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German Pages [177] Year 2022
Barbara Bräutigam / Martina Hörmann / Michael Märtens (Hg.)
Alles Erfindung? Länderübergreifende Perspektiven auf Beratung und Psychotherapie
Barbara Bräutigam, Martina Hörmann, Michael Märtens (Hg.)
Alles Erfindung? Länderübergreifende Perspektiven auf Beratung und Psychotherapie
Vandenhoeck & Ruprecht
Mit 4 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Alberto Andrei Rosu/shutterstock.com Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-40813-7
Inhalt
Deutsche Gesellschaft für Beratung
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Michael Märtens, Barbara Bräutigam und Martina Hörmann
Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Sandra Wesenberg, Annett Kupfer, Silke Gahleitner und Frank Nestmann
Weder feindliche Schwestern noch beste Freundinnen: Beratung und Psychotherapie auf der Suche nach Eigenständigkeit und Kooperation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 René Reichel
Beratung in Österreich – ziemlich anders . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Martina Hörmann
Beratung in der Schweiz – zwischen Vielstimmigkeit und Fragmentierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Gillian Ruch
Nichts Neues unter der Sonne: Beziehungsbasierte Praxis in der britischen Sozialarbeit und ihre Beziehung zu Beratung und Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Ulrich Giesekus
Beratung, Psychotherapie und Klinische Psychologie im Vergleich zur sozialpsychologischen Landschaft der USA . . . . 83 Nicolle Alamo und Martina Fischersworring
Psychotherapie und Klinische Sozialarbeit als eine Form der Beratungspraxis: der chilenische Kontext . . . . . . . . . . . . . . . 93
Gladys K. Mwiti
Beratung und Psychotherapie – eine afrikanische Perspektive 109 Barbara Bräutigam
Symbiose oder Rivalität? Das komplizierte Geschwisterverhältnis zwischen psychosozialer Beratung und Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Michael Märtens
Beratung und Psychotherapie zwischen Recht und Forschung 137 Robert Holz
(Professionelle) Beratung und Psychotherapie – Eine Klientenperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Martina Hörmann, Michael Märtens und Barbara Bräutigam
Trialog der Herausgeber*innen: Perspektiven auf das Verhältnis von Beratung und Psychotherapie . . . . . . . . . . . 155 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174
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Inhalt
Vorwort
Die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Beratung und Psychotherapie ist insbesondere für die Deutsche Gesellschaft für Beratung (DGfB) von wesentlicher Bedeutung und befindet sich in einem beständigen Prozess. Die länderübergreifende Annäherung und Betrachtung des Verhältnisses von Beratung und Psychotherapie, mit der sich die Herausgeber*innen und Autor*innen dieses Bandes befassen, schafft aus unserer Sicht eine erweiterte Perspektive und wirft spannende neue Fragen auf. Der internationale Fokus der Autor*innen mit den europäischen Blickwinkeln, aber auch der Blick der Autorin*innen aus den USA, Chile und Südafrika, gibt viele Hinweise für den nationalen Dialog zwischen Beratung und Psychotherapie. Dieses Buch ist eine Ermutigung, die gesellschafts- und berufspolitische Bedeutung des Spannungsverhältnisses von Beratung und Psychotherapie konsequent in den Blick zu nehmen. Dabei sind sowohl die gemeinsamen Wurzeln als auch die Unterschiede durch die jüngere Entwicklung zu berücksichtigen, im Sinne der jeweiligen Eigenständigkeit. Ein konstruktiver Dialog kann die Souveränität beider Professionen fördern. Die Beratungsprofession hat die Chance, in diesem Austausch ihre Identität und Sichtbarkeit auszubauen. Als im Jahr 2004 die Deutsche Gesellschaft für Beratung gegründet wurde, setzte sich der Dachverband zum Ziel, die kontinuierliche Weiterentwicklung eines gemeinsamen Beratungsverständnisses für ihre Mitgliedsverbände und die Profilbildung professioneller Beratung zu schärfen. Die DGfB verpflichtete sich insbesondere zur Qualitätssicherung von Beratung. Mit der Verfassung eines verbändeübergreifenden gemeinsamen Beratungsverständnisses wollte die DGfB mit ihren Mitgliedern zur Gewährleistung von Standards für eine wissenschaftlich fundierte, professionelle Beratung beitragen. Vorwort
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Diese Standards beschreiben die Vielfältigkeit wie auch die Ebenen reflexiver Beratung und verstehen Beratung als eine »feste Institution der modernen Gesellschaft«. Diese intensiven Auseinandersetzungsprozesse zur Entwicklung und Erreichung einer gemeinsamen differenzierten Grundlage stellten bereits damals einen bedeutsamen Beitrag zur Identitätsentwicklung der Beratungsprofession wie auch der Berater*innen dar. Beratung will Menschen und Organisationen, die vor hohen Anforderungen und Ansprüchen stehen, in ihren Entwicklungen, Entscheidungen und ihrer Handlungsfähigkeit Unterstützung und Begleitung geben. Wissenschaftlich fundierte Aus- und Weiterbildungen befähigen Berater*innen zu einer verantwortungsbewussten Handlungskompetenz. Um ihre persönliche, soziale und fachliche Identität weiterzuqualifizieren, sichern Berater*innen ihr berufliches Handeln durch spezifische Verfahren der Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung. Seit 2021 steht für die DGfB die Entwicklung eines national anerkannten Qualifikationsrahmens für Beratung in der Vorbereitung. Mit der Einleitung dieses Prozesses hat sich der Dachverband zum Ziel gesetzt, Transparenz und Vergleichbarkeit bezogen auf die Kompetenzen und Fähigkeiten von Berater*innen einerseits und Qualifikationsabschlüssen andererseits auch auf europäischer Ebene zu erreichen. Fokussiert auf die Weiterentwicklung der Beratungsprofession wurde in den zurückliegenden Jahren der Auseinandersetzung mit Unterschieden und Gemeinsamkeiten von Beratung und Psychotherapie eher wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Im Vordergrund stand vielmehr die Suche nach der Eigenständigkeit von Beratung. Die Fragen, denen sich die Herausgeber*innen und Autor*innen dieses Bandes aktuell stellen, bestärken uns, diesen Diskurs und Dialog wieder aufzunehmen. Wir wünschen dem Buch Leser*innen, die sich inspirieren lassen zu einer vertieften und bereichernden Auseinandersetzung mit der »Erfindung« von Beratung und Psychotherapie. Beatrix Reimann, Marie-Luise Haake, Dr. Christian Bernreiter für den Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Beratung 8
Vorwort
Editorial Michael Märtens, Barbara Bräutigam und Martina Hörmann
Wer eine Reise macht, der*die hat viel zu erzählen. Macht man eine Reise durch die psychosoziale Versorgungslandschaft in verschiedenen Ländern, kommt man durch sehr unterschiedliche Landschaften, in denen auf jeweils eigene Weise Psychotherapie und Beratung kulturell verwurzelt sind. Das Buch ist zur Zeit der Coronapandemie entstanden. Berater*innen und Psychotherapeut*innen entdeckten – nicht von allen ersehnt – die Potenziale der digitalen Arbeitsweise. Sicherlich war das in dieser Zeit die zentrale Veränderung. Alte eingefahrene Selbstverständlichkeiten wurden über Nacht aufgegeben. Die Vorstellungen über die Bedeutung der Beziehung in Beratung und Psycho therapie mussten hinterfragt, relativiert und neugestaltet werden. Solche wichtigen Veränderungen konnten leider keinen Platz mehr in diesem Buch finden und von den beitragenden Autor*innen nicht mehr aufgegriffen werden. Corona hat uns aber gezeigt, wie unterschiedlich Hilfsangebote wahrgenommen werden können. Welche Kulturen brauchen unter welchen epochalen Umständen welche Formen des sich um Menschen Kümmerns und was wird dabei fokussiert oder ausgeschlossen? Warum sehen die verschiedenen Therapieschulen die Abgrenzung zwischen Beratung und Psychotherapie unterschiedlich streng? Die Entwicklung und die Abgrenzung von Beratung und Psychotherapie ist in den letzten Jahrzehnten in unterschiedlichen Ländern höchst divergent verlaufen. In Deutschland wird insbesondere angesichts der jüngsten Entwicklung durch die Psychotherapieausbildungsreform eine klare und andererseits auch rigide Trennung beider Felder forciert. Auch in der Schweiz ist wie in Deutschland Sozialarbeiter*innen der Zugang zu einer kassenrechtlich abrechenbaren Psychotherapieausbildung verwehrt, obwohl empirische Befunde keine bedeutsamen Unterschiede der BeEditorial
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rufsgruppen finden können (siehe Beitrag Märtens). Zugleich hat sich Beratung in den letzten Jahren zusehends als eigenständiges Format professionalisiert. Wenn man die Wahrheit gefunden hat, ist es gut, einmal die Perspektive zu wechseln, denn dann sieht sie wieder anders aus. Dieser Einstein zugeschriebene ironische Gedanke war leitend für die Auswahl der Beiträge dieses Buches. Es will aus unterschiedlichen Perspektiven das Bild von Beratung und Psychotherapie erhellen. Das, was uns innerhalb einer Gesellschaft so selbstverständlich erscheint, wird von anderen Kulturen für verrückt gehalten oder völlig anders gesehen. Die Auswahl der Beiträge allerdings strebt keinen weltweiten Überblick an. Im Beitrag von Sandra Wesenberg, Annett Kupfer, Silke Gahleitner und Frank Nestmann werden unterschiedliche Konzeptionen zum Verhältnis von Beratung und Psychotherapie herausgearbeitet. Durch den Beitrag gewinnen Lesende einen Überblick über den vielschichtigen Diskurs in Deutschland. Es werden unterschiedliche Geschwisterbeziehungen entfaltet, die entweder mehr Gemeinsamkeiten oder Unterschiede hervortreten lassen. Sie stellen die Lebensweltorientierung und die Vielfältigkeit der Beratung in den Mittelpunkt und plädieren für eine längst fällige gleichberechtigte Eigenständigkeit neben der Psychotherapie, deren Individuums zentriertheit kritisch hinterfragt wird. Der Beitrag von René Reichel zur Beratung in Österreich führt über eine Grenze, die während der Pandemie nicht immer überwindbar war, nach Österreich. Hier kann man die Folgen einer schon Anfang der 1990er Jahre erfolgten ausgeprägten Verrechtlichung von Psychotherapie und Beratung (Lebensberatung- und Sozialberatung) beobachten. Mit der gesetzlichen Trennung der »siamesischen Zwillinge« wurde Beratung bei Behandlung von krankheitswertigen Störungen für Beraterinnen untersagt. Im Unterschied zu Deutschland sind in Österreich 23 therapeutische Richtungen zugelassen. Es gibt allerdings immer noch keinen Gesamtvertrag, der die Inanspruchnahme der unterschiedlichen Verfahren auf Krankenschein regelt. Martina Hörmann, die die Leser*innen in die Schweiz führt, analysiert den komplexen Bereich der Akademisierung der Beratung an den Hochschulen und auf dem freien Markt. Mit Bezug auf den 10
Editorial
europäischen Qualifikationsrahmen wird der spezifische Weg der Schweiz, die 2013 einen formalen Beratungsabschluss im Feld der höheren Berufsbildung eingeführt hat, dargestellt und mit seinen Auswirkungen auf die Beratungslandschaft erörtert. Mit dem Beitrag von Gillian Ruch wird der deutschsprachige Raum verlassen und die Situation in Großbritannien erörtert. Dort sind Beratung und Psychotherapie noch nicht von dem Wohl und Wehe einer gesetzlichen Regelung eingeholt worden. Aus diesem rechtlichen Vakuum heraus beschreibt Ruch die Situation der S ozialen Arbeit in Großbritannien anhand ihres Ansatzes der »relationship- based practice«. Dieser Ansatz wird getragen von der zentralen Bedeutung der Beziehung zwischen Professionellen und Klient*innen und der daraus resultierenden Praxisreflexion. Ulrich Giesekus führt uns in den transatlantischen Raum, in die USA. Der Beitrag ist geprägt vom Geiste Carl Rogers, der wesentlich an der professionellen Sozialisation des Autors mitgewirkt hat. Da die einzelnen Staaten die gesetzlichen Regeln bestimmen können, die auch unterschiedlich strikt ausfallen, vergleicht Giesekus diese mit den unterschiedlichen Regelungen, die zwischen den EU-Mitgliedsstaaten bestehen. Er stellt heraus, dass es kaum Unterschiede zwischen den Angeboten in Beratungsstellen der allgemeinen Gesundheitsversorgung und niedergelassenen Psychotherapeut*innen gibt. Die Tätigkeit von Berater*innen in diesen Einrichtungen wird ebenfalls als Psychotherapie wahrgenommen. Der Beitrag von Nicolle Alamo und Martina Fischersworring aus Chile zeigt auf, welche Folgen der Diktatur in Chile (1973–1990) das Zusammenleben und somit auch die psychosoziale Landschaft immer noch nachhaltig prägen. Durch die Verfolgungen und das Verschwinden von Menschen waren die Tätigen in sozialen Feldern stark betroffen und in der Aufarbeitungszeit besonders gefordert. Auch die NS-Zeit hat ja mindestens drei Generationen in Deutschland und Österreich immer wieder erneut zu Reflexionen und thematischen Beschäftigungen mit der Vergangenheit gezwungen, und es bleibt immer noch unklar, welche Formen der Aufarbeitung für Versöhnung und zur Prävention zukünftiger Diktaturen für wen wie hilfreich sind. Von erschreckender Aktualität ist dieser Beitrag, der den politischen Verrechtlichungskampf in fast als archetypisch zu Editorial
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bezeichnende Muster zwischen Sozialer Arbeit, Medizin und Psychotherapie veranschaulicht. Mit dem Stichwort »Kampf« ergibt sich auch die Überleitung zum Beitrag von Gladys Mwiti, die 1994 in den Wochen nach dem dreimonatigen Völkermord der Hutu an den Tutsi in Ruanda an den Versöhnungsgesprächen beteiligt war. Sie ist jetzt am Oasis Afrika – Zentrum für Transformationspsychologie und Trauma, deren Gründerin sie ist, in Nairobi tätig. Sie stellt Afrika als einen resilienten Kontinent vor, der die Coronakrise weitestgehend ohne westliche Unterstützung auf seine Art gemeistert hat. Sie vermittelt eine Vorstellung von Synergien zwischen evidenzbasierter Psychotherapie und Beratung, deren Unterscheidung sie aufgrund der großen Herausforderungen als wenig relevant betrachtet, wenn es gelingt, eine afrozentrische psychosoziale Interventionsform mit den Prinzipien der Evidenzbasierung zu verbinden. Dazu vermittelt sie einen Einblick in afrikanische (kenianische) Traditionen entwicklungspsychologischer Grundlagen, die völlig anders als europäische Vorstellungen konzipiert sind. Barbara Bräutigam kommt nach diesen außereuropäischen Perspektiven zur Konstruktion von Beratung und Psychotherapie wieder auf den deutschsprachigen Diskurs zurück. Sie unternimmt – ausgehend von eigenen biografischen Bezügen – den Versuch, ein kompliziertes Geschwisterverhältnis zu entwirren und mit unvermeidlichen Fragen zu beantworten. Geschwisterverhältnisse sind ja auch ambivalent. Dabei kreisen die Überlegungen um die zentrale Bedeutung der Beziehung, die in beiden Formaten das Handeln der Beteiligten konstituiert. Der Beitrag von Michael Märtens schließt die Perspektiven aus professioneller Sicht mit einem Ausblick auf Beratung und Psychotherapie im Kontext Forschung und Recht ab. Er sieht beide Formate einerseits als Sklaven der Gesetze und andererseits als immer wieder durch Forschung infrage gestellt. Neben diesen »Expert*innen-Erfindungen« wird die Reise angereichert durch einen Beitrag von Robert Holz aus der Nutzerperspektive. Wobei der Nutzer hier auch ein Experte ist, der aufgrund seiner Biografie die Sicht eines theoretisch informierten Klienten einnimmt. 12
Editorial
Abschließend diskutieren die Herausgeber*innen Martina Hörmann, Michael Märtens und Barbara Bräutigam Aspekte kontroverser Sichtweisen auf das Verhältnis von Beratung und Psychotherapie. Dabei wird auch deutlich, dass die Ratsuchenden als Informationsquelle stärker berücksichtigt werden sollten. Wollte man tatsächlich ein Buch aus der Nutzerperspektive schreiben, würden sicherlich mehr als zehn Kapitel erforderlich sein, da die Nutzer*innen mindestens so vielfältig sind wie die Perspektiven aus unterschiedlichen Ländern.
Editorial
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Weder feindliche Schwestern noch beste Freundinnen: Beratung und Psychotherapie auf der Suche nach Eigenständigkeit und Kooperation Sandra Wesenberg, Annett Kupfer, Silke Gahleitner und Frank Nestmann
Das Verhältnis von Beratung und Psychotherapie wird in Deutschland seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert (u. a. Nestmann, 2002). Im Zuge der Psychotherapiegesetzesnovelle mit der universitären Konzeption der Direktausbildung hat dieser Diskurs neue Nahrung erhalten. Während sich die beiden Professionen in den USA und Großbritannien tendenziell produktiv zueinander entwickeln, ist das Verhältnis von Psychotherapie und Beratung hierzulande konzeptionell, praktisch und professionspolitisch angespannt. Das mag zum einen daran liegen, dass Historie, Systematik und Methodik beider Professionen in Theorie wie Praxis kaum trennscharf abzugrenzen sind: In einer mikroperspektivischen Momentaufnahme innerhalb eines laufenden Hilfeprozesses ist unseres Erachtens beispielsweise oft schwer unterscheidbar, ob es sich um eine psychotherapeutische Sitzung oder einen Beratungstermin handelt. Vor allem aber die Partikularinteressen der verschiedenen Disziplinen (Psychologie, Soziale Arbeit, Medizin, Pädagogik) und oft generalisierte Zuständigkeitsansprüche der Professionen für bestimmte Interventionsfelder und -funktionen erschweren und verunmöglichen letztlich eine gute und kooperativ abgestimmte Versorgung der Bevölkerung. Neben vielen Überschneidungen lassen sich für beide Professionen eigenständige Identitäten identifizieren, die Beratung und Psychotherapie durchaus auch in gedeihlicher Vernetzung und Kooperation vorstellbar machen. Voraussetzungen dafür sind allerdings ein Explizieren der Aufgaben, Settings und Vorgehensweisen von Beratung in Abgrenzung zu den aktuellen Entwicklungen klinischpsychotherapeutischer Orientierungen einerseits und eine dezidiert psychosozial und damit interdisziplinär angelegte Ausrichtung von Beratungswissenschaft und Beratungspraxis andererseits. Entlang der sich rasant entwickelnden Anforderungen an den modernen MenWeder feindliche Schwestern noch beste Freundinnen
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schen bezüglich Lebensführung und Lebensbewältigung – etwa im Zuge der Globalisierung, der Verbreitung neuer Technologien oder aktuell der (Neu-)Erfahrung von Pandemien – haben sich die Aufgaben und Anforderungen an Beratung vervielfacht. Und da sich Psychotherapie einem stark klinisch-medizinisch ausgerichteten Modell entsprechend und bewusst in »lebensweltabgehobener Praxis« (Engel u. Nestmann, 2020, S. 30) zunehmend auf psychische Symptomatik, Störung und ihre Behebung bei Einzelnen oder im Familienkreis fokussiert, klafft im psychosozialen Bereich eine immer größere Versorgungslücke. Die Beratungsprofession ist wiederum – in ihrem zurückhaltenden Selbstbewusstsein, vor allem aber in einem strukturellen Mangel an Anerkennung, Einsatzdomänen, Abrechnungsmöglichkeiten etc. – in Deutschland nicht so weit etabliert, dass sie diese Leerstellen füllen könnte. Dies steht nicht nur im Widerspruch zu profilierten angloamerikanischen Vorbildern, sondern auch zu bereits zahlreich vorliegenden konzeptionellen Ausarbeitungen im psychosozialen Feld (u. a. Pauls u. Reicherts, 2013) und einer durchaus vorhandenen psychosozialen Beratungsidentität in mancher Praxis. Dieser Beitrag nimmt zunächst eine Standortbestimmung des Verhältnisses von Beratung und Psychotherapie vor. Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der beiden Professionen werden dabei auf fünf Ebenen differenziert. Über diese Differenzierung der Professionsrichtungen erfolgt eine Standortbestimmung aktueller psychosozialer Beratung, die in einen Ausblick zu deren Bedeutung und Möglichkeiten mündet.
Das Verhältnis von Psychotherapie und Beratung Die aktuelle Definition des wissenschaftlichen Beirats Psychotherapie (WPG, 2019), es handle sich »aus wissenschaftlicher Sicht um ein Psychotherapieverfahren […], dessen Durchführung in der Praxis zur Heilung oder Linderung von Störungen mit Krankheitswert führt« (S. 5), weist deutliche Bezüge zu der klassischen Begriffsbestimmung durch Strotzka (1978) auf. Psychotherapie ist demnach »ein bewusster und geplanter interaktioneller Prozess zur Beeinflussung von Verhaltensstörungen und Leidenszuständen, die in 16
Sandra Wesenberg, Annett Kupfer, Silke Gahleitner und Frank Nestmann
einem Konsensus […] für behandlungsbedürftig gehalten werden, mit psychologischen Mitteln (durch Kommunikation) […] in Richtung auf ein definiertes, nach Möglichkeit gemeinsam erarbeitetes Ziel (Symptomminimalisierung und/oder Strukturänderung der Persönlichkeit) mittels lehrbarer Techniken auf der Basis einer Theorie des normalen und pathologischen Verhaltens« (S. 4). Als notwendig wird in diesem Kontext auch eine »tragfähige emotionale Bindung« erachtet (S. 4). Psychotherapie ist eine anerkannte Leistung der gesetzlichen Krankenkassen und damit als Heilbehandlung von »Störungen mit Krankheitswert« gesetzlich verankert. Entlang dieser Verortung finden sich bereits erste Hinweise auf Abgrenzungen. So sind z. B. »Tätigkeiten, die nur die Aufarbeitung sozialer Konflikte […] zum Gegenstand haben« (§ 1 Absatz 2 PsychThG) explizit aus dem Leistungsspektrum von heilkundlicher Psychotherapie ausgeklammert. Beratung hingegen zielt auf die (Wieder-)Herstellung der Bewältigungskompetenzen der Klientel und auf eine Lösung eben dieser sozialen Konflikte. Auch Beratung ist »eine spezifische Form der Kommunikation« (Nestmann u. Sickendiek, 2018, S. 110), definiert für sich jedoch ein breiteres Leistungsspektrum: »Eine Person ist einer anderen Person dabei behilflich, Anforderungen und Belastungen des Alltags oder schwierigere Probleme und Krisen zu bewältigen. […] Beratung kann präventive, akut problembewältigende und rehabilitative, wieder normalisierende Aufgaben erfüllen. […] Beratung zielt auf das Fördern und (Wieder-)Herstellen der Bewältigungskompetenzen der KlientInnen selbst und ihrer sozialen Umwelt, ohne diesen die eigentliche Problemlösung abnehmen zu wollen« (S. 110 f.). Die Professionalisierung von Beratung in Deutschland ist bei Weitem noch nicht abgeschlossen, auch wenn »international längst eine akademische Profilbildung eingeläutet« (Schubert, Rohr u. Zwicker-Pelzer, 2019, S. 16) ist. Was aber bedeutet dies nun für das Verhältnis von Beratung und Therapie? Hierzu existiert seit Langem eine Reihe festgefügter Vorstellungen. Absolute Kongruenz (vgl. (a) in Abbildung 1) wird dort angenommen, wo die Begriffe wechselseitig genutzt werden oder renommierte Autor*innen (wie Rogers, 1942) explizit formulieren, es gäbe keinen Unterschied (Überblick aktuell z. B. Feltham u. Hanley, Weder feindliche Schwestern noch beste Freundinnen
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2017). Das mag einerseits am Modell einer stark psychologisch und therapeutisch geprägten Beratung in Großbritannien (counselling) liegen, andererseits aber auch Folge eines breit und psychosozial angelegten Verständnisses von Beratung in den USA (counseling) sein (Nestmann, 2004/2014; Schubert et al., 2019). Andererseits gibt es die entgegengesetzte Ansicht, psychosoziale Beratung und Psychotherapie seien – trennscharf – unterscheidbare professionelle Interventionsformen und Versorgungssphären, in sich geschlossen, voneinander abzugrenzen in ihrer Theorie und Praxis (vgl. (b) in Abbildung 1). Die aktuellen Entwicklungen entlang der Psychotherapiegesetzesnovelle haben diese Position in Deutschland erneut gefördert. Mit dem Gesetz zur Reform der Psychotherapeutenausbildung (PsychThGAusbRefG) vom 15. November 2019, in Kraft getreten zum 1. September 2020, wird die Ausbildung von Psychotherapeut*innen in Form eines Direktstudiums an Universitäten (das für Absolvent*innen einen Berufsabschluss als Psychotherapeut*in ermöglicht) sowie einer anschließenden Weiterbildung realisiert, die den Zugang zum Versorgungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung eröffnet. Die Gesetzesnovelle markiert unseres Erachtens. eine deutliche Grenzziehung zwischen Psychotherapie und anderen Formen psychosozialer Hilfen, und Uni- versus Multidisziplinarität wird nun zu einem zentralen Unterscheidungskriterium zwischen Beratung und Psychotherapie.
(a) Kongruenz
(b) Differenz
(d) Integration
(c) Ableger
(e) Überschneidung
Abbildung 1: Modelle zum Verhältnis von Beratung und Psychotherapie (Quelle: Kupfer, Wesenberg, Gahleitner u. Nestmann, 2021, S. 26)
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Sandra Wesenberg, Annett Kupfer, Silke Gahleitner und Frank Nestmann
Eine zusätzliche, eher unreflektierte, jedoch weit verbreitete Vorstellung ist die einer Beratung als »›Ableger‹ von Psychotherapie« (Nestmann, 2002, S. 403; Hervorh. v. Verf.), sozusagen »so etwas wie eine ›kleine Psychotherapie‹« (S. 403), orientiert an Konzepten der Psychotherapie, aber nur für weniger schwere Störungen geeignet, da sie weniger in die Tiefe gehe, kürzer andauere, in weniger abgeschlossenen Settings stattfinde und daher auch von weniger gut ausgebildeten Fachkräften praktiziert werden könne (u. a. Engel, 2003). Diese Vorstellung (vgl. (c) in Abbildung 1) impliziert, Psychotherapeut*innen könnten/sollten Berater*innen ausbilden, die dann selbst jedoch nicht therapieren, sondern auf Grundlage der therapeutischen Kenntnisse »nur beraten« dürften – ein durchaus lukratives Feld der Fort- und Weiterbildung therapeutischer Beratung. Dem Integrationsmodell (vgl. (d) in Abbildung 1) folgend wird Beratung unter dem Label »psychotherapeutische Beratung« als Teil von Psychotherapie betrachtet. Eine Vielzahl von Beratungsstellen arbeitet entlang dieser Perspektive mit psychotherapeutisch geprägten Ansätzen, Methoden und Techniken und den jeweiligen Persönlichkeits-, Störungs- und Veränderungskonzepten. Umgekehrt lässt sich Psychotherapie auch als ein fokussiertes Sonderelement im Beratungskontext begreifen – sozusagen als »Spezialfall sozialer Beratung« (Crefeld, 2002, S. 32) in Form einer therapeutischen »Vertiefung« von Beratungsprozessen. Das Überschneidungsmodell (vgl. (e) in Abbildung 1) geht dagegen neben vielen historischen, methodischen und systematischen Gemeinsamkeiten von eigenständigen Identitäten der beiden psychosozialen Interventionsformen aus. Beratung und Psychotherapie werden hier als zwei theoretisch wie empirisch differenzierbare Wissenschafts- und Praxisbereiche mit eigenständigen Traditionen, Funktionen und Zuständigkeiten sowie eigenen professionellen Selbstverständnissen und Profilen gesehen, bei denen jedoch in fast allen Dimensionen Ähnlichkeiten und Kongruenzen festzustellen sind (Jones- Smith, 2021; Nestmann, 2002; Wälte u. Lübeck, 2018). Angelehnt an dieses Modell lassen sich psychosoziale Beratung und Psychotherapie bezüglich der Dimensionen Anlässe, Settings und Kontexte, Funktionen und Prozesse, Unterstützungsformen und -beziehungen, Zuständigkeiten und Organisationsformen als Pole von Kontinuen beWeder feindliche Schwestern noch beste Freundinnen
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schreiben, die große Schnittflächen bilden und dennoch deutliche (von der jeweiligen Beratungs- bzw. Therapiekonstellation abhängige) Tendenzen zur einen oder anderen Seite zeigen (Nestmann, 2002; vgl. auch Wälte u. Lübeck, 2018). Nicht für jede Beratungs- oder Therapiekonstellation sind diese jeweiligen Tendenzen allerdings zwingend.
Differenzierungskontinuen von Psychotherapie und Beratung Beratungs- und Therapieanlässe Beratung hat Belastungen, kritische Lebensereignisse und Krisenbewältigung bzw. (Neu-)Orientierung zum Gegenstand. Psychotherapie bearbeitet dagegen Symptome psychischer Störungen. Zur Veranschaulichung lässt sich zwischen einer »Innenpolitik« von Therapie (Mensch im Verhältnis zu sich selbst) und einer »Außenpolitik« von Beratung (Mensch im Verhältnis zu seinen Lebenskontexten) unterscheiden (Nestmann, 2002, S. 405). Anstelle von PathogeneseDiagnostik und Orientierung an Defiziten steht für Beratung Ressourcen- und Lösungsorientierung im Vordergrund (Kupfer, 2016). Die Dualität der Bearbeitung von Krankheiten in Therapie versus Krisen in Beratung wird jedoch nicht nur von einigen Beratungstheoretiker*innen zunehmend aufgeweicht, sie entspricht auch schon lange nicht mehr der aktuellen Versorgungslandschaft. Beratung arbeitet hier und heute häufig mit psychosozial hoch belasteter Klientel, für die sich Psychotherapie als zu hochschwellig erweist. Für die Ehe- und Familienberatung konnten Hahlweg und Klann bereits in den 1990er Jahren zeigen, dass Ratsuchende hier häufig neben stimmungs- und emotionsbezogenen Problemen auch affektive Beeinträchtigungen (zwei Drittel der über 2.139 Befragten) und Angststörungen angeben, häufig unter vegetativen Störungen (über die Hälfte) leiden sowie Probleme im Sozialkontakt beschreiben. »Es ist […] davon auszugehen, daß sich unter dem Klientel der Beratungsstellen sowohl Klientinnen mit klinisch relevantem als auch mit subklinischem Schweregrad der entsprechenden Störungsbilder befinden« (Klann, Hahlweg, Steinecke u. Liebscher, 1994, S. 61; Hahlweg u. Klann, 1997). Die gegenwärtige Forschung zur sogenannten Systemsprenger-Problematik zeigt weiterhin, dass multiproblembelastete (und damit zumeist be20
Sandra Wesenberg, Annett Kupfer, Silke Gahleitner und Frank Nestmann
sonders »kranke« Klient*innen) von Psychotherapie kaum noch profitieren (Giertz, Große u. Gahleitner, 2021; Gahleitner u. Wesenberg, 2019). Beratungsangebote bieten hier alternative Möglichkeiten (vgl. u. a. Schneider, Frank, Böckle, Priet u. Gahleitner, 2017; Kupfer et al., 2021; vgl. bereits Rauchfleisch, 1996/2004). Beratungs- und Therapiesettings bzw. -kontexte
Psychotherapie bedarf einer medizinischen Indikation und steht somit immer im Kontext einer diagnostizierten Beeinträchtigung mit Krankheitswert. Sie fokussiert daher bewusst auf Störungen des persönlichen Denkens, Fühlens und Handelns eines Individuums und/oder dessen Kommunikation im System Familie (Nestmann, 2002). Die Nähe zum Lebensalltag spielt dabei nicht notwendig eine bedeutende Rolle (Großmaß, 2007), wenngleich dies stark zwischen verschiedenen Therapierichtungen und -settings variiert. Beratung findet dagegen lebensweltnah in variablen Settings, in personalen, gruppen- und netzwerkbezogenen Zusammenhängen bis hin zu politischen Feldern statt (Feltham u. Hanley, 2017). Entsprechend ist Psychotherapie spezialisierter und hochschwelliger, während Beratung als offener und niedrigschwelliger beschrieben werden kann. Dies gilt sowohl hinsichtlich der Zugänge als auch bezüglich der Settings, die neben formalisierter Beratung bewusst auch halbformalisierte und informelle »Beratung zwischen Tür und Angel« (Hollstein-Brinkmann u. Knab, 2016) einschließt. Dies ermöglicht eine weitergehende Berücksichtigung von Gerechtigkeitsperspektiven (u. a. Knab, 2016), indem Zugangschancen eröffnet und niedrigschwellige Unterstützungssettings genutzt werden können. In den Angeboten halbformalisierter Beratung spiegeln sich daher die Inhalte und Ziele der Lebensweltorientierung (Thiersch, 2004/2007) und das Bewusstsein, dass komplexe Problemlagen ohne eine Förderung der individuellen Lebenslage mit ihren soziopsychischen Faktoren ebenso wenig beantwortet werden wie durch reine Symptomfokussierung (Lammel u. Pauls, 2017). Funktionen von Beratung und Psychotherapie
Hinsichtlich der Funktionen und Zielsetzungen von Psychotherapie und Beratung lässt sich ein großes Überschneidungsspektrum ausWeder feindliche Schwestern noch beste Freundinnen
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machen (Feltham u. Hanley, 2017; McLeod, 1993/2004, 2019). Beide Hilfeformen zielen auf eine Verringerung subjektiven Leidens und die Verbesserung der Lebensqualität. Dennoch fokussiert Psychotherapie in ihrem Setting wie ihrer Methodik stärker auf die Wiederherstellung von Gesundheit. Dezidierte Schwerpunkte beraterischen Handelns sind hingegen Verhaltens- und Verhältnisprävention, bevor weitergehende Problementwicklungen gegebenenfalls kurativ-heilender, das heißt therapeutischer Intervention bedürfen (Engel, Nestmann u. Sickendiek, 2018). Beratung zielt zudem auf rehabilitative, lebenspraktisch-informationsbezogene und entwicklungsfördernde Unterstützung (Pauls u. Reicherts, 2013). Es geht also darum, innerpsychische Belastungen und Konflikte sowie Lebensbedingungen des Individuums verändern zu helfen – inklusive der gesellschaftlich vorliegenden Chancen- und Netzwerkstruktur (Kupfer, 2015; Kupfer u. Nestmann, 2018). Beratung soll z. B. auch in Abkehr von einer »expertokratischen lebensweltfremden Perspektive« (Engel et al., 2018, S. 104) einen reflektierten Umgang mit Informationen in der heutigen globalisierten und mediatisierten Welt ermöglichen. Auch Berater*innen müssen daher lernen, mit Informationsüberflutung, Komplexität, Nichtwissen, Vieldeutigkeit und Paradoxien (Schütze, 2000) umzugehen. Daran wird sichtbar, dass Beratung keine allein psychologische Domäne ist (vgl. aktuell Düßler, 2019a, 2019b; Ortmann, 2018), denn Pädagogik und Soziale Arbeit haben sich explizit viel stärker mit den antinomischen Grundstrukturen professionellen Handelns beschäftigt (vgl. im Folgenden). Interventionsformen in Beratung und Psychotherapie Die Debatte um allgemeine Wirkfaktoren in psychotherapeutischer und psychosozialer Hilfe und Unterstützung (»common factors«; u. a. Grawe, 1998) lässt Beratung und Psychotherapie zunächst als Kontinuum und bezüglich integrativer oder schulenübergreifender Orientierungen (Engel, Nestmann u. Sickendiek, 2004/2014; Nestmann, 2002) als verbunden begreifen. Denn Psychotherapie und psychosoziale Beratung verfügen über vergleichbare Methoden-Sets (Großmaß, 2007). Beide können daher situativ deckungsgleich oder sehr ähnlich sein. Dennoch besteht ein gravierender Unterschied durch den vergleichsweise hohen Formalisierungsgrad der Psycho22
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therapie. Wampold, Imel und Flückiger (2018) konstatieren hier »eine Verschiebung von den individuellen Erfahrungen des selbstbestimmten ›Klienten‹ hin zu einem Fokus auf die Pathologie des ›Patienten‹« (S. 59). Entlang der evidenzbasierten Therapierichtlinien ist der Therapiebereich zudem weiterhin stark schulenorientiert (u. a. analytisch, verhaltenstherapeutisch, systemisch) organisiert. Dies ist zwar erstaunlich angesichts der zahlreichen Psychotherapiestudien, die nur minimale Wirkungsdifferenzen zwischen den schulenspezifischen Herangehensweisen ausweisen (Wampold et al., 2018). Dennoch bleibt Psychotherapie eng auf jeweils bestimmte Methoden begrenzt, und u. a. die rechtliche Einbettung von Psychotherapie als heilkundliches Verfahren »erzwingt« in Deutschland nach wie vor die Zuordnung zu einem therapeutischen Richtlinienverfahren. Psychosoziale Beratung dagegen bedient sich traditionellerweise unterschiedlicher Verfahren und Hilfestrategien und die Beratungspraxis ist durch eine schulenübergreifende und pragmatisch-eklektische Handhabung unterschiedlicher Methoden, Techniken und Ansätze sowie durch lebensweltliche, alltagsorientierte und auch gesellschaftsreflexive Perspektiven geprägt (Engel, 2003). Beraterische und therapeutische Zuständigkeiten und Organisationsformen
Bezüglich der disziplinären Zuständigkeiten und Organisationsformen lassen sich Psychotherapie und Beratung am eindeutigsten trennen. Hutter (2003) pointiert sarkastisch: »Psychotherapie ist das, was die Krankenkasse zahlt […], ähnlich unaufgeregt lässt sich psychosoziale Beratung als Dienstleistung von Beratungsstellen definieren« (S. 132). Festhalten lässt sich: Während Psychotherapie sich auf den klinisch-psychologischen und medizinischen Gesundheitssektor bezieht, findet Beratung hinsichtlich ihrer Organisations- und Institutionalisierungsformen häufig auch in nichtklinischen Feldern statt: »Psychotherapists work largely in clinical and medical settings, while counsellors work across a wider range of arenas including educational institutions and the workplace« (Woolfe, 1998, S. 6). Für ihre umfassende Hilfeleistung speist und organisiert sich Beratung in ihren theoretischen Modellen und Handlungskonzeptionen interdisziplinär und multiprofessionell. Sie ist in mehrere LeitwissenschaftsWeder feindliche Schwestern noch beste Freundinnen
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disziplinen wie Philosophie, Psychologie, Soziologie und Pädagogik eingebunden (vgl. u. a. McLeod, 1993/2004, 2019; Nestmann, Engel u. Sickendiek, 2004/2014a, 2004/2014b). Psychotherapie findet hingegen regelhaft unidisziplinär klinisch-psychologisch bzw. bidisziplinär in einer ärztlich-psychologischen Orientierung statt (Nestmann, 1997). Mit der Psychotherapiegesetzesnovelle 2020 wurde hier eine noch deutlichere Grenzziehung markiert.
