 Abs. 2 EMRK nicht von „prevention of disorder“ spricht, sondern „protection of public order“ aufführt – also schon dem Wortlaut nach zwei unterschiedliche Ordnungsbegriffe enthält, gleichen sich diese in der französischen Sprachfassung: in Art. 8 Abs. 2 EMRK heißt es „défense de l’ordre“, in Art. 9 Abs. 2 EMRK „protection de l’ordre“. Es fragt sich dann aber auch, ob die „Aufrechterhaltung der Ordnung“ etwas anderes meinen kann oder muss als der allgemeine „Schutz der öffentliche Ordnung“ nach Art. 9 Abs. 2 EMRK. Dafür spricht, dass die EMRK den Terminus „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung“ durchaus auch in den authentischen Sprachfassungen kennt, nämlich in Art. 2 Abs. 3 ZP 4 zur EMRK. Die authentischen Sprachfassungen verwenden hier die Begriffe „maintenance of ordre public“ bzw. „maintien de l’ordre public“. Auch in Art. 6 EMRK ist ausdrücklich von der public order/ordre public“ die Rede im Unterschied zu den Termini in Art. 8 Abs. 2 EMRK. Damit wird deutlich, dass die EMRK mehrere Ordnungsbegriffe kennt, die synonym zu verwenden sich bei Ernstnehmen der Abweichungen verbieten muss. Auch in der Literatur wird davon ausgegangen, dass Wortlautabweichungen zwischen den Begrifflichkeiten eine Bedeutung haben sollen.202 Dann kann aber auch nicht ignoriert werden, dass Art. 8 Abs. 2 EMRK und Art. 9 Abs. 2 EMRK jedenfalls in der englischen Sprachfassung unterschiedliche Wortlaute haben. Die Abweichungen der Formulierungen in den authentischen Sprachfassungen um die jeweiligen Ordnungsbegriffe, insbesondere zu Art. 2 Abs. 3 ZP 4 und Art. 6 202 Grabenwarther, in: Pabel/Schmahl, IntKommEMRK, Art. 9 Rn. 83; ders./Struth, EuGRZ 2015, 1 (2) m.w. N. Insofern eine etwas einseitige Betrachtung bei Grabenwarter/Struth, die in der französischen Fassung von Art. 8 Abs. 2 EMRK „sûreté publique“ als eine Art öffentliche Ordnung diskutiert sehen wollen, Grabenwarter/Struth, EuGRZ 2015, 1 (2). Dabei bleiben sie aber schuldig, zu klären, wie ein solches Verständnis dann im Verhältnis zu den Begriffen „ordre public“ und „ordre“ einzuordnen wäre und beachten die unterschiedlichen Ordnungsbegriffe der englischen Fassung wiederum kaum. Sie stellen aber eine Annäherung an den Begriff der öffentlichen Ordnung im Rahmen des Art. 8 Abs. 2 EMRK („sûreté publique“) zur Diskussion. In EGMR, Urteil vom 8. Juni 1976, Engel u. a. gegen Niederlande, Nr. 5100/71, Series A22, Ziffer 98 hielt der EGMR fest, der Begriff der „Ordnung“ umfasse sämtliche Ordnungsbegriffe der EMRK. Dies wird in Anbetracht der offenkundigen Wortlautunterschiede und der Gefahr einer Banalisierung des Eingriffsziels aber seitens der Literatur zurecht abgelehnt.

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4. Teil: Betrachtung der Mindestanforderungen des „vivre ensemble‘‘

EMRK, dürften zeigen, dass Art. 8 Abs. 2 EMRK jedenfalls keinen allgemeinen ordre public-Vorbehalt enthalten soll. Auch die gebotene restriktive Auslegung der Schrankenbegriffe verlangt dies.203 Es könnte zwar argumentiert werden, dass der Begriff „Ordnung“ in Art. 8 Abs. 2 EMRK schlicht jede Ordnung erfassen soll, gleichsam einem Oberbegriff darstellt.204 Auch der EGMR tendierte in Fällen zur Familieneinheit im Aufenthaltsrecht durchaus schon zu einem weiten Verständnis i. S. e. „public order/ordre public“.205 Ein derart weites Verständnis verkennt aber die sich aus der Systematik ergebene Nähe der Schranke zu derjenigen der „Verhinderung von Straftaten“ und damit eine gewisse Bedeutsamkeit des Schutzguts. Damit kann ohne weitergehende Anhaltspunkte nicht davon ausgegangen werden, dass Art. 8 Abs. 2 EMRK eine Art Auffangtatbestand in seinem Schrankenkatalog enthalten soll im Sinne eines allgemeinen, wertausfüllungsbedürftigen ordre public-Vorbehalts.206 b) Erforderlichkeit gewisser Abgrenzbarkeit Auch wenn die Schrankenbegriffe der Art. 8–11 EMRK durch den EGMR nicht nur keine klare Abgrenzung und eigene Definition erfahren und häufig mehrere Schrankenziele zugleich bejaht werden, woraus sich Überschneidungen ergeben können207, darf dies nicht in eine Umgehung von Art. 18 EMRK münden. Überschneidungen können solange vertreten werden, wie dadurch nicht faktisch neue Schranken für Freiheitsrechte geschaffen werden, die diese selbst gar nicht vorsehen. Diese Gefahr besteht allerdings genau dann, wenn die „Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben“ einen Inhalt zugesprochen bekommen, der von einem ordre public-Vorbehalt, der Ordnung oder der öffentlichen Ordnung i. S. d. Art. 9 Abs. 2 EMRK nicht mehr unterscheidbar wäre. c) Problematik der Abgrenzung der Ordnungsbegriffe in Art. 8 Abs. 2 EMRK und Art. 9 Abs. 2 EMRK Nach der hier vertretenen Auffassung sind die Ordnungsvorbehalte der Art. 8 und 9 EMRK nicht als deckungsgleich zu betrachten, da dies die Wortlautunterschiede nivellieren würde. Fraglich ist damit aber noch, worin genau ihr Unterschied bestehen könnte. Dieser Punkt ist bislang weder in der Rechtsprechung, noch in der Literatur eindeutig geklärt.208 Ein rein grammatikalischer Vergleich 203 Human Rights Committee (HRC), General Comment No. 22 of 30 July 1993, CCPR/C/21/Rev.1/Add.4; vgl. oben Dritter Teil, A. I. 204 So Hauer, S. 133. 205 EKMR, Entscheidung vom 6. Mai 1981, X. gegen Vereinigtes Königsreich, Nr. 8245/78, DR 24, 98 (100); EKMR, Entscheidung vom 4. März 1987, M. gegen Bundesrepublik Deutschland, Nr. 12411/86, DR 51, 245. 206 So auch Wildhaber/Breitenmoser, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 611. 207 Ausführlich bei Hauer, S. 130. 208 Vgl. Eiffler, passim.

C. Analyse der Dogmatik der Konzeption, Kritik und Stellungnahme

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mit dem Ergebnis, die „öffentliche Ordnung“ i. S. d. Art. 9 Abs. 2 EMRK sei spezifischer als die „Ordnung“ i. S. d. Ar.t 8 Abs. 2 EMRK, ist nicht haltbar. Konsequenterweise müsste ein solches Verständnis dazu führen, dass der Begriff „Ordnung“ dann stets, im gesamten EMRK-Gefüge, den Oberbegriff darstellen müsste und folglich maximal weit auszulegen wäre, nämlich weiter als alle anderen Ordnungsbegriffe oder jedenfalls gleich weit. Dies kann aber schon deshalb nicht sein, weil dann faktisch ein maximal weiter ordre public-Vorbehalt gem. Art. 2 Abs. 3 ZP 4 für Art. 8 Abs. 1 EMRK geschaffen würde, was die Bedeutung des Art. 8 EMRK stark schmälern würde. Der Ordnungsbegriff im Rahmen von Art. 8 Abs. 2 EMRK erfuhr in der Rechtsprechung des EGMR und der EKMR besondere Bedeutung im Rahmen des Gefangenenvollzugs. Schutzgut war hier die innere Organisation der Haftanstalten, die der EGMR unter „Ordnung“ fasste.209 Insoweit könnte angenommen werden, dass der Unterschied darin liegen, soll, dass Art. 8 Abs. 2 EMRK gerade nicht die „öffentliche Ordnung“, sondern andere Ordnungsverhältnisse erfassen soll. Allerdings verdeutlicht ein Überblick über die EGMR-Rechtsprechung, dass der ordnungsgemäße Ablauf des Strafvollzugs dem Gerichtshof zufolge auch Teil der „öffentliche Ordnung“ i. S. d. Art. 9 Abs. 2 EMRK sein soll – und eine saubere Abgrenzung zur Rechtsprechung hinsichtlich Art. 8 EMRK, dem Ordnungsbegriff und dem Gefangenenvollzug damit wiederum kaum möglich ist.210 Eine Erkenntnis lässt sich dagegen gewinnen: In denjenigen Fällen, in denen der EGMR das Ziel der Aufrechterhaltung der Ordnung oder des Schutzes der öffentlichen Ordnung bejahte, bejahte er fast immer auch noch mindestens ein weiteres Ziel.211 Es liegt die Vermutung nahe, dass der EGMR im Wissen um die massiven Schwierigkeiten bei Festlegung einer begrifflichen Schärfe und zur Vermeidung eines ausufernden ordre public-Vorbehalts es nie darauf ankommen lassen wollte, die Ordnungsbegriffe abgrenzen oder ein irgendwie geartetes (Rang-)Verhältnis festlegen zu müssen. Angesichts der divergierenden Unterschiede in den authentischen Sprachfassungen erscheint auch zweifelhaft, ob ein solches Vorhaben überhaupt gelingen könnte. Wahrscheinlicher erscheint es, dass hier Widersprüche unauflösbar bestehen bleiben werden.212 Jedenfalls rein kulturelle Erwägungen erfasst der Ordnungsbegriff aber nach keinem bisher entschiedenen Fall des EGMR.213

209 EKMR, Entscheidung vom 19. März 1981, Campbell and Fell gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 7878/77, DR 23, 102 (111) (Besuchsrechte); EKMR, Entscheidung vom 15. Mai 1980, McFeely gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 8317/78, DR 20, 85 (81, 93) (Verhinderung von Meuterei); weitere Nachweise bei Eiffler, S. 107. 210 Eiffler, S. 110; Blum, 131. 211 Wildhaber/Breitenmoser, in: Pabel/Schmahl, IntKommEMRK, Art. 8 Rn. 617. 212 So wohl auch das Ergebnis nach ausführlicher Untersuchung des Ordnungsbegriffs bei Eiffler, S. 273 f., der gleichwohl eine Annäherung liefert. 213 Eiffler, S. 277.

