111 9
German Pages 339 [328] Year 2023
Viola Oertel Frank Hänsel Hrsg.
Aktiv für die Psyche Sport und Bewegungsinterventionen bei psychisch kranken Menschen 2. Auflage
Aktiv für die Psyche
Viola Oertel • Frank Hänsel Hrsg.
Aktiv für die Psyche Sport und Bewegungsinterventionen bei psychisch kranken Menschen 2. Auflage
Hrsg.
Viola Oertel Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie Universitätsklinikum Frankfurt Frankfurt, Deutschland
Frank Hänsel Institut für Sportwissenschaft TU Darmstadt Darmstadt, Deutschland
Zusätzliches Material zu diesem Buch finden Sie auf http://www.lehrbuch-psychologie.springer.com.
Die Online-Version des Buches enthält digitales Zusatzmaterial, das durch ein Play-Symbol gekennzeichnet ist. Die Dateien können von Lesern des gedruckten Buches mittels der kostenlosen Springer Nature „More Media“ App angesehen werden. Die App ist in den relevanten App-Stores erhältlich und ermöglicht es, das entsprechend gekennzeichnete Zusatzmaterial mit einem mobilen Endgerät zu öffnen.
ISBN 978-3-662-67879-4 ISBN 978-3-662-67880-0 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-67880-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2016, 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Kathrina Nißle Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany Das Papier dieses Produkts ist recyclebar.
V
Vorwort Sportliches Training bei Personen mit psychischen Störungen ist etwas Besonderes – nicht nur, weil sportliches Training keine etablierte Praxis in der psychiatrischen und psychosomatischen Versorgung darstellt, sondern weil es nach unserer Überzeugung ein großes Potenzial zur Gesundheitsförderung psychiatrischer und psychosomatischer Patienten birgt. Zudem ist sportliches Training im Prinzip niederschwellig, relativ nebenwirkungsfrei und unterstützt gut die Ziele der anderen Therapiebausteine. Ein wichtiges Ziel ist die Integration sportlicher Maßnahmen in stationäre und ambulante Behandlungspläne, um eine längerfristige Verhaltensänderung zu erreichen. Das vorliegende Buch „Aktiv für die Psyche“ stellt theoretisches und praktisches Wissen für eine reflektierte Praxis rund um sportliches Training in Psychiatrie und Psychosomatik zusammen. Einen ersten Impuls für dieses Buch gab die Durchführung eines Forschungsprojektes zur Untersuchung von Wirkfaktoren und Effekten sportlichen Trainings in der Zielgruppe. Bei der Suche nach einem geeigneten sportlichen Trainingsprogramm ist aufgefallen, dass gängige Sportmanuale bei psychiatrischen Patienten aufgrund deren besonderer Symptomkonstellation nicht direkt angewandt werden können. Deshalb bildet die Beschreibung eines standardisierten praktischen Vorgehens und der spezifischen Bedingungen bei psychiatrischen Patienten, wie sie in Teil IV erfolgt, ein zentrales Element dieses Buches. An diesem Teil des Buches haben sowohl Physiotherapeuten als auch Ärzte, Psychologen und Sportwissenschaftler mitgewirkt und ihre unterschiedlichen Erfahrungen und ihr Expertenwissen zusammengetragen. Das Buch schließt mit einem Werkzeugkasten (7 Kap. 13), der Übungen beinhaltet, die für die Zielgruppe geeignet sind, ab. Hier danken wir insbesondere den Physiotherapeuten, die sich Zeit nehmen oder Zeit aufbringen und Mühe mit der Zusammenstellung der geeigneten Übungen für den Werkzeugkasten gemacht haben, und dem Fotografen für seine anschaulichen Bilder. Darüber hinaus ist im Laufe einer langjährigen Praxis aufgefallen, dass Wissen aus unterschiedlichen Fachdisziplinen (Sportwissenschaft, Psychologie, Medizin, Physiotherapie) hilfreich ist, um das sportliche Training adäquat durchführen zu können. Das vorliegende Buch trägt daher im theoretischen Teil (Teil I und II) Wissen aus den unterschiedlichen Fachdisziplinen zusammen und rundet dies mit einer Zusammenstellung der wichtigsten Forschungsbefunde zu den Effekten von sportlichem Training beim Vorliegen einer psychischen Störung ab (Teil I, 7 Kap. 2). Aufgrund der interdisziplinären Thematik besteht das Autorenteam aus Autoren ganz unterschiedlicher Fachrichtungen und Institutionen. Ihnen gilt unser ganz besonderer Dank für die geduldige und kompetente Mitarbeit und Begutachtung. Auch den Personen, die uns bei der Korrektur und Überarbeitung geduldig zur Seite gestanden haben, möchten wir unseren Dank ausdrücken. Das interdisziplinäre Autorenteam wurde bewusst so gewählt – nicht nur, um das Thema kompetent zu vertreten, sondern auch, um die sicherlich verschiedenen Interessenten bzw. Leser dieses Buches anzusprechen: Das Buch richtet sich an alle Angehörigen und Studierende von Gesundheitsberufen, die im Bereich der sport- und
VI
Vorwort
bewegungsorientierten Prävention mit Personen zu tun haben, Rehabilitation und Gesundheitsförderung mit Personen mit psychischen Störungen tätig sind oder es werden wollen. Wir freuen uns, wenn das Buch fächerübergreifend Interesse findet. Für Anregungen und Verbesserungsvorschläge für künftige Auflagen sind wir dankbar. z Ihr Zugang zu den Übungsfilmen
Für Sie und Ihre Patienten haben wir einige Übungen auch als Videos bereitgestellt, die Sie über die Links im Text bzw. die kostenlose MoreMedia App abspielen können. z Zusätzliches Online-Material
Sie finden im Internet ein Merkblatt zur Musik im Aerobic-Training sowie Stationskarten für einzelne Übungen. Gehen Sie dazu auf 7 https://link.springer.com und geben Sie im Suchfeld die ISBN 978-3-662-67879-4 ein.
Viola Oertel
Darmstadt, Deutschland Frank Hänsel
Frankfurt, Deutschland Sommer 2023
VII
Inhaltsverzeichnis 1
Ein Buch aus der Praxis für die Praxis............................................................................... 1 Viola Oertel, Pia Mehler, Stefanie Elsner, Lars Bremkes und Frank Hänsel
1.1 1.2 1.3
Einführung.............................................................................................................................................. 2 Grundlegende Begriffe....................................................................................................................... 5 Gliederung des Buches....................................................................................................................... 8 Literatur...........................................................................................................................................................10
2
Effekte von Sporttraining bei psychischen Störungen......................................... 13 Viola Oertel, Pia Mehler und Frank Hänsel
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 2.9
Einführung.............................................................................................................................................. 14 Schizophrenie........................................................................................................................................ 16 Affektive Störungen (Depression).................................................................................................. 18 Abhängigkeitssyndrom..................................................................................................................... 21 Demenzen............................................................................................................................................... 21 Angststörungen.................................................................................................................................... 22 Essstörungen......................................................................................................................................... 23 Persönlichkeitsstörungen................................................................................................................. 24 Kritische Darstellung der verwendeten Methodik................................................................... 24 Literatur...........................................................................................................................................................27
3
Klassifikation und Ätiologie psychischer Störungen............................................. 33 Benedikt Friedrichs und Christian Knöchel
3.1 3.2 3.3
Einführung.............................................................................................................................................. 34 Klassifikation psychischer StörungenIm Rahmen der............................................................. 34 Ursachen psychischer Störungen (Ätiologie)............................................................................. 38 Literatur...........................................................................................................................................................40
4
Symptomkategorien psychischer Störungen............................................................. 43 Christian Knöchel und Benedikt Friedrichs
4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6
Einführung.............................................................................................................................................. 44 Psychopathologische Befunderhebung (Exploration)............................................................ 44 Einteilung psychischer Symptome................................................................................................. 45 Symptomkategorien und Merkmalsbereiche des AMDP-Systems..................................... 47 Einteilung von Persönlichkeitsstörungen.................................................................................... 54 Beispiele für psychopathologische Befunde.............................................................................. 56 Literatur...........................................................................................................................................................57
VIII
Inhaltsverzeichnis
5
Psychische Störungen................................................................................................................. 59 Michael Stäblein, Barbara Schneider, Silke Matura, Benedikt Friedrichs, Christian Knöchel, Sofia Wenzler, Ralph Grabhorn und Viola Oertel
5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 5.8
Einführung.............................................................................................................................................. 60 Schizophrenie........................................................................................................................................ 61 Affektive Störungen............................................................................................................................ 65 Abhängigkeitssyndrom..................................................................................................................... 70 Demenzen............................................................................................................................................... 76 Angststörungen.................................................................................................................................... 79 Essstörungen......................................................................................................................................... 83 Persönlichkeitsstörungen................................................................................................................. 88 Literatur...........................................................................................................................................................90
6
Psychopharmakotherapie........................................................................................................ 97 Christian Knöchel und Benedikt Friedrichs
6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 6.7
Einführung.............................................................................................................................................. 98 Antipsychotika...................................................................................................................................... 101 Antidepressiva...................................................................................................................................... 103 Phasenprophylaktika (Stimmungsstabilisierer)........................................................................ 105 Anxiolytika (angstlösende Medikamente).................................................................................. 106 Antidementiva...................................................................................................................................... 107 Antiaddiktiva (Entwöhnungs-und Entgiftungsmittel)............................................................ 107 Literatur...........................................................................................................................................................109
7
Sportwissenschaftliche Grundlagen................................................................................. 111 Josef Wiemeyer, Andreas Bernardi, Winfried Banzer und Frank Hänsel
7.1 7.2 7.3 7.4 7.5
Einführung.............................................................................................................................................. 112 Sportmedizin......................................................................................................................................... 112 Bewegungswissenschaft................................................................................................................... 119 Trainingswissenschaft........................................................................................................................ 128 Sportpsychologie................................................................................................................................. 136 Literatur...........................................................................................................................................................143
8
Trainingssteuerung...................................................................................................................... 147 Josef Wiemeyer, Andreas Bernardi, Christian Thiel und Winfried Banzer
8.1 8.2 8.3
Einführung.............................................................................................................................................. 148 Grundlagen der Trainingssteuerung............................................................................................. 148 Qualitätssicherung durch Trainingskontrolle (Evaluation).................................................... 161 Literatur...........................................................................................................................................................164
IX Inhaltsverzeichnis
9
spekte der Trainingsorganisation und -durchführung A bei psychischen Störungen..................................................................................................... 167 Viola Oertel, Pia Mehler und Frank Hänsel
9.1 9.2 9.3 9.4 9.5
Einführung.............................................................................................................................................. 168 Voraussetzungen für die Durchführung im Überblick............................................................ 169 Aspekte der Trainingsorganisation................................................................................................ 170 Aspekte der Trainingsdurchführung............................................................................................. 176 Gliederung der anwendungsbezogenen Themen.................................................................... 183 Literatur...........................................................................................................................................................185
10
Körperliche Aspekte von Sporttraining bei psychischen Störungen.......... 187 Christian Knöchel, Angelina Schneider, Pia Mehler, Viola Oertel und Benedikt Friedrichs
10.1 10.2 10.3
Einführung.............................................................................................................................................. 188 Körperliche Aspekte bei psychiatrischen und psychosomatischen Patienten............... 190 Körperliche Aspekte bei einzelnen Störungsbildern............................................................... 197 Literatur...........................................................................................................................................................205
11
Psychische Aspekte von Sporttraining bei psychischen Störungen............ 207 Viola Oertel, Pia Mehler, Christian Knöchel, Benedikt Friedrichs, Angelina Schneider und Frank Hänsel
11.1 11.2 11.3
Einführung.............................................................................................................................................. 208 Erfassung psychischer Aspekte....................................................................................................... 210 Störungsspezifische psychische Aspekte.................................................................................... 212 Literatur...........................................................................................................................................................225
12
Ernährungsaspekte bei psychischen Störungen...................................................... 229 David Prvulovic und Yurdagül Zopf
12.1
Einführung.............................................................................................................................................. 230 Literatur...........................................................................................................................................................237
13
Werkzeugkasten – Übungen zum Training................................................................... 239 Pia Mehler, Lars Bremkes, Stefanie Elsner und Kristina Steinbrecher
13.1 13.2 13.3 13.4
Planung und Formen der Übungen............................................................................................... 240 Inhalte und Übungen zum Aufwärmen........................................................................................ 243 Kräftigung............................................................................................................................................... 282 Verbesserung der allgemeinen aeroben Ausdauer.................................................................. 310 Literatur...........................................................................................................................................................318 Serviceteil
Stichwortverzeichnis.................................................................................................................. 321
XI
Autorenverzeichnis Prof. Dr. med. Dr. phil. Winfried Banzer Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin, Abteilung Präventiv- und Sportmedizin, Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt, Deutschland Dr. Andreas Bernardi Institut für Sportwissenschaften, Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt, Deutschland
Abteilung
Sportmedizin,
Physiotherapeut Lars Bremkes Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Klinikum der Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt, Deutschland Physiotherapeutin Stefanie Elsner Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Klinikum der Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt, Deutschland Dr. med. Benedikt Friedrichs Aschaffenburg, Deutschland Prof. Dr. med. Ralph Grabhorn Praxis für Psychotherapie, Frankfurt, Deutschland Prof. Dr. rer. nat. Frank Hänsel Institut für Sportwissenschaft, Technische Universität Darmstadt, Darmstadt, Deutschland PD Dr. med. Christian Knöchel Vitos Klinik für forensische Psychiatrie Riedstadt, Riedstadt, Deutschland Dr. Silke Matura Institut für Allgemeinmedizin, Klinikum der Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt, Deutschland Dipl.-Psych. Pia Mehler Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Klinikum der Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt, Deutschland PD Dr. Viola Oertel Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Klinikum der Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt, Deutschland Dr. med. David Prvulovic Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Klinikum der Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt, Deutschland Cand. med. Andrea Röser Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Klinikum der Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt, Deutschland M.Sc. Alexandra Sadtler Bad Homburg vor der Höhe, Deutschland
XII
Autorenverzeichnis
M.Sc. Angelina Schneider Neu-Isenburg, Deutschland Prof. Dr., M.Sc. Barbara Schneider Abteilung Abhängigkeitserkrankungen, LVR-Klinik Köln, Köln, Deutschland Dipl.-Psych. Michael Stäblein Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Klinikum der Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt, Deutschland B.Sc. Kristina Steinbrecher Institut für Psychologie und Sportwissenschaft, Gießen, Deutschland Prof. Dr. phil. habil. Christian Thiel Studiengang Physiotherapie, Hochschule für Gesundheit, Bochum, Deutschland Prof. Dr. rer. medic Josef Wiemeyer Institut für Sportwissenschaft, Technische Universität Darmstadt, Darmstadt, Deutschland Prof. Dr. med. Yurdagül Zopf Hector-Center für Ernährung, Bewegung und Sport, Medizinische Klinik 1, Erlangen, Deutschland M.Sc. Sofia Wenzler Tel Aviv, Israel
1
Ein Buch aus der Praxis für die Praxis Viola Oertel, Pia Mehler, Stefanie Elsner, Lars Bremkes und Frank Hänsel
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 V. Oertel, F. Hänsel (Hrsg.), Aktiv für die Psyche, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67880-0_1
1
2
1
V. Oertel et al.
nnLernziele 55 Kennen der Versorgung mit sportlichen Angeboten in Psychiatrie und Psychosomatik 55 Kennen grundlegender Begriffe 55 Kennen der Gliederung des Buches
1.1
Einführung
Sportliches Training mit psychiatrischen Patienten1 ist in vielen psychiatrischen und psychosomatischen Einrichtungen und auch im ambulanten psychotherapeutischen Alltag keine alltägliche oder gängige Praxis. Dabei gibt es vielfältige Hinweise, dass ein Sportangebot auch oder gerade für Patienten mit psychischen Störungen empfehlenswert ist und als ein weiteres Behandlungselement das standardisierte therapeutische Vorgehen sinnvoll ergänzt. In den aktuellen Leitlinien für die Behandlung unipolarer Depressionen wird bei Therapieempfehlungen festgestellt: „Patienten mit einer depressiven Störung und ohne Kontraindikation für körperliche Belastungen sollen zu sportlichen Aktivitäten motiviert werden, idealerweise innerhalb einer Gruppe“ sowie „Patienten mit einer depressiven Störung und ohne Kontraindikation für körperliche Belastungen sollen zur Teilnahme an einem strukturierten und supervidierten körperlichen Training motiviert und bei der Umsetzung unterstützt werden.“ (NVL Unipolare Depression, Version 3.1, 2022). Für das Durchführen von körperlichem Training bei der Patientengruppe wird in den Leitlinien insbesondere ausgeführt, das körperliches Training Patienten aktiviere und zudem soziale Komponenten und eine allgemeine Gesundheitsförderung wichtig seien (NVL Unipolare Depression, Version 3.1, 2022).
1
Im Buch wird jeweils zur Vereinfachung die männliche Form verwendet. Es sind aber natürlich jeweils weibliche und männliche Personen gemeint.
Dabei sind durch das sportliche Training nicht nur positive körperliche Anpassungserscheinungen zu erwarten, sondern darüber hinaus auch Verbesserungen psychologischer Aspekte und die Verminderung von störungsbezogenen Symptomen. Sportliche Aktivität weist im Vergleich zu vielen anderen systematischen Interventionen im klinischen Kontext einige Vorteile auf: Sie kann von annähernd allen Menschen ausgeübt werden, ist zumeist mit relativ geringen Kosten verbunden, zeigt wenig unerwünschte Nebenwirkungen, findet gesellschaftliche Anerkennung und erweist sich unter bestimmten Bedingungen als sehr nachhaltig. Das Augenmerk dieses Buches richtet sich auf die konkrete Anleitung für ein Sporttraining. Außerdem soll relevantes Hintergrundwissen – auf das Wesentliche zusammengefasst – dargestellt werden. Im Folgenden nun die Inhalte des Buches im Überblick; Details zur Gliederung finden Sie in 7 Abschn. 1.3.
Inhalte des Buches 55 Grundlagenwissen zu psychischen Störungen 55 Grundlagenwissen zur Trainingssteuerung 55 Theoretisches Hintergrundwissen über physische und psychische Effekte von Sport 55 Anleitung für die Übungsleiter 55 Hinweise zum Aufbau und zur Organisation von Interventionseinheiten 55 Materialien zur Durchführung 55 Organisationshinweise bei der Interventionsdurchführung 55 Besonderheiten bei psychiatrischen Patienten/Erfahrungsberichte
z Ziel des Buches und Zielgruppe
Das vorliegende Buch soll neben praktischen Informationen und Anleitungen für den Übungsleiter auch theoretisches Wissen über sportwissenschaftliche und psychische
3 Ein Buch aus der Praxis für die Praxis
Aspekte vermitteln. Neben dem grundlegenden psychiatrischen Hintergrundwissen, das erforderlich ist, um mit der Zielgruppe adäquat arbeiten zu können, wird notwendiges sportwissenschaftliches Basiswissen vermittelt. Auf dieses Wissen greifen die Interventionsvorschläge im Werkzeugkasten zurück; sie sollen als Grundlage des sportlichen Trainings im klinischen Alltag von psychiatrischen und psychosomatischen Patienten genutzt werden. Um das Gelingen von Sporttraining in psychiatrischen und psychosomatischen Behandlungseinrichtungen zu erleichtern, wird ein besonderer Schwerpunkt auf praktische Empfehlungen für Übungsleiter gelegt, basierend auf den Erfahrungen von Physiotherapeuten, Psychologen, Ärzten und Bewegungstherapeuten, die im Bereich der Sporttherapie tätig sind. Das Buch bietet einen einfachen Zugang zur Realisierung eines Sportangebots bei psychiatrischen Patienten. Dabei werden einfache, effektive und wenig aufwändige Trainings- bzw. Übungsformen vorgestellt. Dadurch ist eine basale Versorgung mit einem Sportangebot für psychiatrische Patienten möglich. Für die jeweilige Einrichtung bietet sich dadurch der Vorteil, ein niederschwelliges – weil wenig kostenintensiv und einfach umzusetzen – Konzept zur Verfügung zu haben, dass Übungsleiter in Zusammenarbeit mit dem ärztlichen Personal in einer standardisierten Qualität durchführen können. Für die Übungsleiter bietet sich der Vorteil, die notwendigen Grundlagen und praktische Beispiele für eine reflektierte Praxis in kompakter Form in der Hand zu halten. Das Buch richtet sich primär an Personen, die mit psychisch kranken Menschen arbeiten – ob ambulant oder stationär. Bei dieser Arbeit steht für Übungsleiter weniger die Frage im Vordergrund, was sie mit diesen Patienten erarbeiten, als vielmehr die Frage, wie sie mit ihnen arbeiten, wie sie sie motivieren können etc. Auch in der aktuellen Leitlinie wird betont, dass weniger die Struktur und Supervision von Trainingsmaß-
1
nahmen als eine allgemeine Aktivierung und Motivation zum Sporttreiben entscheidend für den Erfolg der Maßnahme sind (NVL Unipolare Depression, Version 3.1, 2022). Indem es die Vorbereitung und Durchführung von sportlichen Interventionen in der Psychiatrie und Psychosomatik erleichtert, soll dieses Praxisbuch Übungsleiter bei der Beantwortung dieser Fragen und bei der Umsetzung dieses Wissens in der Arbeit mit psychiatrischen und psychosomatischen Patienten unterstützen. z Sportliches Training in psychiatrischen und psychosomatischen Einrichtungen: aktueller Stand
Derzeit gibt es ein gewisses Spektrum an körper- und bewegungsorientierten Verfahren im Bereich der Psychotherapie. Eine Veröffentlichung von Hünnekens u. Kiphard (1960) mit dem Titel Bewegung heilt. Psychomotorische Übungsbehandlung bei entwicklungsrückständigen Kindern zählt zu den Anfängen der Entwicklung (Rieder 1996). Der durch Kriegseinwirkungen entstandene Versehrtensport, später auch Behindertensport genannt, stellt ebenfalls einen wichtigen Impuls für die Verknüpfung von Sport und Psychiatrie dar. Insbesondere in den letzten 30 Jahren hat es tiefgreifende Veränderungen in der Versorgung psychisch Kranker in Deutschland gegeben (Längle u. Buchkremer 1997; zit. nach Längle et al. 2000). Es gibt Bestrebungen, Bewegungselemente oder Elemente von sportlichem Training in Therapiekonzepte zu integrieren. >>Sportliches Training mit psychisch erkrankten Personen gehört (noch) nicht zu den gängigen Behandlungs- und Therapiekonzepten und wird sowohl im ambulanten kaum auch im stationären Setting recht wenig angeboten.
Im 7 Exkurs finden Sie Beispiele für Konzepte von Vereinen oder Einrichtungen, die Sport und Bewegung mit psychisch erkrankten Menschen anbieten.
4
1
V. Oertel et al.
Therapeutische Umsetzung von Sport und Bewegung bei psychisch kranken Menschen: Beispiele
Tübinger Gesundheitssport mit psychisch Kranken 1995 wurde in Tübingen eine Gesundheitssportgruppe für psychisch kranke Personen ins Leben gerufen (Siemßen 20052). Sie wird von der Tübinger Forschungsgruppe für Sozialpsychiatrie an der Tübinger Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie geleitet. Finanziell ermöglicht die Stiftung Bildung und Behindertenförderung Stuttgart GmbH das Projekt. Die Teilnehmer haben die Möglichkeit, an individuumsorientierten Spiel- und Gymnastikangeboten oder sportartspezifischen Gruppenangeboten teilzunehmen. Es werden dabei Sportarten wie Rudern, Volleyball, Walking, Jogging und Krafttraining angeboten. Das vielfältige Angebot wird durch die Unterstützung der ortsansässigen Sportvereine ermöglicht. Dadurch soll auch eine Angliederung an die bestehenden kommunalen Gegebenheiten erleichtert und den Patienten ein Gefühl von Normalität gegeben werden. Diese strukturelle Besonderheit ermöglicht zudem die Aufrechterhaltung des Kontaktes zur Sportgruppe während wiederkehrender Klinikaufenthalte, und die Patienten können ihr gewohntes Leben beibehalten. Des Weiteren zielt das Konzept auf den Aufbau von Freizeitkompetenz ab. Die Teilnahme erfordert eine gewisse Tagesstruktur und die Koordinierung sozialer Kontakte. Langfristig gesehen unterstützt das Programm den Übergang von der Integrationssportgruppe zu den regulären Sportgruppen der Vereine (Längle 2004). Sportverein Shania Rostock e.V. Shania e.V., so nennt sich der erste Sportverein der Stadt Rostock, der 2008 für psy-
2
Siemßen G (2005) Aspekte des Rehabilitationssports bei Patienten mit Schizophrenie unter Neuroleptikatherapie. Unveröffentlichte Dissertation. Eberhard-Karls-Universität zu Tübingen, Tübingen
chisch kranke Menschen gegründet wurde. Durch eine Teilnahme der Betroffenen am Sportangebot des Vereins (Volleyball,Spielemix-Gruppe, Muskelaufbaukurs mit Yoga-Elementen) soll einem sozialen Rückzug, der sportlichen Inaktivität und deren Folgen entgegengewirkt werden. Der Verein erhält eine große Unterstützung durch den Verband für Behinderte und Rehabilitationssport in Rostock, über den die Übungsleiter ihre Ausbildung machen können (vgl. Jenjahn 2008; SV Shania Rostock e.V.). Verein für Gesundheitssport und Sporttherapie der Universität Duisburg-Essen e.V. (VGSU) Mediziner und Sportpädagogen gründeten 1989 den Verein für Gesundheitssport und Sporttherapie der Universität Duisburg-Essen e.V. (VGSU). Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Prävention und Rehabilitation durch Bewegung, Sport und Entspannung. Der Verein versucht eine möglichst breite Zielgruppe anzusprechen und verfügt über ein großes Angebot für die allgemeine Bevölkerung zur Vorsorge sowie für physisch und psychisch erkrankte Menschen zur Rehabilitation. Im Rahmen dieser Angebote haben junge Menschen zwischen 16 und 28 mit psychischen Störungen (darunter auch endogenen Psychosen) die Möglichkeit, an bestimmten Sportgruppen teilzunehmen. Ziel des Rehabilitationssportes ist die Verbesserung sowohl der physischen Leistungsfähigkeit, als auch des ganzheitlichen Wohlbefindens, der psychischen Gesundheit sowie der sozialen Situation der Patienten. Im Rahmen der stationären Behandlung in psychosomatischen Einrichtungen hat Sport im Vergleich zu anderen Therapiesettings einen höheren Stellenwert im therapeutischen Angebot. Es wird das vorrangige Ziel verfolgt, einen besseren Umgang mit dem Körper und sich selbst zu erarbeiten. So
5 Ein Buch aus der Praxis für die Praxis
ist z. B. körperliche Betätigung in Form von Herzsportgruppen fester Bestandteil in der Behandlung der koronaren Herzkrankheit (Herrmann- Lingen u. Meinertz 2010). Zudem sollen Sport- und Bewegungsprogramme nach Kropp et al. (2014) auch gezielt in der Schmerztherapie eingesetzt werden, um eine anhaltende schmerzhemmende Wirkung zu erzielen und eine Abnahme des Vermeidungs- bzw. Schonungsverhaltens zu erreichen. Im Gegenzug stehen bei der Nachsorge psychiatrischer Patienten vor allem die Bereiche „Wohnen“ und „Arbeit/ Beschäftigung“ im Vordergrund. Den Bereichen „soziale Teilhabe“ und „Freizeitgestaltung“ und somit auch der Integration von Bewegung wird zu wenig Beachtung beigemessen (Haltenhof u. Brack 2004). Immerhin gab es zum Zeitpunkt der Erhebung der Studie von Haltenhof u. Brack (2004) an 14 Kliniken das Angebot interner Sportgruppen sowie an 26 Kliniken den Kontakt zu Sportund Freizeitvereinen. Des Weiteren sind für Bewegungstherapeuten und Krankengymnasten in der Psychiatrie-Personalverordnung im Vergleich zu anderen Berufsgruppen die geringsten Zeitwerte angegeben. Die psychiatrische
1.2
Grundlegende Begriffe
Im Folgenden erläutern wir einige Begriffe, die für das weitere Buch grundlegend sind. Um eine Erleichterung für den Leser zu schaffen, wurden dabei einige Begriffe stark vereinfacht und zusammengeführt. Wir weisen jedoch darauf hin, dass bei anderen Autoren und in anderen Zusammenhängen andere/weitere Begriffe verwendet werden. z Gesundheitsstärkendes sportliches Training
Körperliche Aktivität meint „jede durch die Skelettmuskulatur ausgelöste Bewegung, die den Energieverbrauch über den Ruheumsatz
1
Regelbehandlung sieht für stationär psychiatrische Patienten 28 Minuten Bewegungstherapie pro Woche vor, für Patienten der Gerontopsychiatrie und für Patienten mit Abhängigkeiten 35 Minuten pro Woche. Das Zwei- bis Vierfache steht für ergotherapeutische Maßnahmen zur Verfügung. Neuere Forschungen zeigen jedoch deutlich, dass die Ausübung sportlicher Aktivitäten auf psychisch kranke Menschen positive Auswirkungen hat. Hierzu gehören, neben einer Vielzahl positiver metabolischer Effekte durch körperliche Aktivität, z. B. auch direkte Effekte auf die Symptome sowie auf die Lebensqualität der Patienten (für eine Zusammenstellung der Forschungsbefunde s. 7 Kap. 2). Gerade unter diesen Gesichtspunkten spielen die Forschung und damit meist auch sporttherapeutische, stationär sowie ambulant angebotene Interventionsprogramme eine wichtige Rolle für die Zukunft. Obwohl sportliche Aktivität in unserer Gesellschaft einen immer höheren Stellenwert einnimmt und die Bedeutung sportlicher Aktivität für Gesundheitsförderung erkannt worden ist, hat die sporttherapeutische Versorgung in psychiatrischen Kliniken noch immer keinen bedeutenden Stellenwert (Müller-Lütken 1989; zit. nach Längle et al. 2000).
anhebt“ (Thiel et al. 2011, S. 12). Diese Art der physikalischen Arbeit größerer Muskelgruppen kann verschiedene Formen annehmen, z. B. Alltags- und Freizeitaktivitäten (z. B. Spazierengehen, Fahrradfahren, Gartenarbeit, Putzen), berufliche Aktivitäten (z. B. Treppensteigen, Gehen, Heben und Transportieren von Gegenständen) oder sportliche Aktivitäten. Bei sportlichen Aktivitäten handelt es sich um strukturierte körperliche Aktivitäten, die häufig mit einer höheren Intensität durchgeführt werden, und die typische, historisch-kulturell definierte Bewegungsinszenierungen des Sports übernehmen. Diese Bewegungsinszenie rungen betreffen – zumindest in einem tradi-
6
1
V. Oertel et al.
tionellen Verständnis von Sport – die Standardisierung der Bewegungsräume (Sporthalle, Sportplätze etc.) und des Regelwerkes sowie die Wettkampforientierung (Sieg bzw. Rekord) (Fuchs u. Schlicht 2012). Sportliches Training bezeichnet die freiwilligen und systematischen Wiederholungen von Bewegungen, die planvoll definierte Ziele verfolgen, z. B. die Aufrechterhaltung oder Verbesserung der körperlichen Fitness, der Gesundheit oder der sportlichen Leistungsfähigkeit. Beim gesundheitsstärkenden sportlichen Training steht nicht der Wettkampf im Vordergrund, sondern die Stärkung von Gesundheitsfaktoren, nämlich die körperlichen Fitnessfaktoren (Ausdauer, Kraft, Beweglichkeit, Koordination, Entspannungsfähigkeit) und die psychosozialen Gesundheitsfaktoren (Stimmung, soziale Einbindung, Selbstwirksamkeit) sowie die längerfristige Bindung an sportliche Aktivität (Brehm et al. 2013). Brehm et al. (2013) unterscheiden beim gesundheitsstärkenden sportlichen Training den Fitnesssport, den Gesundheitssport und den Rehabilitationssport. Beim Fitnesssport steht die systematische Verbesserung der physischen Aspekte im Vordergrund, die beiden Aspekte Gesundheit und Rehabilitation werden hier weniger systematisch verfolgt. Beim Gesundheitssport werden im Idealfall die drei oben genannten Ziele explizit und systematisch in den Blick genommen. Zudem werden auch die Bewegungsverhältnisse berücksichtigt und kontinuierlich verbessert (z. B. durch Programmentwicklung, -standardisierung und -evaluation, Verbesserung der Infrastruktur). Der Gesundheitssport ist eher präventiv ausgerichtet, überschneidet sich aber gerade in der Sekundärprävention und der Einbeziehung spezifischer Zielgruppen (z. B. Personen mit Rückenschmerzen oder Adipositas) mit dem Rehabilitationssport. Der Rehabilitationssport verfolgt die gleichen Ziele wie der Gesundheitssport, allerdings mit der Ausrichtung auf spezielle „Klassen“ von Behinderungen und Schädi-
gungen, darüber hinaus aber auch auf die „Wiederherstellung der grundlegenden physischen und psychosozialen Ressourcen“ (Brehm et al. 2013, S. 1388) sowie auf die Verminderung der mit der Behinderung oder Schädigung zusammenhängenden gesundheitlichen Probleme. In diesem Kontext ist auch die Sporttherapie anzusiedeln: „Die Sporttherapie ist eine bewegungstherapeutische Maßnahme, die mit geeigneten Mitteln des Sports gestörte körperliche, psychische und soziale Funktionen kompensiert, regeneriert, Sekundärschäden vorbeugt und gesundheitsorientiertes Verhalten fördert. Sie beruht auf biologischen Gesetzmäßigkeiten und bezieht besonders Elemente pädagogischer, psychologischer und sozialtherapeutischer Verfahren ein und versucht, eine überdauernde Gesundheitskompetenz zu erzielen“ (Schüle u. Deimel 1990; zit. nach Schüle u. Huber 2012; 7 www. dvgs.de). Im Rahmen der Ausführungen zum Rehabilitationssport bzw. zur Sporttherapie wird deutlich, dass eine ausschließlich somatische bzw. „OrganOrientierung“ zu kurz greift (Schüle u. Huber 2012). Mit Bezug zur ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) der WHO (WHO 2001) wird hervorgehoben, dass die Aktivitäten einer Person und die Partizipation (Teilhabe) an Lebensbereichen zentrale Ziele der Rehabilitation darstellen (Baldus et al. 2012). Deshalb wird auch eine stärkere Orientierung an der Art und am Ausmaß der Auswirkungen von Störungen oder Gesundheitsproblemen auf die funktionale Gesundheit gefordert, wie sie mit der ICF vorliegt. Das hier vorgestellte Trainingsprogramm versteht sich im Verbund mit den therapeutischen Maßnahmen und der medizinischen Rehabilitation als Grundlage für ein rehabilitativ ausgerichtetes sportliches Training. Über die Verbesserung der physikalischen Fitness hinaus können auch die psychosozialen Gesundheitsfaktoren, die
7 Ein Buch aus der Praxis für die Praxis
Bindung an sportliche Aktivität sowie spezifische therapeutische Ziele verfolgt werden, dies je nach Qualifikation der Bewegungsfachkraft bzw. des Übungsleiters. >>Unter den Begriff des Sporttrainings, wie er im vorliegenden Buch verwendet wird, fallen Maßnahmen, die bei anderen Autoren u. a. als Bewegungstherapie, Sporttherapie oder Körpertherapie definiert sind.
z Bewegungs- bzw. körperorientierte Therapieverfahren
Der Bereich der bewegungs- bzw. körperorientierten Therapieverfahren ist mittlerweile durch eine große Vielfalt von recht unterschiedlichen Interventionsstrategien gekennzeichnet wie z. B. die analytische Körpertherapie, die Bioenergetik, die integrative Leib- und Bewegungstherapie, die Tanztherapie oder die konzentrative Bewegungstherapie, um nur einige zu nennen. Laut Hölter (2011) sollte die Kombination aus einer autonomen Methodik und einer therapeutischen Methodik die Grundlage der klinischen Bewegungstherapie darstellen. Als autonome Methodik wird „eine optimale sachgerechte Vermittlung vordefinierter sportlicher Bewegungsformen“ verstanden. Hinzu kommen jedoch auch im sportlichen Bereich Variablen der Emotionalität, soziale und motivationale Aspekte, die vor allem bei der Arbeit mit psychisch kranken Personen einen größeren Stellenwert einnehmen. Je nach Zielgruppe, Rahmenbedingungen und Zielklärung können in der klinischen Bewegungstherapie die Elemente des Trainings adaptiert, modifiziert und transformiert werden (Hölter 2011) – vor allem im Hinblick auf die therapeutische Methodik. Therapeutische Elemente können einerseits „systembezogen und verhaltensorientiert“ (d. h., zur direkten Bewältigung des Problems/der Symptomatik) oder andererseits auch „personen-
1
bezogen und einsichtsorientiert“ (d. h., Nutzen der symbolischen Funktion von Bewegung/kognitiv-affektiv, s. Hölter 2011) eingesetzt werden. Deimel und Hölter (2011) unterscheiden zwischen bewegungstherapeutischen Interventionen, die Körper- und Bewegungserfahrung mit mittlerer aerober Aktivierung in den Mittelpunkt stellen, und aeroben Aktivierungsprogrammen, die soziale und qualitative Bewegungsaspekte vernachlässigen. Man muss ferner zwischen einer allgemeinen körperlichen Aktivität (und der Menge an Bewegung) und einem genau definierten Trainingsprogramm im Rahmen einer klinischen Interventionsstudie oder im Rahmen eines Therapieprogramms in einer psychiatrischen oder psychosomatischen Klinik differenzieren. Im Rahmen aerober Trainingsprogramme variiert zudem die Trainingsart, d. h., es werden Trainingseinheiten mit Kraft-, Ausdauer- und Koordinationselementen sowie Laufbandoder Ergometertraining, Schwimmen, Laufen/Joggen/Walken oder Gymnastik-Interventionen eingesetzt. z Bewegungsfachkräfte
Sportliches Training im klinischen Kontext wird idealerweise von gut ausgebildeten und mit der Zielgruppe und dem Setting vertrauten Sport- und Bewegungstherapeuten durchgeführt. Hierbei spielen kompetente Physiotherapeuten, Sportwissenschaftler oder Sport- und Gymnastiklehrer mit fachspezifischen Zusatzausbildungen eine große Rolle, wodurch das Spektrum der Therapie an Qualität und Vielfalt gewinnt. Allerdings wird diese Aufgabe – wenn überhaupt angeboten – in psychiatrischen Einrichtungen häufig von Bewegungsfachkräften ohne fachspezifische Zusatzausbildung durchgeführt, manchmal auch von sport- und bewegungsaffinen Spezialtherapeuten (z. B. Ergotherapeuten, Krankenpflegern). In diesem Buch wird ganz allgemein von Übungsleitern gesprochen.
8
1
V. Oertel et al.
z Psychische Störungen
Weiterhin werden im vorliegenden Buch unterschiedliche psychiatrische und psychosomatische Erkrankungsbilder entweder unter dem Begriff „psychische Störungen“ zusammengefasst oder einzeln als psychiatrische bzw. psychosomatische Störung vorgestellt. Psychiatrische Behandlungseinrichtungen richten ihren Fokus auf die Behandlung akuter Symptome psychischer Störungen und sind in Deutschland meist verhaltenstherapeutisch orientiert. Psychosomatische Behandlungskonzepte sind dagegen vorwiegend tiefenpsychologisch oder psychodynamisch ausgerichtet. Im Allgemeinen wird die Indikation für eine psychiatrische oder psychosomatische Behandlung nach Vorliegen des individuellen Syndroms gestellt; dennoch behandeln psychosomatische Behandlungseinrich tungen zumeist Persönlichkeitsstörungen, Angststörungen, Essstörungen, somatoforme Störungen sowie Depressionen. In psychiatrischen Einrichtungen werden größtenteils akute Psychosen, akute affektive Erkrankungen, Abhängigkeitssyndrome und gerontopsychiatrische Erkrankungen behandelt. Generell kann aber – je nach Patient, aktueller Symptomatik und Ziel der Behandlung – jedes Störungsbild sowohl in der Psychiatrie als auch in der Psychosomatik behandelt werden. Daher unterteilen wir die Einteilung der Störungsbilder in den weiteren Kapiteln auch nicht nach psychiatrischen bzw. psychosomatischen Störungen, sondern beziehen uns sowohl im theoretischen als auch im praktischen Teil dieses Buches auf die in psychiatrischen oder psychosomatischen Einrichtungen gängigsten psychischen Störungen. Dazu gehören Schizophrenie, affektive Störungen, Abhängigkeitssyndrome, dementielle Erkrankungen, Angststörungen sowie Persönlichkeitsstörungen.
1.3
Gliederung des Buches
Das vorliegende Buch umfasst drei Bereiche: den theoretischen Bereich, den Anwendungsbereich sowie den Werkzeugkasten – Übungen zum Training. Im ersten Teil wird eine Einführung in wesentliche Aspekte des Sporttrainings in Psychiatrie und Psychosomatik gegeben. Weiterhin sollen Hinweise darauf geben werden, welche Effekte sportliche Interventionen bei der Zielgruppe haben. Erster Teil des Buches: Einleitung 55 7 Kap. 1: Ein Buch aus der Praxis für die Praxis 55 7 Kap. 2: Effekte von Sporttraining bei psychischen Störungen
Der zweite Teil vermittelt einen Überblick über psychiatrisches und psychosomatisches Störungswissen. Zeiter Teil: Psychiatrisches und psychosomatisches Hintergrundwissen 55 7 Kap. 3: Klassifikation und Ätiologie psychischer Störungen 55 7 Kap. 4: Symptomkategorien psychischer Störungen 55 7 Kap. 5: Psychische Störungen 55 7 Kap. 6: Psychopharmakotherapie
Der dritte Teil vermittelt sportwissenschaftliches Hintergrundwissen und bietet Informationen zur Trainingssteuerung und Evaluation. 7 Kap. 8 beinhaltet dabei Aspekte der gezielten Trainingssteuerung. Dazu gehören Informationen zur Vor- und Nachbereitung sowie zur Durchführung des Trainings. Damit schließt der Theorieteil des Buches ab.
9 Ein Buch aus der Praxis für die Praxis
Dritter Teil: Sportwissenschaftliches Hintergrundwissen 55 7 Kap. 7: Sportwissenschaftliche Grundlagen 55 7 Kap. 8: Trainingssteuerung
Der vierte Teil beinhaltet verschiedene Kapitel, die für die praktische Umsetzung von Sporttraining in Psychiatrie und Psychosomatik relevant sind. Dabei wird zunächst eine Übersicht über anwendungsbezogene Aspekte von Sporttraining in der Psychiatrie und Psychosomatik gegeben. Im Anschluss werden themenbezogen Aspekte der Trainingsorganisation und -durchführung sowie körperliche und psychische Einflussfaktoren auf das Gelingen von Sporttraining mit der Zielgruppe erläutert. Enthalten ist im Anwendungsteil auch ein Kapitel über ernährungsphysiologische Aspekte, die bei Patienten mit psychischen Störungen – oft aufgrund der Psychopharmakotherapie – beachtet werden müssen; dieses Kapitel beinhaltet auch einen beispielhaften Ernährungsplan, der die sportlichen Maßnahmen ergänzt. Jedes der Anwendungskapitel beinhaltet einen Teil zu störungsspezifischen Aspekten – bezogen auf die wichtigsten psychischen Störungen. Neben Informationen aus der Fachliteratur gibt Teil IV auch Erfahrungen wieder, die die Autoren dieses Buches bei der Anwendung von sportlichem Training mit der Zielgruppe gemacht haben. Vierter Teil: Anwendung von Sporttraining in Psychiatrie und Psychosomatik 55 7 Kap. 9: Übersicht über anwendungsbezogene Aspekte von Sporttraining bei psychischen Störungen 55 7 Kap. 10: Körperliche Aspekte von Sporttraining bei psychischen Stö rungen
1
55 7 Kap. 11: Psychische Aspekte von Sporttraining bei psychischen Stö rungen 55 7 Kap. 12: Ernährungsaspekte von Sporttraining bei psychischen Stö rungen
Der Schwerpunkt dieses Buches liegt neben theoretischen Hintergrundinformationen auf der praktischen Umsetzung der sportlichen Intervention. Dazu wurde ein Werkzeugkasten erstellt, der alle nötigen Anweisungen für Übungsleiter enthält. Der Werkzeugkasten ist ein Katalog möglicher Übungen, die intensiv mit psychiatrischen und psychosomatischen Patienten getestet wurden. Fünfter Teil: Praxisteil 55 7 Kap. 13: Werkzeugkasten
Wie bei einem Handwerker, der einen Werkzeugkasten besitzt, um all seine Werkzeuge möglichst kompakt an jeden Ort mittragen zu können und schnellstmöglich zur Hand zu haben, findet sich in unserem Werkzeugkasten (7 Kap. 13) eine Sammlung an Übungen, die wir für das sportliche Training bei psychiatrischen und psychosomatischen Patienten für geeignet halten. Er soll als übersichtliche und praktische Unterstützung der Übungsleiter während der Durchführung des Trainings dienen. Dabei beinhaltet der Werkzeugkasten Bausteine für die Durchführung verschiedener Organisationsformen. Er bietet z. B. die Möglichkeit für die Durchführung eines Zirkeltrainings sowie eines Aerobic- Trainings. Weitere Organisationsformen können je nach Zielsetzung (wie z. B. Mobilisation, Koordination, Ausdauer, Kräftigung, Flexibilität) zusammengestellt werden. Der Inhalt des Werkzeugkastens soll ausreichen, um einzelne Sporttrainings
10
1
V. Oertel et al.
einheiten in Psychiatrie und Psychosomatik durchführen zu können. Dabei können diese Sitzungen durch den Aufbau und die Struktur des Werkzeugkastens variabel gestaltet werden, um situationsbedingte Anpassungen vorzunehmen sowie neue Inhalte einzufügen. Die Übungen sind im Werkzeugkasten u. a. mit Ausführungsbeschreibungen, Variationsmöglichkeiten und Zielsetzung aufgelistet. Die Grundschritte sowie Kombinationen der Aerobic-Einheiten sind mit kurzen Videosequenzen dokumentiert, die der Übungsleiter dann zu den Choreographien zusammenstellen kann. Zum Werkzeugkasten gehören außerdem Stationskarten für die Zirkeleinheiten. Gehen Sie dazu auf 7 https://link.springer. com und geben Sie im Suchfeld die ISBN 978-3-662-67879-4 ein.
Zusammenfassung Beim Sport in der Psychiatrie und Psychosomatik gab es in den letzten 30 Jahren tiefgreifende Veränderungen. Forschungsbefunde zu positiven Effekten auf Physis und Psyche stellen sich vielversprechend dar. Dennoch spielt die gezielte sportliche Aktivität als Behandlungselement in der Versorgung psychischer Störungen bisher nur eine nebensächliche Rolle. Das Buch soll anregen, sportliche Aktivität in Behandlungspläne von Patienten mit psychischen Störungen zu integrieren. Dafür bietet das Buch neben theoretischem Hintergrundwissen auch einen großen Anwendungsteil für Übungsleiter.
Literatur Baldus A, Huber G, Pfeiffer K, Schüle K (2012) ICF- Orientierung in der Sport- und Bewegungstherapie: Neue Versorgungspfade für die Rehabilitation. Bewegungstherapie und Gesundheitssport 28:85–89 Brehm W, Bös K, Graf C, Hartmann H, Pahmeier I, Pfeifer K, Rütten A, Sygusch R, Tiemann M, Tittlbach S, Vogt L, Wagner P (2013) Sport als Mittel in Prävention, Rehabilitation und Gesundheitsförderung – Eine Expertise. Bundesgesundheitsblatt 56:1385–1389 Fuchs R, Schlicht W (2012) Seelische Gesundheit und sportliche Aktivität. Zum Stand der Forschung. In: Fuchs R, Schlicht W (Hrsg) Seelische Gesundheit und sportliche Aktivität. Hogrefe, Göttingen Haltenhof H, Brack M (2004) Therapie psychischer Störungen durch Bewegungstherapie. Physikalische Medizin, Rehabilitationsmedizin, Kurortmedizin 14 (4):200–206 Herrmann-Lingen C, Meinertz T (2010) Psychosomatik der koronaren Herzkrankheit. Internist 51:826–835 Hölter G (2011) Bewegungstherapie bei psychischen Erkrankungen. Deutscher Ärzte Verlag, Köln Hünnekens H, Kiphard EJ (1960) Bewegung heilt. Psychomotorische Übungsbehandlung bei entwicklungsrückständigen Kindern. Flöttmann, Gütersloh Jenjahn O (2008) Sportangebot für psychisch Kranke. Ostseezeitung:18 Längle G (2004) Sport. In: Rössler W (Hrsg) Psychiatrische Rehabilitation. Springer, Berlin Heidelberg, S 791–796 Längle G, Buchkremer G (1997) Veränderungen im stationären und ambulanten Leistungsgeschehen: Psychiatrie. Krankenhaus Report. Fischer, Stuttgart Längle G, Siemßen G, Hornberger S (2000) Die Rolle des Sports in der Behandlung und Rehabilitation schizophrener Patienten. Rehabilitation 39:276–282 Müller-Lütken VD (1989) Derzeitiger Ist-Zustand der Sport- und Bewegungstherapie in psychiatrischen Kliniken der Bundesrepublik. Sporttherapie in Theorie und Praxis:8–9
11 Ein Buch aus der Praxis für die Praxis
(NVL Unipolare Depression, Version 3.1, 2022). Version 3.1. AWMF-Register-Nr. nvl-005 Rieder H (1996) Einführende Darstellung: Historische Entwicklung und Kapitelfolge. In: Rieder H, Huber G, Werle J (Hrsg) Sport mit Sondergruppen. Ein Handbuch. Beiträge zur Lehre und Forschung im Sport. Karl Hofmann, Schorndorf Schüle K, Deimel H (1990) Gesundheitssport und Sporttherapie – eine begriffliche Klärung. Gesundheitssport und Sporttherapie 1,6,3 Schüle K, Huber G (2012) Grundlagen der Sport- und Bewegungstherapie. Prävention, ambulante und
1
stationäre Rehabilitation, 3. Aufl. Deutscher Ärzte Verlag, Köln Thiel C, Vogt L, Banzer W (2011) Bewegung – vielseitige Medizin, die wirkt: Dosierte körperliche Aktivität bei chronischen Erkrankungen steigert Gesundheit und Lebensqualität. Forschung Frankfurt 29(2):12–19 WHO (2001) ICF. International Classification of Functioning, Disability and Health. World Health Organization, Geneva
13
Effekte von Sporttraining bei psychischen Störungen Viola Oertel, Pia Mehler und Frank Hänsel
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 V. Oertel, F. Hänsel (Hrsg.), Aktiv für die Psyche, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67880-0_2
2
14
V. Oertel et al.
nnLernziele 55 Kennenlernen der wichtigsten Forschungsbefunde zu Effekten von Sporttraining in Psychiatrie und Psychosomatik 55 Kennen methodischer Schwierigkeiten bei der Durchführung von Forschungsstudien zu Sportinterventionen in Psychiatrie und Psychosomatik
2
2.1
Einführung
Die systematische wissenschaftliche Erfassung möglicher Wirkmechanismen von sportlichem Training und von dessen Effekten auf die spezifischen störungsspezifischen Symptome bei psychischen Störungen erfolgt seit einigen Jahren vermehrt. Allerdings existieren relativ wenige Studien nach RCT-Standard (=randomisiert kontrollierte Studien), und insgesamt ist die Evidenzlage an vielen Stellen noch nicht ausreichend. In den folgenden 7 Abschn. 2.2 bis 7 Abschn. 2.8 werden, bezogen auf einzelne psychische Störungen, für den interessierten Leser Studien exemplarisch vorgestellt, wichtige Befunde berichtet, und eine Bewertung des aktuellen Forschungsstandes wird vorgenommen. In der Darstellung werden die Effekte von Sporttraining der Einfachheit halber in zwei Bereiche unterteilt: in psychologische und in biologische Effekte. Bei einigen Störungsbildern wird auf eine ausführliche Darstellung der Befunde verzichtet; dazu zählt die bipolare Störung, alle Persönlichkeitsstörung außer der Borderline-Störung sowie die Abhängigkeit von Drogen und Beruhigungsmitteln. Bei diesen Störungsbildern ist die Anzahl an Studien gering, oder die Studien sind zu wenig nach aktuellen Qualitätsstandards evaluiert.
Das Kapitel wird ergänzt durch eine kritische Auseinandersetzung mit den verschiedenen methodischen Probleme bisheriger Studien (7 Abschn. 2.9) (Hölter 2011; Schüle u. Deimel 1990; Schüle u. Huber 2012; Hänsel 2007). Zu den biologischen Effekten von Sporttraining zählen beispielsweise 55 kardiovaskuläre, 55 immunologische, 55 metabolische, 55 neurobiologische sowie 55 hirnphysiologische Veränderungen.
Psychologische Effekte von Sporttraining beinhalten beispielsweise 55 eine Reduktion der Symptomatik (Psychopathologie), 55 veränderte Persönlichkeitsvariablen (Selbstwert, Selbstwirksamkeit, Kontroll orientierung), 55 verbesserte Stressmanagement-Fähig keiten, 55 ein verbessertes subjektives Wohlbefinden sowie 55 verbesserte soziale Fähigkeiten.
Außerdem werden positive Auswirkungen auf die kognitive Leistungsfähigkeit sowie auf psychosoziale Aspekte beschrieben. Sexton et al. (1989) beobachteten, dass bewegungstherapeutische Maßnahmen gegenüber anderen Therapieoptionen (Psychotherapie, Pharmakotherapie) von Patienten subjektiv häufig als hilfreicher eingeschätzt werden. Broocks u. Sommer teilten in einer Studie von 2005 die Evidenzlage bezüglich sporttherapeutischer Maßnahmen in der Behandlung psychischer Erkrankungen wie folgt ein: erste empirische Belege aufgrund von Kasuistiken oder offener Studien (Suchterkrankungen), neben Kasuistiken und offenen Studien mindestens eine randomisierte kontrollierte Studie (Angst-
2
15 Effekte von Sporttraining bei psychischen Störungen
störungen, Demenzen) sowie gute empirische Absicherung (depressive Störungen). Für einen schnellen Überblick eignen sich . Abb. 2.1 zu den allgemeinen biologischen und psychologischen Effekten von
sportlichem Training, . Tab. 2.1 zu den positiven Effekten von Sporttraining bei unterschiedlichen Störungsbildern sowie die Zusammenfassung am Ende von 7 Abschn. 2.8.
.. Abb. 2.1 Biologische und psychologische Effekte dothelial Growth Factor; MAP = Mitogen-activated von Sporttraining im Überblick. BDNF = Brain- protein; ERK = extracellular signal-regulated protein derived neurotrophic factor; VEGF = Vascular En- kinase; IGF-1 = Insulin-like growth factor 1
.. Tab. 2.1 Exemplarische Übersicht über Variablen, für die positive Effekte von Sporttraining bei psychischen Störungen gefunden werden Variable
Biologische Effekte
Psychologische Effekte
Schizophrenie
Körperliche Fitness Übergewicht Taillenumfang Stoffwechselprozesse Kardiovaskuläre Risikofaktoren Hippokampusvolumen
Gesamtsymptomstärke Negativsymptome (z. B. Antrieb) Positivsymptome Subjektives Wohlbefinden Emotionales Stresserleben Kurzzeitgedächtnis Reaktionsgeschwindigkeit Verbales Gedächtnis Psychosoziales Funktionsniveau Emotionale Defizite Sozialverhalten/soziales Interesse Subjektive Lebensqualität Motivation (Fortsetzung)
16
V. Oertel et al.
.. Tab. 2.1 (Fortsetzung)
2
Variable
Biologische Effekte
Psychologische Effekte
Affektive Störungen (Depression)
Körperliche Fitness Chronische Inflammation
Depressive Symptome Internale Kontrollüberzeugung Aufmerksamkeit Exekutive Funktionen Gesundheitsgefühl
Abhängigkeitssyndrom(Alkohol)
Körperliche Fitness Blutdruck Übergewicht
Körperzufriedenheit Selbstwert Angst Depressivität Neurotizismus Selbstwertgefühl/Selbstkontrollüberzeugung/ Selbständigkeit Handlungs-bzw. Lageorientierung Craving Gefühl der Integration in Gemeinschafts-aktivitäten
Demenzen
Plaque-Ablagerung Amyloid-Beta-Peptide NT-3 BDNF
Depressive Symptome Visuelles Gedächtnis Arbeitsgedächtnis Exekutive Funktionen Multitasking Fähigkeiten Kognitive Flexibilität Informationsverarbeitung
Angststörungen
Körperliche Fitness
Angstsymptome
Essstörungen
Knochendichte Untergewicht (Aufbau von Muskelmasse bei weniger Fettanteil) Körperliche Fitness (insbesondere Ausdauerleistung)
Depressive Symptome Einstellung/Zufriedenheit bez. Körper Körperbild Heißhungeranfälle Soziale Unsicherheit Ängstlichkeit Depressive Symptome Lebensqualität Compliance Soziale Beziehungen Annehmen von Hilfe
Persönlichkeitsstörungen
--
Subjektiv wirksam
BDNF = Brain Derived Neurotrophic Factor, NT-3 = neurotrophin-3
2.2
Schizophrenie
Patienten mit Schizophrenie üben weniger sportliche Aktivitäten aus als viele andere Personen. Daraus resultieren eine relativ schlechte körperliche Fitness und zahlreiche
somatischen Begleiterkrankungen, die bei der Schizophrenie häufig zu beobachten sind. Befunde zur Verbesserung körperlicher Einschränkungen haben demzufolge für die Lebensqualität der Betroffenen besondere Bedeutung.
17 Effekte von Sporttraining bei psychischen Störungen
Insgesamt ist die Anzahl der Studien zu positiven Effekten von Sporttraining für die Schizophrenie gering, und die bisherigen Studien sind so heterogen, was z. B. die Einschlusskriterien für Patienten betrifft, dass man nur vorsichtige Rückschlüsse ziehen sollte. Auch neurobiologische Effekte von Sport (z. B. auf das zentrale Nervensystem) sind nur teilweise untersucht (Roeh u. Hasan 2021). Hinweise auf eine Vergrößerung des Hirnvolumens in Strukturen, die für Gedächtnisprozesse mit verantwortlich sind, könnten von besonderer Bedeutung sein. >>Regelmäßiges Sporttraining scheint bei schizophrenen Patienten zu einer Verminderung der Negativsymptomatik, wie Antriebslosigkeit, I nteressenlosigkeit und fehlende Motivation, zu führen. Ferner bewirkt regelmäßiges Sporttraining bei der Schizophrenie offenbar eine Reduktion von Übergewicht, eine Verbesserung der körperlichen Fitness sowie eine Verminderung kardiovaskulärer Risikofaktoren. Eventuell könnte sportliches Training auch präventiv wirken.
Bei der Beurteilung der bisherigen und zukünftigen Forschungsergebnisse sollte mit erfasst werden, in welcher Phase – akut oder remittiert – sich die Patienten befinden. Ferner erscheint es sinnvoll, nicht global Veränderungen in der Positiv-, Negativ- oder Gesamtsymptomatik zu untersuchen, sondern die Wirkung von sportlichem Training auf spezifische Symptome gezielt zu betrachten. Roeh u. Hasan (2021) zeigen in ihrer Übersichtsarbeit, dass sich bisherige positive Erkenntnisse insbesondere auf aerobes Training, Krafttraining und zum Teil Yoga-Interventionen stützen. 2.2.1
Psychologische Effekte
Anders als bei unipolaren Depressionen, bei denen die Antriebssteigerung in akuten Pha-
2
sen eine der Hauptstrategien in der psychotherapeutischen Behandlung darstellt, wird eine Antriebssteigerung bei der Schizophrenie nur in bestimmten Phasen empfohlen. In einer akuten psychotischen Krankheitsphase neigen schizophrene Patienten zur Unruhe, gehen viel auf und ab und können nicht stillsitzen. Eine Steigerung der Bewegung erscheint hier weniger sinnvoll. Sporttraining sollte in dieser Phase eher auf eine Reduktion von Unruhe und Anspannung ausgerichtet sein. Zwei Berichte konnten einen Rückgang in der Schwere der Positivsymptomatik nach einer Sportintervention bestätigen (Acil et al. 2008; Beebe et al. 2005). Die Studienergebnisse wurden jedoch nicht gezielt nach Effekten auf einzelne Symptome unterteilt, sondern es wurden nur global alle positiven Symptome zusammengefasst. Einen interessanten Ansatz berichten Stubbs und Kollegen: das Vorhandensein und die Schwere von psychotischen Symptomen scheint mit dem Ausmaß an körperlicher Aktivität invers zu korrelieren (Stubbs et al. 2017). Dagegen leiden schizophrene Patienten in Phasen der Negativsymptomatik unter Antriebsverlust, Energieverlust und einer fehlenden Tagesstrukturierung. In diesen Phasen erscheint eine Antriebssteigerung durch Sport durchaus empfehlenswert. Dementsprechend zeigen sich positive Befunde als Folge von Sport bei schizophrenen Patienten insbesondere im Bereich der Negativsymptome (Acil et al. 2008; Behere et al. 2011; Duraiswamy et al. 2007; Beebe et al. 2005; Röhricht u. Priebe 2000; Takahashi et al. 2012; Pelham u. Campagna 1991). Zusätzlich wurde eine Steigerung des psychosozialen Funktionsniveaus, der subjektiv eingeschätzten Lebensqualität, eine Verminderung der sozialen Isolation sowie eine Verbesserung des motorischen und emotionalen Sozialverhaltens bzw. des emotionalen Kontakts beobachtet (vgl. z. B. Acil et al. 2008; Gorczynski u. Faulkner 2010; Beebe et al. 2005; Pelham u. Campagna 1991; Goertzel et al. 1965; Deimel 1980). Pa-
18
2
V. Oertel et al.
tienten berichten außerdem, dass sie sich nach dem Sport „entspannter, sorgenfreier und gesünder“ fühlen (Acil et al. 2008). Obwohl kognitive Störungen zu den Kernsymptomen der Schizophrenie gehören, gibt es bisher nur einige wenige Studien (Firth et al. 2017; Oertel-Knöchel et al. 2014; Zwick et al. 2010; Draganski et al. 2004; Fabel u. Kempermann 2008; Van Praag H. et al. 1999; Nitsun et al. 1974; Cotman u. Berchtold 2002), die zudem methodische Probleme aufweisen – wie z. B. kleine Stichprobenzahlen, Messung unterschiedlicher kognitiver Bereiche sowie eine fehlende Erfassung des Schwergrads der positiven und negativen Symptome. Aufgrund recht viel versprechender Ergebnisse sowie aufgrund der Wichtigkeit der Entwicklung von Strategien zur Verbesserung kognitiver Defizite erscheint es lohnenswert, mögliche Effekte von sportlichem Training auf die kognitive Leistungsfähigkeit bei der Schizophrenie eingehender zu untersuchen. 2.2.2
Biologische Effekte
Besondere Bedeutung haben Befunde, die zeigen, dass sich Sporttraining (bei ausreichender Frequenz, Zeitdauer und Intensität) bei schizophrenen Patienten positiv auf die körperliche Fitness auswirkt. Studien zeigen zudem eine Gewichtsreduktion um bis zu 5 % sowie einen reduzierten Taillenumfang (Poulin et al. 2007). Diese Effekte stehen in Zusammenhang mit der Verbesserung der Stoffwechselwerte (z. B. des Fettstoffwechsels) (Convertino 2007; Weber-Hamann et al. 2006; Wu et al. 2008; Barnett et al. 2007) durch regelmäßiges Sporttraining bei der Schizophrenie. Zudem zeigen bisherige Befunde, dass Sport bei schizophrenen Patienten zu einer Verbesserung der physischen Leistungsfähigkeit und einer Reduktion kardiovaskulärer Risikofaktoren führt (siehe z. B. Pajonk et al. 2010; Fogarty u. Happell 2005; Heggelund et al. 2011; Strassnig et al.
2011). Ein direkter Zusammenhang zwischen körperlichen und psychischen Effekten wurde bisher nur von Heggelund et al. (2011) untersucht. Die bisherige Studienlage zeigt relativ vielversprechende Zeichen für eine Verbesserung des Hirnvolumens bei der Schizophrenie – insbesondere im Hippokampus– als Resultat körperlichen Trainings (Cotman u. Berchtold 2002; Draganski et al. 2004; Pereira et al. 2007; Falkai et al. 2013; Pajonk et al. 2010; Erickson et al. 2011). Dies ist insofern interessant und bedarf weiterer Forschung, als Schizophreniepatienten ein verkleinertes Hippokampusvolumen aufweisen, hier also pathologische Veränderungen ausgeglichen werden könnten. Zum anderen spielt der Hippokampus eine zentrale Rolle für Gedächtnisprozesse. Eine Modulierung der Hippokampusformation durch regelmäßigen Sport könnte folglich Gedächtnisdefiziten bei der Schizophrenie entgegenwirken. Ein weiterer Artikel gibt erste Hinweise auf eine Inhibition der linken Hemisphere nach Ergometer-Training bei Schizophrenie-Patienten (Svatkova et al. 2015). Firth et al. (2017) diskutieren eine vermehrte Ausschüttung von BDNF (brain derived neurotrophic factor) bei der Patientengruppe, die mit verbesserten kognitiven Fähigkeiten einhergehen könnte. 2.3
Affektive Störungen (Depression)
Am besten untersucht, validiert und repliziert ist eine Reduktion der Depressionswerte als therapeutischer Effekt von Sporttraining bei depressiven Patienten. So gibt es vermehrt Hinweise darauf, dass durch sportliche Betätigung eine positive Stimmung ausgebaut und das Energielevel erhöht wird. Die Evidenz ist jedoch eingeschränkt, da nur wenige Studien mit hohem methodischem Standard sowie klinisch relevanten und spezifischen Einschlusskriterien existieren.
19 Effekte von Sporttraining bei psychischen Störungen
Die Befunde zu möglichen psychosozialen Effekten oder Verbesserungen der Neurokognition sind gering und kaum erwähnenswert. Positive Effekte auf die Hirnphysiologie – gemessen mittels Elektroenzephalographie (EEG) – konnten bisher nicht gezeigt werden. 2.3.1
Psychologische Effekte
Eine elementare Strategie zur Therapie der Depression stellt im Bereich der klassischen Verhaltenstherapie nach Hautzinger (2003) der sog. Aktivitätenaufbau dar. Die empfohlene und vom Therapeuten zu unterstützende Aktivität soll dabei angenehm sein. Oft spielt sie sich im Bereich der Musik, der Kunst oder der Natur ab, fördert soziale Kontakte oder beinhaltet Bewegungselemente oder sportliche Aktivität. Dabei haben Bewegungselemente zwei hauptsächliche Funktionen: Ablenkung von Grübeleien und Abbau von Anspannung. Depressive Patienten berichten häufig, dass ihnen der Antrieb fehlt, Aktivitäten durchzuführen. Sie berichten aber andererseits nach durchgeführter Aktivität von einem Erfolgsgefühl. Patienten mit Depression zeigen also Schwierigkeiten, eigenständig (sportliche) Aktivitäten zu initiieren, profitieren jedoch im Nachhinein merklich davon. Es gibt zahlreiche Forschungsbefunde und darauf aufbauende Metaanalysen, die Wechselbeziehungen zwischen depressiven Symptomen und dem Bewegungsniveau belegen (s. z. B. Mead et al. 2009; Conn 2010; Krogh et al. 2011; Rethorst et al. 2009, Cochrane-Übersichtsarbeit (Cooney et al. 2013)). Dabei zeigt sich ein moderater antidepressiver Effekt: in einer Meta-Synthesis von Wegner et al. 2014, in der 32 Metaanalysen analysiert wurden, wird eine antidepressive Wirkung sportlichen Trainings mit einer mittleren Effektstärke von d = 0.56 berichtet.
2
Neben der beschriebenen mittleren Effektstärke von sportlichem Training ist die große Heterogenität der Ergebnisse jedoch bemerkenswert: Die Bandbreite reicht bei Personen mit einer klinischen Depression von einem nicht signifikanten moderaten Effekt bis hin zu einem signifikanten hohen Effekt. Diese Inkonsistenz der Effekte ist auf unterschiedliche methodische Standards und unterschiedliche Einschlusskriterien für depressive Störungen und sportliches Training zurückzuführen. So ist es beispielsweise wichtig, zwischen Effekten bei gesunden Personen zur Prävention depressiver Symptome und Effekten bei Patienten mit affektiver Störung zur Reduktion depressiver Symptome zu unterscheiden. Es mangelt zudem an kontrollierten Studien, die vergleichbare Interventionen mit zufriedenstellendem Qualitätsstandard durchgeführt haben. Darüber hinaus ist kritisch zu bewerten, dass unterschiedliche Messinstrumente zur Erfassung depressiver Symptomatik (z. B. Selbst- vs. Fremdbeurteilung) verwendet werden. Des Weiteren sind die Einschlusskriterien für depressive Störungen bei den meisten Studien wenig spezifisch und bzw. oder nicht ausschließlich klinisch orientiert. Cooney et al. (2013) berichteten, das zum Zeitpunkt der Erfassungen lediglich sechs Studien sehr hohe methodische Standards erfüllten. Eine Fragestellung soll betrachtet werden: Inwieweit können durch Sporttraining bei depressiven Patienten vergleichbare oder sogar bessere Effekte erzielt werden als mittels Einnahme von Antidepressiva? Die Beantwortung dieser Frage ist insofern bedeutsam, als sportliches Training auf den ersten Blick keine unangenehmen Nebenwirkungen wie die Psychopharmakotherapie aufweist und somit ggf. der antidepressiven Medikation vorzuziehen wäre. Einige Studien widmeten sich dieser Fragestellung (Blumenthal u. Ong 2009; Hoffman et al. 2008; Deslandes et al. 2010; Blumenthal et al. 2007; Babyak et al. 2000; Blumenthal
20
2
V. Oertel et al.
et al. 1999; Laurin et al. 2001). Besonders hervorzuheben sind die Arbeiten von Blumenthal und Kollegen, da sie methodisch gut durchdacht und jeweils mit einer relativ großen Stichprobe durchgeführt wurden. In einer Metaanalyse aus dem Jahr 2008 (Turner et al. 2008)sind bisherige Erkenntnisse dahingehend zusammengefasst, dass Sport bei leichten und mittelschweren depressiven Störungen tatsächlich ähnlich wirksam sein kann wie Pharmakotherapie. Es zeigte sich, dass Sport zu Beginn einer Intervention im Vergleich zur antidepressiven Medikation sogar zu besseren Effekten führt und nach vier Monaten der sportlichen Intervention die Effekte auf die depressive Symptomatik vergleichbar mit denen von Antidepressiva sind (Blumenthal et al. 1999). >>Trotz guter Effekte von sportlichem Training– auch im Vergleich zu antidepressiver Medikation – kann man nur von einer Ergänzung herkömmlicher Therapiepläne sprechen. Zudem ist zu beachten, dass diese Therapieform aufgrund medizinischer Kontraindikationen nicht bei allen Patienten angewendet werden kann.
Sporttraining scheint sich bei depressiv Erkrankten im Bereich der kognitiven Leistung v. a. positiv auf die Aufmerksamkeitsleistung, die exekutiven Funktionen, d. h., auf die Bereiche, die das Denken und Handeln steuern, und das Gedächtnis auszuwirken (s. Kubesch et al. 2003; Vasques et al. 2011; Hoffman et al. 2008; Kucyi et al. 2010; Wolff et al. 2011; Oertel-Knöchel et al. 2014). Dabei konnte gezeigt werden, dass sich die Effekte mit steigender Trainingsintensivität verstärken (Singh et al. 2005). Wolff et al. (2011) vermuten, dass sportliche Interventionen einen mit kognitivem Training oder antidepressiver Medikation vergleichbaren Effekt haben könnten. Diese Ergebnisse beruhen jedoch auf Erstbefunden, die sich auf einzelne Bereiche der
Kognition beziehen, häufig mit einer kleinen Stichprobenzahl durchgeführt wurden, ohne berechnete Effektstärken, und manchmal auch nur recht kurze Interventionszeiträume (6 Wochen)beinhalteten (Oertel- Knöchel et al. 2014). 2.3.2
Biologische Effekte
Sport kann die körperliche Fitness bei depressiven Patienten verbessern (s. z. B.Babyak et al. 2000; Kerse et al. 2010; Heh et al. 2008; Blumenthal et al. 2007; Hoffman et al. 2008; Deslandes et al. 2010). Zusätzlich berichten Heh et al. (2008), dass Patienten ihre Gesundheit nach sportlichem Training als subjektiv besser beurteilten. Das könnte für andere Symptome der Depression wie den Verlust von Interesse und Energie sowie den reduzierten Selbstwert von Bedeutung sein und mit diesen Symptomen positiv interagieren. EEG-Studien mit depressiven Patienten zeigen keine (Deslandes et al. 2010) oder nur geringfügige EEG-Frequenz-Effekte (Silveira et al. 2010) nach mehrmonatigem sportlichen Training. Dies steht im Kontrast zu Studien, die bei Gesunden eine durch sportliches Training bewirkte Neubildung von Nervenzellen nachweisen konnten. Da einer solchen Neurogenese eine antidepressive Wirkung nachgesagt wird (Neumann u. Frasch 2007), könnte man vermuten, dass Sport gerade bei der Depression zu positiven Effekten führen müsste; diese Vermutung konnte jedoch noch nicht bestätigt werden. Dies könnte an der begrenzten Zahl an neurobiologischen Studien liegen. Zudem könnte die Beschränkung auf EEG-Studien statt volumetrischer oder funktioneller Kernspintomographie (MRT-Studien) zu mangelnden positiven Effekten führen. Bei Schizophreniepatienten gibt es einen vielversprechenden Befund zu Volumenvergrößerungen. Eine vergleichbare Untersuchung bei depressiven Patienten könnte neue Einsichten in mögliche Effekte von Sporttraining geben.
21 Effekte von Sporttraining bei psychischen Störungen
>>In Meta-Analysen und Übersichtsartikeln wird beschrieben, dass Ausdauertraining positive Effekte auf die depressive Symptomatik, die kardiorespiratorische Fitness und die Lebensqualität hat.
2.4
Abhängigkeitssyndrom
Bisherige Therapieangebote in Kliniken beschränken sich häufig auf den Aufbau von Freizeitaktivitäten zur Tagesstrukturierung, auf eine verbesserte Fitness oder Selbstkonzeptansätze (Hölter 2011). In der stationären Entwöhnungsbehandlung werden, anders als in Langzeiteinrichtungen, Sportund Bewegungsansätze empfohlen (s. Leitlinien der Deutschen Rentenversicherung) und nicht selten durchgeführt. Insgesamt spricht Hölter (2011) von 40 Studien, die insbesondere Probanden mit Alkohol, aber weniger mit weiteren Drogenabhängigkeiten und keine mit Medikamentenabhängigkeit untersuchten. >>Positive Effekte von Sporttraining auf den Selbstwert, die Körperzufriedenheit, Depressions- und Angstwerte bei Alkoholkranken konnten nachgewiesen werden. Bei Alkoholkranken zeigte sich zudem eine Verbesserung der körperlichen Fitness.
2.4.1
Psychologische Effekte
In den Bereichen Selbstwert, Körperzufriedenheit, Depression und Angst zeigen verschiedene Studien mit Alkoholkranken signifikante Verbesserungen, die auf ein sportliches Training zurückgeführt wurden (z. B. Donaghy 1997; Donaghy u. Mutrie 1991; Weber 1984; Palmer et al. 1988; Anstiss 2001; Deimel u. Rickert 1993; Ermalinski et al. 1997; Gary u. Guthrie 1972; Frankel u. Murphy 1974). Ebenso nannten verschiedene Autoren eine veränderte
2
Selbstkontrollüberzeugung, eine verbesserte Handlungsbzw. Lageorientierung (Stiensmeier-Pelster et al. 1989; Ermalinski et al. 1997) sowie eine Reduktion des Suchtdrucks (=Craving) als Effekte von Sporttraining (Scheid u. Simen 1996; Donaghy 1997; Seidel u. Wick 1997; Ussher et al. 2004). Bei alkoholabhängigen Patienten wurde über eine Verbesserung der Selbständigkeit, Unabhängigkeit sowie über ein Gefühl der Integration in Gemeinschaftsaktivitäten berichtet (Donaghy 1997). 2.4.2
Biologische Effekte
Vielversprechende, übereinstimmend positive Effekte bezüglich einer Verbesserung der Fitness bzw. der körperlichen Leistungsfähigkeit konnten bei Alkoholkranken durch regelmäßige sportliche Aktivität beobachtet werden; eine Verbesserung der Blutdruckwerte und des Übergewichts ließ sich ebenfalls nachweisen (z. B.Gary u. Guthrie 1972; Frankel u. Murphy 1974; Donaghy 19971; Palmer et al. 1988). Die positiven Effekte scheinen hierbei durch eine kurze Erkrankungsdauer, durch ein besseres körperliches Ausgangsniveau sowie durch einen mindestens 4- bis 6-wöchigen Interventionszeitraum bei einem Training von mindestens dreimal pro Woche begünstigt zu werden (Lehofer et al. 1995; Hölter 2011).
2.5
Demenzen
>>Sowohl in tierexperimentellen als auch in klinischen Studien wird dem Ausdauertraining ein präventiver und therapeuti-
1
Donaghy ME (1997) An Investigation into Effects of Exercise as an Adjunct to the Treatment and Rehabilition of the Problem Drinker. Unpublished doctoral dissertation, University of Glasgow, Glasgow
22
2
V. Oertel et al.
scher Effekt für die Alzheimer-Demenz zugeschrieben. Sporttraining scheint subjektive und objektive kognitive Einschränkungen zu reduzieren.
Außerdem kann durch Sporttraining potenziellen regionalen altersbedingten Hirnveränderungen entgegengewirkt werden. Ob die Verbesserung der Kognitionen und die Veränderung neurobiologischer Prozesse bei Patienten mit Demenz direkt miteinander zusammenhängen, muss jedoch noch geklärt werden. 2.5.1
Psychologische Effekte
Mahendra u. Arkin (2003) berichten von einer moderaten Reduzierung begleitender depressiver Symptome im Rahmen von Alzheimer-Erkrankungen als Folge regelmäßigen Sporttrainings. Allerdings betrug der Erhebungszeitraum zwei, drei oder vier Jahre; ein Sporttraining von derartigem Ausmaß ist in herkömmlichen Studien oder im Alltag eher schwer durchzuführen. Studien sowohl an Probanden mit subjektiver kognitiver Einschränkung (Mild Cognitive Impairment, MCI)als auch mit Alzheimer-Demenz konnten zeigen, dass körperliche Aktivität sowohl bei der Prävention kognitiver Leistungseinbußen (Lautenschlager et al. 2008) als auch bei der Behandlung bereits manifestierter kognitiver Störungen wirksam sein kann (Eggermont et al. 2006; Larson et al. 2006; Rovio et al. 2005; Yoshitake et al. 1995; Heyn et al. 2004). Dabei scheint Sport insbesondere auf die Bereiche Arbeitsgedächtnis, exekutive Kontrollprozesse, Multitasking sowie auf kognitive Flexibilität und Informationsverarbeitung einen positiven Einfluss zu haben. 2.5.2
Biologische Effekte
Honea et al. (2009) berichten von einer positiven Beeinflussung regionaler alters-
bedingter Hirnveränderungen bei nicht- dementen älteren Probanden durch Sport. Hollmann u. Strüder (2009) zeigten, dass sportlich trainierte Probanden mit einem Altersdurchschnitt von 70 Jahren im Vergleich zu einer soziodemographisch parallelisierten Kontrollgruppe bei einer semantischen Lernaufgabe die mit diesem Bereich assoziierten Hirnregionen weniger stark beanspruchten. Burns et al. (2008)gehen von einer engen Verbindung zwischen erhöhter körperlicher Fitness und reduzierter Hirnatrophie (Gehirnschwund) bei der Alzheimer- Demenz aus, wenngleich dieser Zusammenhang noch nicht schlüssig erklärt werden konnte. Sie vermuten, dass die kardiovaskuläre Fitness die Alzheimer- assoziierten Hirnveränderungen positiv modulieren kann oder dass den durch Alzheimer bedingten Hirnveränderungen ein pathologischer Mechanismus zugrunde liegt, der sowohl die kardiovaskuläre Fitness als auch die Hirnveränderungen beeinflusst. 2.6
Angststörungen
>>Sporttraining kann Angstsymptome reduzieren und zu einer Steigerung der körperlichen Fitness führen.
2.6.1
Psychologische Effekte
Sowohl bei Angststörungen (Panikstörungen) als auch bei anderen Störungen, bei denen begleitende Angstsymptome auftreten (z. B. Schizophrenie, Depression), kann Sport offenbar angstreduzierend wirken. Petruzello und Kollegen führten 1991 eine Metanalyse durch und schlussfolgerten, dass ein länger andauerndes körperliches Training angstmindernde Wirkung haben kann. Diese Wirkung sei sogar für einzelne Trainingssitzungen als kurzfristiger Effekt nachweisbar. Eine aktuelle Übersichtsarbeit von Aylett und Kollegen belegt eine geringe
23 Effekte von Sporttraining bei psychischen Störungen
Effektstärke von Ausdauertraining auf Angstsymptome. Dabei scheint ein hoch intensives Ausdauertraining zu stärkeren Effekten als ein niedrig intensives Ausdauertraining zu führen (Aylett et al. 2018). Zudem konnten verschiedene Autoren (Bahrke u. Morgan 1978; Petruzzello et al. 1991; Long u. van Stave 1995; Steptoe et al. 1989; Dunn et al. 2001; Broocks et al. 1998) zeigen, dass Sporttraining zu einer Reduktion der subjektiv empfundenen Angst führt. Außerdem beobachtete Broocks in seiner Arbeitsgruppe, dass auch begleitende depressive Symptome durch das Sporttraining abnahmen (Broocks et al. 1998). Die Effekte auf die Angstsymptome waren in der Sportbedingung zu denen einer psychopharmakologischen Behandlung mit Anxiolytika vergleichbar, allerdings waren in der Medikationsbedingung die angstreduzierenden Effekte schneller zu verzeichnen. Zudem wird vermutet, dass nicht nur Ausdauertraining, sondern auch Krafttraining einen angstlösenden Effekt haben kann. Entsprechende Arbeiten zeigten, dass ein Training in niedrigen bis mittleren Intensitäten (Insgesamt lässt sich sagen, dass unabhängig von der Sportart ein aerobes Ausdauertraining auf 60–70 % der maximalen Herzfrequenz am effektivsten für das Erreichen biologischer und psychologischer Effekte ist, und dass vor allem die Regelmäßigkeit des körperlichen Aktivseins wichtig ist. Von einigen Autoren wird eine allgemeine Empfehlung gegeben: Demzufolge ist ein sportliches Training, das dreimal wöchentlich über 30–75 Minuten für mindestens drei Monate durchgeführt wird, für psychiatrische und psychosomatische Patienten am effektivsten (Eggermont et al. 2006; Dunn et al. 2005). Frequenz, Zeitdauer und Intensität scheinen dabei einen größeren Einfluss auf die Wirksamkeit zu haben als die Art des Trainings.
z Stichprobenvarianz
Des Weiteren variierten die Studien stark bezüglich Eigenschaften und Größe der Stichproben. Oft werden akut kranke und stationär behandelte Patienten mit chronisch Erkrankten verglichen. Es herrscht große Variabilität, was die Art der Medikation sowie die Dauer und den Schweregrad der Störung betrifft. Ebenso werden unterschiedliche Designs und Analysen bei der Durchführung und Auswertung der Studie verwendet: z. B. wurden in manchen Studien nicht nur Patienten, sondern auch gesunde Kontrollpersonen untersucht, jedoch nicht in allen Studien. Auch wenn man die Stichprobengröße betrachtet, fallen großen Unterschiede auf: So reicht z. B. die Stichprobengröße klinischer Studien zu Sport mit schizophrenen Patienten zwischen 2001 und
26
2
V. Oertel et al.
2012 von n = 4 (Beebe et al. 2005) bis hin zu n = 73 (Wang et al. 2012). Betrachtet man die Studien im Bereich der affektiven Störung, sind die Unterschiede noch extremer. Hier reicht die Größe von n = 10 in einer Studie mit bipolaren Patienten (Vasques et al. 2011)bis zu n = 202 in zwei Studien mit depressiven Patienten (Blumenthal et al. 2007; Hoffman et al. 2008) (s. Übersichtsarbeit von Malchow et al. 2013). z Effektstärken und Zusammenhangsanal ysen
Weiterhin wird in den bislang vorliegenden Studien wenig Wert auf die Erfassung der Effektstärken gelegt. Dies ist jedoch eine Variable, der in Interventionsstudien eine hohe Bedeutung beigemessen werden müsste, da sie die Relevanz signifikanter Ergebnisse verdeutlicht. Zudem existieren kaum Studien, die einen möglichen Zusammenhang z. B. zwischen neurobiologischen Auswirkungen von Sport und möglichen Symptomreduktionen oder zumindest biologische und psychologische Faktoren gemeinsam untersuchen. Um ein Sporttraining jedoch als ergänzende Therapieoption in den klinischen Alltag aufzunehmen, sind Erkenntnisse über die neurobiologischen Wirkmechanismen, die den Effekten des Trainings zugrunde liegen, unabdingbar. z Messinstrumente
Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf die Auswahl der Messinstrumente zur Erfassung der Effekte auf psychologische Variablen: Es besteht z. B. wenig Einigkeit darüber, ob Selbst- oder Fremdbeurteilungsskalen herangezogen werden sollten. Insgesamt werden sehr unterschiedliche Skalen und Instrumente verwendet, so dass Effekte nicht direkt miteinander vergleichbar sind. Bereits die Messung der Stärke
einer klinischen Depression wird anhand unterschiedlicher Fragebögen vorgenommen (Selbst- vs. Fremdeinschätzung), so dass ein direkter Vergleich kaum zu ziehen ist. z Drop-Out-Raten
Zu beachten sind ferner teilweise sehr unterschiedliche Drop-Out-Raten: Pajonk et al. (2010) sowie Oertel-Knöchel et al. (2014) berichten z. B. von einer sehr hohen Drop- Out- Rate von 38 % bzw. 32 % in der Experimentalgruppe. Andere Autoren geben dagegen eine sehr viel geringere Drop-Out- Rate an (Singh et al. 2005; Babyak et al. 2000). Auch die Gründe, die zu einem Abbruch der Studie seitens der Teilnehmer führen, sind bisher nicht systematisch untersucht. z Unspezifische Wirkfaktoren
Mit unspezifischen Wirkfaktoren sind Faktoren gemeint, die sich zwar aus dem Sporttraining ergeben, aber nicht direkt auf den Sport als solchen zurückgeführt werden können. Sportliches Training wird in Forschungsstudien häufig im Gruppensetting durchgeführt. Dies führt zu der Annahme, dass es hier zu unspezifischen Effekten kommen könnte. So scheint es denkbar, dass die Teilnahme an einer Gruppe mit einer gemeinsamen Aufgabe, das direkte Ansprechen durch die Übungsleiter bei den Anleitungen und auch der Kontakt mit den Mitpatienten zu positiven Effekten auf psychopathologische Symptome führen. Des Weiteren ist zu bedenken, dass das 3-mal wöchentlich stattfindende Sporttraining häufig ein Zusatzangebot darstellt; d. h., die teilnehmenden Patienten erhalten mehr Therapieangebote als andere Patienten. Dadurch könnten sich manche Effekte erklären. Derartige mögliche Auswirkungen sind bisher jedoch kaum untersucht worden.