Perspektiven psychosozialer Beratung Übergreifend wird deutlich: Eine klare trennscharfe Verortung von Psychotherapie und Beratung auf den diskutierten Kontinuen vorzunehmen, ist kaum möglich. Beide professionellen Interventionsformen haben fast mehr Gemeinsamkeiten als nachweisliche, konturierte Unterschiede. Beide beinhalten z. B. interpersonale Kommunikationsprozesse und regen zur Selbstbetrachtung an. In einem inneren persönlichen Prozess der Anregung, des Herausarbeitens von neuen Entwicklungen und Möglichkeiten, der Veränderung und Bestätigung wollen Beratung und Psychotherapie Menschen dabei helfen, Aspekte ihres Selbst, ihrer Beziehungen oder ihres Kontextes zu erkennen, zu evaluieren, zu akzeptieren oder zu ändern. Beide versuchen, Adressat*innen dabei zu unterstützen, Dinge (für sich im alltäglichen Leben) zu ändern, zu verstehen und besser zu machen – nur tun Beratung und Therapie dies über teilweise unterschiedliche Herangehensweisen und mit verschiedenen Zielen und Aufträgen (Peavy, 2006; vgl. auch Redlich, 1997). Dennoch erweist es sich als sinnvoll, über die beschriebenen Dimensionen das Verhältnis beider Professionen näher zu bestimmen. Denn die angeführten Unterschiedlichkeiten bezüglich der Anlässe, Settings und Kontexte, Funktionen, Interventionsformen und Methoden sowie Zuständigkeiten und Organisationsformen sind in der Realität von Beratung und Psychotherapie an vielen Stellen existent und für Fachkräfte wie Klient*innen in der konkreten Praxis auch relevant. Das bedeutet: Sie benötigen bei den Fachkräften vor Ort unterschiedliche Kompetenzbestände. Für die psychosoziale Beratung lässt sich dies beispielhaft an fünf Bedeutungsfeldern herausarbeiten. 24
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Bedeutung der Bedarfsgerechtigkeit
Entlang der aktuellen Entwicklungen der Psychotherapiegesetzesnovelle in Richtung einer zunehmenden Hochschwelligkeit und der dadurch nun deutlicheren Grenzziehung zwischen Psychotherapie und Beratung hat sich die Notwendigkeit für psychosoziale Beratung in Praxis wie Theoriebildung vergrößert. Insbesondere die gesellschaftlichen Entwicklungen verdeutlichen einen ungedeckten Versorgungsbedarf. Modernisierungsrisiken und Bedrohungen einer äußeren und inneren Desorientierung und Verunsicherung sowie die Chancen und Möglichkeiten einer eigenen Entscheidung, eigenen Wahl, eigenen Selbstgestaltung zu nutzen, sind große aktuelle Anforderungen an den modernen Menschen (Keupp, 2016). Modernisierungsgewinner*innen können interessanter, flexibler, vielfältiger leben und arbeiten (Sennett, 1998/2000) als früher. Modernisierungsverlierer*innen dagegen bleiben kurz- oder langfristig ausgegrenzt und marginalisiert (Nestmann, 1996, ausführlicher Engel u. Nestmann, 2021). Für Menschen, die durch physische wie psychische Krankheit oder gesellschaftliche Benachteiligungen beeinträchtigt sind, bewirken Risiken, soziale Differenzierungsprozesse und soziale Exklusionsprozesse umfassenden Versorgungs- und Beratungsbedarf. Beratung muss daher die Lebensführung und Lebensbewältigung von immer mehr Menschen in immer mehr Bereichen flankieren (Kupfer, 2020). Die Bearbeitung sozialer Konflikte bleibt im Leistungskatalog der Psychotherapie explizit ausgeklammert und es bedarf daher »einer Entwicklung adäquater Reaktions- und Interventionsformen, um auch […] benachteiligten Menschen in ihren aktuellen Lebenskontexten angemessene Unterstützung bieten zu können« (Gahleitner u. Pauls, 2019, o. S.). Psychosoziale Beratung kann und muss hier tätig werden und basiert dabei auf den angesprochenen interdisziplinären und multimethodischen Konzepten, Kompetenzen und Vorgehensweisen. Bedeutung der Vertrauens- und Beziehungsdimension
In Psychotherapie wie Beratung finden Gespräche statt, die Intimes und Schmerzhaftes berühren. Beide Hilfeprozesse initiieren daher eine anspruchsvolle professionelle Beziehung zwischen Hilfesuchenden und ausgebildeten Helfer*innen und implizieren Weder feindliche Schwestern noch beste Freundinnen
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gleichermaßen sehr hohe Anforderungen an die Ausbildung thera peutischer oder beraterischer Professionalität (Paulick u. Wesenberg, 2020; Großmaß, 2004/2014). Der Erfolg ist maßgeblich an eine authentische, dialogische, emotional tragfähige, von Nähe geprägte und dennoch reflexiv und fachlich durchdrungene Beziehungsgestaltung gebunden (Gahleitner, 2020; vgl. auch Norcross u. Lambert, 2018). Interessanterweise kann man in der Fachdiskussion jedoch immer wieder den Mythos aufspüren, der an das Missverständnis von »Beratung als ›kleiner Therapie‹« anschließt: Mit dem Heilungsanspruch der Psychotherapie seien längere und tiefere Beziehungsverhältnisse und mithin eine fundiertere Qualifizierung der Helfer*innen assoziiert (Jones-Smith, 2021; Nestmann, 2002; Woolfe, 1998). Diese Annahme entspricht jedoch keineswegs der Praxis- und Versorgungsrealität, in der sich ein beträchtlicher Teil der Klientel als multifaktoriell »zu krank« für eine psychotherapeutische Intervention erweist und vom dortigen System nicht aufgenommen wird (Giertz et al., 2021). Häufig scheint die Kluft zu beziehungserschütterten Menschen (in Beratung wie Psychotherapie) zunächst unüberwindlich. Sie haben das Vertrauen und ihre Bindungsfähigkeit in Menschen und Institutionen oft nahezu verloren, sind »Hard-toreach-Klientel« (u. a. S. 7) geworden, und eine initial widerständige, nicht-kooperative Haltung in den Hilfesettings erscheint vor dem Hintergrund biografischer Erfahrungen überaus erwartbar und legitim (Paulick u. Wesenberg, 2019). Berater*innen sind hier besonders gefordert, Vertrauensbrücken (wieder auf) zu bauen. Dies zeigt die Relevanz bindungskompetenter Vertrauensarbeit in der Beratung – sowohl auf der Ebene der dyadisch-professionellen Hilfebeziehung als auch bezogen auf die sozialen Netzwerke (Kupfer et al., 2021; Gahleitner, 2020; Kupfer, 2015). Bedeutung der sozialen Unterstützungsdimension
Die Intervention kann sich also nicht in individuellen Maßnahmen und einer dyadischen Beratungsstruktur erschöpfen, sie muss immer die umgebenden Netzwerke, Umfeld-, Umwelt- und Lebensweltaspekte einbeziehen (Kupfer, 2015). Innerhalb der psychosozialen Beratung sensibilisiert insbesondere »der Anerkennungsbegriff […] für die schmerzhaften Erfahrungen verhinderter und blo26
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ckierter sozialer Teilhabe« (Schoneville u. Thole, 2009, S. 138). In den alltäglichen Lebenszusammenhängen, den sozialen Ökologien und Settings, in den ökonomischen Bedingungen und sozialen Beziehungsstrukturen – und seien sie noch so defizitär und eingeschränkt – können den Hilfesuchenden auf diese Weise Chancen eröffnet werden, innerhalb einer einbettenden Gemeinschaft biografische Verletzungen zu aktualisieren und schonend neue Erfahrungen zu machen, »in Settings, in denen sie Anerkennung und Selbstwirksamkeit jenseits ihres bisherigen Verhaltens spüren und erfahren können« (Böhnisch, 2019, S. 113). Auf diese Weise lassen sich sowohl neue Möglichkeiten von »Handlungsfähigkeit« (S. 112 f.) entwickeln als auch persönliche Beziehungen und soziale Netzwerke fördern, die individuelle wie kollektive Entwicklungs- und Entfaltungschancen bieten oder Räume eröffnen, in denen Menschen auch ihr »So-Sein« oder ihr »Anders-Sein« leben können. Die Einbettung in soziale Unterstützungsnetzwerke und deren Berücksichtigung im Prozess spielen eine zentrale Rolle für Beratung: Soziale Einflussnahmen auf Personen und ihre Bewältigungsanstrengungen finden bereits lange vor der Inanspruchnahme professioneller Hilfe statt und beeinflussen (flankierend, verstärkend oder auch störend) den gesamten Beratungsprozess. Der Erfolg professioneller Maßnahmen und das Gelingen einer beraterischen Intervention sind überwiegend auch von »extratherapeutischen« Faktoren, den sozialen Netzwerkund Unterstützungsressourcen abhängig und werden nicht nur von Beratenden, ihrer Beziehung zu den Klient*innen und den von diesen eingesetzten Methoden beeinflusst (Nestmann, Kupfer u. Weinhold, 2014; Kupfer, 2015; Weinhold, Kupfer u. Nestmann, 2014). Bedeutung der kritischen Intersektionalitätsperspektive
Dass »psychische Problemlagen in objektive gesellschaftliche Zusammenhänge eingebunden sind« (Keupp, 1978, S. 220) und es um die Entwicklung von Bewältigungsmöglichkeiten geht, »die über die bloße Verfügbarkeit von affirmativen Grundqualifikationen reibungslosen Funktionierens in einer auf kapitalistische Rationalität hin ›normalisierten‹ Gesellschaft hinausreichen« (S. 220), wurde vor einigen Jahrzehnten wesentlich lebendiger diskutiert also heute. Konzepte zur »gesellschaftlichen Lesbarkeit« (Keupp, 2013, S. 1737) psychiWeder feindliche Schwestern noch beste Freundinnen
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scher Probleme sowie die Forderung nach einer »Überwindung zunehmender ›Gesellschaftsblindheit‹ oder ›sozialen Amnesie‹« (Keupp, 2016, S. 7) sind innerhalb der aktuellen Psychotherapieentwicklungen nahezu vollständig verloren gegangen. Für den Beratungsbereich sind sie jedoch umso aktueller – und auch entlang der breiten disziplinären Verwurzelung programmatisch. Es ist daher nicht nur möglich, sondern nötig, inner- und interdisziplinär aus dem Schatten von Psychotherapie und dem Rahmen der Klinischen Psychologie herauszutreten, wie es die Counsel(l)ing Psychology, Educational Counsel(l)ing und Counsel(l)ing generell getan haben. Psychosoziale Beratung versteht sich lebensweltorientiert und chancen-strukturorientiert, z. B. in Form antirassistischer Beratung, Opferberatung, feministischer Beratung etc. (vgl. u. a. Sickendiek, 2020; Enge u. Gahleitner, 2020; Kupfer, 2018; Sickendiek, 2007). Die Gerechtigkeitsperspektiven von Knab (u. a. 2016) verweisen hier auf das Paradebeispiel einer Niedrigschwelligkeit über offene, flexible oder auch mobile Beratungskonstellationen und -settings wie z. B. eine fast ubiquitäre Möglichkeit der Tür-und-Angel-Beratung. »Counselling diversity« (Nestmann, 2008, S. 89; vgl. auch Sickendiek, 2007, 2020) – also eine Beratung, die sich unterschiedlichsten Nutzer*innengruppen und deren spezifischen Anliegen geöffnet hat – wird so erst ermöglicht: »Beratung muss vielfältig für unterschiedliche Klienten attraktiv sein im Zugang, Ablauf, Art und Form der Hilfe, Verbindlichkeit, Offenheit oder Geschlossenheit des Settings etc.« (Nestmann, 2008, S. 89). Der Zugang zu mehr gesellschaftlicher Teilhabe misst sich somit im Beratungsbereich insbesondere an ihrer Inklusivitäts- und Intersektionalitätsperspektive (Großmaß u. Schmerl, 2004; Kupfer, 2019; vgl. auch Engel u. Nestmann, 2020). Bedeutung des Umgangs mit Ungewissheit
Psychosoziale Beratung in ihrer aktuellen Ausgestaltung zielt auf eine reflexive Handlungsfähigkeit, die auch Ambivalenz, Ungewissheit und Handlungsunsicherheit einschließt (Tiefel, 2004; vgl. auch Schütze, 2000). In einer Epoche allgegenwärtiger Nichtsicherheit in allen Lebensbereichen kann und muss Beratung dazu beitragen, mehr persönliche Sicherheit (z. B. in Entscheidungen) herzustellen, wo dies möglich ist, insbesondere muss sie aber auch Widersprüch28
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lichkeiten und Ungewissheit in ihren Hintergründen verstehbar, aushaltbar und handhabbar machen. Das kann beispielsweise auch bedeuten, Entscheidungen in unabwägbaren Situationen zunächst bewusst nicht zu treffen (Nestmann u. Sickendiek, 2013). Beratung gibt Anstoß zu interaktiver Reflexivität und Selbstreflexivität, die Pragmatismus, Routinen, Zwang und die nur scheinbar authentischen Oberflächen der Wirklichkeit in unserem Alltag und Leben durchbrechen helfen. Entlang der disziplinären Verankerung psychosozialer Beratung in der Sozialen Arbeit und Pädagogik geht es also darum, multidimensionale Probleme komplex – und bewusst nicht reduziert auf einzelne Phänomene, Symptome oder Problemlagen – vor dem Hintergrund eines breiten Fachwissens zu bearbeiten. In dem Bewusstsein, dass die Anwendung einzelner Instrumente und Methoden nicht unilinear zum gewünschten Ziel und Erfolg führt, geht es darum, »systematisch und bewusst mittels der methodisch kundigen interaktiven Einbeziehung ihrer Adressat*innen deren Biografien, Alltagswissen und Lösungsideen ernst [zu] nehmen und zur Grundlage ihrer professionellen Fallarbeit [zu] machen« (Völter, Cornel, Gahleitner u. Voß, 2020, S. 10; Erg. v. Verf.). Beratung kann so dazu beitragen, Menschen zu helfen, sich selbst als Akteur*innen z. B. in Bezug auf den eigenen Lebenslauf, eigene Fähigkeiten oder soziale Einbettung zu begreifen. Letztlich vermittelt sich dadurch der Anspruch, komplexe Problemlagen wie die Konsequenzen mit den einzelnen Betroffenen dialogisch im Rahmen gesellschaftlicher Verhältnisse so zu bearbeiten, dass dadurch ein »gelingendere[r] Alltag« (Thiersch, 2020, bes. S. 52–69) entstehen kann.
Schlussfolgerungen und Ausblick Interessant ist: Trotz zahlreicher konzeptioneller und praktischer Konvergenzen wachsen die berufspolitischen Distanzen. Das scheint aus beiden Richtungen auch nachvollziehbar. Psychotherapie hat mit der Überwindung des großen Schulenstreits und einer empirisch fundierten Entwicklung von Handlungsmaximen sowie rechtlicher Rahmung einen Hochstand erreicht und muss an einer Sicherung des Erreichten interessiert sein, auch wenn die damit einhergehende Verengung des Angebots von der psychosozialen Versorgungsperspektive aus beWeder feindliche Schwestern noch beste Freundinnen
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trachtet bedenklich erscheint. Beide Professionen sollten jedoch die Befürchtung teilen, dass eine kulturelle und gesellschaftliche Effizienz-, Pragmatik- und Performanzideologie Bewältigungsvorstellungen fördert, die einer falsch verstandenen Beratungsauffassung, nämlich Beratung als »lean, light and cheap« (Nestmann, 1997, S. 8) Vorschub leistet. Es gilt also, die professionelle Beratungsentwicklung in Deutschland voranzutreiben und Regelungen zur Qualitätssicherung zu entwickeln, ohne in eine Imitation der Psychotherapiegesetz- Logiken zu verfallen (Bengel et al., 2002). Um diese Entwicklung weiter voranzutreiben, fördern die in der Deutschen Gesellschaft für Beratung zusammengeschlossenen Beratungsverbände seit 2020 ein Forschungsprojekt zur Entwicklung von Kompetenzstandards für Berater*innen. Das Ergebnis wird die Grundlage für den »Deutschen Qualifikationsrahmen Beratung« (DQR) bilden, der in ein europaweit anerkanntes Zertifikat (DGfB, 2020) einmündet. An Bedarf für Absolvent*innen mangelt es nicht. Für ein künftiges gelingendes Verhältnis ist bedeutsam, dass Psychotherapie sich nicht als »bessere Beratung« und Beratung sich nicht als »preiswerte Psychotherapie« empfiehlt. Weder die Aufsplittung in Gesundheits- und Sozialsystem hält der Realität der Versorgung stand, noch ist eine Unterscheidung nach Zeit- und Funktionsperspektive zwischen Psychotherapie und Beratung hilfreich (vgl. Nestmann, 2002). Auch mit einer Gleichsetzung von Psychotherapie und Beratung ist niemandem gedient. Anzustreben ist ein fruchtbares Miteinander mit verschiedenen, aufeinander abgestimmten Zuständigkeiten und offenem Austausch vernetzter und koordinierter Aktivität (Kupfer et al., 2021). Counselling in Großbritannien und Counseling in den USA haben Wege dorthin gewiesen. Gerade eine immer wieder geforderte Multiprofessionalität und Interdisziplinarität von Beratung könnte ein Gegengift gegen die für viele verführerische Effizienzfixierung sein, die letztlich auch Psychotherapie bedroht. Hier gilt es z. B., an gemeindepsychologische Überlegungen zu erinnern – die heute eher in der Sozialen Arbeit Platz gefunden haben –, wonach Beratung als Community Counsel(l)ing (vgl. Hershenson, Power u. Waldo, 1996) beziehungs- und netzwerkorientiert die möglichen Varianten der Problemsicht und der Handlungsalternativen auslotet und sie einer gemeinsamen kri30
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tischen Reflexion unterzieht – mit dem Ziel der Unterstützung eines »gelingendere[n] Alltag[s]« (Thiersch, 2020, bes. S. 52–69) in individuellem wie sozialem Empowerment. Entlang dieser Überlegungen kristallisiert sich im zwar noch bewegten, aber dennoch profilbildenden Beratungsdiskurs Beratung als Hilfeform der »zweiten Moderne« (Böhnisch, Lenz u. Schröer, 2009; vgl. bereits Beck, 1994/1996) heraus, die den Aspekt der »Gesellschaftsdiagnostik« (Keupp, 2018) wieder aufgreift. In der Unterschiedlichkeit von psychotherapeutischer Fokussierung und Exklusion einerseits und beraterischer Kontextualisierung und Inklusion andererseits liegt die Chance zu einem gelingenderen Verhältnis von Psychotherapie und Beratung: Voraussetzung ist die gegenseitige Anerkennung als »verschieden und doch ähnlich« und »gleichwertig«. Letztlich geht es um Orientierungsangebote, die »zwischen den Anforderungen der gesellschaftlichen Funktionssysteme und den Verarbeitungsmöglichkeiten der individuellen Psyche […] helfen, die Exklusion […] möglichst niedrig zu halten« (Großmaß, 2006, S. 5).
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Weder feindliche Schwestern noch beste Freundinnen
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Beratung in Österreich – ziemlich anders René Reichel
Dass Beratung sehr viel Verschiedenes bedeuten kann und auch sehr verschieden verstanden wird, ist nicht verwunderlich (u. a. Belardi, 1996; Nestmann, 1997). Es gibt hier keine Definitionsmacht und auch keinen Konsumentenschutz, wie er etwa für Kinderspielzeug oder Frisörleistungen festgelegt ist. Verschiedenheit wird auch dann deutlich, wenn man regionale Vergleiche anstellt. Schon im Feld Psychotherapie bestehen zwischen Deutschland und Österreich unterschiedliche Regelungen, aber diese beziehen sich vorrangig auf fachliche Anerkennungsfragen, in anderen Bereichen der Psychotherapie bestehen viele Gemeinsamkeiten. Im Feld – besser in den Feldern – der Beratung sind die Unterschiede gravierender. Bei detaillierterer Reflexion – so das Anliegen dieses Artikels – kann die Betrachtung der Unterschiede möglicherweise zu selbstkritischen Reflexionen beitragen. Zunächst konzentriere ich mich auf psychosoziale Beratung und ihre Beziehungsentwicklung mit Psychotherapie, später werde ich auch auf Supervision, Coaching und Organisationsberatung eingehen.
Die Entflechtung der Beratungslandschaft – Ansätze zu einer Marktordnung In Österreich wurde in den 1980er Jahren klar, dass der Wildwuchs in der psychosozialen Betreuung der Bevölkerung unhaltbar wurde (Wißgott, 2011). Prominente Persönlichkeiten wie die Psychiater Hans Strotzka und Raoul Schindler hatten wesentlich dazu beigetragen, dass im Jahr 1990 das sehr liberale österreichische Psychotherapiegesetz beschlossen wurde, das viele Zugangswege ermöglichte und – im Verhältnis zu Deutschland – viele Methoden (Schulen, Verfahren) anerkannte. In diesem Zusammenhang wurde auch die Beratung teilweise gesetzBeratung in Österreich – ziemlich anders
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lich neu geregelt. Schon vorher gab es ein freies Gewerbe »psychologische Beratung«, welches reichlich unklar bestimmt war und 1989 nun etwas fundierter als konzessioniertes Gewerbe für »Lebens- und Sozialberatung« (Bitzer-Gavornik, 2016) neu errichtet wurde.1 Die diesbezügliche Verordnung des Wirtschaftsministeriums wurde inzwischen mehrfach novelliert. Daneben gab es seit 1974 per Familienförderungsgesetz die – vorwiegend kirchlichen – Familienberatungsstellen mit diplomierten Ehe-, Familien- und Lebensberater*innen (EFL)2, die auf der Grundlage einer bewährten Ausbildung arbeiteten und von den neuen Entwicklungen zunächst wenig beeinflusst wurden. Die Grundlage von Beratung als »Gewerbe« mit Zuständigkeit des Wirtschaftsministeriums bei gleichzeitiger Etablierung der Psychotherapie im Bereich des Gesundheitsministeriums sowie der Zuordnung der Familienberatungsstellen im Familienministerium bewirkte ein Auseinanderdriften dieser Arbeitsfelder. Die nichtärztlichen in Beratung und Psychotherapie Tätigen wurden entweder auf Grundlage ausreichender Qualifikation und Erfahrung per Übergangsregelung in die neue Psychotherapeutenliste aufgenommen, die anderen waren angehalten, sich um die Gewerbeberechtigung für Lebens- und Sozialberatung zu bemühen. So sehr die Präzisierung von vielen begrüßt wurde, so mischte sich auch Bedauern in diese Aufspaltung der psychosozialen Landschaft. Mit den Worten einer Pionierin der EFL: »Zwischen 1970, dem Beginn der EFL-Beratung, bis zur Gesetzwerdung von Psychologie und Psychotherapie 1990 erlebte ich – bedingt durch meine Tätigkeit in der Familienberatung – Beratung und Psychotherapie wie siamesische Zwillinge, die ein zentrales, gemeinsames Anliegen haben: Ihr Herz schlägt für die Verminderung des menschlichen Leids durch Kommunikation und Begegnung und für die Förderung der persönlichen Entwicklung. Die Gesetzwerdung der Psychotherapie in Österreich trennte schließlich diese siamesischen Zwillinge« (Gutmann, 2008, S. 42). 1 Ein Gewerbe auszuüben, bedeutet in Österreich Zwangsmitgliedschaft in der Wirtschaftskammer. 2 Hier gibt es Ähnlichkeiten mit dem deutschen Bundesverband Katholischer Ehe-, Familien- und Lebensberaterinnen und -berater: http://www.bv-efl.de/ selbstv.htm.
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Diese Sichtweise wurde auch dadurch gestützt, dass viele Therapeut*innen und Berater*innen im Feld der EFL einen personzentrierten Hintergrund hatten. Schließlich lautete schon ein frühes Hauptwerk von Carl Rogers »Counseling and Psychotherapy« (1942), er sah hier keinen prinzipiellen Unterschied. Die scharfe Trennung zwischen Beratung und Psychotherapie in der österreichischen Gesetzgebung hatte inhaltlich zur Folge, dass die Arbeit mit krankheitswertigen Störungen für Berater*innen streng untersagt war. Das macht einerseits durchaus Sinn, führt aber in der Praxis zu einem Graubereich, weil bekanntlich die Grenzziehung nicht immer so eindeutig und vor allem nicht immer so schnell gelingt. Die Begriffe »Sozialtherapie« und »Soziotherapie«, wie sie in Deutschland und der Schweiz verbreitet sind, konnten sich in Österreich noch weniger durchsetzen als in Deutschland. Während also die Tätigkeit der Berater*innen nun strenger reglementiert war, blieb bei den Psychotherapeut*innen der Markt inhaltlich offen, da laut Psychotherapiegesetz die Psychotherapie auch die Aufgabe hat, »die Reifung, Entwicklung und Gesundheit der Behandelten zu fördern«. Das wurde in mehreren Kommentaren noch bekräftigt (Aull u. Reichel, 2016, S. 130). Diese offene Formulierung erweiterte Psychotherapie in Richtung Selbsterfahrung und Persönlichkeitsentwicklung bzw. bestätigte und zementierte dieses weite Verständnis, das nicht nur von Carl Rogers, sondern etwa auch schon sehr früh für die Gestalttherapie formuliert wurde: »Therapie ist zu wertvoll, um nur den Kranken vorbehalten zu sein« (Polster u. Polster, 1975, S. 35). Während also für die Psychotherapie Prävention und Persönlichkeitsentwicklung integraler Bestandteil waren und sind, war und ist das in der Medizin noch längst nicht so klar, und das hat nicht zuletzt finanzielle Gründe. Die 1992 beschlossene 50. Novelle zum Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz (ASVG) sah für Psychotherapie eine Zuschussregelung vor mit dem Ziel, bald zu einem Gesamtvertrag über die »Psychotherapie auf Krankenschein« zu kommen. Dieses Ziel ist bis heute nicht erreicht, und einer der Gründe für den Widerstand der Krankenkassen3 lag darin, dass sie die Abgrenzung von der Be3 Seit 1.1.2020 heißen sie in Österreich Gesundheitskassen. Beratung in Österreich – ziemlich anders
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handlung krankheitswertiger Störungen zu einer Selbsterfahrung im Sinne von Persönlichkeitsentwicklung, die mit Scheindiagnosen abgesichert wurden, als nicht klar genug betrachteten.4 Ein Fass ohne Boden wurde befürchtet. Und so führten die Diskussionen im Laufe der Jahre zu einer manchmal verwirrenden Vielfalt von Teil- und Zwischenlösungen, sei es durch unterschiedliche Lösungen von verschiedenen Krankenkassen mit unterschiedlichen Zuschussregelungen und verschiedenen Prüfverfahren, aber auch in verschiedenen Bundesländern, da die Krankenkassen föderal organisiert waren und sind, d. h., sie entscheiden autonom über Verträge.
Der Markt blüht Die Ansiedlung der Lebens- und Sozialberatung (LSB) als Gewerbe im Wirtschaftsministerium verstärkte die Einwirkung der Marktgesetze auf die Beratung auf dem »freien Markt«. Anders als in anderen Ländern entstand in Österreich ein relativ blühender Markt von freiberuflichen Einzelunternehmer*innen, der sich – teilweise zu Recht, teilweise zu Unrecht – mit dem Esoterik-Vorwurf herumschlagen musste.5 Das lag auch an dem schon eingangs erwähnten Fehlen von Qualitätskontrolle und Konsumentenschutz. Eine Beschwerdestelle analog zur Psychotherapie gibt es z. B. bei Beratung bis heute nicht. Auch gab und gibt es immer wieder Verwechslungen mit dem – freien, daher nicht ausbildungsgebundenen – Gewerbe »Humanenergetik«, mit dem viele ungenau als esoterisch bezeichneten Tätigkeiten durchgeführt werden (dürfen). Darüber muss hier keine fachliche Diskussion geführt werden, aber ein Widerspruch ist offenkundig: Während formal diesen Beratungstätigkeiten die Behandlung von Krankheiten ausdrücklich verwehrt wurde, wandten sich genau solche Menschen an diese freiberuflichen Berater*innen und Energetiker*innen, die sich von den etablierten 4 Eine derartige Diskussion über die Finanzierung von Prävention fand klarerweise auch in anderen Bereichen der Gesundheitspolitik statt. 5 Diese Debatte erfasste auch die Psychotherapie, sodass sich das zuständige Gesundheitsministerium genötigt sah, eine eigene Richtlinie zur Abgrenzung herauszugeben (BMASGK, 2018).
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Gesundheitseinrichtungen, Ärzt*innen sowie Therapeut*innen nicht richtig verstanden und behandelt fühlten. Ein Widerspruch, der die Chance in sich birgt, nicht nur Ab- und Ausgrenzungsbemühungen zu fördern, sondern immer wieder auch offene Diskussionen zu ermöglichen. Das kann natürlich nur dann sinnvoll gelingen, wenn die dabei mitspielenden ökonomischen Interessen berücksichtigt und nicht tabuisiert werden. Die konstruktive Seite bei diesen Diskussionen um Abgrenzung und Präzisierung wurde vor allem von Michael Kierein, dem von Beginn an für diese gesetzlichen Entwicklungen zuständigen Beamten im Gesundheitsministerium, gefördert und unterstützt (Kierein u. Leitner, 2011). Aufseiten der LSB ist vor allem auf den nun schon in 4. ergänzter Auflage erschienenen Sammelband von Günther BitzerGavornik zu verweisen (2016). Inzwischen sind Bemühungen um Qualitätsentwicklung auch vonseiten der Österreichischen Wirtschaftskammer erkennbar.6 Diese Bemühungen werden allerdings erschwert, weil eine breite und lebendige Standesvertretung und Berufspolitik fehlen. Lebens- und Sozialberater*innen arbeiten als freiberufliche Einzelkämpfer*innen – häufig als Nebentätigkeit – so vor sich hin, es gibt zwar von der Kammer eine Fortbildungsverpflichtung, aber ein fachlicher Diskurs findet kaum statt. Das Interesse, sich an Forschungsprojekten zu beteiligen, ist gering. Die Erwartungen an die Kammer waren vor allem auf ein umfassendes Marketing für die Lebens- und Sozialberatung gerichtet. Die vielen Vertreter*innen des Ausbildungsmarkts wollen Ausbildungsteilnehmer*innen und die Kammer will Mitglieder. Hier ist aus österreichischer Sicht dem Punkt 6 der Zweiten Frankfurter Erklärung zur Beratung voll zuzustimmen, in dem darauf hingewiesen wird, dass »Bemühungen zu einer strengeren und formalen oder standespolitischen Eingrenzung der Beratung nicht unbedingt zu einer Qualitätsverbesserung beitragen, wenn damit primär Claims für Verbände und Ausbildungsanbieter abgesteckt werden« (Forum Beratung, 2012, S. 11, zit. nach Reichel, 2012a, S. 904 f.).
6 Vgl. dazu die Website der Wirtschaftskammer Österreich: https://www. lebensberater.at/ Beratung in Österreich – ziemlich anders
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Akademisierung – ein neuer Abschnitt beginnt schrittweise Im Herbst 2001 begann an der Donau-Universität Krems der erste universitäre »Lehrgang Psychosoziale Beratung zum/zur akademischen Berater/in sowie zur/zum Lebens- und Sozialberater/in«, so die damalige Bezeichnung. Da »Lebens- und Sozialberatung« ein rein gewerberechtlicher Begriff war und ist, war es notwendig, mit der Ausbildung einen international gängigen Fachausdruck, eben psychosoziale Beratung – vergleichbar dem englischen Counselling – zu verbinden. Schon diese Benennung sollte darauf hinweisen, dass es an der Zeit war, die Beratung in Österreich mehr in den internationalen fachlichen Diskurs einzubinden. In logischer Konsequenz wurde daher 2004 auch ein aufbauender Masterstudiengang »Psychosoziale Beratung« an der Donau-Universität eingerichtet. Diesem Ansatz sind inzwischen weitere Anbieter von Ausbildungen für Lebens- und Sozialberatung gefolgt (Bitzer-Gavornik, 2016). Aber es ging natürlich nicht nur um eine fachlich genauere Bezeichnung, sondern auch und vor allem um Schritte in Richtung einer Verwissenschaftlichung. Die Zahl an wissenschaftlichen Arbeiten im Feld psychosozialer Beratung war äußerst gering, speziell in Österreich. In Deutschland gab es dagegen eine Reihe wegweisender Arbeiten (u. a. Großmaß, 2000; Nestmann u. Engel, 2002; Nestmann, Engel u. Sickendiek, 2004). Forschung zur psychosozialen Beratung gab es aber im deutschsprachigen Raum kaum (Schigl, 2016). Die Gründe sind klar: Verbände und Ausbildungsträger auf dem freien Markt sind ökonomisch durchkalkuliert und stehen unter keinem Druck, aufwändige wissenschaftliche Studien zu betreiben. Nur Hochschulen sind verpflichtet, zur Forschung beizutragen. Daher war ohne Akademisierung, d. h. Anbindung an Hochschulen, keine fundierte fachliche Weiterentwicklung von Beratung zu erwarten. Und dadurch wiederum wurde es für die etablierten Berufsgruppen leicht, die freiberufliche Beratung geringzuschätzen. Das wirkte sich u. a. so aus, dass es für Lebens- und Sozialberater*innen keine guten Anstellungsmöglichkeiten gab, wodurch keine Präsenz von Berater*innen in Organisationen mit interdisziplinärer Zusammenarbeit gegeben war (Reichel, 2012b). Auch in den Beratungsstellen 44
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wird Beratung von EFL, Sozialarbeiter*innen, Psycholog*innen und Psychotherapeut*innen gemacht, Lebens- und Sozialberater*innen werden nur mit spezifischen Zusatzqualifikationen akzeptiert. Trotz dieser guten Gründe für eine Entwicklung in Richtung Akademisierung gab es von Anfang an Gegenwind gegen dieses Vorhaben. Auch dieser hatte gute Gründe: – Erfahrene und bewährte Ausbildner*innen ohne akademischen Grad sahen sich in einem möglichen universitären Rahmen plötzlich als unterqualifiziert, was durchaus kränkend erlebt wurde. – Durch die Verwissenschaftlichung der Sprache wurde eine Entfremdung von der Denk- und Sprechwelt der Klient*innen befürchtet (Birklhuber, 2008, S. 91). Auch Wissenschaftskritik wurde laut (S. 92). – Die Hochschulen stellten Overhead-Kosten in Rechnung, die den bis dahin freien Ausbildungsträgern verloren gingen. Wer die Ausbildungsszenen im psychosozialen Feld – nicht nur in Österreich – kennt, weiß, welchen entscheidenden Stellenwert die Finanzen hier einnehmen. – Vonseiten der Universitäten wurde die Orientierung der Curricula an Standards von außeruniversitären Fachverbänden zunächst abgelehnt.7 – Eine besonders große Hürde lag in der Bewertung von Ausbildungsschritten: Auf Grundlage des Bologna-Prozesses konnten nur geprüfte Lehrveranstaltungen mit ECTP belohnt werden. Wie aber prüft man Selbsterfahrung, wie prüft man Supervision, diese zentralen Elemente aller Ausbildungen für Beratung und Psychotherapie? Diese Diskussion und die Suche nach Kompromissen schreckte viele Ausbildner*innen davon ab, sich auf den durchaus mühsamen Weg der Akademisierung zu machen. Ein Schlüsselargument des Widerstands lässt sich wie folgt zusammenfassen: »Wir wollen keine Verschulung!«
7 Das galt speziell im Feld Supervision. Beratung in Österreich – ziemlich anders
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In einem weiteren Punkt sollte sich die bereits beschriebene Trennung von Psychotherapie und Beratung rächen – zum Nachteil der Beratung. Die prominenten Vertreter*innen der Psychotherapie waren überwiegend universitär sozialisiert. Das bedeutet in Österreich zusätzlich, dass die Personen bekannt waren und einander kannten. Österreich ist charakterisiert von einer guten Überschaubarkeit berufspolitischer Szenen. Netzwerke sind prägend und wirksam. Dadurch war die Verknüpfung von Psychotherapie und Universität – obwohl auch die sich in Österreich nur relativ langsam entwickelte – hierzulande ein geringeres Problem als die Verknüpfung von Beratung und Universität. Das war und ist in Deutschland anders.
Supervision – Coaching – Organisationsberatung Wie bereits erwähnt, ist Beratung ein Sammelbegriff ohne Definitionsmacht und nur geringer Einbettung in die Wissenschaft. Sucht man speziell unter dem Begriff »Beratungswissenschaft«, so landet man vorwiegend im Bereich Organisationsberatung und Supervision. Da in Österreich die Supervision in ihren Anfängen aber stark von Psychotherapeut*innen (und häufig psychoanalytisch geschulten Sozialarbeiter*innen) getragen und geprägt wurde, wurde Beratung gern als übergeordneter Sammelbegriff für Psychotherapie, psychosoziale Beratung und Supervision betrachtet (Reichel, 2016a). Ein prominenter Supervisor (und Psychoanalytiker) meinte Mitte der 1990er Jahre zum Entsetzen überzeugter Supervisor*innen: »Warum soll man nicht auch mit Hausfrauen Supervision machen?« Jahre später wurde diese Sichtweise zum Konzept Life-Coaching weiterentwickelt (Schmidt-Lellek u. Buer, 2011). Während seit den 1980er Jahren auf dem »freien Markt« Beratung unter bunten Begriffen angeboten und vermarktet wurde8, also die Grenzen zu früher fremden Arbeitsbereichen durchlässiger zu werden scheinen (siehe auch die Spiritualitätsdebatten in Beratung und Psychotherapie, BMASGK, 2018), entwickelte sich rund um die Jahrtausendwende ein zu8 Besonders Coaching wurde hier zum erfolgreichen, aber auch recht beliebigen Container-Begriff.
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nehmendes Bemühen um Abgrenzung und Präzisierung (z. B. Luif, 1997; Reichel, 2016a), was aber auch wesentlich von Revierkämpfen der Berufsgruppen und -verbände geprägt war. Im Feld Supervision ergab sich eine besondere Entwicklung in Österreich. Der 1994 gegründeten Österreichischen Vereinigung für Supervision (ÖVS), später erweitert zur »Österreichischen Vereinigung für Supervision und Coaching« gelang es in kurzer Zeit, eine hohe Anerkennung für ihre Qualitätsstandards zu erreichen (Luif, 1997)9. Fast alle in Österreich tätigen Supervisor*innen und fast alle einschlägigen Ausbildungen stimmten den festgelegten Standards zu, und viele große Auftraggeber von Supervision in Österreich verlangten von ihren Mitarbeiter*innen und Teams, sich bei der Wahl der Supervisor*innen an die ÖVS-Liste zu halten. Laufend gab es Verhandlungen einzelner Berufsverbände und Ausbildungsträger mit der ÖVS, um verkürzte Ausbildungen oder vereinfachte Zugänge zur ÖVS-Liste zu erlangen, so etwa von vielen Psychotherapieverbänden, aber auch von der Kammer in Vertretung der Lebens- und Sozialberater*innen. Die ÖVS blieb aber weitgehend konsequent, um die eigenständige Identität der Supervision zu sichern. Vielleicht war dieses Selbstbewusstsein ein Grund für die führende Rolle der ÖVS in der ANSE, der Assoziation nationaler Verbände für Supervision in Europa, mit Sitz in Wien. Die Verhandlungen über den Zugang zu Supervision und Coaching hatten zwar vorrangig markt- und revierpolitische Bedeutung, klarerweise, trotzdem ergaben sich dadurch immer auch inhaltlich relevante Prozesse über die Qualität guter Beratung, wie sich in zahlreichen Tagungen und Publikationen zeigt10, eine Entwicklung, die der psychosozialen Beratung in Österreich noch bevorsteht. 9 Die aktuellen Standards der ÖVS sind abrufbar unter: https://www.oevs.or.at/ die-oevs/ausbildungen/ bzw. unter https://www.oevs.or.at/fileadmin/oevs_ website/user_upload/KompetenzprofilOEVSnachECVision.pdf (Zugriff am 30.03.2022). Diese Standards sind präziser und differenzierter als die gesetzlich geregelten Standards für diplomierte Lebens- und Sozialberater*innen. 10 Zunächst gab es ab 1997 eine Schriftenreihe »Supervision« im Studien-Verlag Innsbruck, und dann seit 2009 eine Reihe »Supervision – Coaching – Organisationsberatung«, die gemeinsam von der ÖVS mit dem schweizerischen BSO im Facultas-Verlag Wien herausgegeben wird. Beratung in Österreich – ziemlich anders
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Der Abgrenzungskampf um die Kompetenzen und Berechtigungen in verschiedenen Bereichen von Beratung findet weiterhin und laufend statt, bei Supervision11, bei Coaching, bei manchen Bereichen von Krisenintervention, in der Burnout-Beratung etc. Neben dem vorrangig ökonomischen Motiv des Kampfes um Marktanteile, um das Image bei Kund*innen und um Ausbildungsteilnehmer*innen geht es hintergründig immer wieder um das schwer aufzulösende Problem der Definition von Krankheitswertigkeit (Reichel, 2016a, S. 76 ff.) und den damit verbundenen Berufs- und Tätigkeitsvorbehalten. Dieses Problem wird uns noch weiter begleiten, denn das Seriositätsproblem ist nicht allein über Definitionen zu lösen. Vielleicht müssen wir uns mit einem gewissen Graubereich arrangieren und die Frage der Seriosität komplex diskutieren (Reichel, 2016b), auch im jeweils eigenen beruflichen Stall. Kriterien einer solchen Seriositätsdiskussion könnten – in einer stichwortartigen Aufzählung – sein: – die Eignungsproblematik, – Inhalte, Dauer und Methoden einer ausreichenden Ausbildung, – ein wissenschaftlich diskutierbares Konzept als Grundlage, – die Transparenz der Rahmenbedingungen, – die Transparenz bei den Möglichkeiten und Grenzen der gemeinsamen Arbeit, – die Einbindung der Berater*innen in ein kollegiales System (Supervision, Berufspolitik, …). Ganz allgemein lässt sich zusammenfassend feststellen, dass die Entwicklung von Beratung wie auch der angrenzenden Formate wie Psychotherapie oder Supervision in Österreich in hohem Maße verknüpft und verbunden ist mit der Qualität berufspolitischer und kollegialer Diskurse, und diese Diskurse sind in einem überschaubaren Land wie Österreich auch mitbestimmt von Beziehungsdynamiken.
11 Seit einigen Jahren findet ein auch gerichtlich ausgetragener Streit zwischen der Wirtschaftskammer und der ÖVS über die Berechtigung, Supervision oder Coaching anzubieten, statt.
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René Reichel
Beratung in der Schweiz – zwischen Vielstimmigkeit und Fragmentierung Martina Hörmann
Dieser Beitrag beleuchtet die Situation von professioneller Beratung in der Schweiz, welche ausgesprochen komplex und vielgestaltig ist, sodass das Verhältnis von Beratung und Psychotherapie zwar betrachtet wird, hier jedoch insgesamt weniger Raum einnimmt als in anderen Beiträgen dieses Bandes. Vorab ist anzumerken, dass die Schweiz zwar ein kleines Land ist, jedoch über vier verschiedene Sprachregionen verfügt. Weil die drei großen Sprachregionen teilweise eigene Verbandsstrukturen aufweisen, gestalten sich die fachpolitische Beratungslandschaft sowie die Diskurse vergleichsweise komplex. Insofern gelten einige Ausführungen in diesem Beitrag insbesondere für die Deutschschweiz und erheben nicht den Anspruch auf Gültigkeit für alle Sprachregionen gleichermaßen. Thomas und Henning betonen für die Profession Beratung sei es notwendig, diese »in den kulturellen und historischen Traditionen des Heimatlandes zu kontextualisieren« (2013, S. 263; Übers. durch die Autorin). Hier zeigt sich die Vielstimmigkeit von Beratung in der Schweiz nicht nur sprachlich, sondern auch in den jeweiligen »kulturellen Prägungen in den verschiedenen Landesteilen auch durch Ansätze aus den Nachbarländern Frankreich, Deutschland und Italien«, was den Diskurs in der Schweiz bereichert und zugleich erschwert (Thomas u. Henning, 2013, S. 264; Übers. durch die Autorin). Die beiden Autorinnen konstatieren, dass u. a. »die begrenzte Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Beratungsverbänden und Akkreditierungsagenturen in der Schweiz« als Ursache dafür angeführt wurde, »dass bis vor kurzem die moralischen, existenziellen, rechtlichen und psychologischen Dilemmata der Menschen weiterhin eher kantonal als föderal behandelt wurden«1 (Thomas u. Henning, 2013, S. 264; Übers. durch die Autorin). Beratung in der Schweiz
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Auch kann das Fehlen verbindlicher Standards bezogen auf »Ausbildung, einheitliche Terminologie, Gesetzgebung und verliehene Diplome« konstatiert werden (Sabbadini, 2010, zit. nach Thomas u. Henning, 2013, S. 264; Übers. durch die Autorin). Dieses Fazit gilt trotz der zwischenzeitlich erfolgten Gründung der Schweizerischen Gesellschaft für Beratung nach wie vor, wie nachfolgend aufgezeigt wird. Überblicksdarstellungen zur Beratung und zu den möglichen Beratungsabschlüssen in der Schweiz sind rar und bei näherer Betrachtung wenig aussagekräftig, da sie wesentliche Bestandteile der Beratungslandschaft unberücksichtigt lassen und so möchte der Beitrag einen Teil dieser Lücke schließen. Beispielsweise beziehen sich Thomas und Henning (2013) bei ihrer Darstellung von Beratung in der Schweiz nur auf einen konsekutiven Beratungsmaster (mit 120 ECTS)2 an einer Privatuniversität, der allerdings eine Ausnahme in der Schweizer Beratungsausbildung ist, und ignorieren zugleich die Master of Advanced Studies-Programme (MAS), welche den Normalfall der hochschulischen Beratungsausbildung in der Schweiz darstellen. Die Länderdarstellung Schweiz im »World Mapping of the Profession of Counselling« der International Association for Counselling (IAC, 2021) bezieht sich fast ausschließlich auf den bereits zitierten Beitrag von 2013, sodass auch dort keine fachlich adäquate Abbildung der Beratungslandschaft in der Schweiz zu finden ist. Beratung wird in diesem Beitrag mit Fokus auf personenbezogene Beratung verstanden, jedoch in der gesamten Breite von psychosozialer Beratung bis hin zu Beratung mit stärker fachberaterischen Anteilen, von psychologischer Beratung bis zu Beratung in der Sozialen Arbeit. Eine ausschließliche Fokussierung auf psychosoziale Beratung erscheint auch deshalb nicht sinnvoll, weil Beratung häufig mit Mischformen von psychosozialen und fachberaterischen Themen stattfindet (vgl. Hörmann, 2019, Weber u. Kunz, 2012). 1
1 Dies änderte sich zumindest für die Psychotherapie nach Einführung des Psychologieberufegesetzes 2013. 2 Vgl. Webster University Geneva: Master of Arts in Counseling: https://webster. ch/academics/graduate/counseling/index.php (Zugriff am 11.04.2022).