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4. Teil: Betrachtung der Mindestanforderungen des „vivre ensemble‘‘

2. „Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben“: Eine versteckte Ausuferung der Problematik der Ordnungsbegriffe nach der EMRK Die „Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben“ konnten nunmehr durchaus annäherungsweise begrifflich bestimmt werden. Sie umfassen ungeschriebene, gesellschaftlich konsentierte Grundübereinkünfte und soziale Prinzipien, die von solch grundlegender Bedeutung für das Funktionieren einer demokratischen freiheitlichen Gesellschaft sind, dass die Art und Weise der Ausübung der Menschen- und Freiheitsrechte unmittelbar durch ihr Vorliegen bestimmt wird. Diese konsentierten Übereinkünfte gründen dabei auf Maximen demokratischer Gesellschaftsformen und stellen selbst Werte einer demokratischen Gesellschaft dar, die sich auf die Zivilgesellschaft beziehen und diese zugleich berechtigen und zu einem eigenen Beitrag verpflichten. Nach hier vertretener Auffassung kann einem solchen Konzept nicht entnommen werden, dass darunter auch die Verpflichtung zur Begegnung mit freiem Gesicht im öffentlichen Raum zu verstehen sein kann, ohne das Konzept zu banalisieren und es nicht mehr als Teil des Mindestbestands der Werte einer offenen und demokratischen Gesellschaft betrachten zu können. Diese Kritik wurde oben bereits vorgebracht. Das gegenteilige Vorgehen des EGMR im Fall S.A.S. vertieft aber ein weiteres Problem und schafft weitere Unklarheiten: Im Rahmen der EMRK ist es wie gezeigt höchst unklar und bisweilen umstritten, wie die unterschiedlichen Begriffe der „Ordnung“ im Sinne der EMRK verstanden werden können. In Rechtsprechung und Literatur finden sich Argumente und Beispiele für beinahe jedes Verhältnis der Begrifflichkeiten zueinander. Einzig ein Punkt ließ sich bislang nicht vertreten: dass rein kulturelle Erwägungen im Rahmen der Ordnungsbegriffe ausreichend sein könnten (s. o.). An diesem Punkt erscheint die Bildung der neuen Konzeption der „Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben“ im Rahmen der Rechte und Freiheiten anderer folgenreich. Über das Vehikel der Zwischenkategorie des „Mindestbestands der Werte in einer offenen und demokratischen Gesellschaft“, das eine gewisse Bedeutung suggeriert, werden übliche und von der (kulturellen und religiösen) Mehrheit der Gesellschaft geübte Umgangsformen über ihren kulturellen und sozialen Gehalt hinaus zu einem Merkmal der demokratischen Gesellschaft erhoben und über eine konstruierte doppelte Unbestimmtheit der Schranke der Rechte und Freiheiten anderer dieser zugeordnet. Damit ergibt sich folgendes Ergebnis: kulturell konsentierte, von der Mehrheit gewünschte und in sozialer Übereinkunft praktizierte Verhaltensweisen werden zwar nicht als Teil der (öffentlichen) Ordnung diskutiert, die rein kulturelle Erwägungen auch gar nicht zulässt, ansonsten aber höchst unbestimmt in ihren Grenzen ist, sondern sie werden sogar zu einem „Recht“ erhoben. Damit übergeht die konstruierte doppelte Unbestimmtheit im Rahmen des Eingriffsziels der

C. Analyse der Dogmatik der Konzeption, Kritik und Stellungnahme

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„Rechte und Freiheiten anderer“ die Unklarheiten hinsichtlich des Ordnungsbegriffs – und verschärft das Problem der fehlenden Abgrenzung massiv, indem es ihm ein weiteres, in der Dimension der „Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben“ kaum noch abgrenzbares Eingriffsziel hinzufügt. In Anbetracht der Tatsache, dass die Abgrenzungsproblematik nicht um ihrer selbst Willen, sondern aufgrund von Art. 18 EMRK und der Vermeidung einer weitgehenden Beschränkung von Freiheitsrechten durch einen Totalvorbehalt geführt werden muss, muss auch diese Erkenntnis zur Ablehnung der „Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben“ als Element der „Rechte und Freiheiten anderer“ führen. Eine Subsumtion des Ziels unter die Ordnungsbegriffe erscheint mit dem hier vertretenen Inhalt der Konzeption durchaus möglich. Allerdings kann auch dann eine permanente Möglichkeit zur Begegnung und Kommunikation mit freiem Gesicht im öffentlichen Raum noch kein Bestandteil diese „Mindestanforderungen“ sein. Denn auch hier muss gelten, dass bloße Interessen der Mehrheitsgesellschaft gegen (religiöse) Verhaltensweisen von Minderheiten diese nicht schlechthin einschränken können dürfen. Insofern ist daran zu erinnern, dass auch der EGMR in Anbetracht dieses Risikos das Eingriffsziel „öffentliche Ordnung“ so gut wie nie allein anführt, um die Religionsfreiheit einzuschränken. In Fall, in dem er die öffentliche Ordnung als Eingriffsziel bejahte, ging es um die Allgemeinschädlichkeit einer Religion. Die Beschwerdeführer hatten hier Gottesdienste in einem Veranstaltungsraum abgehalten, ohne die erforderliche Genehmigung eingeholt zu haben und damit gegen die geltende Rechtsordnung verstoßen.214 Diese Hürde ist bei einer von einer Minderheit praktizierten Religionsausübung, auch wenn sie den mehrheitsgesellschaftlichen Konventionen widersprechen mag, im Übrigen aber Staat, Gesellschaft und Funktionen öffentlicher Einrichtungen nicht beeinträchtigt, nicht erreicht.

III. Ambivalente Pluralismuskonzeption als Kunstgriff zur Suggestion strenger Maßstäbe und zur Einschränkung von Minderheitenrechten Es konnte gezeigt werden, dass die doppelt unbestimmte Schranke gewisse Hürden und Maßstäbe suggeriert, die im Ergebnis aber nicht eingehalten oder ernst genommen werden, wenn schließlich das Aufeinandertreffen im öffentlichen Raum mit freiem Gesicht, sodass stets die Möglichkeit zur non-verbalen Kommunikation mittels mehr Mimik als nur der Augen im Rahmen von Zufallskontakten besteht, auch hierunter gefasst werden soll. Dies gelingt aber – zumindest gelingt es scheinbar – auch deshalb, weil der EGMR eine Konzeption von Pluralismus bemüht, die hochgradig ambivalent ist. „Pluralismus“ darf aber nicht 214 EGMR, Urteil vom 26. September 1996, Manoussakis u. a. gegen Griechenland, Nr. 18748/91, ECHR-1996-IV, Ziffer 40.

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4. Teil: Betrachtung der Mindestanforderungen des „vivre ensemble‘‘

zu einem bloßen Schlagwort verkommen, um Mehrheitsinteressen als gesamtgesellschaftliche, demokratische Interessen zu kaschieren und Bedeutung zu suggerieren, wo es tatsächlich an Gewicht fehlt. Die Ausführungen im Dritten Teil unter B.II. haben verdeutlicht, dass der EGMR den Pluralismus in seiner Rechtsprechung durchaus in freiheitssichernder wie auch in individualfreiheitsbeschränkender Weise angeführt hat. Allerdings geht er in der S.A.S.-Entscheidung insofern einen neuen Weg, als er das Pluralismusargument zugunsten der Mehrheitsgesellschaft und gegen eine religiöse Minderheit verwendet. Die Kommunikationsmöglichkeit mittels des Gesichts gehöre ebenfalls zum Pluralismus und sei Ausdruck einer gewissen „Wahl der Gesellschaft“.215 Die „Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben“ werden damit über den Rückgriff auf das anerkanntermaßen gewichtige Pluralismuskonzept zwar einerseits wieder mit Bedeutung aufgeladen – die Subsumtion, dass damit auch die „Wahl der Gesellschaft“ einhergehe, zu der auch die Begegnung mit freiem Gesicht gehören könne, weist jedoch in die exakt entgegengesetzte Richtung: Während der Pluralismus in seinem Kern jedermann die Möglichkeit sichern soll, seine Freiheitsrechte frei von Zwang in der Gesellschaft ausüben zu können, bewirkt er hier das genaue Gegenteil. Er wird argumentativ umgedeutet, um Mehrheitsinteressen gegen eine Minderheitenpraxis durchzusetzen. Zwar kann dem EGMR noch insoweit gefolgt werden, dass gelebter Pluralismus Kommunikation erfordert und braucht. Damit kann aber weder ein Zwang zu einer bestimmten Art der Kommunikation gerechtfertigt werden, noch zu irgendeiner privaten Kommunikation überhaupt.216 Art. 10 EMRK, die Meinungsäußerungsfreiheit, stellt kein Leistungsrecht gegenüber Privaten dar.217 Es bleibt damit die Gefahr bestehen, dass über den Weg des „Mindestbestands von Werten einer offenen und demokratischen Gesellschaft“, der „Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben“ und unter Zuhilfenahme einer zugunsten von Mehrheitsinteressen verstandenen Pluralismuskonzeption die „Mindestanforderungen“ letztlich nur einen Teil der Gesellschaft in den Blick nehmen – nämlich die Mehrheit. Handlungen und Verhaltensweisen werden verboten, weil sie mehrheitsgetragenen Konventionen, die „Rechte und Freiheiten“ darstellen sollen, widersprechen. Die „Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben“ arbeiten damit nur in eine Richtung: gegen eine Minderheit, die

215 EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffer 153. 216 Sondervotum zu EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR-2014-III, Ziffern 8, 14. 217 Anders z. B. das Recht auf familiäre Kontakte und Kommunikation in Haft als Aspekt menschlicher Grundbedürfnisse und damit der Menschenwürde, Ronc, S. 369. Grundrechtsverpflichteter ist aber hier auch der Staat, der solche Kontakte grundsätzlich zulassen muss, nicht die Privatperson.

C. Analyse der Dogmatik der Konzeption, Kritik und Stellungnahme

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sich anpassen muss und für eine Mehrheit, die nichts aufzugeben hat.218 Vor allem aber wird der Pluralismus in sein Gegenteil verkehrt. Er kann nicht Argument für Mehrheitsinteressen gegenüber Minderheitenrechten sein, sondern muss vielmehr deren Grenze bilden.219

IV. Margin of Appreciation: Kein Erfüllen der eigenen Ansprüche an eine ausreichende Kontrolldichte durch den EGMR Der EGMR hat den jeweiligen Staaten in den Verfahren um die Vollverschleierungsverbote wie oben herausgearbeitet schon auf Schrankenebene einen äußerst weiten Beurteilungsspielraum zugestanden. Eine Anerkennung der „Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben“ als legitimes Eingriffsziel im Rahmen der „Rechte und Freiheiten anderer“ hätte daher jedenfalls eine strenge Prüfung der Verhältnismäßigkeit erfordert.220 Grundsätzlich gesteht der Gerichtshof den Mitgliedsstaaten nur einen engeren Beurteilungsspielraum zu je gewichtiger er das Konventionsrecht beurteilt.221 Zwar ist die Religionsfreiheit ein elementares Konventionsrecht, das die Identität des Rechtsträgers entscheidend prägt, und dem der EGMR entsprechend hohe Bedeutung beimisst.222 Der EGMR selbst führt in seiner Entscheidung S.A.S. gegen Frankreich zunächst auch Argumente an, die gegen eine Verhältnismäßigkeit sprechen, wie die äußerst geringe Verbreitung der Vollverschleierungspraxis in Frankreich, die Gefahr der sozialen Isolation der betroffenen Frauen und die Empfindungen der Muslime in Frankeich im Kontext der Debatten um die Gesetze sowie die Kritik internationaler Organisationen,223 wobei das quantitative Argument aufgrund der normativen Wertmaßstäbe der EMRK nicht schon gegen eine Verhältnismäßigkeit – im juristischen Sinne – sprechen dürfte. Ferner gesteht der EGMR in der Regel einen eher weiteren Beurteilungsspielraum zu, wenn er in den einzelnen nationalen Regelungen eine Vielfalt erkennt, die keinen Schluss auf einen europäischen Konsens zulässt. Diesen Standpunkt vertrat der EGMR auch in den Fällen der französischen und belgischen Verbotsgesetze, wobei er aber verkennt, dass gerade die nicht vorhandenen nationalen 218