27 Effekte von Sporttraining bei psychischen Störungen
Zusammenfassung Spezifische psychologische Effekte wie die Vorbeugung oder Milderung klinischer Symptome der Störungen sind besonders für depressive Symptome bei affektiven Störungen sowie für Negativsymptome bei der Schizophrenie nachgewiesen. Auch kognitive Defizite bei älteren Probanden mit bereits bestehender Demenz oder Mild Cognitive Impairment (MCI) können durch Sport verbessert werden. Die meisten Befunde beziehen sich auf aerobes Ausdauertraining, es existieren aber auch Befunde zu positiven Auswirkungen von Krafttraining auf psychische Symptome. Weiterhin kann ein gezieltes Sporttraining bei psychiatrischen und psychosomatischen Patienten zu einer Reduzierung von somatischen Problemen führen, indem es die körperliche Fitness verbessert. Sporttraining wird von den meisten Patienten als positive Erfahrung wahrgenommen, die das subjektive Wohlbefinden, das Körpergefühl und die Selbstwirksamkeit steigern kann. Hierbei führt die erfolgreiche Bewältigung einer gestellten Aufgabe vermutlich zu einer Verbesserung des Selbstwerts und der Selbstwirksamkeitserwartung. Dazu kommen ein verändertes Gesundheitsverhalten und das Erzielen neuer sozialer Kontakte. Sport hat zudem einen Ablenkungseffekt, z. B. grübelt ein depressiver Patient während des Sporttrainings weniger, oder ein Schizophrener wird weniger von psychotischen Symptomen abgelenkt. Einschränkend ist zu sagen, dass nur wenige Studien den Goldstandard eines Randomized Control Trial (RCT), also einer kontrollierten klinischen Studie erfüllen. Es gibt viele methodische Kritikpunkte, und das Forschungsgebiet ist noch jung und einem raschen Veränderungsprozess unterworfen. Die Fragen, welche sportliche Betätigung, wie
2
häufig, wie intensiv, wie lang für welchen Patienten gut ist, sind noch weitgehend ungeklärt. Dennoch erscheinen die bisherigen Erkenntnisse aussagekräftig genug, um zu weiteren Forschungsstudien zu motivieren und Sport als ergänzende Maßnahme in Behandlungsprogramme zu integrieren.
Literatur Acil A, Dogan S, Dogan O (2008a) The effects of physical exercises to mental state and quality of life in patients with schizophrenia. Journal of Psychiatric and Mental Health Nursing, 15 (10):808–815. doi:https:// doi.org/10.1111/j.1365-2850.2008.01317.x Alexandridis K, Schüle K, Ehrig C, Fichter M (2007) Bewegungstherapie bei Bulimia nervosa. B & G Bewegungstherapie und Gesundheitssport 23 (4):46–51 Anstiss TJ (2001) A randomised controlled trial of aerobic exercise in the treatment of alcohol dependent. Medicine and Science in Sport and Exercise 22:265–274 Aylett, E., Small, N., Bower, P (2018). Exercise in the treatment of clinical anxiety in general practice – a systematic review and meta-analysis Babyak M, Blumenthal JA, Herman S, Khatri P, Doraiswamy M, Moore K, Craighead WE, Baldewicz TT, Krishnan KR (2000) Exercise treatment for major depression: maintenance of therapeutic benefit at 10 months. Psychosomatic medicine 62 (5):633–638 Bahrke MS, Morgan WP (1978) Anxiety reduction following exercise and meditation. Cognitive Therapy and Research 2 (4):323–333 Barnett AH, Mackin P, Chaudhry I, Farooqi A, Gadsby R, Heald A, Hill J, Millar H, Peveler R, Rees A, Singh V, Taylor D, Vora J, Jones PB (2007) Minimising metabolic and cardiovascular risk in schizophrenia: diabetes, obesity and dyslipidaemia. Journal of psychopharmacology (Oxford, England) 21 (4):357–373 Beebe L, Tian L, Morris N, Goodwin A, Allen SS, Kuldau J (2005) Effects of exercise on mental and physical health parameters of persons with schizophrenia. Issues in Mental Health Nursing 26 (6):661–676 Behere RV, Arasappa R, Jagannathan A, Varambally S, Venkatasubramanian G, Thirthalli J, Subbakrishna DK, Nagendra HR, Gangadhar BN (2011) Effect of yoga therapy on facial emotion recognition deficits, symptoms and functioning in patients with schizophrenia. Acta Psychiatr Scand
28
2
V. Oertel et al.
123 (2):147–153. doi:https://doi.org/10.1111/j. 1600-0447.2010.01605.x Beumont PJ, Arthur B, Russell JD, Touyz SW (1994) Excessive physical activity in dieting disorder patients: proposals for a supervised exercise program. The International journal of eating disorders 15 (1):21–36 Blumenthal JA, Babyak MA, Moore KA, Craighead WE, Herman S, Khatri P, Waugh R, Napolitano MA, Forman LM, Appelbaum M, Doraiswamy PM, Krishnan KR (1999) Effects of exercise training on older patients with major depression. Archives of internal medicine 159 (19):2349–2356 Blumenthal JA, Ong L (2009) A commentary on ‘Exercise and Depression’. Mental health and physical activity 2 (2):97–99 Blumenthal JA, Sherwood A, Rogers SD, Babyak MA, Doraiswamy PM, Watkins L, Hoffman BM, O’Connell C, Johnson JJ, Patidar SM, Waugh R, Hinderliter A (2007) Understanding prognostic benefits of exercise and antidepressant therapy for persons with depression and heart disease: the UPBEAT study-rationale, design, and methodological issues. Clinical trials (London, England) 4 (5):548–559 Bohus M, Haaf B, Simms T, Limberger M, Schmahl C, Unckel C et al. (2004) Effectiveness of inpatient dialectical behavioral therapy for borderline personality disorder: a controlled trial. Behaviour research and therapy 42 (5):487–499 Broocks A, Bandelow B, Pekrun G, George A, Meyer T, Bartmann U, Hillmer-Vogel U, Ruther E (1998) Comparison of aerobic exercise, clomipramine, and placebo in the treatment of panic disorder. The American journal of psychiatry 155 (5): 603–609 Broocks A, Sommer M (2005) Psychische Sportwirkungen. Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin 56 (11):393–4 Burns JM, Cronk BB, Anderson HS, Donnelly JE, Thomas GP, Harsha A, Brooks WM, Swerdlow RH (2008) Cardiorespiratory fitness and brain atrophy in early Alzheimer disease. Neurology 71 (3):210–216. doi:https://doi.org/10.1212/01. wnl.0000317094.86209.cb Conn VS (2010) Depressive symptom outcomes of physical activity interventions: meta-analysis findings. Annals of Behavioral Medicine 39:128–138 Convertino VA (2007) Blood volume response to physical activity and inactivity. The American journal of the medical sciences 334 (1):72–79 Cooney GM, Dwan K, Greig CA, Lawlor DA, Rimer J, Waugh FR, McMurdo M, Mead GE (2013) Exercise for depression. Cochrane Database of Systematic Reviews 2013, Issue 9. Art. No.: CD004366. DOI: https://doi.org/10.1002/14651 858.CD004366.pub6
Cotman CW, Berchtold NC (2002) Exercise: a behavioral intervention to enhance brain health and plasticity. Trends in neurosciences 25 (6):295–301 Deimel H (1980) [Sport therapy with psychiatric patients (author’s transl)]. Psychiatrische Praxis 7 (2):97–103 Deimel H, Rickert C (1993) Bewegungstherapeutische Förderung bei chronisch Alkoholabhängigen Auswirkungen eines 6-wöchigen Schwimm- und Bewegungsprogramms. Gesundheitssport und Sporttherapie 4:7–11 Deslandes AC, Moraes H, Alves H, Pompeu FA, Silveira H, Mouta R, Arcoverde C, Ribeiro P, Cagy M, Piedade RA, Laks J, Coutinho ES (2010) Effect of aerobic training on EEG alpha asymmetry and depressive symptoms in the elderly: a 1-year follow-up study. Braz J Med Biol Res 43 (6): 585–592 Donaghy ME, Mutrie N (1991) Exercise as a therapeutic adjunct for problem drinkers. Journal of Sports Sciences 9:440 Draganski B, Gaser C, Busch V, Schuierer G, Bogdahn U, May A (2004) Neuroplasticity: changes in grey matter induced by training. Nature 427 (6972):311–312 Dunn AL, Trivedi MH, Kampert JB, Clark CG, Chambliss HO (2005) Exercise treatment for depression: efficacy and dose response. American journal of preventive medicine 28 (1):1–8 Dunn AL, Trivedi MH, O’Neal HA (2001) Physical activity dose-response effects on outcomes of depression and anxiety. Med Sci Sports Exerc 33 (6 Suppl):S587-597; discussion 609–510 Duraiswamy G, Thirthalli J, Nagendra HR, Gangadhar BN (2007) Yoga therapy as an add-on treatment in the management of patients with schizophrenia–a randomized controlled trial. Acta Psychiatr Scand 116 (3):226–232. doi:https://doi. org/10.1111/j.1600-0447.2007.01032.x Eggermont L, Swaab D, Luiten P, Scherder E (2006) Exercise, cognition and Alzheimer’s disease: more is not necessarily better. Neuroscience and biobehavioral reviews 30 (4):562–575. doi:https://doi. org/10.1016/j.neubiorev.2005.10.004 Erickson KI, Voss MW, Prakash RS, Basak C, Szabo A, Chaddock L et al. (2011) Exercise training increases size of hippocampus and improves memory. Procedings of the National Academy of Sciences 108 (7):3017–3022 Ermalinski R, Hanson PG, Lubin B, Thornby JI, PA N (1997) Impact of a body-mind treatment component on alcoholic inpatients. Psychosoc Nurs Ment Health Serv J35 (7):39–45 Fabel K, Kempermann G (2008) Physical activity and the regulation of neurogenesis in the adult and aging brain. Neuromolecular medicine 10 (2):59– 66. doi:https://doi.org/10.1007/s12017-008-8031-4
29 Effekte von Sporttraining bei psychischen Störungen
Falkai P, Malchow B, Wobrock T, Gruber O, Schmitt A, Honer WG, Pajonk FG, Sun F, Cannon TD (2013) The effect of aerobic exercise on cortical architecture in patients with chronic schizophrenia: a randomized controlled MRI study. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci 263 (6):469–473 Firth, J, Cotter, J, Carney, R, Yung, AR (2017). The pro-cognitive mechanisms of physical exercise in people with schizophrenia. Br J Pharmacol. 2017; 174: 3161-3172. doi:https://doi.org/10.1111/ bph.13772 Fogarty M, Happell B (2005) Exploring the benefits of an exercise program for people with schizophrenia: a qualitative study. Issues Ment Health Nurs 26 (3):341–351. doi:https://doi. org/10.1080/01612840590915711 Frankel A, Murphy J (1974) Physical fitness and personality in alcoholism. Canonical analysis of measures before and after treatment. Q J Stud Alcohol 35 (4 Pt A):1272–1278 Gary V, Guthrie D (1972) The effect of jogging on physical fitness and self-concept in hospitalized alcoholics. Q J Stud Alcohol 33 (4):1073–1078 Goertzel V, May P, Salkin J, Schoop T (1965) Body- ego technique: an approach to the schizophrenic patient. The Journal of Nervous and Mental Disease 41 (1):53–60 Gorczynski P, Faulkner G (2010) Exercise therapy for schizophrenia. Schizophrenia bulletin 36:665–666 Hänsel F (2007) Körperliche Aktivität und Gesundheit. In: Fuchs R, Göhner W, Seelig H (Hrsg) Aufbau eines körperlich-aktiven Lebensstils: T heorie, Empirie und Praxis. Hogrefe, Göttingen, S 23–44 Hautzinger M (2003) Kognitive Verhaltenstherapie bei Depressionen. Beltz, Weinheim Hechler T, Beumont P, Touyz S, Marks P, Vocks S (2005) Die Bedeutung körperlicher Aktivität bei Anorexia nervosa: Dimensionen, Erfassung und Behandlungsstrategien aus Expertensicht. Verhaltenstherapie 15 (3):140–147 Heggelund J, Nilsberg G, Hoff J, Morken G, Helgerund J (2011) Effects of high aerobic intensity training in patients with schizophrenia – A controlled trial. Nordic Journal of Psychiatry 65:269– 275 Heh SS, Huang LH, Ho SM, Fu YY, Wang LL (2008) Effectiveness of an exercise support program in reducing the severity of postnatal depression in Taiwanese women. Birth (Berkeley, Calif) 35 (1):60–65 Heyn P, Abreu BC, Ottenbacher KJ (2004) The effects of exercise training on elderly persons with cognitive impairment and dementia: a meta-analysis. Archives of physical medicine and rehabilitation 85 (10):1694–1704 Hoffman BM, Blumenthal JA, Babyak MA, Smith PJ, Rogers SD, Doraiswamy PM, Sherwood A (2008)
2
Exercise fails to improve neurocognition in depressed middle-aged and older adults. Medicine and science in sports and exercise 40 (7):1344– 1352 Hollmann W, Strüder HK (2009) Sportmedizin: Grundlagen für körperliche Aktivität, Training und Präventivmedizin,.. 5. Aufl. Schattauer, Stuttgart Hölter G (2011) Bewegungstherapie bei psychischen Erkrankungen. Grundlagen und Anwendung. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln Honea RA, Thomas GP, Harsha A, Anderson HS, Donnelly JE, Brooks WM, Burns JM (2009) Cardiorespiratory fitness and preserved medial temporal lobe volume in Alzheimer disease. Alzheimer disease and associated disorders 23 (3):188–197 Kerse N, Hayman KJ, Moyes SA, Peri K, Robinson E, Dowell A, Kolt GS, Elley CR, Hatcher S, Kiata L, Wiles J, Keeling S, Parsons J, Arroll B (2010) Home-based activity program for older people with depressive symptoms: DeLLITE–a randomized controlled trial. Annals of family medicine 8 (3):214–223 Krogh J, Nordentoft M, Sterne JA, Lawlor DA (2011) The effect of exercise in clinically depressed adults: Systematic review and meta-analysis of randomized controlled trials. The Journal of Clinical Psychiatry 72:529–538 Kubesch S, Bretschneider V, Freudenmann R, Weidenhammer N, Lehmann M, Spitzer M, Gron G (2003) Aerobic endurance exercise improves executive functions in depressed patients. The Journal of clinical psychiatry 64 (9):1005–1012 Kucyi A, Alsuwaidan MT, Liauw SS, McIntyre RS (2010) Aerobic physical exercise as a possible treatment for neurocognitive dysfunction in bipolar disorder. Postgrad Med 122 (6):107–116 Larson EB, Wang L, Bowen JD, McCormick WC, Teri L, Crane P, Kukull W (2006) Exercise is associated with reduced risk for incident dementia among persons 65 years of age and older. Annals of internal medicine 144 (2):73–81 Laurin D, Verreault R, Lindsay J, MacPherson K, Rockwood K (2001) Physical activity and risk of cognitive impairment and dementia in elderly persons. Archives of neurology 58(3):498–504 Lautenschlager NT, Cox KL, Flicker L, Foster JK, van Bockxmeer FM, Xiao J, Greenop KR, Almeida OP (2008) Effect of physical activity on cognitive function in older adults at risk for Alzheimer disease: a randomized trial. Jama 300 (9):1027–1037. doi:https://doi.org/10.1001/ jama.300.9.1027 Lehofer M, Lux M, Posch C, Berthold J, Wieser H, Hirn G et al. (1995) Lauftherapie im Entzug bei chronischem Alkoholismus. Suchtforschung. Suchtforschung 18:55–64
30
2
V. Oertel et al.
Long B, van Stave R (1995) Effects of exercise training on anxiety: A meta-analysis. Journal of Applied Sport Psychology 7:167–189 Mahendra N, Arkin S (2003) Effects of four years of exercise, language, and social interventions on Alzheimer discourse. Journal of communication disorders 36 (5):395–422 Malchow B, Reich-Erkelenz D, Oertel-Knochel V, Keller K, Hasan A, Schmitt A, Scheewe TW, Cahn W, Kahn RS, Falkai P (2013) The effects of physical exercise in schizophrenia and affective disorders. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci 263:451–467 Mead GE, Morley W, Campbell P, Greig CA, McMurdo M, Lawlor DA (2009) Exercise for depression. Cochrane Database Syst Rev 3:CD004366 Neumann NU, Frasch K (2007) Die Bedeutung regelmäßiger körperlicher Aktivität für Gesundheit und Wohlbefinden. Deutsche Medizinische Wochenschrift 132:2387–2391 Nitsun M, Stapleton JH, Bender MP (1974) Movement and drama therapy with long-stay schizophrenics. The British journal of medical psychology 47 (2):101–119 (NVL Unipolare Depression, Version 3.1, 2022). Version 3.1. AWMF-Register-Nr. nvl-005 O’Connor PJ, Herring MP, Caravalho A (2010) Mental health benefits of strength training in adults. American Journal of Lifestyle Medicine 4(5):377–396 Oertel-Knöchel V, Mehler P, Thiel C, Steinbrecher K, Malchow B, Tesky V, Ademmer K, Prvulovic D, Banzer W, Zopf Y, Schmitt A, Hänsel F (2014) Effects of aerobic exercise on cognitive performance and individual psychopathology in depressive and schizophrenia patients. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci Feb 2 [Epub ahead of print] Pajonk F, Wobrock T, Gruber O, Scherk H, Berner D, Kaizl I (2010) Hippocampal plasticity in response to exercise in schizophrenia. Arch Gen Psychiatry 67 (2):133–143 Palmer J, Vacc N, Epstein J (1988a) Adult inpatient alcoholics: physical exercise as a treatment intervention. J Stud Alcohol 49 (5):418–421 Pelham TW, Campagna PD (1991) Benefits of exercise in psychiatric rehabilitation of persons with schizophrenia. Canadian Journal of Rehabilitation 4:159–168 Pendleton VR, Goodrick GK, Poston WS, Reeves RS, Foreyt JP (2002) Exercise augments the effects of cognitive-behavioral therapy in the treatment of binge eating. The international journal of eating disorders 31 (2):172–184 Pereira AC, Huddleston DE, Brickman AM, Sosunov AA, Hen R, McKhann GM, Sloan R, Gage FH, Brown TR, Small SA (2007) An in vivo correlate of exercise-induced neurogenesis in the adult den-
tate gyrus. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 104 (13):5638–5643 Petruzzello SJ, Landers DM, Hatfield BD, Kubitz KA, Salazar W (1991) A meta-analysis on the anxiety-reducing effects of acute and chronic exercise. Outcomes and mechanisms. Sports medicine 11 (3):143–182 Poulin MJ, Chaput J-P, Simar V, Vincen P, Bernier J, Gauthier Y et al. (2007) Management of antipsychotic- induced weight gain: prospective naturalistic study of the effectiveness of a supervised exercise programme. The Royal Australian and New Zealand College of Psychiatrists 41 (12) Probst M (1997) Body experience in eating disorder patients. Dissertation, Katholieke Universiteit Leuven: KU, Leuven Probst M, Goris M, Vandereycken W, Van Coppenolle H (2001) Body composition of anorexia nervosa patients assessed by underwater weighing and skinfold-thickness measurements before and after weight gain. The American journal of clinical nutrition 73 (2):190–197 Probst M, Vandereycken W, Van Coppenolle H, Pieters G (1999) Body experience in eating disorders before and after treatment: a follow-up study. European psychiatry: the journal of the Association of European Psychiatrists 14 (6):333–340 Rethorst CD, Wipfli BM, Landers DM (2009) The antidepressive effects of exercise: A meta-analysis of randomized trials. Sports Medicine 39:491–511 Roeh A, Hasan A. Exercise for the treatment of schizophrenia: a current review and recommendations. Dtsch Z. Sportmed. 2021; 72: 288-292. doi:https://doi.org/10.5960/dzsm.2021.490 Röhricht F, Priebe S (2000) Body image and anxiety in paranoid schizophrenia, Bd 1. Advances in Psychology Research. Nova Science Publishers, New York Rovio S, Kareholt I, Helkala EL, Viitanen M, Winblad B, Tuomilehto J, Soininen H, Nissinen A, Kivipelto M (2005) Leisure-time physical activity at midlife and the risk of dementia and Alzheimer’s disease. Lancet neurology 4 (11):705–711 Scheid V, Simen J JD (1996) Sport in der Suchtbehandlung. Grundlagen und empirische Befunde zur Sporttherapie bei Alkoholpatienten. Motorik 19:66–73 Schüle K, Deimel H (1990) Gesundheitssport und Sporttherapie - eine begriffliche Klärung. Gesundheitssport und Sporttherapie 1,6,3 Schüle K, Huber G (2012) Grundlagen der Sport- und Bewegungstherapie. Prävention, ambulante und stationäre Rehabilitation. 3. Auflage. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln Seidel EJ, Wick C (1997) Beeinflussung der psychophysischen Leistungsfähigkeit und der Rückfall-
31 Effekte von Sporttraining bei psychischen Störungen
quote chronisch Alkoholkranker durch Sporttherapie. In: Weiß M, Liesen H (Hrsg) Rehabilitation durch Sport. Kilian, Marburg, S 206–214 Sexton, H., Maere, A., Dahl, N. H. (1989). Exercise intensity and reduction in neurotic symptoms. A controlled follow-up study. Acta Psychiatr Scand 80:231–235 Silveira H, Deslandes AC, de Moraes H, Mouta R, Ribeiro P, Piedade R, Laks J (2010) Effects of exercise on electroencephalographic mean frequency in depressed elderly subjects. Neuropsychobiology 61 (3):141–147 Singh NA, Stavrinos TM, Scarbek Y, Galambos G, Liber C, Fiatarone Singh MA (2005) A randomized controlled trial of high versus low intensity weight training versus general practitioner care for clinical depression in older adults. The journals of gerontology Series A, Biological sciences and medical sciences 60 (6):768–776 Steptoe A, Edwards S, Moses J, Mathews A (1989) The effects of exercise training on mood and perceived coping ability in anxious adults from the general population. J Psychosom Res 33 (5):537–547 Stiensmeier-Pelster J, Meyza P, Lenzen H (1989) Alkoholismus und Handlungskontrolle: Der Einfluss des Lauftrainings auf den Therapieverlauf bei handlungs- und lageorientierten Alkoholabhängigen. Suchtgefahren 35:356–367 Strassnig M, Brar JS, Ganguli R (2011) Low cardiorespiratory fitness and physical functional capacity in obese patients with schizophrenia. Schizophrenia research 126 (1–3):103–109. doi:https://doi. org/10.1016/j.schres.2010.10.025 Strickland JC, Smith MA (2014) The anxiolytic effects of resistance exercise. Frontiers in Psychology 5:753. doi: https://doi.org/10.3389/fpsyg.2014. 00753 Stubbs, B., Koyanagi, A., Schuch, F., Firth, J., Rosenbaum, S., Gaughran, F, Mugisha, J, Vancampfort, D (2017). Physical Activity Levels and Psychosis: A Mediation Analysis of Factors Influencing Physical Activity Target Achievement Among 204 186 People Across 46 Low- and Middle-Income Countries. Schizophr Bull. 2017; 43: 536-545. doi:https://doi.org/10.1093/schbul/sbw111 Sundgot-Borgen J, Rosenvinge JH, Bahr R, Schneider LS (2002) The effect of exercise, cognitive therapy, and nutritional counseling in treating bulimia nervosa. Med Sci Sports Exerc 34 (2):190–195 Svatkova, A., Mandl, RCW, Scheewe, TW, Cahn, W, Kahn, RS, Hulshoff, POL HE (2015). Physical Exercise Keeps the Brain Connected: Biking Increases White Matter Integrity in Patients with Schizophrenia and Healthy Controls. Schizophr Bull 2015; 41: 869-878. doi:https://doi. org/10.1093/schbul/sbv033
2
Takahashi H et al. (2012) Effects of sport participation on psychiatric symptoms and brain activations during sports observation in schizophrenia. Translational Psychiatry. doi:https://doi. org/10.1038/tp.2012.22 Thien V, Thomas A, Markin D, Birmingham CL (2000) Pilot study of a graded exercise program for the treatment of anorexia nervosa. The International journal of eating disorders 28 (1): 101–106 Touyz SW, Kopec-Schrader EM, Beumont PJ (1993) Anorexia nervosa in males: a report of 12 cases. The Australian and New Zealand journal of psychiatry 27 (3):512–517 Turner EH, Matthews AM, Linardatos E, Tell RA, Rosenthal R (2008) Selective publication of antidepressant trials and its influence on apparent efficacy. The New England journal of medicine 358 (3):252–260. doi:https://doi.org/10.1056/ NEJMsa065779 Ussher M, Sampuran AK, Doshi R, West R, Drummond DC (2004) Acute effect of a brief bout of exercise on alcohol urges. Addiction 99:1542– 1547 Van Praag H. Kempermann G Gage FH (1999) Running increases cell proliferation and neurogenesis in the adult mouse dentategyrus. Nat Neurosci 2:266–270 Vasques PE, Moraes H, Silveira H, Deslandes AC, Laks J (2011) Acute exercise improves cognition in the depressed elderly: the effect of dual-tasks. Clinics (Sao Paulo, Brazil) 66 (9):1553–1557 Wang J, Fan X, Liu D, Yi Z, Freudenreich O, Goff D, Henderson DC (2012) Both physical activity and food intake are associated with metabolic risks in patients with schizophrenia. Schizophrenia research 140 (1–3):260–261. doi:https://doi. org/10.1016/j.schres.2012.05.008 Weber-Hamann B, Gilles M, Lederbogen F, Heuser I, Deuschle M (2006) Improved insulin sensitivity in 80 nondiabetic patients with MDD after clinical remission in a double-blind, randomized trial of amitriptyline and paroxetine. The Journal of clinical psychiatry 67 (12):1856–1861 Weber A (1984) Laufen als Behandlungsmethode eine experimentelle Untersuchung an Alkoholabhängigen in der Klinik. Suchtgefahren 30:160–167 Wegner M, Helmich I, Machado S, Nardi AE, Arias- Carrion O, Budde H (2014) Effects of Exercise on Anxiety and Depression Disorders: Review of Meta-Analyses and Neurobiological Mechanisms. CNS & Neurological Disorders - Drug Targets 13 (6):1002–1014 WHO guidelines on physical activity and sedentary behaviour. 2020 Wolff E, Gaudlitz K, von Lindenberger BL, Plag J, Heinz A, Strohle A (2011) Exercise and physical
32
2
V. Oertel et al.
activity in mental disorders. European archives of psychiatry and clinical neuroscience 261(Suppl 2):186–191 Wu GC, Li WP, Yin YY, Li WZ, Pan HF (2008) Metabolic syndrome: a potential culprit for Alzheimer’s disease? Medical hypotheses 71 (4):620–621 Yoshitake T, Kiyohara Y, Kato I, Ohmura T, Iwamoto H, Nakayama K, Ohmori S, Nomiyama K, Ka-
wano H, Ueda K et al. (1995) Incidence and risk factors of vascular dementia and Alzheimer’s disease in a defined elderly Japanese population: the Hisayama Study. Neurology 45 (6):1161–1168 Zwick S, Laux G, Brunnauer A (2010) Auswirkungen eines kontrollierten Ausdauertrainings auf die kognitive Leistungsfähigkeit schizophrener Patienten. Psychiatrische Forschung Suppl 1 (2):5–8
33
Klassifikation und Ätiologie psychischer Störungen Benedikt Friedrichs und Christian Knöchel
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 V. Oertel, F. Hänsel (Hrsg.), Aktiv für die Psyche, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67880-0_3
3
34
B. Friedrichs und C. Knöchel
nnLernziele
3
55 Kennenlernen gängiger ätiologischer und deskriptiver Klassifikationssysteme psychischer Störungen 55 Kennen der multifaktoriellen Genese psychischer Störungen
3.1
Einführung
In dem Begriff „psychisch (seelisch) krank“ sind zwei Unterbegriffe enthalten: „psychisch“ und „Krankheit“. Dabei meint „psychisch“ das Fühlen, Denken und Wollen eines Menschen, während „Krankheit“ im Allgemeinen ein Begriff für eine Störung der Lebensvorgänge mit der Folge von subjektiv (vom Betroffenen selbst) empfundenen oder objektiv (vom Untersucher) feststellbaren körperlichen und/oder seelischen Veränderungen ist (Psychrembel 2014). Daraus ergibt sich folgende Definition: Psychische Krankheiten Psychische Krankheiten sind Störungen des Fühlens, Denkens oder Wollens eines Menschen. Dabei werden Krankheiten der Psyche heute eher als psychische Störung denn als Krankheit bezeichnet.
Eine beobachtbare Veränderung, die von einem vorangegangenen „Normalzustand“ abweicht, wird als Hinweis auf eine Störung verstanden. Dabei spielt der Schweregrad eine Rolle, d. h., wie stark das Verhalten, die Gedanken oder die Gefühle vom Normalzustand abweichen. Dieser Aspekt reicht jedoch oftmals nicht aus, um psychische Störungen von normalen Reaktionen unterscheiden zu können. Beispielsweise ist Trauer nach einem Todesfall in der Familie normal. Andererseits ist es offensichtlich, dass lähmende Trauer ohne einen ersicht-
lichen Grund nicht „normal“ sein kann. Dazwischen aber gibt es viele Abstufungen, deren Beurteilung schwierig sein kann. Daher zieht man im Rahmen der Diagnostik psychischer Störungen neben einer Veränderung gegenüber dem Normalen den Aspekt des Leidensdrucks eines Patienten heran. Dieser bezeichnet das Leiden des Patienten unter der eigenen Störung oder das Leiden des Umfeldes (z. B. der Angehörigen). Ein weiterer Aspekt ist eine mögliche Beeinträchtigung der Alltagsfunktionen, die z. B. bei Demenzen auftreten kann. Zudem spielt das Zeitkriterium eine Rolle für die Diagnose einer Erkrankung, d. h., dass viele psychische Störungen erst dann diagnostiziert werden, wenn eine Veränderung vom Normalen oder ein Leidensdruck über einen längeren Zeitraum besteht. Zusammenfassend lässt sich also sagen: Zur Einschätzung, ob eine psychische Erkrankung vorliegt oder nicht, werden folgende Kriterien herangezogen: 55 subjektive oder objektive körperliche oder seelische Veränderungen, die vom Normalzustand abweichen, 55 Leidensdruck des Betroffenen oder des Umfeldes, 55 Beeinträchtigung der Alltagsfunktionen, 55 andauernde und wiederkehrende Symptome.
3.2
Klassifikation psychischer StörungenIm Rahmen der
Der Begriff „Klassifikation“ bezeichnet die Beschreibung und systematische Abgrenzung der psychischen Störungen untereinander. Eine Klassifikation von Krankheiten ist sehr bedeutsam, da man aus der diagnostischen Zuordnung zu einem Krankheitsbild sowohl eine Prognose für den einzelnen Patienten als auch Therapiemöglichkeiten ableiten kann.
35 Klassifikation und Ätiologie psychischer Störungen
Im Rahmen der Einführung des DSM-V (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, V. Edition) (APA 2014), einer Neuerung des Klassifikationssystems psychischer Störungen in den USA, kam u. a. eine Diskussion darüber auf, ob Burn-out eine eigenständige Diagnose sei oder nicht. Dies ist insofern bedeutsam, als der Begriff Burn-out in der Öffentlichkeit deutlich weniger Stigmatisierung und mehr Akzeptanz erfährt, was die Behandlungs- Compliance der Betroffenen erhöhen könnte; andererseits aber Kritiker der Ansicht sind, dass die Symptome eines Burn-Out eigentlich eine depressive Erkrankung darstellen, und die Schwere der Erkrankung dadurch nicht adäquat wahrgenommen wird. Diese Diskussion zeigt, wie wichtig die Definition von psychischen Störungen ist. Eine medizinische Klassifikation erfolgt vorzugsweise nach deren Ursache (ätiologisch). Dies ist aus medizinischer Sicht bei psychischen Störungen schwierig, da nicht immer klare, nur für eine Störung spezifische biologische Kriterien vorliegen, sondern von einer multikausalen Entstehung ausgegangen werden muss. Hinzu kommt, dass es bei einigen psychischen Störungen sogar konkurrierende Ansichten über deren Entstehungsmechanismen gibt. Um dennoch eine allgemein gültige und akzeptierte Klassifikation zu ermöglichen, wurden die früheren Versuche ätiologischer Klassifikation zugunsten eines vorwiegend deskriptiven (also beschreibenden) Klassifikationssystems aufgegeben. Dieses Klassifikationssystem ist empirisch abgesichert, d. h. es werden solche Symptomkonstellationen als eigenständige Störungsbilder beschrieben, die in einer entsprechenden Häufigkeit auftreten. Dies ermöglicht eine Anwendung im gesamten psychiatrischen und psychosomatischen Bereich und auch in der Forschung. Da dieses System nicht auf den Ursachen einer psychischen Störung basiert, muss es auch nicht ständig aufgrund neuer Forschungserkenntnisse angepasst werden.
3.2.1
3
Historischer Versuch einer ätiologischen Klassifikation: das triadische System
Das triadische Klassifikationssystem geht auf die Arbeiten der deutschen Psychiater Emil Kraepelin (1919), Karl Jaspers (1965) und Kurt Schneider (1992) zurück und stellt einen historisch bedeutsamen Versuch dar, psychische Störungen zu kategorisieren. Die folgenden Erläuterungen sind stark vereinfacht und sollen nur einen groben Überblick geben. Ausführliche Erläuterungen hierzu sind auch in Schott u. Tölle (2006) zu finden. Das triadische System ist heute eine veraltete Einteilung. Im klinischen Sprachgebrauch werden jedoch noch Begriffe daraus verwendet. Im Rahmen des triadischen Systems wurden die nach ihrer Psychopathologie (7 Kap. 4) zu beschreibenden Störungsbilder drei Gruppen zugeordnet. Dabei wurden die Psychosen in sog. endogene und exogene Psychosen unterteilt. Als exogene Psychosen bezeichnete man körperlich begründbare Erkrankungen, also solche, die nach dem damaligen Kenntnisstand ausschließlich oder überwiegend körperlich verursacht wurden. Man verstand sie also als Folgen von Erkrankungen, die ihre Ursache außerhalb oder innerhalb des Körpers haben können, z. B. Infektionen oder Stoffwechselerkrankungen. Im Gegensatz zu diesem Verständnis exogener Psychosen wurde der Begriff später auch für die Entstehung von Krankheiten als Reaktion auf eine psychische Krise oder ein Trauma verstanden. Als endogene Psychosen wurden die Schizophrenie sowie die manisch-depressive Psychose (heute: bipolare Störung) benannt. Der Begriff „endogen“ erfuhr dabei sicherlich den häufigsten Bedeutungswechsel. Am ehesten könnte man ihn wohl wie folgt beschreiben: Eine organische Ursache wurde angenommen, war aber „noch“ nicht eindeutig identifizierbar.
36
3
B. Friedrichs und C. Knöchel
Die dritte Gruppe umfasste Neurosen, die weniger als Krankheiten denn als sog. abnorme Variationen seelischen Wesens verstanden wurden. Diese nannte man psychogene Störungen. Psychogen meint dabei, dass die Entstehung der Störung durch Reaktionen des Seelenlebens auf äußere Einflüsse wie Lebensereignisse (z. B. psychosoziale Faktoren) bedingt ist. Der Begriff „psychogen“ wird heute am ehesten noch im Zusammenhang mit Störungsbildern verwendet, die zwar wie körperliche Erkrankungen erscheinen, jedoch kein fassbares organisches Korrelat aufweisen (z. B. psychogene Lähmungen, psychogene Blindheit etc.). . Tab. 3.1 enthält eine Übersicht über die Gruppe der Psychosen/Neurosen. Abschließend sei noch einmal darauf hingewiesen, dass dieses System veraltet ist. Insbesondere die oben dargestellte Zuordnung eines Störungsbildes nach der Art der Ursache ist auf Basis des heutigen Forschungsstandes nicht mehr haltbar. So sind beispielsweise für Phobien und Persönlichkeitsstörungen (die nach dem triadischen System endogen kategorisiert worden wären) einige biologische Entstehungsfaktoren bekannt. Hingegen finden sich die organischen Störungen bis heute noch als eine Gruppe in der Internationalen Klassi
fikation Psychischer Störungen (ICD-10) (WHO 1992), deren gemeinsames Merkmal der Nachweis einer organischen Erkrankung als (exogene) Ursache der Störung ist (z. B. eine Störung des Verhaltens aufgrund eines Hirntumors). 3.2.2
Derzeitige Einteilung: Klassifikation nach ICD-10
In Deutschland und vielen anderen Ländern wird die „Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“ der WHO in ihrer 10. Ausgabe angewandt (kurz ICD-10, WHO) (WHO 1992). Die psychischen und Verhaltensstörungen werden im dortigen Kap. V beschrieben. Hierin sind für einzelne anerkannte Störungsbilder diagnostische Kriterien aufgelistet, nach denen die Zuordnung der beim Patienten beobachteten Symptomatik zu einer Störung erfolgt. Diese sog. Notation erfolgt alphanumerisch: Zunächst wird für das Kapitel ein Buchstabe vergeben (für das Kapitel V ist das der Buchstabe F). Darauf folgen zwei Zahlen zur Kodierung der Störung (z. B. F32 für eine depressive Episode). Mit einer weiteren Stelle, die durch einen Punkt abgetrennt wird, erfolgt eine weitere Unterteilung (z. B.
.. Tab. 3.1 Einteilung psychischer Störung in die Gruppe der Psychosen/Neurosenim Rahmen des triadischen Systems, das auf Emil Kraepelin (1919), Karl Jaspers (1965) und Kurt Schneider (1992) zurückgeht (s. ausführliche Erläuterungen in Schott u. Tölle 2006). Das triadische System ist ein historisches Beispiel einer Klassifikation, wie sie heute kaum mehr verwendet wird Gruppe
Entstehung
Beschreibung
Beispiele
Organische Psychose
Exogen
Fassbare körperliche Ursache
Trauma, Infektion, Intoxikation, Hirntumor, Demenz, Stoffwechselstörung
Endogene Psychose
Endogen
Postulierte körperliche Ursache
Schizophrenie und bipolare affektive Störung
Neurose
Psychogen
Psychische oder psychosoziale Ursache
Phobien, Zwänge, Persönlichkeitsstörung, posttraumatische Belastungsstörung, Essstörung
37 Klassifikation und Ätiologie psychischer Störungen
bei Depression hinsichtlich des Schweregrades in leichte Episode = F32.0 bis schwere Episode = F32.2). In den USA wird alternativ hierzu vorwiegend das „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ verwendet, das von der American Psychiatric Association erarbeitet wurde und nun mehr in der 5. Auflage vorliegt (kurz DSM-V)(APA 2014). Die Klassifikationen ähneln einander so weit, dass eine Umkodierung meist ohne Schwierigkeiten möglich ist. . Tab. 3.2 zeigt die Einteilung von Kapitel V des ICD-10 (WHO 1992).
z Problematische Aspekte bei der Diagnostik
Bei der Einordnung einer psychischen Störung – wie bei einer Schizophrenie oder einer Persönlichkeitsstörung – stellt sich häufig das Problem, dass die Betroffenen
3
aufgrund der häufig vorliegenden mangelnden Krankheitseinsicht oft nur einen Teil ihrer Beschwerden berichten. Insbesondere psychomotorische Störungen und Aufmerksamkeitsstörungen lassen sich oft nur durch die Verbindung von Selbstaussagen mit dem Verhalten in der Untersuchungssituation verlässlich erfassen. Auch wird eine weniger starke Mimik oder Affektverflachung nicht vom Patienten berichtet, sondern eher vom Untersucher beobachtet. Angaben von Familienangehörigen oder Freunden über das Verhalten des Patienten sind für eine Diagnosestellung bei der Schizophrenie zudem äußerst wertvoll, da z. B. Wahnvorstellungen oder Halluzinationen vom Patienten häufig nicht von sich aus berichtet werden. Soll z. B. eine mögliche Abhängigkeit diagnostiziert werden, doch der behandelnde
. Tab. 3.2 Einteilung von Kapitel V des ICD-10 (WHO 1992) ICD-10- Code
Beschreibung der Gruppe
Beispiele für zugehörige Störungen
F0
Organische Störungen
Demenzen, alle Folgen einer nachgewiesenen hirnorganischen Krankheit
F1
Störungen durch psychotrope Substanzen
Abhängigkeit von Alkohol, Kokain, Heroin etc.
F2
Schizophrene Störungen
Schizophrenie, schizoaffektive Störungen
F3
Affektive Störungen
Depressive Störung und bipolare Störung
F4
Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen
Zwang, Phobie, posttraumatische Belastungsstörung, Hypochondrie, Somatisierungsstörung
F5
Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen und Faktoren
Essstörungen
F6
Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen
Persönlichkeitsstörungen, Störungen der Impulskontrolle
F7
Intelligenzminderungen
Lediglich weitere Unterscheidung nach Schweregrad
F8
Entwicklungsstörungen
Autismus, Beginn immer in der Kindheit
F9
Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend
ADHS
ADHS = Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung
38
3
B. Friedrichs und C. Knöchel
Arzt ist sich aufgrund der Selbstaussagen der Patienten nicht vollständig sicher über die Diagnose, werden neben den Beobachtungen des Untersuchers und Schilderungen des Patienten auch Laborwerte herangezogen: So kann z. B. die Erhöhung von Laborwerten (ɣ-GT, mittleres korpuskuläres Volumen, Carbohydrate-deficient Transferrin) auf einen hohen Alkoholkonsum hinweisen. Bei drogenassoziierten Störungen kommt dem Drogenscreening im Urin die wichtigste Rolle zu. Cannabis kann z. B. bei regelmäßigem Konsum über drei Wochen hinweg oder länger im Urin nachgewiesen werden, ebenso Kokain bei regelmäßigem Konsum über ein paar weitere Tage hinweg.
3.3
Ursachen psychischer Störungen (Ätiologie)
Die Ursachen, die einer Krankheit zugrunde liegen, bezeichnet man als ätiologische Faktoren. Ätiologie bezeichnet die Lehre von den Ursachen (der Krankheiten). Die Verursachung beobachtbarer Symptome durch solche ätiologischen Faktoren bezeichnet man als Pathogenese. Die Kenntnis über die Ätiologie einer Störung bildet die Grundlage für die Entwicklung von Behandlungsmöglichkeiten. So beruht z. B. das Wissen über Psychopharmaka zu einem Großteil auf Erkenntnissen über gestörte Neurotransmitterkreisläufe aus der Neurobiologie. In der Psychiatrie ergeben sich hierbei zwei Schwierigkeiten: Zum einen sind die ätiologischen Faktoren der meisten psychischen Störungen bis heute nicht vollständig ergründet, zum anderen gibt es in der Regel mehr als eine Ursache. Ein einfaches Zusammenspiel aus Ursache und Wirkung – wie z. B. Gewalteinwirkung, die zum Knochenbruch führt – gibt es in der Psychiatrie nicht. Ein Stressfaktor – z. B. Verlust des Arbeitsplatzes – kann bei manchen Menschen eine Depression auslösen oder der Konsum von Cannabis eine Schizophre-
nie; bei anderen Personen bleibt beides jedoch ohne erkennbare Folgen. Dies hängt damit zusammen, dass eine erhöhte Vulnerabilität zusammen mit individuell wahrgenommen Stressfaktoren auftreten müssen, d. h., es liegen mehrere verursachende und auslösende Faktoren vor, damit eine psychische Störung auftritt. >>Psychische Störungen lassen sich nicht auf eine einzelne Ursache zurückführen, sondern haben häufig viele verursachende und auslösende Faktoren.
3.3.1
Vulnerabilitäts-Stress- Bewältigungs-Modell
Das Vulnerabilitäts-Stress-Bewältigungs- Modell (Nuechterlein u. Dawson 1984; Zubin u. Spring 1977) wurde zunächst als Modell zur Entstehung schizophrener Störungen etabliert. Es integriert verschiedene Faktoren der Krankheitsentstehung und ist mittlerweile für nahezu alle psychischen Störungen anerkannt. Im Modell sind zwei verschiedene verursachende Bereiche vorhanden: Vulnerabilitäts- und Stressfaktoren. Bewältigungsoder Coping-Mechanismen sind ergänzende, eventuell bei einer betroffenen Person vorhandene Ressourcen. . Abb. 3.1 zeigt das Vulnerabilitäts-Stress-Bewältigungs-Modell unter Einbezug verschiedener möglicher ätiologischer Faktoren, die psychische Störungen bedingen können.
z Vulnerabilität
Der Begriff „Vulnerabilität“ bezeichnet die Anfälligkeit für eine Störung. Diese Anfälligkeit wird durch verschiedene Faktoren beeinflusst. Einer der wichtigsten dieser Faktoren ist die individuelle genetische Veranlagung eines Menschen, die u. a. bei der bipolaren Störung und der Schizophrenie eine sehr große Rolle spielt. Hinzu kommen weitere biologische Merkmale, die vor, während und nach der Geburt auftreten. So sind
39 Klassifikation und Ätiologie psychischer Störungen
CopingFähigkeiten
Ätiologische Faktoren
Vulnerabilität
Transmitterstörungen, pränatale/postnatale Infektionen, strukturelle Hirnveränderungen, Genetik
3
Problemlösefähigkeiten, Ressourcen, Stressverhalten
Stressoren
Traumata, chronische Krankheit, Belastung am
Psychische Störung
.. Abb. 3.1 Beispiel für unterschiedliche ätiologische Faktoren im Rahmen des Vulnerabilitäts- Stress- Bewältigungs-Modells nach Nuechterlein u. Dawson (1984) und Zubin u. Spring (1977)
beispielsweise bei der Schizophrenie Infektionen während der Schwangerschaft und Geburtskomplikationen als biologische Risikofaktoren diskutiert worden (Hagberg et al. 2012; Fineberg et al. 2013; Hultman et al. 1999). >>Der genetische Einfluss auf die Entstehung psychischer Störungen ist weitaus größer als früher im Allgemeinen angenommen und liegt z. B. bei der Schizophrenie bei bis zu 80 % (Cannon et al. 1998),bei Zwangsstörungen bei ca. 40 % (Voderholzer u. Hohagen 2014) und bei der Depression bei 10–15 % (McGuffin et al. 1996).
Zur Vulnerabilität tragen aber auch Umwelteinflüsse bzw. psychosoziale Faktoren während der Kindheit und Jugend bei
(. Abb. 3.1). Beispiele hierfür sind frühe Verluste von Elternteilen in der Kindheit oder Missbrauchserlebnisse und Vernachlässigung. Aber auch der soziale Status der Herkunftsfamilie und die Schichtzugehörigkeit sind als Umweltbedingungen von Bedeutung. Besitzt man eine solche Anfälligkeit, bedeutet das jedoch nicht, dass dies zwangsläufig zum Ausbruch einer psychischen Störung führt. Dazu kommen individuelle Stressfaktoren, die als auslösende Bedingungen gelten.
z Stress
Dem Auftreten einer psychischen Störung gehen häufig Stressoren als auslösende Ereignisse voran. Hierbei werden langfristige, chronische Stressfaktoren (z. B. das Vorliegen einer chronischen Erkrankung) und akut auftretende Stressoren (z. B. der Ver-
40
3
B. Friedrichs und C. Knöchel
lust des Arbeitsplatzes) unterschieden. Stressfaktoren sind zumeist psychosoziale Einflussgrößen wie z. B. kritische Lebensereignisse. Mit kritischen Lebensereignissen sind Geschehnisse wie der Verlust eines nahestehenden Menschen, eine Scheidung oder der Verlust des Arbeitsplatzes gemeint. Aber auch exzessiver Drogenkonsum kann als biologischer Faktor in diese Kategorie fallen. Nicht selten nimmt ein Patient den Stressor als alleinige Ursache der Störung wahr. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn bei der Entwicklung einer depressiven Episode allein der Verlust eines Elternteils oder die hohe Arbeitsbelastung als Grund für die Störung wahrgenommen wird. Damit wird außer Acht gelassen, dass nicht alle Personen, die viel arbeiten oder ihre Eltern verlieren, depressiv werden. Im Rahmen des Vulnerabilitäts-Stress- Bewältigungs-Modells wird davon ausgegangen, dass starker chronischer oder akuter Stress nur dann zum Ausbruch einer psychischen Störung führt, wenn bei dem Betroffenen eine erhöhte Vulnerabilität vorliegt. Neben der Vulnerabilität spielt dabei allerdings auch der Umgang mit Stress (Coping) eine wesentliche Rolle. Bewältigung oder Coping meint, dass eine betroffene Person Möglichkeiten hat, mit belastenden Faktoren so umzugehen, dass kein oder wenig Stresserleben entsteht. z Protektive Faktoren
Die Fähigkeit zur Bewältigung von Stress, das sog. Coping (engl. tocope = bewältigen), ist ein wesentlicher, vor dem Ausbruch einer Störung schützender Faktor (= protektiver Faktor). Erfolgreiche Bewältigungsstrategien sind erlernte Fähigkeiten, die helfen, mit kritischen Lebensereignissen umzugehen. Sie basieren z. B. auf sozialer Kompetenz, können aber auch von Schulbildung oder Intelligenz abhängig sein. Zu den protektiven Faktoren gehören neben dem Coping auch unterstützende psychosoziale
Einflüsse, z. B. eine stabile familiäre Situation, ein sicherer Arbeitsplatz oder ein drogenfreies Umfeld. >>Der Anteil, den genetische und biologische oder psychosoziale Faktoren bzw. später hinzutretende Stressoren an der Krankheitsentstehung haben, fällt für verschiedene Störungsbilder sehr unterschiedlich aus. Aber auch innerhalb eines Störungsbildes, das auf einer ähnlichen beobachtbaren Symptomatik basiert, können sich die Ursachen für die Ausbildung der psychischen Störung von Patienten zu Patienten sehr stark unterscheiden (Heterogenität).
Zusammenfassung Die Einordnung einer psychischen Störung erfolgt mit Hilfe gängiger Klassifikationssysteme. Diagnosen werden im deutschsprachigen Raum gemäß dem ICD-10 kodiert. In der Psychiatrie können Störungen nicht auf eine Ursache zurückgeführt werden, sondern werden durch viele verschiedene Vulnerabilitäts- und Stressfaktoren bedingt. Dabei ist das Vulnerabilitäts-S tress-Bewältigungs- Modell ein häufig verwendetes Modell zur Erklärung psychischer Störungen.
Literatur APA (2014) DSM V. The Future of Psychiatric Diagnoses. American Psychiatric Association, Arlington VA Cannon TD, Kaprio J, Lonnqvist J, Huttunen M, Koskenvuo M (1998) The genetic epidemiology of schizophrenia in a Finnish twin cohort. A population-based modeling study. Arch Gen Psychiatry 55(1):67–74 Fineberg AM, Ellman LM, Buka S, Yolken R et al. (2013) Decreased birth weight in psychosis: influence of prenatal exposure to serologically deter-
41 Klassifikation und Ätiologie psychischer Störungen
mined influenza and hypoxia. Schizophr Bull 39:1037–1044 Hagberg H, Gressens P, Mallard C (2012) Inflammation during fetal and neonatal life: implications for neurologic and neuropsychiatric disease in children and adults. Ann Neurol 71(4):444–457 Hultman CM, Sparén P, Takei N, Murray RM, Cnattingius S (1999) Prenatal and perinatal risk factors for schizophrenia, affective psychosis, and reactive psychosis of early onset: case-control study. BMJ Feb 13 (318(7181)):421–426 Jaspers K (1965) Allgemeine Psychopathologie, 8. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg Kraepelin E (1919) Dementia Praecox and Paraphrenia. Livingstone, Edinburgh McGuffin P, Katz R, Watkins S, Rutherford J (1996) A Hospital-Based twin Register of the Heritability of DSM-IV Unipolar Depression. Archives of General Psychiatry 53:129–136
3
Nuechterlein KH, Dawson ME (1984) A Heuristic Vulnerability/Stress Model of Schizophrenic Episodes. Schizophrenia Bulletin 10:300–312 Psychrembel (2014) Psychrembel. Medizinisches Wörterbuch. De Gruyter, Berlin Schneider K (1992) Klinische Psychopathologie, 14. Aufl. Thieme, Stuttgart Schott H, Tölle R (2006) Geschichte der Psychiatrie: Krankheitslehren, Irrwege, Behandlungsformen. Beck, München Voderholzer U, Hohagen F (2014) Therapie psychischer Erkrankungen - State of the Art. Urban & Fischer, München WHO (1992) The ICD-10 Classification of Mental and Behavioural Disorders. WHO, Geneva Zubin J, Spring B (1977) Vulnerability – A New View of Schizophrenia. J Abnorm Psychol 86:103–126
43
Symptomkategorien psychischer Störungen Christian Knöchel und Benedikt Friedrichs
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 V. Oertel, F. Hänsel (Hrsg.), Aktiv für die Psyche, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67880-0_4
4
44
C. Knöchel und B. Friedrichs
nnLernziele 55 Kennenlernen der Grundlagen zur Erfassung der Psychopathologie 55 Kennenlernen der Merkmalsbereiche des AMDP-Systems und Definition zugehöriger Begriffe
4
4.1
Einführung
Psychische Störungen werden – wie in 7 Kap. 3 nachzulesen – mit Hilfe von Kategoriensystemen wie dem ICD-10 (WHO 1992) oder dem DSM-V (APA 2014) in Kategorien unterteilt. Um diese Einteilung vornehmen zu können, müssen Symptome von Patienten erfasst und eingeschätzt werden. Die Beurteilung der vorliegenden Symptome eines psychisch Erkrankten erfolgt durch einen psychopathologischen Befund. Psychopathologie bezeichnet die „Lehre von dem Leiden der Seele“ und beschäftigt sich mit der Erfassung, Darstellung und Zusammenstellung psychischer Kennzeichen und Symptome, die eine spezifische psychische Störung charakterisieren (Paulzen u. Schneider 2012). Merkmale des Erlebens und Verhaltens werden durch den Untersucher in einem psychopathologischen Befund zusammengefasst. Der psychopathologische Befund ist ein Querschnittsbefund, d. h., es wird die psychische Verfassung zu einem bestimmten Zeitpunkt abgebildet. Dabei werden sowohl subjektiv empfundene als auch objektiv wahrgenommene psychische Phänomene beschrieben und klassifiziert. Insbesondere geht es darum, Abweichungen des Seelenlebens des Patienten von einem als normal empfundenen Zustand zu erfassen. Diese Abgrenzung ist nicht immer einfach. Als Referenz dienen dem Untersucher zum einen sein eigenes Seelenleben, seine Erfahrungen aus der Untersuchung anderer Patienten und allgemeingültige Normen der jeweiligen Gesellschaft bzw. Kultur. Es werden also eigene Erfahrungen oder Be
obachtungen oder kulturelle Regeln herangezogen, um z. B. einzuschätzen, welches Maß an Trauer nach dem Verlust eines nahestehenden Menschen normal ist (vgl. hierzu auch 7 Kap. 3). Kulturabhängig ist z. B. die Reaktion auf traurige Ereignisse: Während in der einen Kultur lautes Weinen, Klagen, theatralisches Verhalten als normabweichend beurteilt werden wird, mag in anderen Kulturkreisen ein solches Verhalten gesellschaftlich anerkannt und manchmal sogar gefordert sein. Kulturübergreifend als normabweichend beurteilt wird dagegen z. B. das Erleben von Verfolgungswahn oder von akustischen Halluzinationen. Der psychopathologische Befund bildet damit für den Untersucher die Grundlage für diagnostische und therapeutische Entscheidungen. Er erlaubt jedoch keine Aussage über die zugrunde liegende Ursache (Ätiologie) der erfassten Normabweichungen (Symptome).
4.2
Psychopathologische Befunderhebung (Exploration)
Die Erhebung der psychopathologischen Symptome erfolgt mit dem Anamnesegespräch, das zu diesem Zwecke „semistrukturiert “durchgeführt wird. Semistrukturiert bedeutet, dass einige Teile des Gesprächs offen, andere Teile aber anhand eines Leitfadens oder vorher definierter Fragen – also strukturiert – geführt werden. Aus den so gewonnenen Informationen entsteht dann der psychopathologische Befund. In der Durchführung einer semistrukturierten Anamnese werden zunächst in einem offenen Gespräch die vom Patienten spontan berichteten und an ihm beobachteten Symptome erfasst (z. B. berichtet der Patient mit Tränen in den Augen von großer Traurigkeit oder lauthals lachend von bester Laune). Eine weitere, nun
45 Symptomkategorien psychischer Störungen
strukturierte Erhebung erfolgt anschließend, um die für den Untersucher zu diesem Zeitpunkt noch offenen Punkte abzuklären. Diesen Prozess bezeichnet man als Exploration. Die Beobachtungen des Untersuchers werden dann von ihm benannt und interpretiert und zum Schluss schriftlich als psychopathologischer Befund niedergelegt. Insgesamt werden bei der Erhebung Informationen zu sämtlichen Bereichen des psychischen Erlebens gesammelt. Dies beinhaltet in jedem Falle Informationen zum Denken, Fühlen, Wollen und Verhalten. Dazu zählen auch das äußere Erscheinungsbild (z. B. die Sauberkeit der Kleidung, Gepflegtheit) und Angaben zu einer möglichen Gefährdungslage des Patienten (z. B. durch Suizidalität) oder weitere für die Therapie wichtige Informationen (z. B. aggressive Tendenzen). Viele Informationen werden dabei bereits im freien Gespräch bzw. bei der Erhebung anderer Inhalte mitgewonnen, z. B. während der Erhebung der aktuellen und früheren Krankheitsgeschichte oder der Biographie. Die bis zuletzt unklaren Inhalte werden dann in strukturierter Form abgefragt, d. h., dass vorher festgelegte Fragen, beispielsweise zu möglichen Suizidgedanken, in einer bestimmten Reihenfolge abgefragt werden. >>Neben den verbalen Antworten des Patienten wird zur Beurteilung auch das Verhalten in Form von Mimik, Gestik etc. herangezogen. So wird z. B. beobachtet, ob der Patient sich distanziert verhält, immer wieder zur Seite schaut oder Fragen erst nach langer Pause beantwortet. Dies kann ein Hinweis auf ein fehlendes Vertrauen zum Untersucher sein, wie es nicht selten bei Verfolgungsängsten auftritt. Unterbrechungen im Redefluss des Patienten können z. B. auch dem Hören von Stimmen, also einer akustischen Halluzination geschuldet sein. Auch Hinweise auf Persönlichkeitsstörungen können bei einer Verhaltensbeobachtung zutage treten.
4
Für die Einschätzung einer Persönlichkeitsstörung eignet sich eine Querschnittsuntersuchung allerdings nur bedingt, da sich Persönlichkeitsstörungen durch ihre langanhaltende Symptomatik und Abweichung vom Normalen definiert. Daher kann eine erste Exploration lediglich Hinweise auf Veränderungen der Persönlichkeit geben. Selten wird direkt nach einer ersten Exploration eine Persönlichkeitsstörung diagnostiziert. Dies folgt oft erst im Verlauf der Behandlung, vor allem dann, wenn die akute Symptomatik, z. B. depressive oder psychotische Symptome, abgeklungen ist. Darüber hinaus manifestieren sich Persönlichkeitsstörungen auch durch das Verhalten von Betroffenen mit anderen Menschen und in unterschiedlichen Bereichen (siehe oben). Daher empfiehlt es sich, bei der Diagnose einer Persönlichkeitsstörung neben Testergebnissen auch eigene Beobachtungen, fremdanamnestische Informationen und Informationen, die im Verlauf einer Behandlung gewonnen und berichtet werden, heranzuziehen. Erst dann kann man valide beurteilen, ob ein Verhalten aufgrund einer tiefgreifenden Persönlichkeitsstörung von der Norm abweicht oder ob es aufgrund der Symptome der akuten Krankheitsphase entstanden ist und sich nach Abklingen der Phase wieder normalisiert. 4.3
Einteilung psychischer Symptome
Zur Erhebung psychopathologischer Phänomene der psychischen Störungen ist das international anerkannte Fremdbeurteilungssystem AMDP (Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie) (AMDP 2018) etablierter Standard. Dabei beurteilt der behandelnde Arzt oder Psychotherapeut das Symptombild eines Patienten anhand verschiedener Symptomkategorien und Merkmalsbereiche. Das AMDP-System unterteilt die aufgeführten Merkmale zunächst in zwei Gruppen:
46
C. Knöchel und B. Friedrichs
55 Merkmale des psychischen Befundes (100 Symptome, unterteilt in 12 Kategorien) und 55 Merkmale des somatischen Befundes (40 Symptome).
4
Darüber hinaus sind Abstufungen des Schweregrades (nicht vorhanden, leicht, mittel, schwer, keine Aussage) möglich. Die folgende Übersicht nennt die 12 Symptomkategorien des psychischen Befunds mit den zugehörigen Merkmalen sowie beispielhaft einige körperliche Kategorien anhand des AMDP-Systems (AMDP 2018). Psychische und somatische Merkmale nach AMDP-System (Symptomkategorien)
55 55 55 55 55 55 55 55 5.
Befürchtungen/Zwänge 55 Misstrauen 55 Hypochondrie 55 Phobien 55 Zwangsgedanken 55 Zwangshandlungen
6.
Wahn 55 Wahnstimmung 55 Wahnwahrnehmung 55 Wahngedanken 55 Systematischer Wahn 55 Wahndynamik 55 Beziehungsideen/-wahn 55 Beeinträchtigungsideen/Verfolgungswahn 55 Eifersuchtswahn 55 Schuldwahn 55 Verarmungswahn 55 Hypochondrischer Wahn 55 Größenwahn 55 Religiöser Wahn
7.
Wahrnehmungsstörungen 55 Illusionäre Verkennungen 55 Stimmenhören: dialogisierende Stimmen 55 Stimmenhören: kommentierende Stimmen 55 Stimmenhören: imperative Stimmen 55 Andere akustische Halluzinationen 55 Optische Halluzinationen 55 Körperhalluzinationen 55 Geruchs- und Geschmackshalluzinationen
Psychischer Befund 1. Bewusstseinsstörung 55 Bewusstseinsminderung 55 Bewusstseinseintrübung 55 Bewusstseinseinengung 55 Bewusstseinsverschiebung 2.
Orientierungsstörung 55 Zeitliche Orientierungsstörung 55 Örtliche Orientierungsstörung 55 Situative Orientierungsstörung 55 Orientierungsstörung zur eigenen Person
3.
Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen 55 Auffassungsstörungen 55 Konzentrationsstörungen 55 Merkfähigkeitsstörungen 55 Gedächtnisstörungen 55 Urteilsfähigkeit
4.
Formale Denkstörungen 55 Gehemmt 55 Verlangsamt 55 Umständlich, weitschweifig 55 Eingeengt
Perseverierend Grübeln Gedankendrängen Ideenflucht Vorbeireden Gesperrt/Gedankenabreißen Inkohärent, zerfahren Neologismen
47 Symptomkategorien psychischer Störungen
8.
9.
Ich-Störungen 55 Derealisation 55 Depersonalisation 55 Gedankenausbreitung 55 Gedankenentzug 55 Gedankeneingebung 55 Gedankenlautwerden 55 Andere Fremdbeeinflussungserlebnisse Störungen der Affektivität 55 Ratlos 55 Gefühl der Gefühllosigkeit 55 Affektarm 55 Störung der Vitalgefühle 55 Deprimiert 55 Hoffnungslos 55 Ängstlich 55 Euphorisch 55 Dysphorisch 55 Gereizt 55 Innerlich unruhig 55 Klagsam/jammerig 55 Insuffizienzgefühle 55 Gesteigerte Selbstwertgefühle 55 Schuldgefühle 55 Verarmungsgefühle 55 Ambivalent 55 Parathymie 55 Affektlabil 55 Affektinkontinent 55 Affektstarr
10. Antriebs- und psychomotorische Störungen 55 Antriebsarm 55 Antriebsgehemmt 55 Antriebsgesteigert 55 Motorisch unruhig 55 Parakinesen
55 55 55 55
4
Maniriert-bizarr Theatralisch Mutistisch Logorrhoisch
11. Circadiane Besonderheiten 55 Morgens schlechter 55 Abends schlechter 55 Täglich mehrfach wechselnd 12. Andere psychische Störungen 55 Sozialer Rückzug 55 Soziale Umtriebigkeit 55 Aggressivität 55 Suizidalität 55 Selbstbeschädigung 55 Mangel an Krankheitseinsicht 55 Mangel an Krankheitsgefühl 55 Ablehnung der Behandlung 55 Pflegebedürftig (bei alltäglichen Handlungen Hilfe nötig) SomatischerBefund (Auszug) 55 Schlaf- und Vigilanzstörungen 55 Appetenzstörungen 55 Vegetative Störungen 55 Andere somatische Störungen
4.4
Symptomkategorien und Merkmalsbereiche des AMDPSystems
Im Folgenden werden die 12 Symptomkategorien und der Bereich somatische Auffälligkeiten des AMDP-Systems nochmals näher betrachtet. In den Unterkategorien werden zur Veranschaulichung einige Beispiele genannt, die Aufzählung ist jedoch keine vollständige Darstellung aller Symptome.
48
4.4.1
4
C. Knöchel und B. Friedrichs
Bewusstseinsstörungen (Kategorie 1 des AMDPSystems)
Das Bewusstsein lässt sich zum Zeitpunkt des Gesprächs mit dem Patienten aufgrund verschiedener äußerlicher Merkmale und des Verhaltens beurteilen. Man unterscheidet zwischen quantitativer und qualitativer Bewusstseinsstörung. Quantitative Bewusstseinsstörungen beziehen sich auf den Grad der Wachheit und entsprechen einer Bewusstseinsminderung mit den Abstufungen 55 benommen (verlangsamt), 55 somnolent (schläfrig, jedoch leicht erweckbar), 55 soporös (nur durch starke Schmerzreize erweckbar), 55 komatös (bewusstlos, selbst auf Schmerzreize nicht erweckbar). Eine Person, die unter einer qualitativen Bewusstseinsstörungen leidet, hat das Wissen über sich selbst und die Umwelt verloren. Der Betroffene hat z. B. die Fähigkeit verloren, verschiedene Aspekte der eigenen Person und der Umwelt zu verstehen und diese sinnvoll miteinander zu verknüpfen. Das Denken und Handeln des Betroffenen scheint verwirrt, Zusammenhänge zwischen verschiedenen Handlungen sind für Außenstehende nicht nachvollziehbar. Dieser Zustand tritt häufig bei Betroffenen mit einer Schizophrenie auf (s. 7 Abschn. 4.6.2). Bei der Bewusstseinseinengung ist der Bewusstseinsumfang gestört, d. h., Denkinhalte sind eingeengt und beschränken sich auf wenige Themen. Während der Betroffene auf Außenreize nur noch vermindert ansprechbar ist und Vorstellungen sowie Denkinhalte eingeengt sind, bleibt die Handlungsfähigkeit meist erhalten. Dieser Zustand hat neben Intoxikationen und Infektionskrankheiten oft ein Schockerleben oder ein Trauma als Ursache.
Bei der Bewusstseinsverschiebung hat der Betroffene das subjektive Gefühl eines erweiterten Bewusstseins sowie gesteigerter Wachheit. Intensivere Sinneswahrneh mungen und ein erweitertes Raum-Zeit- Empfinden sind Begleitzeichen. Dieser Zustand wird als vergleichbar mit einer meditativen Trance angesehen (AMDP 2018). 4.4.2
Orientierungsstörungen (Kategorie 2 des AMDPSystems)
Man unterscheidet 55 zeitliche Orientierungsstörungen, 55 örtliche Orientierungsstörungen, 55 situative Orientierungsstörungen sowie 55 Orientierungsstörungen zur eigenen Person. Bei der Erfassung dieses Symptombereichs muss darauf geachtet werden, immer alle Teilbereiche der Orientierung abzufragen, da häufig ein Teilbereich noch intakt, ein anderer aber gestört ist. Die Orientierung wird durch Fragen nach dem aktuellen Zeitpunkt (Jahr, Monat, Tag, Tageszeit), dem Aufenthaltsort (Wo befinden wir uns? Welche Stadt, welcher Stadtteil, welches Stockwerk?), zur gegenwärtigen Situation (Was machen wir hier gerade und warum?) und zur eigenen Person (Wie heißen Sie? Wann sind sie geboren? Wo wohnen Sie?) geprüft. 4.4.3
Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen (Kategorie 3 des AMDPSystems)
Aufmerksamkeit bezeichnet die Fähigkeit, die geistige Tätigkeit auf eine Aufgabe auszurichten. Von Konzentration spricht man, wenn Aufmerksamkeit über eine längere
49 Symptomkategorien psychischer Störungen
Zeit aufrechterhalten wird. Der Begriff „Auffassung“meint, dass die erfahrenen Ereignisse oder beobachteten Vorgänge auch in ihrer Bedeutung erfasst und sinnvoll verknüpft werden. Alle drei Prozesse (v. a. Aufmerksamkeit und Auffassung) sind Teilprozesse, die wiederum auf Gedächtnisvorgänge Einfluss nehmen, da nur solche Informationen im Gedächtnissystem gespeichert werden können, die aufmerksam wahrgenommen und verarbeitet wurden. Das Gedächtnis kann in mehrere Unterbereiche und -systeme unterteilt werden (Tulving 1992). Die Einteilung erfolgt dabei nach dem zeitlichen Ablauf der Informationsaufnahme und -speicherung sowie des Abrufs. Der Begriff der Merkfähigkeit im AMDP-System entspricht dabei dem Kurzzeitgedächtnis, womit in der Regel eine Speicherung von Informationen im Bereich von Sekunden bis Minuten gemeint ist. Das Langzeitgedächtnis hingegen speichert Informationen über eine Dauer von Stunden bis Jahren. Aufmerksamkeit, Konzentration und Merkfähigkeit werden zum einen im Rahmen eines Gespräches beobachtet (Kann der Patient dem Gespräch folgen? Sind die Angaben zum Krankheitsverlauf stimmig? Erinnert er die zugehörigen Fakten korrekt?). Zusätzlich zu den Beobachtungen der Untersuchenden wird die kognitive Leistungsfähigkeit jedoch auch systematisch mittels verschiedener standardisierter Instrumente und Testverfahren geprüft. Ein Beispiel für die Überprüfung der kognitiven Leistungsfähigkeit bei der Demenz ist der Mini Mental Status Test, kurz MMST (Folstein et al. 1975). In diesem Test sind verschiedene Aufgaben zur Überprüfung verschiedener Bereiche der kognitiven Leistungsfähigkeit vorhanden: Die Konzentration wird beispielsweise durch das wiederholte Subtrahieren (z. B. 100 − 7 = 93 − 7 = …) oder das Rückwärtsbuchstabieren eines Wortes (z. B. „Radio“) getestet. Das Kurzzeitgedächtnis wird ge-
4
prüft, indem man den zu untersuchenden Patienten bittet, sich drei Begriffe zu merken, und diese nach kurzer Zeit erneut abfragt.
4.4.4
Formale Denkstörungen (Kategorie 4 des AMDPSystems)
Der Untersucher beurteilt anhand dessen, was der zu untersuchende Patient berichtet, die Denkfähigkeit. Dabei können natürlich nur die ausgesprochenen Gedanken beurteilt werden. Bei den Denkstörungen unterscheidet man formale und inhaltliche Denkstörungen. Inhaltliche Denkstörungen beschreiben gegenüber Gesunden veränderte Denkinhalte, formale Denkstörungen hingegen Störungen des Denkablaufes. Zu den formalen Denkstörungen zählen folgende Formen: 55 Denkverlangsamung: Der Betroffene spricht langsam und stockend und mit vielen Pausen. 55 Ideenflucht: Der Betroffene „rutscht“ von einem Gedanken in den nächsten, er folgt unablässig neuen Einfällen und denkt keinen Gedanken zu Ende. Dabei kann dem Gedankengang des Betroffenen noch gefolgt werden (sonst: Zerfahrenheit). 55 Zerfahrenheit: Hierbei ist für den Untersucher der Gedankengang nicht mehr nachvollziehbar, weil Sätze nicht beendet werden oder keinen Sinn ergeben. 55 Neologismen: Der Betroffene äußert Wortneubildungen, d. h., aus Teilen von Wörtern werden unsinnige, neue Wörter gebildet. 55 Perseverationen: Der Betroffene wiederholt vorher gebrauchte Worte im weiteren Gesprächsverlauf erneut, ohne dass diese Wörter im weiteren Gesprächsverlauf noch Sinn ergeben.
50
4.4.5
C. Knöchel und B. Friedrichs
efürchtungen und Zwänge B (Kategorie 5 des AMDPSystems)
Diese Merkmalsgruppe bezeichnet Störungen des Denkinhaltes ohne wahnhaften Charakter (s. 7 Abschn. 4.4.6). Befürchtungen sind Sorgen über oder Ängste vor etwas Konkretem; das kann ein Objekt, eine Person, eine Situation oder ein Gedanke sein. Unter Zwängen versteht man wiederkehrende, sich aufdrängende, dem eigenen Wesen fremde und für den Betroffenen unangenehme Gedanken oder Handlungen. Die Betroffenen berichten von einem vergeblichen Widerstand, der zu Angstzuständen führt. Zwänge können sich in Gedanken, Impulsen oder Handlungen äußern.
4
4.4.6
Wahn/wahnhafte inhaltliche Denkstörungen (Kategorie 6 des AMDP-Systems)
Wenn das Denken von objektiv falschen Überzeugungen oder von Fehlinterpretationen an sich richtiger Wahrnehmungen bestimmt ist, spricht man von einer inhaltlichen Denkstörung. Bei wahnhaften inhaltlichen Denkstörungen ist der Inhalt von Gedanken und Sätzen normabweichend und entspricht nicht der Realität. Beim Wahn fehlt darüber hinaus eine angemessene Anregung von außen, während eine solche Anregung bei Befürchtungen in der Regel noch in gewissem Ausmaß vorhanden ist. Trotz vernünftiger Gegenargumente werden die Vorstellungen beim Wahn aufrechterhalten. Zusammengefasst ist der Wahn an folgende Kriterien gebunden (sog. Wahnkriterien nach Reischies 2007): Wahn ist 55 unmittelbar: apriorische Evidenz (Unmittelbarkeit der Überzeugung, es bedarf keiner Argumente für die unrichtige
Annahme, man spricht auch von subjektiver Gewissheit), 55 unkorrigierbar: keine Möglichkeit der Widerlegung z. B. durch Gegenargumente oder durch Erfahrung, 55 unmöglich: der Inhalt ist zumindest nach allgemeiner Erfahrung falsch, 55 unangemessen: der Inhalt wird von der kulturellen Gemeinschaft nicht geteilt. Im Unterschied zum Wahn/wahnhaften inhaltlichen Denkstörungen sind überwertige Ideen lediglich „wahnähnlich“, es werden jedoch nicht alle Wahnkriterien erfüllt. Meistens besteht ein realer Aspekt einer Idee, dem aber vom Betroffenen eine übertriebene Bedeutung beigemessen wird. Diese Bedeutung ist für den äußeren Betrachter nicht nachvollziehbar. Beim Wahneinfall handelt es sich um einen kurzfristig und unvermutet auftretenden Gedanken, der wahnhaft verzerrt ist. Als Wahnwahrnehmung wird eine wahnhafte Umdeutung einer an sich richtigen Wahrnehmung bezeichnet. Werden mehrere Wahneinfälle bei dauerhaft wahnhaftem Denken miteinander verknüpft, spricht man von Wahngedanken. Den Grad der Verknüpfung der Wahngedanken untereinander und mit anderen Symptomen wie Halluzinationen oder Ich- Störungen (s.u.) bezeichnet man als Systematisierungdes Wahns. Ein höherer Grad an Systematisierung des Wahns ist häufig bei chronisch erkrankten, unbehandelten schizophrenen Patienten vorhanden. Ein Beispiel für ein Wahnsystem eines schizophrenen Patienten ist: „Ich werde von Spionen in schwarzen Autos beobachtet. Dahinter stecken das FBI und die NSA, die genau wissen, dass ich die Handytechnik erfunden habe. Deswegen befürchten sie jetzt, dass ich ihre Geheimnisse stehlen kann. Auch einige Mitarbeiter hier im Haus stecken mit der NSA unter einer Decke.“ Die Wahnstimmung hingegen bezeichnet eine Atmosphäre des „Betroffenseins“ beim
51 Symptomkategorien psychischer Störungen
Patienten oder z. B. eine empfundene Gewissheit, dass etwas „Schlimmes“ passieren werde, ein Gefühl, dass „etwas in der Luft liegt“. Die Wahndynamik beschreibt die affektive Anteilnahme am Wahn sowie die Veränderung der Ideen. Von einer lebhaften Dynamik spricht man, wenn beim Betroffenen starke Emotionen und eine produktive Ausgestaltung seiner Wahngedanken zu beobachten sind. Wirkt der Betroffene im Wahn affektleer, unberührt und zeigt keine produktive Ausbreitung der Wahngedanken, handelt es sich um eine schwach ausgeprägte Wahndynamik. Beispiele für Wahninhalte sind: Beeinträchtigungs- und Verfolgungswahn, Beziehungswahn, Beobachtungswahn, Vergiftungswahn, Eifersuchtswahn, Größenwahn, Liebeswahn, Schuldwahn, Versündigungswahn, Verarmungswahn, hypochondrischer Wahn, religiöser Wahn, nihilistischer Wahn. Die Wahninhalte sind in der Regel synthym, d. h., einer Grundstimmung entsprechend. So haben Patienten mit wahnhaften Depressionen häufig einen Schuldwahn, Versündigungswahn, Verarmungswahn oder einen nihilistischen Wahn (das sog. Cotard-Syndrom: Wahn, nicht mehr zu existieren). 4.4.7
Wahrnehmungsstörungen (Kategorie 7 des AMDPSystems)
Zu den Sinnestäuschungen oder Wahrnehmungsstörungen gehören Halluzinationen – also Wahrnehmungen ohne äußere Reizquelle– und Illusionen, bei denen etwas tatsächlich Vorhandenes für etwas anderes gehalten wird. Halluzinationen können in jeder Sinnesmodalität auftreten; am häufigs-
4
ten kommen bei der Schizophrenie akustische Halluzinationen – das Stimmenhören – vor, bei Alkoholkranken (im Entzugsdelir) visuelle Halluzinationen, z. B. das Sehen von Gegenständen, Personen oder Tieren. Bei den Halluzinationen unterscheidet man zwischen folgenden Formen: 55 Akustische Halluzinationen in Form von kommentierenden, dialogisierenden oder imperativen (befehlenden) Stimmen (Phoneme) und das Hören von Geräuschen (Akoasmen). 55 Optische (visuelle) Halluzinationen, z. B. in Form von Schatten oder sogar Personen, die man sieht, obwohl sie reell nicht da sind (können auch szenisch vorkommen). Ein Patient in einem Alkoholentzug sieht z. B. manchmal weiße Mäuse. 55 Gustatorische Halluzinationen sind Geschmacks-Sinnestäuschungen. Diese Form der Halluzination kommt häufig bei der Schizophrenie vor. Der Patient fürchtet vergiftet zu werden und schmeckt im Wasser oder im Essen eine Veränderung zu dem normalerweise dafür passenden Geschmack. 55 Olfaktorische Halluzinationen sind Täuschungen des Geruchssinns. Beispielsweise ist eine depressive Patientin davon überzeugt, sich versündigt zu haben, und riecht Schwefelgeruch, der nach Überzeugung der Patientin aus der Hölle stammen könnte. 55 Körperhalluzinationen (Zönästhesien) sind haptische (taktile) Sinnestäuschungen, betreffen also die Sensibilität. Auch diese Halluzinationen sind für die Schizophrenie typisch (aber natürlich nicht spezifisch): Ein betroffener Patient nimmt z. B. auf seiner Haut das Krabbeln tatsächlich nicht vorhandener Insekten wahr.
52
4.4.8
C. Knöchel und B. Friedrichs
I ch-Störungen (Kategorie 8 des AMDP-Systems)
Bei den Ich-Störungen unterscheidet man zwischen 55 psychotischen Ich-Störungen und 55 Entfremdungserlebnissen.
4
Bei den psychotischen Ich-Störungen kann ein Betroffener die Grenzen zwischen dem Ich und der Umwelt nicht mehr ziehen, d. h., der Betroffene kann nicht mehr unterscheiden, ob es sich um eigene psychische Vorgänge handelt oder ob diese von außen kommen bzw. äußeren Einflüssen unterliegen. Psychotische Ich-Störungen sind für die Schizophrenie typisch und umfassen 55 die Gedankenausbreitung („Andere wissen, was ich denke“), 55 das Gedankenlautwerden („Andere können hören, was ich denke“), 55 den Gedankenentzug („Meine Gedanken werden weggenommen“), 55 die Gedankeneingebung („Meine Gedanken sind mir von anderen eingegeben“) und 55 leibliche Beeinflussungserlebnisse („Ich werde ferngesteuert oder von außen beeinflusst“) (im AMDP als „Andere Fremdbeeinflussungserlebnisse“ zusammengefasst). Die Entfremdungserlebnisse hingegen sind nicht störungsspezifisch und können bei vielen psychischen Störungen vorkommen. Man unterscheidet dabei zwischen 55 Depersonalisationserleben und 55 Derealisationserleben. Beim Depersonalisationserleben berichten die Betroffenen, dass sie sich unwirklich, verändert oder fremd fühlen. Sie beschreiben dies z. B. auch mit den Worten, sich wie in „Watte gepackt“ oder sich „uneinheitlich gegenüber der Umgebung“ zu fühlen.
Beim Derealisationserleben erscheint den Betroffenen ihre Umgebung verändert, sie erleben diese als unwirklich oder fremd. Sie berichten z. B., dass ihnen alles vorkomme „wie in einem Film“ oder als ob sie alles durch eine „Regenwand“ sehen. Auch das Zeitgefühl kann verändert sein; man hat das Gefühl, dass alle Vorgänge langsamer oder schneller ablaufen. 4.4.9
törungen der Affektivität S (Kategorie 9 des AMDPSystems)
Unter Störungen der Affektivität werden alle Störungen zusammengefasst, die das Gefühlsleben betreffen. Dazu gehören sowohl lang andauernde Gefühlszustände als auch kurz andauernde Gefühlsabläufe. Gefühlszustände können sowohl im Gespräch erfasst als auch anhand der Verhaltensbeobachtung beurteilt werden. Unterschieden wird bei der Beurteilung die Grundstimmung, die z. B. gedrückt, deprimiert, hoffnungslos, heiter oder gehoben sein kann, von der Fähigkeit zur Modulation des Affektes (wie z. B. affektstarr, affektlabil, affektinkontinent, ambivalent oder parathym). Affektstarre oder auch affektsteife Patienten verbleiben durchgängig im gleichen Affekt, unabhängig von den jeweiligen äußeren Situationen. Unter Affektlabilität versteht man einen schnellen Stimmungswechsel, der mit oder ohne äußeren Anlass spontan entsteht. Bei der Affektinkontinenz hingegen können Affekte bei geringem Anlass überschießen und vom Betroffenen nicht mehr kontrolliert werden. Die Ambivalenz beschreibt das gleichzeitige Vorhandensein von widersprüchlichen Gefühlen, die von den Betroffenen oft als sehr quälend empfunden werden. Bei der Parathymie handelt es sich um paradoxe Affekte, d. h., der Gefühlsausdruck passt nicht zu der jeweiligen Situation.
53 Symptomkategorien psychischer Störungen
4.4.10
Antriebs- und psychomotorische Störungen (Kategorie 10 des AMDP-Systems)
Störungen des Antriebs drücken sich als Veränderungen der Energie, Aktivität und Initiative eines Menschen aus. Als Psychomotorik bezeichnet man die hiervon abhängige Gesamtheit der Bewegungsabläufe. Bei den Antriebs- und psychomotorischen Störungen wird unterschieden zwischen: 55 Antriebssteigerung, 55 Antriebsarmut und 55 Parakinesien. Eine Antriebssteigerung zeigt sich als Zunahme von Aktivität, Energie und Initiative. Dies wird häufig von einem gesteigerten Rededrang begleitet, den man als Logorrhoe bezeichnet. Bei einer gesteigerten und ungerichteten motorischen Aktivität wird von motorischer Unruhe gesprochen. Dies kann sich als ständiges Umherlaufen oder als Unfähigkeit, still zu sitzen, ausdrücken, aber auch Haare raufen oder unruhiges Spiel mit den Händen bis hin zum Erregungszustand umfassen. Antriebsarmut zeigt sich umgekehrt als Mangel an Energie, Initiative und Aktivität. Dieser wird von Patienten auch oft als Verlust von Interesse oder Lust beschrieben. Häufig zeigt sich auch eine verminderte Anteilnahme. Auf sprachlicher Ebene kann sich dies in Form von Mutismus (Wortkargheit) ausdrücken. Bei antriebsgehemmten Personen werden die Energie und Aktivität als blockiert beschrieben. Die Betroffenen möchten etwas machen, können es allerdings aufgrund der Antriebshemmung nicht tun. Von der Antriebsarmut ist dies nur durch die Selbstauskunft des Patienten zu unterscheiden. Parakinesien beschreiben abnorme Bewegungsmuster, die teils stereotype, d. h. immer wiederkehrend gleiche Bewegungsabläufe aufweisen oder aber von einem sog.
4
Negativismus, bei dem die Betroffenen genau das Gegenteil von dem machen, was von ihnen erwartet wird, geprägt sind. 4.4.11
Circadiane Besonderheiten (Kategorie 11 des AMDPSystems)
Hier werden Tagesschwankungen der erfassten Symptome abgebildet, d. h. Symptome können zu bestimmten Tageszeiten (z. B. morgens) stärker ausgeprägt sein als zu anderen (z. B. abends). Dies betrifft insbesondere Störungen des Affektes und des Antriebs und spielt insofern nur bei affektiven Störungen eine wesentliche diagnostische Rolle. Für die schweren depressiven Episoden ist insbesondere das Vorliegen eines sog. Morgentiefs charakteristisch – mit deutlicher Minderung des Antriebs und gedrückter Stimmung am Morgen, die sich zum Abend hin bessert. 4.4.12
Andere psychische Störungen (Kategorie 12 des AMDP-Systems)
Hierunter werden sozialer Rückzug, Aggressivität und Fremdgefährdung sowie selbstverletzendes Verhalten und Suizidalität aufgeführt. Sozialer Rückzug tritt insbesondere bei der Depression und der Schizophrenie auf und bedeutet, dass Betroffene sich von ihren sozialen Kontakten zurückziehen, weniger mit anderen Menschen sprechen und lieber für sich bleiben. Eine Fremdgefährdung liegt dann vor, wenn zu befürchten ist, dass ein psychisch Kranker durch aggressives Verhalten andere Personen körperlich gefährdet. Eine Selbstgefährdung liegt dann vor, wenn ein psychisch Kranker Handlungen androht oder durchführt, die zu einer Schädigung des Wohls des Betroffenen führen können.