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Zunächst werden die Rahmenbedingungen für Beratung in der Schweiz skizziert und die möglichen Beratungsabschlüsse auf Hochschulstufe sowie im Sektor der höheren Berufsbildung näher betrachtet. Seit 2013 spielen die »Höhere Fachprüfung Psychosoziale*r Berater*in« sowie die mögliche Anerkennung durch die Schweizerische Gesellschaft für Beratung (SGfB) eine Rolle. Letztere vertritt – entgegen ihrem Namen – nur einen Teil der Berater*innen in der Schweiz, zumal sie selbst Akteurin bei der Installierung der Höheren Fachprüfung war und seit der Etablierung dieses neuen Beratungsabschlusses die Prüfungen durchführt. Insofern erscheint es lohnend, weitere relevante Verbände im Hinblick auf ihr Verständnis von Beratung, gegebenenfalls in Abgrenzung zur Psychotherapie, näher zu betrachten. Dabei sind die entsprechenden Verbände nach einem Beratungs- bzw. Therapieansatz (systemis), nach dem Beratungsformat (BSO) oder auch berufsständisch-disziplinär (FSP) ausgerichtet, was ihre unterschiedlichen Zugänge zum Thema Beratung (und Psychotherapie) verdeutlicht3. Nach einem kurzen Blick auf die Psychotherapieausbildung in der Schweiz schließt der Beitrag mit einem Fazit ab.
Rahmenbedingungen für Beratung und Beratungsabschlüsse in der Schweiz Beratung und Beratungsweiterbildung in der Schweiz werden durch einige Spezifika des Schweizer Bildungssystems geprägt. Relevant sind dabei insbesondere – der zweigeteilte Nationale Qualifikationsrahmen, – die strukturelle Unterscheidung zwischen einem konsekutiven und einem Master of Advanced Studies, – die bildungspolitische Bedeutung der höheren Berufsbildung einschließlich der Installation eines Beratungsabschlusses als Höhere Fachprüfung. 3 So könnte also beispielsweise eine Psychologin, die systemisch ausgerichtet ist und auch Coaching und Supervision anbietet, sowohl im FSP als auch bei systemis und im BSO organisiert sein, da diese Verbände jeweils einen Aspekt ihrer professionellen Identität abbilden. Beratung in der Schweiz
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Die Schweiz hat als eines von wenigen europäischen Ländern4 zwei Nationale Qualifikationsrahmen, einen für das hochschulische System (CRUS, 2011) und einen für die Berufsbildung. Zum hochschulischen Qualifikationsrahmen finden sich im Netz eher wenig Unterlagen. Zahlreiche Fragestellungen, wie beispielsweise die Durchlässigkeit, die Zuordnung zu den Niveaustufen sowie die Möglichkeiten der Anerkennung informellen Lernens, die auf europäischer Ebene intensiv auch für Hochschulen diskutiert wurden, tauchen im Schweizer Diskurs nicht oder nur sehr reduziert auf. Auch finden sich kaum Diskurse zur Verknüpfung der beiden Qualifikationsrahmen. In der Vergangenheit gab es noch Forderungen nach einem gemeinsamen Qualifikationsrahmen für die Schweiz, in jüngerer Zeit jedoch nicht mehr. Dadurch wird eine deutliche Trennung zwischen (Weiter-)Bildung an Hochschulen und im Kontext der höheren Berufsbildung festgeschrieben, was auch zur Folge hatte, dass Diskurse zumeist getrennt geführt wurden. Dies führte mit der Einführung der »Höheren Fachprüfung Psychosoziale*r Berater*in« mit eidgenössischem Titel im Jahr 2013 als formalem Abschluss in der höheren Berufsbildung zu weitreichenden Folgen für Beratungsabschlüsse in der Schweiz. Im Bildungssystem der Schweiz wird in der hochschulischen Bildung zwischen dem konsekutiven Master (mit 90–120 ECTS) und dem Master of Advanced Studies (mit 60 ECTS) unterschieden (vgl. Abbildung 2). So gibt es zum einen einen akademischen Strang, der neben dem Bachelorabschluss den konsekutiven Masterabschluss umfasst und als forschungsorientiertes Studium auf das Doktorat und eine wissenschaftliche Tätigkeit abzielt. Dieser Masterabschluss umfasst 90– 4 »Thirty-four countries are working towards comprehensive NQFs covering all types and levels of qualifications […]. Four countries have introduced partial NQFs covering a limited range of qualification types and levels or consisting of separate frameworks operating apart from each other. This is exemplified by the Czech Republic and Switzerland, where separate frameworks for vocational and higher education (HE) qualifications have been developed; by France where only vocationally and professionally oriented qualifications are included in the framework; and by Italy, where frameworks are restricted to qualifications from HE« (UNESCO, 2015, S. 8).
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Martina Hörmann
Das schweizerische Hochschulsystem / The Swiss Higher Education System Doktorat Doctorate / PhD 1)
Master (90/120/180 ECTS)
Bachelor (180 ECTS)
Weiterbildung / Further Education Master of Advanced Studies (≥ 60 ECTS) Diploma of Advanced Studies (≥ 30 ECTS) Certificate of Advanced Studies (≥ 10 ECTS)
Master (90/120 ECTS)
Bachelor (180 ECTS)
Master (90/120 ECTS)
Bachelor (180 ECTS)
Universitäten + Eidgenössische Technische Hochschulen
Pädagogische Hochschulen
Fachhochschulen
Universities + Federal Institutes of Technology
Universities of Teacher Education
Universities of Applied Sciences
Gymnasiale Maturität Baccalaureate
Berufsmaturität / Fachmaturität Federal Vocational Baccalaureate / Specialised Baccalaureate
1) Dr.med.
entspricht nicht dem Qualifikationsniveau PhD. Dr.med. does not correspond to the level of qualification required for a PhD. Üblicher Weg Normal path Es werden zusätzliche Leistungen verlangt Additional achievement required
Abbildung 2: Das Schweizerische Hochschulsystem (vgl. Swissuniversities, 2019)
120 ECTS (incl. Promotionsberechtigung). Zum anderen gibt es den Master of Advanced Studies (MAS), mit dem ein hochschulisches berufsbegleitendes Weiterbildungsstudium abgeschlossen wird. Dieser Abschluss umfasst 60 ECTS und berechtigt nicht zur Promotion, denn es handelt sich nicht um einen akademischen Grad. Zimmermann (2020) konstatiert, dass sich die als gestuft zu verstehenden Formate Master of Advanced Studies (MAS), Diploma of Advanced Studies (DAS) und Certificate of Advanced Studies (CAS) an allen Hochschulen durchgesetzt haben. Sie waren 2001 erstmals an Schweizer Universitäten angeboten und dann 2005 von den Fachhochschulen übernommen worden (Zimmermann, 2020, S. 616). Beratung in der Schweiz
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Weiterbildung hat an Schweizer Fachhochschulen eine große Bedeutung (Swissuniversities, 2020), da sie Teil des »vierfachen Leistungsauftrags« ist, wie Abbildung 3 verdeutlicht.
Vierfacher Leistungsauftrag
Ausbildung
Weiterbildung
Forschung
Dienstleistung
Abbildung 3: Leistungsauftrag der Fachhochschulen in der Schweiz (eigene Darstellung)
So wurden 2020 an Schweizer Fachhochschulen insgesamt 13.982 Bachelorabschlüsse, 3.481 Masterabschlüsse und 2.345 Weiterbildungsabschlüsse verliehen (vgl. BFS, 2021a). Ein weiteres Spezifikum des Bildungssystems ist die Tatsache, dass die akademische Bildung (Tertiär A) und die höhere Berufsbildung (Tertiär B) als gleichwertig angesehen werden. Dies ist auch der Idee einer hohen Durchlässigkeit zwischen den einzelnen Segmenten geschuldet, hat jedoch für Beratung weitreichende Folgen, da seit 2015 der einzige formale Beratungsabschluss in der höheren Berufsbildung angesiedelt ist. Abbildung 4 verdeutlicht die unterschiedlichen Verortungen: Während die höhere Fachprüfung als eidgenössisches Diplom in der höheren Berufsbildung angesiedelt ist, finden sich die Weiterbildungsabschlüsse der Hochschulen im Strang Weiterbildung. Die bis 2015 geltende eidgenössische Anerkennung von Weiterbildungsabschlüssen an Hochschulen wurde mit dem Inkrafttreten des Hochschulförderungs- und -koordinationsgesetzes (HFKG) 2015 hinfällig. Seitdem gelten die hochschulischen Weiterbildungsabschlüsse nicht mehr als Titel, sondern werden der nichtformalen Bildung zugerechnet, was auch zur Folge hat, dass ein Beratungsabschluss auf MAS-Stufe nicht mehr als formaler Abschluss angesehen wird. Dies ist insofern bemer56
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kenswert als beispielsweise in Deutschland alle Masterstudiengänge Beratung zu einem Abschluss mit Promotionsmöglichkeit führen, selbst wenn auch dort eine Differenzierung in konsekutive und Weiterbildungsmaster vorfindbar ist (vgl. VHBC, 2020).
HOCHSCHULEN
WEITERBILDUNG
Eidg. Diplom Eidg. Fachausweis
Diplom HF
Master Bachelor
Master Bachelor
PhD/Doktorat Master Bachelor
FACHHOCHSCHULEN
PÄDAGOGISCHE HOCHSCHULEN
UNIVERSITÄTEN ETH
HFP Psychosoziale*r Berater*in
BERUFSUND HÖHERE FACHPRÜFUNGEN
HÖHERE FACHSCHULEN
MAS Master of advanced studies
WEITERBILDUNG
HÖHERE BERUFSBILDUNG
Abbildung 4: Verortung von Beratungsabschlüssen im Bildungssystem der Schweiz (eigene Darstellung auf der Basis einer Grafik des SBFI, 2019).
Infolge dieser Entwicklungen wird also die Beratungsqualifikation von Personen, die einen vier- bis sechsjährigen Weiterbildungsmaster in Beratung absolviert haben, formal niedriger gewichtet als eine Prüfung, zu der man mit oder ohne Vorbereitungskurs antreten kann.
Hochschulische Beratungsabschlüsse in der Schweiz Die Master-of-Advanced-Studies-Programme (MAS) zur Beratung sind in der Regel modularisiert und werden innerhalb von vier bis sechs Jahren berufsbegleitend absolviert. Quantitativ umfasst ein Beratungsmaster mit 60 ECTS einen Workload von 1800 Stunden und basiert auf einem kompetenzorientierten Curriculum. Kennzeichnend für die hochschulischen Beratungsmaster ist die Verknüpfung von Anwendungsorientierung und wissenschaftlicher Fundierung. Dies zeigt sich auch an Qualitätsstandards, welche von Leitungen der BeratungsMAS-Programme an Deutschschweizer Hochschulen 2020 formuliert wurden (VHBC Schweiz, 2020). »Die Weiterbildungen an HochBeratung in der Schweiz
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schulen sind sowohl wissenschaftsorientiert als auch praxisorientiert ausgerichtet. Inhalte und Methoden der Curricula orientieren sich an aktuellen Fachdiskussionen und sind in kontinuierlicher Entwicklung, die empirisch fundiert ist. Aktuelle Forschungsergebnisse werden einbezogen. Da Hochschulen eng mit beratungsrelevanten Handlungsfeldern kooperieren, fließen Themen und Bedarfe der Praxis in Weiterbildung und Forschung ein« (VHBC Schweiz, 2020). Eine große Bedeutung wird der kontinuierlichen beraterischen Kompetenzentwicklung beigemessen, die auf wissenschaftlichen Theorien und Erkenntnissen in Verbindung mit dem Expert*innenwissen aus der Praxis der Lehrenden und Weiterbildungsteilnehmenden basiert. »Die Entwicklung eines eigenen Kompetenzprofils (Wissen und Können, Selbstreflexion zu Person und Rolle einschließlich eigener Grenzen) ist ein integraler Bestandteil der Weiterbildung« (VHBC Schweiz, 2020). Bis 2015 wurde der MAS-Abschluss als eidgenössisch anerkannter formaler Titel verliehen, was aufgrund veränderter Zuständigkeiten nicht mehr gilt, denn nicht mehr der Bund, sondern die Kantone sind nun zuständig. Teilweise verfügen die hochschulischen Beratungsmaster über eine zusätzliche Anerkennung durch Fachverbände wie z. B. systemis. Aufgrund der Modularisierung gibt es auch Beratungsabschlüsse unterhalb der Masterstufe: ein Certificate of advanced studies (CAS) umfasst eine ca. einjährige Weiterbildung mit einem Workload von 450 Stunden, ein Diploma of advanced studies (DAS) entspricht einer zweijährigen Weiterbildung (vgl. VHBC, 2020). Um die bereits erwähnte Lücke im internationalen Kontext zu schließen, gibt es vereinzelt Bestrebungen, Weiterbildungsmaster mit einer Erweiterungsmöglichkeit im Ausland anzubieten. Dazu wird nach der Absolvierung eines Beratungs-MAS im Umfang von 60 ECTS im Ausland ein (Weiterbildungs-)Studium im Umfang von weiteren 30–60 ECTS angeschlossen, um so einen international anerkannten Masterabschluss mit Promotionsberechtigung zu erreichen.
Weitere Beratungsabschlüsse 2013 wurde auf Betreiben der Schweizerischen Gesellschaft für Beratung die Höhere Fachprüfung Psychosoziale*r Berater*in (HFP) 58
Martina Hörmann
neu installiert. So wurde ein Beratungsabschluss außerhalb des Hochschulbereichs und ohne Voraussetzung eines Studiums als eidgenössischer Fachtitel etabliert, der im NQR Berufsbildung auf Stufe 7 (Masterniveau) verortet ist. Die HFP kann auch ohne vorherige Beratungsweiterbildung absolviert werden, Zulassungsvoraussetzungen sind lediglich ein Abschluss auf Tertiärstufe und sechs Jahre Berufserfahrung oder ohne Tertiärabschluss eine achtjährige Berufserfahrung, wobei hier kein Bezug zum psychosozialen Bereich vorausgesetzt wird. In der Regel wird empfohlen, zuvor einen Vorbereitungskurs zu besuchen. Diese Vorbereitungskurse unterliegen keinen Qualitätsstandards, es ist eine Selbstverpflichtung der Anbieter ausreichend, um sich auf eine entsprechende Liste setzen zu lassen. Wie bereits im Abschnitt Bildungssystem erläutert, ist die HFP seit 2015 der einzige formale eidgenössische Beratungsabschluss für das Feld der psychosozialen Beratung. Gemäß Statistik wurden von insgesamt 3.698 höheren Fachprüfungen im Jahr 2020 nur 17 höhere Fachprüfungen für den Erwerb des Titels Berater*in im psychosozialen Bereich durchgeführt, erfolgreich waren davon acht Personen (BFS, 2021b). Darüber hinaus gibt es Beratungsabschlüsse von privaten Weiterbildungsinstituten, die nicht systematisch erfasst sind.
Psychotherapieausbildung in der Schweiz Mit dem am 1. April 2013 in Kraft getretenen Psychologieberufe gesetz (PsyG) wurde der Zugang zur Psychotherapieaus- und -weiterbildung auf die Disziplinen Psychologie und Medizin beschränkt, wobei letztere auch ohne langjährige Ausbildung Psychotherapie anbieten dürfen. Seither ist der Zugang zur Psychotherapieausbildung für Fachpersonen anderer Disziplinen nicht mehr möglich. Im Anschluss an die Weiterbildung wird ein eidgenössisch anerkannter methodenunspezifischer5 Weiterbildungstitel verliehen.
5 Anders als in Deutschland mit drei und in Österreich mit 23 theoretischen Orientierungen ist in der Schweiz keine Orientierung an Therapieschulen vorgesehen. Es gibt eine Vielfalt mit diversen Methodenkombinationen. Beratung in der Schweiz
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Betrachtet man Inhalte und Umfang der Weiterbildung in Psychotherapie (EDI, 2013) so werden 500 Einheiten (à 45 min) »Wissen und Können« verlangt, sowie im Rahmen der praktischen Ausbildung mindestens zwei Jahre klinische Praxis zu 100 Prozent in einer Einrichtung der psychosozialen Versorgung, davon mindestens ein Jahr in einer Einrichtung der ambulanten oder stationären psychotherapeutisch-psychiatrischen Versorgung, eine eigene psychotherapeutische Tätigkeit (mindestens 500 Einheiten), 150 Einheiten Supervision und 100 Einheiten Selbsterfahrung (jeweils mindestens 50 Einheiten im Einzelsetting). Die Unterschiede zu einer Beratungsweiterbildung auf MAS-Stufe finden sich insbesondere in der klinischen Praxiserfahrung im Umfang von zwei Jahren und einer etwas höheren Stundenzahl bei der Supervision. Ansonsten zeigen sich inhaltlich mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede, sodass ähnlich wie in Deutschland die Separation der Felder eher aufgrund gesetzlicher Bestimmungen erfolgt und weniger inhaltlich begründet ist.
Beratungsverbände in der Schweiz Die Schweizerische Gesellschaft für Beratung (SGfB) wurde 2006 gegründet und verfügte 2019 über 35 Kollektivmitglieder, 476 Aktivmitglieder, 79 Mitglieder in Ausbildung und 46 Passivmitglieder (SGfB, 2019, S. 9). Sie versteht sich als Dachverband für Beratung in der Schweiz und möchte »Klarheit in der unübersichtlichen Beratungslandschaft schaffen, […] die Identität der psychologisch orientierten Beratungsberufe durch Massnahmen der Qualitätssicherung und der Qualitätsentwicklung [und] die fachlichen und wissenschaftlichen Grundlagen von Beratung/Counselling« fördern (SGfB, 2022). Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch die enge Verknüpfung mit der Beratung im Bereich der höheren Berufsbildung: Die SGfB ist Erfinderin der HFP, Trägerin der Prüfung und zugleich bieten Teile ihrer (Vorstands-)Mitglieder auch die entsprechenden Vorbereitungskurse an. Darüber hinaus werden Mitglieder der SGfB auch mit dem Versprechen geworben, eine verkürzte HFP mit nur zwei von vier Prüfungsteilen ablegen zu können. Dass die SGfB kein Dachverband für Beratung in der Schweiz ist, zeigt sich auch daran, 60
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dass nur zwei Hochschulen Kollektivmitglieder sind, davon eine amerikanische Privatuniversität. Systemis, die Schweizerische Vereinigung für Systemische Therapie und Beratung, verleiht die Titel »Systemischer Berater*in systemis« oder auch »Systemische*r Therapeut*in systemis«. Dazu können sich Beratungs- oder Therapieweiterbildungsgänge anerkennen lassen. Für die Anerkennung sind neben einem Hochschulstudium als Zugangsvoraussetzung zur Weiterbildung je 100 Einheiten (à 45 min) Selbsterfahrung und Supervision, 300 Einheiten systemisches Wissen und Können, eine Abschlussarbeit in Form einer Fallarbeit sowie eine eigene beraterische oder therapeutische Tätigkeit während der Weiterbildung als Qualitätskriterien erforderlich. Systemis wendete lange Zeit dieselben Mindeststandards auf Beratung und Psychotherapie an, sodass beide Labels als gleichwertig angesehen werden konnten. Verliehen wurde das Zertifikat »Systemische*r Berater*in und Therapeut*in systemis«. Im Nachgang der mit dem Psychologieberufegesetz einhergehenden stärkeren Trennung von Beratung und Psychotherapie wurden auch bei systemis Titel bzw. Zertifikate differenziert: Vergleicht man die Anforderungen an die beiden Zertifikate, so unterscheiden sie sich lediglich im disziplinären Zugang sowie im Weiterbildungsabschluss, die übrigen Anforderungen an berufliche Tätigkeit sind identisch formuliert (vgl. https://www.systemis.ch/einzelmitgliedschaft/). Es hat also eine Trennung aufgrund der sich verändernden gesetzlichen Vorgaben stattgefunden, wobei die Frage offen ist, inwieweit Psychotherapeut*innen ohne explizite Beratungsweiterbildung das Zertifikat für Beratung erhalten können. Das Beratungszertifikat kann erst dann als eigenständiges Zertifikat angesehen werden, wenn dies nicht (mehr) möglich wäre. Der Berufsverband, Coaching, Supervision, Organisationsberatung (BSO) ist in der Schweiz ein anerkannter Berufsverband mit rund 1400 Einzelmitgliedern und 18 Kollektivmitgliedern, in dem sich insbesondere auch viele Freiberufler*innen finden. Über die Fokussierung auf die drei Beratungsformate ist der BSO deutlich im nichttherapeutischen Bereich angesiedelt. Die Standards des BSO waren seit Gründung relativ anspruchsvoll, zwischenzeitlich verfügt der BSO über ein eigenes Qualitätssystem, Beratung in der Schweiz
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beides hat zu einer deutlichen Professionalisierung beigetragen. Das derzeitige Qualitätsportfolio verlangt Nachweise der Elemente Beratungskonzept, Kontraktverfahren, Evaluation und Feedback der Kund*innen, Reflexion des beraterischen Handelns und der laufenden Beratungsprozesse sowie kontinuierliche Weiterbildung. Zu jedem Element gibt es operationalisierte Standards und ein klares Verfahren zur Überprüfung der Einhaltung der Vorgaben. Die Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP) ist der größte Berufsverband von Psycholog*innen in der Schweiz. Auf der Website des Verbandes findet sich eine Unterscheidung zwischen Beratung und Therapie: »Bei einer psychologischen Beratung wird in der Regel ein klar umrissener praktischer Sachverhalt ins Zentrum gerückt. Es handelt sich etwa um die Abklärung einer Berufswahl, Laufbahnentscheide, Erziehungs- oder Lernschwierigkeiten, berufliche Konflikte. […] ist zeitlich befristet und dauert wenige Sitzungen (zwischen einer und etwa zehn Sitzungen).« Dagegen wird hinsichtlich der Psychotherapie die »Heilung der Seele« betont, es werden »Fragestellungen und Krankheiten […] behandelt, welche die ganze Person betreffen. Seelisches Leiden zeigt sich in Form von Ängsten, depressiven Störungen, Zwängen, Abhängigkeiten, Beziehungsproblemen usw.«. Da die persönliche Veränderung und das Erlernen neuen Verhaltens im Fokus stehen, »dauert eine Therapie tendenziell länger als eine Beratung« (FSP, 2022). Hier zeigt sich, dass Beratung – vermutlich aus Gründen der Abgrenzung – auf berufliche Themen reduziert wird, was nicht der Breite der Anwendungsfelder in der Schweiz entspricht.
Fazit: Auf dem Weg zu einer de-fragmentierten Beratungslandschaft? Für die Schweiz lässt sich eine widersprüchliche und vergleichsweise unübersichtliche Situation der Beratungslandschaft konstatieren. Die SGfB trägt – ganz entgegen ihrer Zielsetzung – nicht zur Klarheit bei, sondern hat mit der einseitigen Priorisierung von Beratung im Feld der beruflichen Bildung ganz wesentlich zur Fragmentierung der Beratungslandschaft in der Schweiz beigetragen. Die Höhere Fachprüfung ist aus Sicht einer qualifizierten Beratungsausbildung eher 62
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kritisch zu sehen, da die Zugangsvoraussetzungen niedrig sind und keine systematische Weiterbildung vorausgesetzt wird. Die geringe Erfolgsquote zeigt, dass die Prüfung selbst zwar anspruchsvoll ist, zugleich zeigen die niedrigen Teilnahmezahlen aber auch, dass sich die HFP – trotz ihres Vorteiles des eidgenössischen Titels – bisher nicht etablieren konnte. Aus Sicht von Beratungsklient*innen trägt die HFP zudem zur Marktverwirrung bei, da Unterschiede zwischen den Abschlüssen für Ratsuchende nicht erkennbar sind. Faktisch werden Beratungspersonen ohne Beratungsweiterbildung aufgewertet und es wurde ein Markt für Vorbereitungskurse geschaffen, die keiner qualitativen Kontrolle unterliegen. Hochschulische Beratungsweiterbildungen sind nun in einer ambivalenten Situation als nicht-formaler Beratungsabschluss zwischen der formal anerkannten HFP auf der einen Seite und der ebenfalls eidgenössisch anerkannten Psychotherapieweiterbildung auf der anderen Seite. Hier wäre es dringend erforderlich, fachpolitisch darauf hinzuwirken, dass es auch im Hochschulbereich wieder einen Weiterbildungstitel für Beratung als formalen Abschluss gibt. Eine Weiterentwicklung der SGfB zu einer glaubwürdigen Dachorganisation für die gesamte Schweizer Beratungslandschaft erscheint erst dann möglich, wenn die enge inhaltliche und personelle Verknüpfung zwischen der SGfB und der Höheren Fachprüfung psychosoziale*r Berater*in gelöst wird und international vergleichbare Standards für professionelle Beratung realisiert werden. Würde die HFP verstärkt unter dem Aspekt der »Anerkennung informellen Lernens« im Sinne einer Kompetenzbilanzierung zur Anrechnung informell erworbener Kompetenzen verstanden, so würde dies einen zentralen bildungspolitischen Leitgedanken (BFS, 2017; EQR, 2015) des Europäischen Qualifikationsrahmens realisieren und zudem zu einer sinnvollen Verknüpfung der beiden getrennten Nationalen Qualifikationsrahmen der Schweiz beitragen. Last, but not least: Die formale Aufwertung der Beratungsabschlüsse im Feld der höheren Berufsbildung ging einher mit einer formalen Abwertung der hochschulischen Beratungsabschlüsse, aber trotzdem genießen die hochschulischen Beratungsabschlüsse hohes Ansehen in der Praxis und werden umfangreich nachgefragt, was sich auch daran zeigt, dass private Weiterbildungsanbieter ebenBeratung in der Schweiz
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falls den Abschluss CAS (und teilweise auch MAS) vergeben wollen. Für eine Zukunft der professionellen Beratung in der Schweiz gilt es, diese Widersprüche anzugehen, um so den disziplinären und bildungssystematischen »Kantönligeist« und die damit einhergehende Fragmentierung zu überwinden und Beratung in der Schweiz zukunftsfähig aufzustellen.
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Martina Hörmann
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Beratung in der Schweiz
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Nichts Neues unter der Sonne: Beziehungsbasierte Praxis in der britischen Sozialarbeit und ihre Beziehung zu Beratung und Psychotherapie1 Gillian Ruch
Als ich diesen Beitrag zu schreiben anfing, fühlte ich mich ein bisschen wie eine Hochstaplerin. Ich bin keine Beraterin oder Psychotherapeutin, sondern ausgebildete, eingetragene Sozialarbeiterin und Akademikerin der Sozialarbeit, die seit über dreißig Jahren in diesen Berufsfeldern tätig ist. Wie kann ich dann aus dieser Berufsperspektive sinnvoll zu den wichtigen Debatten über das Verhältnis von Beratung und Psychotherapie beitragen? Mit zunehmendem Alter wird die alte Weisheit »Es gibt nichts Neues unter der Sonne« für mich immer deutlicher und relevanter. Ideen und Handlungen, ob nun alltäglich, akademisch, politisch oder spirituell, wurzeln in Vorkenntnissen und Erfahrungen, die sich anschließend weiterentwickelt haben. Ich denke, dass die berufliche Tätigkeit, die wir ausüben, auf den Praktiken unserer beruflichen Vorgänger aufbaut. Dieser Beitrag ist demnach in diesem Buch etwas abseits des Hauptthemas, jedoch keineswegs davon getrennt zu verorten. Anstatt sich auf die Differenzierung zwischen Psychotherapie oder Beratung zu konzentrieren, richtet sich der Blick hier auf einen Diskurs, der im Kontext der britischen Sozialarbeit als beziehungsbasierte Praxis bekannt geworden ist. Dieser Kontext zeichnet sich durch die Existenz paradoxer Spannungen und Herausforderungen aus, die für diesen Beruf unverzichtbar sind und die sich in dem Nebeneinander von fürsorglichen und kontrollierenden Aspekten manifestieren. Auch ich bin überzeugt, dass diese Spannungen und Herausforderungen den Beratungs- und Psychotherapieberufen nicht ganz fremd sind. In diesem Beitrag möchte ich auf die Verknüpfung der beziehungsbasierten Praxis der britischen Sozialarbeit zu den Ideen, Praktiken 1 Für die Übersetzung aus dem Englischen danken die Herausgeberinnen der Linguarum. Beziehungsbasierte Praxis in der britischen Sozialarbeit
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und Aufgaben von Beratung und Psychotherapie hinweisen, die im Grunde alle dasselbe Ziel verfolgen – nämlich die Erhaltung und Beförderung der menschlichen Gesundheit und des Wohlbefindens.
Beratung und Psychotherapie im Vereinigten Königreich Bevor wir das Wesen beziehungsbasierter Sozialarbeit untersuchen, erscheint es wichtig, kurz den aktuellen Stand und die Unterschiede zwischen Beratung und Psychotherapie im Vereinigten Königreich zu skizzieren. Die meisten Berater*innen und Psychotherapeut*innen sind bei anerkannten Berufsverbänden registriert, jedoch sind weder »Berater*in« noch »Psychotherapeut*in« geschützte Titel, und die Tätigkeit von Personen, die diese Titel führen, ist gesetzlich nicht geregelt. In Bezug auf die Aufgabe und den Schwerpunkt dieser beiden Bereiche der menschzentrierten Arbeit teilen sie ein übergeordnetes Ziel, nämlich die Förderung des Wohls des Individuums. Die beiden beruflichen Tätigkeiten unterscheiden sich in ihrer Reichweite und ihrem Umfang. Überwiegend konzentriert sich Beratung auf das »Hier und Jetzt« und funktioniert kurzfristig. Sie soll der betreffenden Person helfen, sich ihrer persönlichen Ressourcen bewusst zu werden, die sie mobilisieren kann, um auf von außen ausgelöste Erfahrungen zu reagieren und zu lernen, wie sie diese nutzen kann, um effektiver zu funktionieren und ein stärkeres Wohlbefinden zu erfahren. Psychotherapeut*innen hingegen haben in der Regel einen längerfristigen Fokus, greifen auf Ereignisse des frühen Lebensverlaufs zurück, um aktuelle Schwierigkeiten zu erklären, die oft intern ausgelöst werden, und setzen sich sowohl mit bewussten als auch unbewussten Gründen für die aufgetretenen Probleme auseinander – ein transformativer Prozess, der sowohl von bekannten als auch von unbekannten Faktoren beeinflusst wird. So unterscheidet sich der Schwerpunkt der Sozialarbeit von der Beratung und Psychotherapie erstens in ihrem gesetzlichen Auftrag – die meisten Sozialarbeiter*innen sind in kommunalen Kontexten beschäftigt – und zweitens in ihrer doppelten Ausrichtung auf die innere Welt des Individuums in seiner sozialen Welt. Die Aufmerk68
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samkeit, die Sozialarbeiter*innen der inneren Welt der Menschen entgegenbringen, mit denen sie arbeiten, unterstreicht die enge Verbindung des Berufes mit der Beratung und der Psychotherapie. Wie im Folgenden dargelegt wird, ist es jedoch nicht ungewöhnlich, dass dieser spezifische Aspekt der dualen Ausrichtung des Berufs, angesichts starker sozialer und politischer Einflüsse unter Beschuss gerät und Gefahr läuft, ernsthaft beeinträchtigt zu werden. Als Reaktion darauf müssen Sozialarbeiter*innen sich solcher Bedrohungen bewusst sein und sicherstellen, dass sie diesen Aspekt ihrer beruflichen Rolle im Interesse der Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit des Berufs bei der Unterstützung schutzbedürftiger Menschen schützen.
Das Wesen der beziehungsbasierten Sozialarbeit – Eine Praxisvignette Bella ist eine 24-jährige weiße Britin, die in Pflege aufgewachsen ist. Sie ist Mutter von drei Kindern – Wes (6 Jahre), Cheyanne (3 Jahre), die im Alter von 2 Jahren zur Adoption in eine Pflegefamilie kam, und Marly (sechs Monate). Avanka, die Sozialarbeiterin der Familie, arbeitet seit vier Jahren mit Bella zusammen. Während dieser Zeit hat sie Bella geholfen, in eine größere Sozialwohnung zu ziehen, ihre korrekten Leistungsansprüche zu klären und zu beantragen und Zugang zu Unterstützungsdiensten für Eltern mit kleinen Kindern zu erhalten. Neben dieser Arbeit musste Avanka ständig Bellas Elternfähigkeiten beurteilen und war an der Entscheidungsfindung beteiligt, die zur Unterbringung von Cheyanne führte. Zuletzt hat Avanka zu den Gutachten beigetragen, die zu der Entscheidung geführt haben, dass Marly zur Adoption freigegeben werden soll. Die enorme Belastung einer solchen Entscheidung für eine Mutter ist schwer vorstellbar, geschweige denn, mit ihr zu arbeiten, wenn man als die Schlüsselperson identifiziert wird, die dazu beigetragen hat. Während der letzten Anhörung vor Gericht ist Bella verzweifelt und macht beleidigende Kommentare über den Kinderdienst und Avanka, ihre Sozialarbeiterin. Avanka präsentiert ihren Bericht klar und mitfühlend und zeigt auf, wo Bella gut gearbeitet hat und wo sie es nicht geschafft hat, das zu erreichen, was von ihr in Bezug auf das Wohl ihrer Kinder verlangt wurde. Am Ende der Anhörung, als die Entscheidung über Marlys Zukunft bekannt geBeziehungsbasierte Praxis in der britischen Sozialarbeit
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geben wird, schreit Bella laut im Gerichtssaal und macht Avanka für das Geschehene verantwortlich. Draußen nähert sich Avanka Bella, die sie zunächst wegstößt, aber Avanka bleibt hartnäckig und setzt sich schweigend neben Bella. Langsam beginnt Bella zu weinen und Avanka bietet ihr ein Taschentuch an und erklärt ihr, dass sie Bella nach Hause bringen wird. Bella nickt und die beiden Frauen gehen Arm in Arm aus dem Gericht.
Die Beziehung zwischen Bella und Avanka ist im Kontext der britischen Sozialarbeit keineswegs außergewöhnlich. Sie verdeutlicht den heiklen und schmerzhaften Drahtseilakt, den Sozialarbeiter*innen vollziehen, indem sie gleichzeitig versuchen, vertrauensvolle Beziehungen zu Familien aufzubauen, wenn sie sich Sorgen um das Wohlergehen eines Kindes/der Kinder machen, und gleichzeitig ehrlich mit ihren gesetzlichen Pflichten und ihrer beruflichen Macht umgehen. Die meisten Sozialarbeiter*innen im Vereinigten Königreich sind von lokalen Behörden angestellt und haben eine gesetzliche Verantwortung, die im Mittelpunkt ihrer Tätigkeit steht. Trotzdem denke ich, dass nur wenige davon, wenn überhaupt, den Beruf aufgrund der starken Anziehungskraft seiner gesetzlichen Dimension ergreifen. Eine wahrscheinlichere Berufswahl für jemanden mit diesem Interesse wäre vielleicht die Polizei. Um die Rolle der Sozialarbeiter*innen jedoch vollständig einnehmen zu können, müssen sie in der Lage sein, diese kontrollierenden Aspekte bei Bedarf umzusetzen. Dies entspricht nicht unbedingt der häufigsten Motivation, Sozialarbeiter*in zu werden – nämlich der Sorge um das Wohlergehen der am stärksten gefährdeten Menschen in unserer Gesellschaft. Die fürsorgliche/kontrollierende Kontradiktion, die ein zentrales Merkmal der Identität einer Fachperson in der Sozialen Arbeit ist und sie klar von der Freiwilligkeit von Beratungs- und Psychotherapiebeziehungen unterscheidet, ist eine von mehreren Kontradiktionen, die mit der Praxis der Sozialarbeit verbunden sind – diese Kontradiktionen beinhalten: Außen-/Innenwelten, persönliche/ politische Perspektiven, psychologische/soziologische theoretische Neigungen, hier und jetzt/dort und damals Zeithorizonte, individuelle/gesellschaftliche Orientierungen und freiwillige/rechtliche Grundlagen für Interventionen. Die beziehungsbasierte Praxis er70
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kennt und versucht, diese Kontradiktionen in Einklang zu bringen. Um die Besonderheiten der zeitgenössischen Sozialarbeit besser zu verstehen, ist es notwendig, die historischen Wurzeln des Berufs zu skizzieren.