Kapur, S. 123. So auch letztlich Rödiger/Valentiner, AVR 53 (2015), 360 (387). 220 So auch zunächst die Feststellung des EGMR selbst, EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR-2014-III, Ziffer 122. 221 Nigro, Hum Rights Rev 11 (2010) issue 4, 531 (534). 222 „Art. 9 (. . .) is one of the foundations of a ,democratic society‘ within the meaning of the Convention. It is, in its religious dimension, one of the most vital elements that go to make up the identity of believers and their conception of life.“, EGMR, Urteil vom 25. Mai 1993, Kokkinakis gegen Griechenland, Nr. 14307/88, Series A260-A, Ziffer 31. 223 EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffern 145–148; Grabenwarter/Struth, EuGRZ 2015, 1 (4 f.). 219

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4. Teil: Betrachtung der Mindestanforderungen des „vivre ensemble‘‘

Regelungen in den anderen Staaten zu dieser Zeit einen Konsens gegen entsprechende Verbote hätten erkennen lassen müssen.224 Zu einer strengeren Verhältnismäßigkeitsprüfung hätte mit Ibold auch eine Berücksichtigung von Art. 14 EMRK in Form der Feststellung einer mittelbaren Diskriminierung führen können.225 Art. 14 EMRK führt in der Regel zu einer hohen Kontrolldichte im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung, und zwar wegen der staatlichen Neutralitätspflicht insbesondere dann, wenn eine Ungleichbehandlung aufgrund der Religion stattfindet oder Ungleichbehandlungen wegen des Geschlechts oder der Ethnizität in Rede stehen.226 Der EGMR hat eine Verletzung von Art. 14 EMRK i.V. m. Art. 8 oder Art. 9 EMRK im S.A.S.-Verfahren jedoch gar nicht erst geprüft unter Verweis auf die zuvor festgestellte Rechtfertigung der Maßnahme hinsichtlich Art. 8 und Art. 9 EMRK.227 Zu eben dieser Rechtfertigung gelangt der EGMR, indem er Frankreich bzw. Belgien in den jeweiligen Verfahren einen sehr weiten Beurteilungsspielraum zugesteht. Der EGMR gestand bis dahin den Mitgliedsstaaten in religiösen Angelegenheiten einen weiten Beurteilungsspielraum auf der Verhältnismäßigkeitsebene immer dann zu, wenn es um das Verhältnis von Staat und Religionen ging. Dies begründete er mit den zuweilen starken Unterschieden im jeweiligen Staat-Religionen-Gefüge der einzelnen Mitgliedsstaaten und mit seiner subsidiären Stellung gegenüber den staatlichen Entscheidungsträgern, die ein wesentlich besseres Verständnis für die Verhältnisse und Bedürfnisse vor Ort sowie einen tieferen und umfassenderen Einblick hätten.228 Auf diese Rechtsprechung bezieht sich der EGMR auch im Fall S.A.S. gegen Frankreich.229 Zwar stellt er fest, dass die Konstellation sich von früheren Verfahren insoweit unterscheide, dass die Frauen nun als Privatpersonen verpflichtet würden und zwar im gesamten öffentlichen Raum, nicht nur im staatlich verantworteten.230 Insofern vertritt der EGMR in den Verfahren um die Verschleierungsverbote aber widersprüchliche Positionen. Wäh224 EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffer 156; EGMR, Urteil vom 11. Juli 2017, Belcacemi und Oussar gegen Belgien, Nr. 37798/13, Ziffer 55; Ibold, KJ 48 (2015) 1, 83 (88). 225 Vgl. zur Thematik der (mittelbaren) Diskriminierung unten Fünfter Teil. 226 Ibold, KJ 48 (2015) 1, 83 (88). 227 EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffer 161. Vgl. dazu ausführlich unten Fünfter Teil. 228 EGMR, Urteil vom 27. Juni 2000, Cha’are Shalom Ve Tsedek gegen Frankreich, Nr. 27417/95, ECHR-2000-VII, Ziffer 84; EGMR, Urteil vom 25. November 1996, Wingrove gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 17419/90, ECHR-1996-V, Ziffer 58; Urteil vom 10. November 2005, Nr. 44774/98, Sahin gegen Türkei, ECHR-2005-XI, Ziffer 109; EGMR, Urteil vom 21. Juni 2006, Maurice gegen Frankreich, Nr. 11810/03, ECHR-2006-IX, Ziffer 117. 229 EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffer 125. 230 EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffer 133.

C. Analyse der Dogmatik der Konzeption, Kritik und Stellungnahme

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rend er selbst zunächst noch bei Prüfung des legitimen Eingriffsziels eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung ankündigt, weil diese erforderlich sei, wenn man ein so vages Eingriffsziel wie die „Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben“ als „Rechte und Freiheiten anderer“ anerkenne, zieht er sich sodann in eben dieser Prüfung der Notwendigkeit der Maßnahme auf den Standpunkt zurück, den Mitgliedsstaaten hinsichtlich der Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Staat und Religionen einen weiten Spielraum zuzugestehen. Dabei verkennt der EGMR aber in widersprüchlicher Weise den über Religionen gerade hinausreichenden neutralen Wortlaut der Verbotsgesetze, auf den er sich an anderer Stelle gerade beruft, um einen Unterschied zu seiner zuvor ergangenen Rechtsprechung hinsichtlich der (als unzulässig erachtete) Verbote religiöser Bekleidungsstücke im öffentlich zugänglichen Raum vertreten zu können.231 Insofern erfüllt der Gerichtshof hinsichtlich der Margin of Appreciation-Doktrin und der notwendigen Kontrolldichte weder seine innerhalb der Entscheidung S.A.S. gegen Frankreich selbst aufgestellten Maßstäbe widerspruchsfrei, noch gelingt ihm dies im Kontext seiner zuvor ergangenen Rechtsprechung und der dort entwickelten Maßstäbe. Der EGMR verdeutlicht insoweit unmittelbar selbst, welche Gefahren mit einer zu vagen und unbestimmt konstruierten Schranke einhergehen. Unverzichtbare Voraussetzung für die Anerkennung einer doppelt unbestimmten Schrankenkonstruktion wäre ein enger Beurteilungsspielraum im Sinne einer deutlich erhöhten Kontrolldichte. Andernfalls überlässt es der EGMR der Mehrheit in einem Staat festzulegen, welche Verhaltensweisen zum Zusammenleben dazugehören sollen (und welche nicht), zugunsten derer der Staat sodann sogar die Religionsausübungsfreiheit und die Achtung des Privatlebens einzelner, sich nicht mehrheitskonform verhaltender Personen einschränken kann.

231 EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffer 151, der Gerichtshof stellt über den neutralen Wortlaut einen Unterschied zu seiner Entscheidung EGMR, Urteil vom 23. Februar 2010, Arslan u. a. gegen Türkei, Nr. 41135/98 her.

Fünfter Teil

Betrachtung der allgemeinen Gesichtsverschleierungsverbote unter dem Aspekt effektiven Minderheitenschutzes und Art. 14 EMRK Die Untersuchungen der nationalen Gesetzgebungsprozesse sowie der sie begleitenden öffentlichen Diskussionen haben gezeigt, worin die Motivation zum Erlass der allgemeinen Verschleierungsverbote in Frankreich, Belgien, Dänemark, Österreich und der Schweiz lag und unter welchem Aspekt vergleichbare Regelungen in anderen Staaten immer wieder diskutiert werden. Trotz der wortlautneutralen Formulierung der Gesetze war ihr eigentlicher Zweck stets, die von einigen wenigen muslimischen Frauen praktizierte Gesichtsverschleierung aus dem öffentlichen Raum zu verbannen. Die spezifischen Umstände der Verschleierung, nämlich ob sich die Frauen freiwillig für die Praxis der Vollverschleierung entschieden oder zu ihr gedrängt oder gezwungen werden, ob sie den Schleier regelmäßig, im Alltag oder nur zu besonderen Anlässen tragen, spielten dabei keine Rolle und fanden entsprechend auch keinen Eingang in die gesetzlichen Regelungen. Damit wird zugleich aber auch deutlich, wer vorrangig Adressatinnen der Gesetze sein sollten: muslimische Frauen. Denn die Gesetze sind in ihrem Anwendungsbereich gerade nicht auf Fälle des Zwangs und diejenigen, die die Frauen zur Vollverschleierung nötigen, begrenzt, sondern sprechen in erster Linie diejenige Person, die ihr Gesicht verhüllt, selbst an. Die Gesetze und die sie begleitenden Diskussionen bewegten sich stets in einem Spannungsfeld zwischen Religionsfreiheit und Geschlechtergleichheit. Während Befürworter des Gesetzes die Gleichberechtigung zu ihren Zwecken anführten, zugleich aber etwaige freiwillige Handlungen und autonome Entscheidungen der Frauen ignorierten, lässt sich eine sexualmoralische und patriarchale Konnotation der Vollverschleierung dennoch nicht leugnen.1 Das Spannungsfeld zwischen Gleichheitsrechten und religiös begründeten patriarchalischen Sittsamkeitspraktiken, die Teil einer Religionsausübung sind, stellt immer wieder Schauplätze intensiver und vielschichtiger Auseinandersetzungen dar.2 Die Beijing Declaration and Platform for Action (BDPfA), die die Bedeutung der Religions1 2

Siehe oben Dritter Teil, C. II. 3. b) und III. Razavi/Jenichen, Third World Quarterly 31 (2010) 6, 833 (834 ff.).

5. Teil: Betrachtung der allgemeinen Gesichtsverschleierungsverbote

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freiheit für Mädchen und Frauen und ihre soziale Teilhabe betont, verdeutlicht dieses Spannungsfeld, wenn sie einerseits fordert, jede Form der Diskriminierung von Frauen und Mädchen wegen ihrer Religion zu unterbinden und andererseits zugleich auf die Gefahren möglicher religiös begründeter Geschlechterdiskriminierung und Gewalt gegen Frauen und Mädchen hinweist.3 Die Verhüllungsverbote bewegen sich in diesem Spannungsfeld. Dabei verdeutlichen sie – und die Entscheidungen des EGMR verstärken diesen Eindruck – eine Herangehensweise an dieses Konfliktfeld, die wie Lembke formuliert „Frauenrechte zu einem Identitätsmerkmal erklärt, dass ,wir‘ haben, andere Gesellschaften und Staaten aufgrund ihrer Kultur, Religion oder Tradition aber (noch) nicht“.4 Damit folgen Argumentationslinien, die die Geschlechtergleichheit in ihr Zentrum stellen ohne dabei die Entscheidungsmöglichkeiten der betroffenen Frauen zu berücksichtigen, dem Bild der „Befreiung der fremden Frau“.5 Die Adressatinnen der Verbotsgesetze, die stets als Gruppe, aber nicht als Individuen im Fokus standen, werden damit gerade als Frauen und zugleich als Frauen einer bestimmten Gruppe von Gläubigen adressiert. Möglich erscheint auch eine Auseinandersetzung mit der Kategorie anti-muslimischer rassistischer Zuschreibungen. Damit dürfte auf der Hand liegen, dass sich eine Untersuchung der Gesetze auch mit dem Aspekt der Diskriminierung auseinandersetzen muss. Der EGMR hat es in seinen bisherigen Entscheidungen zu den allgemeinen Verschleierungsverboten unterlassen, sich näher mit Fragen der Diskriminierung und Art. 14 EMRK auseinanderzusetzen. Er lehnte in beiden Verfahren einen Verstoß gegen Art. 14 EMRK einstimmig mit der knappen Begründung ab, dass eine unverhältnismäßige Benachteiligung nicht vorliege, weil die Maßnahme sachlich gerechtfertigt sei und verweist ohne weitere Ausführungen auf die zuvor festgestellte Rechtfertigung der Eingriffe in Art. 8 und Art. 9 EMRK.6 Sowohl aus den Beweggründen zu den Gesetzen wie auch aus deren tatsächlichen Wirkungen, auch aufgrund ihrer zahlreichen tatbestandlichen Ausnahmen, ergibt sich eine religions- und geschlechtsspezifische Dimension der allgemeinen Verschleierungsverbote, die es im Folgenden näher zu betrachten gilt.