54
4
C. Knöchel und B. Friedrichs
Ein Patient mit einer Borderline-Persönlich keitsstörung gefährdet sich beispielsweise, wenn er sich in akuten Zuständen mit einem Messer oder einem anderen scharfen Gegenstand in die Haut schneidet. Bei der Einschätzung der Selbstgefährdung sind immer auch suizidale Tendenzen zu überprüfen, d. h., Tendenzen, sich das Leben zu nehmen. Dabei gibt es folgende Unterkategorien: 55 kein Anhalt für Suizidalität, 55 Suizidgedanken und/oder -pläne, aber keine handlungsweisenden Pläne; der Patient ist absprachefähig, 55 nicht ausreichend von Suizidgedanken oder -plänen distanziert (akute Gefährdung). >>Wenn ein Behandler Anhalt dafür hat, dass ein Patient nicht ausreichend von Suizidalität distanziert ist, muss er sofort weitere Behandlungsmaßnahmen einleiten (z. B. Verlegung auf eine geschützte Station).
4.4.13
Somatische Auffälligkeiten (Zusatzkategorie des AMDP-Systems)
Zu den somatischen Auffälligkeiten zählen alle körperlichen und vegetativen Beschwerden, wie z. B. Ein- und Durchschlafstörungen, Appetit, Durst, Sexualität, Miktion (Entleerung der Harnblase) und Defäkation (Stuhlgang), Atembeschwerden, Herzklopfen, Schwitzen und auch S chmerzen.
4.5
Einteilung von Persönlichkeitsstörungen
Die Einordnung von Persönlichkeitseigenschaften, die auf eine Persönlichkeitsstörung hinweisen, erfolgt nicht mittels
AMDP- Systems. Die Untersuchung der Persönlichkeit erfolgt vor allem über das Erfragen des bisherigen Lebensweges (biographische Anamnese). Zudem spielt es eine wichtige Rolle, wie die Person von ihrem Umfeld wahrgenommen wird. Daher befragt man möglichst auch Angehörige oder Freunde des Betroffenen (Fremdanamnese). Zu beachten ist, dass bei einer akuten psychischen Störung die Persönlichkeitszüge durch die akuten Symptome der Störung überlagert werden und auch die biographischen Schilderungen zumeist durch die aktuelle Störung gleichsam eingefärbt werden. Beispielsweise berichten Patienten in einer depressiven Episode nicht selten, dass sie noch nie Zeiten erlebt hätten, in denen es ihnen gut gegangen sei. Wenn es den Betroffenen wieder besser geht, widerlegen sie häufig solche Äußerungen. Daher sollte für die Beurteilung der Persönlichkeit abgewartet werden, bis die akute Symptomatik abgeklungen ist. >>Bei einer akuten psychischen Störung (z. B. Depression, Manie oder akute Psychose) sind die Persönlichkeitszüge oft überlagert. Bei der Diagnosestellung von Persönlichkeitsstörungen in solchen Phasen ist demnach Zurückhaltung geboten.
4.5.1
er Begriff der D Persönlichkeit
Um Persönlichkeitsstörungen definieren zu können, muss man sich zunächst mit der Frage nach dem Begriff der Persönlichkeit im Allgemeinen beschäftigen. Schon seit dem Altertum wurden verschiedene Definitionen der Persönlichkeit eines Menschen vorgestellt. Im 7 Exkurs werden einige Beispiele für Definitionen von Persönlichkeit aufgeführt.
55 Symptomkategorien psychischer Störungen
4
Exkurs
Definitionen von Persönlichkeit: Beispiele 55 „Gesamtheit der persönlichen (charakteristischen, individuellen) Eigenschaften eines Menschen“ (Duden 2011). 55 „Summe psychophysischer Eigenschaften einer Person, die ihr individuelles Verhalten und Erleben bestimmen“ (Margraf u. Maier 2012). 55 „Persönlichkeit ist die dynamische Ordnung derjenigen psychophysischen Systeme im Individuum, die sein charakteristisches Verhalten bestimmen“ (Allport 1949). 55 „Persönlichkeit und Persönlichkeitseigenschaften eines Menschen sind Ausdruck der für ihn charakteristischen Ver-
4.5.2
Definition von Persönlichkeitsstörungen
Man geht heute von einem Kontinuum zwischen persönlichem Stil/Persönlichkeit und Persönlichkeitsstörung aus (Fiedler u. Herpertz 2013). Von einer Persönlichkeitsstörung muss letztlich dann gesprochen werden, wenn der „persönliche Stil“ eines Menschen dazu führt, dass er seine Eigenschaften nicht mehr nützlich einsetzen kann und der Betroffene dadurch im Alltag eingeschränkt ist. Diese Einschränkung muss nach derzeitigen Definitionen so stark ausgeprägt sein, dass sie zu einem Leiden des Betroffenen oder seines Umfeldes (z. B. der Familienangehörigen oder der Kollegen am Arbeitsplatz) führt. Es ist wesentlich für die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung, dass Probleme situationsübergreifend, also in mehreren Lebensbereichen, auftreten. Auch sollten Verhaltensmuster nicht nur zu einem bestimmten Zeitpunkt auftreten, um von einer Störung der Persönlichkeit zu sprechen.
haltensweisen und Interaktionsmuster, mit denen er gesellschaftlich-kulturellen Anforderungen und Erwartungen zu entsprechen und seine zwischenmenschlichen Beziehungen zur Entwicklung einer persönlichen Identität mit Sinn zu füllen versucht“ (Fiedler 2007). Insgesamt existiert keine allgemeingültige Definition von Persönlichkeit. Man kann jedoch sagen, dass die Persönlichkeit eines Menschen durch die für ihn individuell charakteristische Zusammensetzung verschiedener Eigenschaften, die das Verhalten und Erleben dieses Menschen bestimmt, definiert wird.
Persönlichkeitsstörung Der Begriff „Persönlichkeitsstörung“ bezeichnet ein zeitlich stabiles und situationsübergreifendes unflexibles und unangepasstes Erlebens- und Verhaltensmuster, das mehrere Funktionsbereiche (Affektivität, Impulskontrolle, Antrieb, Wahrnehmen, Denken, zwischenmenschliche Beziehungen) betrifft. Dieses Verhaltensmuster führt dabei immer zu einem deutlichen subjektiven Leiden des Betroffenen und/ oder seines Umfeldes sowie zu Einschränkungen der beruflichen und sozialen Leistungsfähigkeit (WHO 1992).
4.5.3
Unterformen von Persönlichkeitsstörungen nach ICD-10
Persönlichkeitsstörungen werden im ICD-10 (WHO 1992) in der Kategorie F60 in neun Unterformen unterteilt: die paranoide, die
56
C. Knöchel und B. Friedrichs
. Tab. 4.1 Persönlichkeitsstörungen nach ICD-10 (WHO 1992)
4
ICD-10- Code
Bezeichnung
Beschreibung (Auswahl)
F60.0
Paranoid
Misstrauisch, empfindlich
F60.1
Schizoid
Emotional kühl, zurückgezogen, einzelgängerisch
F60.2
Dissozial
Verantwortungslos, aggressiv, kein Schuldbewusstsein
F60.3
Emotional-instabil (Borderline-Typ)
Launisch, impulsiv, streitsüchtig
F60.4
Histrion
Theatralisch, übertriebener Ausdruck von Gefühlen
F60.5
Zwanghaft
Rigide, perfektionistisch, übertrieben gewissenhaft
F60.6
Ängstlich-vermeidend
Unsicher, besorgt, Furcht vor Kritik und Ablehnung
F60.7
Abhängig
Passiv, nachgiebig, anspruchslos
F60.8
Sonstige spezifische Persönlichkeitsstörungen
Narzisstisch, passiv-aggressiv
F 61
Kombinierte und andere Persönlichkeitsstörungen
Kombination aus Symptomen der anderen Unterformen
schizoide, die dissoziale, die emotional- ten dargestellt, um den Lesenden einen Eininstabile, die histrione, die zwanghafte, die blick zu geben, wie ein psychopathoängstlich-vermeidende, die abhängige Persön- logischer Befund in der klinischen Praxis lichkeitsstörung sowie sonstige Persönlich- erstellt wird. keitsstörungen. Zusätzlich werden kombinierte und andere Persönlichkeitsstörungen unter F60 kodiert. Eine kombinierte Persön- 4.6.1 Depressive Patientin lichkeitsstörung wird dann diagnostiziert, wenn verschiedene Symptome von mehreren Zum Erstgespräch erscheint eine gepflegte Unterformen vorhanden sind. In . Tab. 4.1 47-jährige Frau. Die Kooperation ist gut, sie sind die Unterformen, wie sie im ICD-10 ist freundlich im Kontakt, antwortet aller(WHO 1992) aufgeführt sind, aufgelistet und dings immer wieder ausweichend und abjeweils mit einer exemplarischen Beschreibung schweifend und wirkt misstrauisch. Der Beder Persönlichkeitszüge versehen. richt ist flüssig. Sie ist bewusstseinsklar und allseits orientiert, die Aufmerksamkeit gerichtet, die Gedächtnisfunktionen sind ungestört. Die Patientin erscheint intellektuell 4.6 Beispiele für psycho und emotional differenziert. Das Denken erpathologische Befunde scheint formal geordnet. Es gibt keine HinIm Folgenden sind beispielhaft psycho- weise auf inhaltliche Denkstörungen, Stöpathologische Befunde für eine depressive rungen der Wahrnehmung oder Ich- Patientin und einen schizophrenen Patien- Störungen. Die Stimmung ist gedrückt. Die
57 Symptomkategorien psychischer Störungen
Modulation ist reduziert. Es bestehen Insuffizienzgefühle. Der Antrieb ist reduziert. Die Psychomotorik ist unauffällig. Es besteht eine circadiane Rhythmik mit Betonung der Beschwerden am Morgen. Es bestehen Schlafstörungen. Der Appetit ist reduziert. Die Patientin distanziert sich klar von suizidalen Gedanken, es besteht kein Anhalt für Fremdgefährdung.
4
Dokumentation in der Psychiatrie (AMDP2018) in Symptome ein. Diese Beurteilung bildet die Grundlage für die Diagnosestellung und in der Folge für die Behandlungsplanung.
Literatur
Allport GW (1949) Persönlichkeit: Struktur, Entwicklung und Erfassung der menschlichen Eigenart. Klett, Stuttgart 4.6.2 Schizophrener Patient AMDP (Hrsg) (2018) Das AMDP-System: Manual zur Dokumentation psychiatrischer Befunde, 10. Der Patient ist wach. Er ist im Äußerlichen überarb. Aufl. Hogrefe, Göttingen ungepflegt und verwahrlost. Im Kontakt APA (2014) DSM V. The Future of Psychiatric Diazeigt sich der Patient misstrauisch. Die gnoses. The future of psychiatric diagnoses. American Psychiatric Association, Arlington VA Orientierung ist nicht sicher prüfbar. Auch Gedächtnis, Merkfähigkeit, Konzentration Duden (2011) Duden – Deutsches Universalwörterbuch: Das umfassende Bedeutungswörterbuch der und Aufmerksamkeit sind nicht sicher prüfdeutschen Gegenwartssprache, 7. Aufl. Bibliobar. Antrieb und Psychomotorik sind deutgraphisches Institut, Mannheim lich gesteigert. Zusätzlich zu einer dys- Fiedler P (2007) Persönlichkeitsstörungen, 6 Aufl. Beltz, Weinheim phorischen Stimmung ist der Patient affektiv gereizt und aggressiv, teils sehr ängstlich. Fiedler P, Herpertz SC (2013) Persönlichkeitsstörungen im Spannungsfeld zwischen Biologie Im formalen Gedankengang ist er zerfahren, und Sozialisation. In: Voderholzer U, Hohagen F teilweise treten Gedankenabbrüche auf. Es (Hrsg) Therapie psychischer Erkrankungen, 8 liegen Hinweise auf inhaltliche DenkAufl. Urban & Fischer/Elsevier, München störungen (Verfolgungs- und Beobachtungs- Folstein MF, Folstein SE, McHugh PR (1975) Mini- Mental State (a practical method for grading the ideen, Beziehungs- und Beeinträchtigungsstate of patients for the clinician). Journal of Psywahn, Vergiftungswahn) vor. Es sind Zönäschiatric Research 12:189–198 thesien und akustische Halluzinationen in Margraf J, Maier W (Hrsg) (2012) Pschyrembel PsyForm von dialogisierenden und imperativen chiatrie, Klinische Psychologie, Psychotherapie, 2 Aufl. De Gruyter, Berlin Stimmen festzustellen. Es liegen Ich- Störungen in Form von Fremdbeeinflus- Paulzen MP, Schneider F (2012) Leitsymptome. In: Schneider F (Hrsg) Facharztwissen Psychiatrie sungserleben vor. Weiter wurde eine akute und Psychotherapie. Springer, Berlin Heidelberg, Eigen- und Fremdgefährdung bei akuter S 37–46 Personen- und Situationsverkennung fest- Reischies FM (2007) Psychopathologie: Merkmale psychischer Krankheitsbilder und klinische gestellt. Neurowissenschaft. Springer, Berlin Heidelberg Tulving E (1992) Memory systems and the brain. Clinical neuropharmacology 15 Suppl 1 Pt A:327A– Zusammenfassung 328A Durch die psychopathologische BefundWHO (1992) The ICD-10 Classification of Mental and Behavioural Disorders. WHO, Geneva erhebung erfassen Psychiater und PsychoWittchen HU, Zaudig M, Fydrich T (1996) SKID-I therapeuten die Auffälligkeiten in Affekt, und SKID-II. Strukturiertes Klinisches Interview Verhalten und Kognition der Patienten für DSM-IV. Achse I: Psychische Störungen / und teilen sie nach den Kriterien der Achse II: Persönlichkeitsstörungen. Hogrefe, Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Göttingen
59
Psychische Störungen Michael Stäblein, Barbara Schneider, Silke Matura, Benedikt Friedrichs, Christian Knöchel, Sofia Wenzler, Ralph Grabhorn und Viola Oertel
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 V. Oertel, F. Hänsel (Hrsg.), Aktiv für die Psyche, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67880-0_5
5
60
M. Stäblein et al.
nnLernziele 55 Kennen wichtiger Merkmale (Symptome) psychischer Störungen 55 Kennen der wichtigsten Informationen zu Epidemiologie, Diagnostik und Verlauf bei psychischen Störungen 55 Kennenlernen spezifischer Entstehungsfaktoren und Therapieansätze von psychischen Störungen
Bei den Behandlungsansätzen sind drei grundlegende Behandlungsbausteine für viele psychische Störungen einsetzbar: 55 biologische Therapie, 55 Psychotherapie sowie 55 Soziotherapie.
Zu den biologischen Therapien gehören neben der Psychopharmakotherapie, die in 7 Kap. 6 ausführlicher dargestellt wird, die Elektrokrampftherapie (EKT) sowie die transkranielle Magnetstimulation (TMS). 5.1 Einführung Die EKT und die TMS sind zusätzliche Psychische Störungen zählen zu den häu- Therapieformen, die nicht routinemäßig, figsten Erkrankungen weltweit (The WHO sondern je nach Indikation bei medi refraktären schweren, wahnWorld Mental Health Survey Consortium kamenten- haften Depressionen, bei der katatonen 2004). Fast eine Milliarde Menschen weltSchizophrenie oder bei schweren manischen weit leben nach WHO-Angaben mit einer Episoden eingesetzt werden. psychischen Krankheit. Die Zahl bezieht sich auf 2019, vor der Corona- Eine weitere nicht-pharmakologische Pandemie. Zudem hat die Corona-Pandemie Therapieoption bei depressiven Störungen ist laut WHO zu einem starken Anstieg einiger die Schlafentzugstherapie (sog. Wachpsychischer Krankheiten geführt: ins- therapie) (s. z. B. Wirz-Justice u. Van den besondere die Fälle von Depressionen und Hoofdakker 1999). Dabei wird meist der Angststörungen seien weltweit enorm ge- „partielle Schlafentzug“ durchgeführt, bei stiegen (WHO 2022). In Deutschland sind dem der Patient in der zweiten Nachthälfte psychische Erkrankungen eine der größten geweckt wird und bis in die Abendstunden Kostenfaktoren des Gesundheitssystems. des nächsten Tages wach bleibt. Dies führt zu Sie gelten als eine der Hauptursachen für die einer kurzzeitigen Besserung der depressiven Arbeitsunfähigkeit und führen zu den längs- Symptomatik. Die Wirkung hält allerdings ten beruflichen Fehlzeiten (Bungard et al. nicht länger an, so dass der Schlafentzug 2013). Die am häufigsten vorkommenden wiederholt angewendet wird. Bei saisonalen Krankheitsbilder in psychiatrischen und Depressionen hingegen ist die Lichttherapie psychosomatischen Behandlungsein- zur Verminderung depressiver Symptome inrichtungen sind Schizophrenien, affektive diziert (s. z. B. Terman u. Terman 2005). Bei den Psychotherapien sind neben weiStörungen, Abhängigkeiten, Demenzen, Angststörungen, Essstörungen und Persön- teren Therapieschulen die kognitive Verlichkeitsstörungen. In diesem Kapitel wer- haltenstherapie (KVT), die Psychoanalyse den für jedes dieser Krankheitsbilder fol- und die tiefenpsychologisch fundierte Therapie (TP) gängige Therapieverfahren. gende Aspekte dargestellt: Zudem hat die Systemische Therapie seit 55 Symptomatik, 2019 die Zulassung als Kassenleistung in 55 Epidemiologie, Deutschland. Die Soziotherapie umfasst 55 Verlauf, alle Maßnahmen, die sich mit den sozialen 55 Entstehung und 55 Behandlungsansätze. Strukturen der Patienten befassen, z. B. das
5
61 Psychische Störungen
Arbeitsleben, das Wohnen und die sozialen Kontakte. In den folgenden Abschnitten wird beispielhaft in stark gekürzter Form auf gängige psychotherapeutische und/oder soziotherapeutische Behandlungsansätze einzelner Störungsbilder verwiesen.
5.2
Schizophrenie
Die Gruppe der schizophrenen Störungen gehört zu den komplexesten und schwerwiegendsten psychischen Störungen. Der Begriff Schizophrenie bezeichnet kein einheitliches Krankheitsbild, sondern eine heterogene Gruppe von Störungen, deren unterschiedliche Formen durch charakteristische Symptomkomplexe gekennzeichnet sind. Bei den vielfältigen Erscheinungsformen sind jedoch stets die grundlegenden psychischen Kompetenzen – die Wahrnehmung, das Denken und die Gefühle – und damit das gesamte Wesen des Menschen betroffen. Verlaufsstudien belegen ein erhöhtes Selbstmordrisiko, ein erhöhtes Auftreten von medizinischen und psychiatrischen Begleiterkrankungen (Komorbidität) und eine geringere Wahrscheinlichkeit auf ein Beschäftigungsverhältnis im Vergleich zur Normalbevölkerung (Tandon et al. 2009). Anhand dieser Informationen lässt sich auf die Schwere der Störung schließen. 5.2.1
Symptomatik
Um die zahlreichen und verschiedenartigen Symptome der Schizophrenien zu gruppieren, wurden im Laufe der Psychiatriegeschichte verschiedene Konzepte zur Systematisierung vorgeschlagen. Eine bis heute gängige Gliederung (Andreasen u. Olsen 1982) unterscheidet zwei Klassen von Symptomen: 55 Positivsymptome (Plussymptome) und 55 Negativsymptome (Minussymptome).
5
Positivsymptome sind Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken, die zusätzlich zum normalen Erleben in übertriebener und verzerrter Art dazukommen. Negativsymptome zeigen eine Verminderung von psychischen Funktionen an. Die Patienten fühlen weniger stark Emotionen, zeigen kaum mimischen Ausdruck (Affektverflachung), sprechen langsamer und weniger flüssig (Sprachverarmung). Dazu treten häufig ein Antriebsverlust, ein Mangel an Energie und eine Vermeidung sozialer Kontakte auf. Beide Symptomarten schließen sich im Auftreten nicht gegenseitig aus, sondern sind bei der Schizophrenie häufig gleichzeitig zu beobachten. Zusätzlich treten bei der Schizophrenie kognitive Störungen, z. B. Störungen des Gedächtnisses oder der Aufmerksamkeit, auf. Diese sind häufig in akuten Phasen, aber auch in remittierten Phasen vorhanden und führen zu Leidensdruck und sozialen und beruflichen Beeinträchtigungen der Patienten. Die Diagnose einer schizophrenen Störung oder Schizophrenie wird dann gestellt, wenn eine Reihe charakteristischer Leitsymptome – überwiegend Positivsymptome– während mindestens eines Monats fast ständig auftreten. Phasen, in denen schizophrene Patienten hauptsächlich unter Positivsymptomen leiden, nennt man auch produktive oder psychotische Phasen. Betroffene Personen sind in diesen Phasen häufig sehr erregt und laufen ruhelos hin und her (=psychomotorischer Erregungszustand). Aus dem Bereich der Negativsymptome treten bei den Betroffenen häufig ein verminderter Antrieb und ein verminderter affektiver Ausdruck sowie ein sozialer Rückzug auf. Drei mögliche Symptombereiche sollen aus dem Bereich der Positivsymptome besonders herausgegriffen werden: 55 die Halluzinationen, 55 der Wahn und 55 die Ich-Störungen.
62
5
M. Stäblein et al.
Am häufigsten kommen akustische Halluzinationen – das sog. Stimmenhören – vor. Dabei werden eine oder mehrere Stimmen wahrgenommen, ohne dass tatsächlich jemand spricht. Die Stimmen können das Handeln eines Patienten kommentieren, über den Patienten sprechen oder ihm direkt Befehle erteilen. Auch andere akustische Sinnestäuschungen, optische Halluzinationen, Körperhalluzinationen und Geruchsund Geschmackshalluzinationen, können auftreten. Zu den möglichen Symptomen gehören auch Wahnideen, bei denen unrealistische Überzeugungen von Betroffenen vorhanden sind. Für Außenstehende sind die Inhalte des
Wahns nicht nachvollziehbar. Typische Wahninhalte bei der Schizophrenie sind Gedanken, bedroht, verfolgt oder verspottet zu werden (Verfolgungswahn), das Beziehen von Ereignissen auf die eigene Person (Beziehungswahn) oder bizarre Überzeugungen, wie z. B. die Jahreszeiten kontrollieren zu können. Weitere Symptome sind Ich-Störungen, wenn betroffene Personen z. B. das Gefühl haben, dass ihre Gedanken von anderen gelesen werden können (Gedankenausbreitung) oder dass andere Personen die Gedanken von Betroffenen „wegnehmen“ können (Gedankenentzug). . Tab. 5.1 zeigt die wichtigsten Positivund Negativsymptome der Schizophrenie
. Tab. 5.1 Einteilung von Symptomen in Positiv- und Negativsymptomatik Symptome
Erläuterung
Beispiel
Wahn
Unrealistische, unbegründete und eigentümliche Überzeugung
„Einige Leute spionieren mir nach und hecken etwas gegen mich aus.“
Halluzinationen
Wahrnehmungen, die nicht durch externe Stimuli erzeugt werden
„Ich höre andauernd eine Stimme, die mir sagt, dass ich alles falsch mache.“
Ich-Störungen
Auflockerung der Grenze zwischen Ich und Umwelt
„Fremde Mächte geben Gedanken in meinen Kopf ein.“
Formale Denkstörung
Desorganisierter Denkprozess, veränderte sprachliche Äußerungen mit Abnahme des Informationsgehalts
„Ich habe es durch mein Handeln eindeutig gemeint und wer es gesagt hat, ist sowieso im Himmel.“
Psychomotorische Erregung
Überaktivierung, erhöhtes Ansprechen auf Reize, Stimmungslabilität
Patient kann nicht stillsitzen, läuft andauernd im Raum auf und ab.
Affektverflachung
Reduktion der emotionalen Antwortbreite
Patient zeigt nur wenige Änderungen in Mimik und Gestik.
Sprachverarmung
Wortkargheit, verlängerte Antwortzeit
Die Antworten des Patienten sind auf wenige Worte beschränkt.
Sozialer Rückzug
Verminderung der Sozialkontakte
Patient verbringt seine Zeit überwiegend alleine zu Hause.
Apathie
Mangel an Energie, Interesse, Initiative und Motivation
Patient wirkt teilnahmslos und reagiert auf Ansprache nur sporadisch.
Aufmerksamkeitsstörung
Konzentrationsschwäche, Schwierigkeiten den Verlauf von etwas zu beobachten
Dem Patient fällt es schwer, einem Gespräch zu folgen.
Positivsymptome
Negativsymptome
63 Psychische Störungen
mit Beispielen. Der Einschluss einzelner Symptome in die jeweilige Gruppe wird teilweise uneinheitlich gehandhabt. Formale Denkstörungen können zudem nochmals in positive (z. B. Lockerung der Assoziationen, Wortneubildungen) und negative (z. B. Gedankenabreißen, Gehemmtheit) Beeinträchtigungen unterteilt werden (Beck et al. 2011).
5
(prämorbide Phase), die Vorläuferphase (Prodromalphase) sowie nach Krankheitsausbruch die psychotischen Episoden und Phasen der teilweisen oder vollständigen Remission. Die Beachtung dieser Phasen ist auch für die Planung des sportlichen Trainings von Bedeutung (s. 7 Kap. 10 und 12).
Verlauf der Schizophrenie 5.2.2
Epidemiologie
Schizophrene Störungen sind relativ häufige und weit verbreitete Krankheiten. Weltweit sind im Mittel etwa 5 von 1000 Personen von der Störung betroffen (Punktprävalenz), wobei diese Schätzung je nach Altersstruktur der jeweiligen Bevölkerungsgruppe leicht variiert. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person im Laufe ihres Lebens an einer Schizophrenie erkrankt, beträgt circa 1 %. Die Anzahl an Neuerkrankungen pro Jahr (Inzidenz) beläuft sich auf etwa 2 pro 10.000 Menschen, schwankt aber je nach betrachteter Population zwischen 1,1 und 7 (Messias et al. 2007). Vergleicht man Punktprävalenz und Inzidenz, wird deutlich, dass die Krankheitshäufigkeit über 10-mal höher ist als die Zahl der Neuerkrankungen, was auf den oft chronischen Verlauf von Schizophrenien hindeutet. Die Geschlechterrelation beträgt etwa 1,4 Männer/1 Frau (Aleman et al. 2003). In der Regel bricht die Krankheit zwischen dem 15. und dem 45. Lebensjahr aus, kann in seltenen Fällen aber auch vor der Pubertät oder nach dem 50. Lebensjahr auftreten. Männer erkranken dabei im Schnitt 5 bis 7 Jahre früher als Frauen (Häfner et al. 1998). 5.2.3
Verlauf
Der Verlauf schizophrener Störungen umfasst mehrere aufeinander folgende Phasen: die Phase vor dem Ausbruch der Störung
Schizophrenien verlaufen in mehreren, aufeinander folgenden Phasen: 1. Prämorbide Phase 2. Prodromalphase 3. Akutphase: ausgeprägte Positivsymptomatik 4. Residualphase: vorwiegend Negativsymptomatik
In der prämorbiden Phase treten Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen sowie ein verändertes Sozialverhalten auf (Meier et al. 2014; Payá et al. 2013). Der schleichende Beginn einer Schizophrenie wird von der nachfolgenden Prodromalphase markiert, in der erste Negativsymptome und unspezifische affektive Symptome auftreten (Naqvi et al. 2014). Später setzen positive Symptome wie Halluzinationen und Wahn in abgeschwächter Form ein, nehmen dann aber in ihrer Schwere oft rasch zu. Die Prodromalphase dauert im Mittel etwa fünf Jahre, kann allerdings auch deutlich kürzer oder länger sein (Klosterkötter et al. 2008). Ist die Positivsymptomatik so stark ausgeprägt, dass die diagnostischen Kriterien einer Schizophrenie erfüllt werden, spricht man von der ersten psychotischen Episode (Akutphase) und damit dem (formalen) Beginn der Krankheit. Nach dem Einsetzen der ersten psychotischen Episode ist der Verlauf der Störung sehr variabel. Bei ca. 25 % der Ersterkrankten kommt es zur vollständigen Remission, wohingegen die Krankheit bei ebenfalls 25 % einen chronischen Verlauf
64
5
M. Stäblein et al.
nimmt und oft langfristige Klinikaufenthalte erfordert. Etwa 50 % erleben mehrere psychotische Perioden, denen Residualphasen mit ausgeprägter Negativsymptomatik folgen. Die Residualphasen unterscheiden sich interindividuell nicht nur in ihrer Dauer und Symptomschwere, sondern können auch bei einem Betroffenen sukzessiv schwerwiegender werden. Personen, deren Störung einen solchen Verlauf nimmt, erleben zwar Einschränkungen ihrer Lebensqualität, sind jedoch meist in der Lage, mehr oder weniger sozial angepasst zu leben (Hahlweg u. Dose 1998). 5.2.4
Entstehung
Trotz intensiver Forschungsbemühungen sind die Ursachen von Schizophrenien bis heute nicht abschließend geklärt. Man geht davon aus, dass die Entstehung der Krankheit von verschiedenen psychischen, biologischen und umweltbedingten Einflussfaktoren bedingt wird. Keiner der Faktoren kann für sich genommen die Entstehung von Schizophrenien erklären, sondern ist als Variable einer multifaktoriellen Ursache zu verstehen. Faktoren für die Entstehung der Schizophrenie Das Vulnerabilitäts-Stress-Bewältigungs- Modell der Schizophrenie (Zubin u. Spring 1977; Nuechterlein u. Dawson 1984) versucht das Zusammenwirken verschiedener Entstehungsbedingungen und Einflussfaktoren zu erklären (siehe dazu 7 Abschn. 3.3.1). Dazu gehören folgende Faktoren: Biologische Faktoren: 55 Genetische Anlage (Prädisposition) 55 Biochemisches Ungleichgewicht von Botenstoffen im Gehirn 55 Hirnstrukturelle Veränderungen 55 Veränderte neuronale Abläufe in funktionellen Hirnnetzwerken
Psychische Faktoren: 55 Gestörte familiäre Interaktion und Kommunikation 55 Störung der Informationsverarbeitung 55 Missbrauch von Cannabis Umweltfaktoren: 55 Belastende Lebensereignisse
5.2.5
Behandlungsansätze
Das Behandlungskonzept von Schizophrenien umfasst mehrere, sich gegenseitig ergänzende Therapieverfahren, die in einem Gesamtbehandlungsplan integriert werden. Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN)(Gaebel u. Falkai 2006) benennt als die drei wichtigsten Verfahren: 1. pharmakologische und weitere somatische Behandlungsverfahren, 2. psychotherapeutische Interventionen, 3. Hilfesysteme und soziotherapeutische Interventionen. Der Schwerpunkt der Therapie wird je nach aktueller Symptomatik des Patienten festgelegt. In akuten psychotischen Phasen werden hauptsächlich hochpotente antipsychotisch wirkende Medikamente gegeben (s. 7 Kap. 6). Bei eindeutiger medikamentöser Behandlungsresistenz empfiehlt die aktuelle Leitlinie der DGPPN (2019) eine EKT oder rTMS Augmentierung. Nach Besserung der psychotischen Symptomatik wird häufig zusätzlich zur weiter bestehenden Neuroleptika- Behandlung eine psychotherapeutische Behandlung eingeleitet. Dafür existieren verschiedene Behandlungskonzepte, die sowohl psychoedukativ (Vermittlung von Informationen über die Erkrankung) als auch verhaltenstherapeutisch (Vermittlung von Strategien zur Verhinderung von Rück
65 Psychische Störungen
fällen, zur Verhinderung von akuten Symptomen, Aufbau von Aktivitäten und sozialer Kontakte) ausgerichtet sind. In der aktuellen Leitlinie der DGPPN (2019) wird zudem das Metakognitive Training zur Reduktion der Positivsymptomatik empfohlen. In der Remissionsphase sollte darüber hinaus die soziale und berufliche Rehabilitation gefördert werden. Hierzu gibt es in verschiedenen Städten und Gemeinden unterstützende Programme, z. B. betreutes Wohnen, Wohnheime für psychisch kranke Personen oder Rehabilitationswerkstätten, in denen Betroffene schrittweise und achtsam an Tätigkeiten herangeführt werden. 5.3
Affektive Störungen
Schwankungen in Affekt und Antrieb kommen bei fast allen Menschen in Verbindung mit belastenden oder erfreulichen Ereignissen vor. Affektive Störungen sind dabei durch eine klinisch relevante Veränderung des Aktivitätsniveaus und der Stimmungslage (Affekt) gekennzeichnet. Von einer affektiven Störung spricht man, sobald diese Schwankungen besonders stark sind oder besonders lange anhalten(s. Definitionen gemäß DSM-IV (American Psychiatric Association 2010) und ICD-11 (World Health Organization 2019) and DSM V). Das Aktivitätsniveau und der Affekt können bei affektiven Störungen in zwei Richtungen Veränderungen aufweisen, d. h., gesteigert ([Hypo]-Manie) oder vermindert bzw. gedrückt (Depression) sein. Die affektiven Störungen werden in zwei Unterkategorien – die unipolaren und bipolaren affektiven Störungen – unterteilt. Von einer unipolaren Störung spricht man, wenn lediglich depressive Krankheitsphasen auftreten, von einer bipolaren Störung, wenn depressive und (hypo)manische Phasen auftreten (Goodwin u. Jamison 2007). Manische und depressive Episoden können zu erheblichem Leidensdruck und starken Beein-
5
trächtigungen der sozialen und beruflichen Funktionsfähigkeit führen (Reiser u. Thompson 2005). Im ICD-11 (World Health Organization 2019) wird unter Kapitel V „Psychische und Verhaltensstörungen“ in der Kategorie Affektive Störungen (F30–F39) ebenfalls zwischen unipolarer und bipolarer affektiver Störung unterschieden, die jeweils noch weiter differenziert werden: 55 Zu der unipolaren affektiven Störung gehören die depressive Episode, die rezidivierende depressive Störung und die chronische Depression. 55 Zu der bipolaren affektiven Störung oder manisch-depressiven Störungen gehören die Bipolar-I-Störung, die etwas leichtere, aber häufig chronische Bipolar- II- Störung sowie die Zyklothymie mit chronischer manisch-depressiver Symptomatik in leichter Ausprägung. Da es verschiedene Verlaufs- und Unterformen sowohl der depressiven als auch der manisch-depressiven Störung gibt, muss neben der aktuellen Krankheitsepisode auch immer geprüft werden, ob in der Vergangenheit weitere Symptome einer affektiven Störung vorgelegen haben (Assion 2006). Es wird unterschieden, ob eine depressive Episode einmalig aufgetreten ist (depressive Episode), ob wiederholt depressive Episoden auftreten (rezidivierende depressive Störung) und ob zusätzlich (hypo) manische Symptome vorliegen (bipolare Störung). Zudem wird zwischen verschiedenen Schweregraden (leicht/mittelgradig/schwer/remittiert) einer Krankheitsepisode und dem Vorhandensein oder Fehlen psychotischer Symptome unterschieden. Zwischen akuten Krankheitsepisoden liegen in der Regel weitestgehend symptomfreie Intervalle (Wagner u. Bräunig 2006), in denen eine vollständige Remission (Symptomfreiheit), jedoch auch die Persistenz psychosozialer Einschränkungen und Restsymptome möglich ist (Hautzinger u. Meyer 2011).
66
M. Stäblein et al.
5.3.1
5
Symptomatik
Eine Diagnose einer depressiven oder manischen Episode im Rahmen einer affektiven Störung wird dann gestellt, wenn eine bestimmte Anzahl gleichzeitig vorhandener Symptome über einen bestimmten Zeitraum vorliegen. Bei der Manie ist dieser Zeitraum mit sieben Tagen definiert, bei der Depression mit mindestens zwei Wochen. Die Symptome dürfen nicht aufgrund von organischen Störungen (z. B. eine Schilddrüsenfunktionsstörung) oder durch den Einfluss von Medikamenten, Drogen oder Alkohol zustande kommen (Hautzinger u. Meyer 2002). . Tab. 5.2 gibt eine Übersicht über die Symptome affektiver Störungen.
z Depressive Symptome
Die Symptome einer Depression können sich auf emotionaler Ebene (z. B. Traurigkeit), auf kognitiver Ebene (z. B. Grübeln, Gedächtnisdefizite), auf der Verhaltensebene (z. B. verlangsamte Sprache und Motorik) sowie auf physiologisch-vegetativer Ebene (z. B. Müdigkeit) zeigen(Assion 2006). Über einen Zeitraum von mindestens zwei Wochen müssen gemäß ICD-10 (World Health Organization 1992) mindestens zwei der folgen-
den Symptome vorhanden sein: depressive Stimmung, Verlust von Interesse und Freude, erhöhte Ermüdbarkeit. Zusätzlich müssen mindestens zwei weitere der folgenden Symptome persistierend und intensiv vorhanden sein: Schlafstörungen, verminderter Appetit, vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen, verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit sowie negative oder pessimistische Zukunftsperspektiven. Weiterhin grübeln depressive Personen oft über viele Dinge, erleiden einen Verlust des Selbstwertgefühls und leiden häufig unter Schuldgefühlen. Bei einer schweren Depression kann es zu Suizid (Selbsttötungs)-gedanken, -plänen und im äußersten Fall zu Suizidhandlungen kommen. Dies betrifft circa 15 % der an einer schweren depressiven Episode Erkrankten. Als Warnhinweise gelten konkrete Pläne über den Ort, die Zeit und die Art des Suizids (Wittchen u. Hoyer 2011), verschiedene Personenvariablen (z. B. zusätzliche Abhängigkeit oder Persönlichkeitsstörung), aber auch soziodemographische Daten (z. B. Alter, Geschlecht) (Hawton et al. 2013). Gemäß ICD-10 (World Health Organization 1992) wird eine depressive Episode kodiert, wenn mindestens zwei Leit-
. Tab. 5.2 Übersicht über die Symptome affektiver Störungen (Manie, Depression) Manie
Depression
Emotionale/ Gefühlsebene
Euphorie, Gereiztheit
Traurigkeit, Gefühlsleere
Verhalten
Mehr Aktivitäten, viele Dinge auf einmal tun, Unruhe, gesteigertes Konsumverhalten
Verlangsamte Sprache, Motorik
Kognitionen
Viele Ideen, Pläne, Größenideen, beschleunigtes Denken, Rededrang
Grübeln, Sorgen, Ängste, Selbstabwertung
Physiologisch- vegetativ
Voller Energie, gesteigerter Antrieb
Verminderter Antrieb, verminderte Energie
Weitere Sy mptome
Geringer Schlaf, Appetitminderung, Distanzminderung in sozialen Kontakten
Einschlaf-/Durchschlafstörungen oder erhöhtes Schlafbedürfnis Appetitverlust oder -steigerung, vegetative Symptome
67 Psychische Störungen
5
symptome und mindestens zwei weitere Symptome über einen Zeitraum von mindestens zwei Wochen anhalten.
jedoch in allen sozioökonomischen Schichten und ethnischen Gruppen ähnlich (Wittchen u. Hoyer 2011).
z Manische Symptome
z Bipolare affektive Störungen (manisch-depressive Störungen)
Während einer Hypomanie müssen über einen Zeitraum von mindestens vier Tagen mindestens zwei der folgenden Symptome vorhanden sein: gehobene, euphorische oder reizbare Stimmung, Antriebssteigerung, ein vermindertes Schlafbedürfnis, erhöhte Ablenkbarkeit, eine überhöhte Selbsteinschätzung oder Größenideen, beschleunigtes Denken, Rededrang und Ideenflucht (Meyer u. Hautzinger 2004). Eine Manie stellt eine deutlich stärkere Ausprägung der genannten Symptome dar, und die Symptomdauer muss mindestens sieben Tage betragen. In manischen Phasen kommt es häufig vor, dass Patienten ihre Störung selbst nicht erkennen. Aufgrund der häufig fehlenden Krankheits- und/oder Behandlungseinsicht (Grunze u. Walden 2003) wird oft eine Behandlung zur Abwendung von Eigen- oder Fremdschäden gegen den Willen des Patienten begonnen (Walden u. Grunze 2006). Eine unbehandelte manische Symptomatik kann zu erheblichen Folgen im privaten und sozialen Umfeld führen (Assion 2006), z. B. im finanziellen (Verschuldung), beruflichen (Verlust des Arbeitsplatzes) oder privaten (Wohnungsverlust, Trennung vom Partner) Bereich (Mühlbauer 2009). 5.3.2
Epidemiologie
z Unipolare affektive Störungen (Depressionen)
Die Lebenszeitprävalenz depressiver Störungen beträgt etwa 20 %, die Punktprävalenz in Deutschland beträgt 5–10 % der Bevölkerung. Derzeit sind damit etwa vier Millionen Menschen in Deutschland an einer depressiven Störung erkrankt. Frauen erkranken etwa doppelt so häufig wie Männer (20–25 % vs. 7–12 %). Die Prävalenz ist
Lebenszeitprävalenzen für alle Unterformen der manisch-depressiven Störung zusammengenommen liegen bei bis zu 5 % (Laux 2013). Die Prävalenz scheint wenig mit soziodemographischen Variablen zusammenzuhängen (Hautzinger u. Meyer 2011). Frauen und Männer erkranken etwa gleich häufig (Walden u. Grunze 2006). 5.3.3
Verlauf
z Unipolare affektive Störungen (Depressionen)
Das durchschnittliche Ersterkrankungsalter bei einer depressiven Störung liegt bei ca. 27 Jahren. Depressionen sind episodische Störungen. Dabei beginnt eine depressive Episode zumeist schleichend und dauert im Mittel ca. fünf Monate an. Bei einer rezidivierenden depressiven Störung kommt es durchschnittlich zu zwei Krankheitsepisoden in fünf Jahren (Wittchen u. Hoyer 2011). Etwa ein Drittel der Betroffenen erleben nur eine depressive Episode, die danach nicht wiederkehrt, bei einem weiteren Drittel ist mit rezidivierenden Episoden zu rechnen, und schließlich kann es beim letzten Drittel der Betroffenen zu einer chronischen Störung kommen, d. h., dass trotz Therapie nur eine Teilremission oder gar keine Remission erreicht werden kann. z Bipolare affektive Störungen (manisch-depressive Störungen)
Erste Symptome treten in der Regel mit ca. 20 Jahren auf (Meyer 2009). Das durchschnittliche Ersterkrankungsalter liegt bei ca. 20–35 Jahren (Laux 2013). Das Risiko, nach einer ersten Episode an einer weiteren Episode zu erkranken, liegt ohne medikamentöse Behandlung zunächst bei 50 %
68
5
M. Stäblein et al.
(Meyer 2009), steigt aber nach Wagner u. Bräunig (2006) spätestens nach der dritten Krankheitsepisode auf 90 %. Ungefähr ein Drittel der Betroffenen erreicht eine vollständige Remission (Hautzinger u. Meyer 2011). Insgesamt treten im Laufe der Störung durchschnittlich 8–10 manische und depressive Episoden auf, bei 10–15 % der betroffenen Patienten kommt es zu mehr als 10 Episoden im Verlauf. Zwischen den Krankheitsphasen können symptomfreie Intervalle bestehen, diese Zeitintervalle nehmen tendenziell mit zunehmender Zahl vorausgegangener Krankheitsepisoden ab (Grunze u. Walden 2003). In einigen Fällen bleiben auch zwischen akuten Krankheitsepisoden verschiedene Symptome erhalten, insbesondere depressive Symptome und Alltagsbeeinträchtigungen.
>> Etwa ein Drittel der Betroffenen einer affektiven Störung erleben nur eine Krankheitsepisode. Häufiger sind wiederkehrende akute Krankheitsphasen, die sich mit Phasen der Remission oder Teilremission abwechseln (Hautzinger u. Meyer 2011).
Vorausgehende Bedingungen, auslösende Ereignisse
Instabilität biologischer Rhythmen Genetik Transmitter
5.3.4
Entstehung
Die Ursachen affektiver Störungen werden auf der Basis des sog. Vulnerabilitäts-Stress- Bewältigungs-Modells von Zubin u. Spring (1977)/Nuechterlein u. Dawson (1984) (s. auch 7 Kap. 3) sowie anhand der Darstellung von Hautzinger (1998) (unipolare Störung) und Meyer u. Hautzinger (2004) (bipolare Störung) zusammengefasst (. Abb. 5.1).
Psychosoziale Faktoren Stress Lebensgewohnheiten
Persönlichkeitsmerkmale
Depressive Symptome Unmittelbare emotionale (= Depression) Reaktionen, Gedächtniszugang Vorhandensein von Copingstrategien
Zunahme der Selbstaufmerksamkeit Dysphorische Stimmung
Hypomanische Manische Gemischte Episoden
Chronischer Stress Persönliche Bedingungen Vulernabilitäten
.. Abb. 5.1 Ätiologische Modelle für unipolare affektive Störungen nach Hautzinger (1998) und bipolare affektive Störungen nach Meyer u. Hautzinger (2004)
69 Psychische Störungen
>>Entstehungsmodelle der affektiven Störungen gehen von einer multifaktoriellen Ursache aus. Hierbei wird zwischen Prädispositionen einerseits (vorausgehende, häufig chronische Belastungen) und psychosozialen Bedingungsfaktoren (akute Stressoren, wie z. B. Verlust des Arbeitsplatzes) andererseits unterschieden. Beide Faktoren stehen miteinander in Beziehung und führen gemeinsam zu einer Belastungssituation, die beim Erreichen einer individuellen Schwelle zum Auftreten einer affektiver Symptomatik führen kann (Wagner u. Bräunig 2006).
z Unipolare affektive Störungen (Depressionen)
Das multifaktorielle Erklärungsmodell für depressive Störungen von Hautzinger (1998) geht davon aus, dass vorausgehende Bedingungen, wie z. B. kritische Lebensereignisse, eine Depression auslösen oder zum erneuten Auftreten einer depressiven Phase führen können. Durch diese auslösenden Bedingungen werden laut Modell von Hautzinger (1998) Emotionen induziert, die belastende Gedächtnisinhalte zugänglich machen. Das dadurch entstehende Verhalten zunehmender Selbstaufmerksamkeit führt dann nach dem Modell zu einer Zunahme unangenehmer (aversiver) Lebensaspekte und zu einer Zunahme einer dysphorischen Stimmung. Depressive Verhaltensmuster werden aktiviert, die erneut zu weiteren Symptomen, wie z. B. Antriebsminderung und Interessenverlust, führen. Dieser Prozess wird durch verschiedene personengebundene Risikofaktoren (Vulnerabilitätsfaktoren), wie z. B. dysfunktionale Einstellungen oder Verlusterfahrungen, begünstigt. Gleichzeitig können sich aber auch schützende (protektive) Faktoren, wie z. B. Bewältigungsstrategien oder positive Aktivitäten, vorteilhaft auf den Verlauf und die Störung auswirken (Hautzinger 1998).
5
z Bipolare affektive Störungen (manisch-depressive Störungen)
Im integrativen Modell zur Ätiologie wird eine Instabilität oder Dysregulation biologischer Prozesse, wie etwa des SchlafWach- Zyklus, des Verhaltensaktivierungssystems oder zirkadianer Rhythmen als Kernstörung der bipolaren Störung verstanden (Hautzinger u. Meyer 2011). Diese zentrale Verletzlichkeit wird als primär genetisch oder durch biologische Faktoren bedingt angesehen. Wenn dann noch weitere psychosoziale Faktoren dazu kommen, steigt nach diesem Modell das Erkrankungsrisiko (Meyer 2009). Zu den psychosozialen Faktoren zählen Stress und kritische Lebensereignisse (z. B. wahrgenommene Belastungen, familiäre Konflikte, Urlaube, Beförderungen) sowie saisonale Schwankungen in der Arbeitsbelastung, Schichtarbeit oder Prüfungssituationen (Meyer 2009). Dazu werden Persönlichkeitseigenschaften wie das sog. hypomanische Temperament (Brieger 2006) und kognitive Probleme als weitere Belastungsfaktoren diskutiert, die auch in Remissionsphasen vorhanden sind (z. B. Bora et al. 2009). Wenn eine erhöhte Belastungssituation gegeben ist, hängt es von individuellen Ressourcen – wie z. B. stabile Partnerschaft, frühzeitiges Erkennen individueller Warnsymptome, adäquater Umgang mit den einzunehmenden Medikamenten, aber auch von weiteren ungünstigen Faktoren – wie z. B. Alkohol- und Drogenkonsum, dysfunktionale Einstellungen, Impulsivität – ab, ob die Krankheit ausbricht oder nicht. 5.3.5
Behandlungsansätze
Die Behandlung affektiver Störungen beinhaltet meist eine Kombination aus Psychotherapie und medikamentöser Therapie (7 Kap. 6), die durch soziotherapeutische Maßnahmen ergänzt werden. Weitere bio
70
5
M. Stäblein et al.
logische Therapieverfahren ergänzen im Bedarfsfall die Behandlung, z. B. Schlafentzugstherapie (nicht bei Manien), Lichttherapie, TMS oder EKT. In die aktuelle Leitlinie (NVL-Versorgungsleitlinie 2022) für die Behandlung unipolarer affektiver Störungen wurde zudem Esketamin als Behandlungsoption bei Therapieresistenz und Suizidalität aufgenommen; jedoch ist die Anwendung aufgrund verschiedener Sicherheitsvorgaben nur im stationären Rahmen möglich. Die Bausteine der Behandlung werden je nach Patienten und je nach Krankheitsphase individuell abgestimmt. Während einer akuten Krankheitsphase steht an erster Stelle das Abklingen der gegenwärtigen Symptomatik. Psychotherapeutische Interventionen beinhalten in dieser Phase die Vermittlung eines Krankheitskonzepts, die Reduzierung des alltäglichen Belastungsniveaus sowie die direkte Arbeit an Krankheitssymptomen. In der anschließenden Erhaltungstherapie stehen primär die Rückfallprophylaxe und Stabilisierung im Vordergrund der therapeutischen Interventionen, d. h., Maßnahmen, die ein Wiederauftreten der Krankheit verhindern sollen (Hautzinger u. Meyer 2000). In der Psychotherapie befasst man sich in dieser Phase beispielsweise mit dem Sammeln von individuellen Frühwarnsymptomen, man erstellt einen Notfallplan und versucht die Betroffenen anzuleiten, die zuvor gelernten Strategien langfristig im Alltag umzusetzen. Einen weiteren wichtigen Behandlungsbaustein stellt in diesem Zusammenhang die Soziotherapie dar, die bei einer möglicherweise notwendigen sozialen und beruflichen Wiedereingliederung helfen kann (Grunze u. Walden 2003). >>In der Behandlung affektiver Störungen wird eine Kombination aus medikamentöser, psychotherapeutischer und soziotherapeutischer Therapie empfohlen.
5.4
Abhängigkeitssyndrom
Abhängigkeitssyndrome oder Abhängigkeiten werden in der ICD-11 (World Health Organization 2019) im Kapitel V (F) „Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen“ aufgeführt. Die Begriffe Abhängigkeitssyndrom, Abhängigkeitserkrankung oder Abhängigkeit ersetzen im offiziellen Sprachgebrauch seit vielen Jahren den Begriff Sucht. Der Begriff stammt aus dem Altgermanischen („Suht“) und meinte in erster Linie zunächst körperliche Krankheiten. In der Alltagssprache wird aber häufig statt Abhängigkeit noch der Begriff Sucht verwendet, er kommt allerdings im medizinischen Gebrauch seltener vor. Man unterscheidet die substanzgebundene und die nichtsubstanzgebundene Abhängigkeit. Substanzgebundene Abhängigkeiten Substanzgebundene Abhängigkeiten können aufgrund verschiedenster Substanzen auftreten: 55 Alkohol 55 Opioide 55 Cannabinoide 55 Sedativa oder Hypnotika 55 Kokain 55 Andere Stimulanzien, einschließlich Koffein 55 Halluzinogene 55 Tabak 55 Flüchtige Lösungsmittel 55 Multipler Substanzgebrauch und Konsum anderer psychotroper Substanzen
Zu den nicht substanzgebundenen Abhängigkeiten gehören abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle, wie die Spielsucht am Computer (Computerspielsucht) oder Glücksspiele (patho-
71 Psychische Störungen
logisches Spielen), die Kaufsucht, die Kleptomanie (pathologisches Stehlen) oder das „Messie“-Syndrom (Sammelsucht). In den folgenden Abschnitten werden einige ausgewählte substanzgebundene Abhängigkeiten mit ihrer Symptomatik, Epidemiologie und Ätiologie sowie beispielhafte Behandlungsansätze dargestellt. Auf nicht substanzgebundene Abhängigkeiten wird nicht näher eingegangen. 5.4.1
Symptomatik
z Grad der Abhängigkeit
Man unterscheidet bei einer Verhaltensstörung durch psychotrope Substanzen den schädlichen Gebrauch oder den Missbrauch von dem Abhängigkeitssyndrom. kSchädlicher Gebrauch
Für die Kategorie „schädlicher Gebrauch“ oder „Missbrauch“ einer Substanz ist nach ICD-11 (World Health Organization 2019) ein Konsumverhalten maßgeblich, das zu einer Gesundheitsschädigung führt. Die Diagnose erfordert eine tatsächliche Schädigung der psychischen oder physischen Gesundheit des Konsumenten (Weltgesundheitsorganisation 1993), allerdings ohne Zeichen einer Abhängigkeit zu körperlichen (z. B. Leberschäden) oder sozialen (z. B. Führerscheinverlust, Beeinträchtigung der Verpflichtung am Arbeitsplatz) Schäden. Ein besonderer Aspekt ist die mit schädlichem Konsumverhalten oft einhergehende Ablehnung des Konsums im sozialen Umfeld oder durch die Gesellschaft im Allgemeinen. Die Ablehnung bestimmter Konsumgewohnheiten ist allerdings kein hinreichender Indikator für die nach ICD- 10 geforderte tatsächliche Schädigung. Das Verhalten stellt somit eine soziale Schwierigkeit, aber keine Symptomkategorie der gängigen Diagnosesysteme dar.
5
Schädlicher Gebrauch: ICD-10- Diag noseleitlinien Kriterien des schädlichen Gebrauchs: ICD-11-Diagnoseleitlinien, gekürzt (World Health Organization 2019) 55 Deutlicher Nachweis, dass der Substanzgebrauch verantwortlich ist für die körperlichen oder psychischen Schäden, einschließlich der eingeschränkten Urteilsfähigkeit oder des gestörten Verhaltens, das zu Behinderung oder zu negativen Konsequenzen in den zwischenmenschlichen Beziehungen führen kann. 55 Die Art der Schädigung sollte klar festgestellt und bezeichnet werden können. 55 Das Gebrauchsmuster besteht mindestens seit einem Monat oder trat wiederholt in den letzten zwölf Monaten auf. 55 Auf die Störung treffen die Kriterien einer anderen psychischen Verhaltensstörung bedingt durch dieselbe Substanz zum gleichen Zeitpunkt nicht zu.
kAbhängigkeitssyndrom
Diese Diagnose soll nach ICD-11 dann gestellt werden, wenn bei einem Patienten irgendwann während des letzten Jahres mindestens drei von sechs der in der folgenden Übersicht genannten Kriterien vorhanden sind. Abhängigkeitssyndrom: ICD-11-Diag noseleitlinien Kriterien des Abhängigkeitssyndroms: ICD-11-Diagnoseleitlinien, gekürzt (World Health Organization 2019) 55 Ein starker Wunsch oder eine Art Zwang, psychotrope Substanzen zu konsumieren.
72
5
M. Stäblein et al.
55 Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Konsums. 55 Ein körperliches Entzugssyndrom, nachgewiesen durch die substanzspezifischen Entzugssymptome oder durch die Aufnahme der gleichen oder einer nahe verwandten Substanz, um Entzugssymptome zu mildern oder zu vermeiden. 55 Nachweis einer Toleranz: Um die ursprünglich durch niedrigere Dosen erreichten Wirkungen der Substanz hervorzurufen, sind zunehmend höhere Dosen erforderlich. 55 Fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügen oder Interessen zugunsten des Substanzkonsums; erhöhter Zeitaufwand, um die Substanz zu beschaffen, zu konsumieren oder sich von den Folgen zu erholen. 55 Anhaltender Substanzkonsum trotz Nachweises eindeutiger schädlicher Folgen, wie z. B. Leberschädigung durch exzessives Trinken, depressive Verstimmungen infolge starken Substanzkonsums oder drogenbedingte Verschlechterung kognitiver Funktionen. Es sollte dabei festgestellt werden, dass der Konsument sich tatsächlich über Art und Ausmaß der schädlichen Folgen im Klaren war oder dass zumindest davon auszugehen ist. Im ICD 11 (WHO 2019) wird definiert, dass jeweils 2 der Diagnosekriterien zu Paaren gebündelt wird. Innerhalb eines Paares genügt ein erfülltes Kriterium, insgesamt müssen 2 Paare erfüllt sein, damit die Diagnose einer Abhängigkeit erfüllt wird.
z Alkoholbedingte Störungen
Chronisch erhöhter Alkoholkonsum führt – je nach Stadium der Störung – zu ernsten gesundheitlichen Folgeerscheinungen und einer verringerten Lebenserwartung (Rehm et al. 2007). Beispielsweise zeigen etwa ein Drittel bis die Hälfte der Alkoholkranken Gewebsschwund im Großhirn (Großhirnatrophien), es kommt zu einem erhöhten Krebsrisiko – vor allem im Bereich von Mund, Kehlkopf, Speiseröhre – und zu hormonellen Veränderungen (Mann et al. 2012). 3–12 % aller chronisch Alkoholabhängigen entwickeln im Verlauf eine Wernicke- Enzephalopathie: Dies ist ein akut zu behandelndes Syndrom, welches mit Bewusstseinseintrübung, Augenmuskelstörungen und sonstigen Bewegungsstörungen einhergeht. In manchen Fällen beginnt das Korsakow-Syndrom, eine Form der Amnesie, als Langzeitfolge der Alkoholkrankheit mit einer Wernicke-Enzephalopathie(Masuhr u. Neumann 2005). Neben den körperlichen Schäden kommt es oft zu einem sozialen Abstieg (Mann et al. 2012). z Drogenbedingte Störungen
Cannabis Cannabis zählt zu den „weichen“ Drogen, und die Cannabisabhängigkeit ist im Allgemeinen keine körperliche Abhängigkeit, jedoch wurde für die meisten Wirkungen von Cannabis eine Toleranzentwicklung berichtet. Die Cannabisintoxikation ist durch klinisch bedeutsame Verhaltens- oder psychische Veränderungen und körperliche Veränderungen gekennzeichnet, wie Angst, Gefühl der „Versenkung“ und Zeitverlangsamung, rascher Herzschlag und gerötete Augen. Ein Subtyp der Abhängigkeitsform zeichnet sich durch Wahrnehmungsstörungen aus. Selten kann es durch Cannabiskonsum auch zu intoxikationsbedingten Delirien, psychotischen oder
73 Psychische Störungen
Angststörungen sowie bei länger andauerndem Konsum zu einem Motivationsverlust kommen (Mann et al. 2012). Opioide Die Opioidabhängigkeit ist in der Regel durch eine bedeutsame Toleranzentwicklung sowie das Auftreten von Entzugssymptomen bei abruptem Absetzen gekennzeichnet (Mann et al. 2012). Bei Auftreten eines Entzugssyndroms kommt es zu Gereiztheit, Übelkeit, Muskelschmerzen, Tränen- oder Nasenfluss, erweiterten Pupillen, Diarrhoe, Fieber und Schlaflosigkeit. Wenn es zu einer Opioidintoxikation, d. h., zu einer Vergiftung kommt, leiden Betroffene unter motorischer Unruhe, einer Engstellung der Pupillen, Veränderungen der Stimmungslage sowie in manchen Fällen unter Wahrnehmungsstörungen. Kokain und andere Stimulanzien Kokain, Amphetamin und andere Stimulanzien führen zu Wachheit, Euphorie und Wohlbefinden sowie zu reduziertem Ruhe- und Schlafbedürfnis und zu vegetativen Zeichen der Aktivierung wie erweiterten Pupillen, erhöhtem Blutdruck und Puls. Der Entzug dieser Substanzen führt vorwiegend zu Störungen im psychischen, besonders im affektiven Bereich, insbesondere zu Reizbarkeit und depressiven Symptomen, weniger im körperlich-vegetativen Bereich. z Medikamentenabhängigkeit
Bei einer vermehrten Einnahme von Medikamenten – häufig Beruhigungsmitteln – können folgende Symptome auftreten: undeutliche Sprache, Koordinationsstörungen, Gangunsicherheit, Nystagmus (d. h., unkontrollierbare, rhythmische Augenbewegungen), Aufmerksamkeitsoder Gedächtnisstörungen. Ein Entzugssyndrom bei Medikamentenabhängigkeit zeichnet sich durch Schwitzen, erhöhten Puls, Zittern, Schlafstörungen, Albträume, Übelkeit und Erbrechen, vorübergehende Halluzinationen, psychomotorische Unruhe, Angst und möglicherweise zerebrale Krampfanfälle aus (Mann et al. 2012).
5
z Tabakabhängigkeit
Tabakrauchen stellt mit Nikotin in Verbindung mit anderen Stoffen eine der am schnellsten süchtig machenden Substanzen dar. Nikotin besitzt psychostimulierende Wirkungen. Bei Reduktion oder Beendigung des Konsums können Entzugserscheinungen wie Schlafstörungen, Nervosität, Gereiztheit, Appetitsteigerung und depressive Verstimmung auftreten. 5.4.2
Epidemiologie
z Alkoholbedingte Störungen
Der Konsum alkoholischer Getränke ist nach dem 2. Weltkrieg kontinuierlich gestiegen und hat sich zuletzt jährlich bei einem durchschnittlichen Konsum von knapp 12 Liter reinem Alkohol pro Person eingependelt (Kraus et al. 2011). Nach Schätzungen der WHO (Weltgesundheitsorganisation 2009) sind etwa 5000 Todesfälle jährlich in Deutschland direkt auf Alkoholkonsum zurückzuführen. Etwa 7 % aller Alkoholabhängigen versterben durch Suizid (Inskip et al. 1998). Mehr als 30 % aller Patienten in psychiatrischen Krankenhäusern sind alkoholabhängig (Statistisches Bundesamt 2010). Rund 1,2 Millionen Deutsche sind alkoholabhängig, was etwa 3,4 % der erwachsenen Männer und 1,4 % der Frauen entspricht. Zudem betreiben 1,9 Millionen der Deutschen (6,4 % der Männer und 1,2 % der Frauen) einen Alkoholmissbrauch (Pabst u. Kraus 2008). z Drogenbedingte Störungen
Epidemiologische Ergebnisse zum Erstoder regelmäßigem Konsum illegaler Drogen variieren je nach Zielpopulation und Erhebungsdesign, wobei große Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern (innerhalb dieser wieder zwischen unterschiedlichen Regionen) und verschiedenen Subpopulationen festzustellen sind.
74
5
M. Stäblein et al.
Die Zahl der regulären Drogenkonsumenten wird weltweit auf etwa 200 Millionen geschätzt. Die Lebenszeitprävalenz liegt in Deutschland bei etwa 25 % mit deutlich höheren 12- Monats- Prävalenzen bei Männern (7,0 %) als bei Frauen (3,6 %) (Kraus u. Pabst 2010; Kraus et al. 2010). Für „harte“ Drogen lag die 12-Monats-Prävalenz in Deutschland bei jeweils unter 1 % (Kraus et al. 2010). Beim Konsum illegaler Drogen nimmt die Einnahme von Cannabis weltweit den ersten Platz ein. Die Entwicklung der letzten Jahre zeigt, dass unter den „harten Drogen“ Heroin als konsumiertes Rauschmittel gegenüber anderen Rauschgiften offenbar an Bedeutung verliert (Kraus et al. 2010). z Medikamentenabhängigkeit
In Deutschlang gibt es ca. 1,4 Millionen Medikamentenabhängige, wobei der größte Teil (ca.1,1 Millionen) von Beruhigungsund Schlafmitteln aus der Gruppe der Benzodiazepine abhängig ist. Dabei sind von dieser Störung mehr Frauen betroffen als Männer (Kraus u. Augustin 2001). z Tabakabhängigkeit
In Deutschland rauchen etwas 30 % der erwachsenen Bevölkerung, mit leicht sinkender Tendenz (Kraus et al. 2010). Der Anteil rauchender Männer liegt höher als der der Frauen, dennoch hat der Anteil rauchender Frauen in Deutschlang im Verlauf insgesamt stetig zugenommen (Kraus et al. 2010). Unter alkohol- und drogenabhängigen Patienten (Raucherprävalenz: 75–90 %), aber auch unter den Patienten mit schizophrenen Psychosen (68–94 %) oder Depressionen (20–49 %) liegen die Prävalenzraten an Rauchern höher als in der Normalbevölkerung (Batra 2000). Das führt zu sekundären Begleiterkrankungen wie Krebs, chronisch-obstruktiven Lungenerkrankungen, kardiovaskulären Todesfällen und auch Suizid, der bei Rauchern vermehrt auftritt(John u. Hanke 2001).
5.4.3
Verlauf
Der Verlauf und die Prognose von Abhängigkeiten sind von einer Reihe von Faktoren abhängig. Die wichtigsten sind Alter bei (abhängigem) Gebrauch der Substanz, Länge des Gebrauchs und Gebrauchsmuster, Gebrauch weiterer Substanzen und körperliche Begleit- bzw. Folgeerkrankungen. Nur ein kleiner Teil der Betroffenen nimmt spezifische Hilfen in Anspruch; z. B. betrug der Anteil der Alkoholkranken, der ohne spezifische Hilfe das Alkoholtrinken beendete, in einer Studie in Norddeutschland etwa 40 % (Bischof et al. 2005). 5.4.4
Entstehung
Zur Entstehung einer Abhängigkeit gibt es verschiedene Erklärungsmodelle: Neben individuellen Faktoren (genetische Belastung, Lerngeschichte) spielen Umweltbedingungen und die spezifische Wirkung der jeweiligen Droge eine Rolle (Mann et al. 2012). Wenn eine Substanz eine hohe Potenz aufweist, und zusätzliche eine starke Anfälligkeit (z. B. eine hohe genetische Belastung) vorhanden ist, genügen relativ kleine zusätzliche Belastungsfaktoren, damit sich eine Abhängigkeitsproblematik entwickelt (Mann et al. 2012). 5.4.5
Behandlungsansätze
Bei der Behandlung einer Abhängigkeit steht das Wegfallen einer körperlichen und psychischen Abhängigkeit im Vordergrund. Psychotherapie und Trainingsmaßnahmen zum Erwerb sozialer Fertigkeiten sind oft in unterschiedlicher Weise in die stationären Therapieprogramme integriert und berücksichtigen spezifische Merkmale der Patienten. Die Behandlung von Abhängigen muss jeweils entsprechend dem Stadium der Störung individuell geplant werden. Dabei
75 Psychische Störungen
unterscheidet man die Entgiftungs-, Entzugs- und Entwöhnungsbehandlung. Die Beachtung dieser Phasen ist auch für die Planung des sportlichen Trainings von Bedeutung (s. 7 Kap. 10 und 12).
z Entgiftung
In der Akutbehandlung von Intoxikationen – beispielsweise bei einer Alkoholintoxikation – richten sich die erforderlichen therapeutischen Maßnahmen beispielsweise nach der Schwere der Intoxikation (z. B. Rauschzustand). Ab einem Blutalkoholspiegel von ca. 3,5 bis 4 Promille (je nach körperlicher Verfassung auch bei niedrigen Spiegeln) ist eine intensivmedizinische Behandlung notwendig (s. Mann et al. 2012). Bei Drogenabhängigkeit findet eine körperliche Entgiftung zunehmend als sog. qualifizierte Entgiftung mit aktiver Motivationsförderung zur Weiterbehandlung statt. Bei substituierten Patienten – also Patienten, die statt der eigentlichen suchtauslösenden Substanz einen Ersatz bekommen – mit entsprechendem Behandlungswunsch wird oft eine Teilentgiftung durchgeführt. Bei den weiteren Maßnahmen unterscheidet man die Entzugsbehandlung von der Entwöhnungsbehandlung. z Entzugsbehandlung
Nach heutiger Auffassung sollte sich eine Entzugsbehandlung nicht auf rein körperliche und pharmakologische Maßnahmen (s. 7 Kap. 6) beschränken, sondern zugleich motivationsfördernde psychotherapeutische Maßnahmen beinhalten (man spricht von einem „qualifizierten Entzug“). In der Therapie von Abhängigen sind die therapeutischen Erfolge daher bei gleichzeitigem Einsatz mehrerer Methoden am besten. Wesentliches Ziel ist die Förderung von Krankheitseinsicht und Veränderungsbereitschaft. Eine weiterführende Entwöhnungsbehandlung sollte angestrebt werden (Mann et al. 2012).
5
Bei Alkoholabhängigkeit können im Entzug mögliche Entzugserscheinungen medikamentös behandelt werden. Bei stationärem Entzug ist Clomethiazol (Distraneurin®) das Mittel der Wahl (s. Mann et al. 2012; Braunwarth 1990; Sattes 1979 sowie 7 Kap. 6). Die Substitutionsbehandlung mit Methadon stellt eine sehr effektive Behandlung der Heroinabhängigkeit dar, mit größerem Erfolg hinsichtlich des Verbleibens in der Behandlung und stärkerer Senkung des Heroingebrauchs im Vergleich zu Behandlungen, die nicht auf dem Ersatz von Opioiden beruhen (Mattick et al. 2009). Benzodiazepine werden schrittweise unter Berücksichtigung der klinischen Symptomatik entzogen.
z Entwöhnungsbehandlung
Entwöhnungsbehandlungen werden meist stationär über mehrere Monate hinweg durchgeführt. Zunehmend werden auch ambulante Therapieversuche unternommen. Ziel einer Entwöhnungsbehandlung ist die Festigung des Abstinenzwunsches. Hierzu werden verschiedene psychotherapeutische Vorgehensweisen eingesetzt. Dazu gehören die Informationsvermittlung zu Folgen von Abhängigkeiten, das Erstellen von Pro- und Contra-Listen in Bezug auf das Konsumieren sowie das Aufzeigen von alternativen Handlungen statt des Konsumverhaltens. Bei Alkoholabhängigkeit kann zur Verhinderung von Rückfällen und zur kurzfristigen Verbesserung des Cravings (Verlangen nach der suchtauslösenden Substanz) eine suchtspezifische medikamentöse Zusatzbehandlung erwogen werden, die in Verbindung mit den bewährten psychotherapeutischen Verfahren die Häufigkeit von Rückfällen senkt. Die besten Effekte zur Aufrechterhaltung der erreichten Abstinenz wurden für Naltrexon(kompetitiver Antagonist an Opioidrezeptoren; Adepend®)gefunden (Anton et al. 2006) (7 Kap. 6).
76
5.5
5
M. Stäblein et al.
Demenzen
Beim Demenzsyndrom handelt es sich um eine Verschlechterung einer vorher höheren geistigen Leistungsfähigkeit als Folge einer meist chronischen oder fortschreitenden Krankheit des Gehirns. Bereits in den frühen Krankheitsstadien kommt es aufgrund der kognitiven Einschränkungen zu einer deutlichen Beeinträchtigung der Alltagsfähigkeiten. Im weiteren Verlauf der Störung sind die Betroffenen zunehmend auf fremde Hilfe angewiesen. Neben den kognitiven Beeinträchtigungen kommt es gewöhnlich auch zu einer Veränderung des Sozialverhaltens, der emotionalen Kontrolle und der Motivation. Dies kann sich zum Beispiel in depressiven Symptomen, Apathie, Unruhe, Angst und einer erhöhten Aggressivität äußern. Mit zunehmender Schwere der Störung kann es zu Störungen der Wahrnehmung kommen – die Betroffenen berichten dann mitunter von optischen Halluzinationen oder Wahnwahrnehmungen (Förstl et al. 2001). 5.5.1
Symptomatik
Der Begriff „Demenz“ beschreibt ein Syndrom, bei dem Störungen des Gedächtnisses auftreten und zumindest ein weiterer neuropsychologischer Teilbereich beeinträchtigt ist. Damit die Diagnose einer Demenz nach ICD-11 (World Health Organization 2019) gestellt werden kann, muss eine Abnahme der Gedächtnisleistung vorliegen und mindestens eine weitere intellektuelle Funktion (z. B. Planen, Denkvermögen, Urteilsfähigkeit) beeinträchtigt sein. Damit verbunden ist eine alltagsrelevante Einschränkung der Lebensführung (nach ICD-11) (World Health Organization 2019). Der Oberbegriff Demenz umfasst mehrere Krankheitsbilder mit unterschiedlichen Ursachen:
55 degenerative Demenzen (z. B. Alzheimer- Demenz oder Lewy-Körperchen- Demenz), 55 vaskuläre Demenzen (z. B. Multiinfarkt Demenz), 55 nutritiv-toxische oder metabolisch verursachte Demenzen (z. B. Alkoholdemenz), 55 entzündlich bedingte oder übertragbare Erkrankungen, die zu Demenz führen können (z. B. AIDS-Demenz) und 55 Demenz bei Schädel-Hirn-Trauma (Förstl et al. 2003). Die häufigste Form der Demenz ist mit etwa 60 % der Fälle die Alzheimer-Demenz (Bickel 2004). Bei dieser Form der Demenz stehen die Gedächtnisstörungen im Vordergrund, wobei in der Regel auch andere kognitive Störungen (z. B. Wortfindungsstörungen, verminderte Urteilsfähigkeit, Störung des planerischen Denkens) auftreten. 5.5.2
Epidemiologie
Derzeit leiden ca. 1,3 Millionen Menschen unter einer Demenz. Prognosen gehen davon aus, dass sich die Zahl der Demenzerkrankten weltweit bis in das Jahr 2050 verdoppeln wird (Aleman et al. 2003; Sütterlin et al. 2011). Die Wahrscheinlichkeit an einer Demenz zu erkranken steigt mit zunehmendem Alter an. Bei den 65- bis 69- Jährigen liegt sie in Deutschland bei knapp über einem Prozent, verdoppelt sich dann alle fünf Jahre und erreicht bei den Hochaltrigen ab 90 Jahren fast 35 % (Ziegler u. Doblhammer 2009). Frauen erkranken deutlich häufiger an Demenz als Männer: 70 % der Demenzkranken sind weiblich (Bickel 2005). >>Die Zahl der Demenzerkrankten in Deutschland steigt jährlich an und wird sich voraussichtlich bis ins Jahr 2050
77 Psychische Störungen
verdoppeln. Grund dafür ist die steigende Lebenserwartung und die damit verbundene Anzahl älterer Menschen. Gegenwärtig gibt es keine Belege dafür, dass sich das altersspezifische Erkrankungsrisiko in den letzten Jahrzehnten verändert hat.
5.5.3
Verlauf
Die Verläufe der unterschiedlichen Demenzformen unterscheiden sich stark. Im Folgenden soll auf die Alzheimer-Demenz eingegangen werden, da diese die häufigste Demenzform darstellt und in der Regel einem eindeutigen Verlauf folgt. Bei der Alzheimer-Demenz lassen sich schon Jahre vor der eindeutigen Entwicklung einer intellektuell bedingten Beeinträchtigung der Alltagsbewältigung subtile neuropsychologische Defizite feststellen. Diese Defizite äußern sich beispielsweise in Schwierigkeiten beim Abspeichern neuer Informationen und beim planvollen Handeln. Sie sind nur bei eingehender Untersuchung erkennbar und prognostisch wenig verlässlich. Im weiteren Verlauf kann man mehrere Krankheitsphasen mit unterschiedlichen körperlichen und psychischen Symptomen unterscheiden, die auch für die Planung des sportlichen Trainings zu berücksichtigen sind (s. 7 Kap. 10 und 12). Patienten können in einem sehr frühen Stadium Kompensationsmechanismen wie z. B. Gedächtnisstützen nutzen, sodass die Defizite nur bei anspruchsvolleren Aufgaben bemerkbar werden. Häufig ziehen sich Patienten schon Jahre vor der Ausprägung eindeutiger Defizite zurück, meiden Herausforderungen oder bearbeiten Alltagsaufgaben nachlässiger. Nicht selten entwickeln die Patienten als Reaktion auf kognitive Beeinträchtigungen depressive Symptome oder Angstgefühle. Mit fortschreitender Erkrankung machen sich die kognitiven Defizite auch bei alltäglichen Aufgaben bemerkbar, die planvolles
5
Handeln, organisatorisches Geschick und vernünftiges Urteil erfordern (z. B. Kontoführung, Autofahren). Das Vokabular nimmt ab, und die Sprache wird stockend und weniger präzise. In diesem Stadium sind die Patienten zumeist noch in der Lage, mehrere Stunden allein zurechtzukommen oder allein zu leben. Für anspruchsvollere organisatorische Aufgaben sind sie jedoch auf Unterstützung angewiesen. Mit zunehmendem Schweregrad der Demenz nehmen die Patienten ihre Defizite immer weniger wahr oder leugnen sie. Sie befinden sich dann im mittleren Stadium der Demenz, das sich durchschnittlich drei Jahre nach der Diagnosestellung entwickelt (Hauser 2009). Der Alltag kann nicht mehr selbstständig bewältigt werden, da komplexere Handlungsabläufe wie Aufgaben im Haushalt, die Fähigkeit sich anzuziehen oder zu essen verloren gehen. Die emotionale Kontrolle ist nur noch teilweise vorhanden, und es kann zu Ausbrüchen verbaler oder physischer Aggression kommen. In diesem Stadium können die Patienten nicht mehr ohne Betreuung leben. Durchschnittlich sechs Jahre nach Diagnosestellung befinden sich die Patienten mit Alzheimer-Demenz in einem schweren Stadium mit starker Beeinträchtigung aller kognitiven Funktionen. Die verbalen Kommunikationsfähigkeiten nehmen stark ab, die Sprache ist auf simple Phrasen oder einfache Wörter reduziert. Die einfachsten Bedürfnisse können nicht mehr kommuniziert werden. Das Ausdrücken von Emotionen durch Gestik und Mimik bleibt häufig länger als die sprachliche Fähigkeit vorhanden (Förstl et al. 2001). 5.5.4
Entstehung
Der höchste Risikofaktor für die Entwicklung einer Alzheimer-Demenz ist ein hohes Alter. Weitere Risikofaktoren sind eine genetische Vorbelastung, eine niedrige Schulbildung, geringe psychosoziale Be-
78
5
M. Stäblein et al.
tätigung sowie Schädel-Hirn-Traumen (Gutzmann u. Zank 2005). Studien zum Einfluss genetischer Risikofaktoren haben gezeigt, dass sich das Demenzrisiko bei erstgradigen Angehörigen Demenzkranker verdoppelt (Bekris et al. 2010). Im Hinblick auf die Schulbildung konnte in mehreren epidemiologischen Studien gezeigt werden, dass eine niedrige Schulbildung das Risiko einer Demenzerkrankung steigert (Ott et al. 1995; Jorm et al. 1994). Als mögliche Gründe für den Zusammenhang wird diskutiert, dass geringe geistige Stimulation zu einer verminderten „Reservekapazität“ des Gehirns führt. Eine geringe Reservekapazität bedeutet, dass sich bereits kleine Veränderungen der Gehirnstruktur in Folge der Demenz bemerkbar machen, während solche Veränderungen bei einer großen Reservekapazität noch eine Zeitlang kompensiert werden können (Amieva et al. 2014). Ähnlich wie eine geringe Schulbildung führt auch eine geringe psychosoziale Betätigung dazu, dass das Gehirn keine Reservekapazität aufbaut, die den kognitiven Verfall aufhalten kann. Für die vaskulären Demenzen wurden zudem als Risikofaktoren ein hoher Blutdruck, koronare Herzerkrankungen, Diabetes mellitus und chronischer Alkoholmissbrauch identifiziert(Mielke u. Heiss 2003). 5.5.5
Behandlungsansätze
Bislang gibt es noch keine wirkungsvolle Behandlung der Demenz, die den degenerativen Prozess der Erkrankung aufhalten kann. Medikamentöse Therapien zielen darauf ab, den Krankheitsverlauf um ein bis zwei Jahre zu verzögern und die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern. Die medikamentöse Therapie der kognitiven Symptome der Alzheimer-Demenz setzt am Mangel des Botenstoffs Acetylcholin in der Hirnrinde und wahrscheinlich
auch in den darunter liegenden Gehirnregionen an. Das Defizit an Acetylcholin ist mit dem Demenzstadium und der Ausprägung der neurodegenerativen Veränderungen korreliert. Die medikamentöse Therapie der Alzheimer-Demenz erfolgt zumeist durch Acetylcholinesterase-Hemmer, welche zu einer Steigerung der Acetylcholin- Konzentration im Gehirn führen (Förstl et al. 2001) (7 Kap. 6). Neben der medikamentösen Therapie existieren noch eine Reihe weiterer Behandlungsansätze. Mit Hilfe einer Psychotherapie kann vor allem bei leichten Demenzen die Selbstsicherheit gestärkt werden und Hilflosigkeit verringert werden. Auch kann eine Psychotherapie dabei unterstützen, den fortschreitenden kognitiven Verfall besser zu akzeptieren und zu bewältigen sowie noch vorhandene Kompetenzen zu stabilisieren und zu fördern. Bei mittelgradigen bis schweren Demenzen ist eine Psychotherapie häufig nicht mehr möglich. Hier hat sich die sog. Validation (Feil 1990) bewährt. „Das Verfahren der Validation ist eine Methode, um mit desorientierten alten Menschen zu kommunizieren, sie in ihrem Wert zu bestätigen und durch Verständnis und Akzeptanz ihre Lebensqualität zu verbessern“ (Weyerer 2005). Die Methode der Validation wird mittlerweile in vielen Fort- und Weiterbildungen professionell Pflegender vermittelt, um eine bessere Interaktion mit Demenzkranken zu ermöglichen. Ein weiterer Therapieansatz zur Behandlung fortgeschrittener Demenzen ist die Selbst-Erhaltungs-Therapie (SET) nach Romero u. Eder (1992). Ziel der SET ist es, durch das regelmäßige Üben von biographischem und anderem selbstbezogenem Wissen das Wissen über sich selbst auch bei fortschreitender Erkrankung möglichst lange zu erhalten. Insgesamt umfassen therapeutische Maßnahmen nicht nur einen besseren Umgang mit den Symptomen der Demenz, sondern auch eine verbesserte Krankheitsbewältigung sowie eine adäquate Gestaltung
79 Psychische Störungen
der Lebensumwelt, die idealerweise sowohl einen beschützenden als auch einen stimulierenden Charakter aufweisen sollte (Day et al. 2000). So hat sich gezeigt, dass eine Einrichtung mit individuellem Mobiliar (kein Krankenhauscharakter) mit einem besseren emotionalen Befinden, mehr sozialer Interaktion und einem besseren Erhalt der intellektuellen Fähigkeiten einhergeht (Day et al. 2000). Beleuchtung, Gerüche und Geräusche sollten an die Demenzkranken angepasst sein. So sollten vor allem warme Lichtquellen verwendet werden und eine Überstimulation durch laute Geräuschquellen (ständig laufender Fernseher, Radio) vermieden werden. >>Bislang gibt es noch keine wirksame Therapie der Demenzen, die den kognitiven Abbau aufhalten kann. Medikamentöse Therapien verzögern den Krankheitsverlauf um ein bis zwei Jahre. Nicht-medikamentöse Therapien zielen vor allem auf einen besseren Umgang mit den Symptomen der Demenz und eine verbesserte Krankheitsbewältigung ab.
5.6
Angststörungen
Zentral für die Angststörungen ist, dass bestimmte Situationen, Gegenstände, Personen oder Tiere, die als angstauslösend wahrgenommen werden, Angstsymptome auf der körperlichen, emotionalen und gedanklichen Ebene hervorrufen. Die Betroffenen haben in den meisten Fällen die Einsicht, dass die Angst, die Symptome und das Vermeidungsverhalten übertrieben und unvernünftig sind. Zu den Angststörungen gehören nach ICD-11 (World Health Organization 2019) 55 die Panikstörung, 55 die Agoraphobie, 55 die Agoraphobie mit Panikstörung, 55 die generalisierte Angststörung,
5
55 die soziale Phobie und 55 die spezifische Phobie. Die Symptome beziehen sich dabei hauptsächlich auf die gefürchtete Situation oder das Objekt. Dies kann so weit gehen, dass die Betroffenen in diesen Situationen das Gefühl haben zu sterben. Den Angststörungen gemeinsam ist, dass als Folge mehrerer Angstsituationen die betroffenen Patienten alle Situationen/Gegenstände/Personen/Tiere vermeiden, die eventuell angstauslösend sein könnten. Dies hat soziale und berufliche Folgen. Bei allen Angststörungen dürfen die Symptome nicht Folge einer organischen Erkrankung (wie z. B. Hypothyreose) sein und nicht durch eine organische psychische Störung oder den Konsum psychotroper Substanzen hervorgerufen sein. 5.6.1
Symptomatik
Generell kann man die möglichen auftretenden Angstsymptome bei allen Unterformen der Angststörungen in vegetative, psychische, Anspannungs- und unspezifische Symptome zusammenfassen (. Tab. 5.3).
z Panikstörung
Die Panikstörung zeichnet sich durch wiederkehrende schwere Angstattacken (Panik) aus, die sich nicht auf eine spezifische Situation oder besondere Umstände beschränken und deshalb auch nicht vorhersehbar sind (World Health Organization 2019). Dabei treten Brustschmerz, Erstickungsgefühle, Schwindel und Entfremdungsgefühle (Depersonalisation oder Derealisation) sowie plötzliches Herzklopfen auf. Oft entsteht sekundär auch die Furcht zu sterben, vor Kontrollverlust oder die Angst, wahnsinnig zu werden.