Eine kurze Geschichte der Sozialarbeit Die gesetzliche Sozialarbeit im Vereinigten Königreich entstand in den späten 1940er Jahren und war Teil eines viel größeren und visionären Projekts – der Entwicklung des Sozialstaates nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Bis zu diesem Zeitpunkt war Sozialarbeit eine karitative Tätigkeit, für die es keine nationalen Bestimmungen zur Unterstützung schutzbedürftiger Personen und Familien gab. Die Entscheidung darüber, wer diese Unterstützung durch die gemeinnützige Sozialarbeit erhielt oder nicht, beruhte auf der vorherrschenden Ideologie des Status einer Person, die entweder in die Kategorie »verdient« oder »unverdient« arm eingestuft wurde. Die Geburt des Wohlfahrtsstaates und seine ideologische Verpflichtung, Dienstleistungen für alle zugänglich und kostenlos zu erbringen, war ein entscheidender Moment bei der Schaffung öffentlicher Dienstleistungen. Die Psychotherapie stand zu diesem Zeitpunkt in Großbritannien erst am Anfang, hatte eine geringe amtliche Anerkennung und war auf diejenigen beschränkt, die sie sich leisten konnten. Die Einführung der Beratung, die vor allem durch die personenzentrierte Therapie von Carl Rogers in den 1950er Jahren beeinflusst war, stand noch aus. Trotz des relativ embryonalen Status der Psychoanalyse hatten die ihr zugrundeliegenden Ideen jedoch einen erheblichen Einfluss auf die frühen Wachstumsstadien der modernen Sozialarbeit im Vereinigten Königreich. Psychosoziale Fallarbeit: 1950er bis 1970er Jahre
In den späten 1940er und 1950er Jahren kam es zu einer raschen Expansion der Abteilungen für Kinderfürsorge und psychische Gesundheit, die auf orthodoxen psychoanalytischen theoretischen Ideen basierten. In dieser Hinsicht war die Sozialarbeit eng mit der Entstehung der Psychotherapie verbunden und teilte ihre theoretischen Wurzeln. Wo sich die entwickelnde Identität der Sozialarbeit jedoch Beziehungsbasierte Praxis in der britischen Sozialarbeit
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von der Psychotherapie unterschied, war ihre Aufmerksamkeit sowohl auf die psychologischen Ursprünge der Schwierigkeiten des Individuums als auch auf die sozialen Umstände des Individuums, die praktische Lösungen erfordern, gerichtet. Clare Winnicott, eine bahnbrechende Sozialarbeiterin in der Kinderfürsorge, modellierte diesen doppelten Fokus und wurde hoch angesehen für einen Ansatz der Sozialen Arbeit, der zwar psychoanalytisch begründet war, jedoch praktische und angewandte Dimensionen hatte, die ihn für Fachkräfte in den neu geschaffenen Abteilungen für Kinderfürsorgesozialarbeit geeignet machten: Clare Winnicott war klar, dass Engagement, Kontaktaufnahme mit problembehafteten Kindern, ein authentisches Gespräch und die Stärkung ihres Selbstbewusstseins alle wesentlichen Aufgaben waren, die erledigt werden mussten, bevor eine formelle Interpretationsarbeit sinnvoll geleistet werden konnte. Für sie schlossen sich Unterstützung und Interpretation nicht aus, sondern verstärkten sich gegenseitig (Holmes, 2004). Obwohl ein dualer psychologisch-soziologischer Fokus integraler Bestandteil dieses Ansatzes war, lag der Schwerpunkt weiterhin stark auf dem psychoanalytischen Verständnis der Probleme, mit denen die betreffende Person konfrontiert war. Die Auseinandersetzung erfolgte hauptsächlich mit dem Kind als Individuum, im Gegensatz zu einer familienorientierten Intervention. Aus dieser Praxis erwuchs ab den 1950er Jahren ein Modell sozialer Fallarbeit. Es dominierte die Entwicklung des Berufs der Sozialarbeit für die nächsten 20 Jahre und wurde durch das einflussreiche Buch von Florence Hollis verkörpert, das 1964 unter dem Titel »Casework: A psychosocial therapy« veröffentlicht wurde. Die Entwicklung des Berufsstandes war jedoch nicht ohne Kritiker. Barbara Wootton, eine prominente Sozialwissenschaftlerin, hat die psychoanalytische Grundlage des aufstrebenden Berufs immer wieder infrage gestellt: »Die Sozialarbeiter müssen sich nicht als Mini-Psychoanalytiker oder Psychiater ausgeben [...] Anstatt nach etwas Tieferem zu suchen [...] sollten Sozialarbeiter lieber nach etwas Oberflächlicherem suchen, wenn sie mit Verhaltensproblemen konfrontiert werden« (Wootton, 1950, zit. nach Stevenson, 2005, S. xiii). Die wachsende Spannung zwischen denen, die eine soziale und strukturelle Perspektive auf soziale Probleme vertraten, und denen, 72
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die Anhänger des etablierteren Modells der sozialen Fallarbeit waren, machte deutlich, dass die Praxis der Sozialarbeit und die Frage, was sie tun oder nicht tun sollte, potenziell polarisiert. Die mit den Banalitäten verbundenen Herausforderungen, die der Sozialarbeit sowohl als Berufspraxis als auch als akademische Disziplin innewohnen, wurden immer deutlicher. Für diejenigen mit einer eher soziologisch veranlagten Überzeugung wurden die Aktivitäten psychologisch fachkundiger Akademiker und Praktiker der Sozialarbeit einfach als »Abdecker der Risse in einer ungerechten und ungleichen Gesellschaft« betrachtet (Stevenson, 2005, S. xiii). Stevenson, ein überzeugter Verfechter eines integrativen Ansatzes für die Entwicklung des Berufsstandes, kommentierte, wie psychoanalytische Konzepte »auf Misstrauen und Missverständnisse stießen [...] verschärft durch soziologische Kritik an den Professionalitätsbestrebungen von Sozialarbeitern« (Stevenson, 2005, S. xiii). Trotz des Wunsches, theoretisch integrativer zu sein, gelang es den beiden Denkschulen nicht, eine Verständigung zu erzielen, um einen integrativen Ansatz für die Sozialarbeit zu entwickeln. Als Konsequenz entwickelten die soziologisch veranlagten Andersdenkenden einen eigenen theoretischen Weg, der sich ab den 1970er Jahren durchsetzte. Anti-Unterdrückungspraxis: 1970er bis 1990er Jahre Kritiker des psychoanalytisch geprägten Modells der Sozialarbeit haben mehrere miteinander zusammenhängende Probleme dieser Berufsausrichtung herausgestellt. Erstens kritisierten sie die Tendenz des Ansatzes, Empfänger der Dienstleistungen zu pathologisieren und sie als Ursache ihrer Probleme zu sehen. Zweitens stellten sie die individualisierte Perspektive auf die Ursprünge der Probleme infrage. Drittens missfiel ihnen die Positionierung von Sozialarbeiter*innen als »Experten«. Die übergreifende Kritik, die von dieser radikalen und offenkundig politischen Kritik an einem eng definierten, psychodynamischen Ansatz der Sozialarbeit ausgeht, konzentrierte sich auf die fehlende Anerkennung des breiteren sozialen, wirtschaftlichen und politischen Kontexts, in dem das Leben gelebt wird, und die Unterschätzung der Auswirkungen struktureller Probleme wie Armut, Rassismus und Homophobie. Das Aufkommen stärker politisierter Ansätze der Sozialarbeit, die auf dem wachsenden Vertrauen Beziehungsbasierte Praxis in der britischen Sozialarbeit
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neuer akademischer Disziplinen wie Soziologie und Kriminologie beruhten, fiel mit diesem wachsenden Bewusstsein für antirepressive Praktiken zusammen. In mancher Hinsicht könnte man die Entwicklungskurve des antirepressiven kritischen Modells der Sozialarbeit und ihre Beziehung zum psychoanalytisch geprägten Modell als Parallelen zu den Entwicklungskurven und der Beziehung zwischen Beratung und Psychotherapie ansehen. Beratung, die sich aus der Psychotherapie entwickelt hat, hat einen begrenzteren Aufgabenbereich und arbeitet weitgehend im Hier und Jetzt, an spezifischeren Problemen und oft über kürzere Zeiträume. Ähnlich kritische Ansätze der Sozialarbeit entwickelten sich als Reaktion auf die Mängel des psychoanalytisch geprägten Modells der Sozialarbeit, nämlich die mangelnde Aufmerksamkeit, die es den strukturellen Ursachen zeitgenössischer Probleme schenkte. Als kritische und antirepressive Ansätze in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zunahmen, wurde ihr Status durch zwei gleichzeitige Entwicklungen gefestigt: Erstens durch die Ausweitung spezifischer Beratungsansätze wie der kognitiven Verhaltenstherapie, die zeitlich begrenzt waren und sich auf das Hier und Jetzt der gegenwärtigen Schwierigkeiten konzentrierten; zweitens die Zunahme der Bürokratie innerhalb des Berufs der Sozialarbeit, die mit der raschen Ausweitung der Führungsansätze im öffentlichen Sektor verbunden waren. Diese beiden breiteren gesellschaftlichen Trends konzentrierten sich auf kurzfristigere Perspektiven und wurden zunehmend von den drei zentralen Imperativen des Managerialismus getrieben: Ökonomie, Effizienz, Effektivität. Als Folge dieser Entwicklungen begann die innere Welt, die Beziehungsorientierung, rasch an Bedeutung zu verlieren. Die Entstehung der beziehungsbasierten Praxis: 2000 bis heute
Erst in den 2000er Jahren traten Bedenken über die schädlichen Auswirkungen des Managerialismus in den Vordergrund. Parton (2008) artikulierte in seiner Abhandlung »Changes in the form of knowledge in social work: From the ›social‹ to the ›informational‹?« eindringlich, wie insbesondere die Digitalisierung der Berufspraxis 74
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das Wesen der Sozialarbeit kompromittiert und Menschen auf Kosten von Beziehungen und individueller Identität auf Informationen und Daten reduziert. Diese besorgniserregenden Trends wurden durch den Finanzcrash von 2008 und die von der Regierung eingeleiteten Sparmaßnahmen katastrophal beschleunigt, die sich drastisch auf die Leistungserbringung des öffentlichen Sektors ausgewirkt haben. Beziehungsbasierte Praxis, ein Begriff, der im Titel des von Ruch, Turney und Ward (2010, 2018) gemeinsam herausgegebenen Buches »Relationship-based social work: Getting the heart of practice« geprägt ist, war das erste Buch über Sozialarbeit, das sich damit auseinandersetzte, was beziehungsbasierte Sozialarbeit beinhaltet. Die Ideen, die zuerst in den von mir verfassten Kapiteln untersucht wurden (Ruch, 2018a, 2018b), haben diesen Beitrag eprägt. Ein zentrales Merkmal des Buches ist die Identifizierung des paradoxen Charakters der Praxis der Sozialarbeit und der Herausforderung, die konkurrierenden Anforderungen auszugleichen. Trotz ihrer relativ kurzen Geschichte zeigt der bisherige Entwicklungsweg des Berufs anschaulich, wie die Sozialarbeit die konkurrierenden Anforderungen an ihre Aufmerksamkeit in einer kreativen Spannung halten muss, um effektiv zu sein. Die Anfänge des Berufs mit seiner psychoanalytischen Neigung machten deutlich, dass es zwar wichtig ist, sich um die frühen psychologischen Erfahrungen des Individuums zu kümmern, dies jedoch nicht die strukturellen Ungleichheiten und Nachteile, denen viele Einzelpersonen und Familien ausgesetzt sind, berücksichtigt. Dies wurde in jüngerer Zeit durch die Arbeit von Featherstone, Gupta, Morris und White (2014) bekräftigt, die sich für ein soziales Modell des Kinderschutzes einsetzt, das einen wichtigen Beitrag dazu leistet, die bedeutende Rolle struktureller Ungleichheiten im Leben von Familien, die Kinderdienste in Anspruch nehmen, zu bekräftigen. Als ebenso kurzsichtig und unvollständig hat sich aber auch die Verlagerung hin zu einer stärker politisch engagierten Sozialarbeit erwiesen, die den psychologischen Erfahrungen und der Beschaffenheit des Individuums weniger Beachtung schenkte. Einer Familie eine bessere Unterkunft oder mehr finanzielle Sicherheit zu bieten, ist, wie Bellas Fall (vgl. Fallvignette S. 69) belegt, wichtig und notwendig, aber an Beziehungsbasierte Praxis in der britischen Sozialarbeit
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sich nicht ausreichend, um die psychologischen Lebenserfahrungen zu überwinden, die in Bellas Fall ihre Erziehungsfähigkeit beeinträchtigen. Eine binäre entweder/oder, individuelle/strukturelle Reaktion auf Bellas Umstände anzunehmen, ist nicht die Antwort. Sich dem Sog des Binären zu widersetzen und stattdessen einen ganzheitlichen und integrativen Ansatz für die Probleme eines Individuums zu verfolgen, ist das, was einen beziehungsbasierten Ansatz ausmacht. Der Zugang zu mehr Ressourcen könnte einen Beitrag zur Linderung der Not leisten, mit der Menschen wie Bella konfrontiert sind. Neben dieser praxisorientierten Antwort besteht jedoch ein ebenso wichtiger Bedarf an Sozialarbeiter*innen wie Avanka, den Menschen, mit denen sie zusammenarbeiten, zu helfen, besser zu verstehen, wie sich ihre persönlichen Erfahrungen in Vergangenheit und Gegenwart auf ihr aktuelles Verhalten und ihre Beziehungen auswirken. Dieser duale Fokus muss integraler Bestandteil der Interventionen der Sozialarbeit sein, wenn Veränderungen wirksam und nachhaltig sein sollen. Die beziehungsbasierte Praxis der Sozialarbeit versteht Beziehungen sowohl als Mittel als auch als Ziel der Sozialarbeit. Bower (2005, S. 11) kommentiert in Bezug auf die potenziellen Vorteile von Beziehungen in der Praxis der Sozialarbeit, dass »eine nachdenkliche und emotional empfängliche Haltung gegenüber Kunden therapeutischen Wert haben kann, ohne dass etwas Besonderes getan wird«. Obwohl ich Bowers Behauptung nicht widersprechen würde, ist die Einnahme einer solchen beziehungsbasierten Haltung keine leichte Option. Beziehungsbasierte Praxis erfordert möglicherweise nicht, dass ein*e Sozialarbeiter*in »irgendwas Besonderes« tut, es erfordert jedoch professionelles Geschick und Beharrlichkeit: Es erfordert, dass praktizierende Sozialarbeiter*innen entsprechend gerüstet sind, um die potenziell komplexen Dimensionen solcher Beziehungen zu verstehen. Bei sorgfältiger Beachtung des sozialen Kontexts, in dem sich die Schwierigkeiten der Menschen befinden, müssen Sozialarbeiter*innen gleichzeitig auf interne, oft unbewusste Dynamiken zurückgreifen, um diese beruflichen Begegnungen zu verstehen (Ruch, 2018a, S. 24).
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Zeitgenössische beziehungsbasierte Sozialarbeitspraxis verstehen Wie in der Überschrift dieses Beitrags schon angedeutet, »gibt es nichts Neues unter der Sonne«, und beziehungsbasierte Praxis der Sozialarbeit ist kein neues Phänomen. Das zeitgenössische beziehungsbasierte Modell stützt sich teilweise auf die psychoanalytischen Einflüsse, die seit den 1940er Jahren in der Kinderfürsorge und in der Sozialarbeit für psychische Gesundheit einfließen, sowie auf das bereits erwähnte psychosoziale Modell von Hollis (1964). Zu den Hauptmerkmalen dieser früheren Modelle gehören: – Anerkennung, dass vergangene Erfahrungen aktuelle Einstellungen und Verhaltensweisen beeinflussen; – Verständnis, dass wir nicht immer bewusst erkennen, wie sich unsere Erfahrungen auf unser Verhalten auswirken; – Erkenntnis, dass berufliche Beziehungen und die von ihnen hervorgerufenen Gefühle mit anderen, oft unverbundenen und nicht immer bewussten früheren Erfahrungen in Verbindung gebracht werden können (Stevenson, 2005, S. xi). Dieser zeitgenössische Ansatz der beziehungsbasierten Praxis der Sozialarbeit hat auch auf die Kritiker der frühen psychoanalytisch geprägten Praxismodelle der Sozialarbeit reagiert, indem er einen theoretisch integrativeren Ansatz verfolgt, der Perspektiven aus der System- und der kritischen Theorie einbezieht. Entwicklungen in Bezug auf die antirepressive und systemische/familientherapeutische Praxis, das Verständnis von Macht in beruflichen Beziehungen und die Bedeutung einer Arbeitsweise, die das Wissen der Dienstleistungsnutzer nutzt und partnerschaftliche und kooperative Arbeitsweisen erleichtert, werden alle als wesentliche Bestandteile der modernen beziehungsbasierten Praxis der respektvollen und ermächtigenden beruflichen Beziehung anerkannt. Aus dieser inklusiven Perspektive zeichnet sich ein zeitgemäßes beziehungsbasiertes Sozialarbeitsmodell durch die folgenden Schlüssel begriffe der Praxis der Sozialarbeit aus: – Menschliches Verhalten und die professionelle Beziehung sind wesentlicher Bestandteil jeder professionellen Intervention. Beziehungsbasierte Praxis in der britischen Sozialarbeit
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– Menschliches Verhalten ist komplex und vielfältig. Menschen sind nicht einfach rationale Wesen, sondern haben affektive (sowohl bewusste als auch unbewusste) Dimensionen, die menschliche Beziehungen bereichern, aber gleichzeitig komplizieren. – Die innere und äußere Welt des Individuums sind untrennbar miteinander verbunden. Daher sind integrierte (psychosoziale) Antworten auf soziale Probleme im Gegensatz zu eindimensionalen Antworten von entscheidender Bedeutung. – Jede Begegnung in der Sozialarbeit ist einzigartig und die besonderen Umstände jedes Individuums müssen berücksichtigt werden. – Eine kollaborative Beziehung ist das Mittel, durch das Interventionen kanalisiert werden, und dies erfordert eine besondere Betonung des »Gebrauchs des Selbst«. – Der Respekt für Individuen, der in beziehungsbasierte Praxis eingebettet ist, beinhaltet das Praktizieren auf integrative und ermächtigende Weise (Ruch, 2018a, S. 27–28). Die Kernmerkmale eines beziehungsbasierten Modells der Sozialarbeitspraxis legen einen Schwerpunkt auf Komplexität und Paradoxien. Sozialarbeit umfasst und integriert die psychologische und die soziale Dimension und schenkt sowohl den bewussten als auch den unbewussten Aspekten menschlichen Verhaltens besondere Aufmerksamkeit. Der Blick unter die Oberfläche, um die weniger rationalen oder greifbaren Aspekte der Sozialarbeitsbeziehung zu verstehen, ist von besonderer Bedeutung. Unbewusste Elemente der Erfahrungen eines Individuums haben das Potenzial, Interventionen der Sozialarbeit entscheidend zu beeinflussen. Die Art und Weise, wie unausgesprochene Ängste über starke Gefühle, einschließlich Furcht oder Verzweiflung, ausgedrückt werden, kann beispielsweise das Urteilsvermögen des Arbeiters trüben oder den Fortschritt der Arbeit behindern. Das beziehungsbasierte Sozialarbeitsmodell versucht, eine vernetzte Denkweise über Beziehungen anzubieten, die die sichtbaren und unsichtbaren, bewussten und unbewussten Komponenten, aus denen alle Beziehungen bestehen, anerkennt, und die wichtigen Verbindungen zwischen den intrapsychischen, zwischenmenschlichen und breiteren sozialen Kontexten erkennt. 78
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Wichtig ist auch das Bewusstsein der Sozialarbeiter*innen für ihre eigene Komplexität und Verwundbarkeit. Beziehungsbasierte Sozialarbeit, steht hier im Einklang mit Beratung und Psychotherapie und beruht in hohem Maße darauf, dass Sozialarbeiter*innen im »Gebrauch des Selbst« geschult sind (Cooper, 2018; Ward, 2018), was per Definition ein erhöhtes Maß an Selbstwahrnehmung erfordert. Es erkennt an, dass sowohl praktizierende Sozialarbeiter*innen als auch die Nutzenden der Dienstleistung eine Reihe von Erfahrungen und emotionalen Reaktionen in die Begegnung einbringen und dass das Verständnis jeder Person von sich selbst und dem*der »anderen« einen Einfluss auf die Beziehung hat (Turney, 2012). Dies ermöglicht es Sozialarbeiter*innen, sowohl mit ihren Gedanken als auch mit ihren Gefühlen in Bezug auf die Beziehung in Kontakt zu bleiben, und nicht nur auf ihre kognitiven, sondern auch auf ihre affektiven Reaktionen zu achten, die den Umgang mit Einzigartigkeit prägen. Sozialarbeiter*innen benötigen Kenntnisse und Fähigkeiten im Umgang mit der komplexen Dynamik helfender Beziehungen, um in der beziehungsbasierten Sozialarbeit effektiv zu sein. Wie bei Berater*innen und Psychotherapeut*innen müssen Sozialarbeiter*innen in der Lage sein, die Ängste, die den Schwierigkeiten der Menschen, mit denen sie arbeiten, zugrunde liegen, zu tolerieren und mit ihnen zu arbeiten. Wenn diese Angst nicht anerkannt oder nicht vollständig erkannt wird, besteht die ernsthafte Gefahr, dass diese Angst das Urteilsvermögen und die Kommunikation verzerrt und die Ergebnisse der Arbeit ernsthaft beeinträchtigt. Wie sonst ist zu erklären, dass eine Sozialarbeiterin einem Kleinkind gestattet, in einem Elternhaus zu bleiben, obwohl sie und andere Fachkräfte zu viel Angst haben, es zu betreten, oder die entscheidenden Anzeichen übersehen werden, dass ein psychisch kranker Erwachsener plötzlich zu einem viel größeren Risiko für sich selbst oder andere geworden ist? Solche Vorfälle unterstreichen die zentrale Bedeutung eines beziehungsbasierten Fokus, der weder den psychologischen noch den soziologischen Ursprung der individuellen Probleme bevorzugt, sondern diese in einem kreativen Spannungsverhältnis hält. Das Argument von Burke und Cooper (2007), dass psychoanalytische und systemtheoretische Perspektiven als komplementär und kompatibel verstanden werden können, ist dabei hilfreich. Eine solche inBeziehungsbasierte Praxis in der britischen Sozialarbeit
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tegrative theoretische Perspektive kann Sozialarbeiter*innen helfen, »Komplexität zu verteidigen und aufrechtzuerhalten« (Burke u. Cooper, 2007, S. 193) und trotz des starken Drucks, sie zu stark zu vereinfachen, weiterhin mit der Komplexität menschlichen Verhaltens zu arbeiten.
Fazit Wenn sich der Kreis schließt und über die Hinweise in der Einleitung dieses Beitrags auf meinen Hochstapler-Status und die Erkenntnis, dass es »nichts Neues unter der Sonne gibt«, nachgedacht wird, hat mein Gefühl, eine Hochstaplerin zu sein, in dem Maße nachgelassen, wie meine Erkenntnis der gemeinsamen Merkmale von Sozialarbeit, Psychotherapie und Beratungsbeziehungen gewachsen ist. Die historischen und zeitgenössischen Anwendungen der Sozialarbeit stützen sich maßgeblich auf die gemeinsamen theoretischen Grundlagen von Psychotherapie und Beratung. Die Sozialarbeit sieht sich jedoch mit Herausforderungen konfrontiert, die ihrer beruflichen Identität und ihrem Auftrag eigen sind, die sich um den gesetzlichen Charakter ihres Auftrages drehen, der sowohl die aufgrund der Notlage einer Person bestehenden Ängste als auch das Potenzial für eine fragmentierte und polarisierte Praxis verstärkt, die nicht in der Lage ist, die Kontradiktionen, denen sie begegnet, in einer notwendigen und kreativen Spannung zu halten. Die Kombination des Begriffs »Sozialarbeitspraxis« mit »beziehungsorientiert« profiliert hilfreich den Aspekt der Berufsarbeit, der leicht durch Führungszwänge untergraben oder an den Rand gedrängt werden kann. Während für einige Sozialarbeiter *innen der Hinweis auf Beziehungsorientierung unnötig ist, da Beziehungsarbeit integraler Bestandteil ihrer Identität und ihres Verhaltens ist, dient sie anderen als nützliche Aufforderung und Erinnerung an die wichtigsten Mittel, durch die Veränderungen bewirkt werden können. In dieser Hinsicht bringt es diesen jungen Beruf in Einklang mit den anderen relativ neuen Berufen der Beratung und Psychotherapie und erinnert sie alle an ihre alten Wurzeln im griechischen und römischen Verständnis von Beziehungen und Dialog als das Herzstück des psychischen Wohlbefindens und eines gesunden Lebens. Es gibt eben nichts Neues unter der Sonne. 80
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Literatur Bower, M. (2005). Psychoanalytic theories for social work practice. In M. Bower (Ed.), Psychoanalytic theory for social work practice: Thinking under fire (pp. 3–14). London: Routledge. Burke, C., Cooper, A. (2007). Dialogues and developments in social work practice: Applying systemic and psychoanalytic ideas in real world contexts. Journal of Social Work Practice, 21 (2), 193–196. Cooper, A. (2018). Conjunctions: Social work, psychoanalysis, and society. London: Karnac. Featherstone, B., Gupta, A., Morris, K., White, S. (2018). Protecting children: A social model. Bristol: Policy Press. Hollis, F. (1964). Casework: A psychosocial therapy. New York: Random House. Holmes, J. (2004). Foreword. In J. Kanter (Ed.), Face to face with children: The life and work of Clare Winnicott (pp. xvii–xxii). London: Karnac. Parton, N. (2008). Changes in the form of knowledge in social work: From the ›social‹ to the ›informational‹. British Journal of Social Work, 38, 253–269. Ruch, G. (2018a). The contemporary context of relationship-based practice. In G. Ruch, D. Turney, A. Ward (Eds.), Relationship-based social work: Getting to the heart of practice (2nd ed; pp. 19–36). London: Jessica Kingsley. Ruch, G. (2018b). Theoretical frameworks informing relationship-based practice. In G. Ruch, D. Turney, A. Ward (Eds.), Relationship-based social work: Getting to the heart of practice (2nd ed.; pp. 37–54). London: Jessica Kingsley. Ruch, G., Turney, D., Ward, A. (Eds.) (2018). Relationship-based social work: Getting to the heart of practice (2nd ed.). London: Jessica Kingsley. Stevenson, O. (2005). Foreword. In M. Bower (Ed.), Psychoanalytic theory for social work practice: Thinking under fire (pp. ix–xvi). London: Routledge. Turney, D. (2012). A relationship-based approach to engaging involuntary clients: The contribution of recognition theory. Child and Family Social Work, 17 (2), 149–159. Ward, A. (2018). The use of self in relationship-based practice. In G. Ruch, D. Turney, A. Ward (Eds.), Relationship-based social work: Getting to the heart of practice (2nd ed.; pp. 55–77). London: Jessica Kingsley.
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Beratung, Psychotherapie und Klinische Psychologie im Vergleich zur sozialpsychologischen Landschaft der USA Ulrich Giesekus
Der Begriff »Counseling«1 ist im deutschsprachigen Raum gängig. Damit wird der allgemeine Beratungsbegriff auf die psychosozialen bzw. selbstreflektierenden Kontexte fokussiert und von anderen Beratungsfeldern (z. B. Finanzberatung, Rechtsberatung etc.) differenziert. Das macht es sinnvoll, sich mit der US-amerikanischen Counseling-Praxis zu beschäftigen, um die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen amerikanischen und deutschsprachigen Bedeutungsspektren des Begriffs zu verstehen. Zwischen Counseling (dt.) und Counseling (engl.) muss man differenzieren. Dieser Beitrag basiert weniger auf dem akademischen Diskurs des amerikanischen Verständnisses von Counseling. Abgesehen davon, dass berufsrelevante Zulassungen in jedem Staat der USA anders geregelt sind, wird diese Diskussion aktuell auch nicht mehr geführt. Daher gründe ich mich auf meine persönliche Expertise: Von 1978 bis 1988 habe ich in den USA allgemeine Psychologie (Bachelor), Counseling (Master in Erziehungswissenschaften) und Klinische Psychologie (Ph.D.) studiert und war dort etliche Jahre auch im Bereich von Psychotherapie und professioneller Beratung tätig. In mancher Hinsicht hat sich die Beratungs- und Therapielandschaft in den USA inhaltlich geändert, z. B. durch die Akzeptanz neuer Behandlungsverfahren. Jedoch sind die Grundbedingungen der Berufsausübung für Psychotherapie und Beratung im Wesentlichen unverändert. Zulassungsbestimmungen etc. wurden ergänzt, manche verschärft, weitere Berufsfelder zur Ausübung der Psychotherapie 1 Im Beitrag wird die US-Schreibweise »Counseling« mit einem »l« (britisch »Counselling«) verwendet. Das deutsche Wort Counseling ist keine bedeutungsgleiche Übersetzung des amerikanischen Counseling. Wenn es im amerikanischen Sinn verwendet wird, schreibe ich es kursiv. Vergleich zur sozialpsychologischen Landschaft der USA
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zugelassen, und teilweise die Bedingungen auch erleichtert. Da ich bis heute in den USA intensive akademische Verbindungen pflege, u. a. als »Fellow« am »Institute for International Care and Counsel« der Belhaven University in Jackson, Mississippi, bin ich mit der beruflichen Praxis auch aktuell vertraut.
Counseling und Psychotherapy: fünfzig Staaten Da die Zulassung und beruflichen Qualifikationen Aufgabe der einzelnen Staaten sind, gibt es auch fünfzig verschiedene Regelwerke, die sich jedoch in ihren Grundvoraussetzungen ähneln (es gibt in den USA mehr staatenübergreifende Mobilität als zwischen den Staaten der EU). Zum Beispiel sind dicht besiedelte und reiche Staaten wie Kalifornien eher strenger als dünn besiedelte Staaten wie Alaska oder ärmere wie Mississippi. Ein Vergleich zwischen den USA und Deutschland wäre insofern irreführend; das Vergleichsobjekt müsste die EU sein. Nun sind in Europa Bedingungen und professionelle Standards teilweise sehr unterschiedlich. Behandlungs- und Beratungsangebote variieren, und niemand sollte überrascht sein, wenn sich die Bedingungen der psychosozialen Versorgungsangebote zwischen einer rumänischen Roma-Siedlung und einem Stockholmer Vorort unterscheiden. Im Vergleich zur EU sind die USA zwar eher homogener, aber eben nicht so einvernehmlich geregelt wie in einem einzelnen Staat (z. B. in der Bundesrepublik Deutschland).
Das Land der (fast) unbegrenzten Möglichkeiten In einem Überblick des US-amerikanischen Verständnisses von Counseling wird deutlich, dass in den USA eine sehr viel größere Bandbreite professioneller Behandlungsmöglichkeiten praktiziert wird als in europäischen Staaten. Trotz aller politischen und gesellschaftlichen Unterschiede richtet sich Beratung und Psychotherapie dennoch an Menschen, die in ihren psychologischen Gegebenheiten nicht so unterschiedlich sind. Es besteht daher ein wesentlicher Unterschied zwischen der humanwissenschaftlichen Perspektive, in der sich die westlich geprägten Gesellschaften kaum unterscheiden, und der berufsrechtlichen, die erheblich an84
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ders ist. Kupfer, Wesenberg, Gahleitner und Nestmann (2021, S. 12) beobachten: »Zeigen sich, […] im angloamerikanischen und insbesondere im großbritannischen Sprachraum weniger ausgeprägte Abgrenzungsdiskurse, ist das Verhältnis von Psychotherapie und Beratung in den Fachdiskussionen hierzulande ein prekäres Thema.« Die Unterschiede zwischen Gesellschaften und Kulturen machen daher deutlich: Psychotherapie, Beratung und klinische Psychologie sind nicht humanwissenschaftlich zu unterscheiden, sondern berufsrechtlich bzw. -politisch. Forschungen zur seelischen Gesundheit, zur Störungsentwicklung und Wirkung von unterschiedlichen Verfahren zeigen präventive, heilsame und destruktive Prozesse in allen Bereichen des Lebens. Die Definition für Psychotherapie des deutschen Psychotherapeutengesetzes von 2020 (§ 1 Absatz 2) als »jede mittels wissenschaftlich geprüfter und anerkannter psychotherapeutischer Verfahren oder Methoden berufs- oder geschäftsmäßig vorgenommene Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung von Störungen mit Krankheitswert, bei denen Psychotherapie indiziert ist« wirkt jedenfalls im internationalen Vergleich als künstliche und humanwissenschaftlich unbegründete Regelung. Viele Berufe in der Pädagogik, Sozialarbeit, Gesundheitspflege, Psychologie oder Medizin stellen Störungen fest, lindern diese und wenden dabei wissenschaftliche Methoden an, die auch im Rahmen psychotherapeutischer Behandlungen zum Einsatz kommen können. Wann und bei wem Psychotherapie indiziert ist, ist ebenfalls eine Frage, die nicht humanwissenschaftlich beantwortet werden kann und nicht eindeutig.
Ökonomische Aspekte beruflicher Zulassungen Auch wenn die gesetzgebenden Organe am Ende entscheiden, gibt es treibende Kräfte in der Gesellschaft, die hinter den Gesetzesvorhaben stehen, z. B. Wählerinnen und Wähler oder Lobby-Gruppen wie z. B. Ärzteverbände. In Deutschland und einigen anderen europäischen Ländern gibt es, international gesehen, eine Ausnahme: Psychotherapie wird von Krankenkassen bezahlt. Dabei erfolgen in Deutschland die Abrechnung und Zulassung über kassenärztliche Vereinigungen – somit werden die Regeln von den Behandlern selbst Vergleich zur sozialpsychologischen Landschaft der USA
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bestimmt. Der Fuchs bewacht also die Gänse. Die Berufsinteressen von psychologischen und medizinischen Fachkräften scheinen bei den gesetzlichen Regelungen ausschlaggebend, nicht die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung. Angesichts der teilweise extrem langen Wartezeiten auf ambulante Therapieplätze und der hohen Kosten für die Allgemeinheit ist die enge Beschränkung der Zulassungen zur Psychotherapie eher nicht im allgemeinen Interesse. Im Gegensatz zur Psychotherapie wird professionelle Beratung häufig durch kommunale Träger übernommen, wie z. B. in Erziehungsberatungs- oder Suchtberatungsstellen, also mit Steuergeldern finanziert, und die ausführenden Profis sind nicht selbst über ihre Berufsverbände für die Verteilung der Gelder zuständig. Hier ist die Politik verantwortlich, und die Kosten-Nutzen-Rechnung wird politisch festgelegt. Ausbildungs- und Zulassungsschwellen liegen daher deutlich niedriger wie auch die Vergütungen. Die Kosten berufsbezogener Beratungsangebote wie Coaching und Supervision werden von Klient*innen selbst und in manchen Fällen durch die Unternehmen übernommen. In diesem Beratungsfeld gibt es keine Gesetze, die über Zulassungskriterien entscheiden: Wer zahlt, kann frei bestimmen. Von daher ist nicht überraschend, dass die Zulassungsbestimmungen zur Psychotherapie sehr restriktiv sind, für die kommunale Beratung eher ökonomisch bestimmt werden und bei den berufsbezogenen Angeboten der Markt bestimmt, wer was darf und was es kosten kann.
Blick über den Teich: wer zahlt? Wie ist das in den USA? Ohne allgemeine Krankenversicherungspflicht sind – besonders für psychotherapeutische Behandlungen – viele Personen gar nicht versichert, einige über das betriebliche Gesundheitswesen ihrer Arbeitgeber abgedeckt und nur wenige privatversichert. Der Regelfall ist also, dass psychotherapeutische Behandlungen ganz oder teilweise selbst bezahlt werden müssen. Die meisten Klient*innen nehmen zur Psychotherapie bei psychischen Störungen die Dienste kommunaler oder gemeinnütziger Beratungsstellen (Mental Health Services – Dienste für seelische 86
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Gesundheit) in Anspruch, die aber ebenfalls Erziehungs- Paar-, Familien- oder Suchtberatung durchführen, und die in der Regel gegen eine Kostenbeteiligung angeboten werden. Damit entsteht ein Bedarf an qualifizierten Behandlungsmöglichkeiten durch Personen, die gut ausgebildet, aber kostengünstiger sind als Psychiater*innen oder klinische Psycholog*innen. Hierzu zählen als Anbieter psychotherapeutischer Dienste eine Vielzahl auf Masterebene ausgebildete Therapeut*innen, wie z. B. in den Berufen »Licensed Clinical Social Work« (Klinische Sozialarbeit), »Licensed Clinical Nurse Practice« (Klinische Gesundheits- und Krankenpflege), »Licensed Marriage, Family and Child Counseling« (Paar-, Familien- und Erziehungs beratung) oder »Licensed Mental Health Counseling«. Sie alle verstehen sich als »Psychotherapeuten«, und manche eröffnen irgendwann als selbstständige Behandler*innen eine private Praxis. Meistens haben sie ihren Ruf als »gute Therapeuten« in einer kommunalen oder gemeinnützigen Beratungsstelle erworben und verfügen dann oft auch über eine Klientel, die sie in ihre Praxen mitnehmen. In allen 50 Staaten ist die Führung einer psychotherapeutischen Praxis ohne Zulassung untersagt, aber für die bereits erwähnten und weitere Berufsgruppen sind Zulassungen möglich. Voraussetzungen sind ein Studienabschluss auf Masterebene mit einer Spezialisierung in psychotherapeutischer Behandlung sowie viele hundert Stunden supervidierter Praxis. Allgemein kann man sagen, dass US-amerikanische Ausbildungsangebote mehr praxisorientiert sind und neben den akademischen Inhalten die Ausbildung zur Psychotherapie in die universitären Curricula integriert sind (vergleichbar mit dem Studium der Medizin in Deutschland). So waren/sind beispielsweise zur Erlangung des M.Ed. in »Counseling« 800 Stunden Beratung unter Supervision nachzuweisen und zum Ph.D. in »Clinical Psychology« 4000 Stunden klinische Praxis unter Supervision (also insgesamt 4800 Stunden, d. h. 5 Jahre studienbegleitende Tätigkeit als Berater/Psychotherapeut). »Psychotherapeutische Zusatzausbildungen« im Anschluss an ein Studium sind daher in den USA unbekannt, regelmäßige Weiterbildungen für die Praxis – je nach Staat und Beruf in unterschiedlichem Umfang – vorgeschrieben. Wie in den USA üblich, kosten die Studiengänge hohe Studiengebühren, und wie viele ZusatzausVergleich zur sozialpsychologischen Landschaft der USA
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bildungen in Deutschland sind Hochschulen in den USA kommerzielle Unternehmen. Von daher besteht seitens der Steuerzahler kein Interesse, die Hochschulausbildung auf die theoretischen Kompetenzen zu beschränken. Im Sinne der praktischen Berufsausübung sind die Begriffe »Psychotherapy« und »Counseling« synonym. Die Behandler*innen gehören zum System der Gesundheitsversorgung und sind berechtigt, über die Beihilfen der staatlichen Wohlfahrt/Sozialhilfe (Medicare/ Medicaid) sowie der Versorgung für Militärangehörige (Veterans Administration) abzurechnen. Die Mehrheit der Bevölkerung zahlt jedoch selbst. Paradoxerweise ist das oft mit einer positiven Konnotation von Psychotherapie verbunden: Wer sie in Anspruch nimmt, kann es sich leisten – man kann also durch Inanspruchnahme von Psychotherapie den eigenen Status demonstrieren. Während also in der Münchner Schickeria vermutlich selten über die eigene psychotherapeutische Behandlungsbedürftigkeit gesprochen wird, gehört es in der »high society« in New York oder Los Angeles schon eher dazu, auf der Cocktailparty mit den besten und teuersten Psychotherapeuten zu reüssieren, was sich auch in Hollywoodproduktionen zeigt. Psychotherapie ist ein beliebtes Unterhaltungsthema.
Clinical Psychology und Psychiatry – die »hohe Hürde« in den USA Was in Deutschland die streng regulierte Psychotherapie ist, entspricht in den USA eher den Tätigkeitsbereichen »Clinical Psychology« bzw. »Psychiatry«. Klinische Psychologie und Psychiatrie haben ein deutlich höheres Niveau in Ausbildung und Bezahlung als die oben genannten Gesundheitsberufe. Der akademische Abschluss »Ph.D.« oder »Psy.D.« für Psycholog*innen oder »MD« für Psychiater*innen ist Grundvoraussetzung für die Ausübung der privaten Praxis als »Clinical Psychologist« bzw. »Psychiatrist«. Wie in Deutschland sind Psychiatrists immer zuerst einmal Ärzte. Mit entsprechenden Weiterbildungen ist in vielen Staaten der USA auch Psycholog*innen die Verschreibung von Psychopharmaka gestattet. Des Weiteren kommen auch hier zur psychotherapeutischen Spezialisie88
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rung neben einer theoretischen Ausbildung mehrere tausend Stunden supervidierter Praxis und das Absolvieren von weiteren staatlichen Examina (je nach Staat teilweise sehr unterschiedlich). Die »Lizenz« muss auch hier, wie bei anderen therapeutischen Berufen, aufrechterhalten werden mit Fort- und Weiterbildungen, wobei in einzelnen Staaten auch bestimmte Themen verpflichtend sein können (z. B. Schulungen zur Therapie bei Migration, zu geschlechtergerechten oder rassismussensiblen Aspekten oder zur Einbeziehung spiritueller Klienten-Ressourcen). Der professionelle Umgang ist formaler: Im Gegensatz zu den psychotherapeutischen Berater*innen auf MA-Niveau, wo in der Regel der Vorname benutzt wird, ist die Anrede »Doc« oder »Doctor« mit Nachnamen oder teilweise Titel und Vorname üblich (»Dr. Bob«)2. In stationären Einrichtungen werden nur diese Berufsgruppen Leitungsaufgaben wahrnehmen, wie auch in Forschung und Wissenschaft, und ihre Honorare bzw. Gehälter sind deutlich höher als die der auf Masterebene ausgebildeten Therapeut*innen. Die American Psychological Association (APA) definiert den Aufgabenbereich der »Klinischen Psychologie« umfassend: »Clinical psychology is the psychological specialty that provides continuing and comprehensive mental and behavioral health care for individuals and families; consultation to agencies and communities; training, education and supervision; and research-based practice. It is a specialty in breadth – one that is broadly inclusive of severe psychopathology – and marked by comprehensiveness and integration of knowledge and skill from a broad array of disciplines within and outside of psychology proper. The scope of clinical psychology encompasses all ages, multiple diversities and varied systems« (APA, 2008). Sie beinhaltet Kompetenzen für alle Bereiche seelischer Störungen, Alters- und Bevölkerungsgruppen und Diversitäten sowie eine fundierte Kenntnis der Psychopathologie. Insbesondere gehören die Konsultation mit Beratungsstellen und Institutionen sowie die Ausbildung und Supervision der anderen therapeutischen Berufe zu ihren Aufgaben. 2 Die Promotion ist bei amerikanischen klinischen Psycholog*innen wie Psychiater*innen vorauszusetzen, anders als in Deutschland. Vergleich zur sozialpsychologischen Landschaft der USA
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Counseling und Psychotherapy: gleicher Beruf, andere Ansätze Sowohl auf dem »hohen Niveau« der Clinical Psychology/Psychiatry als auch in der normalen therapeutischen Praxis sind die Begriffe »Psychotherapy« und »Counseling« berufsrechtlich austauschbar. Wenn es um die Behandlung krankheitswertiger seelischer Störungen geht, drückt sich aber in der Begrifflichkeit durchaus ein unterschiedliches Psychotherapieverständnis aus. Im Bereich humanistischer, besonders personenzentrierter Psychotherapie ist in der Regel die Rede von »Counseling«. Carl Rogers und der klientenzentrierte/personenzentrierte Ansatz waren hier prägend3. Diesen Ansätzen ist wichtig, dass möglichst wenig Machtgefälle in der Beziehung von Counselor und Client besteht. Die Tatsache, dass es den Begriff »Client« auch in anderen Kontexten gibt (vom Friseur bis zur Anwaltskanzlei), ebenso »Counselor« (von der Betreuung Jugendlicher im Sommercamp bis zur Finanz- oder Steuerberatung), macht diese Begriffe eher neutral, was die Macht und den Status angeht. Die Behandlung seelischer Not wird durch sie entstigmatisiert. Lumma (2021) nennt weitere prominente humanistisch orientierte Gründer*innen wie Lucy Ackerknecht (Individualpsychologie), Ruth Cohn sowie Fritz und Laura Perls (Gestalttherapie), Fanita English (Transaktionsanalyse) oder Paul Watzlawick (Systemische Beratung), die den Begriff Counseling für ihre Behandlungsansätze bevorzugten. In der medizinischen Psychiatrie, Tiefenpsychologie und klinischen Verhaltenstherapie spricht man dagegen eher von »Patients« und von »Psychotherapy«. Hier wird auch zum Ausdruck gebracht, dass Ausführende der Psychotherapie hochqualifizierte Expert*innen sind, die für die Behandlung verantwortlich sind. Im Englischen ist die doppelte Bedeutung von »patient« (Adjektiv »geduldig«, Sub 3 Ich habe von 1985 bis 1987 in San Diego mit Carl Rogers persönlich zusammenarbeiten können, u. a. an meiner Dissertation. In den Begegnungen mit ihm und anderen Gründungspersonen der humanistischen Psychologie, z. B. Reinhard Tausch, wurde deutlich, dass der Abbau von Machtdistanz in allen Bereichen von Behandlung, Therapie und Ausbildung einen hohen persönlichen Wert darstellte.
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stantiv »Patient«) stimmig mit dieser Bezeichnung: Patient*innen lassen sich geduldig behandeln, Klient*innen müssen und sollen selbst eigenverantwortlich handeln.
Fazit Zusammengefasst kann man sagen, dass die Begriffe »Counseling«, »Psychotherapy« und »Clinical Psychology« nicht Eins-zu-einsÜbersetzungen von Beratung, Psychotherapie oder Klinischer Psychologie sind, sondern in den USA je nach Kontext unterschiedliche Bedeutungsspektren einnehmen. Der internationale Vergleich macht deutlich, dass die Unterscheidung und Grenzen zwischen den Tätigkeitsfeldern Psychotherapie, Beratung, Counseling und teilweise Pädagogik berufsrechtlicher Natur sind. Es gibt keine humanwissenschaftlich begründeten Kriterien, die diese Bereiche im Wesentlichen unterscheiden, sondern juristisch mehr oder weniger eindeutig definierte Bedingungen für die Ausübung dieser Tätigkeiten. Eine Ausnahme ist die klar definierbare Behandlung mit Psychopharmaka, die in Deutschland ausschließlich ärztlicherseits erfolgen darf; in den USA auch durch entsprechend ausgebildete klinische Psycholog*innen. Ob die strenge berufsrechtliche Einschränkung des deutschen Psychotherapie-Begriffs der Qualität der gesundheitlichen Versorgung dient, bleibt dahingestellt. Es gibt keine Effektivitätsstudien, die eine höhere oder gar einzigartige Wirkung der Psychotherapie bei diesen Berufsgruppen nahelegt. Der Versuch, Scharlatanen das Handwerk zu legen, ist ehrbar, aber vermutlich nicht besonders effektiv. In der »alternativen Medizin« kann mit einer Heilpraktikergenehmigung so ziemlich jeder alles machen. Diesen unregulierbaren Markt im weiten Feld von Esoterik, Wahrsagerei und alternativer Medizin gibt es erwartungsgemäß auch in den USA. Die vergleichbar laxe Regulierung für Psychotherapy in den USA entspricht dagegen wirtschaftlichen Bedingungen, abgesehen davon, dass die US-amerikanische Kultur insgesamt weit weniger regulierungsfreudig ist als die deutsche. In der diesbezüglichen Kulturdimension »Unsicherheitsvermeidung« (vgl. Hofstede, 1993, 2017) sind beide Kulturen sehr verschieden. Vergleich zur sozialpsychologischen Landschaft der USA
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Der internationale Vergleich legt nahe, dass die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Counseling, Beratung und Psychotherapie in erster Linie nicht inhaltlich, sondern im gesellschaftlichen, beruflichen und juristischen Kontext begründet sind.
Literatur APA – American Psychological Association (2008). Clinical Psychology. https:// www.apa.org/ed/graduate/specialize/clinical (Zugriff am 14.04.2022). Gesetz über den Beruf der Psychotherapeutin und des Psychotherapeuten (Psychotherapeutengesetz – PsychThG) vom 19.5.2020. https://www.buzer.de/ PsychThG_2020.htm (Zugriff am 14.04.2022). Hofstede, G. (1993). Interkulturelle Zusammenarbeit. Wiesbaden: Springer. Hofstede, G. (2017). Lokales Denken, globales Handeln. Interkulturelle Zusammenarbeit und globales Management (6. Aufl.). München: Beck. Kupfer, A., Wesenberg, S., Gahleitner, S. B., Nestmann, F. (2021). Beratung und Psychotherapie – Aktuelle Entwicklungen im Spannungsfeld von Abgrenzung und fruchtbarer Kooperation. Tübingen: dgvt-Verlag. Lumma, K. (2021). Counseling – Der Rahmen für die Beratungs-Landschaft. Stellungnahme des BVPPT (Berufsverband für Beratung, Pädagogik und Psychotherapie e. V.). Unveröffentlichtes Manuskript. Juni 2021.