3 Fourth World Conference on Women, Beijing Declaration and Platform for Action, 15. September 1995, UN Document A/CONF.177./20, Annex I, paragraphs 12, 32 und Annex II, paragraphs 9, 24; Lembke, S. 191. 4 Lembke, S. 194. 5 Kapur, S. 130; zur Thematik dieses keineswegs neuen Narrativs vgl. auch oben Erster Teil, A. III. 1. und die Schilderungen Fanons zur „Entschleierung“ der Frauen in Algerien durch die Kolonialmacht Frankreich. 6 EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffer 161; EGMR, Urteil vom 11. Juli 2017, Belcacemi und Oussar gegen Belgien, Nr. 37798/13, Ziffer 67.

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5. Teil: Betrachtung der allgemeinen Gesichtsverschleierungsverbote

A. Das Diskriminierungsverbot gem. Art. 14 EMRK I. Allgemeines Die EMRK enthält in ihrem Art. 14 EMRK ein Diskriminierungsverbot, nach dem der Genuss der Konventionsrechte ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten ist. Aus dem Wortlaut des Art. 14 EMRK geht die ihn kennzeichnende Akzessorietät hervor: Er kann nur im Zusammenhang mit der (Nicht-)Gewährleistung eines Konventionsrechts geltend gemacht werden. Damit stellt Art. 14 EMRK kein allgemeines Gleichbehandlungsgebot dar. Ein solches wurde erst im Jahr 2000 im Zusatzprotokoll Nr. 12 zur EMRK festgeschrieben. Das 12. Zusatzprotokoll haben weder Frankreich noch Belgien, Dänemark, Österreich oder die Schweiz bislang ratifiziert.7 Die Akzessorietät des Art. 14 EMRK führt heute aber nicht mehr dazu, dass der EGMR einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot überhaupt nur prüft, wenn ein anderes Konventionsrecht auch tatsächlich verletzt ist. Vielmehr lässt er es für eine Prüfung ausreichen, dass der (potentiell) diskriminierende Sachverhalt nur den Anwendungsbereich des anderen Konventionsrechts berührt.8 Der erforderliche Bezug liegt folglich auch vor, wenn ein gerechtfertigter Eingriff in den Schutzbereich eines Konventionsrechts vorliegt.9 Insoweit kommt Art. 14 EMRK durchaus ein autonomer Gehalt zu.10 Zugleich stellt Art. 14 EMRK in seiner Wirkung einen integralen Bestandteil der einzelnen Konventionsrechte dar und kann zu einer Ausdehnung der Gewährleistungen führen.11 Der EGMR verzichtet zumeist jedoch auf eine gesonderte Prüfung von Art. 14 EMRK, wenn er eine Verletzung des Freiheitsrechts bereits festgestellt hat. Von dieser Vorgehensweise weicht er lediglich dann ab, wenn die Diskriminierung zu-

7 Belgien und Österreich haben das Protokoll immerhin gezeichnet, eine Übersicht zu Unterschriften und Ratifizierungsstand des ZP 12 findet sich unter https://www. coe.int/de/web/conventions/full-list?module=signatures-by-treaty&treatynum=177. 8 St. Rechtsprechung, vgl. z. B. EGMR, Urteil vom 27. Oktober 1975, Nationale Polizeigewerkschaft von Belgien gegen Belgien, Nr. 4464/70, Series A19, Ziffer 44; EGMR, Urteil vom 23. November 1983, Van der Mussele gegen Belgien, Nr. 8919/80, Series A70, Ziffer 43; EGMR, Urteil vom 21. Februar 1997, Van Raalte gegen Niederlande, Nr. 20060/92, ECHR-1997-I, Ziffer 33; Urteil vom 3. Oktober 2000, Camp und Bourimi gegen Niederlande, Nr. 28369/95, ECHR-2000-X, Ziffer 34. 9 Meyer-Ladewig/Lehner, in: Meyer-Ladewig u. a., EMRK, Art. 14 Rn. 6. 10 EGMR, Urteil vom 13. Juni 1979, Marcks gegen Belgien, Nr. 6833/74, Series A31, Ziffer 31; Sauer, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art. 14 Rn. 18. 11 EGMR, Urteil vom 23. Juli 1968, Belgischer Sprachenfall, Nr. 1474/62 u. a., Series A6, Ziffer B. 9.

A. Das Diskriminierungsverbot gem. Art. 14 EMRK

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sätzliche Gesichtspunkte betrifft.12 Ohne Bedeutung für Art. 14 EMRK ist dabei stets, ob es sich bei dem anderen Konventionsrecht um ein reines Abwehrrecht handelt oder ob es auch eine positive Handlungs- oder Schutzpflicht für den Staat beinhaltet.13 In den Fällen der Verschleierungsverbote sind die berührten Konventionsrechte jedenfalls Art. 8 und Art. 9 EMRK, wobei es unbeachtlich ist, dass Art. 9 EMRK schon selbst auch die Religionen von Minderheiten und deren Ausübung schützt. Der EGMR, der eine Verletzung der Rechte nicht festgestellt hat, hat es dennoch versäumt, sich vertieft mit der Frage der Diskriminierung auseinanderzusetzen. Wäre dagegen eine Verletzung einer materiellen Konventionsbestimmung festgestellt worden, wäre ein Verstoß gegen Art. 14 EMRK nach den Maßstäben des EGMR sogar dennoch zu prüfen gewesen, wenn die gerügte Diskriminierung einen eigenständigen Sachverhalt beträfe oder einen besonders schwerwiegenden Charakter aufweisen könnte.14

II. Prüfungsaufbau und der vom EGMR entwickelte Prüfungsmaßstab bei Art. 14 EMRK Art. 14 EMRK verlangt zunächst eine Ungleichbehandlung vergleichbarer, nicht aber analoger Sachverhalte. Damit eine Ungleichbehandlung aber auch eine Diskriminierung darstellen kann, muss sie an eines der in Art. 14 EMRK genannten Merkmale oder ein „sonstiges“, diesen vergleichbares Merkmal anknüpfen.15 Entgegen des strikten Wortlauts der französischen Sprachfassung („sans distinction aucune“) hat der EGMR klargestellt, dass gleichwohl nicht jede an ein Diskriminierungsmerkmal anknüpfende unterschiedliche Behandlung einen Verstoß gegen Art. 14 EMRK darstellt. Vielmehr sei dies erst dann der Fall, wenn die Unterscheidung nicht wegen angemessener Verfolgung eines objektiven legitimen Zwecks gerechtfertigt sei.16 Die Mittel, mit denen der Zweck verfolgt wird, sollen im Verhältnis zu der Ungleichbehandlung „angemessen, notwendig und verhältnismäßig“ sein.17 Anders als die Schrankenkataloge der Art. 8–11 EMRK sieht Art. 14 EMRK selbst keine solchen legitimen Eingriffszwecke vor. Der 12 Statt vieler EGMR, Urteil vom 11. Juli 2002, Christine Goodwin gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 28957/95, ECHR-2002-VI, Ziffer 108; EGMR, Urteil vom 26. Juni 2012, Hermann gegen Deutschland, Nr. 9300/07, Ziffer 105. 13 Schweizer, in: Pabel/Schmahl, IntKommEMRK, Art. 14 Rn. 11. 14 EGMR, Urteil vom 22. Oktober 1981, Dudgeon gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 7525/76, Series A45, Ziffer 67; Villiger, § 28 Rn. 871. 15 Sauer, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art. 14 Rn. 20. 16 EGMR, Urteil vom 23. Juli 1968, Belgischer Sprachenfall, Nr. 1474/62 u. a., Series A6, Ziffer B. 10. 17 EGMR, Urteil vom 16. März 2010, Ors ˇusˇ u. a. gegen Kroatien, Nr. 15766/03, ECHR-2010-II, Ziffer 150.

280

5. Teil: Betrachtung der allgemeinen Gesichtsverschleierungsverbote

EGMR gesteht den Mitgliedsstaaten grundsätzlich einen Beurteilungsspielraum bei der Festlegung des Zwecks der Ungleichbehandlung zu.18 Zwar führt die Prüfung des legitimen Ziels kaum je schon für sich zur Feststellung einer Diskriminierung.19 Gleichwohl hat sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine gewisse Kausistik herausgebildet hinsichtlich der Weite des zugestandenen Beurteilungsspielraums. Dieser Spielraum korreliert auch mit demjenigen, den der Gerichtshof den Mitgliedsstaaten sodann – auf zweiter Ebene – im Rahmen der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit zugesteht. Je sensibler das Diskriminierungsmerkmal, desto höher die Anforderungen an den Grund der Ungleichbehandlung (Zweck) und desto höher auch die Kontrolldichte auf Verhältnismäßigkeitsebene.20 Dabei lässt sich jedenfalls festhalten, dass die Mitgliedsstaaten in sozialen und wirtschaftlichen Angelegenheiten einen weiteren Beurteilungsspielraum haben21, wohingegen sie für Ungleichbehandlungen aufgrund der Staatsangehörigkeit sehr gewichtige Gründe darlegen müssen.22 Knüpft die Ungleichbehandlung aber an das Geschlecht an, sind besonderes schwerwiegende23 bis sogar zwingende Gründe24 erforderlich. Auch beim Anknüpfungsmerkmal Religion hat der EGMR mitunter schon solch schwerwiegende Gründe verlangt25, wohingegen Ungleichbehandlungen aufgrund der ethnischen Herkunft und Ungleichbehandlungen aufgrund rassistischer Zuschreibungen praktisch nicht zu rechtfertigen sind und insoweit auch kein Ermessen besteht.26

18

Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 26 Rn. 14. Ebenda; z. B. aber in EGMR, Urteil vom 6. April 2000, Thlimmenos gegen Griechenland, Nr. 34369/97, ECHR-2000-IV, Ziffer 47. 20 Vgl. etwa Grabenwarter/Pabel, EMRK, § 26 Rn. 14, und Villiger, § 26 Rn. 877, die dies auf Ebene des legitimen Zwecks darstellen, wohingegen Sauer, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art. 14 Rn. 38, diese Thematik im Rahmen der Verhältnismäßigkeit einordnet. 21 EGMR, Urteil vom 21. Februar 1986, James u. a. gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 8793/79, Series A98, Ziffer 46; EGMR, Urteil vom 29. April 2008, Burden gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 13378/05, ECHR-2008-III, Ziffer 60; EGMR, Urteil vom 18. Februar 2009, Andrejeva gegen Lettland, Nr. 55707/00, ECHR-2009-II, Ziffer 83. 22 EGMR, Urteil vom 18. Februar 2009, Andrejeva gegen Lettland, Nr. 55707/00, ECHR-2009-II, Ziffer 87. 23 EGMR, Urteil vom 28. Mai 1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 9214/80, 9473/81, 9474/81, Series A94, Ziffer 78 („very weighty reasons“). 24 EGMR, Urteil vom 21. Februar 1997, Van Raalte gegen Niederlande, Nr. 20060/ 92, ECHR-1997-I, Ziffer 52 („compelling reasons“). 25 EGMR, Urteil vom 9. Dezember 2010, Savez Crkava „Rijec ˇ Zˇivota“ u. a. gegen Kroatien, Nr. 7798/08, Ziffer 88. 26 Statt vieler vgl. nur EGMR, Urteil vom 24. Mai 2016, Biao gegen Dänemark, Nr. 38590/10, ECHR-2016, Ziffer 94. 19

B. Diskriminierungsbegriff und Ausprägungen von Diskriminierung

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B. Der Diskriminierungsbegriff und unterschiedliche Ausprägungen von Diskriminierung Die EMRK definiert den Begriff „Diskriminierung“ selbst nicht. Gleichwohl bedeutet eine Diskriminierung nach allgemeiner Auffassung, „dass eine andere Person in einer analogen oder einer hinreichend ähnlichen Situation bevorzugt oder benachteiligt, jedenfalls unterschiedlich behandelt wird“ 27 aufgrund eines bestimmten Merkmals und ohne Rechtfertigung. Diskriminierungen können dabei aber in vielfältigerer Weise auftreten, als es diese Definition zunächst vermuten lässt. Sie zu erkennen erfordert daher ein gewisses Maß an Sensibilität.