80
M. Stäblein et al.
. Tab. 5.3 Mögliche Symptome bei Angststörungen nach ICD-11 (World Health Organization 2019)
5
Vegetative Symptome
Herzklopfen, erhöhte Herzfrequenz, Schweißausbrüche, Tremor (Zittern der Hände), Mundtrockenheit (nicht als Folge von Medikamenten), Hitzewallungen oder Kälteschauer, Gefühllosigkeit oder Kribbelgefühle, Atembeschwerden, Beklemmungsgefühl, Brustschmerzen oder Missempfindungen in der Brust, abdominelle Missempfindungen
Psychische Symptome
Gefühl von Schwindel, Unsicherheit, Schwäche oder Benommenheit, Derealisation; d. h., das Gefühl, dass Objekte unwirklich sind, oder Depersonalisation, d. h., das Gefühl, man selbst sei „nicht wirklich hier“, Angst vor Kontrollverlust, verrückt zu werden oder „auszuflippen“, Angst zu sterben
Symptome der Anspannung
Muskelverspannung, Ruhelosigkeit und Unfähigkeit zum Entspannen, Gefühle von Aufgedrehtsein, Nervosität und psychischer Anspannung, Kloßgefühl im Hals oder Schluckbeschwerden
Andere unspezifische Symptome
Übertriebene Reaktion auf kleine Überraschungen oder erschreckt werden, Konzentrationsschwierigkeiten, Leeregefühl im Kopf wegen Sorgen oder Angst, anhaltendende Reizbarkeit, Einschlafstörungen wegen der Besorgnis
z Agoraphobie
Bei der Agoraphobie kommt es zu Furcht oder Vermeidung in mindestens zwei der folgenden Situationen: Menschenmengen, öffentliche Plätze, alleine Reisen, weite Entfernungen von zu Hause. In der gefürchteten Situation treten mindestens zwei der folgenden Angstsymptome (davon mindestens ein vegetatives Symptom) auf: Herzrasen, Schweißausbruch, Mundtrockenheit, Tremor, Gefühl des Schwindels, der Schwäche, der Benommenheit, Angst die Kontrolle zu verlieren, verrückt zu werden, zu sterben, Depersonalisation, Derealisation oder Hitzewallungen/Kälteschauer. Bei den Betroffenen entsteht eine deutliche emotionale Belastung durch Vermeidung und Furcht. Dabei treten die Symptome ausschließlich in der gefürchteten Situation bzw. bei dem gefürchteten Objekt auf. z Agoraphobie mit Panikstörung
Bei der Agoraphobie mit Panikstörung gelten die gleichen Diagnosekriterien wie für die Agoraphobie, nur dass zusätzlich Panikattacken auftreten. Häufig entwickelt sich eine Agoraphobie mit Panikstörung aus einer zuvor bestehenden Panikstörung. 95 % der Agoraphobien treten gemeinsam mit
einer Panikstörung auf, nur in 5 % der Fälle handelt es sich um eine reine Agoraphobie. z Generalisierte Angststörung
Bei der generalisierten Angststörung leiden die Betroffenen unter vorherrschender Anspannung, Besorgnis und Befürchtungen in Bezug auf alltägliche Ereignisse und Probleme. Die Angst ist dabei nicht auf ein Objekt oder eine Situation beschränkt, sondern vielmehr dauerhaft (=generalisiert) mehr oder weniger stark vorhanden. Typisch sind Sorgen und Befürchtungen vor alltäglichen Dingen, vor der Zukunft, vor Störungen, die so stark sind, dass die Betroffenen ihren Alltag kaum bewältigen können. Zu den Sorgen und Befürchtungen kommt häufig eine motorische Anspannung, vegetative Symptome (z. B. Schwitzen, Herzklopfen) und psychische Symptome (z. B. Schwindel, Benommenheit). Dabei müssen nach ICD-11 (World Health Organization 2019) mindestens vier psychische und/oder vegetative sowie andere Symptome über mindestens sechs Monate hinweg vorhanden sein. z Soziale Phobie
Bei der sozialen Phobie treten Angstsymptome in sozialen Situationen auf, wie
81 Psychische Störungen
Essen und Sprechen in der Öffentlichkeit, Begegnung von Bekannten in der Öffentlichkeit, Hinzukommen oder Teilnahme an kleinen Gruppen, wie z. B. bei Partys, Treffen oder in Klassenräumen. Dabei haben die Betroffenen entweder eine deutliche Angst, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder sich peinlich oder beschämend zu verhalten, oder eine deutliche Vermeidung, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder von Situationen, in denen die Angst besteht, sich peinlich oder beschämend zu verhalten (ICD-11) (World Health Organization 2019). Für die Diagnose einer sozialen Phobie müssen mindestens zwei Angstsymptome in den gefürchteten Situationen mindestens einmal seit Auftreten der Störung vorhanden sein sowie zusätzlich mindestens eines der folgenden Symptome vorliegen: Erröten oder Zittern, Angst zu erbrechen, Miktions- oder Defäktionsdrang (Drang zu urinieren oder einzukoten) bzw. Angst davor. Die Betroffenen weisen eine deutliche emotionale Belastung durch die Angstsymptome oder das Vermeidungsverhalten auf. z Spezifische Phobie
Bei der spezifischen Phobie besteht eine deutliche Furcht vor einem Objekt oder einer bestimmten Situation und/oder eine deutliche Vermeidung solcher Objekte oder Situationen. Ausgenommen sind dabei Situationen, die als Agoraphobie oder soziale Phobie diagnostiziert werden. Zu mindestens einem Zeitpunkt seit Beginn der Störungen traten gleichzeitig mindestens zwei vegetative und/oder psychische Symptome auf (s. . Tab. 5.3). Die Betroffenen erleben eine deutliche emotionale Belastung durch das Vermeidungsverhalten oder die Angstsymptome und haben die Einsicht, dass diese übertrieben oder unvernünftig sind. Bei einer Spinnenphobie (Arachnophobie) haben Betroffene z. B. panische Angst, wenn sie eine Spinne sehen
5
oder sie sogar anfassen müssen. Bei der Höhenangst (Akrophobie) bekommen die Betroffenen Angstsymptome, wenn sie sich auf einem Hochhaus, auf einem Berg oder auf einer Brücke befinden. 5.6.2
Epidemiologie
Spezifische Phobien treten häufig schon in der Kindheit auf. Soziale Phobien beginnen häufig in der Pubertät. Das Ersterkrankungsalter bei Panikstörungen, Agoraphobie und der generalisierten Angststörung liegt zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr, dabei sind Frauen häufiger als Männer betroffen. Generalisierte Angststörungen haben zwei Häufigkeitsgipfel, in der späten Jugend und um das 40. Lebensjahr. Häufig tritt zu einer Angststörung noch eine depressive Störung auf. 5.6.3
Verlauf
Etwa 50 % der Betroffenen leiden nicht nur unter einer Unterform der Angststörung, sondern unter mehreren Ängsten. Weiterhin haben betroffene Patienten häufig eine komorbide Störung, z. B. eine Depression, eine Schizophrenie oder eine Abhängigkeit. Hier sollte man sorgfältig erfragen, ob die Angstsymptome schon vor der anderen Störung, und unabhängig davon vorhanden sind. In diesem Fall sind die Angstsymptome wahrscheinlich eine sekundäre Folge der Hauptstörung und sollten daher nicht als Hauptdiagnose verwendet werden. Bei den meisten Betroffenen (ca. 70 %) bestand dabei zuerst die Angststörung, und die Depression kam erst im späteren Verlauf hinzu. Angststörungen haben ohne adäquate Therapie einen relativ ungünstigen Verlauf. Nur ca. 20 % aller Angststörungen haben eine Spontanremission. Unter einer multimodalen Therapie zeigen sich deutlich verbesserte Verläufe (Heilungserfolg bei bis zu 80 %).
82
5.6.4
5
M. Stäblein et al.
Entstehung
Bei den Theorien zur Entstehung einer Angststörung kann man Persönlichkeitsmodelle, Entwicklungsmodelle, lerntheoretische Modelle, psychodynamische Modelle sowie verschiedene Modelle über biologische Einflussfaktoren unterscheiden. Wie bei den meisten anderen psychiatrischen Störungsbildern kann man davon ausgehen, dass verschiedene Faktoren zusammen genommen die Anfälligkeit, die Störung zu bekommen, erhöhen, und dass dann akute Auslösefaktoren zum Auftreten der Störung führen. Persönlichkeitsmodelle gehen davon aus, dass bei Betroffenen eine grundlegende Angst als überdauernde Persönlichkeitseigenschaft („trait“) vorliegt und dass dann aktuelle Ereignisse zu einem Zustand der Angst führen („state“). Wenn bei einer Person die Persönlichkeitseigenschaft dann häufiger mit Angstzuständen zusammentrifft, entwickelt sich die Störung (Spielberger 2010). Lerntheoretische Modelle, wie die Zwei- Faktoren- Theorie von Mowrer (1947), gehen davon aus, dass eine normalerweise nicht angstauslösende Situation zunächst aus irgendeinem Grund Angstreaktionen auslöst. Wenn diese Situation dann wieder auftritt, hat man nach der Theorie zufolge „gelernt“, dass sie angstauslösend ist, und reagiert mit Angstsymptomen. Wenn man diese Situation zukünftig vermeidet, ist diese Situation als potenziell bedrohlich abgespeichert und führt dann immer wieder zu Angst – obwohl sie ursprünglich gar keine Angst hervorgerufen hätte. Man hat dann „gelernt“, in dieser Situation Angst zu haben. Freud (1948) entwickelte ein Angstmodell (psychodynamisches Modell), wonach drei Ursachen für das Auftreten von Angst existieren: die Realangst (Furcht vor einer Gefahr), die Binnenangst (übermäßige Angst) und die moralische Angst (Angst
verbunden mit Scham und Schuldgefühlen). Nach der Theorie führt ein Zusammentreffen der drei Ursachen zur Ausbildung einer Angststörung. Auf der biologischen Ebene wird von einer genetischen Disposition sowie von einer Störung insbesondere dreier Neurotransmittersysteme ausgegangen: des GABA(Gamma-Amino-Buttersäure)-ergen Systems, des noradrenergen Systems und des serotonergen Systems(Baumann u. Perrez 2011). Man geht hier davon aus, dass diese Botenstoffe in veränderter Anzahl im Gehirn von Angstpatienten vorliegen und dass diese Veränderungen Angstsymptome zusammen mit anderen Auslösefaktoren hervorrufen können. 5.6.5
Behandlungsansätze
In der Psychotherapie hat sich die kognitive Verhaltenstherapie (VT) als eine effektive Behandlungsmethode bei Patienten mit Angststörungen bewährt. Durch krankheitsaufklärende Maßnahmen sowie einen besseren Umgang mit der Angst soll langfristig die Rückfallquote reduziert werden. Zusätzlich werden die Betroffenen in sog. Expositionstrainings mit Symptomen konfrontiert, die auch während den Panikattacken auftreten (Herzklopfen, Atembeschwerden, Druckgefühl auf der Brust, Schwitzen). So lässt man einen Angstpatienten beispielsweise eine Treppe schnell herauf und herunter laufen. Durch die Anstrengung kommt es zu beschleunigtem Puls, Schwitzen, Veränderung der Atmung und ähnlichen – ganz normalen – Reaktionen. Wenn die Patienten lernen, dass diese vermeintlichen Angstsymptome normale Reaktionen auf körperliche Anstrengungen sind, können falsche Verknüpfungen zwischen Situationen und körperlicher Symptomatik sowie die falschen Interpretationen der Angst effektiv bearbeitet werden. Ein Expositionstraining
5
83 Psychische Störungen
ist insbesondere bei der Agoraphobie, der sozialen Phobie und bei spezifischen Phobien wirksam. Gegen Ängste, die nicht situations- oder objektbezogen sind, wurden spezifische kognitive Ansätze entwickelt. Bei diesen Ansätzen überlegt man gemeinsam mit dem Patienten, ob es für die Angstsymptome nicht eine rationale Erklärung gibt, und versucht, die als potenziell gefährlich beurteilte angstauslösenden Situation in ihrer Bewertung zu verändern. Begleitend werden angstlösende Substanzen eingesetzt, wie Beruhigungsmittel, Antidepressiva und Antikonvulsiva (7 Kap. 6). Allerdings spricht ein Teil der Patienten nicht auf die Behandlung mit den empfohlenen Medikamenten an. Häufige Gründe für ein Nichtansprechen auf die Standardbehandlung sind Unverträglichkeit der Medikation sowie eine unregelmäßige Einnahme der Medikation. Weitere Ursachen stellen eine lange Störungsdauer, ein hoher Störungsgrad sowie ein ausgeprägtes Vermeidungsverhalten dar.
5.7
Essstörungen
Unter Essstörungen fasst man folgende Störungen zusammen: 55 Anorexia nervosa, 55 Bulimia nervosa, 55 Binge-Eating-Störung und 55 verschiedene Mischformen. An Anorexie und Bulimie erkranken überwiegend junge Frauen, der Anteil an essgestörten Männern liegt bei etwa 1:10 (Grabhorn et al. 2003). Im Folgenden soll speziell auf Anorexie und Bulimie eingegangen werden. Die Häufung dieser Krankheitsbilder in den westlichen Industrieländern sowie die Zunahme der an Bulimie erkrankten Patientinnen in den letzten Jahren verweist auf einen engen soziokulturellen Zusammenhang, z. B. durch zunehmende Verfügbarkeit der
Nahrung bei gleichzeitigem Druck, einem schlanken Schönheitsideal entsprechen zu müssen. Galt die Bulimie lange als die „heimliche Störung“, da sie oft über Jahre von der Umwelt unbemerkt betrieben wird, so ist bei der Anorexie das Untergewicht zwar sichtbar und gibt häufig zu besorgten Reaktionen in der Umgebung Anlass, aber die Verleugnung durch die Patientinnen ist umso ausgeprägter. 5.7.1
Symptomatik
z Anorexia nervosa (Magersucht)
Die Anorexie bezeichnet ein Krankheitsbild, bei dem ein mehr oder weniger bewusstes Bestreben besteht, das Körpergewicht unter ein normales zu reduzieren oder ein sehr niedriges Körpergewicht aufrechtzuerhalten. Bei Kindern kann es zu einer Verzögerung der Pubertät mit einem Ausbleiben der Menarche und einer Stagnation der körperlichen Entwicklung kommen. Man unterscheidet eine durch Fasten induzierte restriktive Form der Anorexie und eine bulimische Form (auch „binge-/purge type“), die durch kompensatorische Maßnahmen nach Essanfällen wie selbstinduziertem Erbrechen oder dem Gebrauch von Abführmitteln charakterisiert ist (. Tab. 5.4).
z Bulimia nervosa (Bulimie)
Die Bulimie wurde erstmalig in den 80er- Jahren des letzten Jahrhunderts als eigenständiges Krankheitsbild beschrieben (. Tab. 5.4). Die Hauptsymptomatik der Bulimie besteht aus Essanfällen mit Kontrollverlust und meist mit nachfolgendem Erbrechen. Das Selbstwertgefühl ist bei der Bulimie meist eng mit dem eigenen Körperbild verbunden („Nur wenn ich schlank bin, bin ich wertvoll“). Die Gedanken kreisen immer wieder um Figur und Aussehen. Das Essverhalten ist unregelmäßig, oft werden Diäten
84
M. Stäblein et al.
.. Tab. 5.4 Kriterien der Bulimia Nervosa und der Anorexia Nervosa nach ICD-11 (World Health Organization 2019)
5
Symptome
Anorexia nervosa
Bulimia nervosa
Erscheinungsform
Körpergewicht mindestens 15 % unter dem für Geschlecht, Größe und Alter zu erwartenden Gewicht bzw. bei Erwachsenen unterhalb eines Body-Mass-Index (BMI) von 17,5 kg/m2
Krankhafte Furcht, dick zu werden. In der Vorgeschichte lassen sich häufig Episoden von Anorexie finden
Kognitiv
Trotz Untergewichts besteht eine ausgeprägte Angst zu dick zu sein bzw. ausgeprägtes Streben nach Schlankheit
Andauernde Beschäftigung mit dem Essen, unwiderstehliche Gier nach Nahrungsmitteln und Essattacken
Verhalten
Nahrungszufuhr wird eingeschränkt, durch Reduzierung oder selektive Nahrungsauswahl (Vermeidung von Fetten bzw. Kohlenhydraten) Zusätzlich evtl. exzessive sportliche Betätigung, selbstinduziertes Erbrechen oder Abführmittelmissbrauch
Vermeidung von Gewichtszunahme durch selbstinduziertes Erbrechen, Missbrauch von Abführmitteln, zeitweiligen Hungerperioden oder Einnahmen von Appetitzüglern, Schilddrüsenpräparaten oder Diuretika In kurzer Zeit werden große Nahrungsmengen (bis zu 29.000 kcal) verschlungen, ohne aufhören zu können (Reich u. Cierpka 2010). Die Betroffenen sind häufig über Stunden am Tag mit Nahrungsaufnahme, -beschaffung und -zubereitung beschäftigt
Somatisch
Als Folge der Nahrungsrestriktion kommt es u. a. zu einer Störung des endokrinen Systems, die sich bei Frauen im Sistieren der Monatsblutung zeigt
durchgeführt und Mahlzeiten ausgelassen. Das Gefühl für Hunger und Sättigung geht im Verlauf verloren. Die Bulimie geht häufig mit anderen psychischen Störungen wie Depressionen, Angst- und Persönlichkeitsstörungen einher. 5.7.2
Epidemiologie
Die Prävalenz der Magersucht beträgt etwa 0,9–1,2 % (Bulik et al. 2006), die Lebenszeitprävalenz differiert zwischen 0,9 % (Hudson
et al. 2007) und 2,2 % (Keski-Rahkonen et al. 2009). Der Störungsbeginn liegt meist in der Pubertät. Bei der Bulimie wird von einem Erstmanifestationsalter zwischen 16 und 18 Jahren ausgegangen (Hebebrand 2006). Zachrisson et al. (2008) ermittelten eine Punktprävalenz für Bulimie von 1,8 % und eine Lebenszeitprävalenz von 4,8 % bei erwachsenen Frauen. Bis Mitte der 1990er Jahre gab es offenbar eine Zunahme der Störung und dann eine Abnahme in der Altersgruppe der über 20-Jährigen.
85 Psychische Störungen
5.7.3
Verlauf
z Anorexia nervosa
In der Regel verläuft die Störung über mehrere Jahre. In ungefähr der Hälfte der Fälle gelingt eine Heilung, bei ca. 30 % kommt es zu einer Besserung, und ungefähr 20 % chronifizieren(Fichter et al. 2006). Rückfälle nach Erstbehandlungen sind häufig. Das Sterberisiko liegt bei der Anorexie im Durchschnitt bei 6 % und steigt im Langzeitverlauf über 10 Jahre auf ca. 9 % sowie im weiteren Verlauf auf 17 % an (Löwe et al. 2001). Wechsel von einer restriktiven Anorexie zu einer Bulimie sind selten. Bulimische Symptome finden sich zudem bei Patienten mit insgesamt schlechterem Therapieergebnis. Prognostisch günstige Faktoren sind nach Reich u. Cierpka (2010): Krankheitsbeginn in der Adoleszenz, kurzes Intervall zwischen Krankheits- und Therapiebeginn, gute prämorbide psychosoziale Anpassung und Leistungsfähigkeit, positive familiäre Beziehungen, Verbesserung der sozialen Kontakte, Eingehen von sexuellen Partnerschaften und Geburt von Kindern. Prognostisch ungünstige Faktoren sind dagegen: lange Krankheitsdauer vor Behandlungsbeginn, geringes Ausgangsgewicht, geringe Gewichtszunahme während der ersten Behandlungswochen, niedriges Wunschgewicht, vorhergehende (erfolglose) Behandlung, höheres Alter bei der Ersterkrankung, zwanghafte Persönlichkeitsstörung, psychosoziale Probleme, stark gestörte Familienbeziehungen, Impulsivität.
5
Für die Bulimie sind die prognostischen Faktoren insgesamt weniger stabil als bei der Anorexie. 5.7.4
Entstehung
Die Aussage einer multifaktoriellen Genese erscheint zwar einerseits trivial – gilt sie doch für die meisten psychosomatischen Störungen –, andererseits manifestiert sich in der Essstörungssymptomatik wie bei kaum einer anderen Störung eine so komplexe Interaktion von auslösenden und aufrecht erhaltenden Faktoren. Dies begünstigt die erhebliche Tendenz zu chronifizieren. Auslösefaktoren für Essstörungen sind oft reale oder fantasierte Trennungen vom Elternhaus, Ende der Schulzeit, Schüleraustausch oder Au-pair-Aufenthalte, der Tod naher Angehöriger oder eine erste Partnerschaft, eine Diät oder manchmal auch einfach der Beginn der Pubertät mit ihren alterstypischen Verunsicherungen, wobei bulimische Patienten häufig von Situationen des Beobachtet- und Beurteilt-Werdens berichten, in denen sie sich als ungenügend erlebten (Schauenburg et al. 2009). z Begünstigende Faktoren
Familiäre, soziokulturelle, neurochemische und genetische Faktoren können die Entwicklung der Anorexie und Bulimie begünstigen. Familiäre Faktoren wurden schon frühzeitig von verschiedenen Autoren angeführt (z. B. Selvini Palazzoli 1989). So wird den Müttern meist eine dominante bzw. intrusive Rolle im Familiensystem zugewiesen, und die Beziehungsdynamik in den beBulimia nervosa z Der Verlauf bulimischer Störungen ist bei troffenen Familien wird durch ein perfektiobehandelten Gruppen deutlich günstiger, nistisches Anspruchsniveau sowie starre nach 10 Jahren ergibt sich eine Heilungs- und rigide Strukturen weiter erschwert quote von über 70 % (Keel u. Brown 2010), (Frost et al. 2014). Für den Einfluss soziokultureller Faktowobei die Rückfallquote im 5-Jahres- ren spricht die hohe Prävalenz der EssVerlauf noch mit 47 % angegeben wird störungen in den westlichen Industrie(Grilo et al. 2007).
86
5
M. Stäblein et al.
ländern gegenüber anderen Kulturkreisen. Fälle von extremem Fasten und Heißhungeranfällen finden sich schon immer in historischen medizinischen Fachzeitschriften. Im Gegensatz dazu zeichnen sich die modernen Essstörungen dadurch aus, dass Fasten oder andere Gewichtskontrollpraktiken durch die auf den Körperumfang bezogenen Sorgen motiviert sind (Habermas 2000). Junge Frauen unterliegen dem Druck des Schlankheitsideals – vermittelt durch Modezeitschriften und andere Medien – mehr als ihre männlichen Altersgenossen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass bulimische Frauen ein starkes Bedürfnis nach sozialer Anerkennung aufweisen und eng an den herrschenden Ideal- und Körpervorstellungen orientiert sind (Steins u. Remy 1996), wohingegen in der Magersucht Abmagerung und körperliche Bedürfnislosigkeit idealisiert wird, also eher eine Ablehnung oder Abgrenzung von einer Idealnorm gesellschaftlicher Attraktivität demonstriert wird (von Braun 1993). Das serotonerge System spielt in der Entstehung von Essstörungen eine Rolle (z. B. Kaye et al. 2005). Dieses System moduliert Appetit, motorische Aktivität, Stimmungen, zwanghaftes Verhalten und Impulskontrolle. Bei der Bulimie wird angenommen, dass ein gezügeltes Essverhalten und Fastenperioden die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Essattacken erhöhen und zur Aufrechterhaltung biologischer und psychischer Störungen führen (Holtkamp u. Herpertz-Dahlmann 2005). Es ist davon auszugehen, dass es bei Essstörungen zu einer Wechselwirkung zwischen neuroendokrinen Veränderungen und Verhaltensveränderungen kommt, die ein Fortschreiten der Störung erheblich begünstigt. Den physiologischen Veränderungen selbst wird aber keine ätiologische Bedeutung zugeschrieben (Schweiger u. Fichter 2000). Systematische Familienuntersuchungen und Zwillingsstudien (Kaplan 2005) legen zudem eine genetische Beteiligung nahe.
z Psychische Entstehungsbedingungen
In der Herausarbeitung zentraler psychischer Probleme und Konfliktbereiche ist die Essstörungssymptomatik immer wieder als Versuch beschrieben worden, den Körper und seine Bedürfnisse zu kontrollieren, um zum einen sexuelle Wünsche und Verunsicherungen zu vermeiden und zum anderen sexuelle Reifung wie das Eingehen von Beziehungen zu verhindern (Thomä 1961). Daneben wurde aber immer deutlicher, wie sehr die Patienten um Autonomie, Kontrolle, Selbstwert und Identität im Allgemeinen ringen. Das Thema der Selbstbehauptung und Autonomie zentriert sich typischerweise auf die Kontrolle von Hunger und Gewicht und dient meist der Angstvermeidung auf anderen Ebenen. Ein niedriger Selbstwert bzw. ungenügende Fähigkeiten in der Selbstwertregulation stehen Schulen-übergreifend im Zentrum ätiologischer Modelle (Fairburn et al. 2003; Schauenburg et al. 2009). So besteht bei der Anorexie im Kern der Störung in der Regel eine Unsicherheit, sich vom Anderen nicht sicher abgrenzen zu können, weil man sich einerseits innerlich so abhängig fühlt, andererseits aber gerade deshalb die Welt oder die andere Personen als bedrohlich und überwältigend erlebt werden. Man kann die Anorexie als Versuch verstehen, die Grenze zwischen der eigenen Person und anderen Personen aufrechtzuerhalten, ohne sich von diesen zu trennen. Die Vorstellung, mit einem Makel oder Defekt behaftet zu sein, im Kern ihrer Person nicht liebens- und achtenswert zu sein, bestimmt weitgehend das Erleben der Bulimie (Reich u. Cierpka 2010). Dieser Konflikt zwischen inkompatiblen Selbst- bzw. Identitätsanteilen ist bei bulimischen Patienten mit ganz unterschiedlichem Störungsgrad zu finden (Reich 2010). Je tiefer der Identitätskonflikt, desto schwerer ist in der Regel die Symptomatik (Schupak-Neuberg u. Nemeroff 1993). Bei bulimischen Frauen finden sich deshalb häufiger eine stärkere
87 Psychische Störungen
Außenorientierung und eine deutlichere Sozialangst als bei nicht essgestörten Personen (Grabhorn et al. 2006). Kompensatorisch orientieren sich essgestörte Patientinnen dann an überhöhten Leistungsstandards (Perfektionismus), um ihren Selbstwert zu bestimmen (Bulik et al. 2003). Ein Teil der Patienten verfügt zudem nur über gering ausgeprägte Fähigkeiten, Spannungen zu ertragen, Gefühlschwankungen zu regulieren und Impulse zu kontrollieren (Waller et al. 2003). So berichten Patienten häufig davon, dass es ihnen nicht möglich ist, Alleinsein in der eigenen Wohnung ohne Symptomverhalten auszuhalten. >>Ein niedriger Selbstwert, Perfektionismus, das Verlagen nach Selbstbehauptung und Autonomie sowie die verminderte Fähigkeit, Spannungen zu ertragen, spielen eine entscheidende Rolle bei der Krankheitsentwicklung.
Körperschemastörungen sind ein wesentliches Charakteristikum von Essstörungen. Neben der Verzerrung der Wahrnehmung des Körperumfangs wird vor allem eine größere Unzufriedenheit mit dem Körper bei Frauen mit Essstörung festgestellt (Mohr et al. 2010), aber auch das zwanghafte Vermeiden, den Köper oder bestimmte Körperpartien zu berühren oder diese im Spiegel anzusehen, gehört dazu. 5.7.5
Behandlungsansätze
Eine Früherkennung und die Arbeit an einer Krankheitseinsicht bzw. Therapiemotivation ist nicht nur von entscheidender Bedeutung für den weiteren Verlauf, sondern auch der erste Schritt zur Einleitung einer Behandlung. Bei Verdacht auf eine Essstörung muss eine sorgfältige Diagnostik erfolgen. Hier stehen neben der Abklärung der Symptomatik und der Erfassung zentraler Aspekte der Krankheitsbilder(Reich u. Cierpka 2010) der Aufbau eines Arbeits-
5
bündnisses wie der therapeutischen Beziehung im Vordergrund. Sowohl die aktuelle Studienlage als auch verschiedene internationale Leitlinien (z. B. NICE, National Institute for Health and Care Excellence 2004) sehen Psychotherapie bei Anorexie und Bulimie als Behandlung der Wahl (Zipfel et al. 2014; Hay 2013). Für die Anorexie liegt bisher keine Evidenz für eine Pharmakotherapie vor, bei der Bulimie können begleitend Antidepressiva gegeben werden, da positive Effekte auf die bulimische Essstörungssymptomatik gefunden werden konnten (S3-Leitlinie, Herpertz et al. 2011). Gehen die Empfehlungen in der Behandlung der Bulimie in Richtung der kognitiv- behavioralen Therapie (Poulsen et al. 2014), so erwies sich in einer aktuellen Studie (Zipfel et al. 2014) die fokale psychodynamische Therapie in der ambulanten Behandlung der Anorexie am erfolgreichsten. Bei dieser Therapieform wird der Fokus auf die inneren Konflikte und die für die Krankheit ursächlichen emotionalen Auslöser gelegt. Eindeutigkeit besteht aufgrund des momentanen Kenntnisstand darin, dass die Behandlung störungsspezifisch erfolgen sollte. Wichtige Therapieschritte sind deshalb nach Einleitung der Behandlung (s. ausführlich Jacobi et al. 2008; Schauenburg et al. 2009; Zeeck et al. 2005): 55 Normalisierung des Essverhaltens und des Gewichts, 55 Bearbeitung psychodynamisch relevanter Faktoren und Veränderung dysfunktionaler Gedanken, 55 Arbeit an ungünstigen Beziehungsmustern, 55 Bearbeitung der Köperbildstörungen, 55 Verbesserung in der Affektdifferenzierung bzw. Impulsregulation, 55 sorgfältige Bearbeitung der Trennung und Rückfallprophylaxe. >>Die Behandlungsmethode der Wahl bei Essstörungen ist Psychotherapie.
88
5
M. Stäblein et al.
Während die Erstbehandlung von Bulimie bei Fehlen von Komorbiditäten in der Regel ambulant erfolgen sollte, gilt dies bei von Anorexie Betroffenen nur bei hinreichend motivierten Patienten mit BMI > 15 kg/m2. Eine stationäre bzw. teilstationäre Therapie ist auch dann indiziert, wenn nach sechs Monaten keine Symptomveränderung eintritt. Insbesondere bei jüngeren Patienten empfiehlt sich die Einbeziehung der Familie.
5.8
Persönlichkeitsstörungen
Eine Persönlichkeitsstörung ist eine überdauernde Abweichung im Erleben und Verhalten von der für die jeweilige Kultur gängigen Norm. Das Verhalten führt in der Regel zu Beeinträchtigungen im sozialen Miteinander und in der Folge zu einem erheblichen Leidensdruck der Betroffenen. Für weitere Erläuterungen zum Begriff der Persönlichkeit und zur Definition von Persönlichkeitsstörungen verweisen wir auf 7 Abschn. 4.5. Im Folgenden soll die Borderline-Persönlichkeitsstörung aufgrund ihrer klinischen Bedeutsamkeit ausführlicher dargestellt werden.
5.8.1
Symptomatik
z Borderline-Persönlichkeitsstörung
Die Borderline-Persönlichkeitsstörung zeichnet sich nach dem ICD-11 (World Health Organization 2019) durch eine launenhafte Affektivität und das Ausleben von Impulsen ohne Berücksichtigung ihrer Konsequenzen aus. Der impulsive Typ zeichnet sich durch diese beiden Aspekte aus, nämlich emotionale Instabilität und mangelnde Impulskontrolle. Dabei ist ein wesentliches Merkmal die Tendenz zu Konflikten mit anderen, insbesondere dann, wenn impulsive Handlungen unterbunden werden. Es besteht eine Neigung zu Wut-
oder Gewaltausbrüchen. Den Betroffenen fällt es schwer, Handlungen beizubehalten, die nicht unmittelbar belohnt werden. Bei der Borderline-Persönlichkeits störung besteht darüber hinaus eine Instabilität des Selbstbildes, der Ziele und der inneren Präferenzen mit selbstdestruktivem Verhalten und chronischer innerer Leere. Die Betroffenen lassen sich oft auf intensive, dafür aber instabile Beziehungen ein. Dies führt oft in der Folge zu emotionalen Krisen. Dabei zeigen die Betroffenen übertriebene Bemühungen, das Verlassenwerden zu vermeiden. Bei den häufig auftretenden Anspannungszuständen wissen sich die Betroffenen oft nicht anders zu helfen, als sich selbst zu verletzen (z. B. durch Ritzen, Verbrennen oder Schlagen). Auch Suizidalität spielt häufig eine Rolle. Charakteristisch für diese Störung ist ein sog. dichotomes Denkmuster. Dies meint ein Schwarz-Weiß-Denken, welches sich z. B. auch im Umgang mit nahestehenden Personen ausdrückt. Nahestehende Perso nen werden wechselnd idealisiert und komplett entwertet. Nicht selten belastet gerade dies auch den Umgang mit den Patienten in einem therapeutischen Team. Gerne wird dann von Spaltung gesprochen. Häufig wird Patienten auch ein Agieren oder Manipulieren unterstellt. Dies greift jedoch zu kurz, zumal insbesondere die letzten beiden Begriffe ein bewusstes Vorgehen unterstellen, welches man nicht nachweisen kann. Eher führen die Impulse und Emotionen, die während einer sozialen Situation auftreten, zu heftigen Reaktionen bei den Betroffenen, die dann von den anderen Personen in der Situation als Manipulation gedeutet werden (ICD-11) (World Health Organization 2019). 5.8.2
Epidemiologie
Die Prävalenz der Borderline- Persönlichkeitsstörung liegt bei etwa 1–2 % (Lieb et al. 2004). Es besteht ein aus-
89 Psychische Störungen
geglichenes Geschlechterverhältnis. Es wird ein genetischer Einfluss von knapp 50 % angenommen (Distel et al. 2009). Als psychosoziale Belastungsfaktoren sind sexuelle und körperliche Gewalterfahrungen sowie Vernachlässigung identifiziert worden (Zanarini et al. 2000). 5.8.3
Verlauf
Wie alle Persönlichkeitsstörungen beginnt auch die Borderline-Persönlichkeitsstörung im Kindes- und Jugendalter und manifestiert sich auf Dauer im Erwachsenenalter. 5.8.4
Entstehung
Warum und in welchen Fällen nun aus einer zunächst „auffälligen“ Persönlichkeit eine Störung entsteht, ist von vielen Einflüssen abhängig. Das in 7 Abschn. 3.3.1 dargestellte Vulnerabilitäts-StressBewältigungs-Modell kann zur Veranschaulichung gut herangezogen werden. So spielen auch bei Persönlichkeitsstörungen genetische und biologische Faktoren einerseits und psychologische und soziale Risikofaktoren andererseits als gemeinsame Vulnerabilität eine Rolle. Einschneidende Lebensereignisse und zwischenmenschliche Krisen stellen mögliche Stressoren dar.
5.8.5
Behandlungsansätze
Aufgrund des schon erwähnten manipulativen und impulsiven Verhaltens als zentrales Symptom der Borderline-Störung ist es in der Behandlung dieser Störung zentral, Re-
5
geln und Therapievereinbarungen vor Beginn der Therapie festzulegen. Beispielsweise wird hier festgelegt, wie mit selbstverletzendem Verhalten umgegangen wird. Dies ist sowohl für den Therapeuten als auch für den Patienten wichtig, um eine verlässliche therapeutische Beziehung gestalten zu können. Die Therapie der Wahl ist die dialektisch- behaviorale Therapie (DBT) nach Linehan (1993). Neben der Veränderung von konkreten Verhaltensweisen geht es hier um die Überprüfung von starren Denkmustern und das Erkennen gleichförmig ablaufender emotionaler Reaktionen. Wesentlich ist dabei das Erkennen eines Nutzens, den man aus der Verhaltensänderung für sich selbst als Patient ziehen kann. Die Therapie besteht dabei neben einer Einzeltherapie auch aus einem Fertigkeitentraining(Skillstraining) in der Gruppe, der sog.Skillsgruppe. Denn eine besondere Schwierigkeit der Borderline- Persön lichkeitsstörung sind die Störungen der Affektregulation mit Impulsivität. In emotionalen Krisensituationen kommt es daher immer wieder auch zu selbstverletzendem Verhalten zur Spannungsabfuhr. Im Skillstraining erlernen die Patienten in der Gruppe u. a. Fertigkeiten zur S tresstoleranz. Sie stellen letztlich Alternativen dar, um intensive Anspannung zu bewältigen, ohne auf Selbstverletzung zurückgreifen zu müssen. Hierfür werden starke sensorische Reize oder motorische Aktivierungen eingesetzt. Klassische Beispiele sind der Einsatz von Stachelbällen, das Hören lauter Musik, das Essen von Chilischoten, Riechen an Ammoniak, kaltes Duschen oder Rennen. Auch Atemtechniken können z. B. zur Emotionsregulation eingesetzt werden.
90
M. Stäblein et al.
Zusammenfassung
5
Die Gruppe der Schizophrenien stellt einen Syndromkomplex dar, bei dem Gedanken, Wahrnehmung und Gefühle einer Person grundlegend verändert sind. Die Symptome können dabei in Positivund Negativsymptome unterteilt werden. Im Krankheitsverlauf wird zwischen Prodromalphase, Akutphase und Residualphase unterschieden. Die affektiven Störungen werden in unipolare (Depressionen) und bipolare Störungen (Manisch-depressive Störungen) unterteilt und stellen eine der häufigsten psychiatrischen Störungen dar. Bei der Schizophrenie und bei affektiven Störungen wird in der Behandlung eine Kombination aus medikamentöser, psychotherapeutischer und soziotherapeutischer Therapie empfohlen. Abhängigkeitssyndrome werden je nach Art der verursachenden Substanz klassifiziert und können aber auch substanzungebunden auftreten (z. B. Spielsucht). In der Behandlung haben sich substanzübergreifend psychotherapeutische Verfahren bewährt. Dabei wird zwischen körperlicher Entgiftung und Entwöhnungsbehandlung mit dem Ziel der langfristigen Abstinenz unterschieden. Bei einer Person mit Demenz kommt es zu einer Abnahme der Gedächtnisleistung und weiterer intellektueller Funktionen, wodurch die selbständige Lebensführung verhindert wird. Die Zahl der Demenzkranken in Deutschland steigt aufgrund der demografischen Entwicklung ständig an. Der neurodegenerative Prozess kann nicht aufgehalten werden, aber therapeutische Maßnahmen können die Lebensqualität verbessern. Für die Angststörungen zentral ist eine übermäßige und übertriebene Angst vor bestimmten Situationen, Gegenständen oder Personen/Tieren. Die The-
rapie besteht hauptsächlich aus Psychotherapie, in der die Ursache der Angst herausgefunden werden soll. In einem Training wird dann versucht, die Angstsymptome in normalerweise angstauslösenden Situationen zu verringern. Angstlösende Medikamente können begleitend gegeben werden. Bei der Anorexia nervosa besteht das Bestreben nach einem sehr niedrigen Körpergewicht. Charakteristisch für die Bulimia nervosa sind Essanfälle mit Kontrollverlust und meist nachfolgendem Erbrechen. Dabei spielt ein niedriger Selbstwert bei der Entstehung eine zentrale Rolle. Die Behandlungsmethode der Wahl ist eine Psychotherapie. Persönlichkeitsstörungen sind überdauernde Erlebens- und Verhaltensmuster, die zu subjektivem Leiden des Betroffenen oder seines Umfeldes führen. Bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung kommt es aufgrund von Anspannungszuständen häufig zu selbstverletzendem Verhalten. Dialektisch-behaviorale Therapie und Skillstraining sind die gängigsten psychotherapeutischen Behandlungselemente.
Literatur Aleman A, Kahn RS, Selten JP (2003) Sex differences in the risk of schizophrenia: evidence from meta- analysis. Archives of general psychiatry 60 (6):565–571. doi:https://doi.org/10.1001/archpsyc.60.6.565 American Psychiatric Association (Hrsg) (2010) Diagnostic and statistical manual of mental disorders: DSM-IV-TR, 4. ed., text revision. American Psychiatric Association, Arlington Anton RF, O’Malley SS, Ciraulo DA, Cisler RA, Couper D, Donovan DM, Gastfriend DR, Hosking JD, Johnson BA, LoCastro JS, Longabaugh R, Mason BJ, Mattson ME, Miller WR, Pettinati HM, Randall CL, Swift R, Weiss RD, Williams LD, Zweben A (2006) Combined pharmacotherapies and behavioral interventions for alcohol dependence: the COMBINE study: a randomized controlled trial. JAMA 295:2003–2017
91 Psychische Störungen
Amieva H, Mokri H, Le Goff M, Meillon C, Jacqmin- Gadda H, Foubert-Samier A, Orgogozo JM, Stern Y, Dartigues JF (2014) Compensatory mechanisms in higher-educated subjects with Alzheimer’s disease: a study of 20 years of cognitive decline. Brain: a journal of neurology 137 (Pt 4):1167–1175. doi:https://doi.org/10.1093/brain/ awu035 Andreasen NC, Olsen S (1982) Negative & Positive Schizophrenia. Definition and Validation. Archives of General Psychiatry 39 (7):789. doi:https:// doi.org/10.1001/archpsyc.1982.04290070025006 Assion HJ (2006) Diagnostik, Klassifikation und Differentialdiagnose. In: Assion HJ, Angst J (Hrsg) Handbuch bipolare Störungen. Kohlhammer, Stuttgart Batra A (2000) Tabakabhängigkeit und Raucherentwöhnung bei psychiatrischen Patienten [Tobacco use and smoking cessation in the psychiatric patient]. FortschrNeurolPsychiatr 68 (2):80–92. doi:https://doi.org/10.1055/s-2000-11646 [doi] Baumann U, Perrez M (2011) Lehrbuch Klinische Psychologie - Psychotherapie. Huber, Bern Beck AT, Rector NA, Stolar N (2011) Schizophrenia: Cognitive Theory, Research, and Therapy. Guilford Press, New York Bekris LM, Yu CE, Bird TD, Tsuang DW (2010) Genetics of Alzheimer disease. Journal of Geriatric Psychiatry and Neurology 23:213–227 Bickel H (2004) Epidemiologie und Gesundheitsökonomie. In: Wallesch C, Förstl H (Hrsg) Demenzen. Thieme, Stuttgart New York, S 113–115 Bickel H (2005) Epidemiologie und Gesundheitsökonomie. In: Wallesch CW FH (Hrsg) Demenzen. Referenzreihe Neurologie. Thieme, Stuttgart, S 1–15 Bischof G, Rumpf HJ, Meyer C, Hapke U, John U (2005) Influence of psychiatric comorbidity in alcohol-dependent subjects in a representative population survey on treatment utilization and natural recovery. Addiction 100(3):405–13 Bora E, Yucel M, Pantelis C (2009) Cognitive endophenotypes of bipolar disorder: A meta-analysis of neuropsychological deficits in euthymic patients and their first-degree relatives. Journal of Affective Disorders 113 (1–2):1–20. doi:https:// doi.org/10.1016/j.jad.2008.06.009 Braun C von (1993) Von der virgo fortis zur modernen Anorexie: geistesgeschichtliche Hintergründe der modernen Essstörungen. In: Seidler GH (Hrsg) Magersucht. Psychosozial-Verlag, Gieszen, S 134–169 Braunwarth WD (1990) [Indications for the use of chlormethiazole]. Fortschr Med 108 (26):504–506 Brieger P (2006) Temperament als Grundlage affektiver Störungen. In: Assion HJ, Angst J (Hrsg) Handbuch bipolare Störungen. Kohlhammer, Stuttgart
5
Bulik CM, Sullivan PF, Tozzi F, Furberg H, Lichtenstein P, Pedersen NL (2006) Prevalence, heritability, and prospective risk factors for anorexia nervosa. Archives of general psychiatry 63 (3):305– 312. doi:https://doi.org/10.1001/archpsyc.63.3.305 Bulik CM, Tozzi F, Anderson C, Mazzeo SE, Aggen S, Sullivan PF (2003) The relation between eating disorders and components of perfectionism. The American journal of psychiatry 160 (2):366–368 Bungard S, Hertle D, Kliner K, Lüken F, Tewes C, Trümner A (2013) BKK Gesundheitsreport 2013. BKK Dachverband, Berlin Day K, Carreon D, Stump C (2000) The therapeutic design of environments for people with dementia: a review of the empirical research. The Gerontologist 40 (4):397–416 DGPPN (2019). S3-Leitlinie Schizophrenie. AWMF- Register Nr. 038-009. Distel MA, Trull TJ, Willemsen G, Vink JM, Derom CA, Lynskey M, Martin NG, Boomsma DI (2009) The five-factor model of personality and borderline personality disorder: a genetic analysis of comorbidity. Biological psychiatry 66 (12):1131– 1138. doi:https://doi.org/10.1016/j.biopsych.2009.07.017 Fairburn CG, Cooper Z, Shafran R (2003) Cognitive behaviour therapy for eating disorders: a „transdiagnostic“ theory and treatment. Behaviour research and therapy 41 (5):509–528 Feil N (1990) Validation: ein neuer Weg zum Verständnis alter Menschen. Delle Kart, Wien Fichter MM, Quadflieg N, Hedlund S (2006) Twelve- year course and outcome predictors of anorexia nervosa. The International journal of eating disorders 39 (2):87–100. d oi:https://doi.org/10.1002/ eat.20215 Förstl H, Burns A, Zerfass R (2003) Alzheimer Demenz: Diagnose, Symptome und Verlauf. In: Förstl H (Hrsg) Lehrbuch der Gerontopsychiatrie. Enke, Stuttgart, S 324–345 Förstl H, Kurz A, Calabrese P, Hartmann T (2001) Alzheimer-Demenz. In: Förstl H (Hrsg) Demenzen in Theorie und Praxis. Springer, Berlin Heidelberg, S 43–61 Frost U, Strack M, Kronmüller K-T, Stefini A, Horn H, Winkelmann K, Bents H, Rutz U, Reich G (2014) Scham und Familienbeziehungen bei Bulimie. Psychotherapeut 59 (1):38–45. doi:https:// doi.org/10.1007/s00278-013-1010-8 Gaebel W, Falkai P (Hrsg) (2006) Behandlungsleitlinie Schizophrenie. S3 Praxisleitlinien in Psychiatrie und Psychotherapie, Bd 1. Steinkopff, Darmstadt Goodwin FK, Jamison KR (2007) Manic-depressive illness: Bipolar disorders and recurrent depression, 2 Aufl. Oxford UP, Oxford Grabhorn R, Köpp W, Gitzinger I, Wietersheim Jv, Kaufhold J (2003) Unterschiede zwischen weib-
92
5
M. Stäblein et al.
lichen und männlichen Patienten mit einer Essstörung. PPmP - Psychotherapie · Psychosomatik · Medizinische Psychologie 53(1):15–22. https:// doi.org/10.1055/s-2003-36479 Grabhorn R, Stenner H, Stangier U, Kaufhold J (2006) Social anxiety in anorexia and bulimia nervosa: the mediating role of shame. Clinical Psychology & Psychotherapy 13 (1):12–19. doi:https:// doi.org/10.1002/cpp.463 Grilo CM, Pagano ME, Skodol AE, Sanislow CA, McGlashan TH, Gunderson JG, Stout RL (2007) Natural course of bulimia nervosa and of eating disorder not otherwise specified: 5-year prospective study of remissions, relapses, and the effects of personality disorder psychopathology. The Journal of clinical psychiatry 68 (5):738–746 Grunze H, Walden J (2003) Die bipolaren Störungen, manisch-depressive Erkrankungen: Ratgeber für Betroffene und ihre Angehörigen, 2 Aufl. Thieme, Stuttgart Gutzmann H, Zank S (2005) Demenzielle Erkrankungen: medizinische und psychosoziale Interventionen. Kohlhammer, Stuttgart Habermas T (2000) Liegt‘s wirklich an der Werbung? In: Gastpar M, Remschmidt H, Senf W (Hrsg) Essstörungen. Wissenschaft und Praxis, Sternenfels, S 11–28 Häfner H, der Heiden W, Behrens S, Gattaz WF, Hambrecht M, Löffler W, Maurer K, Munk- Jørgensen P, Nowotny B, Riecher-Rössler A, Stein A (1998) Causes and consequences of the gender difference in age at onset of schizophrenia. Schizophrenia bulletin 24 (1):99–113 Hahlweg K, Dose M (1998) Schizophrenie. Fortschritte der Psychotherapie, Bd 2. Hogrefe, Göttingen Hauser U (2009) Wenn die Vergesslichkeit noch nicht vergessen ist. Kuratorium Dt. Altershilfe, Köln Hautzinger M (1998) Depression. Fortschritte der Psychotherapie, Bd 4. Hogrefe, Göttingen Hautzinger M, Meyer TD (2000) Bipolare affektive Störungen. In: Hautzinger M (Hrsg) Kognitive Verhaltenstherapie bei psychischen Störungen, 3 Aufl. Beltz, Weinheim Hautzinger M, Meyer TD (2002) Diagnostik affektiver Störungen. Kompendien psychologische Diagnostik. Hogrefe, Göttingen Hautzinger M, Meyer TD (2011) Bipolar affektive Störungen. Fortschritte der Psychotherapie. Hogrefe, Göttingen Hawton K, Casañas i Comabella C, Haw C, Saunders K (2013) Risk factors for suicide in individuals with depression: A systematic review. Journal of Affective Disorders 147 (1–3):17–28. doi:https:// doi.org/10.1016/j.jad.2013.01.004 Hay P (2013) A systematic review of evidence for psychological treatments in eating disorders:
2005-2012. The International journalofeatingdisorders 46 (5):462–469. doi:https://doi. org/10.1002/eat.22103 Hebebrand J (2006) Esstörungen. In: Schauder P, Ollenschläger G (Hrsg) Ernährungsmedizin: Prävention und Therapie. Urban & Fischer, München Herpertz S, Herpertz-Dahlmann B, Fichter M, Tuschen-Caffier B, Zeeck A (2011) S3-Leitlinie Diagnostik und Behandlung der Essstörungen. Springer, Berlin Heidelberg Holtkamp K, Herpertz-Dahlmann B (2005) Anorexia und Bulimia nervosa im Kindes- und Jugendalter. Deutsches Ärzteblatt 102 (1–2) Hudson JI, Hiripi E, Pope HG, Kessler RC (2007) The prevalence and correlates of eating disorders in the National Comorbidity Survey Replication. Biological psychiatry 61 (3):348–358. doi:https:// doi.org/10.1016/j.biopsych.2006.03.040 Inskip HM, Harris EC, Barraclough B (1998) Lifetime risk of suicide for affective disorder, alcoholism and schizophrenia. BrJ Psychiatry 172:35–37 Jacobi C, Thiel A, Paul T (2008) Kognitive Verhaltenstherapie bei Anorexia und Bulimianervosa, 3 Aufl. Beltz PVU, Weinheim John U, Hanke M (2001) Tabakrauch-attributable Mortalität in den deutschen Bundesländern [Tobacco smoking attributable mortality in Germany]. Gesundheitswesen 63 (6):363–369. doi:https://doi.org/10.1055/s-2001-15684 [doi] Jorm AF, Henderson AS, Scott R, Korten AE, Christen H, Mackinnon A, Kay DWK (1994) Does education protect against cognitive impairment? A comparison of the elderly in two Australian cities. International Journal of Geriatric Psychiatry 9 (5):357–363 Kaplan AS (2005) From genes to treatment response: New research into the psychobiology of anorexia nervosa. International Journal of Eating Disorders 37 (S1):S87–S89. doi:https://doi.org/10.1002/ eat.20134 Kaye WH, Frank GK, Bailer UF, Henry SE (2005) Neurobiology of anorexia nervosa: clinical implications of alterations of the function of serotonin and other neuronal systems. The International journal of eating disorders 37:S15–19; discussion S20–11. https://doi.org/10.1002/eat.20109 Keel PK, Brown TA (2010) Update on course and outcome in eating disorders. The International journal of eating disorders 43 (3):195–204. doi:https:// doi.org/10.1002/eat.20810 Keski-Rahkonen A, Hoek HW, Linna MS, Raevuori A, Sihvola E, Bulik CM, Rissanen A, Kaprio J (2009) Incidence and outcomes of bulimia nervosa: a nation wide population-based study. Psychological medicine 39 (5):823–831. doi:https://doi.org/10.1017/s0033291708003942
93 Psychische Störungen
Klosterkötter J, Schultze-Lutter F, Ruhrmann S (2008) Kraepelin and psychotic prodromal conditions. European archives of psychiatry and clinical neuroscience 258 Suppl 2:74–84. doi:https:// doi.org/10.1007/s00406-008-2010-5 Kraus L, Augustin R (2001) Repräsentativerhebung zum Gebrauch psychoaktiver Substanzen bei Erwachsenen in Deutschland 2000. Sucht - Zeitschrift für Wissenschaft und Praxis 2001 47 (Sonderheft 1) Kraus L, Pabst A (2010) Studiendesign und Methodik des Epidemiologischen Suchtsurveys 2009. Sucht 56 (5):315–326 Kraus L, Pabst A, Piontek D, Müller S (2010) Trend des Substanzkonsums und substanzbezogener Störungen. Ergebnisse des Epidemiologischen Suchtsurveys 1995–2009. Sucht 56 (5):337–347 Kraus L, Piontek D, Pabst A, Bühringer G (2011) Alkoholkonsum und alkoholbezogene Mortalität, Morbidität, soziale Probleme und Folgekosten in Deutschland [Alcohol Consumption, Alcohol- Related Mortality, Morbidity, Social Problems and Costs in Germany]. Sucht 57 (2):119–129 Laux G (2013) Affektive Störungen. In: Möller HJ, Laux G, Deister A, Schulte-Körne G (Hrsg) Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, 5 Aufl. Thieme, Stuttgart Lieb K, Zanarini MC, Schmahl C, Linehan MM, Bohus M (2004) Border line personality disorder. Lancet 364 (9432):453–461. doi:https://doi. org/10.1016/s0140-6736(04)16770-6 Linehan M (1993) Cognitive behavioral treatment of borderline personality disorder. Guilford, New York Löwe B, Zipfel S, Buchholz C, Dupont Y, Reas DL, Herzog W (2001) Long-term outcome of anorexia nervosa in a prospective 21-year follow-up study. Psychological medicine 31 (5):881–890 Mann K, Berner MM, Günthner A (2012) Suchterkrankungen. In: Berger M (Hrsg) Psychische Erkrankungen, 4 Aufl. Urban & Fischer/Elsevier, München Masuhr KF, Neumann M (2005) Neurologie. Thieme, Stuttgart New York Mattick RP, Breen C, Kimber J, Davoli M (2009) Methadone maintenance therapy versus no opioid replacement therapy for opioid dependence. Cochrane Database Syst Rev (3):CD002209. https:// doi.org/10.1002/14651858.CD002209.pub2 [doi] Meier MH, Caspi A, Reichenberg A, Keefe RSE, Fisher HL, Harrington H, Houts R, Poulton R, Moffitt TE (2014) Neuropsychological Decline in Schizophrenia from the Premorbid to the Postonset Period: Evidence from a Population- Representative Longitudinal Study. American
5
Journal of Psychiatry 171 (1):91. doi:https://doi. org/10.1176/appi.ajp.2013.12111438 Messias EL, Chen C-Y, Eaton WW (2007) Epidemiology of Schizophrenia: Review of Findings and Myths. Psychiatric Clinics of North America 30 (3):323–338. doi:https://doi.org/10.1016/j. psc.2007.04.007 Meyer TD (2009) Bipolare Störungen. In: Margraf J, Schneider S (Hrsg) Lehrbuch der Verhaltenstherapie, 3 Aufl. Springer, Berlin Heidelberg Meyer TD, Hautzinger M (2004) Manisch-depressive Störungen: Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Behandlungsmanual. Beltz, Weinheim Mielke R, Heiss WD (2003) Vaskuläre Demenzen. In: Förstl H (Hrsg) Lehrbuch der Gerontopsychiatrie. Enke, Stuttgart, S 346–359 Mohr HM, Zimmermann J, Röder C, Lenz C, Overbeck G, Grabhorn R (2010) Separating two components of body image in anorexia nervosa using fMRI. Psychological medicine 40 (9):1519–1529. doi:https://doi.org/10.1017/s0033291709991826 Mowrer OH (1947) On the dual nature of learning - a reinterpretation of „conditioning“ and „problem solving“;. Harvard Educational Review 17:102– 148 Mühlbauer M (2009) Bipolare Erkrankungen. Uni- Med, Bremen Naqvi HA, Hussain S, Islam M, Huma S (2014) Early psychosis symptoms. Journal of the College of Physicians and Surgeons - Pakistan : JCPSP 24 (3):198–202 National Institute for Health and Care Excellence (2004) Eating disorders: Core interventions in the treatment and management of anorexia nervosa, bulimia nervosa and related eating disorders. NICE guidelines [CG9]. NICE, London Nuechterlein KH, Dawson ME (1984) A Heuristic Vulnerability/Stress Model of Schizophrenic Episodes. Schizophrenia Bulletin 10 (2):300–312. doi:https://doi.org/10.1093/schbul/10.2.300 NVL-Versorgungsleitlinie unipolarer Depressionen (2022). Ott A, Breteler MM, van Harskamp F, Claus JJ, van der Cammen TJ, Grobbee DE, Hofman A (1995) Prevalence of Alzheimer’s disease and vascular dementia: association with education. The Rotterdam study. BMJ 310 (6985):970–973 Pabst A, Kraus L (2008) Alkoholkonsum, alkoholbezogene Störungen und Trends. Ergebnisse des Epidemiologischen Suchtsurveys 2006. Sucht 54(Sonderheft 1):36–46 Payá B, Rodríguez-Sánchez JM, Otero S, Muñoz P, Castro-Fornieles J, Parellada M, Gonzalez-Pinto A, Soutullo C, Baeza I, Rapado-Castro M, Sáenz- Herrero M, Moreno D, Arango C (2013) Premor-
94
5
M. Stäblein et al.
bid impairments in early-onset psychosis: differences between patients with schizophrenia and bipolar disorder. Schizophrenia research 146 (1– 3):103–110. doi:https://doi.org/10.1016/j. schres.2013.01.029 Poulsen S, Lunn S, Daniel SIF, Folke S, Mathiesen BB, Katznelson H, Fairburn CG (2014) A randomized controlled trial of psychoanalytic psychotherapy or cognitive-behavioral therapy for bulimia nervosa. The American journal of psychiatry 171 (1):109–116. doi:https://doi.org/10.1176/appi. ajp.2013.12121511 Rehm J, Sulkowska U, Manczuk M, Boffetta P, Powles J, Popova S, Zatonski W (2007) Alcohol accounts for a high proportion of premature mortality in central and eastern Europe. Int J Epidemiol 36 (2):458–467. dyl294 [pii]; https://doi. org/10.1093/ije/dyl294 [doi] Reich G (2010) Psychodynamische Aspekte von Anorexie und Bulimie. In: Reich G, Becker S (Hrsg) Psychotherapie der Essstörungen, 3 Aufl. Thieme, Stuttgart Reich G, Cierpka M (2010) Essstörungen und Adipositas: Epidemeologie– Diagnostik – Verläufe – Grundzüge der Therapie. In: Reich G, Becker S (Hrsg) Psychotherapie der Essstörungen, 3 Aufl. Thieme, Stuttgart Reiser RP, Thompson LW (2005) Bipolar disorder. Advances in Psychotherapy-Evidence-Based Practice. Hogrefe, Cambridge Romero B, Eder G (1992) Selbst-Erhaltungs-Therapie (SET): Konzept einer neuropsychologischen Therapie bei Alzheimerkranken. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 5:267–282 Sattes H (1979) [Clomethiazol (Distraneurin) and alcohol abuse]. Med Klin 74 (3):68–73 Schauenburg H, Friederich H-C, Wild B, Zipfel S, Herzog W (2009) Fokale psychodynamische Psychotherapie der Anorexia nervosa. Psychotherapeut 54 (4):270–280. doi:https://doi. org/10.1007/s00278-009-0668-4 Schupak-Neuberg E, Nemeroff CJ (1993) Disturbances in identity and self-regulation in bulimia nervosa: implications for a metaphorical perspective of „body as self“;. The International journal of eating disorders 13 (4):335–347 Schweiger U, Fichter MM (2000) Psychobiologie der Eßstörungen. In: Gastpar M, Remschmidt H, Senf W (Hrsg) Essstörungen. Wissenschaft und Praxis, Sternenfels Selvini Palazzoli M (1989) Magersucht: Von der Behandlung einzelner zur Familientherapie, 4 Aufl. Klett-Cotta, Stuttgart Spielberger CD (2010) State-Trait Anxiety Inventory. In: Weiner IB, Craighead WE (eds) Corsini Encyclopedia of Psychology, vol 1. Wiley, Hoboken NJ
Statistisches Bundesamt (2010) Krankenhausreport Steins G, Remy C (1996) Selbstkonzept und Bedürfnis nach sozialer Anerkennung bei Bulimikerinnen (Self concept and need for social approval in bulimia patients). Zeitschrift für Psychologie mit Zeitschrift für angewandte Psychologie 204 (2): 187–198 Sütterlin S, Hoßmann I, Klingholz R (2011) Demenz Report: Wie sich die Regionen in Deutschland, Österreich und der Schweiz auf die Alterung der Gesellschaft vorbereiten können. Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, Berlin Tandon R, Nasrallah HA, Keshavan MS (2009) Schizophrenia, “just the facts” 4. Clinical features and conceptualization. Schizophrenia Research 110 (1–3):1–23. doi:https://doi.org/10.1016/j. schres.2009.03.005 Terman M, Terman JS (2005) Light therapy for seasonal and nonseasonal depression: efficacy, protocol, safety, and side effects. (PDF) CNS Spectr 10(8):647–63 The WHO World Mental Health Survey Consortium (2004) Prevalence, severity, and unmet need for treatment of mental disorders in the world health organization world mental health surveys. JAMA 291 (21):2581–2590. doi:https://doi.org/10.1001/ jama.291.21.2581 Thomä H (1961) Anorexia nervosa. Huber, Stuttgart Wagner P, Bräunig P (2006) Psychoedukation bei bipolaren Störungen: Ein Therapiemanual für Gruppen. Schattauer, Stuttgart Walden J, Grunze H (2006) Bipolare affektive Störungen: Ursachen und Behandlung, 4 Aufl. Thieme, Stuttgart Waller G, Babbs M, Milligan R, Meyer C, Ohanian V, Leung N (2003) Anger and core beliefs in the eating disorders. The International journal of eating disorders 34 (1):118–124. doi:https://doi. org/10.1002/eat.10163 Weltgesundheitsorganisation (1993) Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F). Klinisch-diagnostische Leitlinien, 2 Aufl. Huber, Bern Weltgesundheitsorganisation (2009) Global health risks: Mortality and burden of disease attributable to selected major risks. World Health Organisation, Genf Weltgesundheutsorganisation (WHO) (2022) World Mental Health Report: Transforming Mental health for All. Weyerer S (2005) Altersdemenz. Gesundheitsbericht des Bundes. Robert Koch Institut, Berlin Wirz-Justice A, Van den Hoofdakker RH (1999) Sleep deprivation in depression: what do we know, where do we go? Biological psychiatry 46 (4):445– 453
95 Psychische Störungen
Wittchen HU, Hoyer J (Hrsg) (2011) Klinische Psychologie & Psychotherapie, 2 Aufl. Springer, Berlin Heidelberg Wittchen HU, Jacobi F, Rehm J, Gustavsson A, Svensson M, Jönsson B, Olesen J, Allgulander C, Alonso J, Faravelli C, Fratiglioni L, Jennum P, Lieb R, Maercker A, van Os J, Preisig M, Salvador-Carulla L, Simon R, Steinhausen HC (2011) The size and burden of mental disorders and other disorders of the brain in Europe 2010. European Neuropsychopharmacology 21(9):655– 679. doi:https://doi.org/10.1016/j.euroneuro.2011. 07.018 World Health Organization (Hrsg) (2019) The ICD-11 classification of mental and behavioral disorders: Clinical descriptions and diagnostic guidelines. World Health Organization, Geneva Zachrisson HD, Vedul-Kjelsås E, Götestam KG, Mykletun A (2008) Time trends in obesity and eating disorders. The International journal of eating disorders 41 (8):673–680. doi:https://doi. org/10.1002/eat.20565 Zanarini MC, Skodol AE, Bender D, Dolan R, Sanislow C, Schaefer E, Morey LC, Grilo CM, Shea MT, McGlashan TH, Gunderson JG (2000) The
5
Collaborative Longitudinal Personality Disorders Study: reliability of axis I and II diagnoses. Journal of personality disorders 14 (4):291–299 Zeeck A, Sandholz A, Hipp W, Schmidt A (2005) Bulimiebehandlung im stationären und teilstationären Setting. Psychotherapeut 50 (1):43– 51. doi:https://doi.org/10.1007/s00278-004-0377-y Ziegler U, Doblhammer G (2009) Prävalenz und Inzidenz von Demenz in Deutschland - eine Studie auf Basis von Daten der gesetzlichen Krankenversicherungen von 2002. Das Gesundheitswesen 71:281–290 Zipfel S, Wild B, Groß G, Friederich H-C, Teufel M, Schellberg D, Giel KE, Zwaan Md, Dinkel A, Herpertz S, Burgmer M, Löwe B, Tagay S, Wietersheim Jv, Zeeck A, Schade-Brittinger C, Schauenburg H, Herzog W (2014) Focal psychodynamic therapy, cognitive behaviour therapy, and optimised treatment as usual in outpatients with anorexia nervosa (ANTOP study): randomised controlled trial. Lancet 383 (9912):127–137. doi:https://doi.org/10.1016/ s0140-6736(13)61746-8 Zubin J, Spring B (1977) Vulnerability – A New View of Schizophrenia. Journal of Abnormal Psychology 86:103–126
97
Psychopharmakotherapie Christian Knöchel und Benedikt Friedrichs
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 V. Oertel, F. Hänsel (Hrsg.), Aktiv für die Psyche, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67880-0_6
6
98
C. Knöchel und B. Friedrichs
nnLernziele 55 Kennenlernen der wichtigsten Psychopharmakagruppen 55 Kennen der Anwendungsspektren und Indikationen von Psychopharmakotherapie 55 Kennen von Wirkungen und Nebenwirkungen ausgewählter Psychopharmaka
6.1
6
Einführung
In diesem Kapitel wird ein Überblick über die wichtigsten Psychopharmaka gegeben, die in der Psychiatrie und Psychosomatik eingesetzt werden. Wenn die Nebenwirkungen im sportlichen Training auftreten, kann diese Information an den behandelnden Arzt weitergegeben werden. Der behandelnde Arzt entscheidet dann, welche Maßnahmen ergriffen werden müssen, und entscheidet über die weitere Teilnahme am sportlichen Training. Zu möglichen Komplikationen, die im Rahmen sportlichen Trainings aufgrund der Medikation auftreten können, verweisen wir auf 7 Kap. 10. Bei vielen psychischen Störungen handelt es sich um chronische oder wiederkehrende Krankheitsbilder, die eine langfristige und kontinuierliche medikamentöse Behandlung erfordern. Unter Psychopharmaka versteht man solche Substanzen, die einen therapeutischen Nutzen entfalten, indem sie sich positiv auf psychische Symptome auswirken. Die Behandlung mit Psychopharmaka ist ein wesentlicher Bestandteil in der Therapie psychisch erkrankter Menschen (Lüllmann et al. 2010). Zu den wesentlichen Substanzgruppen gehören 55 Antipsychotika, 55 Antidepressiva, 55 Phasenprophylaktika (Stimmungsstabilisierer),
55 Anxiolytika (angstlösende mente), 55 Antidementiva sowie 55 Antiaddiktiva.
Medika-
Die verschiedenen Substanzgruppen haben jeweils ein oder mehrere Haupteinsatzgebiete, z. B. werden Antidepressiva hauptsächlich zur Behandlung depressiver Symptome und Antidementiva zur Behandlung der Demenz eingesetzt. Die Entstehungsmechanismen psychischer Störungen sind auf biologischer Ebene nicht vollständig verstanden (s. 7 Kap. 3). Im Ergebnis bestehen Veränderungen in der Kommunikation zwischen Nervenzellen, wobei auch den Botenstoffen, die zwischen den Zellen vermitteln, eine wichtige Rolle zukommt. In diesem Umfeld, auf mehr oder weniger direkte Art und Weise, entfalten Psychopharmaka ihre Wirkung. Hierdurch beeinflussen sie einerseits direkt das Vorhandensein von Botenstoffen, andererseits beeinflussen sie in der Folge Veränderungen, die beispielsweise die Plastizität des Gehirns betreffen können. Was schließlich für die gewünschte Wirkung verantwortlich zu machen ist, kann nicht in jedem Fall genau benannt werden und ist Gegenstand aktueller Forschung.
>>Ziel einer Psychopharmakotherapie ist es, durch die Gabe von bestimmten Medikamenten die Konzentration desjenigen Botenstoffs zu verändern, der bei der betreffenden Störung eine veränderte Konzentration hat. Kurz gesagt: Psychopharmaka besitzen die Fähigkeit, die Funktionen des Gehirns durch Botenstoffregulierung und Neuroplastizität so zu verändern, dass es optimal auf neue äußerliche Einflüsse und Anforderungen reagieren kann und wirkt so, psychischen Symptomen entgegen.
99 Psychopharmakotherapie
Man kann durch Beobachtung des Plasmaspiegels (mittels Blutproben erhoben) erkennen, wie viel von der eingenommenen Substanz im Körper eines Patienten vorhanden ist. Zu jedem Medikament gibt es einen therapeutischen Wirkungsbereich, d. h. einen Bereich, in dem sich der Plasmaspiegel befinden sollte. Daran orientiert sich der behandelnde Arzt, wenn er feststellen möchte, ob die entsprechende Substanz ihre Wirkung entfaltet. Man kann somit die jeweilige Substanz im therapeutisch optimalen Dosisbereich halten, mit dem Ziel die Dosis und damit auch die Nebenwirkungen möglichst gering zu halten. Man spricht von therapeutischem Drugmonitoring (TDM). Ein großes Problem der Psychopharmakotherapie sind die häufig auftretenden Nebenwirkungen. Nebenwirkungen treten oftmals zu Beginn der Behandlung auf, einige lassen dabei mit längerer Einnahmedauer nach. In diesen Fällen handelt es sich um sog. Eindosierungseffekte. Andere bleiben über die gesamte Einnahmedauer erhalten. Außerdem kann man zwischen störenden und potenziell gefährlichen Nebenwirkungen unterscheiden. Beispielsweise tritt bei Patienten, die Stimmungsstabilisatoren zu sich nehmen, häufig vermehrtes Schwitzen auf. Dies stört die Patienten, ist aber für den Gesundheitszustand nicht bedrohlich. Hier können Ratschläge (z. B. vermehrter Einsatz von Deodorants, Getränke gegen Schwitzen) gegeben und mit den Patienten gemeinsam besprochen werden. Potenziell gefährliche Nebenwirkungen, die häufig bei der Gabe von Stimmungsstabilisatoren vorkommen, sind z. B. Veränderungen von Leber- oder Nierenwerten bis hin zu akuten Intoxikationen. Diese sind für den Gesundheitszustand der betroffenen Patienten bedrohlich und erfordern das sofortige Absetzen der Substanz.
6
Das Absetzen einer Substanz kann mehrere Ursachen haben: 55 Der behandelnde Arzt ist mit der Wirkung nicht zufrieden. 55 Die Nebenwirkungen sind so stark und störend (oder gesundheitsgefährdend), dass die Substanz abgesetzt werden muss. >>Vor dem frühzeitigen Absetzen einer Substanz muss der behandelnde Arzt grundsätzlich klären, ob die Substanz regelmäßig und in der verordneten Dosierung eingenommen wurde und ob der Patient einen ausreichend messbaren Plasmaspiegel aufgebaut hat.
Sicherzustellen, dass die Patienten die jeweils verschriebenen Medikamente auch regelmäßig einnehmen, stellt dabei eine der größten Herausforderungen für die Therapeuten dar. Die verordneten Medikamente werden, wie die Erfahrung zeigt, weitaus unregelmäßiger und in niedrigerer Dosierung eingenommen als von den behandelnden Ärzten angenommen. Häufige Gründe sind Nebenwirkungen oder mangelnde Krankheits- und Behandlungseinsicht des Patienten. Dabei wird in der Medizin traditionell der Begriff der Compliance benutzt, um zu beschreiben, inwieweit sich ein Patient an vereinbarte „Regeln“ hält. Die Compliance kann dadurch unterstützt werden, dass der Patient ausgiebig beraten wird, um ihn damit zu befähigen, eine gut informierte Entscheidung zu treffen. In welchem Ausmaß der Patient diese Empfehlungen für sich annimmt und umsetzt, bezeichnet man heute als Adhärenz. Vor Beginn einer Pharmakotherapie sind daher eine gründliche Aufklärung des Patienten seitens des behandelnden Arztes, die Berücksichtigung negativer Erfahrungen in der Vergangenheit, Vorerkrankungen des Patienten, mög-
100
6
C. Knöchel und B. Friedrichs
liche Nebenwirkungen sowie der Einbezug von Angehörigen wichtig. Dadurch können Therapieabbrüche und das Auftreten mancher Nebenwirkungen und Komplikationen vermieden werden, und die Adhärenz kann gesteigert werden (Dörner u. Plog 2002). Neben einer erforderlichen Therapiebereitschaft durch den zu behandelnden Patienten kann neben einer oralen Einnahme von Medikamenten auch eine Depotgabe von spezifischen Medikamenten notwendig bzw. indiziert sein. Im Bereich der Neuroleptika gibt es sowohl Neuroleptika der 1., als auch der 2. Generation, die als intramuskuläre Depotinjektionsgaben ver fügbar sind. Vorteile bzw. Ziel einer solchen Depotgabe ist es, dass ein Patient nicht täglich an seine Medikamente denken muss, ein gewünschter kontinuierlicher Spiegel vorliegt und bedingt durch den gleichförmigen Spiegel die unerwünschten Nebenwirkungen niedriger gehalten werden können. Die Frequenz der Injektionen ist dabei abhängig von dem jeweiligen Medikament und kann bei den aktuell vorhandenen Neuroleptika zwischen 2 Wochen und 3 Monaten liegen.
Die intramuskulären Injektionen werden hierbei gluteal oder auch deltoidal, je nach Zulassung, durch geschultes Personal dem Patienten verabreicht. >>Bei ausbleibendem Behandlungserfolg ist die Möglichkeit einer mangelhaften Adhärenz immer mit zu bedenken und mit dem Patienten zu thematisieren. In den meisten Fällen lässt sich dann – bei einer vertrauensvollen Arzt-Patient- Beziehung – ein anderer therapeutischer Weg erarbeiten.
. Tab. 6.1 gibt einen Überblick über die wichtigsten Substanzgruppen, Einsatzgebiete und Nebenwirkungen der gängigsten Psychopharmakotherapie. Die Auswahl erfolgte dabei nach der Häufigkeit des Einsatzes in der psychiatrischen und psychosomatischen Behandlung. In den folgenden Abschnitten sind weitere Informationen zu den einzelnen Substanzgruppen zusammengestellt. Für eine Erläuterung der Begrifflichkeiten s. die jeweiligen Folgeabschnitte.
.. Tab. 6.1 Wichtigste Substanzgruppen, Einsatzgebiete und Nebenwirkungen in der Psychopharmakotherapie (vgl. Benkert u. Hippius 2005, Holsboer et al. 2012) Substanzgruppe
Hauptsächliches Einsatzgebiet
Wichtigste Nebenwirkungen
Antipsychotika
Psychosen, Schlafstörungen und Ängste im Rahmen von Psychosen
Typika: Hochpotent: Händezittern (Tremor), Mangel an Spontanmotorik (Hypokinese), Muskelsteifigkeit (Rigor), Sitz- und Stehunruhe (Akathisie), sexuelle Funktionsstörungen Atypika: Gewichtszunahme, Veränderungen des Fett- und Glukosestoffwechsels
101 Psychopharmakotherapie
6
.. Tab. 6.1 (Fortsetzung) Substanzgruppe
Hauptsächliches Einsatzgebiet
Wichtigste Nebenwirkungen
Antidepressiva
Depressive Symptome, Ängste
Trizyklika (TZA): Mundtrockenheit, Harn- und Stuhlverhalt, „verschwommenes Sehen“, Augenkammerinnendruckerhöhungen, Tachykardie (Herzrasen), Herzrhythmusstörungen Bei Langzeiteinnahme: Gewichtszunahme, sexuelle Funktionsstörungen Selektive Serotonin-Rückaufnahme-Inhibitoren (SSRI): Übelkeit, Erbrechen, Appetitminderung, Kopfschmerzen, Angstzustände, Unruhe, Schlafstörungen und sexuelle Funktionsstörungen Selektive Noradrenalin-Rückaufnahme-Inhibitoren (SNRI): ähnlich SSRI
Phasenprophylaktika (Stimmungsstabilisierer)
Rückfallprophylaxe manisch- depressive Störungen, akute manische und depressive Symptome
Lithium: Tremor, Gewichtszunahme, Lithiumintoxikation Antikonvulsiva: Müdigkeit, Schwindel, Kreislaufbeschwerden Antipsychotika: s. oben
Anxiolytika (angstlösende Medikamente)
Angst, Spannungszustände, Erregung
Müdigkeit, Gangstörungen, kognitive Beeinträchtigungen, Reaktions- und Konzentrationsstörungen
Antidementiva
Kognitive Beeinträchtigungen, Funktionsniveau im Alltag, Verhaltensauffälligkeiten bei der Demenz
Gastrointestinale Symptome (Übelkeit, Erbrechen, Appetitverlust, Durchfall), Schwindel, Kopfschmerzen, Verlangsamung der Herzfrequenz
Antiaddiktiva (Entwöhnung- und Entgiftungsmittel)
Entgiftung und Entwöhnung bei Abhängigkeit
Schläfrigkeit, Benommenheit, Blutdrucksenkung, Allergien, Abhängigkeitspotenzial
6.2
Antipsychotika
Antipsychotika sind Substanzen, die Symptome einer Psychose (z. B. Schizophrenie) günstig beeinflussen können. Sie wirken gegen Symptome wie Halluzinationen, Wahn und bizarres Verhalten sowie Bewegungsstörungen. Der Begriff Antipsychotikum sollte gegenüber dem früher häufig verwendeten Begriff Neuroleptikum bevorzugt werden, da er Auskunft über die wesentliche Wirkung der Substanzgruppe gibt. Man unterscheidet Antipsychotika der ersten Genera-
tion, auch Typika genannt, und Antipsychotika der zweiten Generation, auch Atypika genannt. 6.2.1
ypika (Antipsychotika der T ersten Generation)
Typika entfalten ihre antipsychotische Wirkung vor allem durch eine Hemmung von Dopaminrezeptoren. Dabei ist die antipsychotische Wirkung umso höher, je wahrscheinlicher eine Bindung des Medikamentes am Dopaminrezeptor ist (man spricht von
102
6
C. Knöchel und B. Friedrichs
Rezeptoraffinität), von dem es den Botenstoff Dopamin verdrängt. Auf diese Weise reduzieren Antipsychotika eine überschießende Wirkung des Dopamins in bestimmten Hirnregionen, die für die Entstehung psychotischer Symptome verantwortlich sind. Man unterscheidet zwischen hoch-, mittel- und niederpotenten Antipsychotika: 55 Hochpotente Antipsychotika wirken sehr gut antipsychotisch und weniger sedierend (beruhigend). 55 Mittelpotente Antipsychotika wirken mittelmäßig beruhigend und mittelmäßig antipsychyotisch. 55 Niedrigpotente Antipsychotika wirken stärker sedierend und weniger antipsychotisch. Je potenter ein Antipsychotikum ist, desto stärker sind insbesondere extrapyramidal- motorische Nebenwirkungen ausgeprägt. Dies hängt damit zusammen, dass eine übermäßige Blockade an den Dopaminrezeptoren vorhanden ist. Die häufigsten Nebenwirkungen der hochpotenten Typika sind Händezittern (Tremor), Mangel an Spontanmotorik (Hypokinese), eine Muskelsteifigkeit (Rigor) sowie eine Sitz- und Stehunruhe (Akathisie). Außerdem können infolge der Dopamin- hemmenden Wirkung sexuelle Funktionsstörungen auftreten, die nicht selten Grund für ein verfrühtes Absetzen der Medikamente sind. Hingegen entfalten niedrigpotente Antipsychotika ihre Wirkung stärker über die Blockade von Noradrenalinund Histaminrezeptoren. Hiermit einher geht vor allem eine schlafanstoßende und angstlösende Wirkung. Die antipsychotische Wirkung ist jedoch deutlich geringer.
6.2.2
typika (Antipsychotika der A zweiten Generation)
Die Antipsychotika der zweiten Generation zeichnen sich in erster Linie dadurch aus, dass sie bei vergleichbarer antipsychotischer Wir-
kung zu deutlich weniger motorischen Nebenwirkungen führen und damit auch in der Langzeitanwendung wesentlich verträglicher sind. Dies wird u. a. dadurch erklärt, dass Antipsychotika der zweiten Generation über die Blockade sehr unterschiedlicher Rezeptoren wirken. Am häufigsten werden jedoch Gewichtszunahmen (von bis zu 5–15 kg innerhalb von zwei Jahren) sowie Veränderungen des Fett- und Glukosestoffwechsels (z. B. Diabetes mellitus) beschrieben. Diese Nebenwirkungen kommen über eine Blockade von Histamin- und Serotoninrezeptoren zustande. > Wichtig Clozapin kommt bei therapieresistenten Erkrankungen aus dem schizophrenen Spektrum zum Einsatz, die mit anderen Neuroleptika nur unzureichend behandelt werden können. Das Medikament gilt aufgrund seiner starken Nebenwirkungen als nachgeschaltete Behandlungsoption, wenn andere hochpotente Neuroleptika nicht ausreichend ihre Wirkung entfalten konnten, somit im Rahmen einer partiellen oder vollständigen Therapieresistenz. Eine Verbesserung der schizophrenen Symptomatik kann bei Clozapin bis zu zwölf Monate nach erstmaliger Einnahme erfolgen, was bei anderen Neuroleptika dann nicht mehr der Fall ist. Somit sollte, sofern klinisch vertretbar, auf eine zu frühe Beendigung der Therapie verzichtet werden. Zu den häufigsten möglichen unerwünschten Wirkungen gehören eine Dämpfung, Schwindel, eine teils starke Gewichtszunahme, Verstopfung, ein übermäßiger Speichelfluss und eine zu schnelle Herzfrequenz. Clozapin kann die Überleitungszeiten am Herz verlängern und in seltenen Fällen eine potentiell lebensbedrohliche Agranulozytose (massiver plötzlicher Mangel an weißen Blutkörperchen) auslösen. Clozapin wird von CYP450-Isoenzymen in der Leber verstoffwechselt und interagiert mit der Glut von Zigaretten, wodurch der Abbauprozess im Körper durch das Rauchen deutlich beschleunigt wird.
103 Psychopharmakotherapie
6.3
Antidepressiva
Antidepressiva wirken gegen depressive Symptome. Ihre Wirkung ist dabei hauptsächlich stimmungsaufhellend, einige Substanzen wirken aber auch antriebssteigernd bzw. aktivierend, andere wiederum sedierend bzw. dämpfend und anxiolytisch (angstlösend). Das Hauptindikationsgebiet von Antidepressiva liegt, wie der Name schon sagt, im Bereich depressiver Störungen. Allerdings werden sie auch bei einer Vielzahl anderer Störungen eingesetzt, z. B. bei Angstund Zwangsstörungen, Essstörungen, Reaktionen auf schwere Belastungen, chronischen Schlafstörungen oder chronischen Schmerzsyndromen. Bei der Auswahl des individuell richtigen Antidepressivums wird deshalb die aktuell vorliegende Symptomatik berücksichtigt. Aber auch die Ergebnisse früherer Behandlungsversuche sind für die Auswahl entscheidend. Antidepressiva werden nach ihrer chemischen Struktur und vor allem ihrem Wirkprinzip eingeteilt. Allen Antidepressiva gemein ist die lange Wirklatenz, d. h., die Zeit bis eine nachweislich antidepressive Wirkung auftritt (Ausnahme ist hier Ketamin, s. u.). Diese beträgt durchschnittlich zwei Wochen. Antriebssteigerung, Sedierung oder unerwünschte Medikamenteneffekte treten jedoch meist weitaus schneller auf. Dies bedeutet klinisch, dass eine Beurteilung der Wirksamkeit auch erst nach mindestens zwei Wochen erfolgen kann. In der klinischen Praxis ist es sogar üblich, eher bis zu vier Wochen zu warten, bis man den Erfolg der antidepressiven Therapie valide einschätzt. Zudem kann es in der Initialphase der Aufdosierung von Antidepressiva zu einer Verstärkung der Angstsymptomatik sowie zu einer Zunahme der inneren Unruhe kommen. In der Praxis haben sich bei der antidepressiven Therapie daher niedrigere Anfangsdosierungen, langsame Dosis-
6
steigerungen sowie die bedarfsmäßige Gabe von Beruhigungsmitteln bewährt. >>Die krankheitsbedingte Minderung des Antriebs, die anhaltend gedrückte Stimmung, gepaart mit dem verzögerten Wirkungseintritt und den nicht unwesentlichen Nebenwirkungen der Antidepressiva, führen nicht selten zum Absetzen der antidepressiven Medikation ohne Rücksprache mit dem behandelnden Arzt.
6.3.1
Trizyklische Antidepressiva (TZA)
Trizyklische Antidepressiva (TZA) bestehen strukturchemisch – wie der Name sagt – aus einem dreiringigen Grundgerüst (Finzen 2004). Alle TZA haben eine breite Wirkung auf unterschiedliche Rezeptoren und Transportsysteme. Hieraus ergibt sich neben einer guten antidepressiven Wirksamkeit leider auch ein erhöhtes Nebenwirkungspotenzial. Trotz ihrer sehr guten klinischen Wirksamkeit gelten sie deswegen nicht als Mittel erster Wahl und führen im Vergleich zu neueren Antidepressiva zu 10 % mehr nebenwirkungsbezogenen Therapieabbrüchen (Schneider 2017). Häufige Nebenwirkungen sind Mundtrockenheit, Harn- und Stuhlverhalt, „verschwommenes Sehen“, Augenkammerinnendruckerhöhungen sowie Tachykardie (Herzrasen) und Herzrhythmusstörungen. Besonders bei Langzeiteinnahme treten häufig Gewichtszunahme und sexuelle Funktionsstörungen auf. Das plötzliche Absetzen einer bereits länger bestehenden Behandlung mit TZA sollte dringend vermieden werden, da in solchen Fällen das Auftreten von Absetzphänomenen sehr wahrscheinlich ist. Dabei kann es bei den Betroffenen zu Übelkeit, Erbrechen, Schwindelattacken, Niedergeschlagenheit und grippeähnlichen Symptomen kommen.