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Psychotherapie und Klinische Sozialarbeit als eine Form der Beratungspraxis: der chilenische Kontext Nicolle Alamo und Martina Fischersworring
In diesem Beitrag möchten wir zum Verständnis der Psychotherapie, Beratung und der Klinischen Sozialarbeit als unterschiedliche Praktiken beitragen. Diese, wie andere Praktiken auch, sind Ausdruck einer Kultur in einem gegebenen historischen Moment, in Anlehnung an den Kulturbegriff von Clifford Geertz (1973): »Kultur bezeichnet ein historisch überliefertes Muster von Bedeutungen, die in Symbolen verkörpert sind, ein System von ererbten Vorstellungen, die in symbolischen Formen ausgedrückt werden, mittels derer die Menschen ihr Wissen über und ihre Einstellungen zum Leben kommunizieren, verewigen und entwickeln« (S. 89). Dies beinhaltet, dass sie in einem bestimmten Kontext auftreten und gleichzeitig einen bestimmten sozio-politischen und sozioökonomischen Kontext beeinflussen. Diese Praktiken werden entsprechend der Erfahrung der Menschen, die diese ausführen, moduliert oder modifiziert, wobei diese subjektive Erfahrung auch kulturell geprägt ist. Die Überzeugungen der Therapeut*innen, Berater*innen oder Klinischen Sozialarbeiter*innen in Bezug auf ihre Arbeit, einschließlich des theoretischen Modells, dem sie anhängen, und die Praxis selbst werden im Laufe der Zeit modifiziert, wobei diese durch den Kontext, sei dieser ein persönlicher, institutioneller oder gesellschaftlicher, beeinflusst werden und die Entwicklung einer professionellen Identität prägen, die wiederum und rekursiv die Praktiken beeinflussen (Fischersworring, 2018). So stellen diese vielfältigen Kontextebenen, wie z. B. der institutionelle, sozio-politische, historische und sozioökonomische Kontext, spezifische Herausforderungen für die professionelle Praxis dar, die wiederum sowohl die Überzeugungen und Praktiken der Klinischen Sozialarbeit als auch ihre Zielsetzung modulieren. Das Ziel dieses Beitrags ist es, zur Reflexion der folgenden Fragen beizutragen: Wie verstehen wir Psychotherapie und andere klinischDer chilenische Kontext
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beraterische Interventionen, hauptsächlich im Rahmen der Sozialarbeit, in Lateinamerika und insbesondere in Chile? Was sind ihre Hauptmerkmale? Wie beeinflusst der soziale, historische und politische Kontext die Praxis und die Konfiguration einer spezifischen professionellen Identität? Was waren und sind die Punkte der Spannung oder Kontroverse zwischen den Fachleuten, die klinische Arbeit praktizieren, hauptsächlich zwischen Psycholog*innen und Sozialarbeiter*innen?
Psychotherapie in Chile und Lateinamerika Um die Entwicklung der Psychotherapie in Lateinamerika zu verstehen, ist es notwendig, den bestehenden kulturellen Bezugsrahmen und die Geschichte und Beziehung zwischen Europa und Lateinamerika zu berücksichtigen (Ardila, 1986). Auch hier wurde über mehrere Jahrzehnte lang die Klinische Psychologie mit der Psychoanalyse, die in den 1910er und 1920er Jahren von Psychiater*innen in Lateinamerika eingeführt wurde, gleichgesetzt. Im Bereich der klinischen Praxis kam es von Anfang an zu Spannungen zwischen den verschiedenen Berufsgruppen, die sich der psychischen Gesundheit widmen, insbesondere zwischen Psychiater*innen, Psycholog*innen und Sozialarbeiter*innen; jede Gruppe wies die andere auf das Fehlen bestimmter Kompetenzen, Kenntnisse oder spezifischer Fähigkeiten für die klinisch-therapeutische Arbeit hin (Ardila, 1986). In den 1960er und 1970er Jahren, als Ergebnis wichtiger sozialer und wirtschaftlicher Umwälzungen, etabliert sich in Lateinamerika die Idee einer gemeindenahen Sozialpsychologie, eine, die die Zentralität sozialer Gruppen betont, die die Probleme von Gesundheit und Krankheit in einem sozialen und wirtschaftlichen Kontext versteht, und die das menschliche Subjekt als aktives, dynamisches Wesen, als Konstrukteur seiner Realität begreift (Montero, 2004). So entwickelt sich ein emanzipatorisches Selbstverständnis der Psychotherapie und der klinischen Intervention, das gleichzeitig mit einer auf das Individuum fokussierten Konzeption von Psychotherapie koexistiert, in der der Mensch als passives Subjekt verstanden wird, vorwiegend als Empfänger von Handlungen oder Ausführer von gerichteten, vorgegebenen Antworten, und nicht als Generator von 94
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Handlungen. Dies führte und führt immer noch zu ideologischen Spannungen. Ardila (1986) erwähnt als Beispiel, was in den 1970er Jahren in Argentinien geschah: Die Argentinische Psychoanalytische Vereinigung war als orthodoxe, elitäre und konservative Einrichtung bekannt. Im Gegensatz dazu versuchte eine Gruppe von Psychoanalytiker*innen, die Konzepte von Freud und Marx den Menschen näher zu bringen, und propagierte eine Psychoanalyse im Dienste des Volkes. Dies führte zu einem psychosozial geprägten Verständnis des psychischen Unbehagens und zu neuen Wegen der Annäherung an dieses Unbehagen, weg von der eher dyadischen Konzeption von Psychotherapie (Patient-Therapeut-Setting) hin zu gruppen- und gemeindebezogenen Ansätzen. Ein Beispiel dafür ist die Gruppendynamik ECRO (Esquema Conceptual Referencial y Operativo) von Enrique Pichon-Rivière (1983), die die relationalen Aspekte im Konzept von Gesundheit/Krankheit betont, und die Soziotherapie von Moffat (1997), die einen gemeinschaftlichen Ansatz in der therapeutischen Arbeit mit Risikogruppen installiert, indem sie die Patienten selbst als Akteure der therapeutischen Veränderung einsetzt. Wie gesellschaftliche Bedingungen das Verständnis von Psychotherapie und deren Zielsetzung beeinflussen und wer dazu befähigt ist, lässt sich anhand der Begriffsbildung des psychosozialen Traumas erkennen. In El Salvador führte Ignacio Martín-Baró in den 1970er Jahren das Konzept des psychosozialen Traumas ein, um die Umstände und politischen Ereignisse in seinem Land sowie deren Einfluss auf die psychische Gesundheit der Bevölkerung zu belegen. Damit bietet er einen Bezugsrahmen, um die mit der psychischen Gesundheit verbundenen Phänomene in ihren sozio-historischen und politischen Kontexten anzusprechen und erweitert das Verständnis von Trauma nicht mehr nur als individuelles und intrapsychisches Phänomen, sondern stellt es in eine gesellschaftliche Dimension (Díaz, 2011). Nach Martín-Baró (1990) ist das psychosoziale Trauma ein historisches Ereignis, dessen Ursprung in der Gesellschaft und nicht im Individuum liegt, das aber in der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft aufrechterhalten wird. Dieses kontextuelle Verständnis des psychischen Leidens und Unbehagens stellt eine Herausforderung für die eher traditionelle Auffassung von Psychotherapie und der Rolle der Psychotherapeut*innen dar und Der chilenische Kontext
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hebt die politische Dimension der therapeutischen Arbeit hervor. Unter diesem Ansatz hört die psychotherapeutische Praxis auf, ausschließliche Domäne von Psycholog*innen oder Psychiater*innen zu sein, und weitet sich auf andere Berufszweige aus. Auch erscheint es somit als notwendig, das interdisziplinäre Wissen öffentlich zur Verfügung zu stellen und die Rat- und Hilfesuchenden aktiv als Akteure in das psychosoziale Versorgungssystem miteinzubeziehen.
Klinische Sozialarbeit als eine besondere Form der niedrigschwelligen Beratung in Chile Die Klinische Sozialarbeit ist im lateinamerikanischen und chilenischen Kontext anders als in den Vereinigten Staaten, Puerto Rico und Kanada, einigen Ländern Europas und anderen Ländern nicht als Spezialisierung anerkannt. In der täglichen Berufspraxis wird jedoch die Klinische Sozialarbeit im öffentlichen Gesundheitswesen von verschiedenen staatlichen Einrichtungen, vor allem im Bereich der psychischen Gesundheit, in Fällen schwerer Kindesmisshandlung, bei sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, in der Arbeit mit Opfern und Tätern häuslicher Gewalt, und in der Suchtarbeit umgesetzt (Antipán u. Reyes, 2015; Huaiquiche u. Bastías, 2016). Beispielsweise zeigen die Ergebnisse der Umfrage, die 2019 von der chilenischen Hochschule für Sozialarbeit ETSUC unter den Absolvent*innen des Studiengangs erhoben wurde, dass fast 60 Prozent der Befragten im klinischen Bereich tätig sind. Davon sind 22 Prozent im Bereich psychische Gesundheit und Familiengesundheit, 25 Prozent in Kinderschutzprogrammen und sozialpädagogischen Interventionen in Familien und 11,8 Prozent in Schulprogrammen beschäftigt. In Chile geht die »Professionalisierung« der Sozialarbeit oder des Sozialdienstes auf die 1920er Jahre zurück, und zwar mit der Gründung der ersten Schulen für Sozialdienst. Diese Professionalisierung war der Übergang von der »Wohltätigkeit« zur »Assistenz«, doch ging sie laut González (2012) nicht mit der Schaffung eines eigenen konzeptionellen Apparats, der Aneignung bestimmter Methoden und spezialisierter Fähigkeiten oder einem Prozess der Institutionalisierung von Praktiken einher, wie es bei anderen Disziplinen der Fall war. Dem Beruf lag diese überwiegend karitativ-soziale Ausrichtung 96
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zugrunde, die ursprünglich als Antwort auf die Probleme der europäischen Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg entstand, und mit dem vorherrschenden Geist eines Wohlfahrtsstaates übereinstimmte, der auch mit den Problemen der chilenischen Gesellschaft zu dieser Zeit in Einklang stand (Gómez, 1995; González, 2012; Huaiquiche u. Bastías, 2016; Reyes, 2011). In den 1940er Jahren gab es einen starken nordamerikanischen Einfluss auf die chilenische Sozialarbeit, sowohl in der Ausbildung und Forschung als auch in der Praxis. Die chilenischen Schulen übernahmen die von Mary Richmond in den 1920er Jahren in den USA entwickelte Methodologie der Einzelfallhilfe (casework), die den sozialen Dienst in diesem Land prägte. Später wurde die Bezeichnung »Sozialer Dienst« nach dem Vorbild der amerikanischen Social Work in »Sozialarbeit« geändert (González, 2012). In Chile wurde eine individualisierte Sozialarbeit, Vorläufer der Klinischen Sozialarbeit, zwischen den 1940er und Ende der 1960er Jahre ausgeübt (Solar, 1978). In sämtlichen Interventionen wurde zwar die Methode der Einzelfallhilfe bevorzugt, doch kam nach und nach die soziale Gruppenarbeit hinzu, die insbesondere in die Krankenhausdienstleistungen, d. h. Freizeit- und Therapieaktivitäten, integriert wurde (Gómez, 1995). Ab 1965 kam es dann nach Solar (1978) zu einer Abwertung der Einzelfallhilfe – die teilweise bis heute anhält – wobei der Intervention in diesem Bereich ein rein wohlfahrtspflegerischer, palliativer Charakter zugeschrieben wird, der für den Beruf und die Rolle der Sozialarbeiter*innen wenig oder keine Bedeutung hat. Zu jenem Zeitpunkt entstand eine Nachfrage vonseiten des politischen Systems, die Organisation, Schulung und Beteiligung der Gruppen, d. h. Arbeiter*innen, Angestellte und soziale Randgruppen, zu unterstützen. Sie wurden damit die Hauptkunden oder Nutznießer*innen des Sozialarbeiterberufes (Gómez, 1995; Solar, 1978). In diesem Zusammenhang wurde die Forderung der Praxis, weiterhin auf individueller Ebene zu agieren, als Hindernis für die Rolle, die der Sozialen Arbeit zugeschrieben wurde, empfunden. Dieses führte im Kontext der Universitätsreform im Jahr 1967 zur Aufhebung der Lehre der individualisierten Sozialarbeit an den Ausbildungsstätten (Gómez, 1995; Solar, 1978). Die Diktatur in Chile (1973–1990) brachte neben der Verfolgung und dem Verschwinden von Akademiker*innen und Student*inDer chilenische Kontext
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nen der Sozialen Arbeit auch die militärische Intervention an den Universitäten mit sich. Die Sozialarbeit war ein in seiner Existenz bedrohter Beruf. Diese widrigen Umstände führten, auf der Suche nach dem Überleben der Universität, zu einer Neuorientierung, und zwar in Richtung einer eher technokratischen Ausbildung, die sich auf Erkenntnisse aus der Sozialforschung und Sozialplanung der frühen 1970er Jahre stütze. Dieser Ansatz hatte zum Ziel, die realen Bedingungen zu identifizieren und sie innerhalb kürzester Zeit, mit den geringsten Kosten und auf scheinbar optimale Weise, zu verändern (Castañeda u. Salamé, 2014). Dieselben Autorinnen fügen hinzu, dass die Fachkräfte auch in der verwendeten Sprache sehr problemorientiert vorgingen und sich auf die Not und den Mangel konzentrierten, anstatt auf die Potenziale, die Stärken und die eigenen Beiträge der Betroffenen in ihren jeweiligen Kontexten einzugehen. So gerieten »die Definitionen von sozialem Engagement, sozialer Förderung und Veränderungssubjekt, die die professionellen Reflexionen der 1960er und frühen 1970er Jahre geprägt hatten, nach und nach in Vergessenheit und blieben als romantische Reminiszenzen an vergangene Epochen zurück« (Castañeda u. Salamé, 2014, S. 10). Allerdings stärkte gerade die Diktaturzeit die Entwicklung der Klinischen Sozialarbeit, da die Menschenrechte und sozialen Rechte in Chile permanent verletzt wurden. Einige Sozialarbeiterinnen, die mit verschiedenen Universitäten in den Vereinigten Staaten im Kontakt standen, erkannten in der klinischen Praxis der Sozialen Arbeit ein für die damalige Zeit angemessenes Handlungs- und Entwicklungsfeld (Huaiquiche u. Bastías, 2016). Soziales Engagement verbunden mit einer tiefen humanitären Konzeption führte diese Fachleute dazu, Raum zu schaffen in der Betreuung von politisch verfolgten Menschen und Bedürftigen in extremer Armut (Gómez, 1995). Mit der Rückkehr zur Demokratie in den 1990er Jahren gewannen professionelle Praktiken im Zusammenhang mit der Wiedergutmachung von Menschenrechtsverletzungen an Bedeutung, in denen Sozialarbeiter*innen eine vorrangige Rolle spielten, da sie in der Regel diejenigen waren, die den ersten Kontakt mit den Opfern aufnahmen. In diesem Kontext war die am häufigsten verwendete Interventionsform die individuelle Betreuung von Menschen und Familien, bei der Konzepte und Techniken der 98
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Einzelfallhilfe angewandt wurden, um ihnen zu helfen (Gallardo, 1992; Huaiquiche u. Bastías, 2016). Nach Antipán und Reyes (2015) ist diese Fallarbeit weiterhin notwendig, da Betreuung und Nachfrage der Klienten im Bereich der psychischen Gesundheit umfassende Hilfeleistungen erfordern, die die emotionale, persönliche, familiäre, Gruppen- und Gemeinschaftsgesundheit fördern. Aus derselben Disziplin wird die Fallsozialarbeit jedoch immer noch bestritten, sodass die Rückkehr zum Ursprung, die jetzt als Klinische Sozialarbeit neu definiert und aktualisiert wird, weiterhin Kontroversen hervorruft. Dies steht im Zusammenhang mit der Frage nach der Hauptaufgabe der Disziplin: den sozialen Wandel, den Wandel auf individueller und familiärer Ebene oder beides gleichzeitig zu fördern (Specht u. Courtney, 1994; Ruiz, 2003).
Psychologie und Klinische Sozialarbeit in Chile: der Streit um die Ausübung der Psychotherapie In Chile existiert eine wichtige Kontroverse unter Fachleuten der psychischen Gesundheit in Bezug auf die Ausübung der Psychotherapie, die traditionell mit der spezialisierten Ausbildung von Psychologen und Psychiatern verbunden ist. Für einige Autor*innen, sowohl in Chile als auch in Spanien, sind die Sozialarbeiter*innen dazu befähigt und praktizieren seit jeher Psychotherapie, und sie fügen hinzu, dass diese nicht die exklusive Domäne von Psycholog*innen und Psychiater*innen ist und sein sollte (Antipán u. Reyes, 2015; Colegio O ficial de Trabajo Social de Santa Cruz de Tenerife, 2019; Huaiquiche u. Bastías, 2016; Ituriarte, 2017; Reyes, 2012). Allerdings sind die Inhalte der Klinischen Sozialarbeit in der üblichen Undergraduate- oder Post graduate-Ausbildung weder in Spanien (Fombuena u. Martí, 2006) noch in Lateinamerika, einschließlich Chile, enthalten (Antipan u. Reyes, 2015). In Bezug auf die Psychotherapie richten sich die Postgraduierten- und Masterstudiengänge, die Spezialisten für ihre Praxis ausbilden, fast ausschließlich an Psycholog*innen, Psychiater*innen und/oder Psychiatrie-Stipendiat*innen; nur in einigen Diplomstudiengängen ist die Bewerbung von Absolvent*innen und Fachleuten aus anderen Disziplinen, die mit den Sozialwissenschaften und der psyDer chilenische Kontext
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chischen Gesundheit verbunden sind, wie z. B. der Sozialen Arbeit, die klinische Interventionen durchführen oder Erfahrung damit haben, nach Bewertung ihres curricularen Backgrounds erlaubt. Jenseits von professionsgebundenen Grabenkämpfen gehen wir als Autorinnen davon aus, dass es auch daran liegen kann, dass die fallbezogene Sozialarbeit und die klinische Ausbildung für therapeutische Intervention in den Curricula des Sozialarbeitsberufs an Gewicht verloren haben. So wurden laut einer Studie von Vidal (2019) an den Schulen für Sozialwesen der Universität von Chile bis 1962 Kurse im Zusammenhang mit Psychologie und psychischer Gesundheit gelehrt, wie Allgemeine Psychologie, Psychohygiene, allgemeine Begriffe der Pathologie, Kinder- und Jugendpsychologie und Persönlichkeitspsychologie, während die Fall-, Gruppen- und Gemeinschaftsmethoden beibehalten wurden, jedoch nur bis zum Ende jenes Jahrzehnts. In der Folgezeit wurde zwar weiterhin Mary Richmonds ursprüngliche Fallmethode gelehrt, aber die Fächer, die klinisch orientiert waren oder auf psychische Gesundheit eingingen, fehlten eher, da dies bedeutete, mit Problemen auf lokaler Ebene zu arbeiten, während die Ursachen dieser Probleme nach den Vorstellungen der damaligen Zeit auf einer makro-sozialen Ebene lagen, was bedeutete, dass diese lokalen Interventionen als sehr assistenzorientiert angesehen wurden, wie dieselbe Autorin feststellt. In diesem Sinne wurden ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre die Ziele des Berufsstandes neu formuliert, und zwar dahingehend, dass Sozialarbeiter*innen als Agent*innen des Wandels der Strukturen der chilenischen Gesellschaft konstituiert wurden (Vidal, 2019). Viele Autor*innen auf lateinamerikanischer und chilenischer Ebene bleiben bei dieser Position, indem sie den disziplinären Fokus auf die Dringlichkeit der Transformation und des Fortschritts hin zu gerechteren und ausgewogeneren sozialen Strukturen legen. Aber die Kontroverse über die Praxis der Psychotherapie mit anderen Fachleuten der psychischen Gesundheit hat sich in letzter Zeit verschärft, insbesondere ab dem 9. März 2018, als das chilenische Gesundheitsministerium die neuen technischen Richtlinien und Standards für Sozialarbeit im Gesundheitswesen (MINSAL, 2018) verabschiedete. In diesem Dokument werden die Tätigkeiten, die von Sozialarbeiter*innen im Gesundheitssystem auf verschiedenen 100
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Ebenen ausgeführt werden, zusammen mit den Kompetenzen, die zur Ausübung des Berufs in diesem Bereich erforderlich sind, beschrieben. Diese Richtlinie erkannte die Soziale Arbeit in der psychischen Gesundheit als Klinische Sozialarbeit, die psychische Gesundheit als einen spezifischen Bereich der Sozialen Arbeit und die direkte klinische Versorgung als ein Handlungsfeld dieser Disziplin an. Diese schrieb ihr damit Funktionen der Betreuung, Diagnose, Behandlung und professionellen Beratung zu und legitimierte den Einsatz von Methoden wie Einzel-, Familien- und Gruppenpsychotherapie, Supervision, Beratung und psychosoziale Begleitung (MINSAL, 2018). Angesichts dieser Verordnung legte der Nationale Vorstand des Chilenischen Psychologenverbandes bei dem Überprüfungsorgan der Republik Chile Einspruch gegen die Rechtmäßigkeit des MINSAL-Dokuments ein, da es nicht dem entspricht, was in Artikel 113 des geltenden Gesundheitsgesetzes (D. F. L. 725) festgelegt ist (MINSAL, 1968), wonach die Ausübung von Psychotherapie die berufliche Kompetenz von Psycholog*innen ist; und alle Regeln, Vorschriften und klinischen Richtlinien, die vom MINSAL erlassen werden, unterliegen der Einhaltung dessen, was in diesem Kodex geschrieben steht (Colegio de Psicólogos de Chile, 2018). Angesichts dieser Forderung der Berufsgenossenschaft beschloss das Überprüfungsorgan der Republik Chile am 22. Mai 2019, den Beschluss des MINSAL aufzuheben und die Technischen Richtlinien und Standards für Sozialarbeit im Gesundheitswesen (Colegio de Psicólogos de Chile, 2019) für ungültig zu erklären. In diesem Zusammenhang gibt es nach der aktuellen Gesetzgebung keine Regulierung der klinischen Praxis von Sozialarbeiter*innen in Chile; es gibt keinen Titel oder eine Lizenz für Klinische Sozialarbeiter*innen, wie in den Vereinigten Staaten, Kanada, Puerto Rico und einigen europäischen Ländern, wo klinische Lizenzen ausgestellt werden, die die Regulierung der therapeutischen Praxis verschiedener Berufe ermöglichen (IChTSC, 2021). Jedoch, wie schon erwähnt, führen in der Praxis viele Sozialarbeiter*innen klinische Interventionen und/oder Interventionen im Zusammenhang mit der psychischen Gesundheit von Menschen durch, insbesondere diejenigen, die in öffentlichen Einrichtungen oder in mit dem Staat kooperierenden Einrichtungen arbeiten. Daher ist es aus ethischer Der chilenische Kontext
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Sicht zwingend erforderlich, die qualifizierte Entwicklung der klinischen Praxis der Sozialarbeit zu fördern, die darauf abzielt, das Wissen, die Fertigkeiten und die Kompetenzen zu gewährleisten, die für die Praxis der Klinischen Sozialarbeit wesentlich sind, damit diese zu einer qualitativ hochwertigen Versorgung von Einzelpersonen, Familien und gefährdeten Gruppen in unserer Gesellschaft führt und ihren Bedürfnissen gerecht wird. Bis vor kurzem war dieses Wissen in Chile und Lateinamerika weder in der Ausbildung von Student*innen noch von Doktorand*innen vorhanden (Antipan u. Reyes, 2015). Derzeit gibt es nur zwei Hochschuleinrichtungen in Chile, die Klinische Sozialarbeit im Studium vermitteln: die Universidad Bernardo O’Higgins (UBO) in Santiago (nur Grundstudium) und die Pontificia Universidad Católica de Chile in Santiago (sowohl im Grundstudium als auch im weiterführenden Studium). Die letztgenannte Institution bietet auf postgradualer Ebene seit diesem Jahr ein Diplom in kompetenzorientierter Klinischer Sozialarbeit und einen Master in Klinischer Sozialarbeit an, Letzterer mit professionalisierendem Charakter, der seine Absolvent*innen auf die berufliche Praxis des Fachgebiets vorbereiten soll. Diese Programme bilden, wie der Name schon sagt, Spezialist*innen in Klinischer Sozialarbeit, aber nicht in Psychotherapie aus. Jedoch führt dieses Thema, das mit der Ausübung der Psychotherapie zusammenhängt, weiterhin zu Kontroversen unter Psycholog*innen und Sozialarbeiter*innen, da es ein offenes Thema ist, über das bisher noch kein Konsens erreicht wurde.
Fazit Wir haben in diesem Beitrag erörtert, dass sowohl die Praxis der Psychotherapie als auch der Klinischen Sozialarbeit sowie die formalen Aspekte ihrer Ausübung immer stark von den historischen und soziopolitischen Kontexten, und somit von der in diesen Kontexten vorherrschenden Kultur, beeinflusst werden. Dies beeinflusst nicht nur die Praxis, sondern prägt auch die beruflichen Identitäten, die sich herausbilden. Die berufliche Identität entspricht einem historischen und soziografischen Kontext. Die berufliche Identität der Psychotherapeut*in102
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nen und der Klinischen Sozialarbeiter*innen in den Vereinigten Staaten wird nicht dieselbe sein wie die berufliche Identität von Psychotherapeut*innen oder Klinischen Sozialarbeiter*innen in Lateinamerika. Diese Fachleute arbeiten in unterschiedlichen Kontexten, unter unterschiedlichen gesetzlichen Rahmenbedingungen, mit Bevölkerungsgruppen, die unterschiedliche Probleme aufweisen, und sind daher in Kulturen eingebettet, die sehr vielfältig sein können oder sind. Und das beeinflusst zwangsläufig sowohl die Berufspraxis als auch die berufliche Identität. Wie wir auch gesehen haben, führt das Fehlen klarer ordnungspolitischer Rahmenbedingungen für die Berufsausübung zu Schwierigkeiten, Streitigkeiten und Kontroversen sowie zu einer Art Identitätsdiffusion. Bei der Sozialen Arbeit bestehen Streitigkeiten und Kontroversen sowohl innerhalb der Disziplin selbst als auch außerhalb. Innerhalb der Klinischen Sozialarbeit scheint beispielsweise nicht geklärt zu sein, was die Hauptaufgabe der Fachkräfte und damit deren Identität ist; ob die Rolle darin besteht, den sozialen Wandel und das Erreichen von Gleichheit und Gerechtigkeit auf der makrosozialen Ebene zu fördern oder eher den psychosozialen Schmerz und das subjektive Unbehagen der Menschen auf der individuellen Ebene durch klinisch-therapeutische Interventionen zu lindern. Diese Kontroverse ist, zumindest in Chile und Lateinamerika, noch nicht beigelegt. Aus unserer Sicht sollten wir jedoch, wie von einigen Autor*innen vorgeschlagen, nicht die Hegemonie eines Modells über ein anderes anstreben, sondern die Klinische Sozialarbeit als eine notwendige Spezialisierung innerhalb der Sozialen Arbeit – die auf der Ebene der Praxis schon immer präsent war – zusammen mit anderen, wie z. B. der sozialrechtlichen Sozialarbeit oder der organisationsorientierten Sozialarbeit, annehmen. Was die Kontroverse mit dem Berufsverband der Psycholog*innen über die Ausübung der Psychotherapie betrifft, so ist dies in Chile ein ungelöstes Problem. Die erfordert einen intensiven Dialog zwischen beiden Disziplinen, der eine klare Abgrenzung der Rollen und Funktionen sowie eine Definition der Kenntnisse, Fähigkeiten und Kompetenzen der jeweiligen Fachrichtung – Klinische Psychologie und Klinische Sozialarbeit – ermöglicht. Der chilenische Kontext
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Zusammenfassend können wir sagen, dass die historische Entwicklung von Psychotherapie und klinischer sozialer Intervention in ihrer kulturellen Dimension mit den Veränderungen auf sozialer Ebene, von Institutionen und regulatorischen Rahmenbedingungen einhergeht. Diese Transformationen stellen die vorherrschenden Praktiken und das Verständnis für die Arbeit dieser Berufe infrage, bringen berufliche Identitäten in Spannung und erzeugen neue Herausforderungen auf der Ebene der Berufsausbildung. In Chile hat anlässlich der sozialen Revolte im Oktober 2019 ein tiefgreifender Reflexionsprozess auf der Ebene aller gesellschaftlichen Institutionen, einschließlich der Universitäten und Ausbildungszentren, begonnen, da diese sich hinsichtlich ihrer Rolle in der Gesellschaft und der Ausbildungsprofile herausgefordert gefühlt haben. In diesem Zusammenhang besteht auch die Herausforderung, Fachkräfte heranzubilden, die eine gerechtere Gesellschaft fördern und gewährleisten können, eine, die die Würde aller Menschen respektiert und ihr Wohlbefinden und ihren Schutz fördert, wobei den Fachleuten im psychosozialen Bereich, wie es Psychotherapeut*innen und Klinische Sozialarbeiter*innen sind, eine besondere Bedeutung zukommt.
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Der chilenische Kontext
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Beratung und Psychotherapie – eine afrikanische Perspektive1 Gladys K. Mwiti
Afrika kann als ein resilienter Kontinent bezeichnet werden, der sich zwar nicht durch eine Vielzahl von Autobahnen oder Wolkenkratzern auszeichnet, dafür aber Hungersnöte, Kriege, Pandemien und immer wieder stürzende Regierungen überlebt hat. Er besitzt unermessliche und weitgehend ungenutzte natürliche und menschliche Ressourcen, wozu Traditionen, Werte und Weisheiten zählen, die für den menschlichen Zusammenhalt sorgen und die zu der Resilienz des Kontinents beigetragen haben. Obwohl der Einfluss westlicher Psychologie und theoriebasierter Psychotherapie in Afrika langsam zunimmt, generieren sich die wirksamsten Praktiken immer noch im »African pot«, wobei deren Glaubwürdigkeit und Akzeptanz tief in den afrikanischen Wertesystemen und Kommunikationsmustern verwurzelt sind. Der Einfluss der westlichen Psychologie trifft auf ein Spektrum von Haltungen, das von völliger Ablehnung bis hin zu zunehmender Akzeptanz reicht. Nach westlichem Verständnis sind psychische Probleme mit dem Stigma der Erkrankung behaftet, das im traditionellen Afrika weitgehend fehlte, da diese eher als »Andersartigkeit« verstanden und angenommen wurden. Das Dilemma besteht jetzt darin, dass verschiedene Krankheiten als »abnormal« bezeichnet werden und Diagnosekriterien verwendet werden, die im afrikanischen Kontext als fremd erlebt werden. DSM-5 und ICD-11 erheben zwar den Anspruch auf universelle Gültigkeit, doch es gibt nur wenige Forschungsarbeiten, die die allgemeine Anwendung und auch die Gültigkeit dieser Kodierungskriterien für den afrikanischen Kontext überzeugend darlegen können. Die gleichen Bedenken gelten für die Verwendung psychometrischer Verfahren, die für die 1 Dieser Artikel wurde aus dem Englischen von der Herausgeberin Barbara Bräutigam übersetzt. Beratung und Psychotherapie – eine afrikanische Perspektive
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westlichen und hauptsächlich weißen Bevölkerungsgruppen standardisiert wurden und in Afrika kaum erforscht sind. Was braucht es, damit z. B. eine evidenzbasierte und integrative Psychotherapie in Afrika Fuß fassen kann? In diesem Beitrag werden die Grundsätze der traditionellen Beratung in Afrika dargestellt und ein Modell für indigene integrierte afrikanische Psychotherapie und Beratung vorgestellt.
Psychische Gesundheit in Afrika Ein Drittel der weltweiten Behinderungen ist auf psychische Erkrankungen zurückzuführen, die zu enormem persönlichen Leid und Morbidität führen (Anderson, Jané-Llopis u. Hosman, 2011). Afrika wird davon nicht verschont. Der Kontinent wurde im Laufe der Zeit von Pandemien, Kriegen und Hungersnöten heimgesucht und hat eine Bevölkerung hinterlassen, die Beratung und Psychotherapie benötigt. Doch wie in vielen Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen, in denen 75 bis 95 Prozent der Menschen mit psychischen Störungen keinen Zugang zu psychosozialen Diensten haben, wird auch in Afrika im Vergleich zum massiven Bedarf an psychosozialen Diensten nur wenig in die dafür benötigten Ressourcen und Strukturen investiert (Ivbijaro, 2021). Ein Beispiel dafür ist die Provinz Cabo Delgado in Mosambik, in der seit vielen Jahren interne Kriege toben. Aufgrund der extrem gewalttätigen Angriffe auf die Bevölkerung sind schätzungsweise 1,3 Millionen Menschen auf dringende humanitäre Hilfe und Schutz angewiesen (OCHA, 2021). Angesichts der Morde und der Zerstörung von Dörfern ist die Notlage besorgniserregend, und die Sorge um die psychische Gesundheit und das psychosoziale Wohlergehen der Bevölkerung wächst. Dieser Zustand wird durch die Covid-19-Pandiemie noch verstärkt. Bei der Lektüre des humanitären Umsetzungsplans (HIP) der Europäischen Union für 2021 für das südliche Afrika und die Region des Indischen Ozeans (ECHO, 2021) fällt auf, dass in dem umfassenden 20-seitigen Dokument weder die Bedürfnisse dieser Bevölkerungsgruppen in Bezug auf deren psychische Gesundheit noch Mittel zur Abfederung derselben erwähnt werden. Im Kontext werden lediglich die traumatischen Ereignisse selbst beschrieben, die die 110
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Bevölkerung destabilisieren: politische Konflikte, Vertreibung, Naturkatastrophen, HIV und AIDS, Flüchtlinge, El-Niño-Überschwemmungen, aber nicht die gut erforschten immensen Folgen für die psychische Gesundheit erläutert (Lee, Kim u. Kim, 2020). In dem Budget von 44.500.000 Euro scheint weder ein Präventionsplan für die Erhaltung der psychischen Gesundheit noch Mittel für deren Erforschung oder aber die Beratung/Ausbildung von psychosozialen Fachkräften in diesen Regionen vorgesehen. Dieses Versäumnis ist bei humanitären Maßnahmen in Afrika weit verbreitet, und auch lokale Partner vernachlässigen dieses Thema. Wenn die Europäische Union nicht in der Lage ist, den Bedarf an psychischer Gesundheit und Trauma in den Plan zur Umsetzung der humanitären Hilfe 2021 aufzunehmen, werden dann die afrikanischen Regierungen diesem Bedarf Vorrang einräumen?
Grundlagen der Beratung und Psychotherapie in Afrika Im traditionellen Afrika lag der Schwerpunkt der Beratung eher auf Prävention und Coaching als auf Intervention und Problemlösung. In vielen Gemeinschaften wurden klar festgelegte Verhaltensmuster gelehrt und deren Einhaltung durch Erziehung und Sozialisation auf der Annahme verschiedener Reifestufen vermittelt. Dies bedeutete, dass der Schwerpunkt der Beratung nicht problemorientiert war, sondern die Vermittlung von Lebensweisen fokussierte. Mithilfe von Übergangsriten wurden Rollen und Verhaltenserwartungen geklärt und bestätigt, wobei abweichendes Verhalten bestraft und manchmal auch geächtet wurde. So wurde beispielsweise die Schulung der Eltern in verantwortungsvoller Kindererziehung und zur Vermeidung von Kindesmissbrauch und -vernachlässigung an Traditionen wie z. B. an die Namensgebung für Kinder (Mwiti u. Dueck, 2006) gebunden. Bei meinem Stamm, den Meru in der Region des Mount Kenya in Kenia, ist jedes Kind nach einem lebenden oder toten Familienmitglied benannt. Der erstgeborene Sohn wird immer nach dem Vater des Vaters benannt, und wenn es sich um eine Tochter handelt, erhält sie den Namen der Mutter des Vaters. Bis heute ist die Namensgebungszeremonie für ein Baby ein großer Anlass, bei dem die Gemeinschaft eingeladen wird, um dem Baby einen passenden Beratung und Psychotherapie – eine afrikanische Perspektive
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Namen zu geben, der auf den persönlichen Eigenschaften und Tugenden des älteren Erwachsenen beruht. Diese Zeremonie erinnert die Eltern, insbesondere die Mutter des Babys – die d irekte Bezugsperson des Kindes –, daran, dass sie mit der Erziehung des Babys auch den Erwachsenen aufzieht, nach dem das Baby benannt wird. Insofern würde die Gemeinschaft zusammen mit dem Namensgeber des Babys die Familie beobachten, um sich zu vergewissern, dass das Kind wie erwartet aufwächst. Bei den Maasai in Kenia z. B. hat ein Mann drei Entwicklungsstufen: Kindheit, Kriegerschaft und ältere Kriegerschaft. Bei den Meru in Kenia gab es sechs Entwicklungsstufen (Mwiti, 2014). Während jeder Phase wurde eine kontinuierliche Ausbildung angeboten und die erforderlichen Werte wurden durch Volksmärchen und Sprichwörter oder weise Sprüche verstärkt. Wenn die Kinder abends um das knisternde Feuer saßen, hörten sie Volksmärchen über die Helden des Stammes oder Erzählungen darüber, was mit denjenigen geschah, die die Weisheit der Väter missachteten. Das Ende jeder Entwicklungsphase wurde mit Zeremonien gefeiert, die vom Alter der jeweiligen Gruppe abhingen. Die Graduierung in den Gruppen stellte sicher, dass die eigene Altersgruppe (»nthuki«) ein Leben lang als Verantwortungspartner diente. Niemand sollte Schande über die Altersgruppe bringen. Der Übergang vom Jugend- zum Erwachsenenalter ist eine farbenfrohe Zeremonie, die den Höhepunkt der Ausbildung und des Coachings junger Männer und Frauen für das Leben markiert. Nach diesem Ritus sollen kindliche Verhaltensweisen zurückbleiben, da die gesamte Abschlussgruppe sich einen Namen gibt und sich gegenseitig als Verantwortungspartner für den Übergang in die nächste Altersgruppe bestimmt. Die Ausbildung von Jungen zu Männern und von Mädchen zu Frauen ist Teil der Beratung und des Mentorings in Afrika.
Entkolonialisierung von Psychologie und Psychotherapie in Afrika Mit dem Einzug der westlichen Bildung und damit auch der westlichen Psychologie stellt sich das Problem universeller psychologischer Vorannahmen. Westlich orientierte Psychologie stützt sich immer noch im Wesentlichen auf Eriksons acht Stufen der psychosozialen 112
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Entwicklung (Orenstein u. Lewis, 2020). Es wäre jedoch vermessen anzunehmen, dass man Gesellschaften wie die der Maasai in Kenia, die von drei Entwicklungsstufen ausgehen, Eriksons Verständnis von Entwicklungspathologie überstülpen könne. Das ist psychologischer Kolonialismus. Der westliche Kolonialismus wollte nicht nur Afrikas Regierungsführung, Ressourcen und Zivilisationen übernehmen, sondern auch ein väterlich-autoritäres Denken durchsetzen, das die einheimischen Ausbildungs- und Lehrsysteme missachtete. Um eine afrozentrische Beratung und Psychotherapie zu schaffen, muss die in Afrika angewandte Psychologie durch Dialog und Integration mit der gemeinsamen Entwicklung von evidenzbasierten Psychotherapien entkolonialisiert werden. Solange dies nicht geschieht, wird die Psychotherapie in Afrika, die sich weiterhin auf westliche Theorien stützt, weiterhin als fremd empfunden werden. Eine afrikasensible Psychologie wird versuchen, Gedanken einzubringen, die das DSM-5 mit der Anwendung seiner verschiedenen Definitionen und Klassifikationen von Psychopathologien infrage stellen.