I. Unmittelbare vs. mittelbare Diskriminierung Am einfachsten zu erkennen sind unmittelbare Diskriminierungen. Eine unmittelbare Diskriminierung liegt vor, wenn eine unmittelbare Ungleichbehandlung aufgrund eines unzulässigen Unterscheidungsmerkmals vorliegt, die nicht durch die objektiv angemessene Verfolgung eines legitimen Zwecks gerechtfertigt ist. Unmittelbare Diskriminierungen knüpfen de iure an das Diskriminierungsmerkmal, eine bestimmte persönliche Eigenschaft an. Anders ist dies im Falle der mittelbaren (indirekten) Diskriminierung. Bei dieser Form der Diskriminierung knüpft die Unterscheidung nicht ausdrücklich an ein persönliches Merkmal an, faktisch werden aber ganz überwiegend Personen, die ein bestimmtes Merkmal tragen, benachteiligt.28 Dabei ist eine Diskriminierungsabsicht nicht erforderlich, es genügt die rein tatsächliche, benachteiligende Wirkung einer Maßnahme.29 Die Bereitschaft des EGMR, mittelbare Diskriminierungen anzuerkennen, ist als zurückhaltend zu bewerten, zumindest in Fällen der Geschlechterdiskriminierung hat er dies aber in der Vergangenheit bereits getan.30

II. Intersektionalität und Mehrfachdiskriminierungen Diskriminierungen können aber auch mehrdimensionalen Charakter aufweisen. So ist denkbar, dass eine Person aufgrund mehrerer Merkmale diskriminiert wird, etwa auf Grundlage des Geschlechts und der Religion, oder aber auch, dass sich eine Benachteiligung erst daraus ergibt, dass eine Person zwei unterschiedliche Merkmale in sich vereint und erst dieses Zusammentreffen letztlich zur Benachteiligung führt.31 Letzteres betrifft Fälle der sog. Intersektionalität. 27

Villiger, § 28 Rn. 872. Sauer, in: Karpenstein/Mayer, EMRK, Art. 14 Rn. 45. 29 EGMR, Urteil vom 13. November 2007, D.H. u. a. gegen Tschechien, Nr. 57325/00, ECHR-2007-IV, Ziffer 184, 194. 30 Ebenda. 31 Holzleithner, S. 310. 28

282

5. Teil: Betrachtung der allgemeinen Gesichtsverschleierungsverbote

Die „Komplementarität der Geschlechter“ ist in vielen Religionen grundlegende Überzeugung, sodass zahlreiche religiöse Riten und Pflichten nur für Männer oder nur für Frauen gelten. Intersektionen von Religionen und Geschlecht sind entsprechend verbreitet und stellen de facto den Rahmen für staatliches Handeln in diesen Bereichen dar.32 Auch im Fall der Gesichtsverschleierungsverbote bildet eine geschlechtsspezifische religiöse Handlung den Anknüpfungspunkt der staatlichen Maßnahme, wenngleich die Gesetze hinsichtlich beider Merkmale neutral formuliert sind. Intersektionen und intersektionale Diskriminierungen erfahren durch den EGMR bislang keine Berücksichtigung. Das Konzept der Intersektionalität und in der Folge die Benennung des Phänomens der intersektionalen Diskriminierung geht zurück auf Crenshaw. Sie untersuchte Fälle von Benachteiligungen schwarzer Frauen in den USA und stellte heraus, dass diese spezifisch als schwarze Frauen der Gefahr von Diskriminierung ausgesetzt waren, wohingegen schwarze Männer und weiße Frauen keiner vergleichbaren Gefahr ausgesetzt waren.33 Damit stellte Crenshaw Fälle in den Fokus ihrer Untersuchung, bei denen sich die Diskriminierung erst und ausschließlich aus dem Zusammenwirken verschiedener Diskriminierungsmerkmale ergibt. Sie arbeitete zudem heraus, dass das Diskriminierungsrecht diese Fälle nicht ausreichend berücksichtige. Um diesen Fällen antidiskriminierungsrechtlich gerecht zu werden, ist es erforderlich, das „Konglomerat von Gründen“ 34 in den Blick zu nehmen. Damit zeigt sich auch, dass unterschiedliche Formen von Diskriminierung durchaus komplex sein können, wenn das Zusammenspiel zahlreicher Faktoren zu berücksichtigen ist. Auch bei den Gesichtsverschleierungsverboten ist dies der Fall. Aus diskriminierungsrechtlicher Perspektive sind hier Aspekte der Geschlechterdiskriminierung, religiöser Freiheit und deren Intersektion beachtlich.

C. Analyse der Verschleierungsverbote unter den Aspekten mittelbarer und intersektionaler Diskriminierung Die Verschleierungsverbote sind allesamt religiös-weltanschaulich neutral formuliert und wenden sich ihrem Wortlaut nach weder ausschließlich an Frauen, noch ausschließlich an Menschen muslimischen Glaubens. Aufgrund der zahlreichen Ausnahmen sind muslimische Frauen, die den Gesichtsschleier tragen, gleichwohl diejenigen, die faktisch am häufigsten von den Gesetzen betroffen sind. Ihnen ist es untersagt, ihre religiöse Praxis der Vollverschleierung weiterhin in der Öffentlichkeit auszuüben. Damit unterscheiden sie sich sowohl von nicht-

32 33 34

Lembke, S. 201. Crenshaw, S. 57. Holzleithner, S. 311.

C. Analyse unter Aspekten mittelbarer und intersektionaler Diskriminierung 283

muslimischen Frauen, die diese Praxis nicht ausüben, als auch von muslimischen Männern, die zwar ihren Glauben teilen, jedoch nicht dieser geschlechtsspezifischen religiösen Pflicht bzw. Praxis nachkommen. Im Folgenden soll daher der Blick nicht allein auf eine religiöse Dimension von Diskriminierung gerichtet werden, sondern zugleich auf eine geschlechtsspezifische.

I. Mittelbare intersektionale Diskriminierung und Entscheidung des EGMR im Fall S.A.S. gegen Frankreich Eine unmittelbare Diskriminierung ist in den Gesetzen nicht zu erblicken. Eine Ungleichbehandlung findet nicht ausdrücklich aufgrund der Religion und/oder des Geschlechts statt. Wohl im Wissen um die sich stellende Diskriminierungsproblematik haben alle Staaten, die landesweit geltende allgemeine Gesichtsverhüllungsverbote erlassen haben, in besonderer Weise auf einen in diesen Hinsichten neutralen Gesetzeswortlaut Wert gelegt.35 Typischerweise, gerade auch aufgrund der in den Verbotsgesetzen selbst vorgesehenen Ausnahmetatbestände, sind von den Verbotsgesetzen aber muslimische Frauen betroffen, die den Gesichtsschleier tragen. Damit sind gerade muslimische Frauen betroffen, anders auch als nicht-muslimische Frauen oder muslimische Männer. Auch der EGMR hat auf diese Punkte in seiner Entscheidung S.A.S. gegen Frankreich zum Teil hingewiesen. Das Verbot habe signifikante negative Auswirkungen auf Frauen, die den Vollschleier tragen wollen, eine strafrechtliche Verfolgung aufgrund der Gesichtsverschleierung könne auf die jeweiligen Frauen traumatisierend wirken.36 Der EGMR erkennt auch, dass von dem Verbot hauptsächlich muslimische Frauen betroffen sind. Gleichwohl verweist er darauf, dass das Gesetz nicht jegliche religiös konnotierte Kleidung in der Öffentlichkeit verbiete, sondern seinem Wortlaut nach unabhängig von religiöser Bedeutung allgemein solche Kleidungsstücke, die das Gesicht verdecken.37 Der Gerichtshof verweist auch auf die grundsätzliche Möglichkeit einer mittelbaren Diskriminierung. Er lehnt eine solche hinsichtlich des Verschleierungsverbots aber mit Verweis auf die zuvor festgestellte Rechtfertigung der Eingriffe in Art. 8 und Art. 9 EMRK ab.38 Die Dimension auch der intersektionalen Diskriminierung benennt er dagegen schon gar nicht.

35

Vgl. Erster Teil, C. I. 3., II. 3., III. 3., IV. 3., V. 2. EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffern 146, 152. 37 EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffer 151. 38 EGMR, Urteil vom 14. Juli 2014, S.A.S. gegen Frankreich, Nr. 43835/11, ECHR2014-III, Ziffer 161. 36

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5. Teil: Betrachtung der allgemeinen Gesichtsverschleierungsverbote

II. Kritik Die Nicht-Anerkennung der intersektionalen und mittelbar diskriminierenden Wirkung der allgemeinen Verschleierungsverbote hat für die Betroffenen gravierende Auswirkungen und sendet zudem negative Signale im Hinblick auf den Minderheitenschutz nach der EMRK. 1. Absenkung des gleichheitsrechtlichen Schutzniveaus durch bloße Übernahme der freiheitsrechtbezogenen Margin(s) of Appreciation Der EGMR hat in seiner Rechtsprechung wie oben dargestellt im Wege von Kategorisierungen und Hierarchisierung für die jeweiligen Diskriminierungsgründe festgelegt, von welchem Gewicht die sachlichen Gründe sein müssen, die zur Rechtfertigung der jeweiligen Ungleichbehandlung herangezogen werden können. Diese eigens entwickelten Maßstäbe für gleichheitsrechtlichen Schutz im Rahmen von Art. 14 EMRK beachtet der Gerichtshof in seinen Entscheidungen zu den allgemeinen Gesichtsverschleierungsverboten an keiner Stelle. Er verkennt damit, dass auch eine mittelbar wirkende Ungleichbehandlung von gleichem Gewicht sein kann wie eine unmittelbare Ungleichbehandlung und folglich auch die Maßstäbe der Rechtfertigung übertragen werden müssen. Stattdessen verweigert der EGMR überhaupt, eine eigene Rechtfertigungsprüfung im Rahmen des Art. 14 EMRK durchzuführen. Die Übernahme der Argumentation für einen weiten Beurteilungsspielraum senkt wie gezeigt schon das Schutzniveau hinsichtlich der freiheitsrechtlichen Gewährleistungen gem. Art. 8 und Art. 9 EMRK ab. Den Mitgliedsstaaten wird der weite Beurteilungsspielraum nicht nur auf Ebene der Schrankenbestimmung zugestanden, sodass es gelingen konnte, ein vages gesellschaftspolitisches Konzept zu einem Quasi-Recht im Sinne der Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK zu erheben, welches in der Lage sein soll, Eingriffe in die Religionsfreiheit und das Recht auf Achtung des Privatlebens zu rechtfertigen. Während der EGMR schon im Rahmen der Prüfung etwaiger Verletzungen der Freiheitsrechte zunächst jene unbestimmte Schrankenkonstellation, die sich durch doppelte Unbestimmtheit auszeichnet, überhaupt nur mit dem Verweis auf eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung zulässt, derer er dann wegen erneuten Verweises auf einen weiten Beurteilungsspielraum nicht gerecht wird, argumentiert der EGMR im Rahmen des Art. 14 EMRK nicht einmal mehr über die Weite eines etwaigen Spielraums, sondern verweist bloß noch auf seine Ausführungen zu Art. 8 und 9 EMRK aus der Entscheidung. Damit ignoriert er die von ihm selbst gesetzten Maßstäbe, dass Ungleichbehandlungen aufgrund des Geschlechts und – überwiegend – auch wegen der Religion besonders gewichtiger oder sogar zwingender sachlicher Gründe bedürfen.39 Ein Verweis auf die (in 39 Vgl. oben A. II.; EGMR, Urteil vom 18. Februar 2009, Andrejeva gegen Lettland, Nr. 55707/00, ECHR-2009-II, Ziffer 87; EGMR, Urteil vom 28. Mai 1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 9214/80, 9473/81, 9474/81,