104
Selektive Serotonin- Rückaufnahme-Inhibitoren (SSRI)
Serotonin als Antagonist an präsynaptischen- Alpha- 2-Rezeptoren, die dort eigentlich einer Autoinhibition der Ausschüttung dienen. Des Weiteren blockiert Mirtazapin postsynaptisch zwei Subtypen der Serotonin- Selektive Serotonin-Rückaufnahme-Inhi Rezeptoren (Typ 2 und 3), sodass ein andebitoren (SSRI) hemmen diejenigen Transrer Subtyp (1) vermehrt stimuliert wird. Für porter, die Serotonin in die Zelle transdas Nebenwirkungsspektrum ist von Beportieren, ohne andere Rezeptor- oder deutung, dass auch in erheblichem Ausmaß Transportsysteme zu beeinflussen. Die SSRI Histminrezeptoren blockiert werden. Durch sind ebenfalls hoch wirksame Antidie antihistaminergern Eigenschaften werdepressiva; diese Substanzklasse weist neben den die typischen Nebenwirkungen Sediedem stimmungsaufhellenden auch einen anrung und Appetitsteigerung vermittelt. Zutriebssteigernden Effekt auf. Die häufigsten gleich sind dies zwei Nebenwirkungen, die Nebenwirkungen der SSRI sind Übelkeit, man sich teilweise auch therapeutisch zu Erbrechen, Appetitminderung, Kopfnutze macht, um die häufigen Symptome schmerzen, Angstzustände, Unruhe, Schlaf(Schlafstörung und Inappetenz) rasch zu bestörungen und sexuelle Funktionsstörungen. einflussen. Sie treten aber – im Vergleich zu den NebenBupropion hemmt die Wiederaufnahme wirkungen bei den TZA – in weniger bevon Dopamin und Noradrenalin aus dem lastendem Maße auf. Ähnlich wie bei den synaptischen Spalt. Günstig ist bei dieser TZA ist bei den SSRI ein abruptes Absetzen Substanz, dass es nicht zu sexuellen zu vermeiden. Auch hier kann es zu AbsetzFunktionsstörungen kommt und keine Gephänomenen kommen. wichtszunahme auftritt. Vergleichsweise häufiger kommt es zu einer Erhöhung des Blutdrucks. 6.3.3 Selektive Bei Agomelatin handelt es sich um einen Serotonin-Noradrenalin- Agonisten am Melatoninrezeptor, der auch Rückaufnahme-Inhibitoren an einer Subgruppe von Serotonin(SSNRI) rezeptoren antagonistisch wirkt und hierdurch die Ausschüttung von Dopamin und Eine weitere Substanzgruppe stellen die Se- Noradrenalin steigert. Ebenso wie bei Bulektiven Serotonin- und Noradrenalin- propion kommt es hier kaum zu sexuellen Rückaufnahme- Inhibitoren (SSNRI) dar. Funktionsstörungen und nicht zu einer GeSie sollen die Konzentration von Nor- wichtszunahme. Da es jedoch vergleichsadrenalin und Serotonin im zentralen weise häufiger zu schweren LeberNervensystem erhöhen. Gegenüber den schädigungen kommen kann sind in der SSRI ist das Nebenwirkungsrisiko hier Eindosierungsphase relativ engmaschig und etwas höhe, insbesondere tritt hier auch teils dauerhaft in regelmäßigen Abständen die eine Erhöhung des Blutdrucks auf. Absetz- Leberwerte zu kontrollieren. phänomene sind hier häufiger als bei SSRI Esketamin wirkt als Antagonist am zu beobachten. NMDA-Glutamatrezeptor. Die Wirkung scheint über Effekt auf die Neuroplastizität vermittelt zu werden. Dabei tritt der anti6.3.4 Andere Wirkmechanismen depressive Effekt erheblich rascher ein als bei anderen Antidepressiva. Insbesondere auch Das Antidepressivum Mirtazapin verstärkt zur Behandlung von akuter Suizidalität kann die Ausschüttung von Noradrenalin und diese Substanz daher eingesetzt werden. 6.3.2
6
C. Knöchel und B. Friedrichs
105 Psychopharmakotherapie
Auch Johanniskrautextrakte können als Antidepressivum zum Einsatz kommen. Der Wirkmechanismus ist nicht abschließend geklärt. Die Verträglichkeit ist in der Regel gut. Der Einsatz bei schweren Episoden wird nicht empfohlen.
6.4
Phasenprophylaktika (Stimmungsstabilisierer)
Phasenprophylaktika oder Stimmungsstabilisierer sind Substanzen, die hauptsächlich zur Verhinderung von depressiven und/oder manischen Phasen im Rahmen bipolarer Störungen eingesetzt werden. Außerdem werden sie – je nach Substanz – in der Akuttherapie der manisch-depressiven Störung eingesetzt. Darüber hinaus vermindern manche dieser Substanzen das Risiko für erneute depressive Episoden bei der unipolaren Depression, sodass sie auch dort zur Rezidivprophylaxe eingesetzt werden können (Berger et al. 2014). Als Stimmungsstabilisierer werden Lithiumsalze, Antikonvulsiva sowie einige Antipsychotika der zweiten Generation eingesetzt. Antipsychotika wurden in 7 Abschn. 6.2 erläutert, so dass hier auf eine weitere Ausführung verzichtet wird.
6.4.1
Lithiumsalze (Lithium)
Die Wirkmechanismen von Lithium an den Nervenzellen sind bislang nicht hinreichend geklärt. Ein wesentlicher Aspekt von Lithium ist, dass es die Weitergabe von Informationen innerhalb der Zellen (intrazellulär) verändert. Lithiumsalze haben bei manisch-depres siven Patienten eine phasenprophylaktische Wirkung. Regelmäßige Lithiu meinnahme
6
kann das Rückfallrisiko senken: Selbst wenn sich der Einsatz von Lithiumsalzen bei manchen bipolar erkrankten Patienten in akuten Phasen als nicht oder wenig wirksam erweist, zeigen sich in Langzeitstudien mit kontinuierlicher Lithiumbehandlung eine Reduktion der stationären Liegezeiten sowie eine Reduktion der Häufigkeit von erneuten Episoden (Kasper u. Kapfhammer 2007). Bei Lithium gibt es neben den positiven Effekten auf affektive Symptome einen antisuizidalen Effekt (Lewitzka et al. 2013). Besonders störend tritt unter Lithiumtherapie manchmal eine erhebliche Gewichtszunahme auf. Ernährungsberatung, Teilnahme an Diätprogrammen sowie regelmäßiger aerober Ausdauersport können hier hilfreich sein (Townsend 1998). Lithium weist insgesamt eine geringe therapeutische Breite auf, so dass Überdosierungserscheinungen (Intoxikationssymptome) relativ schnell auftreten. Von einer geringen therapeutischen Breite spricht man, wenn die wirkungsvolle Dosis und die potenziell toxische Dosis nah beieinander liegen. Aus diesem Grunde ist sowohl eine gute Mitarbeit des Patienten erforderlich als auch die Bereitschaft, Belastungen, wie z. B. die regelmäßige Kontrolle der Plasmaspiegel, auf sich zu nehmen und einen ausgeglichenen Lebensstil einzuhalten. Die Patienten müssen vom Arzt über die Einnahmemodalitäten, einzuhaltende Ver haltensregeln (z. B. ausreichende Flüssigkeitszufuhr) und über Symptome, die auf eine Intoxikation hinweisen könnten, aufgeklärt werden. Solche Symptome sind u. a. Übelkeit und Erbrechen, Durchfall, Schwindel, Zittern der Hände (Tremor), Reflexsteigerung (Hyperreflexie), psychomotorische Verlangsamung und Bewusstseinsminderungen.
106
6
C. Knöchel und B. Friedrichs
>>Um die Wahrscheinlichkeit für Lithiumintoxikationen zu minimieren, ist ein regelmäßiges therapeutisches Drugmonitoring unabdingbar. Bei Verdacht auf eine Überdosierung mit Lithium ist der behandelnde Arzt sofort zu informieren. Lithium ist in solchen Fällen sofort abzusetzen. Da Lithium über die Niere ausgeschieden wird, kann es bei bekannten Nierenfunktionsstörungen entsprechend rasch zu einer Erhöhung des Lithiumspiegels bis hin zur Intoxikation kommen. Andere Ursachen einer Intoxikation können z. B. Salzverluste durch entsprechende Diäten oder vermehrtes Schwitzen, z. B. durch Sport, sein. Hier sollte sportliches Training nicht oder nur sehr vorsichtig und mit regelmäßiger somatischer Abklärung erfolgen.
6.4.2
Antikonvulsiva (Antiepileptika)
Seit den 1980er-Jahren stehen zur Phasenprophylaxe der bipolaren Störung Antikonvulsiva zur Verfügung. Sie wirken zudem gut gegen akute manische Symptome. Ähnlich wie Lithium, wirkt auch diese Substanzgruppe über sekundäre Botenstoffe innerhalb der Nervenzellen. Antikonvulsiva haben eine gute antimanische Wirkung bei gleichzeitiger Sedierung und werden daher gerne bei aggressivem Verhalten und Impulsdurchbrüchen im Rahmen von manischen Syndromen eingesetzt (DGPPN 2006). Typische Nebenwirkungen vieler Antikonvulsiva sind Müdigkeit, Schwindel und Kreislaufbeschwerden, die manchmal so belastend sein können, dass sie die Einnahmetreue des Patienten beeinträchtigen. Auch hier gilt, ähnlich wie bei den Antidepressiva, dass Eindosierungseffekte beobachtet werden, die sich im Verlauf der Therapie jedoch bedeutend bessern können.
6.5
Anxiolytika (angstlösende Medikamente)
Unter dem Begriff Anxiolytika werden Substanzen zusammengefasst, die angstund spannungslösend wirken. Sie haben eine verhältnismäßig große therapeutische Breite, d. h., sie sind vielseitig einsetzbar. Neben ihrer angstlösenden Wirkung besitzen sie auch beruhigende Eigenschaften, daher wird auch von Tranquilizern (aus dem Englischen für sedieren) gesprochen. Die bekannteste Gruppe sind die Benzodiazepine, die angstlösend, beruhigend, schlafanregend, muskelentspannend und krampflösend wirken. Die Wirkung entfaltet sich dabei direkt nach Einnahme, was einen großen Vorteil darstellt. Der Wirkmechanismus wird dabei durch eine Verstärkung des Botenstoffs GABA (GammaAmino-Buttersäure) erklärt (die Affinität des GABA-Rezeptors wird erhöht, wodurch GABA häufiger an seinem Rezeptor bindet). Benzodiazepine können in Untergruppen mit jeweils unterschiedlich langer Wirkungsdauer unterteilt werden. Die Auswahl der geeigneten Substanz erfolgt dann je nach Symptombild. So wird beispielsweise Diazepam (Valium®) aufgrund seiner langen Wirkdauer gerne bei Patienten mit Impulsivität und Durchschlafstörungen und Lorazepam (Tavor®) aufgrund seiner kürzeren Wirkdauer und guter angstlösender Wirkung bei Patienten mit akuten suizidalen Syndromen oder akuten Angstzuständen eingesetzt. Benzodiazepine haben ein relativ überschaubares Nebenwirkungsprofil. Dennoch sind sie keineswegs harmlos und sollten daher vorsichtig dosiert werden, um eine zu starke Sedierung zu vermeiden. Vor allem zu Beginn der Behandlung kann es zu starker Müdigkeit, Gangstörungen sowie kognitiven Beeinträchtigungen mit herabgesetzter Reaktions- und Konzentrationsfähigkeit kommen. Besonders bei älteren Menschen
107 Psychopharmakotherapie
sollte man mit hohen Dosen von Benzodiazepinen vorsichtig sein, da die Sturzneigung und das Auftreten von Verwirrtheitszuständen (delirante Syndrome) signifikant erhöht sind. Eine Alternative können einzelne niederpotente, sedierende Antipsychotika darstellen. Beim Absetzen von Benzodiazepinen muss man sorgfältig vorgehen. Es ist empfohlen, nach längerfristiger Einnahme Benzodiazepine langsam, über Wochen bis Monate, schleichend abzusetzen. Es kann sonst zu Rückfallsymptomen, schweren Entzugssymptomen oder Reboundeffekten (die Symptome treten nach Absetzen des Medikaments genauso stark/stärker auf als vorher) kommen. >>Benzodiazepine dürfen nicht regelmäßig über einen längeren Zeitraum eingenommen werden, da die Gefahr eines Abhängigkeitssyndroms besteht (Benkert u. Hippius 2011). Der maximale Einnahmezeitraum sollte nicht länger als 4–6 Wochen andauern. Beim plötzlichen Absetzen von Benzodiazepinen nach langfristiger Einnahme kann es zu schweren körperlichen, vegetativen und psychischen Entzugserscheinungen kommen. Tödliche Verläufe nach abruptem Absetzen bei Hochdosistherapien sind in der Literatur wiederholt beschrieben (Benkert u. Hippius 2011).
6.6
Antidementiva
Antidementiva sind Substanzen, die zur Behandlung von kognitiven Beeinträchtigungen, zur Aufrechterhaltung des Funktionsniveaus im Alltag sowie zur Veränderung von Verhaltensauffälligkeiten bei der Alzheimer-Demenz eingesetzt werden. Der Einsatz bei anderen Formen der Demenz ist nicht zugelassen, obwohl teilweise Wirkungen beobachtet werden.
6
Die Gruppe der Antidementiva umfasst Substanzen, die den Botenstoff Acetylcholin im Gehirn erhöhen und in den Glutamatstoffwechsel eingreifen. Antidementiva können nach bisherigem Wissen das Voranschreiten des kognitiven Abbaus um 6–12 Monate verzögern und stabilisieren. Warum und durch welche biologischen Mechanismen sie diesen Effekt erzielen, ist noch nicht hinlänglich geklärt. Auch diese Substanzen sollten langsam eingeschlichen werden, da bei zu schneller Aufdosierung Unruhezustände beobachtet wurden. Zu den häufigsten Nebenwirkungen zählen gastrointestinale Symptome wie Übelkeit, Erbrechen, Appetitverlust und Durchfall sowie darüber hinaus Schwindel, Kopfschmerzen und eine Verlangsamung der Herzfrequenz.
6.7
Antiaddiktiva (Entwöhnungsund Entgiftungsmittel)
Die psychiatrische Pharmakotherapie zur Behandlung von Abhängigkeiten umfasst die Akutbehandlung in der Entgiftung und die Langzeitbehandlung zur Aufrechterhaltung der Abstinenz in Form der Entwöhnungs- oder Substitutionstherapie. Entgiftungsmittel sind Medikamente, die in der Phase des körperlichen Entzugs – in der Regel stationär – je nach Substanz für einen Zeitraum von zwei bis vier Wochen eingesetzt werden. Sie sind dafür geeignet, sog. Entzugssymptome zu lindern, wie z. B. Schlaflosigkeit, Übererregbarkeit, Verlangen nach der Substanz, für die eine Abhängigkeit vorliegt (Craving), deprimierter und ängstlicher Affekt mit Panikattacken sowie Störungen der Konzentrationsfähigkeit oder Verwirrtheitszustände. Entwöhnungsmittel sollen die Aufrechterhaltung der Abstinenz unterstützen und Craving-Zustände lindern. Entwöhnungsmedikamente werden unmittelbar nach Ab-
108
6
C. Knöchel und B. Friedrichs
schluss der Entgiftungsbehandlung verordnet (vgl. Laux u. Diemaier 2013; Hippius 2003). Bei den Entwöhnungs- und Entgiftungsmitteln (Antiaddiktiva) unterscheidet man Agonisten und Antagonisten sowie sonstige Medikamente, die eine aversive Wirkung auslösen sollen. Die Unterteilung in Agonisten bzw. Antagonisten wird anhand der Bindungsstärke an Rezeptoren getroffen. Agonisten binden stark an Rezeptoren, sie aktivieren und verstärken die Rezeptorantworten. Antagonisten hemmen hingegen die Rezeptorantworten von speziellen Rezeptoren, indem sie die Bindung von Agonisten direkt oder indirekt verhindern. Insgesamt werden in der Entgiftungs- und Entwöhnungsbehandlung vier Gruppen von Agonisten bzw. Antagonisten eingesetzt (vgl. Kojda 2007): 55 reine Agonisten, 55 gemischte Agonisten-Antagonisten, 55 Partialagonisten sowie 55 reine Antagonisten. Als Heroin-Ersatzstoff wird beispielsweise das (Levo-)Methadon eingesetzt, ein reiner Agonist. Es ist ein vollsynthetisch hergestelltes Opioid zur Schmerzstillung (Hippius 2003; Laux u. Diemaier 2013). Gemischte Agonisten-Antagonisten wirken insbesondere schmerzlindernd, dämpfend, psychotrop und atemdepressiv. Im Gegensatz zu den reinen Agonisten haben gemischte Agonisten-Antagonisten einen Ceiling-Effekt, d. h., ab einer gewissen Dosis erfolgt keine Zunahme der Wirkung mehr. Aufgrund der vielen und schweren Nebenwirkungen ist die Behandlung mit gemischten Agonisten-Antagonisten in Deutschland stark zurückgegangen (Kojda 2007). Der Partialagonist Buprenorphin hat eine sehr viel höhere analgetische Wirk-
dauer als Morphin und wird häufig zur Langzeitsubstitutionsbehandlung bei Opiatabhängigkeit eingesetzt. Er ist aber auch zur akuten Entgiftungsbehandlung einsetzbar (Ebert u. Loew 2011; Möller et al. 2013; Hippius 2003). Reine Antagonisten werden als Medikamente zur Entgiftungs- oder Entwöhnungsbehandlung, zur Rückfallprophylaxe bei Alkoholabhängigkeit sowie zur Opiatentwöhnung eingesetzt. Besonders bekannt ist das Acamprosat in der Behandlung von Alkoholkranken. Es bewirkt die Abnahme des Verlangens nach Alkohol. Die Anwendung des Präparats ist für die Dauer eines Jahres empfohlen (Möller et al. 2013; Ebert u. Loew 2011; Kojda 2007). Außer den Agonisten und Antagonisten gibt es außerdem Substanzen, die zur aversiven Behandlung eingesetzt werden. Ihr Einsatz bewirkt, dass der Patient bei selbständiger Verabreichung der zu entwöhnenden Substanz unangenehme Konsequenzen verspürt, z. B. in Form von Übelkeit. Dies soll eine neue Assoziation bewirken, so dass man den süchtig machenden Stoff nicht mehr konsumiert. Beispielsweise wird Disulfiram (Antabus) zur aversiven Behandlung von Alkoholabhängigkeit eingesetzt. Es führt bei der Einnahme von Alkohol zu vegetativen Unverträglichkeitsreaktionen. Der Patient soll durch die Wirkung des Medikaments die Einnahme von Alkohol als unangenehm empfinden und ihn deshalb nicht konsumieren. Zuvor muss jedoch eine Entgiftung des Patienten stattgefunden haben (Ebert u. Loew 2011; Möller et al. 2013). Typische Nebenwirkungen von Antiaddiktiva sind Schläfrigkeit, Benommenheit, Blutdrucksenkung sowie Allergien. Einige Antiaddiktiva haben selbst auch ein Abhängigkeitspotential und sollten daher nur mit Vorsicht verordnet werden.
109 Psychopharmakotherapie
Zusammenfassung Psychopharmaka stellen einen wichtigen Baustein zur Behandlung psychischer Störungen dar. Zu den wesentlichen Substanzgruppen gehören Antipsychotika, Antidepressiva, Phasenprophylaktika (Stimmungsstabilisierer), Anxiolytika (angstlösende Medikamente), Antidementiva sowie Antiaddiktiva. Die verschiedenen Substanzgruppen haben jeweils ein oder mehrere Haupteinsatzgebiete. Wesentliche Aufgaben des behandelnden Arztes bestehen darin, ein passendes Medikament auszuwählen, den Patienten über die Wirkmechanismen des Medikaments aufzuklären, die Effekte regelmäßig zu überprüfen und gegebenenfalls je nach Zustand des Patienten die Dosierung/das Präparat zu verändern. Auch Übungsleiter, die das sportliche Training anleiten, sollten einen Überblick über wichtige Wirkungen und Nebenwirkungen der gängigen Medikamente haben, damit sie den behandelnden Arzt ggf. direkt über auftretende Nebenwirkungen informieren können.
Literatur Benkert O, Hippius H (2005) Kompendium der Psychiatrischen Pharmakotherapie, 5. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg Benkert O, Hippius H (2011) Kompendium der Psychiatrischen Pharmakotherapie, 8. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg Berger M, Musil R, Seemüller F (2014) Phasenprophylaxe bipolarer Erkrankungen. Fortschr Neurol Psychiatr 82:346–360 Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) (Hrsg) (2006) Praxisleitlinien in der Psychiatrie und Psycho-
6
therapie, Redaktion W Gaebel, P Falkai. Steinkopf, Darmstadt Dörner K, Plog U (2002) Irren ist menschlich: Lehrbuch der Psychiatrie und Psychotherapie. Psychiatrie-Verlag, Rehburg-Loccum Ebert D, Loew T (2011) Psychiatrie systematisch, 8. Aufl. UNI-MED, Bremen Finzen A (2004) Medikamentenbehandlung bei psychischen Störungen: Einführung in die Therapie mit Psychopharmaka. Psychiatrie, Bonn Hippius B (2003) Kompendium der Psychiatrischen Pharmakotherapie, 4. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg Holsboer F, Gründer G, Benkert O (Hrsg) (2012) Handbuch der Psychopharmakotherapie, 2 Aufl. Springer, Berlin Heidelberg Kasper S, Kapfhammer HP (2007) Bipolare Störungen. Konsensus-Statement - State of the Art 2007. CliniCum neuropsy Sonderausgabe. Medizin Median Austria, Wien Kojda G (2007) Fortbildungstelegramm Pharmazie: Allgemeine und Klinische Pharmakologie häufig verwendeter oral verfügbarer Opioide. Wirkungsmechanismen, Pharmakokinetik, Zentrale Wirksamkeit, Periphere Wirksamkeit. Institut für Pharmakologie und Klinische Pharmakologie, Universitätsklinikum, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf http://www.uni-duesseldorf.de/kojda- p h a r m a l e h r bu c h / Fo r t b i l d u n g s t e l e g ra m m - Pharmazie/Fortbildungsartikel/FTP-Uebersicht- Opiate-2007-Teil1-Netz.pdf, 5–19 Laux G, Diemaier O (2013) Psychopharmaka: Übersichtlich und verständlicch für Patienten, Angehörige und Profis in der Pflege, 9., vollständig überarb. Aufl. Thieme, Stuttgart Lewitzka U, Bauer M, Felber W, Müller-Oerlinghausen B (2013) Suizidprophylaktische Wirkung von Lithium. Der Nervenarzt 84:294–306 Lüllmann H, Mohr K, Hein L (2010) Pharmakologie und Toxikologie: Arzneimittelwirkungen verstehen Medikamente gezielt einsetzen. Thieme, Stuttgart Möller HJ, Laux G, Deister A, Schulte-Körne G, Braun-Scharm H (2013) Duale Reihe Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, 5. erw. Auflage. Thieme, Stuttgart Schneider F (2017) Facharztwissen Psychiatrie und Psychotherapie. 2. Auflage. Springer, Berlin Heidelberg Townsend MC (1998) Pflegediagnosen und Maßnahmen für die psychiatrische Pflege. Huber, Bern
111
Sportwissenschaftliche Grundlagen Josef Wiemeyer, Andreas Bernardi, Winfried Banzer und Frank Hänsel
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 V. Oertel, F. Hänsel (Hrsg.), Aktiv für die Psyche, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67880-0_7
7
112
J. Wiemeyer et al.
nnLernziele 55 Kennenlernen der Grundlagen der sportwissenschaftlichen Teildiszi plinen Sportmedizin, Bewegungs wissenschaft, Trainingswissenschaft und Sportpsychologie 55 Kennenlernen wichtiger Leitlinien und Grundprinzipien zur Planung und systematischen Durchführung von Sporttraining
7.1
7
Einführung
Die Sportwissenschaft untersucht Fragen rund um Sport und Bewegung auf Basis ver schiedener Wissenschaftsdisziplinen. In die ser Querschnittswissenschaft haben sich ver schiedene Teildisziplinen herausgebildet, u. a. die Sportmedizin, die Trainingswissen schaft, die Bewegungswissenschaft, die Bio mechanik, die Sportpsychologie, die Sport pädagogik, die Sportsoziologie oder die Sportgeschichte (z. B. Güllich u. Krüger 2023). Sportwissenschaftliche Frage stellungen beziehen sich auf die sehr viel fältigen Erscheinungsweisen von Sport und Bewegung, beispielsweise auf den Leistungs sport, den Freizeit- und Breitensport, den Gesundheitssport, den Rehabilitations sport, den Schulsport oder den Sport mit Älteren. Diese Erscheinungsformen lassen sich sowohl nach Funktionen (z. B. Leis tung vs. Gesundheit), Zielgruppen (z. B. Kinder vs. Ältere) oder Settings (z. B. Verein vs. Klinik) unterscheiden. Eine besondere aktuelle Herausforderung stellen die Bedingungen und Folgen der Coro na-Pandemie dar. In diesem Kapitel werden einige Grund lagen der Teildisziplinen Sportmedizin, Be wegungswissenschaft, Trainingswissen schaft und Sportpsychologie beschrieben und Bezüge zu sportlicher Aktivität und Be wegungsinterventionen bei Personen mit psychischen Störungen hergestellt.
7.2
Sportmedizin
Der Abschnitt „Sportmedizin“ befasst sich mit dem Bereich der Sportmedizin und ver mittelt neben grundlegenden Kenntnissen über die strukturelle und funktionelle Ana tomie des menschlichen Körpers auch Wis sen über den Energiestoffwechsel bei körper licher Arbeit und den Umgang mit Krank heiten. Zudem ist ein Verständnis der Effekte von körperlicher Aktivität auf aus gewählte physiologische Variablen und deren Einfluss auf Physis und Psyche von zentraler Bedeutung. Hierzu zählen zum einen der Einfluss der Ausdauerleistungs fähigkeit auf Variablen der Mortalität und Morbidität, zum anderen kognitive und mo tivationale Aspekte in der Sport- und Be wegungstherapie, die im Vordergrund des abschließenden Teils dieses Kapitels stehen (7 Abschn. 7.2.4, s. auch 7 Abschn. 7.5.3). Damit wird eine Verbindung zum Sport training bei psychischen Störungen hergestellt.
7.2.1
natomische Struktur der A Skelettmuskulatur
An der Bewegung des menschlichen Kör pers bzw. der Muskulatur sind eine Vielzahl unterschiedlicher Strukturen und Mechanis men beteiligt. Hierzu zählen auf ana tomischer und funktioneller Ebene vor allem kraftproduzierende und -übertragende Elemente des Bewegungsapparates. Diese lassen sich wiederum in den sog. aktiven und passiven Bewegungsapparat unterteilen. Muskelkontraktionen wirken über die Strukturen des passiven Bewegungs apparates auf die Knochen und dienen somit als die Motoren jeglicher Bewegung. Die Kraftübertragung erfolgt damit von den Muskeln (aktiver Bewegungsapparat) und deren entsprechenden Sehnen, Sehnen scheiden und Faszien auf einen oder meh
113 Sportwissenschaftliche Grundlagen
rere Knochen (passiver Bewegungsapparat) und führt in Folge zu ein- oder mehr gelenkigen Bewegungen. Zusätzlich zur Be wegungskontrolle durch die Muskeln und Gelenkstrukturen finden sich Bänder, Knor pel sowie auch Bandscheiben im Bereich der Wirbelsäule zur Sicherung und Stoß dämpfung. Jeder der ca. 660 Skelettmuskeln des menschlichen Körpers enthält mehrere Lagen fibröser bindegewebiger Strukturen. . Abb. 7.1 illustriert die strukturellen De tails eines Skelettmuskels und seiner Tausen den zylindrischen Zellen (Fasern). Diese langen mehrzelligen Fasern liegen parallel zueinander und produzieren bei einer Muskelkontraktion Kraft in Richtung ihrer jeweiligen Längsachse. Eine feine Bindegewebsschicht, das Endomysium, um hüllt jede Muskelfaser und separiert diese von den benachbarten Fasern. Eine weitere
Muskel
Muskelfasern Kapillaren
7
Schicht Bindegewebe, das Perimysium, um hüllt jeweils ein Faserbündel von bis zu 150 Elementen (Faszikel). Eine Faszie aus fibrö sem Bindegewebe, das Epimysium, umgibt wiederum den gesamten Muskel. Diese Schutzschicht verjüngt sich an ihren proxi malen und distalen Enden und bildet da durch die intramuskulären Gewebsanteile, die sich zu den Muskelsehnen formen. Diese Sehnen verbinden beide Enden eines Mus kels mit dem Periost, der äußersten Hülle des Knochens. Somit überträgt sich die von einem Muskel produzierte Kraft über die Bindegewebe auf die Sehnen, welche wiede rum an den jeweiligen Insertionspunkten am Knochen ziehen. 7.2.2
Muskuläre Typisierung und Kontraktion
Die tatsächliche Kraftproduktion geschieht in den sog. Myofibrillen. Diese setzen sich aus einzelnen Filamenten zusammen, die durch eine spezifische Aneinanderreihung und Koppelung von Proteinstrukturen (Aktin und Myosin) gebildet werden. Es sind jedoch mehrere weitere Proteine an der Struktur- und Funktionsbildung eines Fila ments beteiligt. Dazu gehören z. B. Tropomyosin, Troponin oder Titin, die eine wich tige Rolle bei der muskulären Kontraktion und Relaxation spielen (Fürst 1999). >>Die Skelettmuskulatur besteht nicht aus einer homogenen Gruppe von Fasern mit gleichen metabolischen und kon traktilen Eigenschaften, sondern aus zwei verschiedenen Fasertypen: den Typ- 1- und den Typ-2-Fasern.
Myofibrille
Myofilamente
Myosin Aktin Tropomyosin
Troponin
.. Abb. 7.1 Strukturelle Darstellung eines Skelett muskels. (Aus Appell u. Stang-Voss 2008)
Wissenschaftler konnten anhand der ge nannten Charakteristika zwei unterschied liche Fasertypen identifizieren und klassi fizieren: Typ-1- und Typ-2-Fasern, die sich hinsichtlich ihrer dominanten Energiebereit stellungseigenschaften und Kontraktions charakteristika unterscheiden (Wilmore
114
J. Wiemeyer et al.
et al. 2008). Dabei kann ein einzelner Mus kel auch aus mehreren verschiedenen Faser typen bestehen. Typ-1- oder auch „slow twitch“-Fasern benötigen bei Stimulation ca. 110 ms, um ihre maximale Spannung zu erreichen und sind ausdauernder und schwe rer ermüdbar als Typ-2-Fasern. Diese Typ2- bzw. „fast twitch“-Fasern hingegen be nötigen nur ca. 50 ms zum Erreichen ihres Kraftmaximums, sind allerdings auch schnell ermüdbar und wenig ausdauernd.
7
>>Muskeln, die einen größeren Anteil an Typ-2-Fasern enthalten, sind zu schnel leren und auch stärkeren Kontraktionen in der Lage, während Ausdauersportler von einem hohen Anteil an Typ-1-Fasern profitieren.
Typ-2-Fasern lassen sich im Gegensatz zu Typ-1-Fasern noch weiter in Typ-2a und Typ-2x unterscheiden. Diese haben jeweils nochmal unterschiedliche kontraktile und metabolische Eigenschaften. Typ 2a-Fasern (auch Intermediär-Fasern genannt) sind ausdauernder und weniger schnell ermüd bar als Typ 2x-Fasern, können aber auch nicht so hohe Kraftmaxima produzieren. Damit sich ein Muskel kontrahieren kann, muss von Seiten des zentralen Nerven systems (ZNS), bestehend aus Gehirn und Rückenmark, durch die Motoneuronen ein entsprechendes Kommando über die jeweili gen Nervenleitbahnen des peripheren Nervensystems (PNS) zu den ent sprechenden Muskelfasern gesendet wer den. Das PNS umfasst dabei afferente Neuronen, die sensorische Informationen von Rezeptoren in der Körperperipherie an das ZNS weitergeben, und efferente Neuro nen, welche Informationen vom Gehirn in die peripheren Gewebe übertragen. Ein Motoneuron kann nur jeweils die mit ihm verbundenen Muskelfasern eines Typs mit Nervenreizen versorgen. Dabei
kann ein einzelnes Motoneuron bis über 300 einzelne Muskelfasern ansprechen (motori sche Einheit). Je mehr Motoneurone akti viert werden und je aktiver diese Moto neurone sind, desto höher ist die resultie rende Kraft (Rekrutierung und Frequenzierung). Wird nur wenig Kraft be nötigt, so müssen auch nur wenige Moto neuronen gleichzeitig zur Kontraktion sti muliert werden. Steigt die benötigte Kraft summe an, so werden zunächst Typ-1-Fasern rekrutiert, gefolgt von Typ-2a- und Typ-2xFasern. Ein weiterer wichtiger Aspekt der senso rischen und motorischen Steuerung sind die sog. Propriozeptoren, welche sensitiv für Dehnung, Spannung und Druck innerhalb von Muskeln, Sehnen und Gelenken reagie ren und diese Informationen an das ZNS weitergeben. Die drei Arten von Propriozep toren sind: 55 Muskelspindeln für die Detektion von Veränderungen in Spannung und Länge der Muskelfasern, 55 Golgi-Sehnenorgane zum Schutz des Muskels und dessen umgebenden Binde gewebes vor Verletzungen durch zu schnelle Bewegungen und 55 spezielle Gelenkrezeptoren, die ins besondere auf Veränderungen in Be wegung und Druck reagieren. Somit helfen verschiedene Strukturen des aktiven und passiven Bewegungsapparates wie auch sensorische Rezeptoren in Muskel, Sehnen und Gelenken, Informationen zu sammeln, um die Muskelbewegungen zu steuern, zu koordinieren und wichtige Rück meldung über deren Ausführung zu liefern. >>Die Kenntnis des aktiven und passiven Bewegungsapparates sowie der neuro nalen Steuerung bilden die Grundlage für das Verständnis und die Gestaltung sportlichen Trainings.
115 Sportwissenschaftliche Grundlagen
7.2.3
Energiebereitstellung
Der Mensch benötigt für die Muskel kontraktion die kontinuierliche Bereit stellung chemischer Energie zur Aufrecht erhaltung einer Vielzahl an komplexen physiologischen Funktionen. Energie aus der Verwertung von Nahrungsmitteln wird nicht plötzlich frei, sondern muss über und während einer Vielzahl von Zwischen schritten aus den Makronährstoffen (Kohlenhydrate, Fette und Eiweiße) ge wonnen werden. >>Je intensiver die körperliche Arbeit oder die sportliche Betätigung ist, desto höher ist der Energiebedarf und desto schwie riger wird es, ein Gleichgewicht zwischen Energieproduktion und -abbau aufrecht zu erhalten.
Ein Großteil dieses Regelungsprozesses übernimmt das Nervensystem. Ein weiteres System beeinflusst ebenfalls nahezu jede Zelle im Körper. Es überwacht konstant die internen Bedingungen des Körpers und re gistriert alle Veränderungen und antwortet schnell zur Wahrung der Homöostase. Die ses System ist das endokrine System, wel ches das metabolische Gleichgewicht kont rolliert und durch die Freisetzung von Hor monen aufrechterhalten wird. Diese Hormone beeinflussen spezifische Ziel gewebe oder -zellen durch eine einzigartige Interaktion mit spezifischen Rezeptoren für das jeweilige Hormon auf der ent sprechenden Zellemembran oder innerhalb der Zelle. Damit kommt ihnen auch eine wichtige Rolle im Energiestoffwechsel zu, dessen grundlegendes Ziel die Produktion von Adenosin-Tri-Phosphat (ATP) ist. Zur Produktion von ATP wird die Energie aus den mit der Nahrung aufgenommenen Makronährstoffen genutzt. Wird Energie verbraucht, so spalten sich ein oder auch zwei Phosphatmoleküle vom ATP-Molekül ab, und dieses wird zu ADP
7
(Adenosindiphosphat) oder AMP (Adeno sinmonophosphat) und freiem Phosphat (Pi). Somit bewirkt jeder Anstieg des Energieverbrauchs in und durch die Zellen eine sofortige Störung der Balance zwischen der ATP-, ADP/AMP- und Pi-Konzen tration. Dieses Ungleichgewicht führt zu einer Stimulation von Stoffwechselprozessen mit anderen energiehaltigen Stoffen, die der ATP-Resynthese dienen. Auf diesem Weg aktiviert muskuläre Bewegung bzw. Kon traktion mehrere Systeme zur Erhöhung des Energietransfers. Das Ausmaß der oben beschriebenen Prozesse hängt von der Intensität der Be wegung ab. Beispielsweise ist der Energie umsatz beim Gehen um ca. das 4-fache gegenüber dem Sitzen erhöht. Der Wechsel vom Sitzen zu einem Maximalsprint führt zumindest kurzzeitig zu einer Erhöhung des Energieumsatzes von nahezu dem 120-Fachen. Die für solche und andere Be wegungen benötigten Mengen an Energie können aber nicht durch die ATP-Vorräte allein gedeckt werden, diese reichen i. d. R. nur für wenige Sekunden (Heck 2006). Zum einen wird die ATP-Resynthese ohne Unterbrechung durch die Nutzung der in den Makronährstoffen und der in deren chemischen Verbindungen enthaltenen Ener gie aufrecht erhalten. Dabei spielen Fette und Kohlenhydrate (Glukose) bzw. Glyko gen als deren in der Muskulatur gespeicherten Form die größte Rolle. Zum anderen kommt ein Teil der Energie zur ATP-Produktion auch aus der sog. anaeroben Aufspaltung von Phosphat von Phosphokreatin (PCr). Dieses freie Phosphatteilchen kann sich dann wieder mit einem ADP-Molekül verbinden und damit neues ATP formen. Diesen Vor gang nennt man auch anaerobe Phosphorylierung, also ohne die Nutzung von Sauer stoff. Geschieht dieser Prozess jedoch unter der Nutzung von Sauerstoff, so nennt man dies den aeroben Stoffwechsel und die aerobe Konversion von ADP zu ATP bzw. oxidative Phosphorylierung.
116
J. Wiemeyer et al.
> Wichtig Zellen können Energie insgesamt durch drei verschiedene Prozesse bzw. Systeme produzieren: 1. das ATP-PCr-System (auch alaktazi des anaerobes System genannt), 2. das glykolytische System (Glykolyse, auch laktazides anaerobes System genannt), 3. das oxidative System (oxidative Phosphorylierung, auch aerobes System genannt).
Regel ist eines der Systeme dominant, es sei denn, die Belastung liegt im Übergangs bereich zweier dieser Systeme. Das PCr- System kann Energie schnell bereitstellen, aber nur bei in einer geringen Produktions kapazität. Im Gegensatz dazu kann die Nut zung von Fetten im Energiestoffwechsel nahezu unbegrenzt aufgrund der Substrat verfügbarkeit in den Fettreserven ablaufen, dies allerdings nur mit einer weitaus geringe ren Energieflussrate. ► Beispiel: 100 m-Sprint
7
Die Energiebereitstellung durch die Systeme 1 und 2 findet ohne Sauerstoffnutzung statt. Diese Energiesysteme können nur eine be grenzte Menge an Energie bereitstellen, da die Sauerstoffnutzung durch entsprechende Substratverfügbarkeit und Enzymaus stattung limitiert ist. Schon maximale Be anspruchungen von über 75–90 Sekunden sind nur noch zur Hälfte über diese beiden Systeme energetisch gedeckt (Gastin 2001). . Abb. 7.2 zeigt die wechselseitige Be ziehung unter den Energiesystemen in Bezug zu Leistung und Kapazität. Somit spielt für länger anhaltende Be lastungen vor allem das aerobe System die zentrale Rolle in der ATP-Resynthese. Dabei arbeiten die drei Systeme nicht unabhängig voneinander. Jedes System trägt in Ab hängigkeit von der jeweiligen Belastung zu der Gesamtenergiebereitstellung bei. In der
Während eines 100 m-Sprints ist das ATPPCr-System das dominante Energiesystem, aber die anaerobe Glykolyse und auch das oxidative System liefern Anteile der be nötigten Energie. Analog dazu gilt für längere Belastungen wie z. B. einen 10 km-Lauf, dass das oxidative System überwiegt, aber das ATP-PCr-System und die anaerobe Glykolyse einen kleinen Anteil der Energie liefern. ◄
7.2.4
Sportmedizinische Grundlagen des sportlichen Trainings
In diesem Abschnitt wird erläutert, wie sich regelmäßige Bewegung auf Grundlage der hier beschriebenen physiologischen Prozesse auf Körper und Geist auswirkt (siehe auch
.. Abb. 7.2 Leistungsfähigkeit und Kapazität der energieliefernden Systeme, Werte angegeben in ATP- Äquivalenten pro kg Feuchtmuskel nach Heck u. Schulz (2002)
117 Sportwissenschaftliche Grundlagen
Krüger u. Mooren 2023). Darüber hinaus soll der Leser einen Einblick in mögliche Be sonderheiten bei der Arbeit mit psychischen Störungen und den daraus ableitbaren Emp fehlungen erhalten. Körperliche Bewegung wird oft als wich tiger Baustein für die Entwicklung oder Er haltung der psychischen Gesundheit und auch als Schutzfaktor vor der Entstehung psychischer Erkrankungen diskutiert (Bar bour 2009). Studien zeigen diesbezüglich konsistent, dass Personen mit psychischen Störungen weniger häufig körperlich aktiv sind und höhere Mortalitätsraten aufweisen (Committee 2008; Pan et al. 2011). Zudem existiert deutliche Evidenz hinsichtlich eines wechselseitigen Einflusses mentaler und physischer Erkrankungen (American Col lege of Sports Medicine 2014). Häufige Symptome psychischer Störungen wie chro nische Müdigkeit und der Verlust von Inter esse an sozialer Interaktion und Alltags aktivitäten können jedoch eine Hürde für die Patienten gegenüber der mittel- bis lang fristigen Bindung an körperliche Aktivität darstellen (s. 7 Kap. 12). Neben häufigen motivationalen Prob lemen hinsichtlich der Teilnahme an regel mäßigen Sportprogrammen sind Patienten mit psychischen Störungen nicht selten zusätzlich von chronischen Begleit erkrankungen betroffen. Häufig kommt es im Verlauf einer psychischen Störung zu anderen, oftmals verhaltensinduzierten negativen Begleiterscheinungen, die sich dann in Form einer Komorbidität mani festieren können (Barbour 2009). So haben Patienten mit Depressionen z. B. nachweislich ein deutlich erhöhtes Risiko kardiovaskulärer Erkrankungen. Mög liche Ursachen können einerseits physio logisch begründet sein, z. B. eine Ver änderung des Hormonstatus, auf der an deren Seite aber auch durch vermehrten
7
Genussmittelkonsum und Inaktivität se kundär bedingt sein (Dimeo et al. 2008). Für ein erfolgreiches Umsetzen sport lichen Trainings gerade bei psychisch Er krankten ist es entscheidend, die eigene Selbstwirksamkeit zu stärken. Die Sport medizin kann dabei durch eine Patienten gerechte und individuelle Beratung und physiologische (Leistungs-)-Diagnostik be gleitend zur konventionellen medikamentö sen Therapie Mittel und Wege aufzeigen, wie Patienten durch eigene Kraft und körperliche Aktivität eine Veränderung ihres Krankheitsbildes und von dessen Sympto men bewirken können. >>Eine der Grundaufgaben der Sport medizin ist es somit, auf Basis der spezi fischen Einschränkungen bzw. unter Be rücksichtigung des individuellen Leistungsspektrums der jeweiligen Pa tienten geeignete Therapieformen und Belastungsschemata zu identifizieren, zu evaluieren und den praktischen Thera peuten als generalisierte Handlungsund Therapieempfehlungen zur Ver fügung zu stellen.
Ausgangspunkt entsprechender Über legungen und Forschungsarbeiten sind Er gebnisse aus epidemiologischen Studien, die einen klaren Zusammenhang von körperlicher Aktivität oder Fitness und dem Mortalitäts- und Morbiditätsrisiko be richten (Blair et al. 1989; Macera et al. 2003; Blond et al. 2020). Aktuelle Ergeb nisse zeigen, dass schon geringe Steigerun gen des aktivitätsinduzierten Energiever brauchs (~1000 kcal/Woche) oder die Verbesserung der körperlichen Leis tungsfähigkeit um 1 MET (metabolisches Äquivalent) (s. 7 Exkurs) mit einer Mortalitätsreduktion von 20 % assoziiert sind (Myers et al. 2004).
118
J. Wiemeyer et al.
Das metabolische Äquivalent, Energieumsatz und körperliche Leistungsfähigkeit
Der Begriff metabolisches Äquivalent ist eine Einheit zur Beschreibung der meta bolischen Kosten (Sauerstoffaufnahme) bei körperlicher Arbeit. Ein MET beschreibt die Sauerstoffaufnahme einer Person in körperlicher Ruhe und wird mit durch schnittlich 3,5 ml Sauerstoffaufnahme pro Minute und kg/Körpergewicht angegeben. Die Menge an Sauerstoff, die der Körper aufnimmt, ist direkt proportional zur ver brauchten Energiemenge in Ruhe wie unter Belastung. Somit stellten beispielsweise 5 MET das Fünffache des Ruheenergie
umsatzes einer Person dar und entsprechen bei einem 80 kg schweren Mann einer ge samten Sauerstoffaufnahme von ca. 1,4 l/ min. Unter der Annahme, dass die Auf nahme von 1 l Sauerstoff in etwa einem Energieumsatz von 5 kcal entspricht, ver braucht der Mann in diesem Beispiel bei konstanter Belastung von 5 MET über 1 h ca. 1,4 × 60 × 5 = 420 kcal. Die im Hoch leistungsausdauersport erreichten maxima len Sauerstoffaufnahmewerte liegen bei Männern im Bereich von ca. 80–90 ml/min/ kg und bei Frauen ca. 60–70 ml/min/kg.
7 Körperlich inaktive Frauen (>Die Wirksamkeit eines sportlichen Trai nings zur Unterstützung konventioneller Therapieformen bei psychischen Er krankungen ist vielfach belegt (Bou chard et al. 1994; Jayakody et al. 2014; Pedersen u. Saltin 2006; Warburton et al. 2006). Allerdings existieren bis dato kaum evidenzgesicherte, spezifische Trainingsempfehlungen. Es gibt jedoch deutliche Hinweise aus Übersichts arbeiten, dass bei Personen mit durch schnittlicher Kondition und auch bei stark dekonditionierten Patienten Be lastungen in leichten bis moderaten Intensitätsbereichen von 30–45 % der
7
119 Sportwissenschaftliche Grundlagen
sog. Sauerstoffaufnahmereserve (Diffe renz aus höchster Sauerstoffaufnahme und deren Ruhewert) zur Verbesserung der Fitness geeignet sind (Swain u. Franklin 2002a; Swain u. Franklin 2002b). Dies ist aus physiologischer Sicht mit hoher Wahrscheinlichkeit auch für Patienten mit psychischen Störungen zutreffend.
Zur genaueren Einordnung möglicher Intensitätsbereiche eines dynamischen Aus dauertrainings sei an dieser Stelle auf 7 Abschn. 8.2.3 verwiesen. Vor Aufnahme eines Trainings sollte jedoch aufgrund mög licher Begleiterkrankungen oder des poten ziellen Einflusses bestehender Medikation auf relevante Kreislaufparameter eine Ab klärung des kardialen Status erfolgen (Dimeo et al. 2008) (s. auch 7 Kap. 11). Der Großteil von Trainingsinter ventionsstudien beschäftigt sich zwar mit den Effekten von aerobem Ausdauertraining auf geistige Gesundheit und damit assozi ierte Adaptationen. Krafttraining kann je doch ebenfalls viele physiologische und psychologische Veränderungen bewirken. So belegt eine Übersichtsarbeit auf Basis mehrerer randomisierter kontrollierter Stu dien sowohl Verbesserungen von Kognition und Selbstvertrauen als auch Verringerungen depressiver Episoden durch regelmäßiges Krafttraining (O’Connor et al. 2010; siehe auch Gordon et al. 2018). Ergänzend zu die sen Effekten deutet eine zunehmend wach sende Evidenzlage auf angstlösende Eigen schaften von Krafttraining über einen brei ten Bereich an Messgrößen und Patientengruppen hin. Diese Arbeiten zeig ten, dass ein Training in niedrigen bis mittle ren Intensitäten (>In der Bewegungswissenschaft existiert weder ein allgemein akzeptiertes Modell der Bewegung noch des Bewegungs lernens. Vielmehr ist – in Abhängigkeit von der jeweiligen (inter-)disziplinären Ausrichtung – eine Vielfalt von Perspektiven vorzufinden, die jeweils bedeutsame Beiträge zum Verständnis des Be wegungslernens beim Menschen leisten.
7.3.2
Struktur von Bewegungen
Beim Bewegungslernen geht es u. a. darum, eine Fertigkeit neu zu erlernen, zu festigen oder variabel verfügbar zu machen. Ohne die Kenntnis der Struktur der jeweiligen Fertigkeit sind weder eine adäquate Übungs prozessgestaltung noch angemessene In struktions- und Korrekturprozesse möglich. Erst das grundlegende Verständnis der Be wegungsstruktur eröffnet den Blick für mög liche methodische Eingriffsstellen. Bewegungsstruktur Eine Struktur besteht aus Elementen und ihren Relationen. Folgerichtig besteht die Bewegungsstruktur aus Bewegungs elementen und ihren Relationen.
Eines der ersten Strukturkonzepte in der Geschichte der Bewegungswissenschaft wurde 1960 von Meinel (vgl. Meinel u. Schnabel 1998) vorgelegt. Dieses Konzept, das bei azyklischen Bewegungen eine drei phasige, bei zyklischen Bewegungen ein zweiphasige Struktur postulierte, erwies sich
z Strukturkonzept von Göhner (1979; siehe auch Hossner, Schiebl u. Göhner 2015)
Göhner (1979) geht von den folgenden Grundannahmen aus: 55 Bewegungen werden von fünf ablaufrelevanten Bezugsgrundlagen beein flusst: von Bewegungszielen, Bewegungs bedingungen, Movendumbedingungen, situativen Bedingungen und Regel bedingungen. 55 So ist z. B. das Ziel bei der Schwung kippe am Reck das „Erreichen einer Stützposition aus dem Kipphang wäh rend eines … vorwärts gerichteten Auf schwungs“ (Göhner 1979, S. 156). 55 Strukturelemente sind Funktionsphasen, d. h., Abschnitte der Bewegung, welche eine Bedeutung für mindestens eine der fünf ablaufrelevanten Bezugsgrundlagen haben. 55 Bei der Kippe am Reck ergeben sich vier zentrale Funktionen: Annäherung des Körpers an die Drehachse (Reckstange), Absichern der erreichten Höhe nach dem Aufschwung, Vorwärtsschwingen und Einnehmen der Kipphangposition. 55 Die Funktionsphasen stehen in zwei Arten von Relationen: einer funktiona len Relation und einer zeitlichen Rela tion. Die funktionale Relation bildet die Grundlage zur Differenzierung von Haupt- und Hilfsfunktionsphase. Funk tional unabhängige Funktionsphasen sind Hauptfunktionsphasen, während funktional abhängige Funktionsphasen Hilfsfunktionsphasen sind. Je nach Plat zierung in der vertikalen Funktions hierarchie können Hilfsfunktionsphasen 1., 2., 3. bis n. Ordnung unterschieden werden. Die zeitliche Relation wird da durch gekennzeichnet, dass Hilfs funktionsphasen vor, während oder nach
122
7
J. Wiemeyer et al.
der übergeordneten Funktionsphase stattfinden. 55 Für die Kippe ergibt sich als Haupt funktionsphase die Annäherung des Körpers an die Drehachse, da diese Phase (Pendelverkürzung) für das Ge lingen der Kippe unverzichtbar ist. Vor bereitende Hilfsfunktionsphasen sind das Einnehmen der Kipphangposition (1. Ordnung) und das Vorwärts schwingen (2. Ordnung). Die Ab sicherung im Stütz ist als überleitende Hilfsfunktionsphase anzusehen. 55 Mit Hilfe dieses Konzeptes ist es mög lich, Bewegungsfertigkeiten vertikal (nach funktionalen Abhängigkeiten) und horizontal (nach zeitlichen Relatio nen) zu strukturieren. Damit können die Elemente nach Wichtigkeit und zeit lichem Auftreten klassifiziert werden.
rekter räumlich-zeitlicher Ausprägung – zum Effekt „Impulsübertragung auf den Körper“ führen. Wird die Schwungbein aktion zu früh, zu spät oder zu schwach ausgeführt, wird sich auch der Effekt schwächer ausprägen. 55 Aktion-Effekt-Relationen sind durch zwei Arten von Relationen verknüpft: –– Aktionsverknüpfungen bedeuten, dass eine Aktion mehrere Effekte hervor ruft. Dies führt in der Regel dazu, dass der Spielraum für die Ausführung der Aktionen eingeengt wird. Beim Hochsprung ist die Sprung beinaktion mit zwei Effekten ver knüpft: Abbremsen des Horizontal impulses aus dem Anlauf und Ver größerung des Vertikalimpulses im Absprung. Die Aktion muss so aus geführt werden, dass weder der Horizontalimpuls zu stark ab Das Konzept von Göhner ist bis heute das gebremst noch der Vertikalimpuls elaborierteste Strukturkonzept, welches eine durch zu geringes Abbremsen zu differenzierte Analyse von Bewegungen er stark beeinträchtigt wird. möglicht. Es ist zwar nicht ganz konsistent –– Effektverknüpfungen bedeuten, dass (z. B. in der Identifikation von Haupt zwei oder mehrere verschiedene Ak funktionsphasen) und könnte im Hinblick tionen einen Effekt hervorrufen. Da auf den Analyseprozess noch explizitere hier Alternativen für das Hervor Hilfestellung geben. Dennoch erlaubt es – bringen eines Effekts vorliegen, er bei entsprechender bewegungswissenschaft weitert sich der Bewegungsspielraum licher Expertise – eine sehr gute Analyse der beim Vorliegen von Effektver Möglichkeiten und Grenzen von Be knüpfungen. wegungen. Bei Hochsprung wird z. B. der Ef fekt „Vergrößerung des Vertikal z Strukturkonzept von Kassat (1995) impulses“ durch drei Aktionen Das Konzept von Kassat (1995) thematisiert hervorgebracht: Sprungbeineinsatz, primär die Beziehungen zwischen Aktionen Schwungbeineinsatz und Schwung und Effekten: armeinsatz. Ein zu geringer Schwung 55 Strukturelemente sind Aktion-Effekt- armeinsatz kann durch einen akzen Relationen, d. h., Zusammenhänge zwi tuierten Schwungbeineinsatz kom schen dem, was wie getan wird, und dem, pensiert werden. was dadurch bewirkt wird. Diese Ak 55 Um die Bewegungsstruktur zu er tion-Effekt-Relationen sind Mehr- schließen, schlägt Kassat eine „sachWeniger- Relationen und haben inner logische Auseinandersetzung“ vor, wel halb bestimmter Fertigkeiten mehr oder che aus sechs Komponenten besteht: weniger enge Gültigkeitsbereiche. Analyse der Bewegungsaufgabe, der vor So kann z. B. beim Hochsprung die handenen Lösungen (Bewegungsablauf), Aktion „Schwungbeineinsatz“ – in kor der äußeren Situation, der Bewegungs
123 Sportwissenschaftliche Grundlagen
idee, der Bewegungsarten und der Möglichkeiten der Person. Aus dieser Analyse sollten dann die Haupteffekte und Hauptaktionen erschlossen werden. Das Konzept von Kassat gibt damit – an ders als Göhner – ein explizites Vorgehens konzept vor. Im Ergebnis entsteht ein kom plexes Bedingungsgefüge, welches die inne ren Abhängigkeiten und Wechselwirkungen der jeweiligen Fertigkeit anschaulich ver deutlicht. Eine Schwäche dieses Konzepts ist die Vernachlässigung zeitlicher Relationen. Auch dieses Konzept erfordert fundierte be wegungswissenschaftliche Kenntnisse. Beide Konzepte ermöglichen eine diffe renzierte Analyse von Bewegung. Sie sind in gewisser Weise komplementär und sollten deshalb beide eingesetzt werden. 7.3.3
Instruktion – Feedback
Motorische Lernprozesse können ohne Inst ruktionen und Feedback nur suboptimal ab laufen. Wenn weder vor noch während der Bewegung geeignete Informationen darüber vermittelt werden, was wie zu tun ist, und nach der Bewegungsausführung Informa tionen zur Qualität der Aufgabenlösung ausbleiben, fehlen dem Lernprozess unver zichtbare Informationsquellen. Instruktion und Feedback werden deshalb als Lernvariablen bezeichnet. Instruktion Nach Hänsel (2003) umfassen Instruk tionen alle Maßnahmen, die zur Opti mierung von Lernprozessen zum Ein satz kommen. Fokussiert auf informa tionelle Maßnahmen bedeutet dies Informationen über Aufgaben und Ziele sowie konkrete oder abstrakte Lösungs möglichkeiten bzw. Orientierungen.
7
Feedback Feedback ist die Rückkoppelung be wegungsbezogener Informationen durch die eigenen Sinnesorgane (in trinsisches Feedback) oder durch eine äußere Instanz (extrinsisches Feedback; durch Therapeutin oder Messsystem). Feedback kann sich auf das Ergebnis der Bewegung („knowledge of results“; KR) oder den Verlauf („knowledge of performance“; KP) beziehen. Feedback kann während oder nach der Be wegungsausführung gegeben werden. Feedback kann unterschiedliche Inhalte (tatsächliche Bewegung, gewünschte Be wegung, Differenz zwischen ge wünschter und tatsächlicher Bewegung oder Korrekturinformation) haben.
Instruktionen und Feedback können audi tiv, visuell oder taktil-kinästhetisch prä sentiert werden. Angesichts der Vielfalt von Instruktionen und Feedback können hier nur allgemeine Hinweise gegeben werden. 7.3.4
mpfehlungen für den E Einsatz von Instruktionen
Instruktionen sollten klar strukturiert, kon kret und verständlich sein sowie hinsichtlich Qualität und Quantität der Auffassungs kapazität der Lernenden angemessen prä sentiert werden. Instruktionen können – je nach didakti schem Zweck – die Aufgabe bzw. das Ziel vorgeben und so Lösungsversuche initiieren, die Lösung selbst mehr oder weniger diffe renziert vorgeben, lösungsrelevante Prinzi pien anbieten oder Orientierungen (z. B. über Beispiele, Metaphern oder Analogien) liefern.
124
7
J. Wiemeyer et al.
Instruktionen sollten bi- oder multi ruktionen: „die Füße zur Hallendecke stre modal geben werden, d. h., auditive und vi cken“ oder „Strecke dein Sprungbein gegen suelle Informationen sollten in sinnvoller den Boden“. Weise kombiniert werden, da sie sich ideal Gerade der Einsatz von Metaphern und ergänzen („multisensorische Integration“; Analogien hat sich besonders bei An z. B. Effenberg 2003). Insgesamt hat sich in fängern – über die Aktivierung impliziter vielen Fälle die Fokussierung auf externe In (unbewusster) Lernstrategien – als wirksam halte, z. B. Flug des Balles, gegenüber einem erwiesen (z. B. Thielemann 2008). Fort internen Fokus, z. B. Gelenkstellung, als geschrittene scheinen dagegen – aufgrund wirkungsvoller erwiesen (Wulf 2013). Auf des höheren kognitiven Organisations jeden Fall sollte der Fokus funktional sein, grades – eher von expliziten Lernprozessen d. h. auf Aspekte bezogen sein, die für das (z. B. Schritt-für-Schritt-Bewegungsregeln) lernen und die Kontrolle relevant sind (Hän zu profitieren. sel u. Seelig 2003). Bei statischen Bilddarstellungen (Bild reihen) sollte auf die habituelle Leserich tung geachtet werden (Anordnung von links 7.3.5 Empfehlungen für den Einsatz von Feedback und nach rechts), und Bilder sollten über oder links von Texten positioniert werden (Daugs Bewegungskorrekturen et al. 1989). Dynamische Instruktionen (ins Feedback sollte je nach Art des Lern besondere Videoinstruktionen) sollten prozesses gegeben werden (Blischke et al. mehrmals wiederholt, mit einem mittleren 1999): Informationen zum gewünschten Er Abstraktionsgrad, in Zeitlupe, mit verbalen gebnis sind beim Erlernen der Rahmen und visuellen Hinweisreizen bzw. Aufmerk koordination und der Nachahmung eines samkeitslenkungen präsentiert werden Modells wichtig. Beim Erlernen von Be (Daugs et al. 1989). wegungsparametern (Feinjustierung) sind Umweltgebundene bzw. visuell- dagegen primär Informationen über die tat räumliche Informationen sind umweltfreien sächliche Ausführung und die Diskrepanz Instruktionen in allen Altersstufen über zur Zielbewegung wichtig. Der 7 Exkurs legen (z. B. Panzer et al. 2007; Ungerer gibt Auskunft zur Bedeutung von Fehlern 1967). Beispiele für umweltgebundene Inst im Lernprozess.
Zur Bedeutung von „Fehlern“ im Lernprozess
Für viele Menschen hat der Fehlerbegriff eine negative Konnotation. Deshalb findet man – auch in Lernprozessen – die Tendenz, Fehler möglichst zu vermeiden. Man kann Fehler aber auch anders ver stehen: Sie zeigen, dass die Stabilitäts bedingungen überschritten wurden, und geben den Lernenden wertvolle Hinweise, wo die Grenze zwischen Stabilität und In stabilität der Bewegung liegt. Aus dieser Sichtweise resultiert die systematische Va riation von Übungsbedingungen, um Fehler
gezielt zu provozieren (z. B. Schöllhorn 2005) – natürlich nur, wenn keine Risiken (z. B. Verletzungsgefahr oder Auslösung von Angst) bestehen. Fehler werden damit zu einer wertvollen Erfahrung für den Lern prozess. Beispiel: Beim Parallelschwung im alpi nen Skilauf kann man gezielt das Timing von Hoch-Tief-Bewegungen und Vor-Rück-Ver lagerungen ausprobieren, um zu erkennen, in welcher Phase des Schwungs welche Körper haltung vor- oder nachteilig ist.
125 Sportwissenschaftliche Grundlagen
z Zeitstrukturen von Feedback
Die Zeitstrukturen von Feedback sind eben falls von Bedeutung: Insbesondere das Prä- Feedback-Intervall ist bedeutsam, da in trinsisches Feedback häufig sehr flüchtig ist (z. B. Kuhn 1984).
eigene Informationen vernachlässigen. Eine angemessene Häufigkeit liegt zwischen 25 und 33 %, d. h., nach jedem dritten oder vierten Versuch (vgl. Blischke et al. 1999; Marschall u. Daugs 2003).
Das Prä-Feedback-Intervall (Prä-FB-I) ist das Intervall zwischen der Be wegungsausführung und der Präsenta tion von Feedback. Dieses Intervall ist lernkritisch, da die Bewegungs erfahrungen gespeichert und verarbeitet werden müssen.
>>Feedback hat immer zwei Wirkungen: eine motivationale und eine informatio nelle. Deshalb muss darauf geachtet werden, dass die Motivation der Lernen den nicht durch zu starke Kritik beein trächtigt wird. Als Ursachen für mög liche Defizite sollten eher mangelnde Anstrengung und Konzentration als mangelndes Talent oder Unfähigkeit be nannt werden.
Post-Feedback-Intervall
z Normen der Bewegungskorrektur (Wolters 1999)
Prä-Feedback-Intervall
Das Post-Feedback-Intervall (Post-FB-I) ist das Intervall zwischen Feedback-Prä sentation und erneuter Bewegungsaus führung. Dieses Intervall ist nicht immer lernkritisch, da in vielen Fällen die Infor mationen für die erneute Bewegungsaus führung länger gespeichert bzw. auf gefrischt werden können.
Beim Erlernen von Bewegungsparametern ist von einem kritischen Intervall zwischen 5 und 15 Sekunden (Prä-FB-I) bzw. ca. 20 Se kunden (Post-FB-I) auszugehen, während beim Modell-Lernen eine Zeitspanne zwi schen 5 und 45 Sekunden (Prä-FB-I) bzw. 2 Minuten (Post-FB-I) kritisch ist (vgl. Blischke et al. 1999). Allerdings können ko gnitive Organisationsstrategien (z. B. men tale Vorstellungen, eigene Bewertungs prozesse und Aufmerksamkeitslenkungen) dazu führen, dass Feedback-Informationen länger im Kurzzeitgedächtnis verfügbar sind. Feedback sollte nicht nach jedem Ver such gegeben werden, da die Gefahr besteht, dass sich die Lernenden zu sehr auf diese Informationsquelle verlassen und dabei
7
Wolters (1999, S. 45–59) hat aus didakti scher Sicht zehn „Normen der Bewegungs korrektur“ zusammengestellt, welche an schaulich die Wechselwirkung pädagogi scher, psychischer und sensomotorischer Prozessebenen illustrieren: 55 Mache den Lernenden von deiner Kor rektur unabhängig – z. B. durch Selbst bewertung und sparsamen Einsatz von Fremdkorrekturen! 55 Mache den Fehler und seine Korrektur einsichtig! 55 Beachte die Nebenwirkungen einer Kor rektur – besonders auf die Übungs motivation! 55 Korrigiere individuell! 55 Korrigiere nicht Symptome, sondern Ursachen – auf der Grundlage eines funktionalen Bewegungskonzepts! 55 Korrigiere mit realistischen Zielen! 55 Korrigiere den Hauptfehler zuerst! 55 Korrigiere zum richtigen Zeitpunkt! – Lernprozess, Unterrichtseinheit, Ver such! 55 Dosiere die Korrekturen angemessen! 55 Korrigiere effizient! – Korrekturmaß nahmen sind vielfältig und nicht auf ver bale Informationen beschränkt!
126
J. Wiemeyer et al.
7.3.6
7
Übungsorganisation
Bewegungen sind häufig – insbesondere für Anfänger – zu komplex, um sie „auf An hieb“ und „als Ganzes“ zu lernen. Um Überforderungen der Lernenden zu ver meiden, müssen die Bewegungen schritt weise vermittelt werden. In der Bewegungs wissenschaft gibt es zahlreiche Ansätze zur Gestaltung dieses schrittweisen Übens, die sich auf unterschiedliche Argumente (z. B. biomechanische, lerntheoretische oder di daktische Begründungen) stützen (vgl. Wie meyer 2003). Dabei können strukturierte und unstrukturierte Übungsfolgen unter schieden werden. z Strukturierte und unstrukturierte Übungsfolgen
als überaus erfolgreich erwiesen, sowohl unter dem Aspekt der variablen Verfüg barkeit (besonders bei Fortgeschrittenen) als auch unter dem Aspekt der Stabilität von Bewegungen (Erfahren der Grenzen und Funktionalität der Bewegung). In der vorliegenden Zielgruppe erscheint es sinnvoll, zunächst strukturiert vorzugehen. Auf diese Weise werden schnelle Übungs erfolge erzielt, so dass die Motivation der Lernenden unterstützt wird. Variable Übungsformen können – dosiert und je nach Lernfortschritt bzw. Lerngruppe – später eingesetzt werden, um die Heraus forderungen zu erhöhen. ► Beispiel: Erlernen von Werfen und Fangen
Werfen und Fangen erfordern eine präzise Koordination. Im Sinne einer strukturierten Übungsfolge könnte zunächst das Werfen ein geführt werden. Anfangs wird mit Tennis bällen geübt, welche leicht gegriffen werden können. Später werden die Ballgrößen syste matisch erhöht. Wenn das Werfen hinreichend gelingt, kann partnerweise geübt werden: Der eine Partner wirft, der andere fängt. Als drit ter Schritt können dann Kombinationen aus Werfen und Fangen geübt werden. Als letzter Schritt besteht die Möglichkeit, Wurf-FangSpiele verschiedenster Art einzuführen, die Werf-Fang- Kombinationen in vielfältiger Weise variieren. ◄
55 Strukturierte Übungsfolgen werden nach bestimmten Prinzipien oder Kriterien angeordnet, z. B. nach den in 7 Abschn. 7.3 dargestellten Ansätzen. So kann man z. B. das Konzept von Göhner (1979) in das Prinzip „Vom funktionalen Kern (Hauptfunktions phase) zu den Unterfunktionen (Hilfs funktionsphasen)“ oder das Konzept von Kassat (1995) in das Prinzip „Üben nach Aktion-Effekt-Relationen und ihren Verknüpfungen“ übersetzen. Im Rahmen von methodischen Übungs reihen sind zahlreiche weitere Prinzipien relevant wie das Prinzip der verminderten Lernhilfe, „vom Leichten zum Schwe ren“ oder „vom Einfachen zum Komple 7.3.7 Koordinative Fähigkeiten xen“ (ausführlich Roth 2007; Wiemeyer Sensomotorische Koordination ist die u. Wollny 2023). 55 Unstrukturierte Übungsfolgen werden Fähigkeit des Menschen, Bewegungen an nach dem Zufallsprinzip konfiguriert. forderungsgerecht und flexibel zu kontrollie Dieses Vorgehen des zufällig-variablen ren und anzupassen. Die spezifische Seite Übens hat sich – sowohl aus informations von Koordination zeigt sich in Bewegungs fertigkeiten oder Bewegungstechniken (Bei theoretischer Sicht („Kontext- Interferenz-Effekt“; z. B. Wulf 1994) als spiel: Flop-Technik im Hochsprung). Die auch aus systemdynamischer Sicht („dif allgemeine, bewegungsübergreifende Seite ferenzielles Lernen“; z. B. Schöllhorn von Koordination wird durch den Begriff 2005) – unter bestimmten Bedingungen der koordinativen Fähigkeiten abgebildet,
127 Sportwissenschaftliche Grundlagen
der allgemeine Verlaufsqualitäten senso motorischer Koordinationsprozesse betrifft (Beispiel: Gleichgewichtsoder Orientierungsfähigkeit). Für die Kontrolle und das Lernen von Bewegungen spielen koordinative Fähig keiten eine wichtige Rolle (z. B. Zimmer mann 1987). Deshalb sollten koordinative Fähigkeiten auf jeden Fall Bestandteil von Sport und Bewegungsinterventionen sein. Als fundamentale koordinative Fähigkeiten gelten die Gleichgewichtsfähigkeit, die Orientierungsfähigkeit, die Differenzie rungsfähigkeit, die Reaktionsfähigkeit und die Rhythmusfähigkeit (z. B. Hirtz 1988). Obwohl über die genaue Abgrenzung der koordinativen Fähigkeiten noch große Un einigkeit herrscht (z. B. Mechling 1999; Oli vier 1997), ist es auf jeden Fall sinnvoll, fertigkeitsübergreifende Inhalte in Be wegungsinterventionen zu integrieren. Als wichtigstes Prinzip für die Ver besserung allgemeiner koordinativer Voraussetzungen gilt die Variation. Dabei können eine ganze Fülle von Randbe dingungen und Anforderungen an Be wegungen variiert werden (v. a. Neumaier et al. 2002; Golle et al. 2023): 55 Informationsaufnahme – über Augen, Ohren, Haut, Bewegungssensoren in Muskeln, Sehnen und Gelenken sowie über die Lage- und Bewegungssensoren im Innenohr, 55 Bewegungsmerkmale – Geschwindig keit, Amplitude, Rhythmus etc., 55 Zeit- oder Präzisionsdruck, 55 Komplexitäts- oder Organisationsdruck, 55 Belastungsdruck, 55 Variabilitätsdruck. Bei der – nicht nur für die Sturzprophylaxe bedeutsamen – Gleichgewichtsfähigkeit können z. B. Übungen unter variierenden Wahrnehmungsbedingungen, im Stehen (ein-/beidbeinig), Gehen oder Laufen, auf stabilen oder beweglichen Unterlagen, mit kognitiven oder motorischen Zusatzauf gaben, vor und nach konditionellen Be
7
lastungen u.v.m. eingesetzt werden. Variab les Üben unterstützt nicht nur die variable Verfügbarkeit und den Transfer von Übun gen, sondern ist darüber hinaus auch moti vierender als monotones Üben. Im Werkzeugkasten in 7 Kap. 13 finden sich Übungen, welche vor allem die Gleich gewichts-, Reaktions-, räumliche Orientie rungs-, Rhythmus- und kinästhetische Differenzierungsfähigkeit sowie die Koppe lungs- und Umstellungsfähigkeit adressieren.
Leitlinien der Bewegungswissenschaft für die Praxis 55 Bewegungsfertigkeiten sind komplexe Phänomene, die nach funktionalen Kriterien gegliedert werden müssen. Funktionale Bewegungsstrukturen sind eine unverzichtbare Grundlage für die systematische Gestaltung von Lern- und Übungsprozessen. 55 Beim Bewegungslernen spielen Pro zesse der Informationsaufnahme, -verarbeitung und -abgabe ebenso eine Rolle wie die durch die jeweilige Konstellation von Person, Aufgabe und Umwelt bedingten Selbst organisationsprozesse. Dabei haben sowohl bewusste (explizite) als auch nicht- bewusste (implizite) Prozesse eine Bedeutung. 55 Instruktionen müssen je nach Ziel, Zweck und Lern- bzw. Entwicklungs stand unterschiedlich gegeben wer den. 55 Feedback sollte sparsam, verteilt und verständlich gegeben werden, wobei immer auch die Eigenbewertung der Lernenden einbezogen und die Übungsmotivation gestärkt werden sollte. 55 Fehler sollten als eine positive Begleit erscheinung des Lernprozesses auf gefasst werden – Motto: Fehler ver stehen statt vermeiden; wer ohne Feh ler übt, kann nur schwer die
128
J. Wiemeyer et al.
Training/Trainingsziele Bedingungen für Stabilität und In stabilität der eigenen Bewegungen er kennen. 55 Üben kann nach bestimmten Prinzi pien strukturiert oder unstrukturiert erfolgen. Je nach Ziel des Bewegungs lernens (Erwerb der Bewegungs rahmenkoordination, Festigung oder flexibler Transfer) und dem jeweiligen Lernniveau (Anfänger, Fort geschrittene, Experten) können ver schiedene Übungsfolgen zum Einsatz kommen.
Der Begriff Training umfasst alle Maß nahmen, mit deren Hilfe ein bestimmtes Ziel systematisch, planmäßig und nach haltig erreicht werden soll. Trainings ziele können sich darauf beziehen, die psychophysische Leistungsfähigkeit zu verbessern, zu erhalten oder einen Rück gang zu vermindern. Für die Zielgruppe der psychisch Kranken müssen – je nach individueller Situation und Krankheits bild – weitere Trainingsziele im sozialen, emotionalen, motivationalen und voli tionalen Bereich berücksichtigt werden.
7 7.4
Trainingswissenschaft
Josef Wiemeyer
Die Trainingswissenschaft versteht sich als interdisziplinäre angewandte Human wissenschaft. Ihr Hauptziel ist die wissen schaftliche Fundierung trainingspraktischen Handelns. Wichtige Gegenstandsbereiche sind Training und Leistung sowie die (sport liche) Bewährungssituation (Wettkampf). Für eine erfolgreiche Tätigkeit im Be reich der Sport- und Bewegungsförderung von psychisch kranken Menschen sollten die Grundkonzepte der Trainingswissenschaft (besonders Belastung, Beanspruchung und Adaptation), die Trainingsprinzipien sowie die Grundlagen interventionsrelevanter Leistungskomponenten bekannt sein. Diese werden im Folgenden erläutert. 7.4.1
Trainingsbereiche im Überblick
Interventionen werden durchgeführt, um bestimmte Ziele zu erreichen. Dies gilt auch für Trainingsinterventionen (Überblick: Weineck, Kemmler u. Fröhlich 2023).
Die Leistungsfähigkeit im Sport hat ver schiedene Komponenten (. Abb. 7.3), die in vielfältigen Wechselbeziehungen stehen: 55 Die konditionellen Komponenten um fassen Kraft, Ausdauer, Schnelligkeit und Flexibilität. Während Kraft und Ausdauer „klassische“ Konditions elemente sind, hat die Schnelligkeit eine Zwischenstellung zwischen Kondition und Koordination. Die Flexibilität be trifft die aktiven und passiven Elemente der Kraftübertragung bzw. Gelenk sicherung (Muskeln, Sehnen, Bänder und Kapseln). 55 Die Koordination umfasst sowohl spezi fische Elemente (Fertigkeiten oder Be wegungstechniken) als auch unspezi fische Eigenschaften (koordinative Fähigkeiten). 55 Psychische Fähigkeiten umfassen Persönlichkeitseigenschaften wie kogni tive, emotionale, motivationale und voli tionale Merkmale. 55 Soziale Fähigkeiten betreffen die Wechselbeziehungen zwischen den ver schiedenen Akteuren des Trainings prozesses, z. B. Kooperationen oder Wettbewerb. 55 Taktisch-kognitive Fähigkeiten haben eine große Nähe zu den psychischen
129 Sportwissenschaftliche Grundlagen
7
.. Abb. 7.3 Komponenten der sportlichen Leistungsfähigkeit
Fähigkeiten. Hier geht es darum, Strate gien und Taktiken so einzusetzen, dass die eigenen Stärken gezielt zur Geltung kommen. 55 Ein weiterer wichtiger Einflussfaktoren komplex umfasst Anlage, Konstitution, Alter, Geschlecht und Gesundheit. Diese Faktoren haben – je nach Bedingungs konstellation – einen großen Einfluss auf die Leistungsfähigkeit, gerade im Kon text von Sport- und Bewegungsinter ventionen mit psychisch Kranken. Die folgenden Leistungskomponenten er scheinen besonders relevant für Bewegungsund Sportinterventionen: 55 Ausdauer, 55 Kraft, 55 Koordination und 55 Flexibilität (Beweglichkeit). Bei der Zielgruppe psychisch Kranker spie len weitere Ziele eine wichtige Rolle (zu Be sonderheiten bei spezifischen Störungs bildern s. auch 7 Kap. 10 und 12). Beispiele sind: 55 soziale Ziele (z. B. Kooperation, Empa thie), 55 Aktivierung des Stoffwechsels (z. B. zur Reduktion von Übergewicht, das häufig mit psychischen Erkrankungen einher geht),
55 Verbesserung des Körpergefühls, 55 Stärkung des Selbstbewusstseins bzw. Selbstwertgefühls, 55 Verbesserung der Motivation, 55 Ermöglichung emotionaler Erfahrungen (z. B. Spaß, Stolz). Diese Ziele müssen sinnvoll in die Planung, Durchführung und Auswertung des Trai nings integriert werden. Bevor diese Komponenten und ihre Grundlagen im Folgenden genauer be schrieben werden, sollen zunächst die Trainingsprinzipien erläutert werden. 7.4.2
Trainingsprinzipien
Der Begriff „Trainingsprinzipien“ be zeichnet „allgemeine Handlungsan weisungen für die Trainings- und Wett kampftätigkeiten von Trainern und Sport lern sowie die Organisation und den systematischen Aufbau des Trainings“ (Schnabel 1993, S. 883). Trainingsprinzipien bieten einerseits eine allgemeine Orientierung für praktisches Han deln, sind aber andererseits nicht unumstritten, da ihre wissenschaftliche Fundierung schwie rig und zum Teil unmöglich ist (z. B. Hoh mann et al. 2002). Trainingsprinzipien können nach unterschiedlichen Kriterien geordnet
130
J. Wiemeyer et al.
werden. Weineck (2019) differenziert z. B. in Prinzipien, welche Anpassungen auslösen, und Prinzipien, welche die Anpassungen si chern sollen. Anpassungen werden durch Be lastungen bzw. Beanspruchungen des Trai nings angebahnt (Zinner u. Sperlich 2023). Donath u. Faude (2023) stellen eine Samm lung von Trainingsprinzipien vor, für eine ge wisse Evidenz vorliegt. Belastung
7
Belastung ist die Summe der Reize, die auf den trainierenden Organismus ein wirkt, z. B. die Anforderung, eine Strecke von 1 km innerhalb von 5 Minuten zurückzulegen. Belastungen werden durch die Belastungsnormative oder -komponenten charakterisiert: Intensität, Dauer, Umfang, Dichte und Häufigkeit.
Beanspruchung Beanspruchung ist die individuelle Re aktion eines Organismus auf die Be lastung. So kann z. B. ein trainierter Organismus mit einer Herzfrequenz von 130 Schlägen pro Minute auf eine Be lastung (1 km in 5 Minuten laufen) re agieren. Beanspruchungen können ver schiedene Teilsysteme des Organismus betreffen, z. B. Herz-Kreislaufsystem, Atmung, Muskelstoffwechsel oder Zentralnervensystem.
Adaptation (Anpassung) Adaptation ist die Anpassung des Organismus auf durch Belastungen hervorgerufene Beanspruchungen. Adap tationen können funktionell (schnell) oder strukturell (meist zeitlich verzögert) erfolgen. Das bedeutet, dass z. B. die Ab stimmung von Nerv und Muskel ver bessert werden kann oder die Muskulatur an Dicke zunimmt (Hypertrophie).
Wichtige Prinzipien zur Auslösung von Anpassungen sind nach Weineck (2019; siehe auch Donath u. Faude 2023): 55 Trainingswirksamer Reiz: Belastungsund Beanspruchungsreize sollten so ge wählt werden, dass sie einerseits über schwellig sind, d. h., das Gleichgewicht des Organismus stören, andererseits aber nicht so hoch sind, dass sie zu Schädi gungen führen und eine Fehlanpassung bewirken. 55 Individualisierte Belastung: Die Be lastung bzw. Beanspruchung muss an die individuellen Eigenschaften des Men schen anpasst werden, z. B. die aktuelle psychische und physische Leistungs fähigkeit, den Gesundheitszustand und die Bedürfnisse eines psychisch Kran ken. 55 Ansteigende Belastung: Im Laufe des Trainingsprozesses muss die Belastung gesteigert werden, da durch die ab laufenden Anpassungsprozesse die Be anspruchungen immer niedriger werden. 55 Richtige Belastungsfolge: Die Reihen folge von Belastungen ist nicht beliebig. So wird z. B. häufig propagiert, dass ein Ausdauertraining nicht vor einem Techniktraining erfolgen sollte, um zentralnervöse Beanspruchungsprozesse zu vermeiden. 55 Wechselnde Belastung: Da sich Be lastungsreize spezifisch auf bestimmte Teilsysteme des Organismus auswirken und diese Teilsysteme unterschiedliche Beanspruchungs- und Anpassungszeiten aufweisen (Heterochronizität), sollten die Belastungsreize gezielt variiert wer den. Wenn z. B. am Vortag eine intensive Ausdauerbelastung die muskulären Energiespeicher beansprucht hat, sollte am nächsten Tag eher ein Koordinati ons- oder Flexibilitätstraining erfolgen, das andere Teile des Organismus – in die sem Fall Zentralnervensystem oder Muskelbiomechanik – beansprucht. 55 Optimale Relation von Belastung und Erholung: Belastungsbzw. be
131 Sportwissenschaftliche Grundlagen
anspruchungsbedingte Adaptationen be nötigen immer eine gewisse Zeit. Diese Zeit, die für die beanspruchten Systeme ganz unterschiedlich ist – z. B. relativ kurz für zentralnervöse Prozesse und re lativ lang für Sehnen und Knochen –, muss für die Gestaltung von Belastungs pausen beachtet werden. Anpassungen sollten aber nicht nur aus gelöst, sondern auch nachhaltig abgesichert werden. Bei der Sicherung von Anpassungen sind besonders zwei Prinzipien wichtig: 55 Kontinuierliche Belastung: Durch kontinuierliche Belastung wird die Leistungsfähigkeit nachhaltig gesteigert. Wenn entsprechende Belastungen und Beanspruchungen ausbleiben (z. B. durch Unterbrechung oder Abbruch des Trainings), bildet sich das Leistungs niveau zurück. Als Faustregel kann man sagen, dass die Rückbildung ungefähr so lange dauert wie der Aufbau. Schnell er worbene Anpassungen gehen also schnell, langsam erworbene langsam zu rück. 55 Periodisierte Belastung und Regeneration: Trainingsreize sollten nicht über lange Zeit konstant sein. Der Organismus des Menschen sollte perio disch belastet und beansprucht werden. So könnten z. B. psychisch Kranke in den Wintermonaten geringer belastet werden und in den Sommermonaten mehr. In den Übergangsmonaten (Früh jahr und Herbst) könnten – je nach indi viduellen Bedingungen – Misch belastungen (z. B. variierende Inhalte und Methoden) eingesetzt werden. 7.4.3
Grundlagen der Ausdauer
Die Ausdauer betrifft die Fähigkeit des menschlichen Organismus, Belastungen möglichst lange – ohne Leistungs minderung – durchzuhalten (Ermüdungs widerstandsfähigkeit) und sich nach Be
7
lastungen schnell zu erholen (Regenerations fähigkeit). Ausdauer kann nach verschiedenen Ge sichtspunkten eingeteilt werden. Die Aus dauerart, welche für psychisch Kranke von besonderer gesundheitlicher Bedeutung ist, ist die allgemeine aerobe dynamische Ausdauer, die z. B. beim Laufen, Schwimmen oder Radfahren leistungslimitierend ist. Bei dieser Ausdauerart werden große Muskel gruppen in einem Wechsel aus Kontraktion und Entspannung so beansprucht, dass die Energie hauptsächlich durch die Aufnahme und Verarbeitung von Sauerstoff bereit gestellt wird. Die Anpassungseffekte an ein Training der allgemeinen aeroben dynami schen Ausdauer betreffen besonders das Herz-Kreislaufsystem, die Atmung, das Blut, das Immunsystem, den Stoffwechsel (besonders Kohlenhydrate und Fette) und das Gehirn. Ausdauertraining leistet damit einen unverzichtbaren Beitrag zur Gesund heit – sowohl bei Gesunden als auch bei Kranken. z Geeignete Trainingsmethoden für psychisch erkrankte Personen
Wichtige Trainingsmethoden zur Ver besserung der Ausdauer sind die Dauer methode, die Intervallmethode und die Wiederholungsmethode. Für die Therapie von psychisch Kranken erscheinen vor allem die Dauer- und Intervallmethode geeignet: 55 Bei der Dauermethode werden Aus dauerbelastungen ohne Unterbrechung – entweder intensiv (60 % der maximalen Sauerstoffaufnahme bzw. 80 % der maxi malen Herzfrequenz) oder extensiv (40– 60 % der maximalen Sauerstoffauf nahme bzw. 60–80 % der maximalen Herzfrequenz1) – eingesetzt. Die Intensi
1 Die Umrechnung von der maximalen Sauerstoff aufnahme auf die maximale Herzfrequenz orien tiert sich an der Formel von Swain u. Leutholtz (1997) für Untrainierte bzw. geringe Leistungs niveaus.