Psychologie und psychische Gesundheit in Afrika – Ausbildung und Interventionen Immer mehr Universitäten bieten eine Psychologie-Ausbildung an, die hauptsächlich unter dem Einfluss von Lehrplänen, Lehrbüchern, Forschungsergebnissen und Psychotherapien aus dem Westen, insbesondere den USA und Europa, stehen. Das liegt vor allem daran, dass es in vielen afrikanischen Ländern immer noch keine staatlich geförderten Behörden für psychische Gesundheit gibt. In Kenia beispielsweise gibt es immer noch keine Aufsichtsbehörde, die die psychologische Praxis reguliert, Ausbildungseinrichtungen akkreditiert und über Ausbildungsinhalte informiert. Daher wird die Qualität der Lehrpläne für klinische Psychologie und Beratungspsychologie an den Universitäten von der Kommission für Hochschulbildung überwacht, die mithilfe von Gremien aus Psychologieprofessor*innen und Praktiker*innen die vorgeschlagenen Psychologielehrpläne für alle neuen Psychologiestudiengänge prüft. Dies hat zumindest dazu beigetragen, die Qualität der Studiengänge zu standardisieren. Ohne ein Gremium lizenzieren die BerufsBeratung und Psychotherapie – eine afrikanische Perspektive
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verbände der Psychologen ihre Mitglieder und stellen sicher, dass ein Ethikkodex mit regelmäßiger Supervision und obligatorischer Fortbildung eingehalten wird, wobei die Sanktionierung schwierig ist, da die Gesellschaften kein gesetzliches Mandat haben. Bislang ist die Kooperation zwischen Psychotherapie und Psychiatrie nicht sehr gut gelungen und viele Psychiater*innen überweisen ihre Patient*innen nicht zur Psychotherapie. Die Psychopharmakologie wird dann der Beratung und Psychotherapie vorgezogen, was zu einer weiteren Stigmatisierung und Etikettierung von Menschen führt, die mit emotionalen Problemen und Beziehungskonflikten zu kämpfen haben. Die Psychoedukation nimmt aber langsam zu und klärt die Menschen darüber auf, dass psychische Probleme normal sind und dass eine Psychotherapie meist die erste Option vor einer medikamentösen Behandlung sein sollte. Politik zur psychischen Gesundheit in Afrika Die afrikanischen Staaten benötigen Strategien und nationale Pläne zur psychischen Gesundheit, Leitlinien sowie Haushaltsmittel für psychosoziale Dienste und Interventionen. Laut einer weltweiten WHO-Erhebung zum Thema psychische Gesundheit aus dem Jahr 2014 gaben 24 Prozent der Länder an, dass sie über keine Maßnahmen zur psychischen Gesundheit verfügen oder diese nicht umgesetzt haben (WHO, 2015). Dieser Prozentsatz stieg für Afrika auf 46 Prozent (Sankoh, Sevalie u. Weston, 2018). Die Autoren fügen hinzu, dass die Bevölkerung Afrikas zwischen 2000 und 2015 um 49 Prozent gewachsen ist und die Zahl der Behinderungen infolge von psychischen Störungen und Substanzkonsum um 52 Prozent gestiegen ist. Derselbe Bericht bestätigt diesen Mangel an psychosozialen Diensten, indem er feststellt, dass der Anteil der Afrikaner*innen, die wegen psychischer Probleme behandelt werden, mit 14 pro 100.000 Menschen extrem niedrig ist, während die weltweite jährliche Rate der Besuche in ambulanten psychosozialen Einrichtungen bei 1051 pro 100.000 Menschen liegt. Darüber hinaus spiegelt der Mangel an Forschungsergebnissen die Schwäche der psychischen Gesundheitsdienste auf dem Kontinent wider und zeigt, dass viele afrikanische Regierungen und NGOs die Augen vor diesem Bedarf verschließen. Diese Vernachlässigung zeigt sich auch 114
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in der Tatsache, dass viele afrikanische Regierungen nicht die Notwendigkeit erkennen, Systeme für die Ausübung und den Schutz von Beratung und Psychotherapie zu schaffen. So rät die WHO seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie, dass das psychische Wohlbefinden bei der Einsatzplanung Vorrang haben und dass alle Länder Strategien und Pläne zur psychischen Gesundheit für Covid-19 haben sollten. Die WHO rief auch dazu auf, die Mediziner*innen an der Covid-19-Front zu betreuen. Länder wie Kenia haben jedoch das Jahr 2020 ohne einen Plan für psychische Gesundheit bewältigt (Jaguga u. Kwobah, 2020) und dann Anfang 2021 einen veröffentlicht (MOH, 2021), der jedoch wegen des fehlenden präventiven Ansatzes und der mangelnden multidisziplinären Sensibilität, wie von der WHO empfohlen, kritisiert wurde. Gemeindebasierte, indigen-sensible Beratung und Psychotherapie in Afrika
Viele Entwicklungsinitiativen für Afrika beziehen Beratung und Psychotherapie nicht in ihre Programme ein. Der Schwerpunkt liegt auf Bildung, Gesundheit, Landwirtschaft, Regierungsführung etc., während nur wenige dieser Initiativen psychische Gesundheit und Traumabewältigung einbeziehen. An dieser Realität hat sich nichts geändert, obwohl viele wissen, dass Faktoren wie AIDS, Kriege, die Flüchtlingssituation und Armut zu der schweren Belastung durch psychische Erkrankungen beitragen. Neben den westlichen Einzelund Kleingruppenmodellen der Beratung und Psychotherapie hat die WHO empfohlen, dass die Länder dort, wo es nur wenige professionelle Helfer*innen für die psychische Gesundheit gibt, insbesondere bei Massenkrisen wie Covid-19, eine Aufgabenverlagerung vornehmen sollten. Bei diesem Modell arbeiten multidisziplinäre Teams zusammen, um bedarfsgerechte Beratungsdienste anzubieten (WHO, 2008; Mwiti, 2017, 2021). Neben der Steigerung der Effizienz der psychosozialen Dienste verringert die Aufgabenverlagerung die Prävalenz schwerer psychischer Probleme durch Psychoedukation und die Vermehrung von Laienberatern an der Basis, insbesondere in Kriegs- und Pandemiezeiten. Orkin et al. (2021) fügen hinzu, dass die Aufgabenverlagerung die wirtschaftliche Lücke zwischen Bedarf und Angebot an grundlegenden psychosozialen Diensten schließen soll. Beratung und Psychotherapie – eine afrikanische Perspektive
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Anwendungen der Aufgabenverlagerung – ein integratives Modell für Psychotherapie und Beratung
Die gemeindebasierte Aufgabenverlagerung verhindert Stigmatisierung, Diskriminierung und Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit psychischen Störungen. Sie kann einen sicheren Ort für Psychoedukation und Heilungsgespräche schaffen. Dies war die Erfahrung von Oasis Africa, als wir kurz nach dem Völkermord von 1994 über 1.000 Laien-Traumaberater*innen ausbildeten und mobilisierten, um in allen Teilen Ruandas zu arbeiten (Mwiti, 2021). Wir ermutigten die Berater, eine Überweisungsliste mit Geistlichen, professionellen Beratern und Ärzten zu erstellen, an die sie jeden in der Gemeinde überweisen konnten, der auf komplizierte Trauerreaktionen sowie kritische psychische und verhaltensbedingte Gesundheitszustände hinwies. Neben der Durchführung von Diskussions- und Bibelstudiengruppen in der Gemeinde zu kritischen Bereichen wie Wut, Trauer, traumatischem Stress, Vergebung und gegenseitiger Fürsorge nutzten sie unser Buch »Crisis and trauma counselling« (Oasis Africa, 1994), das in ihre eigene Sprache – Kinya-Rwanda – übersetzt wurde, um andere Helfer auszubilden und eine Botschaft der Heilung und Versöhnung über Gemeindeversammlungen, Radio und Fernsehen zu verbreiten. Pastoren nutzten unsere Predigtskizzen – Kairos für Ruanda –, um von ihren Kanzeln aus Botschaften der Heilung und Wiederherstellung zu verkünden. Die von Oasis Africa vorgenommene Aufgabenverlagerung hat einen Welleneffekt ausgelöst, der sich in der trauernden Nation ausbreitete. Ein weiteres starkes Ergebnis dieses dreijährigen Programms war eine Welle der Versöhnung im Land durch die Diskussions- und Bibelstudiengruppen, in denen wir nach der Ausbildung einer multiethnischen Gruppe von Leitern diese in Gruppen einteilten, die sich in den nächsten zehn Wochen einmal pro Woche trafen. Am Ende der zehn zugewiesenen Gruppenstudien beschlossen viele Gruppen, sich weiterhin zu treffen und ihre eigene Tagesordnung zu erstellen. Einige begannen, sich gegenseitig zu besuchen. Andere bauten Häuser für diejenigen unter ihnen, deren Häuser während des Völkermords zerstört worden waren. Wieder andere begannen mit einkommensschaffenden Maßnahmen wie dem Anbau von Passionsfrüchten und der gemeinsamen Vermarktung 116
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der Erzeugnisse oder der Haltung von Hühnern und Ziegen. Im Laufe der Wochen begannen Hutus und Tutsi miteinander zu reden und zusammenzuarbeiten – ein starkes Ergebnis der gemeinschaftsbasierten Aufgabenverlagerung. Das hier vorgestellte Modell impliziert laut Mwiti (2021) nach Abschluss der anfänglichen Vorbereitungsphase vier Kompetenzstufen. Zu den Vorbereitungsaufgaben gehören: a) Feststellung des Bedarfs an der Intervention; b) Einrichtung eines multidisziplinären Interventions-Koordinierungsteams (ICT), das die zur Unterstützung des Programms erforderlichen Maßnahmen ermittelt; c) Erstellung des Plans für die psychosoziale Unterstützung; d) Ermittlung der Akteure; e) Erstellung von Schulungsmaterialien; f) Einrichtung des Führungsteams – Ausbilder, Ort der Leistungserbringung; g) andere ortsspezifische Aufgaben, die den Anforderungen der Intervention entsprechen. An die Vorbereitungsphase schließt sich die mehrstufige Schulungsphase an mit dem Ziel, die Programmdurchführung zu standardisieren. Hier werden auf jeder Ebene ausgewählte Personen ermittelt und geschult, um andere auszubilden und/ oder psychosoziale Interventionen auf ihrer Fachebene durchzuführen. Programmbewerter werden auf die Überwachung und Bewertung der Ergebnisse vorbereitet. Die erste Ebene umfasst Laienberater – Erwachsene, die bereit sind, andere zu ermutigen und sie mit Diensten in Verbindung zu bringen. Es ist ratsam, dass es sich um Personen handelt, die in anderen wichtigen helfenden Berufen außerhalb der psychosozialen Unterstützung tätig sind, z. B. Lehrer*innen, Krankenschwestern, Geistliche, Soziolog*innen etc. Diese und die anderen Betreuungsebenen erhalten eine Ausbildung in Psychologischer Erster Hilfe (Wang, Norman, Xiao u. Leamy, 2021), um die Leistungserbringung zu standardisieren. Anhand der PFALeitlinien schaffen die Beratenden Netzwerke für die Heilung, indem sie Traumareaktionen normalisieren und dann Empfehlungen für die Genesung geben. Zu den grundlegenden Qualitäten für alle Betreuungsstufen gehören Kommunikationsfähigkeit, Zuhören, Geduld, Vertrauen, Respekt, Vertraulichkeit, eine nicht wertende Haltung und die Fähigkeit, Hoffnung zu vermitteln, sowie die Basisfertigkeiten der Beratung, wie aktives Zuhören, Aufbau einer Beziehung, Schaffung von Vertrauen, Vermittlung von Respekt etc. Beratung und Psychotherapie – eine afrikanische Perspektive
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Der Überlebende wird mit Ressourcen in Verbindung gebracht, die er dringend benötigt, z. B. in Kriegssituationen oder nach Naturkatastrophen Hilfe bei der Suche nach geliebten Menschen und Freunden. Bei der Bewältigung von Trauerreaktionen wird besonders auf diejenigen geachtet, die komplizierte Reaktionen oder Selbstmord gedanken zeigen. Stufe zwei umfasst die Ausbildung von Programmkoordinatoren, die als Laien im Bereich der psychischen Gesundheit tätig sind, aber die Gabe haben, Programme zu koordinieren und Menschen zu mobilisieren. Sie sollten auch mit ethischen Praktiken und dem Schutz der Privatsphäre vertraut sein. Die Stufe zwei umfasst die Verwaltung von Anmeldeschaltern, die Pflege einer Dienstleistungsdatenbank, die Verknüpfung des Programms mit Hilfsangeboten und die Verwaltung des Buchungsprozesses für professionelle Überweisungen. Für alle Teams legen die Ausbilder den Schwerpunkt auf die Führung von Aufzeichnungen, die Berichterstattung, die Selbstfürsorge und das Setzen von Grenzen, die Notwendigkeit regelmäßiger Supervision und die Aufrechterhaltung eines aktiven Überweisungssystems. Stufe drei umfasst die Standardisierung der Leistungserbringung durch professionelle Praktiker – Master und Doktoranden in Klinischer Psychologie oder Beratungspsychologie, Ehe- und Familientherapeuten und Klinische Sozialarbeiter. Diese werden dazu angehalten, evidenzbasierte, kultursensible Psychotherapien anzubieten und die religiöse Integration unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der Klienten zu praktizieren. Alle melden sich an und erhalten eine Ausbildung in spezifischen Paketen, z. B.: Skills for Psychological Recovery (SPR), Trauma-Focused Cognitive- Behavioural Therapy (TF-CBT). Anbieter der Stufe drei werden daran erinnert: a) ihren Ethikkodex zu beachten; b) die Rolle kultureller und religiöser Sensibilität mit der Integration von Glaube und Praxis zu verbinden, wo immer dies möglich ist; c) Selbstfürsorge zu praktizieren; d) das Verfahren zur Entgegennahme von Überweisungen aus den Stufen eins und zwei und e) organisierte Supervision während des gesamten Programms anzubieten, einschließlich Peer-Supervision. Die vierte Ebene umfasst organisatorische Gesamtkoordinatoren, die die Programmverwaltung übernehmen und die Verbindung zu 118
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führenden Persönlichkeiten der Gemeinschaft herstellen, um die Maßnahme zu unterstützen und das Programm mit anderen Ressourcen zu verknüpfen, z. B. mit Lebensmittelbanken, medizinischen Kliniken, Krankenhäusern, Schulen und politischen Entscheidungsträgern. Die Koordinatoren der Stufe Vier organisieren auch die aufsuchenden Dienste, wenn abgestimmte Teams in den Medien, Schulen, Krankenhäusern und der breiteren Öffentlichkeit benötigt werden. Im Laufe der Jahre hat die Aufgabenverlagerung bei Oasis Africa vielen Menschen in ganz Afrika den Bedarf an gemeindenahen Diensten für psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung vor Augen geführt. Heute sind mehrere promovierte Psychologen in unserer Region tätig, die mit einer Ausbildung zum Laienberater bei Oasis Africa bereits begonnen haben.
Fazit Afrika ist ein Kontinent im Umbruch. Auf dem Kontinent rückt die Vergangenheit immer weiter in die Ferne – die uralten Weisheiten werden durch postmoderne Verhaltensweisen, globale Sprachen, ein schnelles Leben und komplizierte psychische Probleme ersetzt. Elternschaft, die durch Stammessysteme geprägt war, wird durch schulisches Lernen und einen Diskurs der Jugend, die in der Sprache des Internets spricht, infrage gestellt. Immer mehr globale Kriege werden auf afrikanischem Boden ausgetragen, da die reichen Nationen um die Kontrolle über den Reichtum Afrikas ringen. Es ist bekannt, dass die blutigen Stammeskonflikte in Ländern wie der Demokratischen Republik Kongo und Sierra Leone nichts mit sich bekriegenden Volksgruppen zu tun haben, sondern dass Kriegsherren im Auftrag internationaler Schmugglerringe die Kontrolle über die mit Diamanten und Kobalt angereicherten nationalen Reserven anstreben. Afrika ist nicht länger ein zivilisationsferner Kontinent, sondern wurde dem Rest der Welt auch durch die Covid-19-Pandemie nahegebracht, die Tod, Trauer und Sterben in einem Ausmaß mit sich brachte, die bislang wenig bekannt war. In Zukunft muss die psychische Gesundheit in Afrika zu einem Schwerpunkt der humanitären Organisationen werden, wenn diese sich wirklich um das Wohlergehen des Kontinents kümmern wollen. Es sollten keine HausBeratung und Psychotherapie – eine afrikanische Perspektive
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haltsmittel mehr für die HIV- und AIDS-Prävention und die Bildung, Gesundheit und Ernährung von AIDS-Waisen bereitgestellt werden, ohne dass robuste Maßnahmen für das psychische Wohlbefinden dieser Bevölkerungsgruppen vorgesehen werden. Es sollten keine Gelder mehr für Flüchtlingssiedlungen bereitgestellt werden, ohne dass die Forschung über Trauma- und Resilienzaufbauprogramme informiert. Krankenhäuser müssen nicht nur medizinische Unterstützung, sondern auch psychologische Tests und Beratungsprogramme anbieten, denn wir können körperliche Krankheiten nicht von verhaltens- und stressbedingten Faktoren trennen. Das medizinische Modell muss durch interdisziplinäre Methoden der Betreuung ersetzt werden. Daraus ergibt sich die dringende Notwendigkeit, dass die staatliche Politik zur psychischen Gesundheit und die Pläne zur psychischen Gesundheit eine Regulierung und Standardisierung vorsehen und die Lehrpläne für die universitäre Ausbildung von Fachkräften für psychosoziale Unterstützung, insbesondere von Beratern und Psychologen, bestimmen (Mwiti u. James, 2012). Die Autorin empfiehlt, das Spannungsverhältnis zwischen westlicher Psychologie, indigenen Psychologien und religiösen Praktiken aufrechtzuerhalten, das von den unterschiedlichen Werten, Überzeugungen und kulturellen Heilungsmodalitäten der betreuten Bevölkerungsgruppen geprägt ist. In ähnlicher Weise sollten humanitäre Maßnahmen einen Bottom-up-Ansatz verfolgen, bei dem die Pläne auf den Bedürfnissen und Weisheiten der betroffenen Bevölkerungsgruppen beruhen. Die Zeit für paternalistische Programme mit vorgefertigten, kurzfristigen Lösungen ist längst vorbei. Solche Ansätze verweigern Lösungen, die Probleme beenden könnten, und schaffen stattdessen ein Stückwerk, das zu noch komplizierteren endlosen Schwierigkeiten beiträgt. Wiederkehrendes Leid ist für einige Geber ein gewünschter Zustand, um ihre Präsenz zu rechtfertigen, die den Bevölkerungen die Freiheit nimmt, nachhaltige Lösungen für ihre Probleme zu suchen. Afrika existierte schon lange, bevor die westlichen Nationen um den Kontinent kämpften, und Afrika wird auch in Zukunft überleben. In überfüllten Slums und Dörfern, ohne fließendes Wasser und ohne soziale Distanz, und ohne die Möglichkeit, sich die Covid-19-Impfstoffe zu leisten, hat Afrika Covid-19 überlebt (Chitungo, Dzobo, Hlongwa u. Dzinama120
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rira, 2020). Diese Widerstandsfähigkeit muss erforscht und gefestigt sowie in die Heilungsmodalitäten für die psychische Gesundheit des Kontinents aufgenommen werden. Darin liegt die wahre transformative Beratung und Psychotherapie – ein Modell, das auch für andere Länder interessant sein könnte.
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Symbiose oder Rivalität? Das komplizierte Geschwisterverhältnis zwischen psychosozialer Beratung und Psychotherapie Barbara Bräutigam »Do treatments cure disorders, or do relationships heal people?« (Norcross u. Lambert, 2019, S. 1).
Vorweg: Ich bin Einzelkind und darf mir regelmäßig von meinen mittlerweile beide in der Pubertät angekommenen Töchtern anhören, dass ich keine Ahnung hätte, wie es sei, Geschwister zu haben. Aus der Beobachterinnenperspektive habe ich den Eindruck, dass es zu 65 Prozent ziemlich klasse ist, ein oder vielleicht auch mehrere Geschwister zu haben, weil man bestimmte Positionen und Erinnerungen teilen und sich gegenüber einem Dritten – den Eltern – solidarisieren kann und zu 35 Prozent ist es wohl auch sehr anstrengend, da man oftmals mit Konkurrenz- und Gerechtigkeitsfragen beschäftigt ist. Bezogen auf die Geschwister psychosoziale Beratung und Psychotherapie – die Beratung wird ja auch gern als die kleine Schwester der Therapie bezeichnet – ist das prozentuale Verhältnis nach meinem Eindruck bislang eher umgekehrt. Die Solidarität und das Vertreten einer gemeinsamen Position bezieht und beschränkt sich auf die Deutlichmachung der Relevanz mentaler Probleme gegenüber der Gesellschaft. Auch bemühen sich nach meiner Auffassung beide darum, psychisch erkrankte Menschen gesellschaftlich zu entstigmatisieren. Und sie sind eventuell gegenüber einem Dritten – dem großen Bruder Medizin/Psychiatrie – Bündnis partner. Ansonsten aber befinden sie sich in einem Konkurrenzverhältnis; insbesondere die Psychotherapie besteht darauf, dass sie etwas kann, was die Beratung nicht kann – sie kann Kranke behandeln und heilen und nicht »nur« vermeintlich gesunde Menschen in gut begrenzten Anliegen beraten. In den folgenden Ausführungen versuche ich das Spannungsfeld zwischen Psychotherapie und psychosozialer Beratung unter verschiedenen Aspekten zu beleuchten. Ein wichtiger Aspekt scheint mir zu sein, dass die Adressat*innen von psychosozialer Beratung und Psychotherapie sich kaum in ihren Anliegen unterscheiden Symbiose oder Rivalität?
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und dass von den Fachkräften sehr ähnliche, wenn nicht dieselben Kompetenzen erwartet werden müssen. Ein anderer diesem polar gegenüberstehender Aspekt scheint mir aber auch zu sein, dass Psychotherapeut*innen umfangreicher und gleichzeitig spezialisierter ausgebildet und auch besser bezahlt werden als Berater*innen. Anschließend möchte ich auf einige Gesichtspunkte eingehen, die für eine etwas flexiblere und meines Erachtens fachlich nicht begründbare Differenzierung zwischen psychosozialer Beratung und Psychotherapie sprechen, ohne in Abrede stellen zu wollen, dass beide Interventionsformen sich durchaus in einigen Punkten gut unterscheiden lassen.
Identitätsklärung Eigentlich ist es ganz einfach: Als psychosoziale Beratung bezeichnet man »ein professionelles psychosoziales Handeln, das Orientierungshilfe bei der Klärung individueller Probleme bietet, die aus sozialen Anforderungen entstehen und den persönlichen, intimen Bereich der Person betreffen und irritieren« (Großmaß, 2007, S. 100). Im Unterschied dazu ist Psychotherapie eine Tätigkeit, die auf der Basis wissenschaftlich anerkannter psychotherapeutischer Verfahren die Feststellung, Heilung und Linderung krankheitsbedingter seelischer Störungen beinhaltet (vgl. Stimmer u. Ansen, 2016, S. 43). Vereinfacht ausgedrückt könnte man sagen, dass Beratung orientiert und Psychotherapie heilt und man sich so auch nicht ins Gehege kommt. Gleichzeitig würden viele in der Praxis tätige Psychotherapeutinnen sagen, dass dem Heilungsgedanken insbesondere bei komplexeren und chronisch verlaufenden psychischen Störungen eine Hybris innewohnt, und dass schon viel erreicht sei, wenn die Patienten dabei unterstützt werden könnten, mit ihrer Krankheit zu leben. Auf der anderen Seite wissen insbesondere Berater, die in Erziehungsberatungsstellen hochstrittige Elternpaare beraten, dass es nicht damit getan ist, deren Probleme oder interaktionelle Missverständnisse »klären« zu wollen, sondern dass sie mit z. T. hochpathologischen Stressmustern umgehen und diese in ihren Auswirkungen lindern müssen, um z. B. Schlimmeres für die Kinder zu verhindern. In der Konsequenz könnte man sagen, dass die begriffliche Unter124
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scheidung zwischen psychosozialer Beratung und Psychotherapie klar beschrieben ist und sich dennoch in den jeweiligen Praxisfeldern die Frage stellt, ob nicht doch die jeweiligen Akteure mehr Gleiches als Unterschiedliches tun.
Die Perspektive von Patienten und Klientinnen Frau S. kommt wegen diffuser Ängste und Einsamkeitsgefühlen in meine psychotherapeutische Privatpraxis. Sie hat bereits mehrere Jahre psychoanalytische Behandlung hinter sich und hat das Gefühl, erneut »in ein Loch zu fallen«, wie sie sagt. Kurz nach Beginn der Behandlung fängt sie eine neue Beziehung an, schmiedet Zukunftspläne und wird nach ein paar Monaten von ihrem Partner verlassen. Sie entwickelt neben einer Trauerreaktion heftige psychosomatische Beschwerden. Ich biete ihr an, mich zwischen den Sitzungen telefonisch zu kontaktieren, was sie nicht tut, das Angebot aber als haltgebend empfindet. Frau B. sucht mich mit einer starken depressiven Symptomatik im Kontext des psychosozialen Beratungsangebots für geflüchtete Menschen auf. Sie kommt aus Tschetschenien und hat dort massive Gewalterfahrungen gemacht. Ihr Mann ist schwer erkrankt, sie sieht sich kaum in der Lage, ihre fünf z. T. noch sehr kleinen Kinder zu versorgen. Im Verlaufe der Beratung, die unter Anwesenheit einer Sprachmittlerin erfolgt, wird deutlich, dass sie unter heftigen Schuldgefühlen leidet, weil sie das Gefühl hat, dass ihre Familie ihretwegen ihre Heimat verlassen habe und auch die Erkrankung ihres Mannes mit der Flucht verbunden sei. Auch ihr biete ich an, mich zwischen unseren Terminen via eines Nachrichtenmessengers zu kontaktieren, da ich zumindest Russisch ein wenig lesen und schreiben kann. Auch sie nimmt dieses Angebot nur sehr zurückhaltend an, gibt aber das Feedback, dass sie das Angebot als unterstützend empfunden hätte.
An diesen beiden Fallvignetten wird exemplarisch deutlich, dass psychotherapeutisches und beraterisches Handeln in der Praxis oft nicht gut zu unterscheiden ist. Ein oft zur Differenzierung herangezogenes Merkmal ist die Patienten- bzw. Klientenidentität. Der Symbiose oder Rivalität?
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Patient ist der Leidende, der einer Behandlung bedarf und auch nur ein eingeschränkt in der Lage ist, zur Linderung seines Leidens selbst etwas beizutragen. Klientinnen haben ein Anliegen, das ihnen bewusst ist und zu dessen Unterstützung sie Expertenwissen benötigen. Laut Kraft (2021) liegen Problemen, die in der Psychotherapie behandelt werden sollten, primär internalisierte Konfliktkonstellationen zugrunde, während Beratung sich mit externalisierten oder externalisierbaren Problemkonstellationen befasst, die der willentlichen Steuerung prinzipiell zugänglich sind. In den beschriebenen Fallvignetten ist es allerdings eher umgekehrt. Frau S., die zur mir als Psychotherapeutin kommt, hat ein Anliegen – sie möchte nicht wieder in ein Loch fallen –, sie hat auch bereits in ihrer vorherigen Behandlung vor allem selbstreflexive Strategien entwickelt, die ihr helfen, ihre verschiedenen mentalen Zustände zu identifizieren und benennen zu können, die sie jetzt mit mir – einer anderen Therapeutenpersönlichkeit, die einer anderen therapeutischen Schule angehört als ihre vormalige Therapeutin – weiterentwickelt. Man könnte also sagen, dass Frau S. zwar als Patientin kommt, aber bereits eine Klientinnenidentität angenommen hat. Frau B. hingegen kommt formal als Klientin, sie ist aber in dem Sinne eindeutig eine Patientin, als dass sie ein recht eindeutig identifizierbares klinisch relevantes Leiden beschreibt (Antriebslosigkeit, Konzentrationsstörungen, Verzweiflung und anhaltende Schuldgefühle) und auch keine Idee hat, wie sie als Expertin für sich selbst zur Besserung ihres Zustandes beitragen könnte. Bei ihr trifft das zu, was auch für ein Großteil der Klientel in verschiedenen helfenden Institutionen im sozialen Bereich zutrifft. »Die Patienten tauchen häufig als Klienten in den Beratungsorganisationen auf, da die Niedrigschwelligkeit den Zugang erleichtert und die Patientenidentität häufig erst sekundär angenommen wird« (Degenhardt, 2006, S. 179). Hinzu kommt, dass beide Frauen zwar in Teilen eine ähnliche depressive Symptomatik beschreiben, doch ihre Lebensumstände so verschieden sind, dass die Behandlung/Beratung sich nicht einfach nur auf die Symptomreduktion beschränken kann. Buchholz (2017) weist daraufhin, dass es ziemlich schwierig sei, ähnliche Symptome, die sich aber in völlig unterschiedlichen biografischen Kontexten manifestierten, ähnlich und »manualgesteuert« zu behandeln. Dennoch wird genau dieser 126
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»Glaube« in psychotherapeutischen Aus- und Weiterbildungen nicht selten verstärkt und die Unterscheidung zwischen Psychotherapie und Beratung insbesondere in Deutschland sehr streng gehandhabt, womit ich mich im folgenden Abschnitt beschäftigen möchte.
Metamodelle und paradigmatische Annahmen Im deutschen Psychotherapiediskurs wird bislang vorrangig ein störungsspezifisches und an leitlinienorientiertes Modell von Psychotherapie favorisiert, wonach verschiedene psychische Störungen und deren Symptome je nach Therapieschule mehr oder weniger manualgetreu von bislang noch psychologischen oder ärztlichen Psychotherapeuten – demnächst dann Fachpsychotherapeuten – behandelt werden. Nun ist zwar hinlänglich bekannt, dass der Einsatz unterschiedlicher verfahrensspezifischer Methoden und Techniken nur einen geringen Teil des Outcomes in der Psychotherapie erzielt und die Qualität der therapeutischen Beziehung im Vergleich dazu höher zu bewerten ist, dennoch machen Norcross und Lambert darauf aufmerksam, dass es nicht besonders sinnvoll sei, das eine von dem anderen zu trennen: »In reality, of course, what one does and how one does it are complementary and inseperable. […] In other words, the value of a treatment method is inextricably bound to the relational context in which it is applied« (2019, S. 3). Norcross und Lambert (2019) verweisen darauf, dass die therapeutische Beziehung selbst sich ja in der Anwendung bestimmter Methoden manifestiert wie z. B. eine permanente Einholung und Bezugnahme auf das Feedback von Patienten – was interessanterweise in der deutschen Psychotherapielandschaft bislang eher die Ausnahme als die Regel darstellt (Strauß u. Willutzki, 2019) – sowie die Reparation von interaktionellen Missverständnissen oder den Umgang mit Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomenen impliziert. Systemiker*innen betonen zudem die Dialektik in der therapeutischen Beziehung, die sich im Pendeln zwischen idiografischen und nomothetischen, stabilisierenden und destabilisierenden sowie expertenorientierten und partnerschaftlichen Vorgehensweisen manifestiert (Borst, 2018). Lässt sich all dies nicht auch auf die psychosoziale Beratung übertragen? Symbiose oder Rivalität?
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Michael Linden (2016) beschreibt in seinem Artikel »Beratung in Abgrenzung zur Psychotherapie« Psychotherapie als eine »Sonderform der menschlichen Interaktion, die so zu gestalten ist, dass der eine dem anderen hilft, sich selbst besser zu verstehen, sein Verhalten zu ändern und sein Leben besser zu bewältigen« (S. 279). Nach Linden können Klient*innen im Unterschied zu Patient*innen, »frei bestimmen und handeln. Die sogenannte Augenhöhe ist in der Therapie sachbedingt nicht gegeben. Im Extrem liegt der eine bewusstlos in Narkose und der andere steht über ihm. Die vermittelte Information ist beim Patienten aus therapeutischen Überlegungen gefiltert, bei Klienten von Geschäftsinteressen geleitet« (S. 284). Nun polarisiert Linden hier sicherlich bewusst und wählt für Beispiele aus der Beratung vor allem die Bank- und Steuerberatung, der Begriff der psychosozialen Beratung taucht in seinen Ausführungen nicht auf. Aber das Bild des bewusstlos in Narkose liegenden Patienten befremdet im gegenwärtigen psychotherapeutischen Diskurs dann doch ein wenig, obwohl sich Sigmund Freud wohl selbst dieses Bildes bedient und seinen psychoanalytischen Kollegen geraten hat, sich bei der Behandlung den Chirurgen zum Vorbild zu nehmen und kunstgerecht zu operieren. Aus Sicht der personenzentrierten Psychotherapie und Beratung lässt sich dazu sagen, »dass der Blick des Chirurgen auf den narkotisierten Körper eine Art des Blickens ist, die die PZT gerade strikt vermeiden will. Denn die modernitätskritische Pointe bei Rogers besteht in einem ausgeprägten Vorbehalt gegenüber Aspekten der Beobachter-Beziehung in der Psychotherapie und in einer starken Präferenz für eine ›Mitspieler‹- bzw. Teilnehmer-Beziehung, in der der Therapeut nicht Beobachter und distanzierter Beurteiler, sondern Akteur und Anteilnehmender ist« (Finke, 2018, S. 52). Dies entspricht auch den Erkenntnissen aus der jüngeren Psychotherapieforschung, dass neben der Beziehung und allgemeinen gesundheitsfördernden Maßnahmen gerade die subjektiven Erwartungen und Zielvorstellungen von Patientinnen und deren Passung zu den Zielvorstellungen und verwendeten Interventionen von Therapeutinnen einen zentralen und allgemeinen Wirkfaktor in der Psychotherapie darstellen (Wampold, Imel u. Flückiger, 2017) und offenbar sogar »die Patientenpräferenz für eine Behandlungsform 128
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Bedeutung für den Behandlungserfolg hat« (Jacobi u. Brodrück, 2021, S. 105). Passend dazu konstatieren Strauß und Willutzki (2019), dass das medizinische und störungsspezifische Modell soziale und lebensweltliche Faktoren vernachlässigt und Christoph Flückiger beschreibt das Therapeutenbild im biopsychosozialen Modell wie folgt: »Das biopsychosoziale Therapeutenbild verneint die Relevanz symptomspezifischer Argumente nicht, es betont jedoch die (selbstverantwortliche) Proaktivität und Partizipation, aber auch Mitverantwortung einer Behandlung. Patientinnen und Therapeutinnen entscheiden und bestimmen zu einem gewissen Teil gemeinsam den Behandlungsplan, was zeigt, wie empirisch bedeutsam die kollaborativen Qualitäten zwischen Behandlern und Patienten sind« (2020, S. 61). In angloamerikanischen Diskursen ist die Unterscheidung zwischen Psychotherapie und Beratung generell zumeist sehr viel weniger strikt. »Graduates of counseling psychology programs are eligible for the same professional benefits as clinical psychology graduates, such as psychology licensure, independent practice, and insurance reimbursement« (Sayette u. Norcross, 2020, S. 4). Auch hier werden Unterschiede betont – so würde z. B. in der Beratungsausbildung ein stärkeres Gewicht auf die Felder der Berufsberatung und auch auf die Beachtung soziokultureller Differenzen und Benachteiligungen gelegt, während die klinische Psychologie sich stärker psychopathologischen Phänomenen widme. Interessanterweise wird daraus aber nicht der Schluss gezogen, dass nicht nur klinisch psychologisch ausgebildete Fachkräfte psychisch erkrankte Menschen »behandeln« könnten, da offensichtlich der Begriff der psychischen Erkrankungen sich nicht nur auf das Auftreten von psychopathologisch beschriebenen Symptomen beschränkt, sondern im biopsychosozialen Sinne (Engel, 1977) ganzheitlicher verstanden wird. Dazu zählen dann eindeutig auch interkulturelle Aspekte. Kultur hierbei wird als ein Orientierungs- und Bedeutungssystem verstanden, das innerhalb einer sozialen Gemeinschaft entsteht und über das das Individuum die Welt wahrnimmt und deutet (Thomas, 2016). Psychotherapeutische Arbeit in Kriegs- und Krisengebieten hat beispielsweise eine andere politische Dimension als in Europa oder Nordamerika. »Psychotherapie ist im Nahen Osten eine Form von Symbiose oder Rivalität?
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Friedensarbeit«, sagte Jan-Ilhan Kizilhan, der Leiter des Institute for Transcultural Health Science – Institut für transkulturelle Gesundheitsforschung in Villingen-Schwenningen (Bachmann, 2020, S. 34). Zusammenfassend lässt sich daraus schlussfolgern, dass zumindest einem kontextuellen Metamodell der Psychotherapie folgend die allgemeinen Wirkfaktoren vor den spezifischen hervorzuheben sind und somit die Unterscheidungsmerkmale zwischen psychosozialer Beratung und Psychotherapie zunehmend unklar werden. Aus diesem Grunde trenne ich im folgenden Abschnitt bei der Zusammenstellung der aus meiner Sicht notwendigen Skills und Kompetenzen psychosoziale Beratung und Psychotherapie nicht mehr, sondern schlage mich zumindest an diesem Punkt ganz auf die Seite der Symbiose.
Skills und Kompetenzen »The essence of therapy is embodied in the therapist. Previously, we have seen that the particular treatment that the therapist delivers does not affect outcomes to a significant degree but that allegiance to the therapy was important« (Wampold u. Imel, 2015, S. 176).
Was müssen also Menschen/Fachkräfte insgesamt können, wenn sie psychisch belastete Menschen therapieren und/oder beraten wollen? Martin Rufer (2020, S. 19) beschreibt folgende Kernfragen der Psychotherapie: »Was führt Hilfesuchende zu uns? Ist krank, wer leidet? Was braucht es, dass Therapie hilfreich ist? Woran orientieren sich Therapeuten? Und nicht zuletzt: Wie lehrt und lernt man das?« In der Aus- und Weiterbildung wird heute in erster Linie von Kompetenzorientierung gesprochen, die insofern mit klassischen Bildungstheorien übereinstimmt, als dass beide auf die Schaffung von Selbstbestimmungsfähigkeit abzielen (Klafki, 2007). Ziel von Kompetenzorientierung ist es, die Anwendung von Wissen und handlungspraktischen Fähigkeiten auf neuartige und komplexe Situationen anzubahnen und in ihrer Entwicklung zu fördern (Weidauer, 2015). Auch in Beratungs- und Therapiesituationen gibt es besonders schwierige und herausfordernde Situationen, die man als 130
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beraterisch/therapeutische Schlüsselprobleme bezeichnen könnte und die sich in beiden Kontexten gleichermaßen ereignen können. Dazu zählt beispielsweise der Abbruch der Beratung/Behandlung oder ein Nicht-Erscheinen, stark abweichende Wertvorstellungen, aggressives bzw. gewalttätiges Verhalten oder drohende Suizidalität seitens der Klient*innen und Patient*innen, die Vermischung privater und professioneller Kontexte oder auch eine Verliebtheit aufseiten des Klienten oder auch beim Therapeuten/Beraterin (Noyon u. Heidenreich, 2009, S. 141). Für diese Situationen gibt es abgesehen von ethischen Richtlinien keine Patentrezepte oder klare Handlungsanweisungen. Aber das Bewusstsein über das mögliche Eintreffen solcher Situationen macht deutlich, dass Psychotherapie und Beratung übergreifende handlungsmethodische und persönliche Kompetenzen der Fachkräfte erfordern. Hinzu kommen notwendige interkulturelle Kompetenzen, die nicht nur im Umgang mit Menschen mit Migrations- oder Fluchthintergrund von Bedeutung sind, sondern eine Querschnittskompetenz bilden. Im Folgenden werden darum exemplarisch zwei Modelle von Skilloder Kompetenzerwerb skizziert, die in psychotherapeutischen oder beraterischen Kontexten entwickelt wurden und eine recht große Ähnlichkeit aufweisen und meiner Einschätzung nach relevant in der Ausbildung zum Psychotherapeuten und zum Berater sein könnten. In diesem Zusammenhang ist auch der aktuell im psychotherapeutischen Diskurs vieldiskutierte Begriff der »deliberate practice« zu nennen, in dem auch erfahrene Therapeut*innen ähnlich wie Sportler*innen oder Musiker*innen immer wieder dazu aufgefordert werden, ihre Methoden und Techniken durch Übung kontinuierlich zu verbessern (Rosmaniere, 2016). Der Begriff »Skill« bedeutet übersetzt Fertigkeit. Im psychotherapeutischen Kontext bezeichnen »Skills« erlernte oder erworbene funktionale Verhaltensweisen und Basisfertigkeiten, die dazu dienen, psychotherapeutisch kompetent handeln zu können (Laireiter, 2021). Insgesamt werden die Begriffe »Kompetenz« und »Skill« oftmals synonym verwendet. Skills beziehen sich allerdings im engeren Sinne auf die erlern- und trainierbaren Fertigkeiten, während Kompetenzen im weiteren Sinne z. B. fachlich-konzeptuelle oder Beziehungskompetenzen umfassen (Strauß, 2021). Symbiose oder Rivalität?
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Zunächst soll das ausschließlich auf Beratung bezogene Kompetenzmodell psychosozialer Beratung (Weinhardt, 2015) genannt werden. Dieses Modell wurde ausdrücklich weder arbeitsfeld- noch methodenspezifisch, sondern in einem allgemeinen Sinne der Beratung konzipiert. Es berücksichtigt drei Einflusssphären, die beim Kompetenzerwerb als relevant erachtet werden. Die erste Sphäre meint die biografischen Rahmenfaktoren, die u. a. persönliche Überzeugungen/ Wertvorstellungen und die Fähigkeit zur Selbstregulation beinhalten. Die zweite Sphäre umspannt fachliches und methodisches Wissen und die dritte beraterisches Können, d. h., die begründete Auswahl einzelner Methoden und Techniken oder auch den Umgang mit Konfliktsituationen. Demgegenüber stelle ich hier das Konzept der »therapist skills« von Bennett-Levy (2006) vor, das sich auf drei kog nitiv orientierte Systeme stützt, die dazu dienen den Therapieprozess zu reflektieren. Das deklarative System »Knowing that« meint dabei die Aktivierung von Faktenwissen. Das prozedurale System »Knowing how« beinhaltet das Wissen über Regeln, Strategien und Vorgehensweisen und die prozessuale Anpassung an die jeweilige Hilfesituation. Das dritte System bezeichnet Bennett-Levy in Anlehnung an Donald Schön (1983) als reflexives System. Dieses impliziert eine Differenzierung und einen kontinuierlichen Wechsel zwischen »reflection-on-action« und »reflection-in-action«. Dass die Aktivierung dieser drei Systeme im Kontext von Psychotherapie sinnvoll ist und auch in den meisten fallbezogenen Supervisionen im Rahmen der Ausbildung genutzt wird, ist relativ offensichtlich. Aber auch in Beratungssituationen, die eventuell auch als solche gar nicht identifizierbar sind, weil sie sich z. B. in Tür- und Angelgesprächen oder auf der Fahrt zum Jugendamt ergeben, sind diese Reflexionsprozesse nicht nur hilfreich, sondern auch erforderlich (Bräutigam u. Müller, 2014). Beide Modelle machen jedenfalls deutlich, dass Faktenwissen, methodische und technische Fertigkeiten sowie die Reflexion persönlicher Anteile erforderlich sind, um psychosoziale Beratung bzw. Psychotherapie kundig ausüben zu können. Zusammenfassend betrachtet spielen Reflexions- und Introspektions- und Kontaktfähigkeit eine große Rolle und sind offenbar Merkmale, über die Psychotherapeuten und psychosoziale Beraterinnen im überdurchschnittlichen Ausmaß verfügen sollten. 132
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Als Folge müssten in den jeweiligen Ausbildungskontexten ähnlich umfangreiche Lernmöglichkeiten zur Verfügung gestellt werden, um diese Fähigkeiten zu stärken.
Fazit Krankheit und Armut sind allseits gefürchtet. Als bislang halbwegs gesunde Mittelstandsangehörige mobilisiere ich meine Abwehrmechanismen, um mir zu suggerieren, dass mich beides auch in der Zukunft nicht betreffen wird, sondern dass nur andere Menschen krank sind/werden oder arm sind/werden. Während der Coronakrise wurde die Illusion dieser Glaubenssätze aufs Schärfste attackiert. Das Virus betraf und betrifft – beinahe – unterschiedslos alle und die Verzahnung von gesundheitlichen und sozialen Aspekten wird noch einmal deutlicher. Was heißt das für die Differenzierung zwischen Psychotherapie und psychosozialer Beratung? Psychotherapie ist eine Gesundheitsleistung und Beratung eine Sozialleistung, die Finanzierung ist in Deutschland klar getrennt, was sich insbesondere für die besser bezahlten Psychotherapeutinnen langfristig positiv auswirkt und von den längeren Ausbildungszeiten abgesehen klar von Vorteil ist. Diese sich auf absehbare Zeit vermutlich nicht ändernde Trennung der Bereiche darf aber meines Erachtens nicht dazu führen, dass die in der Praxis sich zeigenden großen Schnittstellen zwischen beiden Interventionsformen künstlich und fachlich nicht begründbar vergrößert werden. Aus meiner Sicht muss sich psychotherapeutisches Handeln aus seiner verengenden störungsspezifischen und pathologiezentrierten Sichtweise auf die zu behandelnden Patientinnen noch weiter lösen und soziokulturelle Faktoren stärker berücksichtigen. In dieser Hinsicht kann die Psychotherapie von ihrer Schwester Beratung lernen. Psychosoziale Beratung muss sich hingegen darüber im Klaren sein, dass sie mitnichten bei ihrer Klientel lediglich zur Klärung bereits gut ausformulierter Beratungsanliegen beiträgt, sondern mit z. T. schweren Pathologien umgehen muss, die sich nicht einfach weiterverweisen lassen und zur Erkennung/Einordnung solides klinisch-psychologisches Wissen erfordern. Die Anerkennung, dass beide Tätigkeitsformen näherungsweise dieselben Kompetenzen und Skills erSymbiose oder Rivalität?
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fordern, würde das komplizierte Geschwisterverhältnis zwischen Psychotherapie und psychosozialer Beratung eventuell etwas befrieden.
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Symbiose oder Rivalität?