C. Analyse unter Aspekten mittelbarer und intersektionaler Diskriminierung 285

dieser Arbeit nicht geteilte) Feststellung, dass Eingriffe in die Freiheitsrechte gerechtfertigt seien, um damit auch eine Verletzung von Art. 14 EMRK abzulehnen, widerspricht auch dem oben dargestellten grundsätzlichen Verständnis des EGMR vom Verhältnis des Art. 14 EMRK zu den Freiheitsrechten: trotz seiner Akzessorietät soll Art. 14 EMRK danach gerade auch einen gewissen autonomen Charakter haben, indem eben nicht zu fordern ist, dass das Freiheitsrecht verletzt ist. Es genügt allein, dass sein Anwendungsbereich berührt ist. Ist dies der Fall, ist eine ausführliche Rechtfertigungsprüfung im Rahmen des Art. 14 EMRK erforderlich. 2. Fehlender Blick für intersektionale Dimensionen Auch verkennt der EGMR in den Fällen der Vollverschleierungsverbote die intersektionale Dimension der mittelbaren Ungleichbehandlung. Dies wirkt sich gleichfalls auf das Schutzniveau bei Art. 14 EMRK aus – bzw. hätte sich auswirken müssen. Denn die Verkennung, dass die Frauen gerade aufgrund des Zusammentreffens geschlechts- und religionsspezifischer Merkmale von den Gesetzen und den darauf beruhenden Maßnahmen betroffen sind, hätte erst recht zu einer Begrenzung des nationalen Beurteilungsspielraums und einer strengen Rechtfertigungsprüfung durch den Gerichtshof führen müssen.40 Statt eines erhöhten Schutzniveaus durch eine besonders strenge Rechtfertigungsprüfung hat es der EGMR sogar unterlassen, auch nur die Parameter aus seiner Entscheidung Arslan u. a. gegen die Türkei hinsichtlich der religiösen Dimension auf die hiesige Konstellation zu übertragen. In jener Entscheidung hatte der Gerichtshof eine Verletzung von Art. 9 EMRK festgestellt, da ein Verbot des Tragens religiöser Kleidung durch Privatpersonen in der Öffentlichkeit nicht notwendig in einer demokratischen Gesellschaft sei. Eine Verletzung von Art. 14 EMRK prüfte der EGMR schon gar nicht mehr.41 Das Vorgehen des EGMR in den Verfahren um die wortlautneutralen Gesichtsverhüllungsverbote lässt einen kohärenten Minderheitenschutz nicht erkennen. Der EGMR prüfte auch keine Diskriminierung aufgrund der Religion wie es zumindest der Fall Arslan u. a. gegen die Türkei und die dortige Sensibilität des EGMR – wenngleich im Rahmen von Art. 9 EMRK – nahegelegt hätte.42 Vielmehr scheint der EGMR nicht willens, vor mittelbaren Series A94, Ziffer 78; EGMR, Urteil vom 21. Februar 1997, Van Raalte gegen Niederlande, Nr. 20060/92, ECHR-1997-I, Ziffer 52; EGMR, Urteil vom 9. Dezember 2010, Savez Crkava „Rijecˇ Zˇivota“ u. a. gegen Kroatien, Nr. 7798/08, Ziffer 88; auch im Nachgang der S.A.S.-Entscheidung kehrte der EGMR wieder zu dieser Anforderung zurück, EGMR, Urteil vom 25. Juli 2017, Carvalho Pinto de Sousa Morais gegen Portugal, Nr. 17484/15, ECHR-2017, Ziffer 46. 40 So auch die Kritik von Sarah Schadendorf, (Un-)Verschleierte Diskriminierung, juwiss Blog vom 9. Juli 2014, abrufbar unter https://www.juwiss.de/88-2014/. 41 EGMR, Urteil vom 23. Februar 2010, Arslan u. a. gegen Türkei, Nr. 41135/98. 42 So auch die Kritik von Ulrike Lembke, Burka-Verbot: Der EGMR verkürzt den menschenrechtlichen Diskriminierungsschutz in Europa, juwiss Blog vom 9. Juli 2014, abrufbar unter https://www.juwiss.de/87-2014/.

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5. Teil: Betrachtung der allgemeinen Gesichtsverschleierungsverbote

Diskriminierungen im selben Maße zu schützen wie vor unmittelbaren – nicht einmal dann, wenn diese intersektional begründet sind und folglich einer besonders aufmerksamen und sensiblen Betrachtung bedürften – und Art. 14 EMRK in diesen Fällen ernst zu nehmen. Die Schrankenbestimmung und die Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen der Freiheitsrechte werden über einen hier wie dort maximal weiten Beurteilungsspielraum in die Hände der Mehrheit und ihrer Definition von einem konventionellen, höflichen und offenen Miteinander gelegt und im Rahmen der Prüfung von Gleichheitsrechten wird allein auf diesen Mechanismus verwiesen. Der EGMR zieht sich in einem Moment, in dem in einem hoch emotionalisierten Feld eine sachliche Prüfung wichtiger denn je gewesen wäre, auf einen Minimalstandpunkt zurück. Es muss auffallen, dass der Gerichtshof dem europäischen Minderheitenschutz hier in keiner Weise dienlich gewesen ist.43 3. Verdrängung der Frauen ins Private? Schließlich bleibt bis heute die Kritik bestehen, dass unklar ist, wie sich die Verbotsgesetze tatsächlich auf die jeweiligen Frauen auswirken. Während bereits dargetan werden konnte, dass die Förderung von Geschlechtergleichheit ein Verbot der Vollverschleierung in der Öffentlichkeit nicht zu rechtfertigen vermag, so kann nochmals an dieser Stelle hervorgehoben werden, dass ein Verbot insoweit schon ungeeignet sein dürfte, da es eine Verdrängung der Frauen ins Private bewirken kann. Inwieweit dies tatsächlich geschehen ist, lässt sich nicht belegen. Jedenfalls hinsichtlich jener Frauen, die sich nicht freiwillig für das Tragen des Vollschleiers entschieden haben und die in all den geführten Debatten zu keiner Zeit selbst für sich sprechen konnten, dürfte diese Gefahr aber (weiterhin) auf der Hand liegen.44 Insoweit dienen die Gesetze nicht ihrem vorgeblichen Ziel der Gleichberechtigung und Gleichstellung der Geschlechter, sondern stellen sich hinsichtlich der betroffenen Frauen selbst in eine patriarchalische Tradition.45

43 Zur weiteren Entwicklung des geschlechtsspezifischen Diskriminierungsschutzes in der Rechtsprechung des EGMR vgl. auch Valentiner, S. 32 ff., die hier wiederum Tendenzen des EGMR für einen anti-stereotyping Ansatz herausstellt. 44 So schon Hammarberg, Human Rights in Europe: no grounds for complacency. Viewpoints 2011, S. 39. 45 Vgl. Lembke, Burka-Verbot: Der EGMR verkürzt den menschenrechtlichen Diskriminierungsschutz in Europa, juwiss Blog vom 9. Juli 2014, abrufbar unter https:// www.juwiss.de/87-2014/.

Sechster Teil

Ergebnis Obwohl die ersten Diskussionen um allgemeine Gesichtsverschleierungsverbote mittlerweile etliche Jahre zurückliegen und auch das französische Verbotsgesetz nunmehr seit über zehn Jahren in Kraft ist, zeigt ein Blick in die Tagespolitik auch heute noch, dass das Thema in den Mitgliedsstaaten der EMRK weiterhin aktuell ist. Dabei gilt auch weiterhin: so emotional die politischen und gesellschaftlichen Debatten geführt werden, so gering scheint die Klarheit darüber, wie die rechtliche Argumentation um die Rechtfertigung der Verbotsgesetze juristisch greifbar gemacht und welche Tragweite ihr in rechtsdogmatischer Hinsicht beigemessen werden kann. Die Untersuchung konnte Erkenntnisse zutage fördern, die die Bedeutung der allgemeinen Vollverschleierungsverbote über sich selbst hinaus verdeutlichen und Anstoß zur Auseinandersetzung mit übergeordneten Fragestellungen geben konnten. Im Fokus standen dabei die Untersuchung einer neuartigen Konzeptionierung und Konzeptionierungsversuche der Rechte und Freiheiten anderer und der öffentlichen Ordnung als legitime Eingriffsziele sowie die besondere Fokussierung der Debatten auf die Gleichstellung der Geschlechter als Rechtfertigungsgrund und das dem zugrunde liegende Verständnis von vorgeblich „Frauenrechten“, tatsächlich aber wohl Mehrheitsinteressen (auch) als entsubjektivierendem Kulturwert. Ungeachtet ihrer im Einzelnen sehr verschieden ausgeprägten religionsrechtlichen Systeme lässt sich beobachten, dass Verbotsgesetze bezüglich der islamischen Gesichts- und Ganzkörperverschleierung in Europa größere Verbreitung gefunden haben als dies vor einigen Jahren noch zu erwarten gewesen wäre. Auslöser dürfte weniger eine verstärkte Verbreitung des auch heute noch äußerst marginalen Phänomens der Vollverschleierung von Frauen in der Öffentlichkeit sein als vielmehr politische Stimmungen und auch eine rechtliche Debatte, die es vermocht hat, mit dogmatischen Kniffen, aber auch unter Ignorieren diesbezüglicher Inkonsequenzen und Widersprüche, den allgemeinen Vollverschleierungsverboten ein heute weithin akzeptiertes oder zumindest nicht mehr übermäßig beachtetes, „sicheres“ Fundament zu schaffen. Allgemeine Gesichtsverschleierungsverbote gelten derzeit in Frankreich, Belgien, Österreich, Dänemark und der Schweiz (und – wenngleich aus vorgeblich teilweise oder gänzlich anderen Beweggründen – Lettland und Bulgarien). Bel-