132
7
J. Wiemeyer et al.
tät kann entweder konstant gehalten oder mehr oder weniger systematisch va riiert werden. Die wichtigsten An passungserscheinungen sind Öko nomisierung der Herz-Kreislauf- und Atmungstätigkeit, Regeneration, Ver besserung des aeroben Stoffwechsels (be sonders bei niedrigen Intensitäten von ca. 50 % der maximalen Sauerstoffauf nahme bzw. 70 % der maximalen Herz frequenz: Fettstoffwechsel) und Steige rung der maximalen Sauerstoffauf nahme. 55 Bei der Intervallmethode werden Aus dauerbelastungen durch kurze Pausen unterbrochen, die keine vollständige Re generation ermöglichen. Diese Pausen werden als „lohnende Pausen“ be zeichnet, weil hier eine relativ schnelle Regeneration erfolgt und – durch Um schaltung von Druck- auf Volumen arbeit – wichtige Reize für die Anpassung des Herzens (Dilatation) gesetzt werden. Intervalltraining kann intensiv oder ex tensiv, mit kurzen oder langen Inter vallen durchgeführt werden. Je nach Intensität werden Verbesserungen der aeroben oder anaeroben Ausdauer sowie des Herz-Kreislauf-Systems, besonders auch des Herzens (kurze Belastung – hohe Wiederholungszahlen) erzielt. Ge rade in letzter Zeit haben sich intensive Kurzzeitbelastungen (High-intensity- intervall-Training; HIIT) – auch in klini schen Kontexten – als sehr positiv er wiesen (vgl. Arena et al. 2013; Cornish et al. 2011). Bei kurzen Nettobelastungs zeiten werden zum Teil größere, zum Teil vergleichbare Anpassungseffekte er zielt – mit teilweise höherer Motivation der Trainierenden. Ausdauertraining mit psychisch Kranken stellt eine besondere Herausforderung dar – insbesondere in motivationaler und emotio naler Hinsicht. Deshalb erscheint es aus Motivations- und Ökonomiegründen sinn voll, das Intervalltraining in den Vorder
grund zu stellen. Es sollte mit dem ex tensiven Intervalltraining und motivieren den Übungen begonnen werden. Je nach Akzeptanz können dann Intensität bzw. Umfang gesteigert werden. Mögliche Optio nen – gerade für den Einstieg – sind das Spielen von Exergames, d. h., digitalen Spie len, welche durch Ganzkörperbewegungen kontrolliert werden (z. B. Wiemeyer 2010) sowie das Aerobic-Training mit Musik (s. 7 Kap. 13).
► Beispiel eines Ausdauertrainings für Anfänger
Die in diesem Buch beschriebene Zielgruppe weist in der Regel aufgrund von Bewegungs mangel mehr oder weniger erhebliche Aus dauerdefizite auf. Deshalb erscheint es sinn voll, mit einem extensiven Intervalltraining zu beginnen. Ein Wechsel von Belastung bzw. Beanspruchung und Pausen ist motivational und emotional besser zu bewältigen als eine Dauerbelastung. Denkbar ist z. B. ein Wech sel aus 2 Minuten Gehen und 1 Minute Lau fen. Danach kann man systematisch die Be lastungszeiten erhöhen und die Pausenzeiten reduzieren. Schließlich können konstante und später variable Dauermethoden eingesetzt werden. ◄
7.4.4
Grundlagen der Kraft
Kraft ist die Fähigkeit des Menschen, hohe Lasten zu überwinden oder ihnen einen möglichst großen Widerstand entgegen zu setzen. Auch die Kraft kann in verschiedene Arten, z. B. Schnellkraft, Maximalkraft und Kraftausdauer, differenziert werden (z. B. Güllich u. Schmidtbleicher 1999). Für die Zielgruppe der psychisch Kranken er scheint die Kraftausdauer – insbesondere im Bereich des Rumpfes (einschließlich Schul ter- und Beckengürtel) – von besonderer Be deutung, da sie die Grundlage für eine gesunde Haltung ist (s. auch die Übungen im Werkzeugkasten, 7 Kap. 13). Ferner ist häufig die Steigerung der Maximalkraft ein
133 Sportwissenschaftliche Grundlagen
Begleiteffekt eines Kraftausdauertrainings. Die erwünschten Anpassungserscheinungen beziehen sich primär auf die neuro muskuläre Koordination und den Muskel stoffwechsel. Hypertrophie-Anpassungen werden nur in begründeten Einzelfällen (z. B. Inaktivitätsatrophie) Gegenstand des Trainings dieser Zielgruppe sein. Als Methode der Wahl für ein Kraftaus dauertraining ist die Intervallmethode anzu sehen, die durch submaximale Intensitäten (50–60 % der Maximalkraft) und viele Wiederholungen (je nach Leistungsniveau und Motivation) charakterisiert ist. Eine spe zielle Methode, welche sich für die Zielgruppe der Personen mit psychischen Störungen eig nen dürfte, ist das sanfte Krafttraining (z. B. Buskies 1999). Hier wird – orientiert am sub jektiven Beanspruchungsempfinden – primär umfangsbetont trainiert. Mehrere Serien wer den so lange absolviert, bis die Beanspruchung als „mittel“ oder „schwer“ empfunden wird; dabei werden Intensitäten von 40 bis 70 % der Maximalkraft erreicht – bei Wiederholungs zahlen von 15 ± 3 Wiederholungen pro Serie. Kraftübungen sollten sich auf die Ver besserung der Haltungsmuskulatur im Rumpf-, Schulter- und Beckenbereich kon zentrieren. Je nach Motivation der Patienten können auch Kraftübungen für die „großen Gelenke“ der oberen und unteren Extremi tät (Hüft-, Knie-, Schulter- und Ellbogen gelenk) sowie alltags- oder sportbezogene Schnellkraftübungen (z. B. Sprung, Schlag oder Wurf) hinzukommen (s. 7 Kap. 13).
► Beispiel eines Krafttrainings
Ein allgemeines Krafttraining für psychisch erkrankte Personen könnte z. B. die im Werk zeugkasten (7 Kap. 13) aufgeführten Übun gen für die Arm-, Schulter-, Rumpf, Knieund Fußgelenksmuskulatur umfassen. Bei den einzelnen Übungen wird zunächst durch Vortests ermittelt, bei welcher Last
7
(z. B. Stärke des Thera-Bandes) ungefähr die angezielten 15 Wiederholungen realisiert werden können. Dann werden die Übungen im Rahmen eines Zirkeltrainings mit sechs Stationen (Arm, Schulter, Bauch, Rücken, Knie, Fußgelenk) in der Reihenfolge Schul ter – Knie – Rücken – Bauch – Arm – Fuß gelenk absolviert, um eine ausgewogene Be lastungsfolge zu sichern. ◄
7.4.5
Grundlagen der Koordination
Für die Zielgruppe psychisch Kranker sind die koordinativen Fähigkeiten (7 Abschn. 7.3.7) von besonderer Be deutung, da ihre Ausprägung zahlreiche All tags- und Freizeitbewegungen beeinflusst. Natürlich können Koordinationsübungen auch mit Kraftund Ausdauer beanspruchungen kombiniert werden (Übungsbeispiele s. 7 Kap. 13). Das wichtigste Trainingsprinzip für das Koordinationstraining ist – wie bereits in 7 Abschn. 7.3.7 erwähnt – Abwechslung bzw. Variation. Diese Variation kann durch zahlreiche Maßnahmen erreicht werden (vgl. Neumaier et al. 2002). Gerade für die Motivation der Ziel gruppe von Personen mit psychischen Stö rungen ist ein abwechslungsreiches Ko ordinationstraining, das für alle – ent sprechend ihren individuellen Voraussetzungen und Interessen – Erfolgs erlebnisse bereithält, von besonderer Be deutung. Die Verbesserung von Gleich gewicht, Orientierung und Differenzierung sowie Reaktions- und Rhythmusfähigkeit erhöht dazu die Selbstsicherheit im Umgang mit den Bewegungsanforderungen in All tags-, Berufs- und Freizeitsituationen. In dieser Hinsicht spielt die Vermeidung von Stürzen eine besondere Rolle.
134
J. Wiemeyer et al.
► Beispiel eines abwechslungsreichen Koordinationstrainings
7
Abwechslung im Koordinationstraining be deutet, entweder innerhalb eines Übungs bereiches (z. B. Gleichgewicht) die ver schiedenen Übungsbedingungen zu ver ändern oder zwischen den verschiedenen Übungsbereichen zu wechseln. Variante 1: Abwechslungsreiches Gleichgewichtstraining Abwechslungsreiches Gleichgewichts training kann z. B. darin bestehen, dass man im Zirkeltraining sechs Gleichgewichts stationen wählt, die verschiedene An forderungen stellen. Beispiel: je eine Station für das Balancieren vorwärts, seitwärts und rückwärts mit und ohne Zusatzaufgaben (z. B. Zählen, Ball halten oder prellen) oder mit verschiedenen Armhaltungen (z. B. vor der Brust verschränkt oder seitlich abduziert). Variante 2: Abwechslungsreiches Koordinationstraining An jeder Station des Zirkeltrainings wird eine andere koordinative Fähigkeit gefordert: Gleichgewicht (z. B. Balancieren), Reaktions fähigkeit (z. B. Fallstabtest), räumliche Orien tierung (z. B. Berühren aller vier Ecken einer Turnmatte), kinästhetische Differenzierung (z. B. Reproduktion eigener Körper- oder Armhaltungen), Rhythmusfähigkeit (z. B. Anpassung eigener Bewegungen an Musik) und Koppelungsfähigkeit (z. B. Koppelung von Werfen und Fangen, Laufen und Sprin gen oder Gehen und Hocken). ◄
7.4.6
rundlagen der Flexibilität G (Beweglichkeit)
Flexibilität (syn. Beweglichkeit) ist die Fähigkeit des Menschen, Bewegungen mit einer optimalen Schwingungsweite auszu führen. Es geht also um einen Kompromiss zwischen Mobilität und Stabilität – nach dem Motto: So viel Mobilität wie nötig – so viel Stabilität wie möglich!
Die Flexibilität wird in aktiv versus pas siv sowie statisch versus dynamisch ein geteilt. Für die Zielgruppe der psychiatri schen Patienten ist die aktiv-dynamische Flexibilität von besonderer Bedeutung. Diese Art der Flexibilität wird bei vielen Be rufs-, Alltags- und Freizeitbewegungen be nötigt, z. B. beim Bücken (Hüft- und Rumpf flexibilität) oder Reichen (Schulterflexibili tät). Eine ausreichende Flexibilität wird durch ein ausgeprägtes arthro-muskuläres Gleichgewicht (muskuläre Balance) erreicht. Wenn die Kraft- und Flexibilitätseigen schaften in einem Körperbereich nicht im Einklang stehen, resultieren daraus musku läre Dysbalancen. Diese können zu Be wegungsbeeinträchtigungen bis hin zu Schmerzen und degenerativen Schädigun gen führen. Der Rundrücken und das Hohl kreuz sind z. B. auf muskuläre Dysbalancen zurückzuführen. Hier ist die Muskulatur der Vorderseite im Vergleich zu den Gegen spielern kräftiger ausgeprägt. Die Be seitigung muskulärer Dysbalancen erfordert drei Arten von Maßnahmen, von denen keine fehlen darf: 55 Kräftigung der zu schwachen Muskula tur (z. B. Rumpfstrecker, Bauch muskulatur und Hüftstrecker), 55 Dehnung der zu starken Muskulatur (z. B. Brustmuskulatur und Hüftbeuger) und 55 Koordinationsübungen (z. B. Haltungs änderungen bei Alltagsbewegungen). Für die Zielgruppe der psychisch erkrankten Personen ist eine physiologische Haltung von besonderer Bedeutung. Da viele Be schwerdebilder mit Haltungsabweichungen einhergehen, ist hier ein wichtiger Ansatz punkt für Bewegungs- und Sportinter ventionen gegeben. Darüber hinaus sollten Alltagsbewegungen, die durch die Flexibili tät limitiert sind, systematisch in ein Beweg lichkeitstraining integriert werden,
135 Sportwissenschaftliche Grundlagen
7
PNF z. B. Rumpfvor- und Rumpfseitbeugen PNF-Methoden sind spezielle Dehn sowie Reichbewegungen. methoden, welche bestimmte neuro Als Trainingsmethoden können aktivphysiologische Reflex-Mechanismen und passiv-dynamisches bzw. aktiv- und ausnutzen (PNF – propriozeptive neuro passiv-statisches Dehnen eingesetzt werden muskuläre Fazilitation). Besonders zwei (Thienes 2023). Dabei werden die jeweiligen PNF-Methoden sind von Bedeutung: Gelenksysteme entweder durch eigene Anspannungs-Entspannungs-Dehnen Muskelkraft (aktives Selbst-Dehnen) oder und AntagonistenKontraktions- äußere Kräfte (passives Fremddehnen durch Dehnen. Therapeuten, Partnern oder Kraft maschinen) gedehnt. Drei bis fünf Wieder holungen mit einer submaximalen Dehn intensität (Dehngrenze – unangenehmes, aber noch aushaltbares Dehngefühl) und kAnspannungs-Entspannungs-Dehnen (AED) einer Dehndauer von 15 bis 30 Sekunden er geben beim statischen und langsam- AED oder C(H)RS-Methoden beinhalten dynamischen Dehnen die besten Effekte verschiedene Phasen: Zunächst wird der zu (z. B. Wiemeyer 2001); bei maximaler dehnende Muskel für ein paar Sekunden an Intensität (größtmögliches, sofort wieder gespannt (C – Contraction) und gehalten aufzulösendes Dehngefühl) muss aufgrund (H – Hold). Danach wird der Muskel lang der sehr kurzen Einzeldehndauer mindes sam entspannt (R – Relax) und nachfolgend tens 15mal gedehnt werden (z. B. Marschall gedehnt (S – Stretch). Durch das AED wird 1999). die postisometrische Hemmung ausgenutzt. Nach einer isometrischen Kontraktion ent >>Beim Dehnen sollte die Dehngrenze steht in der betroffenen motorischen Einheit nicht überschritten werden, um Schmerz eine kurze Reduktion der Innervations blockaden zu vermeiden. frequenz (Innervationsstille). Durch diese Hemmung lässt sich ein Muskel leichter z PNF-Methoden dehnen als ohne vorherige Kontraktion. Bei hartnäckigen Beweglichkeitsdefiziten ist der Einsatz spezieller Dehnmethoden er kAntagonisten-Kontraktions-Dehnen (AKD) forderlich, die als PNF-Methoden bezeichnet Beim AKD wird während des Dehnens eines werden: Anspannungs-Entspannungsdehnen Agonisten (z. B. Trizepsmuskel) gleichzeitig und Antagonisten-Kontraktions-Dehnen. der Antagonist (z. B. Bizepsmuskel) an Die Übersichtsarbeit von Klee (2003) zeigt, gespannt. Durch diese Anspannung wird dass eine Kombination dieser beiden Dehn der Agonist gehemmt („reziproke antago methoden besonders effektiv ist. Eine wei nistische Hemmung“), wodurch er sich tere Trainingsmethode, die zunehmend an leichter dehnen lässt. Bedeutung gewinnt, kombiniert Beweglich Im Folgenden werden noch einmal keitstraining mit Selbstmassage: das Faszien wesentliche Orientierungspunkte für Inter training (self-myofascial release; kritisches ventionen aus der Sicht der Trainingswissen Review: Behm u. Wilke 2019). schaft genannt.
136
J. Wiemeyer et al.
Leitlinien der Bewegungswissenschaft für die Praxis
7
55 Die Trainingsprinzipien zur Aus lösung und Absicherung von An passungen sollten beachtet werden. 55 Das Ausdauertraining sollte sich auf die allgemeine aerobe dynamische Aus dauer beziehen. Intervall- und Dauer methoden sind hier besonders geeignet. Aktuell wird das intensive Intervall training (Intensität 80 % der maxima len Sauerstoffaufnahme; Belastungs zeiten: ca. 4 Minuten; Erholungszeiten: ca. 4 Minuten) aus Motivations- und Effizienzgründen propagiert. 55 Das Krafttraining sollte sich auf die Kraftausdauer konzentrieren. Die Methode des „sanften“ Kraft trainings ist hier zu empfehlen (Intensität: subjektiv – mittel bis schwer, objektiv – ca. 40 bis 70 % der Maximalkraft; Umfang: ca. 15 Wiederholungen), da sie motivierend wirkt und sowohl Kraftausdauer als auch Maximalkraft verbessert. 55 Das Flexibilitätstraining sollte immer drei Komponenten umfassen: Kraft-, Dehn- und Koordinationstraining. Die aktiv-dynamische Beweglichkeit sollte im Vordergrund stehen, wobei im Hinblick auf die Haltung auch die aktiv-statische Beweglichkeit eine Rolle spielt. Neben aktiv- und passiv- dynamischen Dehnmethoden können auch aktiv- und passiv-statische Dehnmethoden eingesetzt werden (Intensität: submaximal; Dauer: 15 bis 30 Sekunden; Wiederholungen: 3 bis 5). Für besonders „hartnäckige“ Flexibilitätsdefizite sollten PNF- Techniken eingesetzt werden. 55 Das Koordinationstraining sollte sich besonders auf Gleichgewicht, Re aktion, Orientierung und Differenzie rung beziehen. Das wichtigste Übungsprinzip ist variables Üben.
► Beispiel eines Flexibilitätstrainings für die Hüftbeuger
Die Hüftbeugemuskulatur ist häufig von Be weglichkeitsdefiziten betroffen. Im Werk zeugkasten sind deshalb mehrere Übungen aufgeführt, welche die Beweglichkeit dieser Muskulatur verbessern sollen. Eine gute Übung ist der Kniestand („Flitzebogen“; s. Werkzeugkasten 7 Kap. 13). Beim passiven Dehnen (Stretching) mit submaximaler Intensität nimmt man den Kniestand ein, bis sich ein deutlich spürbares Spannungsgefühl einstellt. Dann wartet man (ca. 10–20 Sekunden), bis sich das Spannungs gefühl reduziert, und dehnt ggf. weiter. Beim Dehnen mit maximaler Intensität wird die Dehnung dagegen nur sehr kurz gehalten, um dann sofort wieder aufgelöst zu werden (hier werden dann mindestens 15 Wiederholungen benötigt, um eine ausreichende Gesamt dehnungszeit zu erzielen). Beim AED spannt man vor dem Dehnen die Hüftbeugemuskulatur für wenige Sekun den an, löst die Spannung und dehnt dann die Muskulatur. Beim AKD dehnt man die Hüft muskulatur und spannt während des Deh nens die Hüftstreckmuskulatur an. Besonders hartnäckige Beweglichkeits defizite lassen sich durch Kombination von AED und AKD beseitigen. Vor der Dehnung wird die Hüftbeugemuskulatur für wenige Se kunden angespannt, und während der Deh nung wird die Hüftstreckmuskulatur an gespannt. ◄
7.5
Sportpsychologie
Frank Hänsel 7.5.1
Grundlagen
Das Erleben und Verhalten von Menschen im Sport – sei es als aktiver Sportler im Leistungssport, Gesundheitssport oder Schulsport, sei es als Multiplikator in der
137 Sportwissenschaftliche Grundlagen
Person eines Trainers, Sportlehrers oder Funktionärs, sei es als Zuschauer – ist Gegenstand der Sportpsychologie. Dabei wird das Erleben und Verhalten von Men schen nicht als Ganzes untersucht, sondern wegen seiner Komplexität in verschiedene psychische Teilsysteme oder Prozesse aus differenziert. Das können beispielsweise mo tivationale, emotionale und kognitive Teil systeme sein oder Prozesse wie Lernen, Ent wicklung und Interaktion mit der Umwelt (Conzelmann et al. 2013). Sportpsychologie Die Sportpsychologie ist eine an gewandte Wissenschaft, die sich mit dem Erleben und Verhalten von Perso nen im Sport sowie den Ursachen und Wirkungen dieses Erlebens und Ver haltens beschäftigt.
Prinzipiell können zwei Leitfragen unter schieden werden, die sich mit „Psychologie im Sport“ und „Psychologie durch Sport“ umschreiben lassen (Nitsch et al. 2004). Zum einen wird untersucht, welche psychi schen Aspekte in welcher Ausprägung zu einer bestimmten sportlichen Aktivität bei tragen (Sport als psychologischer Gegen stand). Dabei ist nicht nur an Fragen zu den ken, die sich unmittelbar im Kontext sport licher Aktivität ergeben, wie „Welche Konzentrationsform führt im sportlichen Wettkampf zur besten Leistung?“, „Welche Motivation ist für ein langfristiges und an strengendes Training günstig?“, „Warum treten Aggressionen in bestimmten sport lichen Situationen auf ?“, „Welche Faktoren der Anstrengungsbereitschaft lassen sich positiv beeinflussen?“ oder „Wie lässt sich diese systematisch trainieren?“, sondern auch daran, wie sportferne bzw. -abstinente Personen dazu bewegt werden können, Sport in ihren Lebensstil zu integrieren. Ge rade für das sportliche Training bei Perso
7
nen mit psychischen Störungen ist diese Frage von besonderer Bedeutung, da diese Zielgruppe in der Regel nicht oder kaum über einen längeren Zeitraum und regel mäßig sportlich aktiv ist. Zum anderen wird in der Sportpsycho logie untersucht, welche Wirkungen durch Sport im psychischen Bereich erzielt werden können (Sport als Mittel psychologischer Intervention). Dabei werden nicht die physiologischen, körperlichen oder medizi nischen Wirkungen thematisiert, sondern die Bedingungen für die Veränderungen und die systematische Förderung unterschied licher psychischer Aspekte, beispielsweise der Teamfähigkeit, des Selbstwerts, der Leistungsbereitschaft, des Wohlbefindens, der Lebensqualität oder der psychischen Gesundheit. Diese Leitfrage nach dem Sport als Mittel psychologischer Interventionen stellt einen zweiten wichtigen Bezug der Sportpsychologie für das Sporttraining bei Personen mit psychischen Erkrankungen dar. 7.5.2
ffekte sportlicher Aktivität E auf die psychische Gesundheit
Wie oben angedeutet, wird in der Sport psychologie eine Vielzahl möglicher Wir kungen sportlicher Aktivität diskutiert und untersucht. Hier wird ein kurzgefasster Ein blick zu der Frage nach den Effekten sport licher Aktivität auf die psychische Gesundheit gegeben. Psychische Gesundheit wird im bio psychosozialen Modell von Gesundheit (Engel 1977) als ein wesentliches Merkmal von Gesundheit angesehen. Dabei wird – wie im klassischen medizinischen Verständ nis der Pathogenese – nicht so sehr das Frei sein von Störungen betont, sondern darüber hinausweisend ein Zustand des Wohl befindens deklariert, der auf der Wahr nehmung zufriedenstellender Möglichkeiten
138
J. Wiemeyer et al.
eigener Aktivitäten und Interaktionen mit der Umwelt beruht. Gesundheit
7
Gesundheit wird für den Bereich der Se kundär- und Tertiärprävention in der International Classification of Functio ning, Disability and Health (ICF) der WHO folgendermaßen definiert (Aus schnitt): „Eine Person ist funktional ge sund, wenn – vor dem Hintergrund ihrer Kontextfaktoren –… sie ihr Dasein in allen Lebensbereichen, die ihr wichtig sind, in der Weise und dem Umfang ent falten kann, wie es von einem Menschen ohne gesundheitsbedingte Beein trächtigung der Körperfunktionen oder -strukturen oder der Aktivitäten erwartet wird (Konzept der Partizipa tion [Teilhabe] an Lebensbereichen)“ (World Health Organization 2005, S. 4).
Psychische Gesundheit Psychische Gesundheit wird von der WHO definiert als „a state of well-being in which the individual realizes his or her own abilities, can cope with the nor mal stresses of life, can work producti vely and fruitfully, and is able to make a contribution to his or her community“ (World Health Organization 2001, S. 1).
In diesem Sinne weist auch die hier genannte funktionale Definition der WHO zur psy chischen Gesundheit über die Abwesenheit von psychischen Störungen hinaus und be tont ebenfalls die Realisierung der vitalen Bedürfnisse des Einzelnen im Kontext einer Gemeinschaft. Die Effekte sportlicher Aktivität auf die psychische Gesundheit werden deshalb nicht nur im Hinblick auf psychische Störungen untersucht, sondern auch auf psychische Ressourcen und Pro tektoren (s. auch 7 Kap. 3).
>>Für die Wirkung sportlicher Aktivität auf die psychische Gesundheit sind nicht nur die präventiven und therapeutischen Effekte auf psychische Störungen von Interesse, sondern auch die Wirkungen auf protektive Faktoren und Gesund heitsressourcen. Ein protektiver Faktor senkt die Wahrscheinlichkeit, dass eine exponierte (widrigen Lebensumständen ausgesetzte) Person erkrankt oder ihre vitalen Bedürfnisse nicht realisieren kann. Eine Ressource erhöht die Wahr scheinlichkeit, die Folgen einer Ex position zu reduzieren.
Die Wirkung sportlicher Aktivität bei ver schiedenen psychischen Störungen wird in 7 Kap. 2 ausführlich behandelt. Für die protektiven und ressourcenstärkenden Ef fekte sportlicher Aktivität werden beispiels weise Veränderungen von Stimmungen, Emotionen, Lebensqualität, sozialem Wohl befinden, Stressregulation, Stressreaktivität, kognitiver Leistungsfähigkeit, Selbstwirk samkeitserwartung oder Selbstwert dis kutiert (Fuchs u. Schlicht 2012; Hänsel 2007). Im Folgenden werden exemplarisch die Effekte sportlicher Aktivität auf emotio nale Aspekte charakterisiert. Während unter Stimmungen in der Regel eher langfristige und unspezifische Erlebnis qualitäten verstanden werden, bezeichnen Emotionen eher intensivere, kurzfristigere Erlebenszustände. Die Erlebenszustände werden als eher angenehm oder unan genehm empfunden, gehen mit unterschied lichen Graden der Aktivierung und (sponta nen) Impulsen der Annährung oder Ver meidung einher. Im Kontext sportlicher Aktivität werden beispielsweise das Spannungserleben, Deprimiertheit, Konfu sion, Müdigkeit, Ärgererleben, Vitalität, Angst, Beschwerdeerleben oder psycho physisches Missbefinden untersucht. Hänsel (2007) berichtet summarisch einen kleinen bis moderaten positiven Effekt sportlicher Aktivität auf die genannten emotionalen
139 Sportwissenschaftliche Grundlagen
Aspekte. Schlicht u. Reicherz (2012) relati vieren allerdings die Behauptung, dass sportliche Aktivität im Allgemeinen das Wohlbefinden und die Stimmung steigere. Sie weisen beispielsweise darauf hin, dass niedrig beanspruchende Aktivitäten in der Regel mit positiven Emotionen einhergehen, bei maximaler Beanspruchung mit negati ven Effekten und bei mittleren Be anspruchungen mit von Person zu Person unterschiedlichen Wirkungen. Unter dem „Selbst“ wird eine relativ sta bile und verallgemeinerte Wissens- und Überzeugungsstruktur zur eigenen Person und der damit verbundenen Prozesse ver standen. In diesem Kontext sind auch Be griffe wie Selbstkonzept, Selbstwert, Selbst bild, Identität oder auch einzelne Bereiche eines globalen Selbst – etwa das Körper selbst – zu sehen. Die bisherigen Befunde deuten darauf hin, dass sportliche Aktivität einen kleinen bis moderaten Effekt auf das physische und globale Selbst aufweist, also sportliche Aktivität zu einer positiven Selbstwahrnehmung beiträgt (Hänsel 2012). Allerdings sind hier ebenfalls moderierende Faktoren zu berücksichtigen. So zeigt sich beispielsweise ein stärker ausgeprägter Ef fekt bei Kindern und Jugendlichen aus kli nisch oder sozial auffälligen Stichproben (Hänsel 2012). 7.5.3
Motivationale und volitionale Bedingungen sportlicher Aktivität
Wie in 7 Abschn. 7.5.1 schon exemplarisch anhand einiger Fragestellungen illustriert, wird in der Sportpsychologie eine große Zahl möglicher psychischer Bedingungen und Faktoren sportlicher Aktivität unter sucht. Im Mittelpunkt der folgenden Dar stellung steht die Frage nach den grund legenden psychischen Bedingungen und Faktoren, die eine regelmäßige und lang
7
fristige sportliche Aktivität begünstigen. Diese Frage ist deshalb interessant, (1) weil nur ein geringer Anteil der Bevölkerung in ausreichendem Maß sportlich aktiv ist, (2) weil sich trotz der Absicht, aktiv zu werden, nur bei ungefähr der Hälfte der Bevölkerung die Absicht in der entsprechenden Hand lung manifestiert (Geidl et al. 2014) und (3) weil sich bei körperlich und psychisch beein trächtigten Personen die beiden vor genannten Gründe noch verschärfen. Im Folgenden werden zwei grundlegende As pekte menschlicher Handlungen als ziel gerichtete und willentliche Aktivitäten be handelt, nämlich Motivation und Volition. Damit steht die Verhaltensprävention im Mittelpunkt dieser Darstellung; die sozia len, organisationalen und technischen Be dingungen des gesellschaftlichen und physi schen Umfeldes werden im Rahmen der Ver hältnisprävention thematisiert. z Motivation
Eine Grundlage für eine Handlung als ziel gerichtete und willentliche Aktivität bzw. deren Veränderung – hier von sportlicher Inaktivität zu Aktivität – ist eine ent sprechende Motivation. Motive kann man als einen überdauernden Zielzustand ver stehen (Heckhausen u. Heckhausen 2010) und Motivation als eine „aktivierende Aus richtung des momentanen Lebensvollzugs auf einen positiv bewerteten Zielzustand“ (Rheinberg 2008). Die Motive für sportliche Aktivität sind vielfältiger Natur. Lehnert et al. (2011) nennen Fitness/Gesundheit, Figur/Aussehen, Kontakt zu anderen Men schen, Ablenkung/Katharsis, Aktivierung/ Freude, Wettkampf/Leistung oder Ästhetik. Die Art der Motivation kann dann wichtig sein, wenn es um eine passende sportliche Aktivität geht (Selbstkonkordanz). In der Literatur wird allerdings eher betrachtet, wie hoch bzw. intensiv die aktivierende Aus richtung auf einen Zielzustand in einer be stimmten Situation ist.
140
J. Wiemeyer et al.
>>Motive kann man als überdauernden Zielzustand auffassen und Motivation als die entsprechende Aktivierung von Handlungen auf diesen Zielzustand hin. Grundlegend sind dabei die Intensität und die Art der Motivation zu unter scheiden.
7
6. die Tendenz, eher auf den Erfolg zu hof fen als den Misserfolg vermeiden zu wol len, 7. die Wahl von mittelschweren Aufgaben, 8. eine Aufgaben- Orientierung gegenüber einer Ego-Orientierung, 9. die Attribution von Erfolgen auf intrinsische Ursachen (vor allem auf die eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten) und Misserfolge auf extrinsische Ursa chen (z. B. auf Schicksal, Zufall, andere Personen) oder auf variable intrinsische Ursachen (z. B. Anstrengung).
Die Stärke der Motivation wird durch ver schiedene Faktoren beeinflusst. Dabei ste hen bestimmte Kognitionen, also Wissens inhalte und Denkprozesse, im Vordergrund. Förderlich sind die Überzeugungen (Con zelmann et al. 2013), 1. dass sich ein gewünschter Zielzustand (z. B. körperliche Fitness) nicht aus der >>Formen intrinsischer Motivation – und Situation von selbst einstellt, ohne dass damit eine Konkretisierung von eine Handlung (z. B. sportliche Aktivi „Spaß“ – sind (1) Freude an bestimmten tät) erfolgt, Bewegungen, (2) das „Aufgehen“ in der 2. dass das gewünschte Ergebnis einen sportlichen Aktivität (Flow) und (3) das hohen Wert/Anreiz aufweist (z. B. Kompetenzerleben. körperliche Fitness ist wichtig), 3. dass die Handlung zu dem gewünschten Freude an bestimmten Bewegungen und Ergebnis führt (Handlungs- Ergebnis- Flow lassen sich in der vorherigen Auf Erwartung; z. B. Sporttraining führt zu zählung von Motivarten am ehesten dem höherer körperlicher Fitness) und Motiv Aktivierung/Freude zuordnen, das 4. dass sich aus dem Ergebnis die ge Kompetenzerleben am ehesten dem Motiv wünschten Folgen ergeben (Ergebnis- Wettkampf/Leistung. Folge-Erwartung; z. B. Gesundheit). Zusammenfassend stellt Fuchs (2007) her aus, dass die Höhe der Motivation im Wesentlichen von zwei Überzeugungen ab hängt, nämlich von der wahrgenommenen Verhaltenskontrolle (Selbstwirksamkeits erwartung) und den erwarteten Vor- und Nachteilen der neuen Handlung (Konsequenzerwartung). Darüber hinaus werden in der Forschung zur Leistungsmotivation weitere förderliche Aspekte genannt (Conzelmann et al. 2013): 5. eine intrinsische Motiviertheit, bei der eine Handlung um ihrer selbst willen durchgeführt wird (z. B. sportliche Aktivität macht Spaß),
z Volition
Eine weitere Grundlage für das Verständnis menschlichen Handelns und für Verhaltens änderungen ist die Volition. Während bei der Motivation die Intentionsbildung bzw. Zielauswahl im Vordergrund steht, werden hier die Intentions- bzw. Zielrealisierung be tont. Das ist der Beobachtung geschuldet, dass Verhaltensabsichten nicht unbedingt in entsprechendes Verhalten münden. Dieses sog. Handlungsloch oder die Intentions- Verhaltens-Lücke tritt vor allem auf, (1) wenn die Motivationsstärke nicht ausreicht, (2) wenn widerstreitende Motivationen oder (3) (innere oder äußere) Hindernisse bei der Umsetzung auftreten. Bei diesen
141 Sportwissenschaftliche Grundlagen
Realisierungsschwierigkeiten sind willent liche Steuerungsprozesse notwendig, um die angestrebte Verhaltensänderung tatsächlich auch zu verwirklichen. Diese Selbststeuerungsprozesse sollen dabei vor allem gedankliche Inhalte (Kogni tionen), Verhaltensweisen und Emotionen unterbinden, die für die Ausführung ir relevant oder sogar störend sind. Beispiele für diese Intentionsabschirmung sind die Aufmerksamkeitslenkung (Vermeiden von Informationen zu konkurrierenden Hand lungen, z. B. Kinoprogramm in der Zeitung ignorieren) oder Nachmotivieren (bei nach lassender Motivation noch einmal die Ziele deutlich vor Augen führen).
7
trebtem Ziel und den persönlichen Inter essen und Werten), 55 die Entschlossenheit, 55 die Selbstverpflichtung und 55 die soziale Unterstützung.
Die Kenntnis dieser grundlegenden psycho logischen Bedingungen und Faktoren, die eine regelmäßige und langfristige sportliche Aktivität begünstigen, ist die Basis für eine Vielzahl von Interventionsmöglichkeiten im Rahmen eines gesundheitsförderlichen Sport trainings. Diese psychologisch und pädago gisch orientierten Hilfen zur Selbsthilfe die nen hauptsächlich dazu, dass die sportliche Aktivität nicht vorzeitig abgebrochen wird und dass die positiven Wirkungen des Sport z Sonstige Bedingungen trainings wahrgenommen werden können Neben diesen beiden grundlegenden Aspek (Fuchs 2007). Dabei ist nicht nur an den Ab ten menschlicher Handlungen werden in bruch während eines Sporttrainings zu den Theorien zum Gesundheitsverhalten – ken, sondern auch an die selbständige Weiter z. B. Health Action Process Approach von führung nach Beendigung eines Sport Schwarzer (2004), Motivations-Volitions- trainings. Gerade der Transfer neu erworbener Prozessmodell von Fuchs (2007), Integrati Handlungsweisen in den Alltag stellt häufig ves Modell zur Initiierung regelmäßiger eine besondere Herausforderung dar. Im Sportaktivitäten von Höner u. Sudeck 7 Exkurs werden einige Beispiele motivatio (2009) – eine Reihe weiterer Faktoren ge naler und volitionaler Hilfen aufgeführt. nannt, die einen Veränderungsprozess be einflussen, beispielsweise >>Die Nachhaltigkeit eines Sporttrainings 55 die Vulnerabilität (wahrgenommene Be bezieht sich aus sportpsychologischer drohung oder Verletzlichkeit durch eine Sicht nicht nur auf die Aufrecht Erkrankung oder einen Risikofaktor), erhaltung sportlicher Aktivität im Rah 55 die Selbstwirksamkeitserwartung (die men eines Sporttrainings (Dabeibleiben), Erwartung eine bestimmte Handlung zur sondern auch auf die Integration in den Verfügung zu haben; z. B. die Erwartung persönlichen Lebensstil (Bindung), bei regelmäßig überhaupt Sport treiben zu spielsweise nach dem Ende eines Sport können trotz Übergewichts oder voriger trainings. Ziel ist die Ermächtigung des Misserfolgserfahrungen), Einzelnen zu einer selbständigen sport 55 die Selbstkonkordanz (das Ausmaß der lichen Aktivität als Teil „alltäglicher“ Übereinstimmung zwischen anges Routine (Empowerment).
142
J. Wiemeyer et al.
Exkurs
In Anlehnung an Fuchs (2007) lassen sich ex emplarisch folgende Interventionen zur Stär kung der Motivation nennen:
7
Motivationale Hilfen 55 Problembewusstsein herstellen: z. B. über die Folgen sportlicher Inaktivität infor mieren 55 Bedrohungserleben verträglich aktivie ren: z. B. das individuelle Erkrankungs risiko verdeutlichen 55 Vor- und Nachteile des alten und des neuen Verhaltens abwägen: z. B. mit Hilfe einer Entscheidungswaage 55 Selbstwirksamkeitserwartung stärken: z. B. sportliche Übungen auswählen, in denen sich die Person als kompetent er lebt 55 Selbstkonkordanz prüfen: z. B. klären, ob die mit dem Sport verfolgten Ziele den eigenen Werten entsprechen 55 Konsequenzerfahrungen bewusst ma chen: z. B. ob sich die Erwartungen erfüllt haben, welche Erfahrungen mit dem Sport gemacht werden Volitionale Hilfen 55 Selbstbeobachtung systematisch an wenden: z. B. ein Trainingstagebuch füh ren 55 Konkrete Umsetzungspläne verwenden: z. B. Was-Wann-Wo-Wie-Pläne für die sportliche Aktivität erstellen
>>Die Sportpsychologie untersucht einer seits die Wirkungen sportlicher Aktivi tät, beispielsweise auf die psychische Gesundheit. Sie untersucht andererseits die Bedingungen und Faktoren sportlicher Aktivität, beispielsweise mo tivationale und volitionale Faktoren. Es
55 Mögliche innere und äußere Hindernisse identifizieren, z. B. wann die Lust an sportlicher Aktivität schwindet 55 Bewältigungsstrategien zum Umgang mit Hindernissen entwickeln (Barrierema nagement), z. B. bei eventuell auftretender Lustlosigkeit vorher eine soziale Ver pflichtung herstellen durch Bindung an eine Sportgruppe, bei Müdigkeit nach der Arbeit nicht nach Hause, sondern gleich zum Sport, bei nachlassender Motivation die positiven Konsequenzen des Sports möglichst lebhaft vorstellen. In der Praxis des Sporttrainings werden die Hilfen zum einen als „zusätzliche“ psychoedukativ-verhaltensorientierte Maß nahmen umgesetzt. Beispiele sind der Einsatz eines Trainingstagebuches, einer Erwartungs abfrage oder eines Zielsetzungsgespräches. Zum anderen werden die Hilfen durch eine systematische Ausrichtung der sportlichen Übungsformen, der Inszenierung des sport lichen Trainings und des Übungsleiterver haltens auf die genannten psychologischen Faktoren realisiert. Ein Beispiel ist das Kennenlernen und Ausprobieren ver schiedener Sportarten im Rahmen eines Sporttrainings und damit das Auffinden der individuell richtigen Sportart, um die Selbst wirksamkeitserwartung oder die Selbst konkordanz zu unterstützen. Weitere Bei spiele finden sich bei Geidl et al. (2014).
zeigen sich im Durchschnitt kleine bis mittlere positive Effekte sportlicher Aktivität auf gesundheitsrelevante pro tektive Faktoren und Ressourcen. Die Nachhaltigkeit eines Sporttrainings wird durch motivationale und volitionale Hil fen zur Selbsthilfe verbessert.
143 Sportwissenschaftliche Grundlagen
Zusammenfassung Die Sportwissenschaft untersucht Fragen rund um Sport und Bewegung auf der Basis verschiedener Wissenschafts disziplinen. Die Kenntnis der sport medizinischen, trainings- und bewegungs wissenschaftlichen sowie sportpsycho logischen Grundlagen trägt zu einer reflektierten Praxis sportlichen Trainings bei Personen mit psychischen Störungen bei. Die wesentlichen Prinzipien und Ziel größen zur Gestaltung von sportlichem Training werden erläutert.
Literatur American College of Sports Medicine (2014) ACSM’s Resource Manual for Guidelines for Exercise Tes ting and Prescription, 7. ed. Wolters Kluwer Health/Lippincott Williams & Wilkins, Philadel phia Appell HJ, Stang-Voss C (2008) Funktionelle Ana tomie, 4. vollst. überarb. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg Arena R, Myers J, Forman DE, LavieCJ, Guazzi M (2013) Should high-intensity-aerobic interval trai ning become the clinical standard in heart failure? Heart failure reviews 18(1):95–105. doi: https:// doi.org/10.1007/s10741-012-9333-z Barbour KA (2009) Depression and Exercise. In: Ehr man JK, Gordon PM, Visich PS, Keteyian SJ (eds) Clinical Exercise Physiology, 2. ed. Human Kinetics, Champaign, pp 169–178 Behm, D. G., & Wilke, J. (2019). Do self-myofascial re lease devices release myofascia? Rolling mecha nisms: A narrative review. Sports Medicine, 49(8), 1173-1181. Birklbauer J (2006) Modelle der Motorik. Meyer & Meyer, Aachen Blair SN, Kohl HW, Paffenbarger RS Jr, Clark DG, Cooper KH, Gibbons LW (1989) Physical fitness and all-cause mortality. A prospective study of healthy men and women. Jama 262(17):2395–2401 Blischke K, Marschall F, Müller H, Daugs R (1999) Augmented Information in Motor Skill Acquisi tion. In: Auweele YV, Baker F, Bidle S, Durand D, Seiler R (Eds) Psychology for Physical Educators. Human Kinetics, Champaign, pp 257–287 Blond, K., Brinkløv, C. F., Ried-Larsen, M., Crippa, A., & Grøntved, A. (2020). Association of high amounts of physical activity with mortality risk: a systematic review and meta-analysis. British jour
7
nal of sports medicine, 54(20), 1195-1201. Doi: https://doi.org/10.1136/bjsports-2018-100393 Bouchard C, Shephard RJ, Stephens T (1994) Physical Activity, Fitness, and Health: International Pro ceedings and Consensus Statement. Human Kine tics, Champaign Buskies W (1999) Sanftes Krafttraining nach dem subjektiven Belastungsempfinden versus Training bis zur muskulären Ausbelastung. Deutsche Zeit schrift für Sportmedizin 50(10):316–320 Committee PAGA (2008) Physical Activity Guidelines Advisory Committee Report. U.S. Department of Health and Human Services, Washington DC Conzelmann A, Hänsel F, Höner O (2013) Indivi duum und Handeln – Sportpsychologie. In: Gül lich A, Krüger M (Hrsg) Bachelorkurs Sport. Springer, Berlin Heidelberg, S 269–335 Cornish AK, Broadbent S, Cheema BS (2011) Interval training for patients with coronary artery disease: a systematic review. European Journal of Applied Physiology 111(4):579–589. doi: https://doi. org/10.1007/s00421-010-1682-5 Daugs R, Blischke K, Olivier N, Marschall F (1989) Beiträge zum visuomotorischen Informations umsatz im Sport. Hofman, Schorndorf Donath, L., Faude, O. (2023). (Evidenzbasierte) Trainingsprinzipien. In: Güllich, A., Krüger, M. (eds) Bewegung, Training, Leistung und Gesund heit. Springer, Berlin, S. 821-827 Dimeo F, Halle M, Henningsen P (2008) Depression. In: Halle M, Schmidt-Trucksäß A, Hambrecht R, Berg A (Hrsg) Sporttherapie in der Medizin. Schattauer, Stuttgart, S 258–290 Effenberg AO (2003) Unbewusste Wahrnehmungs funktionen bei der Bewegungsregulation. In: Mechling H, Munzert J (Hrsg) Handbuch Be wegungswissenschaft – Bewegungslehre. Hof mann, Schorndorf, S 197–217 Effenberg, A.O., Schmitz, G. (2023). Motorisches Ler nen. In: Güllich, A., Krüger, M. (eds) Bewegung, Training, Leistung und Gesundheit. Springer, Berlin, S. 258-308 Ekkekakis P (2009) Let them roam free? Physiological and psychological evidence for the potential of self-selected exercise intensity in public health. Sports Medicine 39(10):857–888. doi: https://doi. org/10.2165/11315210-000000000-00000 Ekkekakis P, Parfitt G, Petruzzello SJ (2011) The plea sure and displeasure people feel when they exer cise at different intensities: decennial update and progress towards a tripartite rationale for exercise intensity prescription. Sports Medicine 41(8):641– 671. doi: https://doi.org/10.2165/11590680-00000 0000-00000 Engel GL (1977) The need for a new model: a chal lenge for biomedicine. Science 196:129–136
144
7
J. Wiemeyer et al.
Fuchs R (2007) Das MoVo-Modell als theoretische Grundlage für Programme der Gesundheits änderung. In: Fuchs R, Göhner W, Seelig H (Hrsg) Aufbau eines körperlich-aktiven Lebens stils: Theorie, Empirie und Praxis. Hogrefe, Göt tingen, S 317–325 Fuchs R, Schlicht W (2012) Seelische Gesundheit und sportliche Aktivität. Hogrefe, Göttingen Fürst D (1999) Titin, ein molekularer Gigant regiert im quergestreiften Muskel. Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin 50(7–8):218–222 Garber CE, Blissmer B, Deschenes MR, Franklin BA, Lamonte MJ, Lee IM, Swain DP (2011) American College of Sports Medicine position stand. Quan tity and quality of exercise for developing and maintaining cardiorespiratory, musculoskeletal, and neuromotor fitness in apparently healthy adults: guidance for prescribing exercise. Medi cine & Science in Sports & Exercise 43(7):1334– 1359. doi: https://doi.org/10.1249/MSS.0b013e 318213fefb Gastin PB (2001) Energy system interaction and rela tive contribution during maximal exercise. Sports Medicine 31(10):725–741 Geidl W, Semrau J, Pfeifer K (2014) Health behaviour change theories: contributions to ICF-based be havioural exercise therapy for individuals with chronic diseases. Disability & Rehabilitation 36(24):2091–2100 Göhner U (1979) Bewegungsanalyse im Sport. Hof man, Schorndorf Golle, K., Mechling, H., Granacher, U. (2023). Ko ordinative Fähigkeiten und Koordinations training im Sport. In: Güllich, A., Krüger, M. (eds) Bewegung, Training, Leistung und Gesund heit. Springer, Berlin, S.910-932 Gordon, B. R., McDowell, C. P., Hallgren, M., Meyer, J. D., Lyons, M., & Herring, M. P. (2018). Asso ciation of efficacy of resistance exercise training with depressive symptoms: meta-analysis and meta-regression analysis of randomized clinical trials. JAMA psychiatry, 75(6), 566-576. Doi: https://doi.org/10.1001/jamapsychiatry.2018.0572 Güllich, A. & Krüger, M. (Hrsg.). (2023). Bewegung, Training, Leistung und Gesundheit. Handbuch Sport und Sportwissenschaft. Springer, Berlin. Güllich A, Schmidtbleicher D (1999) Struktur der Kraftfähigkeiten und ihrer Trainingsmethoden. Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin 50(7– 8):223–234 Hänsel F (2003) Instruktion. In: Mechling H, Mun zert J (Hrsg) Handbuch Bewegungswissenschaft – Bewegungslehre. Hofman, Schorndorf, S 265–280 Hänsel F (2007) Körperliche Aktivität und Gesund heit. In: Fuchs R, Göhner W, Seelig H (Hrsg) Auf bau eines körperlich-aktiven Lebensstils: Theorie, Empirie und Praxis. Hogrefe, Göttingen, S 23–44
Hänsel F (2012) Sportliche Aktivität und Selbst konzept. In: Fuchs R, Schlicht W (Hrsg) Seelische Gesundheit und sportliche Aktivität. Hogrefe, Göttingen, S 142–163 Hänsel, F. & Seelig, H. (2003). Aufmerksamkeits fokus, Distanz und motorische Kontrolle. Psycho logie und Sport, 10 (3), 91-99. Heck H (2006) Muskulärer Energiestoffwechsel und sportlicher Aktivität. Blickpunkt DER MANN 4(4):23–28 Heck H, Schulz H (2002) Methoden der anaeroben Leistungsdiagnostik. Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin 53(7–8):202–212 Heckhausen J, Heckhausen H (2010) Motivation und Handeln. Springer, Berlin Heidelberg Hirtz P (1988) Koordinative Fähigkeiten im Schul sport. Volk und Wissen, Berlin Hohmann A, Lames M, Letzelter M (2002) Ein führung in die Trainingswissenschaft. Limpert, Wiebelsheim Höner O, Sudeck G (2009) Förderung von Sport- und Bewegungsaktivitäten: Evaluation eines Inter ventionsprogramms in der kardiologischen Re habilitation. Schors, Niedernhausen Hossner, E. J., Schiebl, F., & Göhner, U. (2015). A functional approach to movement analysis and error identification in sports and physical educa tion. Frontiers in psychology, 6, 1339. Hu FB, Willett WC, Li T, Stampfer MJ, Colditz GA., Manson JE (2004) Adiposity as Compared with Physical Activity in Predicting Mortality Among Women. New England Journal of Medicine 351(26):2694–2703. doi: doi:https://doi. org/10.1056/NEJMoa042135 Jayakody K, Gunadasa S, Hosker C (2014) Exercise for anxiety disorders: systematic review. British Journal of Sports Medicine 48(3):187–196. doi: https://doi.org/10.1136/bjsports-2012-091287 Kassat G (1995) Verborgene Bewegungsstrukturen. fcv, Rödinghausen Klee A (2003) Methoden und Wirkungen des Dehnungstrainings. Hofman, Schorndorf Krüger K., Mooren FC. (2023). Sportmedizinische Grundlagen: Adaptation des Körpers an Be wegung. In: Güllich, A., Krüger, M. (eds) Be wegung, Training, Leistung und Gesundheit. Springer Spektrum, Berlin, Heidelberg. Doi https://doi.org/10.1007/978-3-662-53410-6_21 Kuhn W (1984) Motorisches Gedächtnis. Hofman, Schorndorf Künzell, S. (2023). Aktuelle Motoriktheorien. In: Güllich, A., Krüger, M. (eds) Bewegung, Trai ning, Leistung und Gesundheit. Berlin, Springer, S.187-203. Lehnert K, Sudeck G, Conzelmann A (2011) BMZI – Berner Motiv- und Zielinventar im Freizeit- und Gesundheitssport. Diagnostica 57(3):146–159
145 Sportwissenschaftliche Grundlagen
Macera CA, Hootman JM, Sniezek JE (2003) Major public health benefits of physical activity. Arthri tis & Rheumatology 49(1):122–128. doi: https:// doi.org/10.1002/art.10907 Marschall F (1999) Wie beeinflussen unterschiedliche Dehnintensitäten kurzfristig die Veränderung der Bewegungsreichweite? Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin 50(1):5–9 Marschall F, Daugs R (2003) Feedback. In: Mechling H, Munzert J (Hrsg) Handbuch Bewegungs wissenschaft – Bewegungslehre. Hofman, Schorn dorf, S 281–294 Mechling H (1999) Fähigkeit - Fertigkeit: Generalität versus Spezifität im Techniktraining. In: Wie meyer J (Hrsg) Techniktraining im Sport. IfS, Darmstadt, S 31–46 Meinel K, Schnabel G (1998) Bewegungslehre – Sport motorik. Sportverlag, Berlin Myers J, Kaykha A, George S, Abella J, Zaheer N, Lear S, Froelicher V (2004) Fitness versus physical acti vity patterns in predicting mortality in men. Ame rican Journal of Medicine 117(12):912–918. doi: https://doi.org/10.1016/j.amjmed.2004.06.047 Neumaier A, Mechling H, Strauß R (2002) Ko ordinative Anforderungsprofile ausgewählter Sportarten. Sport und Buch Strauß, Köln Nitsch J, Gabler H, Singer R (2004) Sportpsycho logie – ein Überblick. In: Gabler H, Nitsch J, Sin ger R (Hrsg) Einführung in die Sportpsychologie. Teil 1: Grundthemen. Hofman, Schorndorf, S 11–42 Nitsch JR (2000) Handlungstheoretischen Grund lagen der Sportpsychologie. In: Gabler H, Nitsch J, Singer R (Hrsg) Einführung in die Sportpsycho logie. Teil 1: Grundthemen, 3. Aufl. Hofman, Schorndorf, S 43–164 O’Connor PJ, Herring MP, Caravalho A (2010) Mental health benefits of strength training in adults. Ame rican Journal of Lifestyle Medicine 4(5):377–396 Olivier N (1997) Zur Fertigkeitsspezifität der Gleich gewichtsregulation. In: Loosch E, Tamme M (Hrsg) Motorik – Struktur und Funktion. Czwa lina, Hamburg, S 72–75 Pan A, Lucas M, Sun Q, van Dam RM, Franco OH, Willett WC, Hu FB (2011) Increased mortality risk in women with depression and diabetes mellitus. Archives of General Psychiatry 68(1):42–50. doi: https://doi.org/10.1001/archgenpsychiatry.2010.176 Panzer S, Büsch D, Shea CH, Mühlbauer T, Naun dorf F, Krüger M (2007) Dominanz visuell- räumlicher Codierung beim Lernen von Be wegungssequenzen. Zeitschrift für Sportpsycho logie 14(3):123–129 Pedersen BK, Saltin B (2006) Evidence for prescribing exercise as therapy in chronic disease. Scandina vian Journal of Medicine & Science in Sports
7
16(1):3–63. doi: https://doi.org/10.1111/j.1600- 0838.2006.00520.x Rheinberg F (2008) Motivation. Kohlhammer, Stutt gart Rose EA, Parfitt G (2012) Exercise experience influen ces affective and motivational outcomes of prescri bed and self-selected intensity exercise. Scandina vian Journal of Medicine & Science in Sports 22(2):265–277. doi: https://doi.org/10.1111/j.16000838.2010.01161.x Roth K (2007) Wie lehrt man schwierige geschlossene Fertigkeiten? In: Bielefelder Sportpädagogen (Hrsg) Methoden im Sportunterricht, 5. Aufl. Hofman, Schorndorf, S 27–46 Schlicht W, Reicherz A (2012) Sportliche Aktivität und affektive Reaktion. In: Fuchs R, Schlicht W (Hrsg) Seelische Gesundheit und sportliche Aktivität. Hogrefe, Göttingen, S 12–33 Schnabel G (1993) Trainingsprinzip. In: Schnabel G, Thieß G (Hrsg) Lexikon Sportwissenschaft, Bd 2. Sportverlag, Berlin, S 883–884 Schöllhorn WI (2005) Differenzielles Lehren und Ler nen von Bewegung – Durch veränderte An nahmen zu neuen Konsequenzen. In: Gabler H, Göhner U, Schiebl F (Hrsg) Zur Vernetzung von Forschung und Lehre in der Biomechanik, Sport motorik und Trainingswissenschaft. Czwalina, Hamburg, S 125–135 Schwarzer R (2004) Psychologie des Gesundheitsver haltens. Hogrefe, Göttingen Strickland JC, Smith MA (2014) The anxiolytic effects of resistance exercise. Frontiers in Psychology 5:753. doi: https://doi.org/10.3389/fpsyg.2014.00753 Swain DP, Franklin BA (2002a) VO2 reserve and the minimal intensity for improving cardiorespiratory fitness. Medicine & Science in Sports & Exercise 34(1):152–157 Swain DP, Franklin BA (2002b) Is there a threshold intensity for aerobic training in cardiac patients? Medicine & Science in Sports & Exercise 34(7):1071–1075 Swain DP, Leutholtz BC (1997) Heart rate reserve is equivalent to %VO2 reserve, not to %VO2max. Medicine and science in sports and exercise 29 (3):410–414 Thielemann N (2008) Modifikation motorischer Lern prozesse durch Instruktionen. BISp, Bonn Thienes, G. (2023). Beweglichkeit und Beweglichkeits training im Sport. In: Güllich, A., Krüger, M. (eds) Bewegung, Training, Leistung und Gesund heit. Springer, Berlin. S. 885-908 Ungerer D (1967) Leistungs- und Belastungsfähigkeit im Kindes- und Jugendalter. Hofmann, Schorndorf Vina J, Sanchis-Gomar F, Martinez-Bello V, Gomez- Cabrera MC (2012) Exercise acts as a drug; the pharmacological benefits of exercise. British Jour
146
7
J. Wiemeyer et al.
nal of Pharmacology:167(1), 1–12. doi: https:// doi.org/10.1111/j.1476-5381.2012.01970.x Warburton DE, Nicol CW, Bredin SS (2006) Health benefits of physical activity: the evidence. Cana dian Medical Association Journal 174(6):801– 809. doi: https://doi.org/10.1503/cmaj.051351 Weineck J (2019) Optimales Training, 17. Aufl. spitta, Balingen Weineck, J., Kemmler, W., Fröhlich, M. (2023). Trainingsziele, -inhalte, -mittel und -methoden im Sport. In: Güllich, A., Krüger, M. (eds) Be wegung, Training, Leistung und Gesundheit. Springer, Berlin. S.758-769 Wiemeyer J (1994) Interne Bewegungsrepräsentation. Bps, Köln Wiemeyer J (2001) Beweglichkeitstraining im Sport. In: Singer R (Hrsg) Neuere Erkenntnisse zum Konditionstraining. IfS, Darmstadt, S 121–155 Wiemeyer J (2003) Motorisches Lernen - Lehr methoden und Übungsgestaltung. In: Mechling H, Munzert J (Hrsg) Handbuch Bewegungs wissenschaft – Bewegungslehre. Hofman, Schorn dorf, S 405–427 Wiemeyer J (2010) Gesundheit auf dem Spiel? – Serious Games in Prävention und Rehabilitation. Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin 61(11):252–257 Wiemeyer, J., Wollny, R. (2023). Technik und Technik training im Sport. In: Güllich, A., Krüger, M. (eds) Bewegung, Training, Leistung und Gesund heit. Springer, Berlin, S.934-945 Williams DM, Dunsiger S, Ciccolo JT, Lewis BA, Al brecht AE, Marcus BH (2008) Acute Affective
Response to a Moderate-Intensity Exercise Sti mulus Predicts Physical Activity Participation 6 and 12 Months Later. Psychology of sport and exercise 9(3):231–245. doi: https://doi. org/10.1016/j.psychsport.2007.04.002 Wilmore JH, Costill DL, Kenney LW (2008) Physio logy of Sport and Exercise, 4. ed. Human Kine tics, Champaign Wolters P (1999) Bewegungskorrektur im Sportunter richt. Hofmann, Schorndorf World Health Organization (2001) Strengthening mental health promotion (Vol. Fact sheet). World Health Organization, Geneva World Health Organization (2005) ICF: Inter nationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. http://www. dimdi.de/dynamic/de/klassi/downloadcenter/icf/ endfassung/icf_endfassung-2005-10-01.pdf Zu gegriffen: 10. Juni 2006 Wulf G (1994) Zur Optimierung motorischer Lern prozesse. Hofmann, Schorndorf Wulf, G. (2013). Attentional focus and motor lear ning: a review of 15 years. International Review of sport and Exercise psychology, 6(1), 77-104. Zimmermann K (1987) Koordinative Fähigkeiten und Beweglichkeit. In: Meinel K, Schnabel G (Hrsg) Bewegungslehre – Sportmotorik. Sportverlag, Berlin, S 242–274 Zinner, C., Sperlich, B. (2023). Belastung und Be anspruchung im sportlichen Training. In: Güllich, A., Krüger, M. (eds) Bewegung, Training, Leis tung und Gesundheit. Springer, Berlin. S. 771-781
147
Trainingssteuerung Josef Wiemeyer, Andreas Bernardi, Christian Thiel und Winfried Banzer
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 V. Oertel, F. Hänsel (Hrsg.), Aktiv für die Psyche, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67880-0_8
8
148
J. Wiemeyer et al.
nnLernziele 55 Kennenlernen von Belastung, Beanspruchung und Adaptation als Kernbegriffe der Trainingssteuerung 55 Kennenlernen der zyklischen Struktur der Belastungssteuerung mit den Phasen Planung, Durchführung, Dokumentation und Auswertung 55 Kennenlernen der relevanten Steuerparameter im Ausdauer-, Kraft-, Flexibilitäts- und Technik- bzw. Koordinationstraining 55 Kennenlernen der relevanten Kontrollmethoden zur Prüfung und Sicherung der Qualität der Trainingssteuerung
8
8.1
Einführung
In diesem Kapitel werden grundlegende Aspekte der Trainingssteuerung eingeführt. Sportliches Training beinhaltet Maßnahmen zur systematischen und planmäßigen Erreichung von Zielen (z. B. Fröhlich et al. 2023). Dies bedeutet, dass Training zunächst einmal geplant werden muss. Allerdings sind Trainingspläne wertlos, wenn die beabsichtigten Trainingseffekte nicht fortwährend überprüft und diese Überprüfungen zur Anpassung der Pläne genutzt werden. Diese Aufgaben sollen durch das Konzept der Trainingssteuerung erfüllt werden. Trainingssteuerung Unter Trainingssteuerung versteht man eine Form der Trainingsregulation, bei der Training geplant und durchgeführt wird und außerdem die Effekte der Trainingsintervention dokumentiert und analysiert werden. In einem kontinuierlichen Kreisprozess können die Trainingsanalysen zu einer Bestätigung oder Veränderung der Trainingspläne führen, welche dann durchgeführt, dokumentiert und erneut analysiert werden.
8.2
Grundlagen der Trainingssteuerung
Im Folgenden erfolgt zunächst eine genauere Differenzierung der bereits in Abschn. 7.4.2 eingeführten Grundlagenbegriffe einer erfolgreichen Trainingssteuerung, Belastung, Beanspruchung und Adaptation, da diese Konzepte den Kern der Trainingssteuerung bilden (Zinner u. Sperlich 2023). Anschließend wird ein allgemeines Modell der Trainingssteuerung vorgestellt und auf die verschiedenen sportmotorischen Trainingsbereiche (Ausdauer, Kraft, Flexibilität, Koordination) angewendet. Aufgrund ihrer großen Bedeutung für die Qualitätssicherung werden die Kontrollmethoden in einem gesonderten Abschnitt (7 Abschn. 8.3) behandelt.
8.2.1
Belastung – Beanspruchung – Adaptation
In Abschn. 7.4.2 wurden bereits die Begriffe „Belastung“, „Beanspruchung“ und „Adaptation (Anpassung)“ eingeführt (Überblick und kritische Diskussion: Fröhlich 2012; Marschall u. Büsch 2014; Olivier 2001; Zinner u. Sperlich 2023). In diesem Abschnitt soll ihre Bedeutung vertieft und auf die Trainingssteuerung bezogen werden. In . Abb. 8.1 wird deutlich, dass im Rahmen von Trainingsinterventionen Belastungen realisiert werden. Diese Belastungen führen in Abhängigkeit von den individuellen Eigenschaften des Organismus zu spezifischen Beanspruchungen; durch diese Beanspruchungen sollen Anpassungen ausgelöst werden, welche zu einer Steigerung der Leistungsfähigkeit führen. Die Belastungen können nach Art, Intensität, Dauer, Umfang, Dichte und Häufigkeit bestimmt werden. Anpassungen können funktionell oder strukturell ausfallen und sich
8
149 Trainingssteuerung
.. Abb. 8.1 Belastungs-Beanspruchungs-Adaptationszyklus nach Arandjelović (2010)
auf verschiedene Komponenten der Leistungsfähigkeit (z. B. Kondition, Koordination oder Psyche) beziehen. Ausgewählte Belastungs- und Beanspruchungsindikatoren in den Bereichen Ausdauer, Kraft, Koordination und Flexibilität werden in . Tab. 8.1 aufgeführt. Diese werden in 7 Abschn. 8.2.3 ff. weiter vertieft. Bereits in 7 Kap. 7 wurde deutlich, dass Anpassungen unterschiedlich ausfallen können: Funktionelle Anpassungen verlaufen relativ schnell, während strukturelle Anpassungen in der Regel eine längere Zeitdauer benötigen. Auch passen sich verschiedene Teilsysteme des Organismus in unterschiedlicher Zeitdauer an (Heterochronizität). Die Anpassungskapazitäten des Organismus sind nicht unbegrenzt. Je mehr bzw. länger trainiert wird, desto geringer fallen die Anpassungen aus, bis schließlich die Anpassungskapazität des Organismus erschöpft ist. Anders formuliert: Je höher das erreichte Leistungsniveau ist, desto höher ist der Aufwand, der zur Auslösung weitere Anpassungen betrieben werden muss.
8.2.2
Modell der Trainingssteuerung
Der Zyklus der Trainingssteuerung besteht aus folgenden Komponenten (. Abb. 8.2): 55 Planung, 55 Durchführung, 55 Kontrolle und 55 Auswertung.
Die Trainingsplanung umfasst insbesondere die Festlegung von Trainingszielen, Trainingsstruktur und Trainingsablauf. Die zeitlichen Komponenten der Planung sind Makrozyklen (mehrere Monate oder eine Saison), Mesozyklen (4 bis 6 Wochen) und Mikrozyklen (3 bis 7 Tage). Das „Atom“ des Trainingsprozesses ist die einzelne Trainingseinheit. Die Trainingsdurchführung wird begleitet von der Trainingsprotokollierung und regelmäßig durchgeführten Leistungskontrollen. Hier können neben Labortests (z. B. Fahrrad- oder Laufbandspiroergometrie) Feldtests (z. B. Tests im Sport oder Alltag) oder (sport-)motorische Tests eingesetzt werden. Die Aus-
8
Zeit in h, min, sec (zwischen einzelnen Sätzen oder Intervallen, zwischen körperlichen Aktivitäten oder Trainingseinheiten)
Gesamtstreckenlängen, verrichtete (physikalische) Arbeit, Gesamttrainingsdauer bei einer bestimmten Belastungsintensität
Kumulierter Energieumsatz, Dauer des Trainings mit einem bestimmten Anstrengungsgrad, Ermüdung (Veränderung der Leistungsfähigkeit)
Pausendauer
Gesamtbelastung*
Gesamtbeanspruchung*
Produkt aus wahrgenommenem Schwierigkeitsgrad und Zeitdauer, Beeinträchtigung der Koordination (neuronale Ermüdung)
Anzahl der Gesamtwiederholungen, Dauer des Koordinationstrainings mit einem bestimmten Anforderungsprofil
* Zur kritischen Diskussion der Ermittlung von Gesamtbelastung bzw. -beanspruchung s. Marschall u. Büsch 2014) 1RM = Einwiederholungsmaximum
Dauer des Trainings mit einem bestimmten Anstrengungsgrad, Ausmaß des Muskelversagens Summe der individuellen Wiederholungen in einem bestimmten%-Bereich des 1RM
Insgesamt gehobene Last in kg, verrichtete (physikalische) Arbeit, Gesamtanspannungsdauer („time under tension“)
Summe der „Dehnspannungen“
Anzahl der Gesamtwiederholungen, Dauer des Dehntrainings, Gesamtdehndauer
Subjektiv: Dehnschwelle oder Dehngrenze Objektiv: „Dehnspannung“ in Nm
Zeit in h, min, sec (für das Absolvieren einer Übung, Zurücklegen einer Distanz, Verrichten physikalischer Arbeit)
Subjektiv: Wahrgenommener Schwierigkeitsgrad Objektiv: Bewegungsergebnis in m, s oder Punkten, elektromyographische Aktivität
Belastungsdauer
Subjektiv: Anstrengungsempfinden (Borg- oder Wanner-Skala) Objektiv: elektromyographische Aktivität
Gelenkwinkel, Bewegungsreiche („range of motion“, ROM), Muskellänge
Subjektiv: Anstrengungsempfinden (Borg-Skala) Objektiv: Herzfrequenz, Laktatkonzentration, Sauerstoffaufnahme
Sensomotorisches Anforderungsprofil einer Übung Informationsmenge pro Zeiteinheit in bit/s
Flexibilität
Intensität der Beanspruchung
Last in kg, Widerstand in Newton oder Newtonmetern, Leistung in Watt
Koordination
Leistung in Watt, Bewegungsgeschwindigkeit in km/h oder m/s
Kraft
Belastungsintensität
Ausdauer
. Tab. 8.1 Belastungs- und Beanspruchungsindikatoren in den Bereichen Ausdauer, Kraft, Koordination und Flexibilität
150 J. Wiemeyer et al.
151 Trainingssteuerung
8
.. Abb. 8.2 Komponenten der Trainingssteuerung nach Hohmann et al. (2002)
wertung des Trainingsverlaufs und der erzielten Trainingswirkungen kann ggf. eine Korrektur der Trainingsplanung erforderlich machen. >>Auch für das Training psychisch erkrankter Personen sollte eine systematische Trainingssteuerung erfolgen. Ziele, Struktur und Verlauf sollten – unter Berücksichtigung der Bedürfnisse und Möglichkeiten der Patienten und in Abstimmung mit dem behandelndem Arzt und/oder des Betreuungsteam – für eine überschaubare Zeit festgelegt werden. Dieses Vorgehen hat vor allem zwei Vorteile: Das Vorgehen ist strukturiert und transparent, und die Motivation der Trainierenden wird unterstützt.
Gerade zu Beginn des Trainingsprozesses sind Leistungskontrollen von großer Bedeutung, um die erreichten Erfolge sichtbar zu machen und die Trainingsmotivation zu stärken oder – bei Ausbleiben der intendierten Effekte – das Training umzustellen. Im Rahmen des in 7 Kap. 13 (Werkzeugkasten) vorgestellten Konzeptes des Zirkeltrainings können z. B. ca. 6 Kontrolltests regelmäßig durchgeführt werden, die das Zielspektrum (Ausdauer, Kraft, Flexibilität und Koordination) angemessen abbilden sollen (Beispiel: je ein Ausdauer- und Flexibilitätstest, zwei Kraftausdauertests und zwei Koordinationstests).
8.2.3
Trainingssteuerung im Ausdauertraining
Die Trainingssteuerung ist immer ein Kompromiss aus Präzision und Praktikabilität. Im Sinne der Präzision sollten erstens die Belastungen bzw. Beanspruchungen möglichst genau festgelegt werden, zweitens sollten die erhobenen Kontrollparameter die angezielten Trainingseffekte (Anpassungen) möglichst präzise repräsentieren. Andererseits sollte der personelle, materielle und zeitliche Aufwand für die Kontrolle der Parameter in einem angemessenen Verhältnis zur erforderlichen Präzision stehen. So ist z. B. bei der Steuerung im Ausdauertraining der Zielgruppe psychisch erkrankter Personen gut zu überlegen, ob man aufwändige Messungen des Stoffwechsels, der hormonellen Steuerung oder des Immunstatus durchführen sollte, oder nicht besser auf einfacher zu erfassende Steuergrößen zurückgreift, welche im Folgenden beschrieben werden. z Steuerparameter
Die Trainingsbelastung kann durch geeignete Belastungsparameter gesteuert werden, z. B. durch Vorgabe von Intensitäten (Beispiel: Lauftempo), Zeitdauern (Beispiel: Laufzeit), Umfängen (Beispiel: Laufstrecke), Pausenzeiten und Häufigkeiten (s. auch 7 Kap. 7 und . Tab. 8.1). Entscheidend ist, welche Beanspruchungen durch die Belastungen ausgelöst werden.
152
8
J. Wiemeyer et al.
Bruttokriterium der aeroben Ausdauerleistungsfähigkeit und damit grundlegender Beanspruchungsindikator ist die maximale Sauerstoffaufnahme. Dieser Parameter zeigt an, wie viel Sauerstoff das komplexe System Atmung-Herz-Blut-Zelle aufnehmen kann. Da dieser Parameter aber – entweder mit fest installierten oder tragbaren Spirometriesystemen – relativ aufwändig gemessen werden muss, ist seine Erhebung unter dem Aspekt der Kosten-Nutzen-Relation zu diskutieren. Ein Ersatzparameter, welcher annähernd linear mit der Sauerstoffaufnahme korreliert, ist erheblich leichter zu messen: die Herzfrequenz. Hier existieren mittlerweile verschiedene Systeme, welche eine kostengünstige und einfache Messung der Herzfrequenz erlauben. Im submaximalen Belastungsbereich folgt die Herzfrequenz der Intensität linear, während sie im maximalen Bereich häufig abflacht; das bedeutet, dass die Intensität im Maximalbereich stärker steigt als die Herzfrequenz. Auch die Herzratenvariabilität (HRV) ist recht einfach zu erfassen. Hier handelt es sich um die Kurzzeit- und Langzeitschwankungen der Herzfrequenz (z. B. Hottenrott 2004). Bei steigender Belastungsintensität sinkt die Herzfrequenzvariabilität, da die Aktivität des Sympathikus zunimmt. Die HRV kann sowohl zur Trainingssteuerung – insbesondere im Bereich geringer bis moderater Intensitäten – als auch zur Trainingskontrolle eingesetzt werden. Auch Atemparameter, insbesondere die Atemfrequenz und – bei zyklischen Sportarten (z. B. Laufen, Schwimmen oder Radfahren) – das Verhältnis von Atmung und Bewegungszyklus können zur Trainingssteuerung herangezogen werden. Objektive Kennwerte des Muskelstoffwechsels, besonders Laktat (s. auch 7 Abschn. 8.3.1) und Ammoniak, lassen
sich leider nur invasiv, z. B. durch Blutentnahme aus dem durch Salbe hyperämisierten Ohrläppchen, erfassen. Die Erfassung und Interpretation dieser Parameter werfen eine Vielzahl von Problemen auf, so dass eine Anwendung in der Zielgruppe dieses Buches verzichtbar erscheint. Eine Reihe weiterer biochemischer Marker für den Zustand verschiedener Systeme des Organismus, z. B. der Immunstatus, der Proteinstoffwechsel und der hormonelle Status, sind für die Forschung interessant, aber für den praktischen Einsatz vergleichsweise aufwändig zu erheben. Diese Parameter liefern wichtige Informationen darüber, wie sich das Training auf den Gesamtzustand des Organismus auswirkt, um mögliche Über- und Unterforderungen durch das Training aufzudecken. Eine Alternative zu den objektiven Beanspruchungsparametern sind subjektive Beanspruchungsindikatoren (Übersicht: Faulkner u. Eston 2008). Hier wird z. B. häufig die Borg-Skala eingesetzt (Borg 2004). Die ursprüngliche RPE-Skala („rating of perceived exertion“) von Borg umfasste – in Anlehnung an die Herzfrequenz – 15 Stufen (von 6 bis 20), welche mit bestimmten Ankerbegriffen, z. B. „extrem leicht“ (7), „etwas anstrengend“ (13) und „extrem anstrengend“ (19) markiert sind. Es hat sich gezeigt, dass die Borg-Skalen im Gesundheits- und Freizeitsport sinnvoll zur Trainingssteuerung eingesetzt werden können (z. B. Heitkamp 2003). >>Zusammenfassend empfehlen wir für die Zielgruppe der psychisch Erkrankten die Messung der Herzfrequenz, evtl. der HRV sowie die subjektive Beanspruchungseinschätzung (z. B. mittels Borg-Skala). Diese Verfahren sind einfach einsetzbar, und ihre Ergebnisse sind relativ leicht zu interpretieren.
153 Trainingssteuerung
► Beispiel für eine Herzfrequenzkontrolle im Rahmen des Zirkeltrainings
Im Rahmen eines Zirkeltrainings mit sechs Stationen können nach jedem Übungsdurchgang oder in bestimmten Zeitabständen sowohl die Herzfrequenz als auch die subjektive Beanspruchung erfasst werden. Zum Erfassen der Herzfrequenz tasten die Teilnehmenden im Stehen oder Sitzen ihren Puls am Handgelenk und zählen die Pulsschläge über 15 Sekunden, wobei die Übungsleitung jeweils Beginn und Ende der Zählperiode ansagt. Dieser Wert wird mit 4 multipliziert und ggf. im Stationsbogen notiert oder in der Übungsgruppe abgefragt – z. B. „Wer hat einen Puls von über 180, 160 usw.?“ (Es können auch die gezählten Rohwerte notiert bzw. abgefragt werden.). Alternativ oder ergänzend kann die subjektive Beanspruchung mit Hilfe der Borg-Skala ermittelt werden. ◄
8
55 Aerob-anaerober Übergang: In diesem Intensitätsbereich (z. B. zwischen 2 und 4 mmol/l Laktat) erfolgt die Energiebereitstellung sowohl aerob als auch anaerob. In diesem Bereich kann man auch das maximale Laktat-Steady-State (MLSS oder MaxLaSS) finden, wo sich die Produktion und Elimination von Laktat die Waage halten. 55 Anaerobe Schwelle: Bei Überschreiten dieser Intensitätsschwelle steigt der Laktatspiegel mit der Zeit exponentiell an. Auch das Atemminutenvolumen beginnt noch steiler anzusteigen (ventilatorische Schwelle 2 oder respiratorischer Kompensationspunkt). Fixe Schwellenkonzepte geben z. B. 4 mmol/l Laktat (Mader-Schwelle) an, während andere Konzepte die Schwelle individuell bestimmen.
z Trainingsbereiche
z Trainingsmethoden und Intensitäten Die Einteilung von Ausdauer- Trainingsbereichen orientiert sich an der Für die im Ausdauertraining eingesetzten Energiebereitstellung. Für ein Re- Methoden sind spezifische Intensitäten chagenerationstraining oder ein sehr leichtes rakteristisch. . Tab. 8.2 stellt diese methodenspeziAusdauertraining werden Belastungen unterhalb der aeroben Schwelle, für ein fischen Intensitäten für das Training der allGrundlagenausdauertraining Belastungen gemeinen aeroben dynamischen Ausdauer im aerob-anaeroben Übergangsbereich zwi- dar (z. B. Laufen oder Schwimmen; s. auch schen der aeroben Schwelle und der indivi- 7 Kap. 7). Welche der Bezugspunkte oder duellen anaeroben Schwelle (IAS) und für deren Kombination am besten geeignet sind, ein intensives Ausdauertraining und Inter- hängt von der zu messenden oder zu trainievalltraining Belastungen an oder über der renden Gruppe, von Rahmenbedingungen individuellen anaeroben Schwelle genutzt und von individuellen Erwägungen ab. Die Übereinstimmung zwischen den Verfahren (Beneke et al. 2011; Mezzani et al. 2012). variiert in Abhängigkeit von LeistungskSchwellenkonzepte (Hofmann et al. 2004) fähigkeit, Medikation, Gesundheitszustand, 55 Aerobe Schwelle: Diese Schwelle be- äußerer Umgebung und weiteren Faktoren schreibt die Intensität, unterhalb derer (7 Kapitel 10, 11 und 12). Die Intensität des Intervalltrainings hängt die Energiebereitstellung fast ausschließlich aerob erfolgt. Hier wird z. B. eine wesentlich vom Belastungs-Pausen-Verhältnis Laktatkonzentration unter 2 mmol/l an- und der Gestaltung der Pause ab. Ein klassigegeben. Bei Überschreiten dieser sches, mittlerweile auch bei kardialen PatienSchwelle steigt das Atemminuten- ten eingesetztes Intervalltraining besteht aus 3 volumen steiler an (ventilatorische bis 6 Intervallen von vier Minuten Dauer bei einer Intensität von 80–90 % der maximalen Schwelle 1).
154
J. Wiemeyer et al.
.. Tab. 8.2 Steuerung der Intensität beim allgemeinen dynamischen Ausdauertraining (Mezzani et al. 2012; Thompson et al. 2010)
8
Leistung an der aeroben und zur anaeroben Schwelle [Geschwindigkeit (km/h) oder Leistung (Watt)]
Maximale aerobe Leistung [Geschwindigkeit (km/h) oder Leistung (Watt)]
Herzfrequenz- Reserve (HRR) [Schläge/min]
Anstrengungsempfinden (RPE) [Borg-Skala (6–20)]
Leichte/ regenerative Dauermethode; Aufwärmen, Cool down
Unterhalb der aeroben Schwelle
30–40 %
30–40 % HRR
11 („leicht“)
Moderate Dauermethode
Oberhalb der aeroben Schwelle
40–60 %
40–60 % HRR
13 („etwas anstrengend“)
Intensive Dauermethode
Knapp unterhalb und im Bereich der anaeroben Schwelle
60–75 %
60–75 % HRR
15 („anstrengend“/ „schwer“)
Intervallmethode
An oder über der anaeroben Schwelle
75–95 % (Belastung) und 20–60 % (Pause)
75–95 % HRR (HRR zur Steuerung nur einschränkt nutzbar)
13 („etwas anstrengend“) bis 17 („sehr anstrengend“)
aeroben Leistung, mit 3-minütigen aktiven Pausen bei 40 % der maximalen aeroben Leistung (Rognmo et al. 2004). Bei derart kurzen und intensiven Intervallen, welche eine zeitökonomische und deshalb möglicherweise auch motivationsfördernde Trainingsvariante darstellen, kann die Herzfrequenz aufgrund der Trägheit des kardiovaskulären Systems nur eingeschränkt zur Steuerung der Intensität herangezogen werden (Reviews in klinischen Kontexten: Arena et al. 2013; Cornish et al. 2011; Taylor et al. 2021). z Belastungsumfang
Es existieren nur wenige gesicherte Aussagen zur Dosis-Wirkungs-Beziehung zwischen Trainingsumfang und -effekt auf die psychische Gesundheit. Es erscheint daher sinnvoll, sich zunächst an allgemeinen Empfehlungen nationaler und internationaler Fachgesellschaften zu orientieren (z. B. Garber et al. 2011). Diese empfehlen für die Prävention und Therapie verschiedener kardialer und metabolischer Krankheitsbilder zwi-
schen 30 und 60 Minuten moderater (40–60 % HRR) bis intensiver (>60 % HRR) aerober Aktivität an 5 Tagen in der Woche. Bei untrainierten Klient:innen gehört bereits schnelles Spazierengehen zu einer moderaten Aktivität. Besteht bereits ein gewisser Trainingszustand und steht vor allem die unmittelbare Steigerung der Leistungsfähigkeit im Vordergrund, können zwei bis drei intensive Ausdauer-Trainingseinheiten mit einer Dauer von mehr als 30 Minuten pro Woche (angeleitet durch den Therapeuten oder, sofern ärztlich freigegeben, als Heimtraining) empfohlen werden (Zielklärung 7 Kap. 9). Für ein risikoarmes, an die individuelle Leistungsfähigkeit angepasstes Training wird bei untrainierten Klienten die Belastung häufig intervallförmig gestaltet (Mezzani et al. 2012). Unter Berücksichtigung der Reaktion auf die Belastung wird die Dauer der Pausen sukzessive reduziert, bis ein kontinuierliches Training möglich ist, und danach wird der Umfang gesteigert.
155 Trainingssteuerung
z Trainingsübungen
Als Trainingsübungen kommen alle zyklischen Ganzkörperbeanspruchungen infrage, z. B. Gehen, Laufen, Schwimmen und Radfahren. Dem Werkzeugkasten in 7 Kap. 13 ist zu entnehmen, dass z. B. Slalomlauf, Walken auf dem Minitrampolin, Joggen und rhythmisches Knieheben geeignete Übungen für die Zielgruppe der psychisch Erkrankten sind. Darüber hinaus können auch die Schritt-, Kick- und Boxelemente des Aerobic-Trainings zur Verbesserung der Ausdauer eingesetzt werden.
8.2.4
Trainingssteuerung im Krafttraining
z Steuerparameter >>Für die Zielgruppe von Personen mit psychischen Störungen ist vor allem das Training der Kraftausdauer relevant, da diese Kraftart für die Stabilisierung von Rumpf, Schulter- bzw. Beckengürtel und der großen Gelenksysteme eine besondere Rolle spielt, insbesondere zur Bekämpfung von Fehlhaltungen wie Rundrücken und Hohlkreuz.
Auch hier existieren zahlreiche Steuerungsparameter, welche die Trainingsbelastung vorgeben, z. B. Last in kg, Widerstand in Newton oder Newtonmetern, Bewegungsgeschwindigkeit oder Leistung in Watt oder Newtonmetern pro Sekunde, Anzahl der Wiederholungen bzw. Serien oder Sätzen, Länge der Pausen und Häufigkeit. Wichtige Kenngrößen für die deduktive Ermittlung von Trainingsbelastungen sind das Einer- Wiederholungs-Maximum (d. h., die Last, welche nur einmal bewegt werden kann) und die isometrische Maximalkraft (d. h., die Kraft, die man maximal gegen einen unüberwindbaren Widerstand aufbringen kann). Diese Parameter setzen häufig den
8
Einsatz von Krafttrainingsmaschinen bzw. geeigneten Messsystemen voraus. Auch beim Krafttraining kann die Beanspruchung des Organismus objektiv ermittelt werden, z. B. durch die tatsächlich realisierte Bewegungsgeschwindigkeit, Laktat oder die elektromyographische Aktivität. Analog zum Ausdauertraining können auch im Krafttraining subjektive Beanspruchungsindikatoren eingesetzt werden, z. B. die sechsstufige Skala von Reuter u. Buskies (2003): 55 Stufe 1 – „sehr leicht“ 55 Stufe 3 – „mittel“ 55 Stufe 4 – „es wird schwer“ 55 Stufe 6 – „sehr schwer“ Diese Skala (besonders die Stufe 4) hat sich im Breiten-, Freizeit- und Schulsport bewährt. Bei dieser Beanspruchungsintensität werden ca. 15 Wiederholungen und zwischen 40 und 70 % der Maximalkraft erreicht. Es liegt die Vermutung nahe, dass diese Skala auch bei psychisch Erkrankten sinnvoll eingesetzt werden kann. >>Für das Training der Kraftausdauer in der Zielgruppe psychisch erkrankter Personen wird empfohlen, nach subjektiven Beanspruchungskriterien (Stufe 4 der Skala von Reuter u. Buskies 2003) zu trainieren. Diese Art der Trainingssteuerung ist ökonomisch und führt sowohl zu Kraftausdauer- als auch zu Maximalkraftzuwächsen. ► Beispiel für den Einsatz des sanften Krafttrainings
In einem Vortest wird für eine Kraftübung mit Thera-Band® (z. B. Biceps-Curls oder Über-Kopf-Strecken der Arme; s. Werkzeugkasten 7 Kap. 13) zunächst die Ausgangsstellung (Bandvorspannung) bzw. die Bandstärke gewählt. Diese Übung kann mit 15 Wiederholungen durchgeführt werden.