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Beratung und Psychotherapie zwischen Recht und Forschung Michael Märtens
»Jede Zeit hat ihre Neurose – und jede Zeit braucht ihre Psychotherapie«, schrieb Viktor Frankl in seinem Klassiker »Das Leiden am sinnlosen Leben« vor fast einem halben Jahrhundert (1977, S. 11) mit dem Untertitel »Psychotherapie für heute«. Welche Neurosen – heute würden wir sagen: Störungen – oder welcher Zeitgeist (Herder, 1769) spiegeln sich in der heutigen Psychotherapie- und Beratungslandschaft? Haben wir die Therapie und Beratung, die wir brauchen? Das Verhältnis kann gleichermaßen von beiden Seiten aus gedacht werden. Oder muss vorrangig die Frage der differenziellen Indikation beantwortet werden, in welchen Fällen was angezeigt ist? Aus Sicht der Nutzer spielen unterschiedliche Motive bei der Wahl eine Rolle. Deklariert man z. B. etwas als Psychotherapie, was der Persönlichkeitsentwicklung dient, oder wird Beratung vorgezogen, um Berufsaussichten nicht zu gefährden? Solche Überlegungen spielen bei Ratsuchenden eine nicht zu unterschätzende Rolle, wenn sie ein Hilfsangebot suchen. So wird dann ein Begegnungskonstrukt zwischen Professionellen und Klienten konstruiert oder quasi erfunden. Bestimmte Label sind auf Zielgruppen zugeschnitten. Die angewendeten Methoden stammen aus der gleichen Vorratskammer, aber sie werden anders verkauft. Psychotherapie und Beratung sind soziale Repräsentationen im Sinne von Moscovici (1984). In diesem Beitrag soll das Spannungsverhältnis dieses Phänomens mit einem Fokus auf Recht und Forschung beleuchtet werden.
Beratung und Psychotherapie zwischen Recht und Forschung
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Die Herausforderung der Vielfalt Psychotherapie ist wegen ihres klaren Ziels leicht zu bestimmen. Sie soll Gesundheit – insbesondere psychische – fördern und wiederherstellen. Sie ist damit dem Individuum verpflichtet. Beratung hingegen ist schwer greifbar und verfolgt oft mehrere Ziele: »Beratung betrifft unterschiedliche psycho-soziale Aufgabenbereiche […] Dabei integriert sie unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen und ›Schulen‹ mit ihren Ansätzen und Verfahren« (DGfB, 2021). Im Handbuch der Beratung, das bald 20 Jahre alt ist, werden 13 Beratungsansätze und 25 Beratungsfelder unterschieden (Nestmann, Engel u. Sickendiek, 2004). Kombiniert man die 13 Ansätze mit den Arbeitsfeldern ergeben sich ohne Methodenkombinationen 325 Möglichkeiten. Diese Vielfalt macht Aussagen zur allgemeinen Effektivität unmöglich. Sie hängt besonders von drei zentralen Faktoren ab: a) den verwendeten Methoden, b) den Kontexten, in denen sie Verwendung finden und c) den Berater*innenpersönlichkeiten und ihren Kompetenzen. Eigenschaften der Ratsuchenden spielen auch eine Rolle dabei, wie unterschiedlich Prozesse verlaufen. Es ist allerdings Aufgabe der Professionellen, diese Faktoren miteinzubeziehen, also geeignete Vorgehensweisen anzuwenden oder/und sie in Kontexte zu vermitteln, in denen zur Lösung befähigte Personen arbeiten. Kazdin (2021) stellt fest, dass weltweit die Anzahl der von psychosozialen Hilfen profitierenden Menschen immer noch klein ist, wenn man die Zahl der Hilfsbedürftigen betrachtet. Es stehen über 400 empirisch als effektiv identifizierte psychosoziale Interventionen zur Verfügung, die nur darauf warten in Beratung, Psychotherapie oder Sozialer Arbeit eingesetzt zu werden (Kazdin, 2021, S. 763). Er plädiert nicht für spezielle Forschungsmethoden, sondern für eine allgemeine Interventionsforschung. Die Vielfalt der Beratung ist Ausdruck einer differenzierten, wohlhabenden Industriegesellschafft.
Gesetze schaffen Realität Eine Differenzierung findet auch in der Medizin statt, die aufgrund des Wissenszuwachses und der technischen Möglichkeiten not138
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wendig wird. So entwickeln sich neue Fachrichtungen. Beratungsvielfalt spiegelt keinen Wissenszuwachs, sondern eine Gesellschaft wider, die immer mehr Komplexität organisiert, die oft durch technischen Fortschritt entsteht. Neue Gesetze definieren dann neue Beratungsformate, die neue methodische Varianten bedingen. Seit 2017 gibt es erneut ein neues Beratungsangebot in Deutschland. Betroffene schwerer Straftaten können während der Dauer des Strafverfahrens – mit Beginn der polizeilichen Ermittlungen bis zur rechtskräftigen Verurteilung des Täters – die Dienste zertifizierter Prozessbegleiterinnen und Prozessbegleiter in Anspruch nehmen (PsychPbG, 2015). Es sind Fachkräfte aus psychosozialen Berufsfeldern, die über einen entsprechenden Hochschulabschluss (z. B. Sozialpädagogik, Soziale Arbeit, Pädagogik, Psychologie) oder eine vergleichbare Qualifikation sowie eine mindestens zweijährige Berufserfahrung verfügen. »Sie [Psychosoziale Prozessbegleitung] umfasst eine qualifizierte Betreuung, Informationsvermittlung und Unterstützung mit dem Ziel eine drohende Sekundärviktimisierung durch ein Strafverfahren zu vermeiden. […] Psychosoziale Prozessbegleitung umfasst qualifizierte Betreuung und Begleitung der verletzten Zeuginnen und Zeugen im Strafverfahren vor, während und nach der Hauptverhandlung mit dem Ziel, Belastungen zu reduzieren, eine Sekundärtraumatisierung zu vermeiden und damit die Aussagetüchtigkeit zu unterstützen.« (Bundesverband Psychosoziale Prozessbegleitung [BPP], 2015). Die Psychosoziale Prozessbegleitung (PSPB) ist ein Beispiel für ein neues Beratungsangebot per gesetzlicher Regelung. Dabei wird explizit eine Abgrenzung vorgenommen, die bestehende Hoheitsgebiete sichert: PSPB soll keine Psychotherapie und keine rechtliche Vertretung beinhalten und sie soll als Drittes dem Gesetz dienen. Die Prozessbegleitung soll die Zeugenkompetenz verbessern, um die Ereignisse wahrheitsgetreu wiedergeben zu können. Durch das Verbot einer Beschäftigung mit dem gerichtlich zur Verhandlung stehenden Sachverhalt entsteht eine spezielle Herausforderung für die Arbeitsweise. Sie soll Coping unterstützen, ohne die Betroffenen in eine Beschäftigung mit belastenden oder ambivalenten Erinnerungen zu führen. Dabei sind Kenntnisse traumatherapeutischer Vorgehensweisen zur dosierten Anwendung und der Vermeidung unbeabsichtigter Effekte erBeratung und Psychotherapie zwischen Recht und Forschung
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forderlich. Daneben spielen unbewusste Reaktionen auf Beraterinnenseite eine Rolle, deren Handhabung trainiert werden muss. Sonst kann der gesetzliche Auftrag nicht erfüllt werden und im Gerichtsverfahren könnte das unprofessionelle Vorgehen gegen das Opfer verwendet werden. So ergibt sich eine spezielle Verantwortung in der Beratung, die eine methodenübergreifende Auswahl an Interventionen erfordert. Die rechtlichen Vorgaben definieren den methodischen Raum und seine Grenzen stärker als man oft wahrnehmen will. In Großbritannien sind Psychotherapie und Counselling keine gesetzlich geregelten und geschützten Tätigkeiten. Die berufspolitischen Interessen werden vorrangig von den gleichen Verbänden vertreten. Im Unterschied zu Österreich (1992), Deutschland (1999) und der Schweiz (2013) ist es in Großbritannien noch nicht zur folgenreichen Trennung der Geschwister gekommen.
Forschung fordert Veränderung In der Bibel der psychosozialen Interventionsforschung, dem »Bergin and Garfield’s Handbook of psychotherapy and behavior change« (Barkham, Lutz u. Castonguay, 2021), finden sich – vor allem wenn es um Praxisforschung geht (Castonguay, Barkham, Youn u. Page, 2021) – viele Studien zu Beratung. Viele herausragende Forscher*innen wie z. B. Clara Hill und Bruce Wampold sind Inhaber von Lehrstühlen für Beratung (counseling). Viele Studienteilnehmer*innen arbeiten in Beratungsstellen oder anderen Bereichen der Gesundheitsversorgung und sozialen Einrichtungen. Sie werden als Psychotherapeuten gezählt, wenngleich sie formal Beratung durchführen. In einer großen Studie zur Gesundheitsversorgung in Großbritannien mit 33.243 Probanden wurden Beratung und Psychotherapie direkt in einem randomisierten Studiendesign hinsichtlich Effektivität und Effizienz verglichen (Pybis, Saxon, Hill u. Barkham, 2017). In der direkten Konkurrenz sind sie als gleichberechtigte Alternativen konzipiert. Ist Beratung eine Alternative zur Psychotherapie? Kann man mittelgradige und schwere Depressionen mit Beratung beeinflussen? Es handelt sich dabei um einen Vergleich von Beratung als Alternative zur Kognitiven Verhaltenstherapie (CBT), die empirisch als 140
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effektivste Methode gehandelt wird. Im Unterschied zur Therapiemethode, die hier gut beschrieben ist, handelt es sich bei den Beratungsmethoden um unterschiedliche humanistische und integrative Ansätze. Einige der Beraterinnen der Studie hatten ein spezielles Training zum Umgang mit Depressionen erhalten. Es wurde speziell entwickelt, um Patienten und Patientinnen psychologisch zu unterstützen, da der Einsatz von Antidepressiva aufgrund fehlender Effektivität und unerwünschter Wirkungen (insbesondere Suizide) in Großbritannien stark eingeschränkt wurde. Die staatlichen Leitlinien sehen bei Depressionen seit 13 Jahren auch in der aktualisierten Version vom 23. November 2021 (National Institute for Health and Care Excellence – NICE, 2021) trotz großer Kritik keine Antidepressiva mehr als geeignetes Mittel zur Behandlung vor. Hier wird Beratung einerseits als Alternative zur Psychotherapie angeboten und gleichzeitig als Alternative zu einer medizinischen Intervention mit Medikamenten. Das Ziel der Intervention ist aus medizinischer, psychologischer und Beratungssicht identisch: Leben ohne oder mit weniger Depressionen. In Großbritannien ist eine Depression somit nicht exklusiv für medizinische und psychologische Interventionen reserviert. Hier wird offensichtlich, dass der kulturelle und historische Kontext die Notwendigkeit, Unterschiede zu erfinden oder abzuschaffen, forciert. Der Entzug einer medizinischen Interventionsmöglichkeit schuf den Raum für Beratung. Ein Monopol wurde aufgehoben. Dass es keinen signifikanten Unterschied zwischen beiden Gruppen gab, ist bei der favorisierten CBT überraschend. Aufgrund der Interventionen konnten 46,6 Prozent in der CBT und 44,3 Prozent in der Counselling-Gruppe nicht nur eine statistische, sondern auch eine klinisch signifikante Verbesserung erzielen. Erstaunlich ist weiterhin die schnelle klinische Verbesserung in der Counselling- Gruppe. Schon nach der zweiten Sitzung konnte bei 34,9 Prozent in der Beratungsgruppe eine klinisch signifikante Besserung erreicht werden, in der CBT-Gruppe nur bei 22,4 Prozent. Counselling war häufig kürzer und effektiver. Lediglich bei den Patienten, die mehr Stunden (18–20) in Anspruch nahmen, waren die Ergebnisse in der CBT-Gruppe signifikant besser. Counselling zeigt sich hier im direkten Vergleich als kostengünstige und effektive Alternative. Ein Beratung und Psychotherapie zwischen Recht und Forschung
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beunruhigender Befund ist allerdings auch, dass die Hälfte aller Studienteilnehmerinnen in beiden Gruppen keine nachhaltigen Verbesserungen erzielen konnten (Barkham et al., 2021a).
Beraterinnen sind nicht weniger gefährlich als Therapeuten Unerlässlich ist in beiden Professionen eine weitere Professionalisierung durch die gründliche Beschäftigung mit unerwünschten Wirkungen. Jede anspruchsvolle Tätigkeit ist deshalb professionell und kunstvoll, weil sie nicht einfach ist. Nur wo vielfältige Möglichkeiten des Scheiterns lauern, und unerwünschte Wirkungen vermieden werden müssen, ist Professionalität gefordert. »Viel Feind, viel Ehr.« Aus Angst vor der abschreckenden Wirkung der Thematisierung von Risiken und einem Nachweis von Fehlern auf Nutzerinnen werden lieber die Erfolge herausgestellt (Märtens u. Petzold, 2002). Für Beratung mit ihren vielen Anwendungsbereichen ist hier noch ein größerer Nachhohlbedarf zur Professionalisierung zu bewältigen. Da für einige Methoden in Psychotherapie und Counselling (Wampold u. Brown, 2005) Hinweise auf Risiken und Nebenwirkungen vorliegen (Lilienfeld, 2007, Leitner, Liegl u. Märtens 2014), haben diese Befunde auch grundlegende Bedeutung für Beratung. Weitere Beratungsforschung (Heppner, Wampold, Owen, Thompson u. Wang, 2016; Evans u. Carlyle, 2021) kann dann ermitteln, welche anderen Auftretenswahrscheinlichkeiten für diese Risiken und Nebenwirkungen in welchen Anwendungskontexten vorliegen. Bei vielen Interventionen könnte das aber auch irrelevant sein. Solche Vermutungen müssen aber untersucht werden. Für welche Interventionen macht der Kontext einen Unterschied und warum? Wie wirken sich Ausbildungsunterschiede der Fachkräfte, Unterschiede im vorgesehenen zeitlichen Umfang (zu lang oder zu kurz), Zielgruppenunterschiede (z. B. Grenzen eines Beziehungsangebotes aufgrund von Aufenthaltsbestimmungen, andere Kultur, Patienten auf einer Palliativstation etc.) und räumliche Faktoren der Maßnahmen (Gefängnis, Schule, Workshop etc.) auf die Konzeption aus? Bei diesen Fragen bleibt allerdings ein wesentlicher Aspekt unberücksichtigt. Der zentrale Faktor für die Wirkung einer Intervention 142
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ist der Mensch, bei dem der Ratsuchende Hilfe sucht. Schon vor fast einem halben Jahrhundert hatte Ricks dies in der Beratung von 28 Jugendlichen, die von zwei Therapeuten betreut wurden, eindrücklich durch eine Nacherhebung im Erwachsenalter veranschaulicht (Ricks, 1974). Während die Jugendlichen des einen Beraters überwiegend ein normales Leben führten, fanden sich in der anderen Gruppe viele häufig in stationären Behandlungen. Durch diesen Vergleich der beiden Behandler bei gleicher Klientel wurde der Mythos vom »Supershrink« geboren. Die Unterschiede zwischen Methoden und Ansätzen sind eher auf die unterschiedliche Anzahl ineffektiver oder effektiver Berater/ Therapeutinnen zurückzuführen. Es handelt sich weniger um einen Unterschied der Effektivität der Methode, sondern der Stichprobenzusammensetzung (Crits-Christoph et al., 1991; Crits-Christoph u. Mintz, 1991; Wampold u. Bolt, 2006; Wampold u. Bolt, 2007). Ein Vergleich der Effekte von Interventionen ohne Kontrolle der Beratervariable erscheint nur noch für wenige Fragestellungen sinnvoll (Wampold u. Owen, 2021). Trotzdem bergen alle effektiven Interventionen Risiken und haben typische Nebenwirkungen, die an der Art des Vorgehens, der Methode liegen. So liegen z. B. für empathisches Verstehen (Rothschild, 2002; Breithaupt, 2017) oder auch Konfrontationsmethoden (Jacobi, 2002) und psychodynamische Deutungen (Strupp, Hadley u. Gomes-Schwartz, 1977) schon lange Hinweise auf Risiken und Nebenwirkungen vor. Bei längeren Prozessen zeigt sich eine Zunahme unerwünschter Effekte und deren Schwere.
Herausforderungen für die Ausbildung Besser zu werden und Schäden zu vermeiden ist die aktuelle Herausforderung in Ausbildung und Supervision (Knox u. Hill, 2021). Professionelle Kompetenzen sind grundsätzlich keine Persönlichkeitseigenschaften. Aber sie sind aufgrund bestehender Persönlichkeitseigenschaften mehr oder weniger entwickelbar. Kein Berater ist in allen Arbeitskontexten mit allen Klientinnen gut (Kraus, Castonguay, Boswell, Nordberg u. Hayes, 2011). Psychosoziale Kompetenzen sind Interaktionskompetenzen und entfalten sich erst in Beratung und Psychotherapie zwischen Recht und Forschung
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der Interaktion. Ein Interaktionsstil, der bei einem Menschen mit einer speziellen Problematik förderlich ist, kann in einem anderen Fall kontraproduktiv sein. Die Flexibilität, seinen Interaktions- und Bindungsstil zu gestalten, hat Grenzen. Allerdings sind einige Beraterinnen in mehr Kontexten besser als andere. Die persönliche Kontraindikation wahrzunehmen, gehört noch nicht zu den Lieblingsbeschäftigungen. Zu erkennen, für welche Menschen mit welchen Problemlagen ich als Berater/Psychotherapeut ungeeignet bin, gehört zu den eher vermiedenen Kernkompetenzen. Aber sie unterscheidet Professionelle von Laien. Vergleicht man Therapie/Beratungsprozesse empirisch über die Zeit, fällt auf, dass in längeren Prozessen (20 bis zu mehreren 100 Stunden) die negativen Verläufe schwerwiegender werden. Die alte Annahme, dass die Länge positiv mit Veränderungen zusammenhängt, war eine zu grobschlächtige Dateninterpretation, die negative Verläufe ignorierte (Märtens, Koschier u. Liegl, 2014). Die Schätzungen von Verschlechterungen durch psychologische Interventionen liegen generell in den USA zwischen 11 und 38 Prozent, davon weisen circa 20 Prozent eine Zunahme suizidaler Impulse auf (Kraus et al. 2011, S. 273). Auch in Österreich wird ungefähr jedem fünften Klienten eher geschadet als geholfen (Leitner et al., 2013). Es ergaben sich in keiner Studie Unterschiede in der Verteilung negativer und positiver Verläufe bezogen auf das Setting und akademische Qualifikationen. Das Ausmaß der unerwünschten Verläufe braucht unbedingt mehr Raum in der Ausbildung (Knox u. Hill, 2021). Psychotherapeutinnen und Berater unterscheiden sich nicht grundsätzlich voneinander. Sie erleben die gleichen Anforderungen bei ihrer Arbeit (Märtens u. Pfeiffer, 2020). Die Arbeit in einem Beratungskontext macht die Arbeit und Verantwortung nicht leichter. Die Fragen bleiben oft die gleichen. Erkenne ich Suizidgefahren? Welche Konsequenzen hat mein Tun für Angehörige? Weiß ich genug über die Lebensbedingungen und juristischen Möglichkeiten, um angestrebte Veränderungsziele als sinnvoll zu bewerten? Welche Übertragungsphänomene muss ich handhaben? Kann ich tatsächlich auf Ressourcen bauen etc.? Die Herausforderungen zur Gestaltung der Ausbildung sind für beide Professionen eher vergleichbar als unterschiedlich. Wie kann 144
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man erreichen, dass für unterschiedliche ratsuchende Menschen die*der passende Berater*in/Therapeut*in gefunden wird? Hierzu ist eine Weiterentwicklung einer fehlerfreundlichen Kultur unerlässlich, in der es selbstverständlich ist, sich über Selbstzweifel, die hilfreiche Berater*innen auszeichnet, fachlich weiterzuentwickeln. Der Umgang mit Feedbackschleifen muss einfacher und selbstverständlicher werden, auch wenn sich die anfänglichen Hoffnungen nicht so einfach in Verbesserungen der Praxis niederschlagen wollen (Castonguay et al., 2021, S. 794 f.). Dass sich wesentlich mehr Berater*innen/Therapeut*innen über die Jahre verschlechtert haben, als sich zu verbessern (Goldberg et al., 2016), ist eine Herausforderung. Vergleichbare Zusammenhänge finden sich zwar auch bei Pädagog*innen (Hattie, 2009) und auch bei Managern zeigt sich, dass sie unerbittlich von der Erfahrungsfalle eingeholt werden. Sie sind häufig Anfänger*innen in experimentellen Studien unterlegen, die nicht vorschnell aus Erfahrung entscheiden, sondern besser hinschauen (Sengupta, Abdel-Mamid u. Wassenhove, 2008). Für die Gestaltung des lebenslangen Lernens, soll es effektiv gestalten werden, gibt es also noch genug zu lernen.
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Michael Märtens
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Michael Märtens
(Professionelle) Beratung und Psychotherapie – Eine Klientenperspektive Robert Holz
In den letzten 20 Jahren habe ich verschiedene Angebote der Beratung und Psychotherapie in Anspruch genommen und bin nach Universitätsstudium und Ausbildung inzwischen selbst beratend tätig. In diesem Beitrag möchte ich einige wichtige Aspekte dieser Konsultationsformen aus der Sicht als Hilfesuchender aufzeigen. Dabei werde ich weniger die Verfahren selbst als vielmehr ihre Rahmenbedingungen und Außenwirkung betrachten, um schließlich auf Bedarfe und zukünftige Gestaltungsformen einzugehen. Als Beratung werden hier professionelle Angebote durch fachkompetente und speziell ausgebildete Personen in Abgrenzung zur Laienberatung verstanden. Diese Angebote sollen Hilfesuchende dabei unterstützen, individuelle Problemlagen zu evaluieren und Hilfen, bezogen auf innere und äußere Ressourcen, zu aktivieren. Beispiele dafür sind die systemische Beratung, die psychosoziale Beratung sowie das Coaching. Ich verwende die Bezeichnung des*der Hilfesuchenden, da unter dieser sowohl der*die Klient*in, lat. cliēns »Schützling, Schutzbefohlener«, als auch der*die Patient*in, lat. patiens »leidend, erduldend«, gefasst werden können. Während mir in der Beratung beinahe ausschließlich der Begriff des Klienten als ratsuchende Person begegnet ist, so sprach und spricht die Psychotherapie wahlweise auch vom Patienten als Person mit Pathologie. Die hier deutlich werdende Unterscheidung hatte, neben den Rahmenbedingungen des jeweiligen Verfahrens, sowohl Einfluss auf meine Konsultationsbiografie als auch Auswirkungen auf meine Selbstbetrachtung. Zunächst trat ich die lange Reise im Hilfesystem als Patient an. In meiner Jugend hatte sich eine massiv lebenseinschränkende Angstsymptomatik manifestiert, die bis heute andauert und phasenweise mal stärker, mal weniger stark zutage tritt. Nach Ausschluss körperEine Klientenperspektive
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licher Ursachen wurden die Ängste schnell als psychologische Störung mit Krankheitswert eingestuft und mit einer entsprechenden Diagnose nach ICD-Katalog versehen. Dies ist eine Voraussetzung zur Kostenübernahme durch die Krankenkasse. Die Diagnose schuf einerseits eine gewisse Klarheit, erlangte andererseits jedoch mit der Zeit eine Art identitätsstiftenden Charakter, sowohl in mir selbst als auch im Außen. In der Folge dieser Diagnose und auf ärztlichen Rat hin habe ich über die Jahre immer wieder sowohl ambulante als auch stationäre psychotherapeutische Hilfe in Anspruch genommen. Neben gestalterischen Verfahren wie der Musik- oder Ergotherapie und dem Erlernen von Entspannungstechniken fand diese Hilfe über lange Zeit in Form von kognitiver Verhaltenstherapie (vorwiegend durch am Flooding orientierten Konfrontationstraining) oder Gesprächstherapie statt. Von Beginn an lernte ich Psychotherapie als etwas kennen, das mich als Patienten bei der Bewältigung einer diagnostizierten Krankheit unterstützen soll, u. a. durch das Verstehen der Mechanismen meiner Erkrankung sowie Strategien des Angstmanagements. Daran musste ich mich erst gewöhnen, war ich doch anfänglich durch die Erwartung geprägt, dass mein professionelles Gegenüber, wie der Chirurg nach einem Beinbruch, mich gesundmachen wird. Der Zugang zu diesen Leistungen (Klinik, Tagesklinik und therapeutisches Jugendwohnen) wurde anfangs durch die Jugendhilfe organisiert und geschah, wie auch die Zuteilung der Behandler*innen, beinahe automatisch und ohne Zutun oder Einfluss meinerseits. Mit Beendigung meines Aufenthaltes in der Jugendhilfe durch Erreichen der Volljährigkeit habe ich mir die psychotherapeutische Unterstützung selbst organisiert. Ich musste feststellen, dass diese Aufgabe mit Beharrlichkeit, aber überraschenderweise auch mit Glück bzw. Zufall verbunden ist. Wer sich auf die Suche nach einem*einer passenden Therapeut*in begibt, wird mit engen telefonischen Kontaktzeiten konfrontiert (20–40 Minuten täglich) und mit Herausforderungen wie Anrufbeantwortern, Urlaubszeiten, Absagen sowie langen Wartelisten, die einen Therapieplatz in sechs bis zwölf Monaten in Aussicht stellen. Der Grund für die langen Wartezeiten ist so eindeutig wie banal: Der Bedarf an Hilfe ist höher als das Angebot der kassenzugelassenen ambulanten Psychotherapie. Erfahrungs150
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gemäß lohnt es sich, möglichst viele Behandler*innen durchzutelefonieren, da mit etwas Glück gerade bei einem von ihnen ein Platz frei wird. Ebenso hat es sich bewährt, sich auf mehrere Wartelisten setzen zu lassen. Gut 15 Jahre bewegte ich mich, mit einigen Pausen, im Spektrum dieser Hilfeleistungen. Sobald meine Symptomatik stärker wurde, habe ich mich erneut der Psychotherapie zugewandt. In der ganzen Zeit habe ich für mich keine andere Möglichkeit der Unterstützung gesehen bzw. in Betracht gezogen, auch weil ich mich in der meiner Ansicht nach engen Angebotsstruktur der gesetzlichen Kassenleistungen bewegte. Das änderte sich, als ich schließlich selbst Teil des professionellen Hilfesystems wurde. In Ausbildung und Arbeit lernte ich andere Unterstützungsverfahren wie z. B. die Möglichkeiten der Beratung kennen. Von diesen Leistungen profitiere ich bis heute auch privat. Zu nennen sind hier im Besonderen die Mediation sowie das Coaching. Damit einher ging eine gewisse Therapiemüdigkeit meinerseits. Immer mehr vom Gleichen erschien mir nicht mehr zielführend. Im Rahmen der Beratungsangebote war es mir möglich, die identitätsstiftende Verbindung zu meiner Diagnose teilweise zu überwinden. Auch weil ich mich nicht mehr als Patienten, sondern als Ratsuchenden wahrnehme und von meinem Gegenüber als solcher wahrgenommen werde. Der Umstand, dass die Diagnose so viel Einfluss auf mich hatte, lässt in mir den Gedanken aufkommen, dass das Vermeidenwollen einer Diagnose und die assoziierte Verbindung zwischen Therapie und Krankheit im Einzelfall dazu führen kann, sich gegen eine Therapie zu entscheiden. Der Zugang zur Beratung war, zumindest was die Wartezeit betrifft, einfacher als in der Psychotherapie. Allerdings werden Beratungsverfahren leider nur in Ausnahmefällen von der Krankenkasse übernommen und müssen dementsprechend häufig vom Hilfesuchenden selbst finanziert werden. Je nach Bedarf können sich dabei mehrere 100 bis 1000 Euro im Jahr summieren. Nachvollziehbar, dass dies ein wichtiger Faktor bei der Entscheidung für oder gegen eine Hilfeleistung sein kann. Auch ich betrachte dies im Nachhinein als einen möglichen Grund, diese Form der Hilfsangebote lange Zeit nicht beachtet zu haben. Eine Klientenperspektive
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Psychotherapeut*innen erhalten ihre Kassenzulassung nur, wenn sie die entsprechenden Qualifikationen mitbringen. Zudem ist die Berufsbezeichnung des Psychotherapeuten geschützt. Beides garantiert dem Hilfesuchenden einen gewissen Qualitätsstandard. Beratungsleistungen können dagegen tendenziell zunächst von jeder Person angeboten werden. Bezeichnungen wie Coach, Mediator oder Berater unterliegen keinem gesetzlichen Schutz. Deshalb ist bei der Suche und Auswahl von Beratungsleistungen Sorgfalt geboten, welche etwas Zeit in Anspruch nehmen kann. Orientierungshilfen können, neben therapeutischen Qualifikationen, Qualitätssiegel sein, die von Ausbildungsstätten oder Vereinigungen des jeweiligen Berufsstands nach Erreichen eines bestimmten Ausbildungsumfangs vergeben werden. Dies zu erkennen und zu unterscheiden kann für den Hilfesuchenden eine weitere Herausforderung darstellen. Zudem werden von der Kasse zugelassene Psychotherapeut*innen oft in einheitlichen Datenbanken geführt, zu denen auch Hilfesuchende Zugang haben. Beratungsangebote hingegen müssen oft einzeln aus dem Internet zusammengesucht werden. Vor Antritt einer Hilfeleistung sollte der Hilfesuchende über das Verfahren sowie mögliche Konsequenzen informiert werden, da es zu Nachteilen kommen kann, die man auf den ersten Blick nicht erkennen würde. Ein mir erst spät bekannt gewordener Punkt bei der Aufnahme einer krankenkassengestützten Therapieleistung ist z. B., dass diese Auswirkungen auf zukünftige Ansprüche haben kann. Dies wird in etwa relevant für den Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung oder die Aufnahme eines Kredits. Banken und Versicherungen können auf das Einverständnis des Antragstellers bestehen, Krankenkassen und Behandler*innen bis zu zehn Jahre rückwirkend von ihrer Schweigepflicht zu entbinden. Eine in Anspruch genommene Psychotherapie oder das mangelnde Einverständnis der antragstellenden Person kann zu schlechteren Vertragskonditionen oder gar zur Vertragsverweigerung führen. Auch wer eine Beamt*innenlaufbahn einschlagen will, sollte sich vor der Aufnahme einer Psychotherapie als Krankenkassenleistung informieren. Umgehen lässt sich dies bislang nur, indem entsprechende Verträge vor Beginn einer Therapie abgeschlossen werden oder das 152
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Hilfeverfahren als Selbstzahler getragen wird. Ich weiß nicht, ob dies meine Entscheidung zur Psychotherapie angesichts der damaligen Belastung beeinträchtigt hätte, jedoch würde ich es befürworten, dies nicht erst durch einen Kreditantrag herausfinden zu müssen. Auf lange Sicht sollte überdies an einem besseren gesetzlichen Schutz für Klienten*innen bzw. Patient*innen bezüglich der Schweigepflichtsentbindung gearbeitet werden. In der Retrospektive würde ich mir heute wünschen, dass ich und mein Bezugssystem (Familie etc.) andere Hilfeverfahren bereits früher kennengelernt und als Alternative bzw. Ergänzung zur Psychotherapie erkannt hätte. Über die Ursachen dieser späten Erkenntnisse, zu der sicherlich auch eine Reihe individueller Faktoren beigetragen haben, lässt sich nur spekulieren. Bei der Betrachtung der Rahmenbedingungen von Beratung und Psychotherapie wird jedoch deutlich, dass diese Auswirkungen auf die Zugänglichkeit und die Entscheidung des Hilfesuchenden zur jeweiligen Unterstützungsleistung haben können. Dies sollte bei den Anforderungen zukünftiger Angebotsgestaltung Berücksichtigung finden. Zusammenfassend wären folgende Kriterien für den erleichterten und gerechteren Zugang zu Hilfen wünschenswert: ein zeitnaher Hilfebeginn, Wahlfreiheit innerhalb qualitätsgesicherter Angebotsvielfalt, kein zusätzlicher Kostenaufwand für den Hilfesuchenden, eine vergleichbare Übersicht der Angebote, kompakte und doch umfassende Informationen zu den einzelnen Verfahren und ihren Rahmenbedingungen, die Möglichkeit einer Unterstützung bei der Suche nach einer bedarfsgerechten Leistung sowie die Option, die Hilfe bzw. den Anbieter unkompliziert wechseln zu können. Ein wichtiger Schritt zur Erreichung der genannten Punkte wäre meiner Ansicht nach, neben der Ausbildung und Zulassung weiterer Behandler*innen, die Anerkennung und vertraglich vereinbarte Kostenübernahme von professionellen Beratungsleistungen. Dies würde wiederum einheitliche Ausbildungsstandards sowie die Festlegung qualitätssichernder Maßnahmen innerhalb der Beratung voraussetzen bzw. etablieren. Die Qualitätssiegel der Beratungsorganisationen sowie bereits bestehende Gesetze zu einzelnen Beratungsleistungen (z. B. Mediationsgesetz) können dabei als Richtschnur dienen. Eine Klientenperspektive
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Insgesamt kann die Öffnung bzw. Erweiterung der gesetzlichen Versorgungslandschaft zu einer Entlastung der bestehenden Nachfrage führen. Hilfesuchende könnten sich in der Folge bedarfsgerecht auf die jeweiligen Angebote verteilen. Zudem würde der Tendenz entgegengewirkt, dass gute Versorgung vom Geldbeutel des Einzelnen anhängig ist. Schließlich kann ich aus meiner Erfahrung als Hilfesuchender aber auch als Helfender sagen, dass sich Psychotherapie und professionelle Beratung in ihrer Methodik häufig überschneiden. Ein gemeinsames sowie wichtiges Element ist die Beziehungsarbeit zwischen Hilfesuchendem und Helfer*in. Für mich war und ist dieser Baustein entscheidend für den Verlauf einer in Anspruch genommenen Hilfeleistung. Die »richtige Chemie« ist eine Rahmenbedingung, die sich vor Leistungsantritt logischerweise nur schwer beeinflussen lässt. Hier bleibt dem Hilfesuchenden wohl nichts anderes übrig, als mit Geduld und via »trial and error«-Verfahren nach dem passenden Gegenüber Ausschau zu halten.