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6. Teil: Ergebnis

gien ist dabei bislang der einzige Staat, der die Verbotsnorm als Strafnorm ins Strafgesetzbuch aufgenommen hat, während die Gesetze in Frankreich, Österreich und Dänemark Normen des Ordnungswidrigkeitsrechts darstellen. In der Schweiz wurde das Verbot in die Bundesverfassung aufgenommen, nach einem Entwurf des Bundesrates ist eine Umsetzung ebenfalls im Strafgesetzbuch sehr wahrscheinlich. Alle Staaten regulieren mit den Gesetzen nicht mehr nur den staatlich verantworteten Raum – wie öffentliche Schulen und staatliche Universitäten – sondern den gesamten der Öffentlichkeit zugänglichen Raum. Obwohl in allen Staaten die Debatten um die Verbotsgesetze den Islam und insbesondere die islamische Vollverschleierung in den Fokus stellten, sind alle Gesetze mit Blick auf etwaige verfassungs- und konventionsrechtliche Anforderungen weltanschaulich neutral formuliert. Der Wortlaut keines Gesetzes nennt den Schleier explizit. Als Argumente für die Verbotsgesetze wurden zunächst die Gleichberechtigung der Geschlechter, die Menschenwürde der vollverschleierten Frauen und der Schutz der öffentlichen Sicherheit angeführt. Aber insbesondere der gesellschaftspolitische Aspekt, man müsse in einer offenen Gesellschaft einander in der Öffentlichkeit ins Gesicht sehen können, stellte schließlich in allen fünf Ländern, deren Regelungen Gegenstand dieser Arbeit waren, den Schwerpunkt der Rechtfertigung dar – und tat dies auch in den Verfahren zum französischen und belgischen Verschleierungsverbot vor dem EGMR. Damit stellte sich die Frage, wie das Bedürfnis, einander in der Öffentlichkeit auch unter Fremden jederzeit ins Gesicht schauen zu können, dogmatisch und konventionsrechtlich einzuordnen ist und wie es vor dem Hintergrund der EMRK juristisch greifbar gemacht werden kann. Die allgemeinen Gesichtsverschleierungsverbote stellen Eingriffe in die Konventionsrechte aus Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privatlebens) und Art. 9 EMRK (Religionsfreiheit) dar. Es ist derzeit nicht davon auszugehen, dass eine Mehrheit – oder auch nur ein signifikanter Teil – der Frauen, die in Europa einen islamischen Gesichts- und Vollschleier tragen, dies unter Zwang täten. Gleichwohl können diese Fälle nicht ausgeschlossen werden. Die Unklarheiten über Zahlen finden ihre Ursache in dem Problem der mit zwangsweiser Verschleierung einhergehenden Abschottung der Frau ins Private: Es dürfte kaum möglich sein, mit Frauen, die sich zwangsweise vollverschleiern (müssen), derart in Kontakt zu kommen, dass sie hierüber berichten könnten. Gleichwohl haben Studien aus den einzelnen Ländern ergeben, dass es sich bei der Praxis der Vollverschleierung um ein höchst marginales Phänomen handelt, das häufig gerade unter Konvertitinnen auftritt, die mit der Praxis besondere Frömmigkeit und tiefen Glauben ausdrücken möchten, zuweilen aber den Schleier auch lediglich anlassbezogen tragen und angeben, ihn wenn erforderlich auch abzunehmen, etwa um Identitätskontrollen zu ermöglichen.

6. Teil: Ergebnis

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Eine Betrachtung der Vollverschleierung als reine Sittsamkeitspraxis ohne religiösen Bezug ist unterkomplex. Zwar kann der Vollverschleierungspraktik objektiv auch ein bestimmtes Verständnis von Geschlechterhierarchie und Geschlechtertrennung entnommen werden. Ein effektiver Minderheitenschutz durch die EMRK darf aber nicht ignorieren, wenn die jeweiligen Rechtsträgerinnen plausibel darlegen können, dass eine bestimmte Handlung für sie religiös begründet und Ausdruck religiöser Norm ist. Eine inhaltliche Bewertung einer Religion ist dem weltanschaulich-neutralen Staat ohnehin versagt, sodass allenfalls Grenzen festgelegt werden dürfen. Eine Plausibilitätskontrolle bietet hier eine funktionale, freiheitsrechtsfreundliche und mit Blick auf einen effektiven Minderheitenschutz letztlich auch gebotene Herangehensweise. Die Religionsfreiheit nach der EMRK schützt auch die Religionsausübung. Damit dies effektiv geschehen kann, sind von Seiten des Mitgliedsstaates gewisse Grundvoraussetzungen zu schaffen. Hierzu zählen Neutralität des Staates, Toleranz und die Förderung einer offenen Geisteshaltung sowie Parität. Diese Prinzipien wiederum bilden das Fundament für das Konzept des Pluralismus, der seinerseits eine Ausübung der Religionsfreiheit für alle Menschen einer Gesellschaft sicherstellt. Eine Untersuchung möglicher Rechtfertigungsansätze der allgemeinen Gesichtsverschleierungsverbote gelingt nur dann in einem umfassenden Maße, wenn sie auch diejenigen Prinzipien berücksichtigt, die der EMRK als Ganzes und den Rechten der Art. 8–11 EMRK im Besonderen zugrunde liegen – wie das Konzept des Pluralismus. Das Pluralismuskonzept ist nach der Rechtsprechung des EGMR als ein „zweiseitiges Konzept“ zu charakterisieren. Ihm kann sowohl eine freiheitsbegründende, als auch eine freiheitsbeschränkende Dimension entnommen werden. Zum einen ist der Pluralismus das Fundament und zugleich das Ergebnis von Freiheitsrechtsausübung in einer heterogenen Gesellschaft. Insoweit setzt er die Gewährleistung der Religionsfreiheit gerade voraus. Gleichzeitig bildet der Pluralismus die Grundlage für eine effektive Gewährleistung der Freiheitsrechte auch für Minderheiten. Minderheitenschutz, Pluralismus und Demokratie sind im Gefüge der EMRK und darüber hinaus untrennbar miteinander verbunden. Daneben kann der Pluralismus aber auch freiheitsbeschränkend wirken, nämlich dann, wenn zum Schutz von innerem Frieden und tatsächlichem religiösen Pluralismus Freiheitsrechte beschränkt werden mit dem Ziel, dass letztlich jeder Mensch seine Rechte frei von Zwang ausüben kann. Bei alledem darf aber die minderheitenschützende Komponente des Pluralismus nie aus den Augen verloren werden. Diese muss sich sodann nämlich insbesondere bei der Reichweite der Schutzbereiche (weit) und der Reichweite des den Mitgliedstaaten zugestandenen Beurteilungsspielraum sowohl auf Schranken- wie auch auf Verhältnismäßigkeitsebene (eng) angemessen berücksichtigt werden. Im Rahmen der Abhandlungen zu möglichen legitimen Eingriffszielen ist dieser Aspekt vor allem dann zu berücksichtigen, wenn es um die Vorstellungen von Mindestvoraussetzungen

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für das gesellschaftliche Zusammenleben geht. Ein bloßes Abstellen auf Mehrheitsempfindungen unterläuft das grundlegende Prinzip des freiheitsbegründenden Pluralismus und den Minderheitenschutz nach der EMRK. Der Grundsatz der Geschlechtergleichheit kann durchaus legitimes Eingriffsziel der Verschleierungsverbotsgesetze gem. Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK sein und dies auch dann, wenn es Frauen gibt, die sich freiwillig und selbstbestimmt für die Vollverschleierung entscheiden. Die emanzipatorische Bedeutung der Geschlechtergleichheit ist ein gesamtgesellschaftlicher Wert, der der gesamten Konvention zugrundeliegt. Er ist auf Individuen und Individualrechte rückführbar, erschöpft sich aber nicht auf der individuellen Ebene. Den Schutz und die Förderung der Geschlechtergleichheit bereits als legitimes Ziel abzulehnen, ist vorschnell. Dies würde eine Auseinandersetzung mit der Symbolik des Vollschleiers verhindern und zudem die Differenzierung zwischen Schranke und Schranken-Schanke egalisieren. Dem weltanschaulich-neutralen Staat ist es verwehrt, eine Religion inhaltlich zu bewerten oder zu definieren. Er muss aber dennoch die Möglichkeit haben, rechtlich relevante Symboliken erkennen zu können. Hierbei ist zur Verhinderung von Willkür ein objektiver Maßstab anzusetzen. Abzustellen ist dabei auf einen objektiven Empfängerhorizont einer verständigen dritten Person, die mit dem Vollschleier als Symbol konfrontiert wird. Dem Vollschleier können danach als Symbol die Bedeutungen Geschlechtertrennung, Gesellschaftsordnung unter männlicher Dominanz und patriarchale Hierarchie, Abschottung der Frau sowie geschlechtsspezifische Gebote zu Sittsamkeit und Keuschheit beigemessen werden. Ein solches Verständnis dürfen die Staaten zugrundelegen, ohne sich dem Vorwurf der unzulässigen Inhaltsdefinition einer Religion aussetzen zu müssen. Unter Zugrundelegung dieses Verständnisses berührt die Praxis der Vollverschleierung den Konventionswert der Geschlechtergleichheit, sodass diese legitimes Ziel der Maßnahme sein kann. Allerdings sind die allgemeinen Verschleierungsverbote hinsichtlich des Ziels der Geschlechtergleichheit nicht verhältnismäßig. An dieser Stelle ist die Freiwilligkeit der adressierten Frauen entscheidend. Einer sich freiwillig verschleiernden Frau kann nicht in verhältnismäßiger Weise unter Beschränkung ihrer Freiheitsrechte die Pflicht auferlegt werden, sich zu Konventionswerten zu bekennen, indem sie auf eine spezifische Art der Ausübung ihrer Religion verzichtet. Hinsichtlich derjenigen Frauen, die möglicherweise unter Zwang die Vollverschleierung praktizieren, dürften die Verbotsgesetze schon gar nicht erforderlich oder gar geeignet sein. Hier ist insbesondere eine zwangsweise Verdrängung der Frauen in den privaten – und dem Blick der Öffentlichkeit entzogenen – Raum zu befürchten. Die gebotene Ernsthaftigkeit, die dem Grundsatz der Geschlechtergleichheit und seiner Förderung entgegenzubringen ist, verlangt aber danach, die ge-

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schlechtsspezifische Wirkung der Gesetze umfassend in den Blick zu nehmen. Dies muss sodann auch im Rahmen einer Auseinandersetzung mit Art. 14 EMRK geschehen. Auch der Schutz der öffentlichen Sicherheit kann zwar ein legitimes Eingriffsziel sein. Verhältnismäßig sind Eingriffe aber auch insoweit nicht. Während die Gleichheit der Geschlechter und der Schutz der öffentlichen Sicherheit nach dem Ergebnis dieser Arbeit also legitime Eingriffszeile der Verbotsgesetze darstellen können, eine Rechtfertigung aber dennoch mangels Verhältnismäßigkeit der Maßnahme abgelehnt werden muss, können die „Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben“ nicht in widerspruchsfreier Weise einerseits den „Rechten und Freiheiten anderer“ gem. Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK zugeordnet werden und andererseits selbst zugleich das einander in der Öffentlichkeit Gegenübertreten mit unverhülltem Gesicht beinhalten. Eine so geschaffene ständige „Kommunikationsbereitschaftspflicht“ auch gegenüber Fremden und im Rahmen von Zufallskontakten im gesamten öffentlichen Raum lässt sich bei konsequenter Auslegungs- und Subsumtionsarbeit unter Beachtung der wesentlichen Prinzipien der EMRK nicht konstruieren. Es bleiben zwei Möglichkeiten: eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Konzept der „Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben“ ergibt eine begriffliche Annäherung und inhaltliche Bestimmung, die es ermöglicht, diese Konzeption als einen Teil des „Mindestbestands an Werten in einer offenen und demokratischen Gesellschaft“ zu sehen. Dabei legt diese Bestimmung aber auch gewisse Hürden fest. Oder aber, die „Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben“ werden derart weit verstanden, dass mehrheitskonsentierte gesellschaftliche Gepflogenheiten, Verhaltensweisen, Umgangsformen und berechtigte Interessen – wie etwa das einander als Privatpersonen mit freiem Gesicht in der Öffentlichkeit Begegnen – noch von ihm erfasst sind. Dann können sie aber nicht mehr zum „Mindestbestand an Werten in einer offenen und demokratischen Gesellschaft“ gezählt werden. Die französischen staatlichen Institutionen verfolgten unterschiedliche Ansätze zur Annäherung und Einordnung der Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben, das vivre ensemble. Die Gérin-Kommission verfolgte bei Konstruktion des Konzepts und der Begründung der Bedeutung des unbedeckten Gesichts bei Begegnungen im öffentlichen Raum einen staatstheoretischen und sozialphilosophischen Ansatz über eine „Sichtbarkeitsmaxime“, während der Conseil d’État seine Diskussion, ob Mindestanforderungen an das Zusammenleben ein Verbotsgesetz rechtfertigen können und was deren Inhalt sein könnte, innerhalb des juristischen Konzepts des ordre public verortete. Nach abschließender Analyse aller Materialen lassen sich die „Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben“ schließlich wie folgt definieren:

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Unter den Mindestanforderungen für das gesellschaftliche Zusammenleben lassen sich ungeschriebene, gesellschaftlich konsentierte Grundübereinkünfte und soziale Prinzipien verstehen, die von solch grundlegender Bedeutung für das Funktionieren einer demokratischen freiheitlichen Gesellschaft sind, dass die Art und Weise der Ausübung der Menschen- und Freiheitsrechte unmittelbar durch ihr Vorliegen bestimmt wird. Diese konsentierten Übereinkünfte gründen dabei auf Maximen demokratischer Gesellschaftsformen und stellen selbst Werte einer demokratischen Gesellschaft dar, die sich auf die Zivilgesellschaft beziehen und diese zugleich berechtigen und zu einem eigenen Beitrag verpflichten. Hier wiederum subsumieren die Gesetzgeber die Ermöglichung der sozialen Interaktion und Reziprozität, zu deren Gelingen ein jeder und eine jede einen gewissen Beitrag zu leisten habe, etwa sich nicht durch Abschottungsmechanismen im öffentlichen Raum dem gesellschaftlichen Kollektiv und der sozialen Interaktion systematisch zu entziehen. Die wertebezogene Gesetzesbegründung unter Betonung der Sichtbarkeitsmaxime, des friedlichen Zusammenlebens und letztlich der Herausstellung einer jederzeitigen (non-verbalen) Kommunikationsmöglichkeit hat sich von einer Konzeption, die vorrangig durch geisteswissenschaftliche Theorien und philosophische Konzepte geprägt wurde, zu einem nach dem Verständnis sowohl des EGMR, als auch der nachfolgend entsprechende Gesetze erlassenden Staaten zu einem legitimen Eingriffsziel in die durch Art. 9 Abs. 1 EMRK geschützte Religionsfreiheit und das von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Recht auf private Lebensführung entwickelt. Im Rahmen der Schrankenkataloge der Art. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK lässt sich diese Konzeption aber im Ergebnis nicht in überzeugender Weise als Element der „Rechte und Freiheiten anderer“ fassen. Eine Untersuchung des unbestimmten Schrankenziels der „Rechte und Freiheiten anderer“ ergibt, dass „andere“ natürliche und juristische Personen sein können. Die Allgemeinheit als solche ist dagegen nicht Rechtsträgerin in diesem Sinne. Allerdings können Güter der Allgemeinheit nach einem erweitert-personalen Ansatz solche von „anderen“ darstellen, wenn sie einen personalen Bezug haben. Dies ist der Fall, wenn sie die Ausübung von Individualrechten nach der Konvention überhaupt erst ermöglichen. Anzunehmen ist dies etwa für die Geschlechtergleichheit in ihrer gesamtgesellschaftlichen Dimension und den Pluralismus. „Rechte und Freiheiten“ im Sinne der Normen können Konventionsrechte, nationale Verfassungsrechte oder konsensgetragene nationale Rechte sein. Nicht erfasst sind bloße Gefühle oder auch berechtigte menschliche Interessen, auch wenn sie dem Mehrheitsempfinden entsprechen und/oder nachvollziehbar sind. Die Vorgehensweise der Mitgliedsstaaten und auch des EGMR im Rahmen der Rechtfertigung der Gesetze bzw. bei der Überprüfung dieser lassen ein Stufenverhältnis erkennen. Unter die „Rechte und Freiheiten anderer“ wird zunächst ein „Mindestbestand an Werten in einer offenen und demokratischen Gesell-

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schaft“ gefasst. Dazu sollen neben der Geschlechtergleichheit und Menschenwürde dann auch die oben definierten „Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben“ fallen. Dieses zweistufige Vorgehen mündet nicht in einer – wie suggeriert – besonders sorgfältigen Prüfung und Subsumtion. Der EGMR unterlässt es, ebenso wie die nationalen Gesetzgeber, ein greifbares Verständnis der Kategorie „Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben“ zugrunde zu legen. Stattdessen überlässt der EGMR den nationalen Gesetzgebern einen maximal weiten Spielraum. Eine stringente Begriffsbestimmung und Konzeption ist aber erforderlich, um zu vermeiden, dass ein bloßer Schutz von Interessen oder Gefühlen zu „Rechten und Freiheiten“ erklärt wird. Dies zu kontrollieren wäre bei gleichzeitigem Zugeständnis gewissen nationalen Beurteilungsspielraums Aufgabe des Gerichtshofs. Bei einem solchen Vorgehen muss auffallen, dass die Reziprozität unter Bürgerinnen und Bürgern im öffentlichen Raum und die Ermöglichung zwischenmenschlicher Interaktion vermittels des Gesichts – im Ergebnis also das Festhalten an der Sichtbarkeitsmaxime – keine „Rechte und Freiheiten anderer“ sein können. Eine genaue konzeptionelle Annäherung zeigt damit deutlich einen Bruch in der Argumentation und der Konzeption der französischen Regierung bzw. des französischen Gesetzgebers aus der Perspektive der EMRK und insbesondere aus Perspektive der Schranke „Rechte und Freiheiten anderer“ gem. Art. 8 Abs. 2 und 9 Abs. 2 EMRK. Während die „anderen“ hier als diejenigen Bürgerinnen und Bürger gesehen werden können, die sich im öffentlichen Raum bewegen, und damit dieses Merkmal selbst nach einem strengen personenbezogenen und jedenfalls nach dem erweitert-personalen Ansatz gegeben wäre, scheitert die Subsumtion eines solchen Zwecks, der darin besteht „das Leben in der Gesellschaft einfacher“ zu machen, daran, dass es sich hierbei nicht um Rechte und Freiheiten der Personen handeln kann. Durch die Abstufung der einzelnen Konzeptionen „Rechte und Freiheiten anderer“, „Mindestbestand an Werten in einer offenen und demokratischen Gesellschaft“ und „Mindestanforderungen an das gesellschaftliche Zusammenleben“, unter die letztlich die Pflicht zur Begegnung im öffentlichen Raum mit freiem Gesicht durch Privatpersonen gefasst wird, stellen bei gleichzeitigem Suggerieren von Bedeutungsschwere und Gewicht im Kern tatsächlich eine gravierende Banalisierung der Schranke „Rechte und Freiheiten anderer“ dar. Durch das Schaffen einer doppelt unbestimmten Schrankenkonstellation konnte im Ergebnis über Umwege ein – unzulässiger – Schutz von Mehrheitsinteressen und Gefühlen zulasten der Grundrechte von einzelnen erreicht werden. Dies ist auch bei noch so weitem nationalen Beurteilungsspielraum auf Schrankenebene nicht zu vertreten. Auch eine Abgrenzung zum Eingriffsziel der öffentlichen Ordnung gem. Art. 9 Abs. 2 EMRK und der Aufrechterhaltung der Ordnung gem. Art. 8 Abs. 2 EMRK ist damit kaum noch möglich.

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Wenn aber schon ein derart weiter Spielraum zugestanden wird, hätte der EGMR seine Kontrolldichte im Rahmen der Verhältnismäßigkeit anpassen müssen. Auch hier belässt er es zulasten eines auch effektiven Minderheitenschutzes und im Ergebnis zulasten des Pluralismus – den er aber zu schützen vorgibt – bei einem weiten nationalen Beurteilungsspielraum. Schließlich müssen Gesichtsverschleierungsverbote auch unter dem Gesichtspunkt der intersektionalen, mittelbaren Diskriminierung betrachtet werden. Dies wäre auch in den Fällen vor dem EGMR die letzte Möglichkeit gewesen, ein Signal der Absenkung von Minderheitenschutz im Kontext der Verschleierungsverbote zu verhindern. Auf eine Diskriminierungsintention kommt es dabei nicht an. Die Wirkungen der Gesetze – ungeachtet ihres neutralen Wortlauts – treffen typischerweise muslimische Frauen, die den Vollschleier tragen. Dabei sind die Merkmale Religion und Geschlecht in ihrem intersektionalen Zusammentreffen entscheidend. Der EGMR hat es unterlassen, diese Dimension der Verbotsgesetze ernst zu nehmen. Bei einem auch vor Art. 14 EMRK erforderlichen intersektionalen Verständnis von Diskriminierung fällt auf, dass ein Verweis auf eine Rechtfertigung von Eingriffen in die Freiheitsrechte zu einem unzureichenden Diskriminierungsschutz führt: Auch bei mittelbarer, intersektionaler Diskriminierung sind diejenigen Maßstäbe anzusetzen wie bei einer unmittelbaren Diskriminierung, um wirksamen Schutz zu bieten. Ungleichbehandlungen aufgrund des Geschlechts bedürfen besonderer Rechtfertigungsgründe. Ein Verweis auf die Rechtfertigung von Eingriffen in Freiheitsrechte, die ihrerseits mehrfach auf einem Zugestehen weiter nationaler Beurteilungsspielräume beruht, kann nicht ausreichen. Hierfür bedarf es allerdings eines sensibleren und komplexeren Verständnisses von Diskriminierung im Rahmen der Prüfung von Art. 14 EMRK durch den EGMR.

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Hadith 25 Himar 26 Hijab 27 f. Koran 24

Burkini 71 Burqu 23 civilité 205, 209 ff. code social 205 f., 209 ff. Conseil Constitutionnel 71 Conseil d’État – französischer 47 – belgischer 79 Diskriminierung – mittelbare 281 – unmittelbare 281 – mehrfach 168, 281 – intersektionale 168, 281 f. Diskriminierungsverbot – EMRK 278 – CEDAW 171 – IPbpR 171 fraternité 202, 205, 209 Freiwilligkeit 38 Gefühlsschutz 250 ff., 257 f., 262 Gérin – Bericht 200 – Kommission 200 Geschlechtergleichheit 164 ff. Gilbab 24, 29

Laïcité 43, 47 ff. Margin of Appreciation 192, 232 Menschenwürde 170, 190 Neutralität 128 Neutralitätspflicht 61 offene und demokratische Gesellschaft 260 öffentliche Ordnung 267, 269, 271 öffentliche Sicherheit 188 f. ordre public 211 ff. Parität 126, 128 Pluralismus 154 ff., 271 Recht auf Achtung des Privatlebens 148 Recht auf private Lebensführung 179 Rechte und Freiheiten anderer 235, 237 ff. Religion 130 Religionsfreiheit 125 f. Reziprozität 210 Schrankenkatalog – Art. 8 EMRK 152 – Art. 9 EMRK 152

308 Schrankenleihe 224 Schutzbereich – Art. 8 EMRK 148 ff.

Stichwortverzeichnis Sittsamkeitspraxis 183 Symbol 174 Toleranz 126 f.

– Art. 9 EMRK 130 ff. Sichtbarkeitsmaxime 263, 291 ff.

vivre ensemble 63, 70