156
J. Wiemeyer et al.
Mit diesen Einstellungen wird die Kraftübung in der nächsten Sitzung ausgeführt. Dabei werden die absolvierten Wiederholungen gezählt und ggf. dokumentiert. Mit zunehmendem Fitness-Level müssen die Belastungsparameter angepasst werden, z. B. durch Auswahl eines stärkeren Thera- Bandes®. ◄
z Trainingsmethoden
. Tab. 8.3 gibt einen Überblick über die Belastungssteuerung bei gängigen Methoden des Krafttrainings in der Rehabilitation und im Gesundheitssport und die mit diesen Methoden zu erzielenden Anpassungserscheinungen (Diemer u. Sutor 2011; Güllich u. Schmidtbleicher 1999; Hohmann et al. 2010). Die Reihung der Methoden in der Tabelle entspricht der Reihung, wie sie im Verlauf eines mehrere Monate dauernden Trainings empfohlen wird. Die hier genannten Intensitäten gelten auch für weniger belastbare Zielgruppen, beispielsweise für Senioren (Mayer et al. 2011). Zu psychiatrischen Patienten sind aktuell keine empirischen Erkenntnisse zur Trainingsgestaltung bekannt. Zwischen Krafttrainingseinheiten für die gleiche Muskelgruppe sollten 48 Stunden Pause liegen. Ausdauerreize für die gleiche Muskelgruppe in zeitlicher Nähe überlagern den Krafttrainingseffekt, insbesondere wenn sie nach dem Krafttraining gesetzt werden. Ein sachgemäß ausgeführtes Training mit submaximalen Kontraktionen (Hypertrophietraining) führt nach frühestens sechs Wochen zu einer Vergrößerung des Muskelquerschnitts. Es beeinträchtigt allerdings (ebenso wie andere Krafttrainingsformen) vorübergehend die neuromuskuläre Leistungsfähigkeit (Güllich u. Schmidtbleicher 1999).
8
► Beispiel: Belastungssteuerung Hypertrophietraining
beim
Für ein Hypertrophietraining wird gemäß . Tab. 8.3 eine Wiederholungszahl von 8 bis 15 Wiederholungen angestrebt. Ausgehend von einem sehr niedrigen Widerstand und unter Berücksichtigung des Anstrengungsempfindens des Patienten steigert der Therapeut das Gewicht, bis dieses mit erheblicher Anstrengung (z. B. Borg-Skala 17, „sehr anstrengend“), aber bei sauberer Übungsausführung 12mal bewegt werden kann. ◄
z Belastungsumfang
Trainingseinheiten mit psychisch Erkrankten enthalten je nach Dauer und Schwerpunktsetzung zwischen 3 und 10 unterschiedliche Kraftübungen. Solange der Muskel wirklich erschöpft wird, kommt es durch ein Ein-SatzTraining in den ersten Wochen eines neu aufgenommenen Krafttrainings durchaus zu einem Kraftzuwachs. Dies gilt insbesondere für die oberen Extremitäten. In der Praxis werden in einem Programm zudem häufig unterschiedliche Übungen gewählt, welche die gleichen Muskelgruppen mehrmals belasten, so dass diese Muskelgruppen real mehreren Sätzen ausgesetzt sind (z. B. Beinpresse und Leg Extensions, die beide den M. quadriceps femoris beanspruchen). Die Anzahl der Sätze sollte aber nach einigen Wochen Training (spätestens nach 2–3 Monaten) mit zunehmendem Leistungsniveau gesteigert werden. Falls organisatorische Rahmenbedingungen die Trainingszeit begrenzen, kann bereits mit einer Trainingseinheit pro Woche insbesondere bei wenig trainierten Muskelgruppen ein überschaubarer Trainingseffekt erzielt werden, welcher in kurzer Zeit erreicht wird und sich dann nicht weiter steigern lässt. Für eine günstige Relation zwischen Trainingsaufwand und -effekt werden zwei Einheiten pro Woche empfohlen.
30–50 %
40–70 %
65–80 %
85–95 %
Unvollständige Ermüdung
Kraftausdauer- Methoden (einschl. sanftes Krafttraining)
Submaximale Kontraktionen
Maximale Kontraktionen
1RM = Einwiederholungsmaximum
Intensität [% 1RM]
Methode
1–5
8–15
15–25
10–15
Wiederholungen
3–5
1–4
1–4
2–3
Serien
4–5
2–3
0,5–2
2
Serienpause [min]
. Tab. 8.3 Methodenabhängige Belastungssteuerung im Krafttraining
Zügig bis explosiv 1-0-1
Langsam bis zügig 1-0-1, 3-0-1
Langsam bis zügig 1-0-1, 2-0-2
Langsam 2-0-2
Tempo [Sekunden konzentrische – isometrische –exzentrische Arbeit]
4–8
6–16
4–8
1–3
Trainingsdauer [Wochen]
Intramuskuläre Koordination (Ausnutzung des Muskelpotentials), Maximalkraft
Hypertrophie, Maximalkraft
Enzymatische Anpassungen, energetische und neuronale Ermüdungsresistenz
Intermuskuläre Koordination, Erlernen der Bewegung
Schwerpunkt der Adaptation
Trainingssteuerung 157
8
158
J. Wiemeyer et al.
Zur Konservierung des Kraftleistungsniveaus ist ein geringerer Trainingsumfang notwendig als zur Verbesserung. In der Regel reicht dazu ein einmal wöchentlich durchgeführtes Krafttraining aus. z Trainingsübungen
8
Krafttrainingsübungen sollten im Sinne einer allgemeinen Kräftigung nach Möglichkeit generell über das gesamte schmerzfreie Bewegungsausmaß ausgeführt werden. Kriterien einer adäquaten Übungsausführung sind eine erkennbare Umsetzung des Bewegungsrhythmus und einer gleichbleibenden Bewegungsgeschwindigkeit über das gesamte Bewegungsausmaß sowie die Stabilisation nicht beteiligter Gelenke (keine Ausweichbewegungen). Kriterien für die Übungsauswahl sind u. a.: 55 Einsetzbarkeit im Sinne einer allgemeinen Kräftigung mit Schwerpunkt Kraftausdauer. 55 Dosierbarkeit der Belastung und Monitoring des Trainingsfortschritts. –– Geräte, Freihanteln und Seilzüge ermöglichen es besser, die Belastung genau zu reproduzieren und bei Bedarf (Leistungssteigerung, Schmerzen) in kleinen Stufen anzupassen, als z. B. ein Thera-Band®. 55 Übertragbarkeit auf Alltags-/Sportartbedingungen. –– Ausgangsposition und Winkelstellungen lassen sich meist variieren. Sofern schmerzfrei und sicher durchführbar, sind spezifische Trainingsformen zu bevorzugen. 55 Freiheitsgrade und koordinativer Anspruch. –– Ein Training am Seilzug, und noch mehr mit Freihanteln oder Langhanteln, ist in der Regel schwieriger zu erlernen, bietet aber in vielen Fällen ein spezifischeres, koordinativ anspruchsvolleres und zeitlich effizienteres Training ganzer Muskelgruppen als geführte Übungen an Geräten.
–– Trainingsmittel wie Sling, Pezzibälle und instabile Unterlagen bieten vielfältige Möglichkeiten, das koordinative Anforderungsprofil einer Kraftübung zu modifizieren. 55 Sicherheit. Generell sollten die ausgewählten Übungen ein geringes Verletzungsrisiko aufweisen. –– Geführte Geräte geben insbesondere Anfängern ein Gefühl der Sicherheit und lassen sich häufig so einstellen, dass Risiken minimiert werden. Adäquate Einweisung und Unterstützung, Platzverhältnisse und Trainingsmittel vorausgesetzt, stellen Frei- und Langhanteltraining aber ebenfalls eine sichere Option dar. –– Ob die Auftrittshäufigkeit negativer Effekte (z. B. Muskelkater oder Schmerzen an Muskeln oder Gelenken) in Abhängigkeit der Übungsform variiert, ist unzureichend untersucht. 55 Kosten und Verfügbarkeit. –– Sobald Patienten nach ärztlicher und therapeutischer Einschätzung in der Lage sind, selbstständig zu trainieren, ermöglichen Thera-Band®, Expander, leichte Hanteln und Übungen gegen das eigene Körpergewicht ein Training zuhause. 55 Kardiorespiratorische Beanspruchung. –– Bei älteren und wenig belastbaren Patienten führen mehrgelenkige Übungen, bei denen eine große Muskelmasse aktiv ist (z. B. die beidbeinige Kniebeuge) zu einer erheblichen Beanspruchung des Kreislaufs. Zudem müssen Patientenmit kardialen Risiken mit Blick auf den Blutdruck in der Lage sein, die Übung ohne Pressatmung durchzuführen. Das Erlernen der korrekten Atmung sollte also obligatorischer Bestandteil der Übungseinweisung sein. Außerdem sollten maximale Intensitäten möglichst vermieden werden (vgl. Weineck 2000).
8
159 Trainingssteuerung
–– Bei vielen alltäglichen Bewegungen (z. B. Treppen herabsteigen) spielen exzentrische Belastungsanteile eine Rolle. Ein exzentrisches Training hat in energetischer Hinsicht bei der Arbeit mit kardial nur gering belastbaren Patienten den Vorteil, dass es das Herz-Kreislauf-System weniger belastet als ein konzentrisches Training mit dem gleichen Widerstand (4– 5mal geringerer energetischer Aufwand; Isner-Horobeti et al. 2013). Deshalb ist dieses Training für diese Zielgruppe – in geeigneter Dosierung – grundsätzlich zu empfehlen; allerdings ist die Gefahr von Muskelkater – gerade bei den ersten Anwendungen – zu beachten. Innerhalb einer Trainingseinheit werden nach dem Aufwärmen zunächst Hauptübungen (mehrere Gelenke beteiligt, viele Freiheitsgrade, koordinativ anspruchsvoller) und dann Nebenübungen (geführt an Geräten) durchgeführt. In 7 Kap. 13 werden zahlreiche Übungen zur Kräftigung von Schultergürtel, Rumpf bzw. Rücken sowie unterer und oberer Extremität dargestellt. Der Einsatz des Thera-Bands® als leicht verfügbares und leicht anzuwendendes Trainingsgerät wurde oben bereits differenziert diskutiert und ermöglicht – mit gewissen Einschränkungen – eine individualisierte Belastungsdosierung.
8.2.5
Trainingssteuerung im Fertigkeits- und Koordinationstraining
7 Kap. 7 vorgestellten Bewegungsstrukturansätze sowie der KAR (Koordinations- Anforderungs- Regler)-Ansatz von Neumaier et al. (2002) können helfen, die objektive Belastung (Komplexität und Anforderungsprofil der koordinativen Aufgaben) zu ermitteln. Beanspruchungsparameter beziehen sich beim Koordinationstraining primär auf die Informationsaufnahme und -verarbeitung, d. h., auf die geforderten psychophysischen Ressourcen, z. B. Aufmerksamkeit, Konzentration, Kognition und Wahrnehmung (Farrow u. Robertson 2017). In 7 Kap. 7 wurden einige Maßnahmen genannt, die zu einer Entlastung der Informationsverarbeitung führen können, z. B. der Einsatz von Metaphern und Analogien. Die Beanspruchung der Informationsaufnahme kann – mit entsprechendem technischem Aufwand – objektiv ermittelt werden, z. B. durch Reaktionszeitmessungen, Doppelaufgaben, Flimmerverschmelzungsfrequenz, Pupillometrie und peripher-physiologische Indikatoren (u. a. Herzfrequenz, HRV, Hautleitfähigkeit und Hauttemperatur). Die subjektive Einschätzung kann durch zahlreiche Instrumente erfasst werden, z. B. durch Stimmungs- und Befindlichkeitsskalen. Diese Skalen sind allerdings nicht spezifisch für das Koordinationstraining, sondern fragen die aktuelle Stimmung bzw. Befindlichkeit allgemein ab. Für die Festlegung von Intensität, Umfang etc. sind keine wissenschaftlich fundierten Empfehlungen verfügbar. Informationen zu Trainings- bzw. Vermittlungsmethoden sowie Empfehlungen zum Einsatz von Instruktionen und Korrekturen werden in 7 Kap. 7 gegeben. In . Tab. 8.4 sind noch einmal wesentliche Aspekte zusammengefasst. Die Auswahl der Trainingsübungen sollte nach verschiedenen Gesichtspunkten erfolgen: 55 Transferpotenzial für Alltags-, Berufsund Sportsituationen,
Kernziele im Koordinationstraining sind die Erweiterung des Bewegungs- und Handlungsspielraums sowie die Stärkung der Handlungssicherheit. Dabei wurde bereits ein mehr oder weniger spezifisches Fertigkeitstraining und ein allgemeines Koordinationstraining unterschieden. Die in
160
J. Wiemeyer et al.
. Tab. 8.4 Fertigkeits- und Koordinationstraining – Ziele, Methoden und Anwendungshinweise
8
Ziel
Methode
Anwendungshinweise
Erwerb einer Fertigkeit
Strukturiertes Üben
Einsatz von Erleichterungen und Orientierung Instruktionen: einfach, bimodal, anschaulich, umweltgebunden, räumlich, Metaphern, Analogien Korrekturen: grob, motivierend
Festigung einer Fertigkeit
Strukturiertes und unstrukturiertes Üben
Variation situativer und externer Einflüsse Instruktionen: zunehmend komplexer, taktil-kinästhetisch Korrekturen: fein, Eigenbewertung, abnehmende Häufigkeit
Variable Verfügbarkeit und Transfer einer Fertigkeit
Unstrukturiertes und variables Üben
Randomisiertes und differenzielles Üben Instruktionen: komplex, multimodal
Allgemeines Koordinationstraining (koordinative Fähigkeiten)
Variables Üben
Gleichgewicht, Orientierung, Differenzierung, Reaktion, Koppelung, Rhythmus KAR (Koordinations-Anforderungs-Regler)- Modell
55 individuelle Präferenzen sowie 55 Potenzial zur Vermittlung von Erfolgserlebnissen. Dementsprechend finden sich im Werkzeugkasten (7 Kap. 13) zahlreiche Übungen zur Verbesserung der Gleichgewichts-, Rhythmus-, räumlichen Orientierungs- und Koppelungsfähigkeit sowie Koordination unter Präzisions- und Zeitdruck.
8.2.6
Trainingssteuerung im Flexibilitätstraining
Das Flexibilitätstraining beinhaltet – neben Kraft- und Koordinationstraining – Dehninterventionen. Dehnbelastungen lassen sich – analog zum Ausdauer- und Krafttraining – nach Intensität (Muskellänge bzw. Bewegungsamplitude), Dauer, Umfang, Dichte (Pausendauer) und Häufigkeit charakterisieren. Eine objektive Belastungssteuerung lässt sich insbesondere durch Dehnmaschinen erreichen. Hierzu eignen sich die meisten isokinetischen Kraftgeräte. Aber auch ein einfacher Kraftsensor, den
man am zu dehnenden Körperteil befestigt, kann eingesetzt werden. Objektive Beanspruchungsgrößen sind Kraft bzw. Drehmoment beim Dehnen. Subjektiver Beanspruchungsindikator ist die Wahrnehmung der Dehnintensität. Hier werden vor allem drei Aspekte unterschieden (vgl. Klee 2003; Marschall 1999): Dehnschwelle (erste merkliche Zunahme der Dehnungsspannung; submaximal-weich), Dehngrenze (unangenehmes, aber noch aushaltbares Dehngefühl, submaximale Intensität) und maximale Intensität (größtmögliches, sofort wieder aufzulösendes Dehngefühl). Die verschiedenen Dehnmethoden sowie Empfehlungen zu den Belastungsnormativen werden in 7 Kap. 7 gegeben. In . Tab. 8.5 werden die relevanten Belastungsnormative vergleichend gegenüber gestellt. Die im Werkzeugkasten (7 Kap. 13) aufgeführten Flexibilitätsübungen können durch gezielte Auswahl der verschiedenen Methoden bzw. Veränderung der Belastungsnormative flexibel an die jeweiligen individuellen Voraussetzungen angepasst werden.
161 Trainingssteuerung
8
. Tab. 8.5 Methoden, Belastungsnormative und Ausführungshinweise zum Dehntraining Dehnmethode
Intensität
Dauer
Wiederholungen
Ausführung
Aktiv-statisch
Maximal
< 2 s
15–20
Submaximal
15–30 s
3–5
Dehnstellung langsam einnehmen und halten
Weich
15–45 s
3–5
Aktiv-dynamisch
Maximal
< 2 s
15–20
Dehnstellung zügig bis schnell einnehmen und wieder auflösen
Passiv-statisch
Maximal
< 2 s
15–20
Submaximal
15–30 s
3–5
Dehnstellung langsam einnehmen und halten
Weich
15–45 s
3–5
Passiv-dynamisch
Maximal
< 2 s
15–20
Dehnstellung zügig bis schnell einnehmen und wieder auflösen
AED bzw. CHRS
Submaximal
15–30 s
3–5
Muskel kurz anspannen, Anspannung halten und langsam auflösen, dehnen
AKD
Submaximal
15–30 s
3–5
Dehnstellung langsam einnehmen, dabei Antagonisten anspannen
Abkürzungen: AED – Anspannungs-Entspannungs-Dehnen; CHRS – Contract-Hold-Relax-Stretch; AKD – Antagonisten-Kontraktionsdehnen (s. auch 7 Kap. 7)
Qualitätssicherung durch Trainingskontrolle (Evaluation)
8.3
In . Abb. 8.2 wurde bereits deutlich, dass die Kontrolle des Trainings in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung ist: Die angezielten Trainingseffekte müssen überprüft werden, und bei Abweichungen muss die Trainingsplanung entsprechend angepasst werden. Des Weiteren kann durch die Trainingskontrolle die Motivation der Teilnehmenden verbessert werden, indem Erfolge sichtbar gemacht werden. In dieser Hinsicht sollten neben den klassischen Kontrollmethoden auch subjektive Erfahrungen wie z. B. weniger anstrengendes Treppensteigen, geringere Atembeschwerden oder verbessertes Wohlbefinden angesprochen werden, um kleine Erfolgserlebnisse zu vermitteln und dadurch die Selbstwirksamkeitsüberzeugung zu stärken.
Im Folgenden werden die verfügbaren Kontrollmethoden für die vier Trainingsbereiche erläutert. 8.3.1
Kontrollmethoden beim Ausdauertraining
Eine Ausdauer-Leistungsdiagnostik ermittelt u. a. die individuelle physiologische Antwort des Herz-Kreislauf-Systems, der Blutlaktatkonzentration oder der Atemgase unter variierenden Belastungsbedingungen, meist anhand einer stufen- oder rampenförmig gleichmäßig ansteigenden 10- bis 30minütigen Belastung. Die Bestimmung von Laktat- oder Atemgasschwellen gilt als zuverlässige und genaue Option zur Identifikation günstiger Trainingsintensitäten sowie zur Bestimmung der Leistungsfähigkeit im Labor oder im Feld (Beneke et al. 2011; Thompson et al. 2010).
162
8
J. Wiemeyer et al.
Bei einem solchen Test steigt der individuelle Energiebedarf (bzw. die Sauerstoffaufnahme als dessen Indikator) über das gesamte Leistungsspektrum weitgehend linear mit der Belastungsintensität an. Die Blutlaktatkonzentration dagegen steigt bei niedrigen Belastungen zunächst nicht an. Erst an der sog. aeroben Schwelle beginnt die Blutlaktatkonzentration anzusteigen. Der Laktatanstieg wird mit zunehmender Belastung immer steiler. Die anaerobe Schwelle ist der Bereich des maximalen Laktat Steady State, an dem sich Laktatbildung und -abbau im Gleichgewicht befinden (Beneke et al. 2011; Thompson et al. 2010). Über die Messung des Laktatwertes im Blut kann man demnach – mit gewissen Einschränkungen (Heck 1990) – die Energiebereitstellung im Muskel einschätzen. Bei Labortests werden Fahrradergometer und Laufbandergometer am häufigsten eingesetzt. Für sportartspezifische Leistungstests werden entweder Spezialergometer (z. B. Rudern und Schwimmen) oder Feldtests mit mobilen Messsystemen (z. B. mobile Spirometrie bzw. kardiorespiratorische Diagnostik, Laktatdiagnostik) eingesetzt. Diese Tests sind ein guter Kompromiss aus sportartspezifischem Belastungsprofil und annehmbarer Messgenauigkeit. Ein Beispiel ist der (umstrittene) Conconi-Test, ein stufenförmiger Feldbelastungstest, der die anaerobe Schwelle über die Herzfrequenz bestimmt. Die praktikabelsten, aber auch fehleranfälligsten Kontrollmethoden sind sportmotorische Tests: Hier wird entweder die Belastungszeit (z. B. 12 Minuten beim Cooper-Test oder 6-Minuten-Lauf bei Kindern) oder die Strecke (z. B. 600-yards-Lauf oder 2-km-Gehtest) vorgegeben. Trotz zahlreicher möglicher Fehlerquellen zeigen Ausdauertests befriedigende bis gute Reliabilitäts- und Validitätswerte (Bös 2017). Für die Kontrolle des Ausdauertrainings bei psychisch Erkrankten sind sportmotorische Tests aufgrund möglicher psychischer Komplikationen nur einsetzbar,
wenn die Testinstruktionen korrekt verstanden und umgesetzt werden können. Unter dieser Voraussetzung können sie – als relativ grobe Kontrollverfahren – vor, während und nach dem Training eingesetzt werden. Es bietet sich an, diese Tests durch eine Messung der Herzfrequenz zu ergänzen, um neben der Leistung auch die Beanspruchung des Herz-Kreislauf-Systems zu registrieren. Eine sinnvolle und sichere Art der Leistungsdiagnostik ist eine stufenförmige (Spiro-)Ergometrie auf dem Fahrrad, bei der nicht nur die physikalische Leistung (z. B. absolute oder relative maximale Wattzahl oder PWC bei definierten HF-Werten), sondern auch kardiorespiratorische und metabolische Leistungsindikatoren erfasst werden können. Bei der Spiroergometrie ist zu beachten, dass das Tragen der Atemmaske zu psychischen Beanspruchungen und als Folge zu einer mangelnden Ausbelastung führen kann. 8.3.2
Kontrollmethoden beim Krafttraining
Beim Krafttraining stellt die Ermittlung des 10- oder 15-Wiederholungsmaximums (später des Einwiederholungsmaximums) ein reliables und valides Mittel der Kraftdiagnostik und Verlaufskontrolle dar (Schlumberger u. Schmidtbleicher 2000). Es empfiehlt sich, eine Übung zu wählen, die eine möglichst hohe externe Validität mit Blick auf die Funktionsfähigkeit in Alltag aufweist. Isometrische Krafttests, z. B. unter Verwendung von Dehnmessstreifen, geben den Kraft-Zeit-Verlauf einer isometrischen Muskelkontraktion wieder und erlauben die reliable und valide Ermittlung des Kraftanstiegs (der Rekrutierungsgeschwindigkeit) und der isometrischen Maximalkraft. Isometrische Krafttests haben den Nachteil, dass ein einzelner Test immer nur in einem bestimmten Gelenkwinkel durchgeführt werden kann (Schlumberger u. Schmidtbleicher 2000).
163 Trainingssteuerung
Biomechanische Testverfahren, z. B. eine Sprungdiagnostik, sind auf der einen Seite sehr genau, erfordern aber auf der anderen Seite einen hohen apparativen Aufwand. Ähnliches gilt für isokinetische Krafttests. Sportmotorische Tests, welche die isometrische Kraftausdauer registrieren (Beispiel für eine Testaufgabe für Rückenstrecker und ischiocrurale Muskulatur in Bauchlage: Beine sind bis zur Hüfte fixiert; der ungestützte Oberkörper soll möglichst lange in der Horizontalen gehalten werden) erfordern einen geringen apparativen Aufwand und sind leicht in großen Gruppen durchführbar, jedoch eingeschränkt reliabel und von geringem prädiktiven Wert (Oesch et al. 2011). Für die Zielgruppe der psychisch Erkrankten bieten sich sportmotorische Krafttests aufgrund der relativ einfachen Durchführbarkeit – bei akzeptabler Reliabilität und Validität – an.
Für die Diagnostik koordinativer Fähigkeiten eignen sich besonders sportmotorische Testbatterien. Aufgrund des fertigkeitsübergreifenden Charakters müssen immer mehrere Tests durchgeführt werden. Zusätzlich sind Sicherheitsaspekte zu beachten, z. B. das Sturzrisiko bei Gleichgewichtstests. Sportmotorische Tests verfügen im Allgemeinen über ausreichende Gütekriterien (z. B. Bös 2017; Bös et al. 2009). Für die Diagnostik von Fertigkeits- und Koordinationsniveau werden für die Zielgruppe der psychisch Erkrankten sportmotorische Tests empfohlen. Sie sind mit vertretbarem Aufwand durchführ-, auswertund interpretierbar und weisen – bei korrekter Durchführung – akzeptable Werte für Objektivität, Reliabilität und Validität auf. 8.3.4
8.3.3
Kontrollmethoden beim Koordinationstraining
Das Fertigkeitsniveau lässt sich mit Hilfe biomechanischer Methoden in Labor und Feld erfassen. Allerdings erfordern biomechanische Messungen – wie bereits erwähnt – einen relativ hohen Aufwand und sind nicht für den Routineeinsatz in der Praxis geeignet. Sportmotorische Tests können sowohl für (sport-)motorische Fertigkeiten als auch für koordinative Fähigkeiten eingesetzt werden. Sinnvoll ist es, nicht nur einen Leistungsscore (z. B. Wurfgenauigkeit oder Sprungweite) zu erfassen, sondern zusätzlich die Qualität der Bewegungsausführung zu beurteilen. Dies erfordert allerdings die Anwendung eines aus einer differenzierten Bewegungsanalyse abgeleiteten Bewertungsschemas, das für jede Fertigkeit spezifisch entwickelt werden muss. In wissenschaftlichen Untersuchungen eingesetzte Beurteilungsverfahren haben sich als ausreichend objektiv, reliabel und valide erwiesen (z. B. Wiemeyer 1997).
8
Kontrollmethoden beim Flexibilitätstraining
Da das Ausmaß der Bewegungsreichweite immer von verschiedenen Faktoren, z. B. Dehnkraft bzw. drehmoment und Dehntoleranz, abhängt, ist es unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten erforderlich, nicht nur die Bewegungsreichweite zu erfassen. Genauer ist die Erfassung der Beziehung zwischen der Dehnkraft und der resultierenden Bewegungsreichweite bzw. Muskellänge. Zur Erfassung von Dehnkraft bzw. Dehnmoment eignen sich entweder biomechanische Kraftsensoren (z. B. Klee 2003) oder isokinetische Krafttrainingsgeräte bzw. motorgetriebene Diagnostikgeräte (z. B. Schönthaler u. Ohlendorf 2003). Dieses Vorgehen ist also mehr oder weniger aufwändig und erfordert den Einsatz kostspieliger apparativer Diagnostik. Auch hier sind sportmotorische Einfachoder Komplextests eine praktikable Alternative, die – bei korrekter Ausführung – Ergebnisse ausreichender Güte liefert. Einfache Komplextests (z. B. Rumpfvorbeugen im Stehen oder Sitzen) erlauben z. B. eine
164
8
J. Wiemeyer et al.
grobe Abschätzung der Flexibilität in bestimmten Körperregionen (z. B. unterer Rücken und Beckengürtel). Speziellere gelenkbzw. muskelbezogene Dehntests können nachfolgend die diagnostischen Aussagen differenzieren helfen. Je nach Trainingsziel wird für die Zielgruppe der psychisch erkrankten Personen der Einsatz komplexer oder elementarer sportmotorischer Tests empfohlen. Insbesondere Tests zur Prüfung der Rumpf-, Schulter- und Beckenbeweglichkeit sowie Tests zur Beweglichkeit spezieller Muskeln (Mm. ischiocrurales, M. iliopsoas, M. rectus femoris, M. gastrocnemius, M. pectoralis), deren Beweglichkeitsdefizite zu ungünstigen Körperhaltungen, Defiziten bei Alltagsbewegungen oder einseitigen Beanspruchungen (z. B. durch zu langes Sitzen) führen können, sollten durchgeführt werden. Zusammenfassung Eine hohe Trainingsqualität erfordert eine gute Trainingssteuerung. Trainingssteuerung umfasst die Planung, Durchführung, Dokumentation und Auswertung des Trainings. Durch das wiederholte Durchlaufen dieser vier Phasen kann fortlaufend geprüft werden, ob die geplanten Trainingsmaßnahmen tatsächlich durchgeführt wurden und auch zu den beabsichtigten Effekten geführt haben. Bei Abweichungen kann das Training entsprechend angepasst werden. In diesem Kapitel wurden die Grundlagen der Trainingssteuerung dargestellt. Ausgehend von einer Vertiefung der Begriffe „Belastung – Beanspruchung – Anpassung“ wurde ein allgemeines Modell der Trainingssteuerung vorgestellt und auf die Anwendungsbereiche Ausdauer-, Kraft-, Flexibilitäts- und Koordinationstraining angewendet. Dabei wurden die Möglichkeiten der Belastungssteuerung und Trainingskontrolle dargestellt.
Literatur Arandjelović O (2010) A mathematical model of neuromuscular adaptation to resistance training and its application in a computer simulation of accommodating loads. European Journal of Applied Physiology 110(3):523–538. doi: https://doi. org/10.1007/s00421-010-1526-3 Arena R, Myers J, Forman DE, Lavie CJ, Guazzi M (2013) Should high-intensity-aerobic interval training become the clinical standard in heart failure? Heart Failure Reviews 18(1):95–105. doi: https:// doi.org/10.1007/s10741-012-9333-z Beneke R, Leithäuser RM, Ochentel O (2011) Blood lactate diagnostics in exercise testing and training. International Journal of Sports Physiology and Performance 6(1):8–24 Borg G (2004) Anstrengungsempfinden und körperliche Aktivität. Deutsches Ärzteblatt 101(15):A1016–A1012 Bös K (Hrsg) (2017) Handbuch Motorische Tests, 3. Aufl. Hogrefe, Göttingen Bös K, Opper E, Oberger J, Romahn N, Wagner M, Woll A (2009) Motorik-Modul: Eine Studie zur motorischen Leistungsfähigkeit und körperlich-sportlichen Aktivität von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Nomos, Baden-Baden Cornish AK, Broadbent S, Cheema BS (2011) Interval training for patients with coronary artery disease: a systematic review. European Journal of Applied Physiology 111(4):579–589. doi: https://doi. org/10.1007/s00421-010-1682-5 Diemer F, Sutor V (2011) Praxis der medizinischen Trainingstherapie I: Lendenwirbelsäule, Sakroiliakalgelenk und untere Extremität. Thieme, Stuttgart Farrow, D., & Robertson, S. (2017). Development of a skill acquisition periodisation framework for high-performance sport. Sports Medicine, 47 (6), 1043–1054. DOI: https://doi.org/10.1007/s40279- 016-0646-2 Faulkner J, Eston RG (2008) Perceived Exertion Research in the 21st Century: Developments, Reflections and Questions for the Future. Journal of Exercise Science & Fitness 6(1):1–14 Fröhlich M (2012) Überlegungen zur Trainingswissenschaft. Sportwissenschaft 42:96–104 Fröhlich, M., Kemmler, W., Pfeiffer, M. (2023). Training im Sport als Prozess – Trainingssteuerung. In: Güllich, A., Krüger, M. (eds) Bewegung, Training, Leistung und Gesundheit. Springer, Berlin. S.783–810 Garber CE, Blissmer B, Deschenes MR, Franklin BA, Lamonte MJ, Lee IM, Swain DP (2011) American College of Sports Medicine position stand. Quantity and quality of exercise for developing and
165 Trainingssteuerung
maintaining cardiorespiratory, musculoskeletal, and neuromotor fitness in apparently healthy adults: guidance for prescribing exercise. Medicine and Science in Sports and Exercise 43(7):1334–1359. doi: https://doi.org/10.1249/ MSS.0b013e318213fefb Güllich A, Schmidtbleicher D (1999) Struktur der Kraftfähigkeiten und ihrer Trainingsmethoden. Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin 50(7– 8):223–234 Heck H (1990) Laktat in der Leistungsdiagnostik. Hofmann, Schorndorf Heitkamp HC (2003) Steuerung des präventiven Ausdauertrainings. In: Jeschke D, Lorenz R (Hrsg) Sportmedizinische Trainingssteuerung. Strauß, Köln, S 161–167 Hofmann P, Wonisch M, Pokan R (2004) II Laktatleistungsdiagnostik – Durchführung und Interpretation. In: Pokan R, Förster H, Hofmann P, Hörtnagl H, Ledl-Kurkowski E, Wonisch M (Hrsg) Kompendium der Sportmedizin. Springer, Berlin Heidelberg, S 103–132 Hohmann A, Lames M, Letzelter M (2002) Einführung in die Trainingswissenschaft. Limpert, Wiebelsheim Hohmann A, Lames M, Letzelter M (2010) Einführung in die Trainingswissenschaft, 5. Aufl. Limpert, Wiebelsheim Hottenrott K (Hrsg) (2004) Herzfrequenzvariabilität im Fitness- und Gesundheitssport. Czwalina, Hamburg Isner-Horobeti ME, Dufour SP, Vautravers P, Geny B, Coudeyre E, Richard R (2013) Eccentric exercise training: modalities, applications and perspectives. Sports medicine 43(6):483–512. doi: https:// doi.org/10.1007/s40279-013-0052-y Klee A (2003) Methoden und Wirkungen des Dehnungstrainings. Hofmann, Schorndorf Marschall F (1999) Wie beeinflussen unterschiedliche Dehnintensitäten kurzfristig die Veränderung der Bewegungsreichweite? Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin 50(1):5–9 Marschall F, Büsch D (2014) Positionspapier für eine beanspruchungsorientierte Trainingsgestaltung im Krafttraining. Schweizerische Zeitschrift für Sportmedizin und Sporttraumatologie 62(1):24–31 Mayer F, Scharhag-Rosenberger F, Carlsohn A, Cassel M, Müller S, Scharhag J (2011) The intensity and effects of strength training in the elderly. Deutsches Ärzteblatt International 108(21):359–364 Mezzani A, Hamm LF, Jones AM, McBride PE, Moholdt T, Stone JA, Williams MA (2012) Aerobic
8
exercise intensity assessment and prescription in cardiac rehabilitation: a joint position statement of the European Association for Cardiovascular Prevention and Rehabilitation, the American Association of Cardiovascular and Pulmonary Rehabilitation, and the Canadian Association of Cardiac Rehabilitation. Journal of Cardiopulmonary Rehabilitation and Prevention 32(6):327–350 Neumaier A, Mechling H, Strauß R (2002) Koordinative Anforderungsprofile ausgewählter Sportarten. Strauß, Köln Oesch P, Hilfiker R, Keller S (2011) Bewegungsapparat, Bd 2. Huber, Bern Olivier N (2001) Eine Beanspruchungstheorie sportlichen Trainings und Wettkampfs. Sportwissenschaft 31:437–453 Reuter K, Buskies W (2003) Sanftes Krafttraining im Schulsport. Sportunterricht 52(12):372–376 Rognmo Ø, Hetland E, Helgerud J, Hoff J, Slørdahl SA (2004). High intensity aerobic interval exercise is superior to moderate intensity exercise for increasing aerobic capacity in patients with coronary artery disease. European Journal of Cardiovascular Prevention & Rehabilitation 11(3):216–222 Schlumberger A, Schmidtbleicher D (2000) Grundlagen der Kraftdiagnostik in Prävention und Rehabilitation. Manuelle Medizin 38(4):223–231 Schönthaler SR, Ohlendorf K (2003) Biomechanische und neurophysiologische Veränderungen nach ein- und mehrfach seriellem passiv-statischem Beweglichkeitstraining. Strauß, Köln Taylor, J. L., Holland, D. J., Keating, S. E., Bonikowske, A. R., & Coombes, J. S. (2021). Adherence to high-intensity interval training in cardiac rehabilitation: a review and recommendations. Journal of Cardiopulmonary Rehabilitation and Prevention, 41(2), 61–77. doi: https://doi.org/10.1097/ HCR.0000000000000565 Thompson WR, Gordon NF, Pescatello LS (Eds) (2010) ACSM’s guidelines for exercise testing and prescription, 8. ed. Wolters Kluwer LWW, Philadelphia Weineck J (2000) Optimales Training, 11. Aufl. Spitta, Balingen Wiemeyer J (1997) Bewegungslernen im Sport. WBG, Darmstadt Zinner, C., Sperlich, B. (2023). Belastung und Beanspruchung im sportlichen Training. In: Güllich, A., Krüger, M. (eds) Bewegung, Training, Leistung und Gesundheit. Springer, Berlin. S. 771–781
167
Aspekte der Trainingsorganisation und -durchführung bei psychischen Störungen Viola Oertel, Pia Mehler und Frank Hänsel
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 V. Oertel, F. Hänsel (Hrsg.), Aktiv für die Psyche, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67880-0_9
9
168
V. Oertel et al.
nnLernziele 55 Kennenlernen der Aspekte, die bei der Anwendung von sportlichem Training in Psychiatrie und Psychosomatik zu berücksichtigen sind 55 Kennenlernen der Voraussetzungen für die Durchführung von Sporttraining in Psychiatrie und Psychosomatik
9.1
Einführung
Nachdem in Teil II und III dieses Buches das psychiatrische und sportwissenschaftliche Hintergrundwissen vorgestellt wurde, werden in Teil IV (7 Kap. 9, 10, 11 und 12) nun die anwendungsbezogenen Besonderheiten berichtet, die beim Sporttraining in psychiatrischen und psychosomatischen Behandlungseinrichtungen zu beachten sind. Neben einer Zusammenstellung der Aspekte aus der Fachliteratur (z. B. Schüle u. Deimel 1990; Schüle u. Huber 2012) wird insbesondere ein Schwerpunkt auf praktische Empfehlungen für Übungsleiter gelegt, basierend auf den Erfahrungen von Physiotherapeuten, Psychologen, Ärzten und Bewegungstherapeuten, die im Bereich des sportlichen Trainings tätig sind. Es werden dabei themenbezogen verschiedene Aspekte erläutert, und anschließend wird auf die Besonderheiten einzelner Störungsbilder eingegangen.
9
z Erläuterung der in Teil IV vorgestellte Erfahrungswerte
Die Erfahrungswerte in 7 Kap. 9 bis 7 Kap. 12 dieses Buchs sind vor allem aus Sicht von Behandlern und Übungsleitern zusammengestellt. Dieses Hintergrundwissen gliedert sich in die Kategorien Behandlerwissen, Übungsleiterwissen und Projekterfahrung, die im Folgenden kurz erläutert werden. In den einzelnen Kapiteln sind Informationen aus diesen Kategorien stets thematisch passend in Abschnitte eingearbeitet, die eine Zusammenfassung der
zugehörigen Fachliteratur beinhalten. Die Informationen dienen dazu, dem interessierten Leser Anwendungstipps zu geben und auf Probleme und Schwierigkeiten hinzuweisen. kBehandlerwissen
Bei der Rubrik „Behandlerwissen“ handelt es sich um Informationen von ärztlichen und psychologischen Behandlern, basierend auf langjährigen Erfahrungen in der Therapie von Personen mit psychischen Störungen. Hieraus erschließen sich auch zum großen Teil die Empfehlungen für die Praxis. kÜbungsleiterwissen
Hierfür wurden Übungsleiter, Fachtherapeuten und Physiotherapeuten anhand eines eigens konzipierten Fragebogens im Rahmen von Interviews befragt. Der Fragebogen befasst sich mit den Aufgaben und Schwierigkeiten eines Übungsleiters. Die Fragestellungen werden im Rahmen der 7 Kap. 9 bis 7 Kap. 12 vorgestellt und aufgearbeitet. So können Sie dort jeweils unter der Überschrift „Übungsleiterwissen“ Fragen und die Antworten von Übungsleitern, Physio- und Fachtherapeuten nachlesen. Beispielfrage: „Welche Aspekte sind bei der Organisation, dem Umgang mit den Patienten, der Trainingssteuerung sowie der Gruppendynamik zu berücksichtigen?“
kProjekterfahrung
In der Kategorie „Projekterfahrung“ werden Erfahrungen zusammengetragen, die die Autoren des jeweiligen Kapitels selbst in einem mehrjährigen Forschungsprojekt gemacht haben, dessen Ziel die Überprüfung der Effekte von pulsgesteuertem aerobem Ausdauertraining auf die Psychopathologie depressiver und schizophrener Patienten war (für Ergebnisse s. Oertel-Knöchel et al. 2014). Im Rahmen des Projekts an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Goethe- Universität Frankfurt am Main wurde und wird Patienten der Zugang zu einer regelmäßigen und
169 Aspekte der Trainingsorganisation und -durchführung bei psychischen…
kontrollierten sportlichen Betätigung ermöglicht. Dieses Behandlungsangebot umfasst ein 3-monatiges Interventionsprogramm für psychiatrische Patienten. Dreimal pro Woche können Patienten in Kleingruppen (bis zu 10 Personen) zusammen für jeweils eine Stunde Sport treiben und werden dabei von zwei Übungsleitern durch das Programm geführt. Im Wechsel wird Zirkeltraining (Kräftigungsund Ausdauerübungen für verschiedene Muskelgruppen) und Aerobic-Training (Schrittkombinationen mit Boxelementen) angeboten. Anhand regelmäßiger Messungen vor, während und nach dem Training stellen die Übungsleiter sicher, dass sich Puls und Blutdruck in dem von Ärzten und Sportwissenschaftlern empfohlenen gesundheitlichen Bereich befinden. Zusätzlich führen die Studienleiter vor und nach diesem 3-monatigen Sportprogramm verschiedene psychologische Tests durch, um die Effekte von Sport und Bewegung auf die Symptomschwere und die kognitive Leistungsfähigkeit zu überprüfen. Auch mögliche Veränderungen funktionell-medizinischer Aspekte (metabolisches Profil, körperliche Fitness) stehen im Fokus der Untersuchungen.
9.2
9
oraussetzungen für die V Durchführung im Überblick
Im Folgenden geht es um Voraussetzungen zur Durchführung von sportlichem Training mit Patienten, die unter einer psychischen Störung leiden. Die Darstellung erfolgt mittels Zusammenstellung relevanter Aspekte, die in der Fachliteratur diskutiert werden (z. B. Schüle u. Huber 2012), sowie durch Wiedergabe von Erfahrungswerten von ärztlichen und psychologischen Behandlern (Behandlerwissen), Übungsleitern/Bewegungsfachkräften (Übungsleiterwissen) und aus einem mehrjährigen Forschungsprojekt (Projekterfahrungen). . Tab. 9.1 fasst alle Voraussetzungen zur Durchführung sowie Besonderheiten, die bei der Zielgruppe zu beachten sind, zusammen.
>>Im Folgenden werden Voraussetzungen für sportliches Training und deren Besonderheiten in psychiatrischen und psychosomatischen Behandlungseinrichtungen dargestellt. Die Voraussetzungen sind in Aspekte der Trainingsorganisation (7 Abschn. 9.3) und -durchführung (7 Abschn. 9.4) unterteilt.
.. Tab. 9.1 Übersicht über Voraussetzungen zur Trainingsorganisation und -durchführung bei psychischen Störungen bzw. zu beachtende Besonderheiten Trainingsorganisation
Besonderheiten
Trainingsdurchführung
Besonderheiten
Räumlichkeiten und Ausstattung
Häufig fehlend
Vermittlung von Trainingsinhalten
Individuell an die Zielgruppe anpassen
Zielklärung
Individuelle Zielklärung
Trainingssteuerung
Kleine Ziele, strukturiert vorgehen
Setting
Gruppensetting ist zu bevorzugen
Übungsleiter
Wissen aus verschiedenen Fachdisziplinen, Persönlichkeit
170
9.3
V. Oertel et al.
Aspekte der Trainingsorganisation
9.3.1
9
Räumlichkeiten und Ausstattung
Voraussetzungen für die Durchführung sportlichen Trainings betreffen u. a. die Wahl geeigneter und verfügbarer Geräte, die Beschaffung sonstiger Trainingsmaterialien und die Bereitstellung von Räumlichkeiten. Die Beachtung von Räumlichkeiten und den verwendeten Materialien spielt nicht nur in Bezug auf die praktische Durchführung der Sportintervention eine Rolle, sondern kann auch einen therapeutischen Mehrwert haben. So stellen Deimel u. Hölter (2011) die „Konstanz und Verlässlichkeit des Umfeldes“ für schizophrene Patienten als besonders bedeutend heraus. In der Bewegung stellt der Mensch nicht nur eine Beziehung zu seinem Körper, sondern auch zu Raum und Zeit und dem vorhandenen Umfeld her. Somit können stabile räumliche und zeitliche Strukturen eine wichtige Orientierung darstellen. Dazu kommen Elemente wie Raumerkundung und Einsatz von Materialien, die nach Deimel u. Hölter (2011) bei der Trainingsgestaltung je nach Zielgruppe zu beachten sind. Ein Problem bei der Durchführung von Sporttraining in psychiatrischen und/oder psychosomatischen Behandlungseinrichtungen stellt das häufige Fehlen geeigneter Räumlichkeiten dar. Müller-Lütken (1989, zit. nach Längle et al. 2000) führten eine Fragebogenerhebung zu den organisatorischen Gegebenheiten in psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken durch und kamen zu dem Schluss, dass die Ausstattung insgesamt als mangelhaft zu beurteilen ist. Nur wenige psychiatrische und psychosomatische Kliniken und ambulante Einrichtungen verfügen über eine Sport- oder Gymnastikhalle oder über die notwendigen sanitären Anlagen für Sportgruppen. Vor
allem für Patienten, die ambulant am Sportangebot teilnehmen, sollten Umkleiden und Duschen vorhanden sein – eine Voraussetzung, die jedoch häufig nicht gegeben ist. Auch Hölter (2011) merkt an, dass häufig Faktoren des Kontextes bei der Trainingsplanung nicht berücksichtigt werden. Dazu zählen in seiner Auflistung zum einen die Räumlichkeiten, in denen man darauf achten sollte, „wie […] das Licht, die Farbe, die Temperatur, der Boden“ beschaffen sei, aber auch das zugehörige Material, das Klima in der Klinik und im Team sowie mögliche äußere Störungen könnten beim Training eine Rolle spielen. >>Aufgrund einer häufig defizitären Ausstattung sind für die Planung von Sporteinheiten in psychiatrischen/psychosomatischen Behandlungseinrichtungen meist Trainingseinheiten vorzuziehen, die wenig Platz und Materialien benötigen.
kProjekterfahrung
Auch die Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Goethe- Universität Frankfurt/Main Klinik, in der das beschriebene Projekt durchgeführt wurde, besitzt keine Turnhalle. Daher musste auf einen alternativen Raum zurückgegriffen werden: Ein großräumiger, lichtdurchfluteter und vielseitig benutzter Veranstaltungsraum konnte zum Zeitpunkt des Sportangebots zur Turnhalle umfunktioniert werden, ein Nebenraum diente als Umkleide. Die Übungen wurden der Größe des Raumes angepasst. Das Problem fehlender Duschen konnte leider nicht gelöst werden. z Verfügbarkeit der Ausstattung
Vielfältig werden positive Ergebnisse von Forschungsstudien zu Laufbandtraining oder Fahrradergometer-Training berichtet (7 Kap. 2); allerdings sind solche Geräte in psychiatrischen oder psychosomatischen Kliniken häufig nicht oder nicht in ausreichendem Maße vorhanden. Auch fehlen
171 Aspekte der Trainingsorganisation und -durchführung bei psychischen…
häufig Pulsuhren, Laktatmessgeräte oder die Möglichkeit, vor und nach dem Training eine spiroergometrische Leistungsdiagnostik durchzuführen. Über Forschungsgelder werden dann häufig die fehlenden Geräte organisiert, sofern das Sporttraining im Rahmen eines Forschungsprojekts stattfindet. kProjekterfahrung
Zunächst standen keine Sportgeräte (Turn-, Trainings- und Spielgeräte wie Gymnastikmatten, Ergometer, Bälle, Seile) zur Verfügung, so dass die Inhalte des Trainings angepasst werden mussten. Trotz fehlender Geräte konnten durch das Beantragen von Fördergeldern bzw. durch private Spenden Sportgeräte und Kleidung akquiriert werden (Verein der Förderer der Universität Frankfurt/Main). Die Übungen wurden so ausgewählt, dass mit einer geringen Anzahl und leicht zu transportierenden Sportgeräten ein abwechslungsreiches Programm zusammengestellt werden konnte (7 Kap. 13). Die Leistungsdiagnostik wurde von Kollegen aus einer anderen Fachklinik (Medizinische Klinik II (Kardiologie), Klinikum der Goethe-Universität Frankfurt/ Main) durchgeführt. Weiterhin hatten einige Patienten keine geeignete Sportkleidung (z. B. Turnschuhe, Sporthose) und wenig Geld, um sich Sportkleidung zu kaufen. Hier wurden gesammelte Kleiderspenden von Mitarbeitern zur Verfügung gestellt.
9.3.2
Zielklärung
Bevor ein sportliches Training aufgenommen wird, sollte eine Zielklärung – am besten im persönlichen Gespräch mit dem Behandler und dem zu Trainierenden – vorgenommen werden. >>Zur Gestaltung des sportlichen Trainings gehören eine individuelle Zielklärung und die Umsetzung der Ziele, die vom Übungsleiter und vom Patienten gleichermaßen akzeptiert und verfolgt werden.
9
Im optimalen Fall stimmen das Ziel des Patienten und das Ziel des behandelnden Arztes, Psychologen oder Übungsleiters überein. Der Patient gibt in diesem Fall seine informierte Zustimmung, und das Training wird entsprechend dem Dienstleistungsmodell aufgebaut. Denkbar ist auch, dass der behandelnde Arzt oder Psychologe, der den Patienten für ein sportliches Training anmeldet, ein vom Ziel des Patienten abweichendes Motiv hat. In diesem Fall kann der Übungsleiter nach dem paternalistischen (oder maternalistischen) Modell als „Experte“ das weitere Vorgehen bestimmen. Es empfiehlt sich in jedem Fall, gemeinsam mit dem Patienten Ziele hinsichtlich ihrer Vor- und Nachteile zu erörtern und sich, wenn möglich, auf eine Zieldefinition zu einigen. Nach Hölter wird dies auch als Verhandlungsmodell bezeichnet. Ziele beim Sporttraining lassen sich nach Hölter (2011) u. a. nach drei Akzenten differenzieren: 55 Ziele mit somatisch-funktionellem Akzent, 55 Ziele mit edukativ-psychosozialem Akzent und 55 Ziele mit psychotherapeutischem Akzent. Daneben lassen sich bei Zielen drei Betrachtungsebenen unterscheiden: 55 Ebene des Allgemeinen, 55 Ebene des Speziellen (u. a. auch störungs- und altersspezifisch) und 55 Ebene des Differenziellen. Spezielle Ziele konkretisieren die allgemeinen Ziele und können nach den unterschiedlichen psychischen Störungen ausgerichtet werden (7 Kap. 11 und 12). Differenzielle Ziele beziehen sich auf den einzelnen Patienten in einer bestimmten Therapiesituation. Für eine detaillierte Auseinandersetzung mit dem Thema „Ziele in der klinischen Bewegungstherapie“ siehe die sehr umfassende und fundierte Übersicht in Hölter (2011, Abschn. 3.3).
172
V. Oertel et al.
Gemäß der Zusammenstellung der bisherigen Befunde zu Effekten von sportlichem Training bei psychischen Störungen (7 Kap. 2) wollen wir einzelne – aus unserer Sicht für die Zielgruppe wichtige – Ziele nochmals gesondert hervorheben. Diese umfassen folgende Bereiche: 55 Körperliche Fitness: Erzielen einer Gewichtsreduktion, Verbesserung der körperlichen Fitness, Steigerung der sportlichen Leistung, 55 Motivation und Aktivierung: Erzielen einer Aktivierung bei Antriebsminderung oder Motivationsarmut, 55 Reduktion der Psychopathologie: Schulung der Körperwahrnehmung oder des Körperkonzepts, Reduktion der störungsspezifischen Symptomatik (z. B. Konzentrationsstörungen).
9
z Körperliche Fitness und Gewichtsreduktion
Die Ziele körperliche Fitness und Gewichtsreduktion lassen sich der Zielkategorie „Stärkung physischer Gesundheitsressourcen, Verminderung von Risikofaktoren“ von Hölter (2011) oder den Kernzielen 1 und 2 (s. sechs Kernziele des Gesundheitssports) nach Brehm et al. (2013) zuordnen. Ziel sportlicher Aktivität ist hierbei der Aufbau, die Erhaltung und Steigerung der körperlichen Fitness – ein Ziel, das sowohl bei psychisch Gesunden als auch bei psychisch Erkrankten eine bedeutende Rolle spielt (7 Kap. 7 und 8). Unter dem Begriff der „körperlichen Fitness“ können folgende Aspekte zusammengefasst werden (nach Brehm et al. 2013): 55 Ausdauer, 55 Kraft, 55 Flexibilität, 55 Koordinationsfähigkeit, 55 Entspannungsfähigkeit.
Bleibt körperliche Aktivität aus, wird nicht nur die körperliche Fitness reduziert, sondern es werden auch Risikofaktoren erhöht –
z. B. Erhöhung des Blutdrucks, der Blutzuckerwerte und Veränderung des Fettstoffwechsels (Brehm et al. 2013). Im psychiatrischen Bereich spielen vor allem Störungen des Fettstoffwechsels in Zusammenhang mit der spezifischen Medikamenteneinnahme eine Rolle (7 Kap. 10 und 11).
kProjekterfahrung
Gewichtsreduktion und Steigerung des Wohlbefindens waren bei vielen Patienten vorrangige und motivierende Ziele. z Motivation
Das Ziel „Motivation stärken“ wird nach Hölter (2011) dem Bereich der Bewältigungsstrategien und somit den Zielen mit edukativ-psychosozialem Akzent zugeordnet. Zur Förderung der Therapieadhärenz ist es wichtig, die Patienten darüber zu informieren, welche Wirkungen sportliches Training hat, und dass es als Therapiebaustein fungiert. Dies kann durch individuelle Aufklärung im Einzelsetting, aber auch durch Informationsstunden oder Informationsmaterialien erfolgen. Bevor die erste sportliche Betätigung beginnt, sollten alle Teilnehmer über Inhalte, Ziele und Zweck des Konzeptes informiert sein. Durch das Wissen, warum man etwas tut, bzw. über die Folgen, die es haben wird, kann die Therapiebereitschaft erhöht werden (zur Bedeutung von Psychoedukation im Rahmen sportlichen Trainings s. auch Bussfeld u. Czekalla 2010). Vor allem stationären Patienten fehlt aufgrund ihrer psychischen Störung häufig eine gewisse Tagesstruktur. Deshalb fällt es ihnen oft schwer, sich an regelmäßige Termine zu halten. Das Training kann Hilfestellung bei der Tages- und Freizeitstrukturierung leisten und zur Veränderung des Lebensstils beitragen. In diesem Zusammenhang bezeichnen Deimel u. Hölter (2011) beispielhaft das bewegungstherapeutische Angebot der Studie von Goertzel et al. (1965) als „Türöffnerfunktion“. Unserer Meinung nach bietet ein sportliches
173 Aspekte der Trainingsorganisation und -durchführung bei psychischen…
Angebot die Möglichkeit, Patienten für einen gesunden Lebensstil zu sensibilisieren, zu mehr Aktivität zu motivieren und auf weitere Therapieansätze vorzubereiten. Erstrebenswert ist ein Wechsel von der zu Beginn meist noch extrinsischen Motivation zur intrinsischen Motivation (Brand u. Kahlert 2009). Extrinsisch motivierte Menschen handeln aufgrund äußerer Gründe (z. B. Belohnung, Anerkennung von anderen), wohingegen intrinsische Motivation bedeutet, dass wir etwas aufgrund der Sache selbst tun und sie uns Freude bereitet. Personen, die intrinsisch motiviert sind, wissen nach einem längerem Zeitraum sportlicher Aktivität, dass a) die sportliche Aktivität positive Konsequenzen hat und b) dass sie selbst zur Zielerreichung beitragen und haben daher eine eigene Motivation zum Sporttreiben. Gerade zu Beginn erfordert das Heranführen des Patienten an regelmäßige Bewegung „Zeit und engmaschige Kontakte“ (Brooks 2010). Kleine schnelle Erfolge, die im Training angestrebt werden, können die Selbstwirksamkeit und damit die Motivation stärken (Klare 2010) (7 Kap. 7).
kÜbungsleiterwissen: Interviewfrage „Wie hast du die Motivation der Teilnehmer gesteigert?“
Übungsleiter 1: „Ein großes Augenmerk auf die Atmosphäre legen: Negative Erinnerungen aus dem Schulsport oder ähnliche negative Erfahrungen sollten keinesfalls aktiviert werden. Es sollte in eine humorvolle und lockere, gleichzeitig unterstützende und motivierende Atmosphäre investiert werden. Das führt in meinen Augen zur besten Motivation.“ kProjekterfahrung
Immer wieder haben sich die Übungsleiter in der Rolle des Motivators wiedergefunden. Ziel beim Motivieren war es, Freude und Interesse am Sport zu wecken. Dafür gab es im Rahmen einer solchen Intervention unterschiedliche Möglichkeiten. Vor der Teilnahme am Sporttraining galt es, das Gefühl
9
der Neugierde zu wecken. Je nach Person bestand sie schon oder konnte durch Erläuterungen im Gespräch oder durch Erfahrungsberichte schon teilnehmender Patienten gestärkt werden. Um eine regelmäßige Teilnahme der Patienten am Sporttraining zu gewährleisten, war viel Engagement bzw. Initiative und Werbung seitens der Organisatoren des Sportprogramms gefragt. Die Regelmäßigkeit des Sportangebotes konnte den Patienten helfen, sich wieder an einen geregelten Tages- und Wochenablauf zu gewöhnen. Darüber hinaus haben wir die Erfahrung gemacht, dass es wichtig ist, aufmerksam zu sein, welcher Patient zu welchem Zeitpunkt gezielt persönliche motivationale Unterstützung benötigt und wer lieber nur mit einem Mindestmaß an persönlicher Anleitung trainieren möchte. z Aktivierung
„Eine allgemeine Aktivierung vornehmen“ stellt laut eine „Stärkung physischer Gesundheitsressourcen“ und eine „Verminderung von Risikofaktoren“ und somit ein Ziel mit somatisch- funktionellem Akzent dar. Eine mögliche Methode zur Aktivierung sind dabei Aufwärmspiele, die neben der Aktivierung dem Motivationsaufbau und unabhängig von der Sportart dem spielerischem Annähern an sportliche Aktivität dienen. Ziel von Aufwärmspielen ist es, dem Teilnehmer das Gefühl des „Spielens um des Spielens willen“ und somit auch einen spielerischen Umgang mit sportlicher Aktivität zu vermitteln – nach Hölter (2011) ein Ziel mit edukativ-psychosozialem Akzent. Aufwärmspiele erfüllen zusammenfassend folgende Zwecke (angelehnt an Kempf u. Lowis 1999): 55 Steigerung der Motivation der Teilnehmer, 55 Kennenlernen der Teilnehmer untereinander, 55 Lockerung der Atmosphäre, 55 Aufwärmen der Muskulatur,
174
V. Oertel et al.
55 Schulung der Koordination, 55 Förderung der Eigenständigkeit der Teilnehmer, 55 Förderung der Kreativität der Teilnehme. kProjekterfahrung
Die Übungsleiter ermunterten die Teilnehmer, das Spiel durch eigene Ideen zu verändern oder zu ergänzen. So konnten die Teilnehmer z. B. beim Springen durch Reifen eigene Gangarten vorschlagen oder beim „Spiegellaufen“ (7 Kap. 13) Ideen für Aufwärmübungen einbringen. Zusätzlich bestand die Möglichkeit, einzelnen Teilnehmern bei kurzen Sequenzen bekannter Spiele die Aufgabe des Übungsleiters zu übergeben. Dieses aktive Einbinden der Teilnehmer beruhte jedoch immer auf dem Prinzip der Freiwilligkeit und wurde vom Teilnehmer selbst nur als „Angebot“ betrachtet. Aktivierung geschah auch mit einem gewissen Grad an Variabilität und Vielseitigkeit bezüglich Aufbau und Ablauf des Trainings. Dabei wurden die Patienten langsam an verschiedene Sportarten, Trainingsgeräte oder Intensitäten herangeführt und dabei begleitet.
9
z Reduktion der Psychopathologie
Sportliche Aktivität kann die Lebensqualität psychisch Erkrankter auf zwei verschiedene Weisen verbessern: physisch und psychisch (Gorczynski u. Faulkner 2011). Der Wunsch nach Reduktion der Psychopathologie kann nach Hölter (2011) Zielen mit psychotherapeutischem Akzent zugeordnet werden. Folgt man den bisherigen Befunden und Übersichtsarbeiten zu den Effekten sportlichen Trainings in Psychiatrie und Psychosomatik, so erscheint z. B. zur Reduktion von depressiven Symptomen bei schizophrenen Patienten oder zur Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit bei älteren subjektiv kognitiv eingeschränkten Personen ein aerobes Ausdauertraining mit einer Intensität von 3-mal wöchentlich über ungefähr 45 Minuten am effektivsten (7 Kap. 2).
z Nachhaltigkeit
Eines der Ziele von Sporttraining in psychiatrischen und psychosomatischen Einrichtungen ist, die Motivation der Teilnehmer für weitere sportliche Angebote zu wecken. Nachhaltigkeit bezieht sich dabei auf das Ziel, sportliche Aktivität langfristig in den Alltag des Patienten zu integrieren (z. B. durch Kontaktvermittlung lokaler Sportinstitutionen oder Finden einer für den Patienten geeigneten Sportart) und somit eine bleibende Verhaltensänderung zu erzielen. Übungsblätter und Wissen über die Übungen können ein eigenständiges Trainieren fördern. Edukative Verfahren zum Transfer in den Alltag sind auch Zielformulierungen, Pro-Contra-Bilanzen sowie Umsetzungsstrategien, die vermittelt werden. In der Darstellung von Pfeifer et al. (2011) sowie in einer Broschüre der Techniker Krankenkasse (Fuchs 2009) werden verschiedene Möglichkeiten der Vermittlung von Informationen hin zu einem mehr bewegungsorientierten Leben dargestellt. hat ein 7-Schritte-Modell zur Vorgehensweise in der Verordnung sporttherapeutischer Maßnahmen entwickelt. Die Schritte sind: Sportanamnese, Psychoedukation, motivierende Gesprächsführung, Entscheidung, regelmäßiges Coaching, Dokumentation und Evaluation. Dieses Programm kann durch eine Verbesserung der intrinsischen Motivation das Durchhaltevermögen stärken und damit eine längerfristige Aufrechterhaltung wahrscheinlicher machen. Miller u. Rollnick (1999) haben einen Ansatz zur Gesprächsführung bei Personen mit Abhängigkeitssyndrom vorgestellt, der ebenfalls zur erfolgreichen Durchführung und zur längerfristigen Aufrechterhaltung beitragen kann. Meist gestaltet sich eine selbstständige Nachsorge durch den Patienten schwierig. Deimel (2008) berichtet, dass es an einer ausreichenden Angliederung an Sportvereine, am direkten Austausch mit Gemeindemitgliedern bzw. Außenstehenden und somit an sozialer Integration psychisch kranker
175 Aspekte der Trainingsorganisation und -durchführung bei psychischen…
Menschen fehle. Der Wert der gesellschaftlichen Wiedereingliederung in Bezug auf sportliche Aktivität nach einem Klinikaufenthalt oder einer schweren krankhaften Episode werde stark unterschätzt. Ideal für ein nachhaltiges Angebot ist ein kommunales Netzwerk mit Sportvereinen und anderen Institutionen, die sportliche Angebote anbieten und an welche Patienten verwiesen werden können. Hölter (2011) schlägt soziale Netzwerke wie z. B. Patientencafés oder Tageskliniken vor. Es existieren wenige spezifische sportliche Angebote für Patienten mit psychischen Störungen außerhalb von Behandlungseinrichtungen. Daher ist eine Kontaktaufnahme und Vermittlung an einen Sportverein bedeutsam, z. B. durch Einladungen an Trainer oder andere Übungsleiter in Behandlungseinrichtungen, damit ein gegenseitiger Austausch vor dem Behandlungsabschluss möglich ist und die Weiterführung der sportlichen Aktivität geplant werden kann. Weiterhin werden Sport- und Bewegungselemente bisher wenig in nicht- stationäre psychotherapeutische Behandlungskonzepte integriert. In der ambulanten Psychotherapie werden Bewegungselemente vor allem in der Behandlung von Antriebsminderungen eingesetzt; dabei werden sportliche oder Bewegungselemente als Maßnahmen zum Aktivitätenaufbau in den Behandlungsplan integriert. Die Auswahl der sportlichen Aktivität spielt dabei weniger eine Rolle als die Frequenz und der Umfang der Aktivität. Ein weiterer Aspekt betrifft den Aufbau sozialer Kontakte, der durch Sport in der Gruppe gefördert wird; dies kann ein Ziel innerhalb einer ambulanten Psychotherapie sein. Wir sehen eine zusätzliche Aufgabe des ambulanten Psychotherapeuten darin, Patienten Informationen über die Effekte sportlichen Trainings auf die psychische und physische Gesundheit zu vermitteln und Patienten zu motivieren, alleine oder in der Gruppe Sport zu treiben.
9
kProjekterfahrung
Am Ende der Projektphase zeigten einige Patienten Interesse, auch in Zukunft weiterhin Sport treiben zu wollen. Es wurden Kontaktdaten von Sporteinrichtungen vermittelt und mögliche individuell passende Sportarten im Gespräch mit dem Patienten erörtert. 9.3.3
Setting
Je nach Gegebenheiten muss geklärt werden, ob das sportliche Training in der Gruppe oder im Einzelsetting stattfindet. Bisher wurde nicht systematisch erfasst, wie und in welchem Umfang sportliche Elemente Teil eines ambulanten Psychotherapiekonzeptes sind. Im Rahmen stationärer Behandlungseinrichtungen findet Sport meist als Gruppentherapie statt; für Sport im Einzelsetting fehlen meist die personellen Ressourcen. Forschungsergebnisse im Rahmen der Lauftherapie bei depressiv erkrankten weisen eine positive Tendenz hin zu Sport in der Gruppe im Vergleich zur Einzeltherapie auf (Stoll u. Ziemainz 2012). Soziale Unterstützung und Bindung zählt auch zu den Zielen klinischer Bewegungstherapie. Auch Weber (1999, zit. nach Stoll u. Ziemainz 2012) nennt das Erfahren von gruppendynamischen Prozessen unter den Zielen des Sporttrainings. kÜbungsleiterwissen: Interviewfrage „Welche Rolle spielt deiner Meinung nach das Setting im Rahmen des Trainings?“
Übungsleiter 2: „Ich glaube, dass das einer der wichtigsten Aspekte ist. Deshalb sind Spiele am Anfang auch sehr hilfreich, um sich kennenzulernen“. Übungsleiter 3: „Manchmal verändern zwei oder drei lustlose Patienten die Gruppendynamik stark. Umgekehrt führt ein Gruppenzugehörigkeitsgefühl zu Vertrauen und zu verstärkter Motivation“.
176
V. Oertel et al.
Übungsleiter 4: „Es spielt eine sehr wichtige Rolle. Sie wirkt sich positiv auf die Motivation und soziale Bindungen aus und unterstützt eine gewisse Regelmäßigkeit sowie die Leistungssteigerung“. 9.4
Aspekte der Trainingsdurchführung
Auf Basis der sportwissenschaftlichen Grundlagen (7 Kap. 7) und der Trainingssteuerung (7 Kap. 8) werden im Folgenden einige Besonderheiten des Trainings mit Personen mit psychischen Störungen genannt. Dabei handelt es sich zum einen um die spezifische Ausgestaltung und konkrete Ausrichtung des Trainings auf die Voraussetzungen und Bedürfnisse dieser Personengruppe (z. B. Instruktion und Feedback), zum anderen um die Berücksichtigung der besonderen Rahmenbedingungen (z. B. Gruppendynamik), unter denen das Training stattfindet.
9
9.4.1
Vermittlung von Trainingsinhalten
z Instruktion
Die Vermittlung von Trainingsinhalten spielt während der Trainingsdurchführung eine tragende Rolle: Zu berücksichtigen sind dabei die Art und Weise der Instruktion und Variationsmöglichkeiten der Übungen, aber auch individuelle Fertigkeiten und Ressourcen. Für die Trainingsdurchführung spielt zudem die Person des Übungsleiters – mit ihrer beruflichen Qualifikation und ihrer Persönlichkeit – eine Rolle. Die Gruppendynamik und der persönliche Austausch mit den Patienten können weiterhin einen entscheidenden Beitrag zu einem erfolgreichen Training leisten. Dieser Aspekt ist insbesondere bei der Zielgruppe der psychisch erkrankten Personen bedeutsam, da es aufgrund unterschiedlicher Symptome der
Krankheitsbilder und Krankheitsphasen dazu kommen kann, dass sehr heterogene Gruppen im Sporttraining zusammen trainieren. Ein wichtiges Ziel bei der Trainingsplanung ist es daher, geeignete Übungen für alle Teilnehmer zu finden. kÜbungsleiterwissen: Interviewfrage „Stell dir vor, du würdest eine/n neue/n Übungsleiter/in einarbeiten: Welche Aspekte sollten bei der Trainingsdurchführung berücksichtigt werden?“
Übungsleiter 2: „Ich finde es wichtig, sich gut vorzubereiten, damit das Training strukturiert und ‚professionell‘ gehalten werden kann. Ich finde es außerdem wichtig, immer positiv zu bleiben und jede kleine Anstrengung zu loben.“ Trainingssteuerung findet nicht nur im Aufstellen eines Trainingsplans statt, sondern auch im Anleiten und Unterstützen der einzelnen Teilnehmer. Dabei stehen Übungsleitern verschiedene Aktionsformen des Lehrens zur Verfügung (Brehm et al. 2013, zit. nach Hölter 2011). Inhalte können dem Trainierenden durch Sagen, Zeigen oder Sichern und Helfen vermittelt werden. Durch wörtliche Instruktionen werden Übungen erklärt, Teilnehmer werden korrigiert und Bewegungen durch eine sprachliche Anleitung besser gelernt (Sagen). Hinter dem Wort Zeigen verbergen sich die Methoden des aktiven Vorzeigens, des Mitmachens und Vorlebens. Die dritte Variante, das Sichern und Helfen, beinhaltet aktive und passive Ausführungshilfen, sichernde Maßnahmen und Wahrnehmungshilfen (Brehm et al. 2013, zit. nach Hölter 2011). Eine Kombination dieser drei Perspektiven ist zu empfehlen. >>Bei der Vermittlung von Übungen sollte nach dem Konzept „Vom Einfachen zum Komplexen, vom Bekannten zum Unbekannten“ vorgegangen werden. Alle Instruktionen sollten klar strukturiert, konkret und verständlich sein.
177 Aspekte der Trainingsorganisation und -durchführung bei psychischen…
Bei der dritten Variante – dem Sichern und Helfen – ist die Intimsphäre des Patienten unbedingt zu beachten: Bevor eine Berührung erfolgt, um etwa eine Bewegung zu korrigieren, sollte der Patient um Erlaubnis gefragt werden. Körperliche Stellungen, in denen sich der Patient verletzlich fühlen könnte, sollten nur im Falle einer stabilen Therapeut-Patient-Beziehung durchgeführt werden, die von Vertrauen geprägt ist. z Rückmeldung
Rückmeldungen seitens der Übungsleiters bestehen nicht nur aus physischen Korrekturen, sondern auch aus Lob oder einer Bestätigung, dass die Übung richtig ausgeführt wird. kProjekterfahrung
Es wurde Wert darauf gelegt, die Patienten für erfolgreiche Teilschritte oder bewältigte Aufgaben zu loben. Prinzipien der Verhaltenstherapie wurden bewusst und unbewusst angewandt. Mehr noch als durch kleine Aufmerksamkeiten für eine regelmäßige Teilnahme (z. B. Sponsorengeschenke von Sportartikelherstellern) wurde gewünschtes Verhalten durch Lob (verbal sowie nonverbal) und positive Beziehungsgestaltung verstärkt und aufrechterhalten. Möchte man eine Rückmeldung der teilnehmenden Patienten über das Gelingen einer Sporteinheit erhalten, so kann man mit den Teilnehmern ein Gespräch führen oder mittels der Blitzlicht-Methode Informationen erfragen. Die Blitzlicht-Methode dient dazu, in der Zeitdauer eines „Blitzlichts“ kurz von jedem Teilnehmer zu erfragen, wie es ihm geht, was ihn beschäftigt, ob alles in Ordnung ist etc. Im Sinne einer Qualitätssicherung (7 Kap. 8) kann man auch Stimmungsbarometer verwenden – Skalen, die Gefühle auf zwei Polen darstellen (z. B. freudig – traurig) und auf denen man ankreuzen kann, wo man sich gerade befindet (z. B. etwas traurig, sehr freudig…). Auch kann den Patienten das Führen eines Bewegungstagebuchs angeboten werden (Klare 2010) (7 Kap. 8).
9
kProjekterfahrung
Das persönliche Gespräch und aktives Zuhören, für das sich meist nach dem Training Zeit bot, stellten eine Gelegenheit dar, sich mit den Patienten auszutauschen und die Patienten durch das gezeigte Interesse für die nächsten Trainingseinheiten zu motivieren. Es stellte sich als sehr hilfreich heraus, aktiv Feedback von den Gruppenmitgliedern einzufordern und jeden Einzelnen so aktiv wie möglich in das Geschehen mit einzubeziehen. Außerdem wurde den Patienten damit verdeutlicht, dass Interesse an einer aktiven Mitgestaltung aller Trainingsteilnehmer besteht. Ziel war es, dass die Patienten selbstständig Fragen und Wünsche äußern. Hilfsmittel dafür können z. B. Fragebögen, Stimmungsbarometer oder die Blitzlicht-Methode sein. 9.4.2
Aspekte der Trainingssteuerung
Für die Trainingssteuerung sind ein Plan zur Vermittlung von Inhalten sowie die Planung der Trainingsinhalte, angepasst an das Leistungsniveau der Teilnehmer, notwendig. Zum Einsatz therapeutischer Methoden in der Bewegungstherapie empfiehlt Hölter (2011) die Orientierung an den vier Wirkfaktoren der Psychotherapie von Grawe et al. (1994): 55 Ressourcenaktivierung, 55 Problemaktualisierung, 55 aktive Hilfe zur Problembewältigung, 55 Klärungsperspektive.
Aufbauend auf diesen Punkten gehen wir davon aus, dass die Art und Weise, wie Instruktionen vermittelt werden, die Auswahl von Übungen sowie die Beachtung von gruppendynamischen Aspekten bei der Vermittlung von Trainingsinhalten in der Psychiatrie und Psychosomatik eine entscheidende Rolle spielen.
178
V. Oertel et al.
kÜbungsleiterwissen: Interviewfrage „Was ist bei der Trainingssteuerung in der Psychiatrie und Psychosomatik besonders wichtig?“
Übungsleiter 2: „Realistische Ziele mit kleineren Zwischenzielen sowie immer darauf achten, dass nicht zu viele Ziele gleichzeitig verfolgt werden, sondern sich auf das wichtigste Ziel konzentriert wird.“ Übungsleiter 3: Ich finde es wichtig, dass nicht zu viel verlangt wird von den Patienten. Weiterhin frage ich die Patienten nach ihren eigenen Wünschen und lasse ihnen auch ihren eigenen Stil; dort fühlen sie sich sicher. Ich lobe viel und versuche Anreize wie Wunschmusik, Wunschübungen usw. zu schaffen.“ z Trainingsstruktur
9
Prinzipiell sollte das Training zudem ausreichend strukturiert sein (Koch et al. 2012). Neben der Vermittlung einer deutlichen Struktur und klaren Bewegungsaufgaben verweist Hölter (2011) auch auf den Aufbau von Ritualen und Gewohnheiten im Rahmen des Trainings; Ritualisierungen/Wiederholungen stellen für Teilnehmer sowie für Übungsleiter häufig auch eine Entlastung dar. Ein immer wiederkehrender und gleichförmiger Ablauf gibt Verhaltenssicherheit und kann als wichtiges Steuerungselement der Trainingseinheit verstanden werden (Klingen 2011). Das Anbieten regelmäßiger Trink- und Verschnaufpausen gehört auch zum Durchführen einer Trainingseinheit und kann als Strukturie rungshilfe eines Trainings dienen. kProjekterfahrung
Gerade zu Beginn waren die Patienten in den Ausführungen der Übungen noch etwas befangen. Sie hatten Angst, etwas falsch zu machen oder die Übungen nicht bewältigen zu können. Immer wieder kam es vor, dass ein Patient eine Übung noch nicht kannte. Die Teilnehmer wurden schrittweise an die Übungen herangeführt. Dazu gehörte auch, dass Übungsanleitungen langsam und ausführlich erläutert wurden.
Andere hatten in einem bestimmten Bereich leichte Schmerzen (z. B. Knie- oder Rückenprobleme). Hier versuchten die Übungsleiter, alternative Übungen mit einem möglichst ähnlichen Effekt anzubieten. Rituale und Gewohnheiten wurden z. B. mit einer gleichbleibenden Reihenfolge an Trainingsphasen (Aufwärmphase, Hauptteil, Cool-Down-Phasen), einer immer ähnlich durchgeführten Verabschiedung zum Ende des Trainings und sonstigen stabilen Mustern in Ablauf und Zeit (z. B. Blutdruckmessen, Pulskontrolle, Trinkpausen) aufgebaut. z Schwierigkeitsgrad der Übungen
Der Übungsleiter sollte sich im Vorhinein damit befassen, dass Aufgaben zu schwierig oder aufgrund körperlicher Einschränkungen – gerade im psychiatrischen und psychosomatischen Bereich – nicht ausführbar sein können. Im Werkzeugkasten sind mögliche Variationen für die einzelnen Übungen angegeben (7 Kap. 13; 7 Kap. 8 für eine reflektierte Praxis und Grundlange dieser Variationen). Es bietet sich ein Wechsel von gewohnten Übungen, die leicht zu merken und auszuführen sind, und schwierigeren, komplexeren Übungen an. Schwächere Patienten bewältigen somit einen Teil der Aufgaben, stärkere Teilnehmer fühlen sich gefordert.
kProjekterfahrung
Während des Trainings war es besonders wichtig, die Leistungsanforderung immer wieder neu an das Leistungsniveau der Teilnehmer anzupassen. Das Leistungsniveau variierte von Gruppe zu Gruppe und war zudem von der Tagesform der Teilnehmer und der akuten Symptomatik abhängig. Manchmal war aufgrund kognitiver Einschränkungen oder Aufmerksamkeitsschwierigkeiten auch die Aufgabenstellung zu komplex und wurde nicht verstanden. Es ist daher zu empfehlen, zu jeder Aufgabe leichtere und weniger komplexe Alternativen bzw. Variationsmöglichkeiten bereit zu hal-
179 Aspekte der Trainingsorganisation und -durchführung bei psychischen…
ten. Den Teilnehmern wurde somit vermittelt, dass es nicht schlimm ist und keine negativen Konsequenzen hat, wenn etwas nicht klappt. z Gruppendynamik
In jeder Gruppe, so auch in einer Sportgruppe, kommt es zu wichtigen gruppendynamischen Prozessen. Nach einem gängigen Gruppenphasenmodell nach Tuckmann (Tuckmann 1965, Tuckmann u. Jensen 1977; zit. nach Conzelmann et al. 2013) gibt es mindestens vier Phasen, die eine Gruppe – wenn auch nicht immer chronologisch – durchläuft. Diese Phasen sind auch im Rahmen eines Sporttrainings in der Gruppe zu beobachten. Dabei verhalten sich die Phasen nicht starr, sondern dynamisch zueinander (Conzelmann et al. 2013). Für einen Übungsleiter ist es wichtig, diese Phasen zu kennen, als Orientierung zu nutzen und sein Handeln auf sie abzustimmen. Gruppenentwicklungen können nach Tuckmann mindestens in folgende vier Phasen eingeteilt werden: 55 Forming (= Kennlernphase, Orientierungsphase), 55 Storming (Konflikte), 55 Norming (Bildung einer Gruppenstruktur) und 55 Perfoming (aufgabenorientiertes Handeln).
9
Orientierung zu geben. Die Gruppe kann sich ständig neu formieren, wenn Patienten aufhören oder neue dazukommen. Bei Gruppenübungen sollte vermieden werden, dass unter den Teilnehmern eine Wettkampfsituation entsteht oder ein Teilnehmer eine Sonderrolle innehat. Spiele mit Körperkontakt sind zu Beginn der Gruppenzusammenführung nicht zu empfehlen und sollten auch in späteren Phasen nur dosiert angewendet werden. kProjekterfahrung
In dieser Phase haben sich Aufwärmspiele mit den Teilnehmern bewährt. Die Patienten konnten sich so langsam an das ungewohnte Setting gewöhnen, es entstand eine Art Gegenpol zur Ernsthaftigkeit des Alltags. Es gelang, durch Aufwärmspiele Freude an Bewegungen zu schaffen, eine Verbesserung der Körper- und Selbstwahrnehmung anzuregen und das Zugehörigkeitsgefühl zu stärken. Die darauf folgende Phase nennt sich Storming-Phase. Vorherrschend sind Konflikte und Auseinandersetzungen, die unter den einzelnen Gruppenmitgliedern, aber auch mit der Gruppenleitung auftauchen können. Der Übungsleiter gibt den möglichen Konflikten, individuellen Problemen und Wünschen und störungsspezifischen Verhaltensweisen einerseits Raum, vermittelt andererseits jedoch klare Strukturen Jede Phase birgt unterschiedliche Aufgaben und Regeln und fordert deren Einhaltung. für den Übungsleiter. Die Anfangsphase Orientierungshilfen wie Musik, Rituale und stellt die Kennenlernphase, auch Forming- feste Zeitabläufe vermitteln Sicherheit und Phase genannt, dar. In dieser Phase ist es Vertrauen in dieser Phase. wichtig, dass Unsicherheiten und Ängste Wenn klare Regeln und Strukturen vorder Patienten beachtet (Conzelmann et al. gegeben sind und eingehalten werden, liegt 2013) und die Patienten langsam an die un- der Schwerpunkt der folgenden Phase (Norgewohnte Situation herangeführt werden. ming-Phase) darin, zielorientiert mit den Die Gruppenmitglieder sind noch zurück- Teilnehmern zu arbeiten. In dieser Phase bilhaltend und mit dem Einfinden in die det sich ein stärkeres Wir-Gefühl heraus, Gruppe beschäftigt (Mattke 2009). Die Auf- und die Arbeitsfähigkeit der Gruppe steigt merksamkeit der Teilnehmer richtet sich (Conzelmann et al. 2013). Durch aufmerkvorwiegend auf den Gruppenleiter, von dem sames Beobachten können Außenseiter besie noch stark abhängig sind. In dieser Phase merkt und deren Integration u nterstützt hilft es, den Teilnehmern Struktur und werden.
180
V. Oertel et al.
In der anschließende Performing-Phase ist die Produktivität der Gruppe am höchsten. Die eigentliche „Aufgabe“ – das gemeinsame Aktivsein – steht nun im Mittelpunkt der Gruppe, und die Teilnehmer handeln nach festgelegten Regeln und Strukturen (Mattke 2009). Der Übungsleiter muss nun in seiner Führungsrolle nicht mehr so stark präsent sein wie noch zu Beginn des Gruppenbildungsprozesses. Bei einem größeren Wechsel von Teilnehmern kann es erneut zum Durchlaufen der Phasen oder einem Sprung zwischen den Phasen kommen.