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Trialog der Herausgeber*innen: Perspektiven auf das Verhältnis von Beratung und Psychotherapie Martina Hörmann, Michael Märtens und Barbara Bräutigam
Barbara Bräutigam: Zu Beginn möchten wir kurz sagen, an welchem Ort wir uns zu diesem Trialog eingefunden haben. Wir sitzen gerade in der beruflichen Heimat von Martina Hörmann, der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten, in einem sehr schönen Raum, blicken auf ein Whiteboard mit vielen grellbunten Zetteln. In der Vorbereitung auf dieses Gespräch hatten wir verschiedene Kriterien und Perspektiven überlegt, worüber wir im Rahmen dieses Trialoges sprechen wollen. Michael Märtens: Ich habe gedacht, die Nutzer*innenperspektive ist erstmal eine Möglichkeit, von außen auf das Phänomen zu schauen. Wie stellt sich denn das für einen Nutzer oder eine Nutzerin von Beratung und Psychotherapie dar? Und mir fällt im Vergleich dazu ein Apfelbaum ein, den es wirklich gibt und wo man, wenn man Lust auf Äpfel hat, hingeht und sich real welche pflückt. Und im Unterschied dazu sehe ich dann, dass Psychotherapie- und Beratungsangebote eben nicht einfach wirklich existieren, sondern nur dadurch, dass Menschen bestimmte Vorstellungen davon haben, was die denn sein könnten oder sind. Kirchen offenbaren auch nur, dass es diese Form von Glaubensmanifestationen gibt, aber nicht, dass es Gott gibt. Beratung und Psychotherapie sind eine Konvention, eine Konstruktion, die in einer Gesellschaft erzeugt wurde. Barbara Bräutigam: Ich finde schon, dass es Beratung und Psychotherapie wirklich gibt, immerhin verdienen wir alle drei unser Geld damit. Aber wenn ich an die Nutzer*innenperspektive denke, sehe ich auch das Problem der Zugänglichkeit, das dann doch oft unterschätzt wird. Martina Hörmann: Ich würde zunächst auf eine Gemeinsamkeit und dann auf Unterschiede schauen: Großmaß (2007) verweist Trialog der Herausgeber*innen
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darauf, dass wir beim Betrachten des Videos eines Gesprächs zwischen einer Fachperson und einer unterstützungsbedürftigen Person nicht auf den ersten Blick sagen können, ob es Beratung oder Psychotherapie ist, weil es so ähnlich ist. Ein großer Unterschied – da gebe ich Barbara recht – ist der Zugang, wo sich die Hochschwelligkeit von Psychotherapie beispielsweise in der Finanzierung zeigt. Mit Blick auf die Nutzer*innen stellt sich Beratung als vielfältiger dar, von der Schuldenberatung bis zur Beratung Jugendlicher finden sich ganz verschiedene Anliegen. Die Nutzer*innengruppe der Psychotherapie ist homogener, dies sind zumeist Menschen mit einem Leiden, mit psychischen Störungen, also mit Anliegen, die tiefer gehen. Beim Thema Zugang/ Schwelle sowie Themenvielfalt unterscheiden sich Beratung und Psychotherapie deutlich. Michael Märtens: Sich über den Unterschied dieser Angebote Gedanken machen zu können, ist ein Luxusproblem. In Afghanistan, glaube ich, würde sich im Moment kein Mensch Gedanken darüber machen können. Martina Hörmann: Für Nutzer*innen gibt es noch einen großen Unterschied, das Risiko der Stigmatisierung. Wenn jemand dem Gegenüber erzählt: »Ich bekomme ein Coaching«, »Ich bin in einer Beratung« oder »Ich gehe jetzt zur Therapie« so haben diese drei Sätze unterschiedliche Wirkungen, und die Schwelle, sie zu äußern, ist verschieden hoch. Nutzer*innen suchen vielleicht erstmal lieber Beratung auf, weil die Gefahr der Stigmatisierung weniger groß ist. Das wäre aus meiner Sicht ein wichtiger Aspekt. Michael Märtens: Das heißt also, methodisch passiert das Gleiche in Beratung und Psychotherapie, nur die Wahrnehmung des Angebots ist eine andere und macht einen Unterschied. Martina Hörmann: Das sehe ich eher nicht so. Betrachten wir zunächst einen weiteren Aspekt und diskutieren, inwieweit auch unser disziplinärer Hintergrund unseren Blick auf das Thema prägt: Schauen wir hier als Psychologe/Psychologin, als Psychotherapeut*in, oder als Erziehungswissenschaftler*in, Berater*in, oder als Sozialarbeiterin auf das Thema bzw. auf das Verhältnis von Beratung und Psychotherapie? 156
Martina Hörmann, Michael Märtens und Barbara Bräutigam
Barbara Bräutigam: Mir fällt das tatsächlich schwer, dazu eine Haltung zu entwickeln, weil ich deine Einschätzung, Martina, schon sehr teile. Wenn man erziehungswissenschaftlich und möglicherweise auch eher soziologisch geprägt auf Beratung schaut, ergeben sich eventuell andere Fragen: Was bedeutet eigentlich Reflexion in der Beratung, was bedeutet Selbstreflexion und ich würde schon sagen, dass es einen Unterschied macht, wenn man mit einem relativ klinischen Blick auf Beratung schaut. Michael Märtens: Also ich weiß nicht, ob die Disziplin entscheidend ist, die den Blick bestimmt, oder ob es nicht viel mehr die Theorie ist, die dieser Brille zugrunde liegt. Ein systemischer, ein psychodynamischer oder ein verhaltensorientierter Blick erfassen das Phänomen auf ganz andere Art und Weise. Martina Hörmann: Barbara und ich sind beide systemisch geprägt und doch betrachten wir das Thema verschieden: In deinem Beitrag betonst du als Gemeinsamkeit die Aufgabe von Beratung und Psychotherapie, die Bedeutung der mentalen Gesundheit in der Gesellschaft zu verdeutlichen, wohingegen dies für mich nur ein mögliches Thema von vielen in einer Beratung ist. Michael Märtens: Mir fällt an der Stelle Heiner Legewie ein, der hat ein Wort geprägt: die Menschenveränderer. Bei diesen Menschenveränderungsprofessionen können die Menschen nicht so bleiben, wie sie reingegangen sind. Es geht darum, dass sie verändert rausgehen. Barbara Bräutigam: Der ungarische Familientherapeut Boszormenyi-Nagy (Baethge, Deissler u. Reich im Gespräch mit Ivan Boszormenyi-Nagy, 1980/2017) hat gesagt, um Veränderung geht es nicht, denn auch Hitler und Stalin haben die Menschen verändert – und ironisch hinzugefügt, dass man nicht wisse, ob das nun unbedingt zu deren Vorteil gewesen sei, sondern es gehe um das Helfende und Unterstützende, was ja Beratung und Psychotherapie beide an sich haben. Martina Hörmann: Für mich ordnet das Luzerner Modell der sozialarbeiterischen Beratung (Weber u. Kunz, 2012) diesen Veränderungsaspekt auf sinnvolle Weise ein: eine vertikale Achse »Freiwilligkeit versus Pflichtkontext« und eine horizontale Achse »psychosoziale Themen versus fachberaterische Themen« bilTrialog der Herausgeber*innen
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den eine Vier-Felder-Matrix der sozialarbeiterischen Beratung. Nur das Feld in der Schnittmenge von Freiwilligkeit und psychosozialen Themen fokussiert »Veränderung« und hat demzufolge eine große Schnittmenge mit der Psychotherapie, wohingegen die anderen drei Felder im Modell »Schutz/Kontrolle«, »Stabilisierung/Betreuung« sowie »Information« eher beratungsspezifische Aspekte benennen. Beratung ist insofern vielfältiger und umfasst auch Pflicht- und Zwangskontexte. Michael Märtens: Bei Beratung gibt es oft Informationen, die wichtig sind. Die Weitergabe von Wissen spielt bei Psychotherapie seltener eine Rolle. Das ist kein grundsätzlicher Unterschied, das ist nur eine Frage der Dosierung, weil manchmal eine einfache Information eine weitreichende Veränderung für eine Person bedeutet. Martina Hörmann: Manchmal wird Beratung auf die Erteilung von Ratschlägen reduziert, was ich problematisch finde. Die Endpunkte der beiden Achsen im Luzerner Modell sind nicht das Entscheidende: In der Beratungspraxis finden wir vielmehr die Graubereiche zwischen den Endpunkten mit vielen möglichen Abstufungen. Mit Informationen sollten wir in der Haltung einer Realitäten-Kellnerin oder eines Realitäten-Kellners umgehen, d. h., auch wenn ich Informationen gebe, so sind dies Angebote und die Verantwortung für eine Entscheidung verbleibt beim Gegenüber (Schmidt, 2011). Dies kennzeichnet aus meiner Sicht ein modernes Verständnis von Beratung. Barbara Bräutigam: Ich würde gerne noch zwei, wie ich finde, sehr entgegengesetzte Positionen zum Verhältnis von Psychotherapie und Beratung anführen. In dem neu erschienenen Buch von Volker Kraft (2021) wird eine sehr klare Unterscheidung postuliert: Psychotherapie kümmert sich um psychische, internalisierte Probleme, die dem Bewusstsein so nicht zugänglich sind. Beratung kümmert sich um benennbare, externalisierte Probleme. Im Gegensatz dazu sagte neulich in der systemischen Ausbildung eine amerikanische Teilnehmerin, sie lebe seit 20 Jahren in Deutschland und ein typisch deutscher Satz sei: »Dafür bin ich nicht zuständig.« Diese permanente Verweisungslogik zwischen Beratung und Psychotherapie, wo immer jemand für irgendwas nicht zu158
Martina Hörmann, Michael Märtens und Barbara Bräutigam
ständig ist – entweder für das schwere Trauma oder für den Sozialhilfeantrag –, kann belastend sein und die Leidtragenden sind oftmals die Nutzer*innen. Das hat mich nachdenklich gemacht. Martina Hörmann: Ich würde es an der Stelle gerne umdrehen und sagen: In einer guten Kooperation wäre das nicht das Problem. Denn ich kenne eher die sorgsame Überlegung: Wie weit geht mein Auftrag, auch z. B. institutionell, und wo begleite bzw. überführe ich in ein anderes Hilfsangebot? Ich finde das eher einen Fortschritt, wenn wir klarer haben: Was sind denn die Gemeinsamkeiten und was sind die Unterschiede? Was kennzeichnet die beraterische Identität, was sind Kompetenzen, über die Psychotherapeut*innen nicht verfügen? Barbara Bräutigam: Was mir als ein deutschsprachiges Phänomen auffällt, ist die Schärfe in der Unterscheidung zwischen Beratung und Psychotherapie. In den Beiträgen über Deutschland, Österreich und der Schweiz wird ja auch unter berufspolitischen Perspektiven sehr um die Differenzierung gerungen. Martina Hörmann: Viele Abgrenzungen sind über Änderungen der gesetzlichen Grundlagen zur Psychotherapie stark forciert worden. Aus diesem Grund ist Beratung aufgefordert, sich selbst stärker zu definieren. Michael Märtens: Die Psychotherapie wurde 1999 in Deutschland offiziell geregelt und in diesem Zusammenhang kam die Deutsche Gesellschaft für Beratung ins Spiel, weil damals alle Verfahren außer der Verhaltenstherapie und den psychodynamischen Ansätzen »sektenverdächtig« waren (vgl. Deutscher Bundestag, 1998). Deshalb haben Vertreter*innen der anderen Ansätze beschlossen, sich als Berater*innen dagegen zu wehren. So entstand die Gesellschaft für Beratung mit vielen theoretisch unterschiedlichen Verbänden. Barbara Bräutigam: Es geht ja tatsächlich um eine Zuschreibung, denn es ist etwas sehr kulturspezifisches, die humanistischen Verfahren in Deutschland nicht zu akzeptieren, während sie im angloamerikanischen Raum sehr klar akzeptiert und praktiziert werden. Martina Hörmann: In der Schweiz gibt es diese Verengung hinsichtlich der krankenkassenfinanzierten Therapieansätze nicht. Trialog der Herausgeber*innen
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Dagegen haben wir ein anderes kulturelles Phänomen, für das ich bisher keine richtige Erklärung habe: Es gibt Beratungsbereiche, die sehr stark esoterisch ausgerichtet sind – der Begriff »mediale Beratung« meint hier nicht die digitale Beratung mit Medien, sondern den spirituellen Kontakt zu Personen im Jenseits. Dies ist vergleichsweise populär, nach meinem Kenntnisstand ist es bisher wenig erforscht. Insofern müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass es diese Form der Beratung gibt und dass sie auch genutzt wird. Michael Märtens: Die Frage ist, was bestimmte Kulturen favorisieren. Voodoo und Schamanismus sind in einigen Kulturen völlig verbreitete und akzeptierte Formen, Hilfe zu bekommen. Das verweist darauf, dass man nicht immer nur danach schauen muss, was ist wie wissenschaftlich belegt, sondern was wirkt wie, weil das etwas mit der Kultur zu tun hat, die das zulässt. Wie kommen wir dazu, aufgrund unseres Wissenschaftsverständnisses bestimmte Hilfsangebote einfach zu verbieten? Barbara Bräutigam: Dann kommen wir vielleicht jetzt zu einer berufspolitischen Perspektive, die ja im Übrigen nicht kultur-, aber zumindest länderspezifisch ist, denken wir z. B. an den Beitrag der chilenischen Kolleginnen. In Chile hat man den klinischen Sozialarbeiter*innen offenbar zunächst gestattet, bestimmte Tätigkeiten auszuüben, dann haben die Psychologen aber dagegen interveniert und dann ist eine bestehende Gesetzesvorlage wieder ausgehebelt worden. Mit dem Psychotherapeut*innengesetz sind zumindest die disziplinären Zugänge zur Psychotherapie immer weiter verengt worden, wofür es – soweit ich weiß – keine forschungsbezogene Grundlage gibt. Es gibt ja keinerlei Erkenntnisse, dass Psycholog*innen bessere Therapeut*innen sind als z. B. Sozialarbeiter*innen. Michael Märtens: Wenn wir über berufspolitische Perspektiven diskutieren, dann reden wir davon, dass man bestimmte Jagdreviere abstecken muss und verteidigt, weil das Einkommen sichert. Wo ist das okay, dass die Jagdreviere gesichert werden, und wo nicht, weil es die Versorgung von Bedürftigen nicht verbessert? Martina Hörmann: Wenn wir beim berufspolitischen Aspekt bleiben, dann ist Professionalisierung immer mit Akademisierung 160
Martina Hörmann, Michael Märtens und Barbara Bräutigam
einhergegangen. Psycholog*innen, Jurist*innen, Mediziner*innen sind Vertreter*innen harter Professionen, die sich genau darüber abgrenzen, dass alle, die das Fach nicht studiert haben, nicht Teil der Profession sind. Das ist die professionssoziologische Sicht. Auf einer berufspolitischen Ebene zeigt sich diese Abgrenzung und Besitzstandswahrung einhergehend mit einer starken Akademisierung. Michael Märtens: Vielleicht kannst du nochmal sagen, was deiner Meinung nach berufspolitisch besonders wichtig ist? Martina Hörmann: Beratung sollte die teilweise vorfindbare Haltung »Jede*r, der*die will oder sich berufen fühlt, kann beraten« überwinden, sondern stattdessen klare Qualitätsstandards für professionelle Beratung setzen. Zugleich sollte sie basierend auf der Idee der Durchlässigkeit zwischen den Bildungswegen im europäischen Qualifikationsrahmen auch andere Zugangswege auf der Basis eines kompetenzorientierten Anrechnungsverfahrens ermöglichen. Die Frage der Durchlässigkeit gibt es meines Wissens bei den harten Professionen nicht. Barbara Bräutigam: Vielleicht können wir jetzt nochmal zu den Qualitätsstandards übergehen. Martina Hörmann: Das ist auch ein heiß diskutiertes Thema, brauchen wir das? Wenn ja, in welcher Form? Wir haben Beispiele von Verbänden, die ihre Standards in quantifizierter Form vorlegen. Alternativ gibt es Verbände mit einem stärker kompetenzorientierten Verständnis, wie das z. B. in der Schweiz der BSO macht, der von diesen Quantifizierungen weggegangen ist und eher mit einem prozesshaften Qualitätsverständnis arbeitet. Michael Märtens: Grundsätzliches Problem bei Qualitätsstandards ist ja leider, dass damit nur ein Mindeststandard gesichert wird. Wir schaffen damit keine Kultur, die die Qualität grundsätzlich verbessert. Barbara Bräutigam: Ich würde dem ein bisschen widersprechen. Ich finde z. B., dass sowohl bei der Beratung als auch bei der Psychotherapie zu absoluten Qualitätsstandards gehören sollte, eine engmaschige Feedback-Kultur mit Klient*innen oder auch Patient*innen zu etablieren. Also ständig abzugleichen mit dem Gegenüber: Wo stehen wir eigentlich, wo sind wir, wo stehen wir Trialog der Herausgeber*innen
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mit deinem/Ihrem Anliegen, oder wenn man jetzt systemisch spricht: mit dem Auftrag. Dasselbe gilt für Nebenwirkungen, also unerwünschte Effekte von Beratung und Psychotherapie. Ich finde ehrlich gesagt, dass Beratung da noch total blind ist, was schädliche Effekte von Beratung oder auch Nebenwirkungen anbelangt. Das wären für mich Qualitätsstandards, die es zu etablieren gilt. Michael Märtens: Da sehe ich eine Vermengung von berufspolitischen Perspektiven und Qualitätsstandards. Wir sehen bei Berater*innen und Therapeut*innen, wenn man sie über fünf, zehn, zwanzig Jahre verfolgt, dass der größte Teil davon schlechter wird. Ein Teil bleibt gleich und nur knapp ein Drittel wird kontinuierlich besser (Goldberg et al., 2016; Wampold u. Imel, 2015). Und wenn ich mir das anschaue, dann denke ich: Das ist eine Herausforderung für die Qualitätssicherung. Martina Hörmann: Gibt es dafür Erklärungen, denn das überrascht mich jetzt schon? Michael Märtens: Eine Erklärung ist, dass es eine gewisse Routine und Abstumpfung gibt, dass du nicht mehr so intensiv im Prozess bist. Es gibt viele Gründe dafür, warum das so stattfindet. Das eine ist, dass man emotional nicht mehr so resonant ist und andererseits zu wenig lernt, aus Fehlern zu lernen. Martina Hörmann: Das würde letztendlich für Barbaras These sprechen, wie wichtig eine engmaschige Feedback-Kultur ist, denn damit könnte man das angehen, sei es in einer kollegialen Feedback-Schleife oder in einem Klient*innen-Feedbackbogen. Barbara Bräutigam: Ja, wobei das tatsächlich kompliziert ist, weil man das standardisieren müsste. Es würde also nicht reichen, einfach nur nochmal zu hören »Wie fühlen Sie sich?«, weil man natürlich die Gefahr von sozialer Erwünschtheit hat. Zum anderen kommt ja noch dazu, dass die meisten Psychotherapeut*innen einschätzen, dass sie zu diesem letzten Drittel gehören und kontinuierlich besser werden. Ich habe mich selbst gerade ertappt. Als du das gesagt hast, dachte ich: Na, ich gehöre sicherlich zum letzten Drittel. Und das denken aber alle, das kann aber schon rein statistisch gar nicht sein. Das ist ja auch die Idee der »deliberate practice«, die davon ausgeht, dass Therapeut*innen – 162
Martina Hörmann, Michael Märtens und Barbara Bräutigam
und ich denke, für Berater*innen gilt das auch – kontinuierlich üben müssen, genauso wie Sportler*innen oder Musiker*innen. Martina Hörmann: Ich finde es wichtig, dass wir dieses häufig enge Verständnis von Qualität, welches nur die Zufriedenheit des Klienten bzw. der Klientin misst, erweitern – die Klient*innenzufriedenheit ist ein wichtiger Aspekt, aber ich würde auf das Qualitätsmodell von Schiersmann verweisen, das mit den Dimensionen System, Berater*in und Klient*in, dem organisationalen und dem gesellschaftlichen Umgebungssystem umfassender ist. Auf jeder Ebene kann ich Qualität definieren, bis hin zu ethischen Richtlinien. Es ist also mehrdimensional und ich möchte als Beispiel nochmal den Schweizer Supervisionsverband BSO anführen, der sein Qualitätsverständnis expliziert hat, bis hin zu einem sehr transparenten Verfahren. In Deutschland hat das Nationale Forum Beratung (NFB), die Qualität für Beratung in Bildung, Beruf und Beschäftigung in einem deutschlandweiten Prozess entwickelt und auf sehr anschauliche Weise konkretisiert. Qualität und Qualitätssicherung können also nicht nur managerial und trocken angewendet werden, sondern auch praxisnah und lebendig, im Sinne einer Feedback-Kultur und einer kontinuierlichen Verbesserung. Barbara Bräutigam: Können wir jetzt noch auf den Umgang mit Diagnosen und Störungen zu sprechen kommen? Michael Märtens: Braucht man, um Qualität zu sichern, Diagnosen? Ich meine, wenn Alice Salomon in den 1920er/1930er Jahren diesen Begriff aus dem psychologischen Kontext herausgenommen hat und gesagt hat: Soziale Diagnosen brauchen wir in der Sozialen Arbeit, dann ist die Frage heutzutage: Was brauchen wir denn für Diagnosen? Oder können wir sie ignorieren? Weil, es gibt ja diese Idee: Eine Diagnose erzeugt das, was sie nachher wieder behandeln will. Da ist sicher was dran und trotzdem denke ich, dass das Wort negativ besetzt ist, aber grundsätzlich geht kein professionelles Vorgehen ohne Diagnose. Also ich muss immer irgendetwas wahrnehmen, etwas diagnostizieren, was dann die Begründung dafür ist, dass ich nachher etwas tue oder nicht tue. Ich würde eigentlich für eine Wiederbelebung der Diagnosekultur plädieren, aber mich davon lösen, zu denken, dass Diagnosen einfach Feststellungen Trialog der Herausgeber*innen
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von psychologischen Defiziten sind, die an der Person hängen, sondern Diagnosen sind auch Beziehungswahrnehmungen, die einen größeren gesellschaftlichen Kontext einbeziehen, aber die muss ich mir bewusstmachen und jeder fundierten, professionellen Intervention und Handlung liegt eigentlich ein diagnostischer Prozess zugrunde. Da würde mich interessieren, ob ihr das ähnlich seht oder da andere Meinungen dazu habt. Martina Hörmann: Ich würde sagen, dass dies einer der Aspekte ist, an dem wir uns am deutlichsten unterscheiden. Die Notwendigkeit einer Diagnose und vor allen Dingen der Störungsbegriff, das wären für mich die deutlichsten Abgrenzungskriterien in der Unterscheidung von Psychotherapie und Beratung. Deiner These, es gebe kein professionelles Vorgehen ohne Diagnose, stimme ich nicht zu. Als Systemikerin bilde ich Hypothesen. Diese haben aber nie diesen Allmachtsanspruch, sondern sind eine Deutungsmöglichkeit, ein Angebot und werden jeweils nochmal überprüft. Auch im Lösungsorientierten gefällt mir die Haltung des Nichtwissens und die Erfahrung von Sozialarbeitenden, die beraten, dass sie ihre größten Überraschungsmomente haben, wenn sie die Fallakte vor dem Erstgespräch nicht gelesen haben und mit einer ressourcenorientierten Haltung des Nichtwissens reingehen, sodass sie auf andere Punkte stoßen können, auf Ressourcen, wenn sie die Akte hinterher lesen und nicht sofort in diagnostischen Kategorien denken. Gute Beratung kommt ohne den Störungsbegriff und ohne festschreibende Diagnosen aus, vielmehr geht es um eine sorgsame Auftragsklärung und gegebenenfalls um die Bildung von Hypothesen. Barbara Bräutigam: Ja, das würde ich auch sagen, denn, wenn ich das richtig verstehe, geht es ja zum einen darum: Ist es sinnvoll, vorherige Diagnosen, die schon gestellt wurden, zu wissen? Sowohl fürs psychotherapeutische als auch für das beraterische Vorgehen. Das andere ist, dass ich finde, dass man unterscheiden muss zwischen einer feststehenden Diagnose und einem diagnostischen Vorgehen, wobei ich behaupten würde, dass der Diagnosebegriff ja heutzutage überhaupt nicht mehr so feststehend ist, sondern der Prozess der Veränderung einer Diagnose durchaus mitgedacht wird. Ein diagnostisches Vorgehen bedeutet für mich ein zielgerichtetes Vorgehen und eines, was 164
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ein bisschen über Hypothesen hinaus geht, und ich möchte das nochmal anders begründen. Ich glaube, dass diese Haltung des Nichtwissens – ich finde sie theoretisch ganz charmant – Nachteile hat – und da gehen wir jetzt nochmal auf die Perspektive der Nutzer*innen –, weil sie ja nicht nur etwas Entstigmatisierendes hat, sondern auch was extrem Verunsicherndes und Beliebiges. Also ich mache häufig die Erfahrung, und zwar im Beratungsund im Therapiesetting, wo im Grunde genommen Nutzer*innen extrem unzufrieden waren, wenn ich zum wiederholten Mal darauf hingewiesen habe, dass sie im Übrigen die Expert*innen sind. Sie sagen mir dann: »Warum komme ich dann überhaupt zu Ihnen? Bitte, jetzt nehmen Sie mal Stellung, jetzt sagen Sie doch mal, was ist denn los?« Ich finde, dass diese Haltung des Nichtwissens auch zu einer gewissen Bequemlichkeit aufseiten der Professionellen einlädt, die ich nicht so gut finde. Martina Hörmann: Ich hatte mich auf das Erstgespräch in der Beratung bezogen. Letztendlich geht es auch in der Beratung in manchen Kontexten darum, wie wir eine gute Balance zwischen der nichtwissenden Haltung und dem Einbezug von Diagnosen finden. Trotzdem bleibe ich dabei, dass Störung kein relevanter Begriff für Beratung ist. Je näher Beratung an den klinischen Bereich kommt, umso wichtiger wird es, denn dann werden die Verbindungen zur Psychotherapie stärker. Je weiter weg vom Klinischen der Beratungskontext ist, desto weniger bedeutsam ist es. Kommen wir zu unseren verbleibenden Aspekten. Nestmann hat betont, dass insbesondere die Anwendungskontexte eines der wesentlichen Unterscheidungskriterien von Beratung und Psychotherapie sind. Ich würde mich dem sehr deutlich anschließen. Ich finde Beratungskontexte sehr vielfältig und vielgestaltig und würde sagen, Kontexte der Psychotherapie sind da etwas homogener und man könnte es tatsächlich als ein Unterscheidungskriterium nutzen. Wie seht ihr das? Barbara Bräutigam: Also ich würde das tatsächlich anders sehen, ich finde das überhaupt kein hilfreiches Kriterium, aber das liegt sicherlich auch daran, dass ich denke, dass die systemische Psychotherapie sich ja genau dadurch auszeichnet. Weil sie angefangen hat den Aspekt der Kontexte mitzuberücksichtigen, Trialog der Herausgeber*innen
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hat sie es geschafft, als ein weiteres und deutlich anderes Verfahren zu den bereits in Deutschland anerkannten Verfahren, aufgenommen zu werden. Martina Hörmann: Für das Systemische würde ich dir Recht geben, denn systemische Therapeut*innen gehen sehr beraterisch vor, sie schauen in einer anderen Art auf Störungen. Ich würde dir zustimmen, dass es für Systemiker*innen tatsächlich nochmal anders ist. Michael Märtens: Die Frage ist: Sehe ich mich mehr als Psychotherapeut, als Berater oder sehe ich mich mehr als Systemiker, als Psychodynamiker, als Betriebspsychologe oder was auch immer. Das ist die Frage, was ich denn für eine Theorie im Hintergrund habe, die mein Handeln begründet. Und das scheint mir als ein fundamentales Problem bei der ganzen Abgrenzungs- und Kooperationsdiskussion, die wir haben mit Beratung und Psychotherapie, dass da eigentlich theoretische Unterschiedlichkeiten und theoretische Nähe eine Rolle spielen. Martina Hörmann: Wir haben gerade ein doppeltes Verständnis von Kontexten: Ich habe es gerade bezogen auf Anwendungskontexte, z. B. die Schuldnerberatung, die Jugendberatung, die Beratung in der Familienbegleitung. Das sind für mich Anwendungskontexte von Beratung und die erlebe ich als wesentlich vielfältiger als psychotherapeutische Kontexte, z. B. eine Praxis, ein Therapiezimmer, eine Klinik. So in dem Verständnis, wie es Barbara benutzt hat, im systemischen Sinne, meint ja Kontexte noch was ganz anderes, nämlich Umgebungskontexte, Umgebungssysteme von Klient*innen, von Klientensystemen. Umgebungsfaktoren, also das, was wir in der Sozialen Arbeit dann als soziale Umwelt betrachten würden. Ich glaube, wir brauchen beides, aber mein Argument bzw. meine These bezog sich auf das Erste. Was heißt es, auch methodisch, wenn ich in einem starken Pflichtkontext berate, wo es eine Sanktionsdrohung gibt oder wenn Klient*innen in einem Kontext von Jugend – und Familienberatung freiwillig kommen? Barbara Bräutigam: Also ich würde auch tatsächlich sagen, dass du vollkommen recht hast, dass es in der Beratung ja eine viel größere Auswahl an Praxis- und Arbeitsfeldern oder auch 166
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Handlungsfeldern gibt, in denen die Beratung tätig ist. Volker Kraft (2021) unterscheidet zwischen propositionalem und nicht- propositionalem Wissen, also »knowing that« und »knowing how«, und da würde ich sagen, dass das »knowing that«, also das fachspezifisches Wissen in der Beratung, viel diverser ist als in der Psychotherapie. In der Psychotherapie ist dagegen das »knowing how« sehr viel wichtiger und da streitet man sich ja auch drum, wie man es eigentlich am besten macht. Michael Märtens: Ich glaube, die Vielfältigkeit der Kontexte ist ein Phänomen, das aufgrund von zwei Entwicklungen gewachsen ist. Das erste ist, dass unsere Lebenswelt sich differenziert hat und dann entsprechende Angebote, zu helfen, mit sich brachte. Das zweite ist – ich weiß nicht, was wichtiger ist – die Vermehrung des Wissens. Wenn ich mir das in der Medizin anschaue, früher gab es einfach den Arzt, ja vor 200 Jahren. Heute haben wir ich weiß nicht wie viele Fachärzte und wie viele Spezialisierungen. Die der Tatsache geschuldet sind, dass man einfach mehr weiß, man kann das nicht alles wissen und dadurch bilden sich Spezialdisziplinen. Das Gleiche finden wir auch in der Beratung, denn es gibt mehr Wissen und mehr Lebenswelten, die wir berücksichtigen müssen. Die Psychotherapie scheint mir in der Gründungsphase – im letzten Jahrhundert – noch viel enger gewesen zu sein und ist jetzt viel breiter geworden, weil man mehr weiß, was man alles berücksichtigen kann. Dass man hingehen soll zu Klient*innen, dass man andere Settings berücksichtigen soll. Das schafft auch neue Konfliktsituationen für diese beiden Professionen. Ist z. B. Beratung mit einer Familie jetzt Familientherapie oder ist es Familienberatung? Martina Hörmann: Daran anknüpfend könnte man fast sagen, dass die Psychotherapie beraterischer wird, wenn sie aufsuchend arbeitet, dass sie niederschwelliger wird. Barbara Bräutigam: Auch in der neuen Musterweiterbildungsordnung und der neuen Approbationsordnung für Studierende ist die Aufgabe von angehenden Psychotherapeut*innen nicht nur die Behandlung, sondern auch Prävention und Beratung. Martina Hörmann: Anknüpfend an einen Punkt, den du eben hattest, Barbara, ist mir Frank Engel (2007) eingefallen, der die Trialog der Herausgeber*innen
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Doppelverortung von Beratung betont: Neben handlungsfeldspezifischem Wissen brauchen Beratende eine handlungsfeldunspezifische Methoden- und Interaktionskompetenz. Gute Beratung benötigt immer beides und zudem die Kompetenz, das eine mit dem anderen im Gespräch gezielt zu kombinieren. Michael Märtens: Die Psychotherapie braucht das auch. Martina Hörmann: Ich weiß nicht, ob es da so viel handlungsfeldspezifisches Wissen braucht, wie wenn ich beispielsweise in der Sozialhilfe eine Sozialberatung mache. Michael Märtens: Wenn ich mit politisch Verfolgten arbeite, muss ich wissen, wie das aussieht mit dem Asylstatus, was gibt es für gesetzliche Regelungen, das ist auch essenziell für die Arbeit. Martina Hörmann: Ich hätte gedacht, dass sich genau da Psychotherapeut*innen stärker abgrenzen, und dass das eher Sozialarbeiter*innen in der Beratungsstelle machen, die wiederum für die Therapie an die*den Psychotherapeut*in weiterverweisen. Barbara Bräutigam: Es hat halt immer zwei Seiten. Es gibt ja schon eine gewisse »Reinheitsidee«, so nach dem Motto, in der Psychotherapie soll wirklich nur die Entfaltung des Inneren Platz haben und insofern ist es gut, alles andere nach draußen zu verlagern, und gleichzeitig ist genau diese Zielgruppe ein gutes Beispiel dafür, dass die »Reinheitsidee« nicht funktioniert. Es ist auch eine bestimmte Art von Ignoranz und Desinteresse, mit Geflüchteten und Schwertraumatisierten zu arbeiten und sich nicht dafür zu interessieren, wie der Asylstatus oder die Situation ist, ob sie gerade in einer Sammelunterkunft leben oder eine eigene Wohnung haben, weil das massive Auswirkungen auf das gesamte Wohlbefinden hat. Martina Hörmann: Da stimme ich dir voll zu, aber das ist fast schon moralisch zu sagen, es sei Desinteresse. Denn es sind jeweils große Wissensbestände, beispielsweise die ganze Asylgesetzgebung und was das in welchem Land bedeutet. Wie ich Traumatherapie gestalte, erfordert ebenfalls umfassende Wissens – und Handlungskompetenz. Zu erwarten, alle könnten alles, halte ich vielleicht für wünschenswert, aber nicht realistisch. Michael Märtens: Das zeigt die Bedeutung des Kontextes, in dem ich arbeite. Der Kontext, in dem ich arbeite, bestimmt, welche 168
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Aufgaben ich habe und was für Klient*innen kommen. Die determinieren das notwendige Wissen und das methodische Handwerkszeug, das ich brauche. Ich glaube, dass dieser Kontext, wo ich arbeite, wichtiger ist für das, was ich tue, als die berufliche Identität. Barbara Bräutigam: Wir kommen zum vorletzten Punkt, nämlich einen Blick auf die Forschungsperspektiven zu werfen. Michael Märtens: Ich weiß nicht, wie ihr das seht, mich interessiert fast gar nicht mehr, was man für Zusammenhänge denkt, sondern nur noch, was man empirisch belegen kann. Man hat zu viel Unsinniges als selbstverständlich betrachtet und dann feststellen müssen, dass das empirisch nicht stimmt. Das ist für Beratung genauso wie für Psychotherapie eine Herausforderung. Das ist das eine. Das fordere ich von Beratung genauso. Wenn man bestimmte methodische Vorgehensweisen (Interventionen) wählt, die von bestimmten Personen umgesetzt werden, braucht man Forschung, die klärt, ob das effektiv ist und was für Nebenwirkungen das hat. Bei der Beratungsforschung ist im deutschsprachigen Raum leider das Phänomen festzustellen, dass wir da ja ganz wenig dazu haben, wir aber eigentlich im angloamerikanischen Raum relativ viel Forschung zum Bereich Counseling finden. In Großbritannien gibt es die Zeitschrift »Counselling and Psychotherapy Research« und ein paar andere Zeitschriften, die das auch im Titel haben, und häufig sieht man in vielen Publikationen gar nicht, dass das eigentlich Forschung zu Beratung ist. Ich denke, das ist eine Aufgabe, die irgendwann geleistet werden muss, dass man das entrümpelt und feststellt, wo Psychotherapie draufsteht, ist oft Beratung drin. Man sollte daraus systematisch Erkenntnisse gewinnen und zudem die Forschung weiter vorantreiben. Barbara Bräutigam: Also ich würde dir insofern zustimmen, dass ich denke, dass jetzt insbesondere in den Betrachtungen zu Beratung die theoretische Perspektive zu der empirischen Per spektive in einem totalen Missverhältnis steht, und dass ich auch glaube, dass wir dringend mehr empirische Erkenntnisse diesbezüglich brauchen. Bei der Psychotherapie würde ich das nicht so sehen. Trialog der Herausgeber*innen
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Martina Hörmann: Ein Grund, weshalb wir mehr Psychotherapieforschung haben, ist aus meiner Sicht nicht nur das Historische, dass Psychotherapie anders gewachsen ist, sich anders professionalisiert hat, sondern auch, dass im Klinischen eher Versuchsbedingungen geschaffen werden können, die empirische Forschung ermöglichen. Beratung ist viel näher an der Lebenswelt, weshalb es ganz viele Einflussfaktoren gibt, was dann forschungsmethodische Fragen ganz anderer Art aufwirft. Wenn die Psychotherapieforschung beispielsweise ein manualisiertes Vorgehen untersucht, ist es wesentlich einfacher. Grundsätzlich würde ich zustimmen, dass wir mehr Beratungsforschung brauchen. Wichtig wäre aber auch, dass Berater*innen Forschungsergebnisse zur Kenntnis nehmen und in ihrem Praxishandeln berücksichtigen, denn das ist schon die erste große Lücke. Auch deshalb sollten Beratungsausbildungen und Weiterbildungen stärker wissenschaftlich fundiert sein. Michael Märtens: Du würdest ja auch kein Medikament nehmen, was nicht untersucht ist, und ich glaube, wenn die Methode und die Berater*innenpersönlichkeit so eine wichtige Wirkung haben, dann brauchen wir eine Zwangsverpflichtung: Wer professionell arbeitet, muss die eigenen Effekte kennen und kontrollieren. Martina Hörmann: Das sehe ich eher als Fernziel, denn davon sind wir noch weit weg. Die DGfB versucht derzeit, Grundlagen für einen Qualifikationsrahmen Beratung zu entwickeln, was noch keine Bewertungen umfasst, aber schon sehr herausfordernd ist. Barbara Bräutigam: Ich weiß nicht, inwiefern man sich wirklich damit zufriedengeben kann, dass es ein Fernziel ist. Also ich stimme dir vollkommen zu, dass das vermutlich viel Aufruhr macht, aber man muss ja schon fragen, was das bedeutet, wenn man einerseits den Anspruch erhebt, professionell zu sein und es andererseits unangemessen findet, dass die eigene Arbeit bewertet wird. Da sind wir sehr klar bei dem Fehlerbegriff. Dass Ärzte Fehler machen, steht außer Frage. Dass Psychotherapeut*innen Fehler machen, steht mittlerweile, Gott sei Dank, auch außer Frage. In der Beratung gehört es aus meiner Sicht noch nicht dazu und wird oft als Angriff empfunden. Ich muss mich damit auseinandersetzen, dass ich falsch beraten habe, dass ich einen 170
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Fehler gemacht habe. Für mich gehört zu professioneller Arbeit dazu, dass sie eine Wirkung hat und eine Wirkung bedeutet: Ich kann da Fehler machen. Martina Hörmann: Das würde ich deutlich anders formulieren, denn ich sehe nicht, dass es als Angriff empfunden wird, sondern würde sagen: In der Beratung ist es noch nicht Standard und es wäre wichtig, dass es das wird, auch weil es ein Teil des Professionalisierungsprozesses ist. Michael Märtens: Also ich glaube, von einem ordentlich untersuchten Medikament erwarte ich, dass es einen Beipackzettel hat, wo draufsteht, welche Nebenwirkungen und Risiken damit verbunden sind und welche Menschen dieses Medikament nicht nehmen sollten, weil es für sie eine Gefahr darstellt. Bei Beratung denke ich, ist das ähnlich. Wir können aus einer theoretischen Perspektive immer ein anderes Vorgehen kritisieren, weil wir andere theoretische Prämissen haben. Erst die empirischen Daten machen einen Unterschied. Martina Hörmann: Ich würde dir zwar grundsätzlich zustimmen, dass es wichtiger Bestandteil von Professionalisierung ist, zu forschen. Ich finde aber, dass da ein Medikamentenvergleich hinkt. Beratung ist Koproduktion, das heißt, dass ich als Berater*in bestimmte Interventionen zur Verfügung stelle. Eine gelingende Beratung entsteht nur durch eine Koproduktion von Berater*in und Klient*in und kann deshalb nicht mit der eher linearen Wirkung eines Medikamentes verglichen werden. Die gesamte Vielfalt in der Beratung, die wir vorhin mehrfach benannt haben, macht die Forschung umso komplexer und umso schwieriger. Ich glaube, Psychotherapie ist deswegen erfolgreicher in der Forschung, je manualisierter und stärker die klinische Engführung ist. Barbara Bräutigam: Vielleicht beginne ich jetzt mal mit einem Abschlussstatement. Ich würde sagen, für mich ist eine der wesentlichen Erkenntnisse aus unserem Trialog, die ich hier gewonnen habe, dass es zwingend notwendig ist, zu versuchen, den gesamtgesellschaftlichen Nutzen von Psychotherapie und Beratung stärker in den Blick zu bekommen, stärker die Perspektive von Nutzer*innen zu verstehen und im Grunde genommen auch zu erforschen. Möglicherweise eben nicht nur insofern zu erforschen, Trialog der Herausgeber*innen
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dass wir diejenigen anschauen, hören oder befragen, die in die Beratung oder in die Therapie kommen, sondern eben tatsächlich auch schauen, welche Auswirkungen das auf das Umfeld hat. Ich denke auch, das ist herausfordernd, und man muss sich sehr damit beschäftigen, wie sinnvoll man Komplexität reduzieren kann. Das ist das eine, was ich mitnehme, und das andere, dass es offenbar extrem viel ausmacht, von welcher Disziplin aus man Psychotherapie und Beratung konstruiert. Martina Hörmann: Ich habe mich ein bisschen inspirieren lassen und habe als Metapher für das Verhältnis zwischen Beratung und Psychotherapie eine Pflanze, einen Baum gewählt. Wenn ich jetzt nochmal auf das Verhältnis schaue, wäre für mich Psychotherapie eine sehr große, stabile Pflanze, vielleicht wirklich ein Baum, der bereits viele Blüten hat. In den letzten Jahren wurde zunehmend das Gewächshaus, in dem dieser Baum steht, durch Zäune abgesichert, sodass er sehr exklusiv ist. Beratung ist für mich eine Pflanze, die noch sehr im Wachsen ist. In den Ländern ist es unterschiedlich, ob diese Pflanze Beratung näher bei dem Baum Psychotherapie steht oder weniger nah, ob es mehr oder weniger Zäune gibt. In der Schweiz und in Deutschland sind die Zäune sehr verstärkt worden. Für mich war eine Erkenntnis: Das Pflänzchen Beratung kann in der Wüste stehen oder in einem fruchtbaren Boden, und es gilt, sehr sorgsam zu schauen, wie es gut gedeihen kann. Für mich ist es sehr wichtig, dass der Baum das Pflänzchen wahrnimmt und umgekehrt. Das wäre jetzt im Moment mein Bild in der Zusammenschau. Michael Märtens: Also es gibt verschiedene Apfelsorten und die Frage für mich ist: Bestimmte Sorten sind verbreiteter in Therapie und bestimmte Sorten sind verbreiteter in Beratung. Aber es gibt eine Menge von Sorten, die beide nutzen, und Beratung hat immer noch mehr spezielle Sorten, was an den verschiedenen Kontexten liegt. Beratung ist für mich mehr eine Wiederspiegelung gesellschaftlicher Komplexität, während Psychotherapie einen etwas begrenzteren Fokus hat.
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Martina Hörmann, Michael Märtens und Barbara Bräutigam
Literatur Baethge, G., Deissler, K. G., Reich, G. im Gespräch mit Ivan Boszormenyi-Nagy (1980). Ein Plädoyer für Nachhaltigkeit? In W. Ritscher, T. Levold, D. F oertsch, P. Bauer (Hrsg.) (2017), Erkunden, erinnern, erzählen: Interviews zur Entwicklung des systemischen Ansatzes (S. 73–88). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Deutscher Bundestag (1998). Endbericht der Enquete-Kommission »Sogenannte Sekten und Psychogruppen«: Neue religiöse und ideologische Gemeinschaften und Psychogruppen in der Bundesrepublik Deutschland. Referat Öffentlichkeitsarbeit. Bonn Drucksache 13/10950 13. Wahlperiode. Engel, F. (2007). Beratung – ein Selbstverständnis in Bewegung. In F. Nestmann, F. Engel, U. Sickendiek (Hrsg.), Das Handbuch der Beratung. Bd. 1: Disziplinen und Zugänge (S. 33–44). Tübingen: dgvt-Verlag. Goldberg, S. B., Rousmaniere, T., Miller, S. D., Whipple, J., Nielsen, S. L., Hoyt, W. T., Wampold, B. E. (2016). Do psychotherapists improve with time and experience? A longitudinal analysis of outcomes in a clinical setting. Journal of Counseling Psychology, 63 (1), 1–11. Großmaß, R. (2007). Psychotherapie und Beratung. In F. Nestmann, F. Engel, U. Sickendiek (Hrsg.), Das Handbuch der Beratung. Bd. 1: Disziplinen und Zugänge (S. 89–102). Tübingen: dgvt-Verlag. Kraft, V. (2021) Erziehung, Beratung und Psychotherapie. Stuttgart: Kohlhammer. Schmidt, G. (2011). Berater als Realitätenkellner und Beratung als koevolutionäres Konstruktionsritual für zieldienliche Netzwerkaktivierungen. Einige Hypnosystemische Implikationen. In W. Leeb, B. Trenkle, M. Weckenmann (Hrsg.), Der Realitätenkellner. Hypnosystemische Konzepte in Beratung, Coaching und Supervision (S. 18–35). Heidelberg: Carl-Auer. Wampold, B. E., Imel, Z. E. (2015). The great psychotherapy debate: The evidence for what makes psychotherapy work. New York: Routledge, Taylor & Francis. Weber, E., Kunz, D. (2012). Beratungsmethodik in der Sozialen Arbeit. Das Unterrichtskonzept der Beratungsmethodik an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit (3. Aufl.). Luzern: Interact Verlag.
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Die Autorinnen und Autoren
Dr. Nicolle Alamo Anich hat einen Master in Klinischer Psychologie und ist promovierte Psychologin (Pontificia Universidad Católica de Chile) sowie systemische Psychotherapeutin für Kinder und Jugend liche. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Millennium-Institutefor-Research-in-Depression-and-Personality (Chile) und an der Schoolof-Social-Work der Pontificia Universidad Católica de Chile. Prof. Dr. Barbara Bräutigam ist Professorin für Psychologie, Beratung und Psychotherapie an der Hochschule Neubrandenburg sowie psychologische Psychotherapeutin, Lehrtherapeutin für systemische Therapie (DGSF), Supervisorin (DGSv). Dr. Martina Fischersworring ist Diplom-Psychologin und hat an der Universidad de Chile und der Pontificia Universidad Católica de Chile promoviert. Sie arbeitet in Chile als akkreditierte klinische Psychologin und Supervisorin und ist freie Mitarbeiterin des Millenium-Institute-for Depression-and-Personality (Chile) und des Laboratorio-de-Fenomeno logía-Corporal (Chile). Prof. Dr. Silke Birgitta Gahleitner ist Professorin für Klinische Psychologie und Sozialarbeit, Beratung und Therapie an der Alice Salomon Hochschule Berlin und schon langjährig als Beraterin und Psychotherapeutin tätig. Sie leitet den Masterstudiengang »Klinische Sozialarbeit« und forscht zu psychosozialer Diagnostik und Intervention, professioneller Beziehungsgestaltung und Traumaberatung/Traumapädagogik. Prof. Dr. Ulrich Giesekus ist Professor an der Internationalen Hochschule Liebenzell. Er ist Leiter des Masterstudiengangs »Integrative Beratung« und hat einen Lehrstuhl für Psychologie und Counseling. 174
Die Autorinnen und Autoren
Außerdem hat er eine eigene Praxis »BeratungenPlus« für psychologische Beratung, Supervision und Coaching und forscht zu Fragen globaler seelischer Gesundheit. Er ist Fellow am »International Institute für Global Mental Health« an der Belhaven University, USA. Robert Holz hat Erziehungswissenschaft und Religion im Kontext (B. A.) an der Universität Rostock studiert. Er ist Sozialarbeiter und Berater im Centrum für Sexuelle Gesundheit (Rostock) sowie zertifizierter Mediator. Prof. Dr. Martina Hörmann ist Professorin für Beratung am Institut Beratung, Coaching und Sozialmanagement an der Hochschule für Soziale Arbeit/Fachhochschule Nordwestschweiz, Olten (CH). Sie leitet das MASProgramm Master of Advanced Studies Systemisch-lösungsorientierte Kurzzeitberatung und -therapie und forscht zu Blended Counseling. Sie ist die 2. Vorsitzende der VHBC (Vereinigung von Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern zur Förderung von Beratung/Counseling in Forschung und Lehre) und Beisitzerin im Vorstand der DGfB. Dr. Annett Kupfer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialpädagogik, Sozialarbeit und Wohlfahrtswissenschaften an der Technischen Universität Dresden. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen Beratung, soziale Netzwerke und Intersektionalität. Sie ist Mitglied im Forum Beratung der DGVT und im wissenschaftlichen Beirat der DGfB. Prof. Dr. phil. Prof. h. c. Michael Märtens ist Professor für Beratung, Interventionsmethoden und Interventionsforschung am Kompetenzzentrum Interventionsforschung, Fachbereich 4 der Frankfurt University of Applied Sciences. Er ist Organisationsberater, Familien- und Gesprächstherapeut, Supervisor (DGSv, DGSF, BDP), Lehrsupervisor und Ausbilder Systemische Therapie. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Interventionslehre in Beratung, Psychotherapie, Supervision und Organisationsentwicklung und Forschung zu Effekten, Grenzen und Risiken sozialer Interventionsmethoden. Dr. Gladys Mwiti arbeitet als Consulting Clinical Psychologist and Trauma Specialist in Nairobi, Kenia. Sie ist die Gründerin und Leiterin Die Autorinnen und Autoren
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des Oasis Africa Center for Transformational Psychology and Trauma. Zu den behandelten Themen gehören Einzel-/Paar-, Ehe-/Familien therapie, Stressbewältigung, Work-Life-Balance, traumatische Stressbewältigung, psychologische Beurteilung und andere Herausforderungen im Bereich der psychischen Gesundheit und zwischenmenschlichen Beziehungen. Prof. Dr. em. Frank Nestmann war bis 2014 Professor am Lehrstuhl für Beratung und Rehabilitation an der Technischen Universität Dresden. Er ist Mitglied im Forum Beratung der DGVT. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Beratung, Social Support, Mensch-Tier-Beziehungen sowie tiergestützte Intervention. Dr. René Reichel, MSc. hat Politikwissenschaft und Publizistik in Salzburg studiert und hat einen Master of Science in Integrativer Therapie. Seit 1991 ist er Psychotherapeut (Integrative Therapie, Gestalttherapie), außerdem ist er (Lehr-)Supervisor/Coach (ÖVS) und Lebensberater und war viele Jahre Lehrgangsleiter für Psychosoziale Beratung im Department für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit an der Donau-Universität Krems; zahlreiche Bücher. Prof. Gillian Ruch ist Professorin für Soziale Arbeit am Department of Social Work and Social Care, University of Sussex. Sie unterrichtet und forscht in den Bereichen Kindersozialarbeit und beziehungsbasierte soziale Arbeit und engagiert sich für das Wohlbefinden von Kindern und Familien. Ihr besonderes Interesse gilt der Förderung psychosozialer Forschungsmethoden und der Verbesserung der Kommunikation zwischen Sozialarbeitern und Kindern. Gemeinsam mit Danielle Turney und Adrian Ward hat sie 2010 das Buch »Relationship-based social work: Getting to the heart of practice« publiziert. Prof. Dr. Sandra Wesenberg ist Gastprofessorin für Klinische Psychologie mit den Schwerpunkten Beratung und Therapie an der Alice Salomon Hochschule Berlin. Ihre Arbeitsschwerpunkte in Forschung und Lehre sind Klinische Sozialarbeit, psychosoziale Diagnostik und Intervention in Kindheit und Jugend sowie Mensch-Tier-Beziehungen und tiergestützte Interventionen. Sie ist Mitglied im Forum Beratung der DGVT. 176
Die Autorinnen und Autoren