9
kÜbungsleiterwissen: Interviewfrage „Konntest du als Übungsleiter Veränderungen im Verhalten der Patienten oder im Ablauf des Sporttrainings im Laufe der Zeit feststellen?“
Übungsleiter 1: „Ja, die Patienten wurden schnell geübt und selbstbewusst, haben später kleine Übungen selbst anleiten können, und die Stimmung innerhalb der Gruppe hat sich verbessert. Es wurden durch das Sporttraining auch zwischen den Patienten Kontakte intensiviert und Freundschaften geschlossen.“ kProjekterfahrung
Die Übungsleiter berichteten in Übereinstimmung mit dem Phasenmodell nach Tuckmann (Tuckmann 1965; Tuckmann u. Jensen 1977; zit. nach Conzelmann et al. 2013), dass die Patienten zu Beginn zurückhaltend, sehr passiv und verschlossen wirkten. Vor allem im Verhalten miteinander waren die Teilnehmer sehr unsicher. Die Übungsleiter gaben an, dass dieses Verhalten durch Unterschiede in der Art und der Schwere der Symptome, d. h. durch eine große Heterogenität innerhalb der Gruppe, noch verstärkt wurde. Gerade in der Anfangsphase spielten das Einfühlungsvermögen sowie ein selbstsicheres Auftreten der Übungsleiter eine bedeutsame Rolle. Bei Aufwärmspielen zeigte sich, dass diese wesentlich zur Auflockerung der Atmo-
sphäre, zum Abbau von Vorurteilen und zur Vorbereitung auf das eigentliche Training beitrugen. Musik im Allgemeinen wirkte sich positiv auf die Atmosphäre aus. Es vergingen einige Trainingseinheiten, bis ein relativ stabiles Gruppengefüge und ein Zusammengehörigkeitsgefühl entstand, so dass Kontaktschwierigkeiten überwunden werden konnten. Die in diesem Fall nötige Geduld übertrugen die Übungsleiter auf ihre Gruppenmitglieder und gaben ihnen damit ein Gefühl von Sicherheit. 9.4.3
Der Übungsleiter
z Rollen des Übungsleiters
Klingen (2011) gibt eine Übersicht über die verschiedenen Rollen eines Sportlehrers. Dabei nennt er u. a. die Rolle des Organisierenden und des Sicherheitsbeauftragten, die des Animierenden und Motivierenden sowie die des Beratenden und Beziehungsgestalters. Auf all diesen Ebenen kann der Übungsleiter wirken. Laut Klingen (2011) und auch nach unseren eigenen Erfahrungen treten während der jeweiligen Phasen des Trainings unterschiedliche Rollen des Übungsleiters in den Vordergrund. Vor dem Training ist er auf der Organisationsebene zunächst einmal für den Aufbau und Ablauf der Trainingseinheit mit den dazugehörigen Vor- und Nachbereitungen zuständig. Dazu gehören auch die Sichtung von Gefahrenquellen und der Überblick über die Materialien und deren Zustand sowie die Absprache mit den anderen Übungsleitern. In der Aufwärmphase hat der Übungsleiter vor allem die Rolle des Beziehungsgestalters. Er sollte sich dabei aktiv einbringen, animieren und Impulse geben. Fühlt sich die Gruppe noch etwas unsicher, kann er durch eigenes Mitmachen Vorbild sein und dem entgegenwirken. In der Haupttrainingsphase ist es wichtig, die Übungen und ihre gesundheitskonforme Ausführung zu kontrollieren. Das
181 Aspekte der Trainingsorganisation und -durchführung bei psychischen…
bedeutet, sich zu versichern, ob der Teilnehmer einerseits den Bewegungsablauf richtig und in der nötigen Dosierung ausführt werden und andererseits, ob die Übungen für seine/ihre physiologischen Voraussetzungen und/oder seine Tagesverfassung geeignet sind. In dieser Phase des Trainings fungiert der Übungsleiter sozusagen als Lernbegleiter und Helfer. Dabei sollte er immer Rückmeldungen über korrektes Ausführen der Übungen geben und bei fehlerhaften Ausführungen korrigierend eingreifen. An dieser Stelle ist Lob ebenso wichtig wie konstruktive Kritik. Die beschriebenen Rollen dienen als Beispiele, um deutlich zu machen, wie unterschiedlich die Aufgaben eines Übungsleiters und ihre Gewichtung zu den verschiedenen Zeitpunkten des Trainings sein können. Je nach Gruppe, Übungsleiter und sonstigen Gegebenheiten müssen die Rollen individuell wahrgenommen und angepasst werden, was wiederum auch eine Entlastung für die Lehrkraft darstellen kann (Klingen 2011). kÜbungsleiterwissen: Interviewfrage „Welche Rollen nimmst du während der Sport- und/oder Bewegungstherapie ein?“
Physiotherapeut 2: „Meine Rollen variieren vom klassischen Physiotherapeuten und Trainer, der sich auf der rein strukturellen, mechanischen Ebene mit dem Patienten befasst, bis hin zum Berater bzw. Coach, der sich z. B. der Schmerzen und Schmerzwahrnehmung, aber auch der psychischen Verfassung (Stress im Job, private Probleme usw.) der Patienten annimmt. Oft bin ich auch Motivator für ‚Durststrecken‘ im Sporttraining und/oder zum Teil auch außerhalb oder nur Zuhörer“. kProjekterfahrung
Während des Trainings ließ sich die Motivation des Übungsleiters zu einem hohen Maße auf die Motivation der Teilnehmer übertragen: Vermittelte der Übungsleiter das Gefühl, überzeugt von seinem eigenen Tun zu
9
sein, gab dies dem Teilnehmer ein Gefühl von Sicherheit. Vor und nach dem Training war es hilfreich, mit den Teilnehmern ins Gespräch zu kommen, eine gewisse Gesprächskultur aufzubauen und somit auch regelmäßige Rückmeldungen von den Teilnehmern zu bekommen. Der Übungsleiter übernahm dann die Rolle des Zuhörers. Die Übungsleiter erhielten, aus dem regelmäßigen Kontakt mit den Patienten heraus, indirektes Feedback durch das Verhalten der Beteiligten sowie direktes Feedback durch das persönliche Gespräch. Der Austausch mit den Patienten trug maßgeblich dazu bei, das Training zu optimieren.“ z Die Qualifikation und Persönlichkeit des Übungsleiters
Für den Ablauf und die Durchführung sportlicher Interventionen spielt die Kompetenz und Motivation derjenigen Personen, die die Trainingseinheiten anleiten und außerhalb des Training begleiten – also behandelnde Psychologen, Ärzte und im Besonderen Übungsleiter – eine wichtige Rolle. Der Übungsleiter hat nicht nur die Aufgabe der Trainingsdurchführung, sondern trägt durch seine Persönlichkeit bzw. seine Eigenschaften maßgebend zur Beziehungs- und Therapiegestaltung bei. kÜbungsleiterwissen: Interviewfrage „Welche Qualifikation des Übungsleiters findest du besonders wichtig?“
Übungsleiter 2: „Das Wissen zum Umgang mit psychisch erkrankten Patienten. Allerdings wird dies in der Ausbildung [zum Physiotherapeuten] deutlich zu gering vermittelt. Daher ist der Austausch mit Personal aus anderen Fachdisziplinen in Teambesprechungen und Supervisionen besonders wichtig.“ kProjekterfahrung
Übungsleiter mit rein sportwissenschaftlichem Hintergrund hatten zunächst Schwierigkeiten, die Instruktionen so anzupassen, dass sie für die Patienten – die wenig
182
9
V. Oertel et al.
Sporterfahrung haben – verständlich und umsetzbar waren. Psychologische Übungsleiter waren nur bedingt in der Lage, die Trainingssteuerung nach sportwissenschaftlichen Richtlinien zu gestalten. Schließlich wurde die Übereinkunft getroffen, dass sowohl ein Übungsleiter aus dem physiotherapeutischen/sportwissenschaftlichen Bereich als auch ein psychologischer/psychiatrischer Übungsleiter das Training gemeinsam durchführen und sich gegenseitig schulen. Die Eigenschaften eines Übungsleiters spielen u. a. deshalb eine große Rolle, weil „die personale Beziehung das wichtigste therapeutische Medium“ ist. Für die Beziehung zwischen Übungsleiter und Patient empfiehlt Hölter, dass der Übungsleiter sich Gedanken über folgende Aspekte macht: 55 Eigene innere und äußere Befindlichkeit: Hierzu gehört, inwiefern der Übungsleiter sich aktuell belastbar fühlt und welche Einstellung er zu seiner Arbeit pflegt. 55 Beziehungsreflexion: Der Therapeut sollte sich regelmäßig fragen, in welcher Beziehung er zu den einzelnen Patienten steht, welche Kommunikationsstrategien er anwendet und welche Einstellungen er an die Patienten oder auch umgekehrt heranträgt. Nicht zu vernachlässigen sind zudem auch das gesammelte Erfahrungswissen sowie die Intuition der Übungsleiter (Schüle u. Huber 2012). Hier sind sport- und trainingswissenschaftliche, psychologische sowie psychotherapeutische Kenntnisse im optimalen Fall zu vereinen. Eine sport- und trainingswissenschaftliche Ausbildung ist notwendig, um Trainingseinheiten qualitativ hochwertig durchführen zu können. Zusätzlich muss jedoch im Umgang mit psychiatrischen Patienten die Auswahl und Art der Instruktionen sorgfältig bedacht werden; hier sollten psychologische und grundlegende medizini-
sche Kenntnisse vorhanden sein, um z. B. mögliche psychologische (z. B. manischer Zustand) oder medizinische (z. B. Nebenwirkungen von Medikamenten) Auffälligkeiten zu erkennen und geeignete Maßnahmen zu ergreifen. Sollten die notwendigen Kenntnisse nicht gegeben sein, besteht die Möglichkeit, dass das sportliche Training mit einem Team aus Therapeut und Ko-Therapeut angeboten wird, z. B. ein Physiotherapeut zusammen mit einem Psychologen. Nach Hölter (2011) müssen Übungsleiter nicht unbedingt Verhaltens-, Gestalttherapeuten oder Tiefenpsychologen sein; vertieftes psychotherapeutisches Wissen ist jedoch hilfreich für den spezifischen Einsatz der Bewegungsinterventionen. kÜbungsleiterwissen: Interviewfrage „Welche persönlichen Eigenschaften spielen bei deiner Arbeit eine besonders bedeutende Rolle?“
Übungsleiter 1: „Ich muss empathisch sein, um auf den Patienten eingehen zu können; aber ich muss auch bestimmt sein, um eine Grenze zwischen Patient und Übungsleiter zu ziehen.“ Übungsleiter 2: „Es ist wichtig, dass ich zuhören kann, und sowohl verbale als auch non-verbale Signale der Patienten aufnehme und darauf reagiere. Ich muss darauf reagieren, wenn ein Patient nicht in der psychischen oder körperlichen Verfassung ist, eine Übung durchzuführen. Ich muss mein Verhalten immer wieder kritisch reflektieren – z. B. mit Hilfe von Supervision mit Kollegen, und mich vor allem in Bezug auf meinen Umgang mit den Patienten v erbessern“. >>Im optimalen Fall weist ein Übungsleiter, der Sporttraining mit psychisch erkrankten Personen durchführt, sowohl Sportwissenschaftliche/trainingswissenschaftliche als auch medizinische/ psychologische Kenntnisse auf.
183 Aspekte der Trainingsorganisation und -durchführung bei psychischen…
Gliederung der anwendungsbezogenen Themen
9.5
Schon für gesunde Personen stellt eine regelmäßige sportliche Aktivität eine Herausforderung dar (s. 7 Kap. 7); umso mehr gilt dies für Patienten mit psychischen Störungen aufgrund ihrer Symptomatik (z. B. Antriebsminderung, Energieverlust, somatische Begleiterkrankungen). Bevor mit der Durchführung von sportlichem Training gestartet werden kann, müssen daher – basierend auf interdisziplinärem Fachwissen verschiedener Disziplinen (Psychologie, Physiotherapie, Sportwissenschaften) – gewisse Voraussetzungen erfüllt sein, und zwar sowohl in Bezug auf die Patienten als auch auf die Therapeuten und den Kontext. Diese Voraussetzungen wurden in den vorigen Abschnitten beschrieben. Insgesamt tragen für ein erfolgreiches Umsetzen von Sporttreiben vielfältige psychologische, medizinische und organisatorische Faktoren bei (s. auch 7 Kap. 7). Diesen wichtigen Aspekten und Einflussfaktoren für die Durchführung sportlichen Trainings widmen sich 7 Kap. 10, 11 und 12. Hier nochmals ein kurzer inhaltlicher Überblick über die weiteren Kapitel von Teil IV: 55 7 Kap. 10: Körperliche Aspekte Körperliche Aspekte, die bei der betreffenden Person Kontraindikationen gegen die Teilnahme am sportlichen Training darstellen können, werden dargestellt. 55 7 Kap. 11: Psychische Aspekte Körperliche Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit beim Sport hängen maßgeblich
9
von Faktoren wie dem aktuellen psychischen Zustand, der Persönlichkeit und der Motivation sowie von früheren Erfahrungen des Teilnehmers ab. In 7 Kap. 11 wird beschrieben, welche psychischen Aspekte im Allgemeinen und bei unterschiedlichen Störungsbildern im Besonderen während des Sporttrainings zu beachten sind. 55 7 Kap. 12: Ernährung Hier geht es um wichtige ernährungsphysiologische Aspekte, da bei psychisch Erkrankten häufig ein veränderter Fettstoffwechsel vorliegt oder aufgrund der Psychopharmakotherapie eine besondere Ernährung indiziert ist.
Für die Aufteilung der Kapitel nach diesen thematischen Bereichen haben wir uns entschieden, um die verschiedenen „Handlungsschritte“, die es zu beachten gilt, gegliedert zusammentragen und so dem Leser eine Hilfestellung für die praktische Umsetzung an die Hand geben zu können. In 7 Kap. 10, 11 und 12 erfolgt zunächst eine allgemeine Darstellung, gefolgt von den jeweils störungsspezifischen Aspekten unter Berücksichtigung der jeweiligen Symptome. Dies hat folgenden Grund: Führt man Sport mit einer gemischten Gruppe durch – z. B. sowohl mit depressiven als auch schizophrenen Sporttreibenden –, muss man besonders darauf achten, dass die störungsspezifischen Besonderheiten vom Übungsleiter bei Instruktionen und bei der Auswahl von Übungen berücksichtigt werden. . Abb. 9.1 zeigt eine Zusammenstellung der wichtigsten Aspekte für die Durchführung von Sporttraining bei Personen mit psychischen Störungen und gibt damit einen Ausblick auf die Inhalte der folgenden 7 Kap. 10 und 12.
184
V. Oertel et al.
9 .. Abb. 9.1 Wichtigste Aspekte für die Durchführung von Sport und Bewegung bei psychiatrischen und psychosomatischen Patienten
Zusammenfassung Bei der Anwendung von Sporttraining in Psychiatrie und Psychosomatik sind neben gängigen Voraussetzungen für sportliches Training weitere Einflussfaktoren zu beachten. Bei den Voraussetzungen spielen die Auswahl der Räumlichkeiten und des Settings (Einzel vs. Gruppe) sowie die Ausstattung der jeweiligen psychiatrischen und psychosomatischen Behandlungseinrichtung eine Rolle, weil dadurch die Art des Trainings mitbestimmt wird. Weiterhin ist die Person des Übungsleiters – sowohl bezüglich seiner Qualifikation als auch bezüglich seiner individuellen Persönlichkeit – bedeutsam für den Erfolg von sportlichem Training. Auch die Art der Trainingsgestaltung, das Trainingsziel, die Instruktionsvermittlung sowie Aspekte der Gruppendynamik sind in der Psychiatrie und Psychosomatik zu beachten. Weiterhin gehören psychologische und
körperliche Aspekte im Allgemeinen sowie Besonderheiten bezogen auf einzelne Störungsbilder zu den Informationen, die einem Übungsleiter bei der Planung und Durchführung von sportlichem Training mit psychisch Erkrankten helfen können. Neben der Vermittlung von Fachwissen dient Teil IV dieses Buches der Weitergabe von Erfahrungswerten, die während dem Sporttraining in der Psychiatrie und Psychosomatik gesammelt wurden. Eine solche Weitergabe ist wertvoll und sollte stets institutions- und disziplinübergreifend stattfinden, um Synergieeffekte zu schaffen und somit Behandlungskonzepte zu optimieren. Ziel ist es, die Sport- und Bewegungsintervention bestmöglich als Therapiebaustein in die Gesamttherapie einzubetten und sportliche Aktivität nachhaltig in den Alltag des Patienten zu integrieren.
185 Aspekte der Trainingsorganisation und -durchführung bei psychischen…
Literatur
9
Klare WR (2010) Bewegungstherapie bei Diabetes mellitus. In: Braumann KM, Stiller N (Hrsg) Bewegungstherapie bei internistischen ErBrand R, Kahlert D (2009) Sportmotivation. Den inkrankungen. Springer, Berlin Heidelberg, S 53–62 neren Schweinehund überwinden. Gehirn und Klingen P (2011) Rollenaufgaben klug wahrnehmen Geist 1:14–19 Entlastungen suchen. Lehrhilfen für den SportBrehm W, Bös K, Graf C, Hartmann H, Pahmeier I, unterricht 60(11):1–5 Pfeifer K, Rütten A, Sygusch R, Tiemann M, Koch SC, Kolter A, Kunz T (2012) Indikationen und Tittlbach S, Vogt L, Wagner P (2013) Sport als Kontraindikationen in der Tanz-und BewegungsMittel in Prävention, Rehabilitation und Gesundtherapie. Tanz und Kunsttherapie 23 (2):87–105 heitsförderung – Eine Expertise. BundesgesundLängle G, Siemssen G, Hornberger S (2000) Die Rolle heitsblatt 56:1385–1389 des Sports in der Behandlung und Rehabilitation Brooks A (2010) Bewegungstherapie bei psychischen Erschizophrener Patienten. Die Rehabilitation 39 krankungen. In: Braumann KM, Stiller N (Hrsg) (5):276–282. doi:https://doi.org/10.1055/s-2000-7863 Bewegungstherapie bei internistischen Erkran Mattke C (2009) Durchführung einer psychokungen. Springer, Berlin Heidelberg, S 201–210 dynamischen Gruppenpsychotherapie. In: Mattke Bussfeld P, Czekalla J (2010) Therapieadhärenz bei MulD, Reddemann L, Strauß B (Hrsg) Keine Angst tipler Sklerose und Schizophrenie: Ein Vergleich vor Gruppen! Gruppenpsychotherapie in Praxis von Therapieadhärenzraten und Verbesserungsund Forschung. Klett-Cotta, Stuttgart ansätzen in der Therapie zweier schubförmiger, Miller WR, Rollnick S (1999) Motivierende Gesprächschronischer Erkrankungen des zentralen Nervenführung. Ein Konzept zur Beratung von Menschen systems. Fortschr Neurol Psychiat 78:139–146 mit Suchtproblemen. Lambertus, Freiburg Conzelmann A, Hänsel F, Hörner O (2013) Individuum Müller-Lütken VD (1989) Derzeitiger Ist-Zustand der und Handeln – Sportpsychologie. In: Güllich A, Sport- und Bewegungstherapie in psychiatrischen Krüger M (Hrsg) Sport: Das Lehrbuch für das Kliniken der Bundesrepublik. Sporttherapie in Sportstudium. Springer Spectrum, Berlin Heidelberg Theorie und Praxis:8–9 Deimel H (2008) Bewegungs- und Sporttherapie in der Oertel-Knöchel V, Mehler P, Thiel C, Steinbrecher K, Psychiatrie und im Suchtbereich - Rückblick und Malchow B, Tesky V, Ademmer K, Prvulovic D, BanAusblick. Bewegungstherapie und Gesundheitszer W, Zopf Y, Schmitt A, Hänsel F (2014) Effects of sport 24 (1):14–17 aerobic exercise on cognitive performance and indiviDeimel H, Hölter G (2011) Schizophrene Störungen. In dual psychopathology in depressive and schizophreHölter G (Hrsg) Bewegungstherapie bei psychischen nia patients. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci Feb 2 Erkrankungen. Grundlagen und Anwendungen. Pfeifer K, Hofmann J, Geidl W (2011) VerhaltensDeutscher Ärzte-Verlag, Köln, S 211–286 orientierung in der Bewegungstherapie: Bausteine Fuchs R (2009) Gesundheitsbroschüre: Motivation zu zur Bindung an einen körperlich aktiven Lebensmehr Gesundheit. Techniker Krankenkasse, stil. Bewegungstherapie und Gesundheitssport Hamburg 27:252–255 Goertzel V, May P, Salkin J, Schoop T (1965) Body- Schüle K, Deimel H (1990) Gesundheitssport und ego technique: an approach to the schizophrenic Sporttherapie - eine begriffliche Klärung. Gesundpatient. The Journal of Nervous and Mental Diheitssport und Sporttherapie 1,6,3 sease 4:53–60 Schüle K, Huber G (2012) Grundlagen der Sport- und Gorczynski P, Faulkner G (2011) Exercise therapy for Bewegungstherapie. Prävention, ambulante und schizophrenia (Review). The Cochrane Collabostationäre Rehabilitation, 3. Aufl. Deutscher ration, Toronto, Canada Ärzte Verlag, Köln Grawe K, Donati R, Bernauer F (1994) PsychoStoll O, Ziemainz H (2012) Laufen psychotherapie im Wandel: von der Konfession zur Protherapeutisch nutzen. Grundlagen, Praxis, Grenfession. Hogrefe, Göttingen zen. Springer, Berlin Heidelberg Hölter G (2011) Konturen der klinischen BewegungsTuckmann BW (1965) Developmental sequences in therapie. In: Hölter (Hrsg) Bewegungstherapie bei small groups. Psychological Bulletin 63(6):384–399 psychischen Erkrankungen. Deutscher Ärzte- Tuckmann BW, Jensen MA (1977) Stages in small Verlag, Köln, S 122 group development revisited. Group and OrganiKempf HD, Lowis A (1999) Fit und schön mit dem sation Studies 2:419–427 Thera-Band®. Trainingsbuch für Frauen. Weber A (1999) Hilf dir selbst: Laufe! Junfermann, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg Paderborn
187
Körperliche Aspekte von Sporttraining bei psychischen Störungen Christian Knöchel, Angelina Schneider, Pia Mehler, Viola Oertel und Benedikt Friedrichs
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 V. Oertel, F. Hänsel (Hrsg.), Aktiv für die Psyche, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67880-0_10
10
188
C. Knöchel et al.
nnLernziele 55 Kennenlernen medizinischer Faktoren, die eine Teilnahme am sportlichen Training für psychisch erkrankten Personen beeinflussen können 55 Kennenlernen von Empfehlungen zum Umgang mit körperlichen Aspekten für Sporttraining bei psychisch Erkrankten
10.1
10
Einführung
Verschiedene körperliche Einschränkungen oder Erkrankungen können dazu führen, dass sportliches Training aus medizinischen Gründen nicht durchgeführt werden kann. Dabei muss man absolute von relativen Kontraindikationen unterscheiden. Sollten absolute Kontraindikationen vorliegen, ist eine Teilnahme am Sporttraining nicht möglich. Sind relative Kontraindikationen vorhanden, so muss der behandelnde Arzt zunächst den körperlichen Zustand, der gegen die Teilnahme am Sporttraining spricht, durch entsprechende ärztliche oder sonstige Maßnahmen verändern. Anschließend ist erneut vom Arzt zu prüfen, ob die Voraussetzungen zur Teilnahme am Sporttraining gegeben sind oder nicht. Eventuell ist eine Teilnahme am sportlichen Training unter Anpassung der Belastungsintensität möglich. 10.1.1
Absolute Kontraindikationen
Zu den absoluten Kontraindikationen zählen die meisten schweren Herzerkrankungen (kardiovaskuläre Erkrankungen). Auch Tumorerkrankungen während Chemotherapien oder Bestrahlungen schließen schwere körperliche Belastungen aus, mit Ausnahme der therapiefreien Tage bzw. zwischen den Therapiezyklen (Mishra et al. 2012). Zu den absoluten Kontraindikationen zählen ein akuter Bandscheibenvorfall sowie Blutplättchenverminderungen (Thrombope-
nien) und eine erhöhte Blutgerinnung aufgrund des Risikos von Blutungen. Eine schwere Anämie (Blutarmut) führt zwar häufig zu einer Minderung der Belastbarkeit, die Trainingsintensität kann aber entsprechend angepasst werden. Bei Hämoglobinkonzentrationen (Hb) von >Vor dem Beginn eines sportlichen Trainings ist zu prüfen, ob bei der betreffenden Person absolute oder relative Kontraindikationen vorliegen. Mögliche Kontraindikationen können dabei aus dem kardiovaskulären (Herz-Kreislauf-Erkrankungen), dem internistischen (Organerkrankungen), neurologischen (Hirnerkrankungen), dermatologischen (Hauterkrankungen), infektiologischen (Infektionen) oder immunologischen (Veränderung von Blutwerten) Bereich kommen.
10.2
10
örperliche Aspekte bei K psychiatrischen und psychosomatischen Patienten
Betrachten wir unsere Zielgruppe der psychisch erkrankten Personen, so weist diese häufig folgende Konstellation auf: 1. Unter psychisch Erkrankten ist der Anteil an gesundheitsschädigendem Verhalten höher und die körperliche Fitness niedriger als in der Allgemeinbevölkerung. Viele psychiatrische Patienten treiben nur unregelmäßig oder gar keinen Sport, ernähren sich ungesünder und unregelmäßiger (Busch et al. 2011) und rauchen mehr. Beispielsweise rauchen Schizophreniepatienten zwei- bis dreimal häufiger als psychisch gesunde Personen (Kelly u. McCreadie 2000). 2. Die Symptomatik einiger Störungsbilder – etwa die gesteigerte Ermüdbarkeit und der verminderte Antrieb im Rahmen von Depressionen oder Phasen mit Negativsymptomatik bei der Schizophrenie – führt zu Bewegungsmangel und körperlicher Inaktivität.
3. Infolge der Nebenwirkungen gängiger psychiatrischer Medikamente (insbesondere Neuroleptika) kommt es zu Gewichtszunahmen (bei bis zu 70 % aller betroffenen Patienten) (s. Kraepelin 1909; Bleuler 1911; Wetterling et al. 2004) und zu Veränderungen von Stoffwechselprozessen (Metabolismus). Auch kardiovaskuläre Veränderungen können als Nebenwirkungen, insbesondere von Neuroleptika, auftreten. >>Psychisch kranke Menschen – insbesondere schizophrene Patienten – weisen einen schlechteren körperlichen Allgemeinzustand auf, verhalten sich häufiger gesundheitsschädigend (Ernährung, Konsumverhalten), leiden oft unter somatischen Nebenwirkungen der Medikamente und somatischen Begleiterkrankungen.
Zusammengenommen führen diese Faktoren zu einem erhöhten somatischen und insbesondere kardiovaskulären Risikoprofil und zahlreichen somatischen Begleiterkrankungen. Bei einem psychisch erkrankten Menschen müssen folglich – im Gegensatz zu Sportlern – neben den allgemein gültigen medizinischen Anforderungen von Sporttraining oftmals weitere somatische Gegebenheiten beachtet werden, die Einfluss auf den Trainingserfolg und die Trainingseignung nehmen können. Das schädigende Gesundheitsverhalten und die somatischen Begleiterscheinungen halten Symptome wie Antriebsverlust und sozialen Rückzug aufrecht (Löwe et al. 2006). Daher liegen mögliche absolute oder relative somatische Kontraindikationen vor, die vor Beginn eines sportlichen Trainings kritisch geprüft werden müssen. Dies kann vor Beginn eines Sporttrainings mittels medizinischer und sportwissenschaftlicher Diagnostik erfolgen (. Tab. 10.2).
10
191 Körperliche Aspekte von Sporttraining bei psychischen Störungen
.. Tab. 10.2 Überblick über allgemeine körperliche Aspekte bei psychisch Erkrankten sowie Hinweise für diagnostische Maßnahmen vor und während des Sporttrainings. Die Phasen der Diagnostik sind Hölter (2011) entnommen Zielgröße
Körperliche Aspekte
Beispiele für Erhebungsinstrumente
Phase
Allgemeine körperliche & internistische Untersuchung Körpergewicht Körpergröße Erfassung des Body-Maß-Index Hüftumfang Taillenumfang Taille-Hüft-Verhältnis Taille-Größen-Verhältnis Blutdruck Puls Vorerkrankungen/ Voroperationen Elektrokardiographie (EKG) Langzeit- und/oder Belastungs-EKG
Schnelleres Schwitzen Schnelleres Ermüden Kardiovaskuläre Risikofaktoren
Standardisierte Instrumente mit Fragen zur Krankengeschichte & zur Abklärung des körperlichen Status Kontraindikationsbogen (Kardiologie)
Statusdiagnostik Vorher – Nachher Prozessdiagnostik
Neurologische Untersuchung
Bewegungsstörungen in Fein- und Grobmotorik Neurologische Soft-Signs
–
–
Erfassung biochemischer und somatischer Laborparameter Blutentnahme
Neigung zu Infekten Veränderter Fettstoffwechsel
Großes Blutbild Fettstoffwechsel Leberenzyme Blutzuckerprofil Elektrolyte Nierenwerte Creatinkinase-Wert (CK) Gerinnungsparameter
Statusdiagnostik Vorher – Nachher Prozessdiagnostik
Erfassung der Medikation Psychiatrische und allgemeine Medikation Nebenwirkungen
Herzrasen (Tachykardie) Blutdruckabfall Unzureichende Flüssigkeitszufuhr Verwirrtheitszustände Muskelkrämpfe Elektrolytverschiebungen Kumulationsgefahr von Lithium (Stimmungsstabilisierer) Bewegungsstörungen
–
Statusdiagnostik Vorher sowie bei Veränderungen
(Fortsetzung)
192
C. Knöchel et al.
. Tab. 10.2 (Fortsetzung)
10
Zielgröße
Körperliche Aspekte
Beispiele für Erhebungsinstrumente
Phase
Erfassung des Gesundheitsverhaltens Erfassung des Bewegungsverhaltens (Erholung und Belastung) Stressniveau Ernährungsgewohnheiten Erfassung des Konsumverhaltens
Bewegungsmangel Körperliche Inaktivität Ungesunde Ernährung Mehr Rauchen
Freiburger Fragebogen zur körperlichen Aktivität (FFKA) (Frey et al. 1999) Erholungs- und Belastungsfragebogen (EBF) (Kallus 1995) Ernährungsfragebogen (Epic-FFQ) (Boeing et al. 1997)
Statusdiagnostik Vorher – Nachher
Erfassung der körperlichen Leistungsfähigkeit (Leistungsdiagnostik) Erfassung spiroergometrischer Leistungsparameter
Veränderter Laktatstoffwechsel Niedrige Fitness Niedrige muskuläre Ausdauer
Belastungs-EKG Laktat, VO2 max., maximale Leistung, maximale Sauerstoffaufnahme, PWC, 3 mmolSchwelle
Statusdiagnostik Vorher – Nachher
Erfassung physiologische Leistungsfähigkeit Beweglichkeit Kraft Schnelligkeit Ausdauer Gleichgewicht Kondition
Verringerte Flexibilität Gleichgewichtsstörungen Geringere Ausdauer Verminderte Kraft
Beweglichkeitstests (Finger-Boden- Abstand, Seitneigung, Beinheben, Rotation, Ott- und Schober-Maß) Koordinationstest nach Anleitung der Abteilung für Sportmedizin (Goethe- Universität Frankfurt) Krafttest (Cavelti 2005) Motorische Basisdiagnostik (MBD) (Wydra 2004).
Statusdiagnostik Vorher – Nachher
1
Cavelti M (2005) Anleitung der Abteilung für Sportmedizin, Goethe Universität Frankfurt: Krafttest
>>Im Rahmen einer sporttherapeutischen Maßnahme mit psychisch erkrankten Patienten in psychiatrischen und psychosomatischen Behandlungseinrichtungen ist eine vorausgehende und in bestimmten Abständen zu wiederholende ärztliche Untersuchung zur Prüfung möglicher Kontraindikationen Voraus-
setzung für die Teilnahme am Sporttraining. Weiterhin ist eine sport- und bewegungswissenschaftliche Diagnostik bedeutsam, um die körperliche Fitness und physiologische Leistungsfähigkeit der Patienten richtig einschätzen zu können und Trainingsintensität und -umfang danach zu gestalten.
193 Körperliche Aspekte von Sporttraining bei psychischen Störungen
10
Zur medizinischen Diagnostik gehört 55 eine allgemeine körperliche Untersuchung, 55 eine ausführliche internistische und neurologische Diagnostik, 55 eine Erfassung biochemischer und somatischer Laborparameter, 55 eine Erfassung der Medikation und der Nebenwirkungen sowie 55 eine Erhebung des Gesundheitsverhaltens.
nen, ob eine weitere Aufklärung über den Nutzen von körperlicher Aktivität und Zusammenhänge zu Ernährungsgewohnheiten erfolgen sollte. Zur sportwissenschaftlichen Diagnostik (7 Kap. 8) gehören 55 eine Erfassung der körperlichen Leistungsfähigkeit (Leistungsdiagnostik) und 55 eine Erfassung der physiologischen Leistungsfähigkeit.
kBehandlerwissen
Diese Untersuchungen können auch dazu dienen, Defizite im Bereich der körperlichen Fitness festzustellen und Ziele für das Training zu definieren (z. B. verbesserte Beweglichkeit, Steigerung der Ausdauer, Verbesserung der körperlichen Fitness).
Bei der allgemeinen körperlichen Untersuchung wird geprüft, ob physische Vorerkrankungen wie z. B. Hauterkrankungen oder Infekte oder körperliche Werte wie beispielsweise Gewicht und Größe eine Teilnahme am Sport verhindern oder vor Beginn des Sporttrainings behandelt werden müssen. Zusätzlich ist eine internistische Untersuchung vor einer sportlichen Intervention eine wichtige Voraussetzung für eine problemfreie Teilnahme am Training. Besonderes Augenmerk sollte dabei auf die Erfassung kardiovaskulärer Risikofaktoren gelegt werden. Durch eine Elektrokardiographie (EKG) werden derartige Risiken getestet. Falls sich auf Basis des EKGs herausstellen sollte, dass ein Patient trotz Herzerkrankungen am Sport teilnehmen kann, empfiehlt es sich, zunächst ein Langzeitund/oder Belastungs- EKG durchzuführen, um zu prüfen, wie sich die Herzerkrankung unter Belastung verändert. Außerdem ist eine regelmäßige Wiederholung des EKGs sinnvoll, um mögliche hinzukommende Risiken abzuprüfen. Weiterhin ist eine Erfassung des Bewegungsverhaltens und der Ernährungsgewohnheiten vor Beginn einer sportlichen Intervention eine sinnvolle Ergänzung der medizinischen Diagnostik in der Psychiatrie und Psychosomatik. Diese Informationen sind für die Übungsleiter wichtig, um das Ausgangsniveau des jeweiligen Probanden zu ermitteln. Auch erhält der Übungsleiter/Arzt dadurch Informatio-
kEmpfehlungen für die Praxis
Empfehlenswert ist – falls in der Behandlungseinrichtung möglich – eine spiroergometrische Messung (Leistungsdiagnostik) zur Erfassung der körperlichen Leistungsfähigkeit (Fitness). Dabei wird ein genau definiertes Testschema verwendet, um die aerobe Fitness festzustellen und den individuellen Trainingsbereich für einen Teilnehmer zu bestimmen (z. B. das Testschema des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie, Löllgen 2010). Je nach aktuellem Leistungsstand beginnt der Teilnehmer mit einer bestimmten Wattzahl (z. B. 0–25 Watt) auf einem Fahrradergometer zu treten. Dabei durchläuft der Teilnehmer verschiedene Stufen mit steigender Belastung. Jeweils nach drei Minuten steigt die Belastung um beispielsweise 25 Watt. Alle drei Minuten, also vor jeder Steigerung der Belastung, wird der Blutlaktatwert aus einem Tropfen (ca. 0,05 ml) Blut, das aus dem Ohrläppchen entnommen wird, gemessen. Die Laktatwerte werden zur Bestimmung der individuellen anaeroben Schwelle (IANS) benötigt. Die IANS bezeichnet die höchstmögliche Belastungsintensität eines Sportlers und stellt die
194
C. Knöchel et al.
Grundlage der Trainingssteuerung dar (Institut für Sportwissenschaften 20111). Mit einer Trainingsintensität, die etwa der IANS entspricht, wird bestmöglich die Ausdauerfähigkeit trainiert. Nach dem Erreichen der IANS wird die Belastungsphase für den Teilnehmer beendet. Während des Stufentests misst und kontrolliert ein Multisportcomputer durchgehend den Puls des Patienten. Zusätzlich wird die Herzfrequenz aufgezeichnet. Die Gesamtdauer der Belastung beträgt – je nach Fitnesszustand des Teilnehmers – in der Regel ca. 9–12 Minuten. 10.2.1
10
Körperliche Leistungsfähigkeit
Psychisch Erkrankte – vergleichbar mit untrainierten Menschen – schwitzen und ermüden schneller als trainierte Personen. Daher sind Überforderungen generell zu vermeiden. Dazu sind insbesondere der Laktatstoffwechsel (Milchsäurebildung), die aerobe Fitness, die muskuläre Ausdauer und der Fettstoffwechsel bei Personen mit psychischen Störungen mit dem Zustand eines untrainierten Menschen zu vergleichen. Aus diesem Grund sollte ein körperliches Training so gestaltet sein, dass es nicht sofort zu einer Überforderung kommt. Überbelastungen mit Laktatwerterhöhungen führen beispielsweise in den meisten Fällen zu ausgeprägten Muskelschmerzen (Muskelkater) und können daher eine anfängliche Bereitschaft und Motivation für kontinuierliches Sporttraining negativ beeinflussen (Herter 2009). Neben einem zunehmenden Lebensalter können auch gängige Psychopharmaka eine Veränderung der maximalen Sauerstoffaufnahme und des Ruhe- und Belastungspulses
1 Institut für Sportwissenschaften ASGUFaM (2011) Vorlage für Sportmedizinische Leistungsdiagnostik
bewirken (Reimers u. Brooks 2003). Vor Aufnahme eines sportlichen Trainings ist folglich kritisch zu prüfen, welche Werte die Patienten in Ruhe- und Belastungszustand aufweisen (s. spiroergometrische Messung). Diese Werte sind individuell und hängen vom Fitnessgrad, dem Trainingszustand, dem Alter und weiteren Faktoren ab. kProjekterfahrung
In Kooperation mit der Medizinischen Klinik II (Kardiologie, Dr. Florian Seeger, Klinikum der Goethe-Universität Frankfurt/ Main) wurde mit einigen Teilnehmern eine spiroergometrische Messung durchgeführt, um die aerobe Fitness sowie den Trainingsbereich zu bestimmen. Zwei depressive Patienten bekamen bei der Messung der maximalen Sauerstoffaufnahme (VO2 max) deutliche Angstsymptome. Bei der Messung wird eine Maske auf das Gesicht gesetzt. Die spiroergometrische Messung musste hier abgebrochen werden. Es wurde darauf verzichtet, die maximale Sauerstoffaufnahme zu messen; stattdessen wurden die anderen Werte der Leistungsdiagnostik zur Beurteilung herangezogen. 10.2.2
Fettstoffwechsel und Inflammation
Psychisch erkrankte Menschen können laut mehreren Studien Veränderungen im Fettstoffwechsel aufweisen, und zwar unabhängig von einer medikamentösen Therapie (vgl. 7 Kap. 6). Der Fettstoffwechsel wird durch sportliches Training positiv beeinflusst, so dass hier sportliches Training eher empfohlen als ausgeschlossen wird. Insgesamt fördert Ausdauertraining die Fett- und Kohlenhydratverbrennung aus der Oxidation freier Fettsäuren und der Glukose. Regelmäßiges Ausdauertraining ist daher die effektivste Handhabe, die Fettverbrennung während körperlicher Belastung zu steigern und den Fettstoffwechsel positiv zu beeinflussen.
195 Körperliche Aspekte von Sporttraining bei psychischen Störungen
Bei einem möglichen Übertraining kommt es zu einer chronischen Überaktivierung des Stresssystems und damit zu einer konstant vermehrten Kortisolausschüttung (Bradley u. Dinan 2010). Der Körper reagiert mit einer systemischen Entzündungs-(Inflammations-)reaktion (Angeli et al. 2004). In vielen Fällen hat dies ein dauerhaft geschwächtes Immunsystem mit häufigen Infekten zur Folge. Psychisch Erkrankte haben darüber hinaus insgesamt eine erhöhte Infektneigung, insbesondere Patienten mit Depression und Schizophrenie (Himmerich et al. 2009; Rink et al. 2012). Es ist daher günstig, auf eine genaue Dosierung der Belastung im individuellen Fall zu achten und das Training langsam und schrittweise aufzubauen. Neben den Komplikationen durch wiederholte Infekte ist die Ansteckungsgefahr Dritter hoch. kBehandlerwissen
Um mögliche Auswirkungen der Medikation auf biochemische Parameter, mögliche Infekte oder Veränderungen des Fettstoffwechsels zu untersuchen, sollten die Elektrolyte, Leber- und Nierenwerte, der Fettstoffwechsel, das Blutzuckerprofil, Muskelwerte (Creatinkinase [CK]) sowie die Gerinnungsparameter der Teilnehmer vor dem Training mittels Erhebung von Blutproben untersucht werden. Da sich die Werte ständig verändern können, empfiehlt sich eine regelmäßige Kontrolle (ca. alle zwei Wochen oder bei Umstellung der Medikation). 10.2.3
Auswirkungen von Psychopharmakotherapie
Psychopharmaka wirken sich auf den Fettstoffwechsel, auf kardiovaskuläre Faktoren und auf die Bewegung aus. Besonders die Einnahme verschiedener Neuroleptika kann zu Herzrasen (Tachykardie) und Blutdruckabfall führen. Dies kann durch unzureichende Flüssigkeitszufuhr noch ver-
10
stärkt werden und im schlimmsten Fall lebensbedrohlich werden. Eine zu geringe Flüssigkeitszufuhr kann an sich bereits zu Verwirrtheitszuständen und Muskelkrämpfen führen. In schweren Fällen kommen auch Elektrolytverschiebungen vor, was Störungen der Erregungsleitung am Herzen nach sich ziehen kann. Hierdurch kann die ohnehin schon vorhandene Wirksamkeit von Psychopharmaka auf die Erregungsleitung am Herzen noch verstärkt werden. Ein spezielles Problem stellt die Kumulationsgefahr von Lithium (Stimmungsstabilisierer) unter sportlichem Training dar. Die Lithiumkonzentration im Blut ist abhängig vom Wasser- und Salzhaushalt. Natrium- und Wasserverluste können zu einer deutlichen Erhöhung der Lithiumwerte führen und lebensbedrohliche Intoxikationen nach sich ziehen. Psychisch Erkrankte sind häufig – insbesondere aufgrund der Medikation – in Flexibilität, Schnelligkeit, Ausdauer und Gleichgewichtssinn eingeschränkt. In vielen Fällen führt eine Psychopharmakotherapie zu folgenden Bewegungsstörungen: 55 Koordinationsstörung und Veränderungen des Körperschwerpunktes insbesondere unter sedierenden Medikamenten, v. a. Benzodiazepinen. Unter Antiepileptika wird Schwindel als Nebenwirkung beobachtet. 55 Veränderung des Blutdrucks (orthostatische Dysregulation): Insbesondere Antidepressiva und Antipsychotika erhöhen die Wahrscheinlichkeit derartiger Störungen. 55 Parkinsonoid (Bewegungsstörungen, die dem Gangbild bei Morbus Parkinson gleichen): Insbesondere hochpotente Antipsychotika der 1. Generation führen zu einem Parkinsonsyndrom mit entsprechender Bewegungseinschränkung. 55 Muskelrelaxation: V. a. Benzodiazepine können eine Muskelentspannung mit sich bringen. Diese wirkt sich negativ auf sportliches Training aus, da die be-
196
C. Knöchel et al.
troffenen Patienten für einige Übungen nicht die erforderliche Körperspannung aufweisen. 55 Viele Psychopharmaka führen zu einer erhöhten Sturzneigung (Tideiksaar, zit. nach Matolycz 2011; Becker et al. 2006).
10
Daher müssen bei einer neurologischen Untersuchung mit schizophrenen Patienten sog. neurologische Soft-Signs beachtet werden; sie stellen Kontraindikationen für die Teilnahme am Sporttraining dar. Es handelt sich hierbei um leichte unspezifische Koordinations- und Feinmotorik-Störungen, die insbesondere bei an Schizophrenie erkrankten Menschen auftreten. Die Sturzund Verletzungsgefahr ist bei diesem Patientenkollektiv infolgedessen erhöht, so dass es erforderlich ist, die Art der Übungen sowie die Trainingsintensität anzupassen. Bei Patienten, die eine erhöhte Fallneigung oder sonstige Bewegungsstörungen haben, müssen Sportarten gewählt werden, bei denen ein Fallrisiko nicht gegeben ist, wie z. B. Schwimmen oder Gymnastik. Hölter (2011) empfiehlt zur Erfassung der Beweglichkeit und Flexibilität die motorische Basisdiagnostik von Wydra (2004). Sportwissenschaftler empfehlen Tests zur Messung physiologischer Leistungsparameter (wie Beweglichkeit, Kraft, Schnelligkeit, Ausdauer, Gleichgewicht und Kondition). Hölter (2011) ergänzt seine Liste der zu erfassenden diagnostischen Werte um den Bereich des psychomotorischen Verhaltens. Damit sind neurologische oder endokrinologische Steuerungsfunktionen, phänomenologische Bewegungsbeobachtungen und Selbstbeurteilungsskalen zur Erfassung von Hand- und Armbewegungen, Schreibmotorik, leib- und bewegungsbezogenem Verhalten und dem Verhalten in komplexen Handlungs-
situationen gemeint. Diese Parameter fasst er unter dem Begriff Diagnostik zur klinischen Bewegungstherapie zusammen. kEmpfehlungen für die Praxis
55 Allgemein wird empfohlen, bei psychisch Erkrankten, die eine Psychopharmakotherapie erhalten, beim sportlichen Training besonders auf eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr zu achten. 55 Aufgrund der erhöhten Sturzneigung (insbesondere bei der Demenz) sollten Übungen vermieden werden, bei denen eine erhöhte Sturzgefahr besteht; einfache Bewegungsabläufe sind zu bevorzugen. Im ambulanten Setting bieten sich risikoarme Sportarten mit geringer Verletzungsgefahr an, wie z. B. Schwimmen oder Walken. 55 Im stationären Setting kann durch Wiederholungen die Sicherheit bei der Ausführung von Übungen gesteigert werden und ggf. können temporeiche Übungen nur dosiert eingesetzt werden. Dies ist auch für die Bewegungsarmut einiger Patienten, z. B. bei der Schizophrenie, zu empfehlen. 55 Generell gilt aufgrund der häufig bestehenden mangelnden körperlichen Fitness, dass Trainingsumfang und Trainingsintensität langsam gesteigert werden. 55 Übertrainingseffekte sollten vermieden werden. kBehandlerwissen
Unter körperlichem Training sind eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr sowie häufigere Kontrollen der Spiegel – z. B. des Lithiumspiegels – im Blut unbedingt erforderlich. Auch die Dosis einiger Medikamente muss zumeist angepasst werden.
10
197 Körperliche Aspekte von Sporttraining bei psychischen Störungen
10.3
örperliche Aspekte bei K einzelnen Störungsbildern
Durchführung von Sporttraining im psychiatrischen und psychosomatischen Kontext beeinflussen können. . Tab. 10.3 gibt zunächst einen Überblick über die spezifischen körperlichen Aspekte; im Folgenden werden die körperlichen Aspekte bei den einzelnen Störungsbildern nochmals detailliert erläutert und Empfehlungen für die Praxis gegeben.
Zusätzlich zu den genannten körperlichen Merkmalen, die allgemein bei psychisch erkrankten Menschen auftreten können, gibt es noch weitere spezifische körperliche Besonderheiten einzelner Störungsbilder, die die
.. Tab. 10.3 Überblick über körperliche Aspekte bei einzelnen psychiatrischen Störungsbildern, die bei der Anwendung von Sporttraining in Psychiatrie und Psychosomatik zu beachten sind Störungsbild
Körperliche Aspekte
Empfohlene Maßnahmen
Schizophrenie
Niedriges Ausgangsniveau körperlicher Aktivität Verminderte körperliche Leistungsfähigkeit, schlechter Gesundheitszustand Akutphase: Körperschemastörungen, große motorische Unruhe, Orientierungsstörungen Negativsymptomatik: Antriebsminderung, Energieverlust, motorische Verlangsamung Bewegungsstörungen
Motivationsarbeit Schrittweise Trainingsintensität und Umfang steigern Bewegungsabläufe einfach gestalten „Klassische“ Ausdaueraktivitäten (z. B. Laufen) Allgemeine Aktivierung Beweglichkeitssteigerung durch Wechsel aus aktiven/passiven, statischen/dynamischen Übungsformen
Affektive Störungen –depressive Patienten
Antriebsminderung Schnelle Ermüdbarkeit Verminderte körperliche Belastungsfähigkeit Energieverlust Schmerzen in verschiedenen Organen Herz- bzw. Atembeschwerden Gefühl des körperlichen Unwohlseins
Kurze Sporteinheiten, viele Pausen Aufgabenschwierigkeit an individuelles Leistungsniveau anpassen Für einzelne Schritte positive Rückmeldung geben
Affektive Störungen –manische Patienten
Motorisch sehr unruhig Tendenz zu tollkühnem Verhalten Neigung zu Übertraining Gefühl der „Übergesundheit“
Darauf achten, dass der Patient sich nicht verausgabt Verletzungsgefahr beachten Darauf achten, dass der Patient mit seiner Konzentration bei der Sportaufgabe ist, z. B. durch parallele Anleitung oder Beschreibung der Sportübung
Abhängigkeitssyndrom
Körperliche Einschränkungen Meist schlechte körperliche Fitness Rückfall kann dazu führen, dass Person alkoholisiert oder intoxikiert zum Sport kommt
Aufgabenschwierigkeit schrittweise erhöhen Körperliche Fitness regelmäßig prüfen Während Entgiftung Eignung zum Sport kritisch prüfen (Fortsetzung)
198
C. Knöchel et al.
. Tab. 10.3 (Fortsetzung) Störungsbild
Körperliche Aspekte
Empfohlene Maßnahmen
Demenzen
Somatische Begleiterkrankungen Erhöhte Fallneigung Motorisches Defizit Haltungsveränderungen, Bewegungsstörungen
Koordinative Anforderung niedrig halten Sturzpräventionstraining Altersgerechte Sportübungen Schutzkleidung wegen erhöhter Verletzungsgefahr Kurze Übungen, kurze Sporteinheiten, viele Wiederholungen
Angststörungen
Angstsymptome ähneln den Anzeichen körperlicher Anstrengung (z. B. erhöhter Puls, Schwitzen)
Psychotherapeutisch begleiten (Sporttraining kann eine Konfrontation mit Angstsymptomen darstellen) Informationen über Wirkungen geben Aufklärung, dass Übungen ohne Risiko sind Insgesamt eher risikoarme Sportarten Kein pulsgesteuertes Training
Essstörungen
Übertriebenes Sporttreiben Versuch der Gewichtsreduktion Eventuell starkes Untergewicht Störung des psychomotorischen Gleichgewichts Körperwahrnehmungsstörungen Herz-Kreislauf-Probleme, Osteoporose, Elektrolytverschiebungen Anorexie: hohe Muskelspannungen oder spannungslose Körperhaltung, körperliche Hyperaktivität, flache Atmung Bulimie: hoher Muskeltonus wechselnd mit „Schlaffheit“, unregelmäßige Atmung, Hypokaliämie
Mögliches übermäßiges Sporttreiben kritisch prüfen und gegebenenfalls eingreifen Trainingseinheiten dosiert Genau beobachten, ob Trainingsplan eingehalten wird Muskulatur stärken Gleichgewichtstraining Training zur Veränderung der Körperwahrnehmung Muskelaufbau zum Aufbau von Kraft
Borderline- Persönlichkeitsstörung
Tendenz zur Selbstverletzung Eventuell Missbrauchserlebnisse Schmerzen, Anspannungszustände Adipositas, Osteoporose Essstörungen
Selbstverletzung nicht tolerieren Übungen zum Abbau von Spannungszuständen Körperliche Berührungen behutsam
10
10.3.1
Schizophrenie
Schizophrene Patienten haben häufig ein niedrigeres Ausgangsniveau an körperlicher Aktivität im Alltag, verbringen mehr Zeit mit physisch weniger anstrengenden Tätigkeiten und treiben weniger Sport in ihrer Freizeit als die Allgemeinbevölkerung (Roick et al. 2007). Insgesamt sind der gene-
relle Gesundheitszustand und die körperliche Fitness schizophrener Patienten schlechter als in der Gesamtbevölkerung. Beispielsweise hat Laursen (2011) berichtet, dass Patienten mit Schizophrenie im Vergleich zur Normalbevölkerung ein 2- bis 3fach erhöhtes Risiko aufweisen, an einer somatischen Erkrankung zu versterben. Hölter (2011) gibt an, dass über 50 % aller
199 Körperliche Aspekte von Sporttraining bei psychischen Störungen
10
schizophrenen Patienten massive physische kEmpfehlungen für die Praxis Probleme als Begleiterscheinungen der psy- Es ist ein langsames Heranführen und Gechischen Störung aufweisen. Dabei treten wöhnen an körperliche Belastungen erinsbesondere Stoffwechselerkrankungen, forderlich. Hölter (2011) schlägt „klassiSchlafstörungen, Diabetes und Herz-sche“ Ausdaueraktivitäten wie Laufen, Kreislauf- Beschwerden gehäuft auf (Ri- schnelles Gehen, Radfahren, Schwimmen, chardson et al. 2005; Längle et al. 2000). Zirkeltraining oder Training auf dem Fahrradergometer vor, um die körperliche FitkProjekterfahrung ness langsam zu steigern. Aufgrund der moEine schizophrene Patientin schaffte auf- torischen Einschränkungen empfiehlt Hölgrund ihres körperlichen Allgemeinzustands ter (2011) eine allgemeine Aktivierung sowie und ihrer langsamen Bewegungen nur eine einen Wechsel aus aktiven – passiven bzw. Stufe im Belastungstest der spiroergo- statischen – dynamischen Übungsformen. metrischen Messung. Dies war ein wichtiger Hinweis für die Trainingsgestaltung. Bei der Patientin wurde daher nur mit sehr kleinem 10.3.2 Affektive Störungen Trainingsumfang und einfachen Übungen begonnen und der Trainingsumfang ganz Bei affektiven Störungen gibt es keine alllangsam gesteigert. gemeingültigen Kontraindikationen, sofern Mehrere schizophrene Patienten be- das Training an die aktuelle motorische, nötigten außerdem häufiger Hilfestellung physische und psychische Belastbarkeit anbei koordinativen Aufgaben, vor allem in gepasst ist (Hölter 2011). Bezug auf die Hand-Fuß-Koordination im Aerobic- Training oder auf die Körper- z Depressionen position im Zirkeltraining. Insgesamt besteht bei einer Depression jedoch eine stark verminderte körperliche Bez Veränderungen im allgemeinen Belastungsfähigkeit, die u. a. durch den dewegungsablauf pressionsbedingten Energieverlust und die Einhergehend mit der schizophrenen Antriebsminderung zustande kommt und Symptomatik werden oft Veränderungen im besonders durch Schlafstörungen noch inallgemeinen Bewegungsablauf der Patienten tensiviert werden kann. Die Patienten erbeobachtet. Für die Akutphase beschreibt müden deshalb schnell (Hautzinger 1998). Hölter (2011), dass schizophrene Patienten Dazu kommen Schmerzen in verschiedenen unter ausgeprägten Körperschema- Organen (typisch sind Kopf, Magen, Rüstörungen und großer motorischer Unruhe cken) und Herz- bzw. Atembeschwerden leiden, oft einhergehend mit Orientierungs- (z. B. flache Atmung, unregelmäßiger Puls). störungen in Raum und Zeit. In Phasen mit Die Motorik ist eher verlangsamt, muskuüberwiegender Negativsymptomatik zeigen läre Verspannungen werden häufig anSchizophrene dagegen eine starke Antriebs- gegeben, die Patienten fühlen sich körperminderung, Energieverlust und motorische lich unwohl (Hölter 2011). Verlangsamung (Hölter 2011). Auch durch Medikamente können motorische Ein- z Manie schränkungen auftreten, z. B. werden Be- Manische Patienten sind dagegen häufig wegungen häufig langsamer ausgeführt, und motorisch sehr unruhig, zeigen eine Tendie motorische Flexibilität ist eingeschränkt denz zu tollkühnem Verhalten und können (Häfner 2005; Morrens et al. 2007). ein Gefühl der „Übergesundheit“ entwickeln
200
C. Knöchel et al.
(Hölter 2011). Manische Patienten neigen auch dazu, sich selbst zu überschätzen, die geforderten Übungen zu schnell und mit mehr Wiederholungen durchzuführen, was zu einer gesteigerten Verletzungsgefahr führt. Sie spüren kaum Erschöpfung und neigen dazu, zu viel zu trainieren. kProjekterfahrung
10
Eine manisch-depressive Patientin trieb während einer manischen Phase neben dem normalen Sportprogramm sehr extensiv Sport; etwa drei Stunden pro Tag. Sie wurde gebeten, ihr Sportprogramm auf 1,5 Stunden pro Tag zu reduzieren, um der Antriebssteigerung entgegenzuwirken. In der darauffolgenden Woche gab die Patientin an, sie habe den Sport wie vereinbart auf 1,5 Stunden reduziert. Bei Nachfrage wurde jedoch deutlich, dass die Patientin die zuvor ausgeführten Übungen (Krafttraining) in derselben Menge mit denselben Wiederholungen durchgeführt hatte – sie hatte die Übungen einfach „doppelt so schnell“ gemacht. Dies kann als Trigger für die manische Symptomatik wirken. Da hier eine Verletzungsgefahr und die Gefahr eines Übertrainings bestand, musste weiter reduzierend eingegriffen werden. kEmpfehlungen für die Praxis
Bei depressiven Patienten erscheint es wichtig, kurze Sporteinheiten mit vielen Pausen durchzuführen, die Aufgabenschwierigkeit an das individuelle Leistungsniveau anzupassen und die Patienten an Aufgaben mit einem höheren Schwierigkeitsgrad bezüglich der Koordination und Anstrengung langsam heranzuführen. Insgesamt sollte der Inhalt eines Sporttrainings bei depressiven Patienten auf die „momentane motorische, physische und psychische Belastbarkeit und Beanspruchbarkeit der Teilnehmer“ ausgerichtet sein (Hölter 2011). Manische Patienten sollten nicht zu vielen und zu starken Reizen ausgesetzt sein, da dies die Symptomatik verschlimmern kann. Bei manischen Patienten empfiehlt es sich daher, auf die Reizintensität zu achten, die
Anzahl der Gruppenmitglieder nicht zu groß zu gestalten, die Lautstärke der Musik anzupassen und darauf zu achten, dass die Patienten sich nicht verausgaben. Es könnte sonst Verletzungsgefahr bestehen. 10.3.3
Abhängigkeitssyndrom
Abhängige befinden sich oft in einem schlechten körperlichen Allgemeinzustand und weisen eine hohe Rate an somatischen Begleiterkrankungen auf (Hölter 2011). Insbesondere kardiovaskuläre, neurologische und orthopädische (motorische) Funktionsstörungen sowie Gewichtveränderungen in beide Richtungen sind Begleiterscheinungen bei Abhängigkeitserkrankungen. Weiterhin müssen körperliche Begleitsymptome der Abhängigkeit – wie erhöhter Blutdruck, Koordinationsstörungen oder Störungen der Feinmotorik – beim Aufbau des Trainings Berücksichtigung finden (Lesch et al. 2007). Zusätzlich leiden Patienten mit Abhängigkeit häufig unter zahlreichen psychischen und psychosozialen Symptomen, die zusammen mit den somatischen Begleiterscheinungen einschränkend und belastend wirken. Bei Abhängigen ist zudem wichtig zu unterscheiden, in welchem Stadium der Behandlung sich ein Patient befindet: in der Entgiftungsbehandlung oder in der darauffolgenden Langzeit- oder Entwöhnungstherapie. Es besteht eine Kontraindikation für sportliches Training, wenn sich der Patient in oder kurz nach einem Alkoholentzugssyndrom oder gar -delir befindet oder eine akute psychotische Störung vorliegt (Hölter 2011). In der Entgiftungsbehandlung sind häufig starke körperliche Einschränkungen vorhanden. Weiterhin kommt es vor, dass Patienten rückfällig werden und dann beispielsweise alkoholisiert zum Sporttraining kommen. Die Patienten müssen in diesem Fall vom Sporttraining an diesem Tag ausgeschlossen werden, und der behandelnde Arzt und/oder Psychologe muss informiert werden.
201 Körperliche Aspekte von Sporttraining bei psychischen Störungen
kProjekterfahrung
Ein Patient in einer Alkoholentgiftung zeigte sich motorisch sehr unruhig und äußerte sich gereizt und aggressiv gegenüber dem Übungsleiter. Er gab immer wieder an, dass er den Sinn der Übungen nicht verstehe und dass alle Anwesenden ihn „bis zum Äußersten reizen würden“. Die Teilnahme am Sporttraining wurde bis nach der Entgiftungsphase ausgesetzt. kEmpfehlungen für die Praxis
In allen Stadien muss sorgfältig untersucht werden, ob die Patienten, je nach Schweregrad der Abhängigkeit und der körperlichen Einschränkungen, physisch und psychisch in der Lage sind, sportlich aktiv zu werden. Vor allem zu Beginn eines sportlichen Trainings ist auf einen behutsamen Einstieg mit leichter Trainingsintensität zu achten (Hölter 2011). 10.3.4
Demenzen
Bei älteren Menschen liegen keine Kontraindikationen für die Teilnahme am sportlichen Training vor, solange das Training an den körperlichen und emotionalen Status adaptiert ist (Hölter 2011). Allerdings müssen körperliche Begleiterkrankungen besonders berücksichtigt werden. Hierbei spielen neben den kardiovaskulären Erkrankungen in der Gerontopsychiatrie vor allem auch neurologische Erkrankungen wie z. B. Morbus Parkinson oder Schlaganfälle eine Rolle. Viele der Patienten leiden zudem an Demenzen mit entsprechenden kognitiven Einschränkungen. Eine dementielle Erkrankung bringt eine Vielzahl von somatischen und psychischen Einschränkungen mit sich, mit denen die Patienten konfrontiert werden. Neben den kognitiven Defiziten und dem Verlust der Selbständigkeit zählen auch motorische Defizite wie ein vermindertes Gleichgewicht und ein erhöhtes Sturzrisiko zu den Symptomen (Schwenk et al. 2010). Demente Patien-
10
ten zeigen meist ein deutlich geringeres Aktivitätsniveau, was wiederum die motorische Leistungsfähigkeit reduziert. In der Frühphase einer Demenz können Haltungsveränderungen, Tremor, Rigor oder Bradykinesie auftreten (Förstl et al. 2009). Die reduzierte Motorik führt dann häufig zu einer verringerten körperlichen Aktivität, in Folge derer die positiven Auswirkungen von Bewegung auf die Erkrankung ausbleiben (Hölter 2011). Regelmäßige sportliche Betätigung kann gerade in der Frühphase der Demenz jedoch eine Möglichkeit sein, einem meist bewegungsarmen Tagesablauf der Patienten entgegenzuwirken. kProjekterfahrung
Ein Patient mit Demenz zeigte schon in den Voruntersuchungen eine erhöhte Sturzneigung, lief unsicher und zeigte sich ängstlich. Der Übungsleiter achtete bei der Auswahl und Durchführung von Übungen darauf, den Patienten bei Übungen mit Sturzgefahr zu unterstützen, und/oder alternative Übungen auszuwählen, häufig ohne Schnelligkeitsaspekt und komplizierte Schrittfolgen. kEmpfehlungen für die Praxis
Eine ruhige Atmosphäre ist für Demenzpatienten hilfreich. Das Trainingsprogramm sollte einfach und verständlich aufbereitet werden. Die Komplexität der Instruktionen und der Übungen muss an den Grad der Demenz angepasst werden. Dazu ist es wichtig, für jedes Trainingsprogramm genau zu differenzieren, bis zu welchem Grad einer Demenz Patienten daran teilnehmen können. Eventuell bietet sich das Tragen von Schutzkleidung wegen überhöhter Sturzneigung an. Ein Sturzpräventionstraining sowie ein Training des Gleichgewichts erscheinen hier wesentlich (Hölter 2011). Ein interessantes Programm für die Zielgruppe haben Freiberger u. Schöne (2010) zusammengestellt. Das Programm besteht aus mehreren Modulen zur Verbesserung der Kraft, des Gleichgewichts, des Ganges sowie zum Auf-
202
C. Knöchel et al.
bau von Bewegungskompetenzen. Hölter (2011) schlägt auch ein Bewegungsprogramm für ältere demente Patienten vor, das aus verschiedenen Elementen zum Aufbau der Körperwahrnehmung, der Kraft, der Koordination und Feinmotorik sowie des Gleichgewichts besteht. 10.3.5
10
Angststörungen
In der klinischen Leitlinie zu Angststörungen wird für Patienten mit Panikstörung und Agoraphobie „Sport (Ausdauertraining) als ergänzende Maßnahme zu anderen Standardtherapien“ empfohlen (Bandelow et al. 2014). Für Panikpatienten stellt Konditionstraining eine Möglichkeit dar, sich mit den physiologischen Reaktionen ihres Körpers auseinanderzusetzen, und kann damit auch als Konfrontationstherapie genutzt werden (Morschitzky 2009). Der Patient lernt, dass das Ansteigen des Pulses auch im höheren Bereich keine negativen Folgen hat. Er schult sein Körpergefühl und bekommt mehr Körpervertrauen. Ein Hauptproblem bei Angstpatienten ist jedoch, dass körperliche Zeichen der Anstrengung als Anzeichen von Angst unter Umständen missinterpretiert werden. Das heißt, dass z. B. ein erhöhter Puls oder starkes Schwitzen, die bei Anstrengung auftreten, als Symptome einer kommenden Panikattacke gewertet werden könnten (7 Kap. 12).
kProjekterfahrung
Ein depressiver Patient hatte in einer Trainingseinheit einen erhöhten Puls. Die Übungsleiter beendeten daraufhin für den Patienten die Trainingseinheit und informierte den behandelnden Arzt. Dieser ordnete daraufhin eine Langzeit-EKG-Messung bei einem internistischen Facharzt an. Hier konnte kein auffälliger Befund festgestellt werden. Der Facharzt bestätigte deshalb die Sporttauglichkeit. Der Patient nahm wieder
am Sporttraining teil. Erneut wies er bei bestimmten Trainingseinheiten einen erhöhten Puls auf. Wieder wurde das Training abgebrochen und der behandelnde Arzt informiert. Eine erneute internistische Untersuchung ergab wiederholt keinen auffälligen Befund. Der behandelnde Arzt führte daraufhin ein langes psychotherapeutisches Gespräch mit dem betreffenden Patienten. Er stellte fest, dass der Patient vor dem Heben der Beine große Angst hatte, weil er hierbei vor einigen Jahren eine Panikattacke erlitten hatte. Seitdem vermied er jegliche Bewegung, bei der er die Beine über den Kopf heben muss. Nach sorgfältiger medizinischer Abklärung ohne auffälligen Befund war somit anzunehmen, dass der erhöhte Puls, der gerade bei derartigen Übungen auftrat, ein Angstsymptom – kein medizinisches Problem – darstellte. Der Übungsleiter wurde informiert und führte den Patienten in den folgenden Trainingseinheiten langsam an die genannte Bewegung heran. Vor Trainingsbeginn war dem behandelnden Arzt nicht bekannt, dass der Patient neben der depressiven Symptomatik unter Symptomen einer Angststörung litt. Das sportliche Training erwies sich hier daher zusätzlich als diagnostisches Mittel. kEmpfehlungen für die Praxis
Obwohl die Trainingssteuerung mit Pulsuhren im Allgemeinen oft empfohlen wird, ist bei Panikpatienten hier keine generelle Empfehlung auszusprechen. Es besteht die Gefahr, dass die Pulsuhr und der damit in Zusammenhang stehende Trainingsbereich als „der Richtwert schlechthin“ interpretiert werden, von dem nicht abgewichen werden darf. Im Vordergrund sollte die Schulung des Vertrauens auf den eigenen Körper und seiner Signale anstatt auf eine Pulsuhr und die gemessenen Werte stehen. Durch regelmäßige sportliche Betätigung können Patienten ihre körperliche Leistungsfähigkeit steigern und sich dadurch belastbarer fühlen. Allerdings kann die mögliche Fehlinterpretation körperlicher Signale eventuell eine
203 Körperliche Aspekte von Sporttraining bei psychischen Störungen
Kontraindikation darstellen. Je nach Symptomschwere ist vor jeder Teilnahme am Sporttraining zu klären, inwieweit der Patient belastbar ist und sich die Teilnahme selbst zutraut und ob sie für ihn eine Belastung oder einen Gewinn darstellt. 10.3.6
Essstörungen
Prinzipiell besteht eine kontroverse Diskussion um den Einsatz von Sport in der Therapie von Essstörungen. Studien zufolge gehen etwa 40 % der Patientinnen mit der Diagnose Essstörung in einer ungesunden Art und Weise sportlicher Aktivität nach (Mond u. Calogero 2009). Bei der Anorexia nervosa und bei der Bulimia nervosa wird exzessives Sporttreiben von den Betroffenen häufig als Mittel zur Gewichtsreduktion eingesetzt (Zeeck u. Schlegel 2013). Anorektische Patienten haben durch das Untergewicht und restriktives Essen häufig Herz-Kreislauf-Probleme, Osteoporose und Elektrolytverschiebungen. Diese Patienten weisen nach Hölter (2011) zudem entweder hohe Muskelspannungen auf oder zeichnen sich durch eine spannungslose Körperhaltung aus, es besteht eher eine körperliche Hyperaktivität sowie eine flache Atmung. Bulimische Patienten haben einen eher hohen Muskeltonus wechselnd mit Schlaffheit – ähnlich wie anorektische Patienten –, dazu eine unregelmäßige Atmung (Hölter 2011). Auffällig erscheint hier der Wechsel zwischen verschiedenen körperlichen Zuständen – von Spannung bis Schlaffheit. Etwa 14 % der Betroffenen der Bulimia nervosa leiden zudem an einer Hypokaliämie (zu wenig Kalium im Körper), die eine relative Kontraindikation für die Teilnahme an sportlichen Trainings darstellt (Glazer u. O’Connor 1993). Sowohl bei Anorexie als auch bei Bulimie werden zudem Störungen des psychomotorischen Gleichgewichts beschrieben (Lausberg 1994, 2008).
10
kProjekterfahrung
Eine ambulante anorektische Patientin kam immer wieder mit einem dicken Pulli und zwei übereinander getragenen weiten Sporthosen zum Sporttraining. Es wurde hier vermutet, dass sie ihr Aussehen verheimlichen wollte. Der Übungsleiter führte wöchentliche Gewichtskontrollen ein und stellte fest, dass das Gewicht kontinuierlich abnahm. Das Sporttraining wurde hier ausgesetzt, und die Patientin wurde bis zur Erreichung des Mindestgewichts psychiatrisch/psychotherapeutisch behandelt. Anschließend erfolgte eine erneute Teilnahme unter Beobachtung des Gewichts und der Art und Weise des Sporttreibens. kEmpfehlungen für die Praxis
Absolut kontraindiziert ist Sporttraining, wenn ein extrem niedriger BMI (Body Mass Index; Maß für das Verhältnis zwischen Körpergröße und Gewicht) vorliegt (nach Hölter 2011 ein BMI >Die körperliche Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit beim Sport hängen maßgeblich von Faktoren wie dem aktuellen psychischen Zustand, der Persönlichkeit und Motivation sowie von früheren Erfahrungen und der Ernährung des Teilnehmers ab. Diese Informationen sollten dem Übungsleiter in der Planungsphase vorliegen.
kÜbungsleiterwissen: Interviewfrage „Inwieweit spielen die psychische Störung oder bestimmte psychische Symptome eine Rolle während der Behandlung?“
Übungsleiter 1: „Jede Symptomveränderung ändert die Behandlung und deren Verlauf. Dies muss bei der Therapieplanung berücksichtigt werden und stellt manchmal eine Herausforderung dar. Ich muss dabei stets gut auf die aktuelle Symptomatik achten, weil die Patienten nicht immer ohne Aufforderung und Nachfrage sagen, wie es ihnen geht.“ Übungsleiter 2: „Sie [psychische Symptome] spielen bei einem Großteil der Patienten eine wichtige Rolle. Die psychische Verfassung geht stark einher mit der körperlichen Verfassung.“
Sowohl das gegenwärtige psychische Befinden als auch frühere Erfahrungen und überdauernde Persönlichkeitseigenschaften spielen eine Rolle für die sportliche Leistung und die Eignung für ein bestimmtes Sporttraining (Conzelmann 2009; Schwinger et al. 2013). So kann eine Verbesserung der körperlichen Leistungsfähigkeit durch regelmäßiges Sporttraining die psychische Verfassung verbessern, z. B. indem das Selbstbewusstsein durch erfolgreiches Bewältigen von Übungen gesteigert wird. Dies wirkt sich dann auch wieder positiv auf die körperliche Leistungsfähigkeit aus. Hier kann also von einer wechselseitigen Beeinflussung ausgegangen werden. Bei Teilnehmern von sportlichem Training spielen Persönlichkeitsfaktoren eine Rolle für das Umsetzen von Übungen; darüber hinaus treten bei verschiedenen psychischen Störungen dysfunktionale Persönlichkeitseigenschaften auf (Resch et al. 2008), die der Übungsleiter kennen und in die Planung des Sporttrainings miteinfließen lassen sollte: Hat man es z. B. mit einem ehrgeizigen oder perfektionistischen Menschen zu tun, der besonders den Leistungsaspekt beachtet, gestaltet sich das Training eventuell anders als mit einem ängstlichen Menschen, der eher vor einer möglichen Überforderung zurückschreckt und sich nicht genügend anstrengt (Bassler u. Leidig 2005). Psychisch Erkrankte – insbesondere depressive Patienten – weisen häufig einen überhöhten Leistungsanspruch, gepaart mit einem niedrigen körperlichen Leistungsniveau, auf. Die hohe Erwartungshaltung kann dazu führen, dass eine falsche Einschätzung des Schwierigkeitsgrads der Übungen zu Misserfolgserlebnissen führt. Eine Person mit zwanghaften Zügen wird Übungen eventuell zu genau ausführen und dadurch nicht schnell genug für andere aus einer Sportgruppe sein. Gerade bei Menschen mit psychischen Störungen können zudem das Selbstbild sowie die soziale und emotionale Kompetenz deutlich herabgesetzt sein.
209 Psychische Aspekte von Sporttraining bei psychischen Störungen
Ein geringes Selbstbewusstsein kann z. B. dazu führen, dass ein Teilnehmer Übungen, die seinem körperlichen Leistungsvermögen entsprechen, nicht erfolgreich bewältigt, weil er sich nicht an neue und komplizierte Inhalte herantraut. Das Selbstbewusstsein wird dabei besonders von früheren Erfahrungen, z. B. von Niederlagen oder Erfolgen, beeinflusst. Zusammengenommen muss der Übungsleiter darauf achten, welche Persönlichkeitseigenschaften ein Patient hat, und die Instruktionen, die Übungsauswahl und das Feedback daran anpassen. Auch für die Gruppendynamik können auffällige Persönlichkeitseigenschaften – etwa wenn ein ehrgeiziger Patient seine Leistung ständig mit der Leistung anderer Patienten abgleicht – eine Rolle spielen. Der Übungsleiter muss dann ggf. regulierend eingreifen. Auch ob der Teilnehmer im Sporttraining beispielsweise gestresst oder unsicher ist, beeinträchtigt die körperliche Fitness und damit die sportliche Leistung. Sollte ein Teilnehmer hungrig oder durstig sein bzw. Drogen oder Alkohol konsumiert haben, beeinträchtigt dies das Wohlbefinden und damit das Leistungsniveau während des Sports. Auch der Ernährungszustand und das Ernährungsverhalten (7 Kap. 11) nehmen Einfluss auf das psychische Befinden und den körperlichen Leistungszustand. Psychisch Erkrankte achten weniger auf sich und ihre Gesundheit, so dass immer wieder auf einfache Dinge wie ausreichendes und ausgewogenes Essen und Trinken hingewiesen werden muss. Bei psychisch Erkrankten ist die Vigilanz besonders zu beachten, da diese u. a. mit der Wirkung der Medikamente und der akuten Symptomatik zusammenhängt (Laux u. Brunnauer 2005). Auch Schlafstörungen – ein häufig vorkommendes Problem bei psychisch Erkrankten – oder die Motivationslage beeinflussen die sportliche Leistung. Da viele psychische Störungen mit Antriebs- und Energieverlust einhergehen, sind die Motivationslage und der Antrieb immer im
11
Vorhinein zu prüfen. So wird sich ein Teilnehmer, der gerade keine Lust hat Sport zu treiben, anders verhalten als ein übermotivierter Sportler, der dazu tendiert, sich zu überlasten. Darüber hinaus sollten die Ziele des Trainings immer vorher klar definiert werden und für jeden Teilnehmer ersichtlich sein. Diese Ziele sollten an das Leistungsniveau der Teilnehmer angepasst werden, da sich „zu einfach“ oder „zu schwierig“ gesetzte Ziele negativ auf die Motivationsbereitschaft auswirken (7 Kap. 9). Beim Training in der Gruppe spielt außerdem soziale Kompetenz eine wichtige Rolle. Ein Trainierender, der sich wenig mit anderen Sportlern austauscht, wird auch wenig von den Mitsportlern profitieren und lernen. Es gilt: je heterogener die Gruppe, desto schwieriger ist es, für alle Teilnehmer geeignete Übungen zu finden und somit ein möglich großes Maß an Wohlbefinden zu ermöglichen. Umgekehrt fühlt sich ein sozial gut in die Gruppe integrierter Sporttreibender wohl, was sich positiv auf die körperliche Leistungsfähigkeit auswirken kann. Zusätzlich zu den zuvor beschriebenen allgemeinen Einflussparametern wirken sich im psychiatrischen Kontext natürlich auch psychische Symptome und Merkmale auf das Verhalten im Sporttraining aus, die im Folgenden genannt werden sollen. Bei einem psychisch Erkrankten sollte man nicht nur in Betracht ziehen, an welcher psychischen Störung der Patient leidet, sondern auch die jeweilige Krankheitsepisode berücksichtigen, in der er sich augenblicklich befindet.
kEmpfehlungen für die Praxis
Die individuellen Persönlichkeitseigenschaften sollten in das Training einbezogen werden. Liegen Unsicherheiten und ängstliches Verhalten vor, ist ein langsames Heranführen an Übungen sowie das Anbieten von durch Wiederholungen Vertrautem hilfreich. Dabei gilt, dass weder
210
V. Oertel et al.
Überforderung noch Unterforderung günstig sind und daher vermieden werden sollten. Eine realistische Zielplanung mit kleinen Schritten zur Leistungssteigerung ist zu empfehlen. Das Training sollte darüber hinaus dem Aufmerksamkeitszustand des Teilnehmers angepasst sein (Nimz 2012). Bei geringer Aufmerksamkeitsspanne sollten komplexe Übungen vermieden werden. Sollten eine Antriebsminderung und eine fehlende Motivation gegeben sein, sind zum einen eine motivierende Gesprächsführung, zum anderen Übungen zur Auflockerungen zu empfehlen. Beispielsweise kann durch verbale Belohnungen (z. B. „Ja, gut gemacht!“) ein Patient motiviert werden, weiter am Sporttraining mitzumachen. Aufwärmspiele können dazu beitragen, Spaß an Bewegung zu wecken. Zusätzlich kann durch die Vermittlung von Informationen über angemessenes Ess- und Trinkverhalten und über die positiven Effekte von sportlichem Training die Motivationslage noch weiter verbessert werden.
11
kBehandlerwissen
Ein manisch-depressiver Patient agiert im Sporttraining in depressiven, manischen oder remittierten Phasen jeweils sehr unterschiedlich. Diese Informationen sollte ein Übungsleiter von den behandelnden Ärzten/ Psychologen erhalten. Auf der anderen Seite gibt das Verhalten während des Sports dem behandelnden Arzt/Psychologen oder Übungsleiter wiederrum wichtige diagnostische Informationen über den aktuellen Krankheitszustand. Daher ist es wichtig, dass sich Übungsleiter und Arzt/Psychologe regelmäßig austauschen. 11.2
Erfassung psychischer Aspekte
Die Erfassung psychischer Merkmale erfolgt in psychiatrischen oder psychosomatischen Behandlungseinrichtung
normalerweise in der Diagnostikphase zu Beginn der Behandlung sowie fortlaufend in der täglichen Routine. Je nach Störungsbild und Ziel der Therapie werden bestimmte diagnostische Instrumente eingesetzt und Informationen, die von Relevanz sind, gesammelt. Anhand der erfassten Informationen wird ein psychopathologischer Befund (7 Kap. 4) nach dem AMDP-System (AMDP 2007) erstellt. Mittels störungsspezifischer Diagnostik werden spezifische Symptomkonstellationen erfasst. Dazu kommen eine neuropsychologische Testung zur Feststellung der kognitiven Leistungsfähigkeit, Fragen zu bestimmten Persönlichkeitseigenschaften, Fragen zur Gefühlslage, eine Erfassung des Körperbilderlebens, früherer Erfahrungen, der sozialen Kompetenz sowie der Motivationslage (Bartuska et al. 2005; Berger u. Hecht 2003). . Tab. 11.1 gibt einen Überblick über Informationen, die im Gespräch erfragt oder anhand verschiedener Erhebungsinstrumente überprüft werden. Zudem werden Empfehlungen für den Umgang mit möglichen Aspekten im Training für den Übungsleiter gegeben. Für eine zusammenfassende Darstellung möglicher diagnostischer Instrumente verweisen wir auch auf die Kapitel zu einzelnen Störungsbildern in Hölter (2011). Aufbauend auf den Ergebnissen der psychiatrischen und psychologischen Diagnostik werden dann individuelle Ziele für das Sporttraining mit den Patienten vereinbart (7 Kap. 9 sowie Zieldefinitionen von Hölter 2011). Dabei wird die Eignung zum Sporttraining geprüft, d. h., es wird kontrolliert, ob die akute Symptomatik es zulässt, dass Sport im Einzel- oder Gruppensetting absolviert wird. Weiterhin muss festgestellt werden, ob Einbußen der Merkfähigkeit vorhanden sind und inwieweit der Komplexitätsgrad im Training an das Leistungsniveau angepasst werden muss. In den folgenden Abschnitten lesen Sie, welche besonderen Merkmale bei einzelnen Störungsbildern zu beachten sind.
211 Psychische Aspekte von Sporttraining bei psychischen Störungen
11
.. Tab. 11.1 Überblick über psychiatrische und psychologische Diagnostik mit Beispielen für mögliche Erhebungsinstrumente Diagnostische Maßnahme
Psychische Aspekte
Beispiele für Erhebungsinstrumente
Erfassung, allgemeine Anamnese und psychopathologischer Befund Alter Geschlecht Händigkeit Staatsangehörigkeit Muttersprache Bildungsniveau Ersterkrankungsalter Familienanamnese Krankheitsphase
–
AMDP-System
Diagnostik der psychischen Störung Überprüfung der Kriterien psychischer Störungen Persönlichkeitseigenschaften Soziale Kompetenz
Je nach Störung und Symptomatik ist das Verhalten unterschiedlich Zu beachten sind auch Persönlichkeitsmerkmale
Strukturiertes Klinisches Interview Psychischer Störungen (SKID I und SKID II; Wittchen et al. 1996)
Erfassung der Psychopathologie – allgemein Erhebung Gefühlslage und Wohlbefinden Fragen zum Körperbild Frühere Erfahrungen Stresserleben, Unsicherheit, Ängstlichkeit Emotionaler Zustand Hunger, Durst Selbstwert Motivation
Verhalten ist abhängig von der aktuellen Episode, vom aktuellen körperlichen und psychischen Zustand (z. B. Anspannung, Stress, emotionales Erleben) Antriebsverlust Energieverlust
Gefühlsskala (Feeling Scale; Hardy u. Rejeski 1989) Fragebogen zum allgemeinen habituellen Wohlbefinden (FAHW; Wydra 2014) Belastungsempfinden (RBE/Borg-Skala; Borg 1998) Erfassung aktuelle Befindlichkeit: Symptom-Checkliste von Derogatis (SCL-90 R; Franke 2002) Erfassung aktueller mentaler Status: Positive and Negative Affect Schedule (PANAS; Krohne et al. 1996) Dresdner Körperbildfragebogen (Pöhlmann et al. in Druck)
Erfassung kognitive Leistungsfähigkeit
Kristalline Intelligenz Aufmerksamkeitszustand Kognitive Leistungsfähigkeit
Mehrfachwahl-Wortschatz-Test (MWT-B; Lehrl 2005) MATRICS Consensus Testbatterie (Testbatterie mit 7 Domänen) Trail Making Test (TMT; Reitan 1958) California Verbal Learning Test (CVLT; Niemann et al. 2008) Aufmerksamkeits- und Belastungs-Test (D2; Brickenkamp 2002)
212
V. Oertel et al.
11.3
Störungsspezifische psychische Aspekte
Zusätzlich zu allgemeinen störungsübergreifenden Aspekten, die sich auf sportliches Training auswirken, kommen bei psychisch Erkrankten weitere Merkmale hinzu, die durch die individuelle Symptomatik in der jeweiligen Krankheitsphase bedingt werden. . Tab. 11.2 gibt einen Überblick. Im Folgenden werden psychische Aspekte bei den einzelnen Störungsbildern näher ausgeführt.
11.3.1
11
Schizophrenie
Für schizophrene Patienten bestehen keine generellen psychischen Kontraindikationen (Hölter 2011). Allerdings treten, je nach Krankheitsphase, einige Symptome auf, die beim Sporttraining zu beachten sind. In einer akuten Phase einer Schizophrenie leiden die Erkrankten an einer gestörten Reizverarbeitung (Exner u. Lincoln 2011). Eine Konfrontation mit zu vielen Reizen, wie sie insbesondere in größeren Gruppen besteht, kann daher zu einer Zunahme der psychotischen Symptome (Halluzinationen und Wahn) führen. Man spricht in solchen Fällen von einer Reizüberflutung, die in akuten Phasen unbedingt vermieden werden sollte. In psychotischen Phasen weisen schizophrene Patienten zudem Dingen häufig eine Bedeutung zu und knüpfen Assoziationen, z. B. könnte eine bestimmte Musik oder ein Sportgerät mit bestimmten wahnhaften Gedanken verknüpft werden (Hölter 2011). Je nach Assoziation kann das beim betroffenen Patienten Angst und Unruhe auslösen und durch den damit verbundenen Stress die Symptomatik ungünstig beeinflussen. Bei halluzinierenden Patienten können darüber hinaus Übungen, bei denen sich die Patienten Dinge vorstellen müssen, zu einer Verstärkung der Ängste führen (Lesch et al. 2007). Auch fällt es den Patienten zumeist
schwer, die nicht-verbalen Inhalte des Übungsleiters zu verstehen. Da die Patienten während akuter Krankheitsphasen nicht selten misstrauisch gegenüber anderen Menschen sind, ist die Kontaktaufnahme häufig erschwert. Im Rahmen der Negativsymptomatik können im Gruppensetting des Sportprogramms besonders Antriebsminderung, weniger gezeigte Affekte (Affektverflachung), Kontaktvermeidung, eingeschränkte Kommunikation und sozialer Rückzug auftreten (Maß 2010). Die Schizophrenie geht darüber hinaus in akuten und nicht-akuten Phasen häufig mit kognitiven Defiziten insbesondere im Bereich des Gedächtnisses, der Aufmerksamkeit, der psychomotorischen Geschwindigkeit und der Konzentrationsfähigkeit einher (Volz et al. 2010). kProjekterfahrung
Auf Aufwärmspiele oder Cool-Down- Übungen, die mit geschlossenen Augen durchgeführt werden, wurde weitgehend verzichtet. Auf Nachfrage war diese Art von Übungen von den Patienten auch nicht erwünscht. Die Art der Musik wurde sorgfältig ausgewählt: Laute oder intensive Musik wurde als störend empfunden. kÜbungsleiterwissen: Interviewfrage „Inwieweit spielen die psychische Störung – oder bestimmte psychische Symptome – eine Rolle während der Behandlung?“
Übungsleiter 2: „Im Vergleich zu Patienten mit depressiver Symptomatik benötigten schizophrene Patienten stärkere Motivationsarbeit. Außerdem sind schizophrene Patienten kognitiv eingeschränkter und hatten deshalb eher Probleme mit komplizierten Spielen und Anweisungen.“ Übungsleiter 4: „Auffällig war, dass schizophrene Patienten häufig Konzentrationsdefizite, Koordinationsschwierigkeiten und Defizite im Bewegungsablauf zeigten, was sich aber im Laufe des Trainings verbesserte.“
Psychische Aspekte
Kontaktvermeidung, eingeschränkte Kommunikation und sozialer Rückzug Kognitive Defizite Tendenz zu assoziieren, Dingen Bedeutung zuzuweisen Störung der Reizverarbeitung Bei produktiver Symptomatik eventuell Misstrauen gegenüber Mitpatienten/ Übungsleiter vorhanden Interessenminderung
Störungsbild
Schizophrenie
Akute Symptomatik: Positive and Negative Syndrom Scale (PANSS; Kay et al. 1987) Revised Hallucination Scale: Prädisposition zu Halluzinationen (RHS; Morrison et al. 2002)
Beispiele für störungsspezifische Erhebungsinstrumente
. Tab. 11.2 Überblick über psychische Besonderheiten bei Sporttraining in Psychiatrie und Psychosomatik
(Fortsetzung)
Insgesamt auf Komplexität und Reizintensität der Übung achten Gruppengröße beschränken Lichtquellen bei Sportarten, z. B. Sport im Freien, gering halten (z. B. Wechsel von Licht/Schatten oder Spiegelungen im Wasser vermeiden) Lautstärke im Sportraum gering halten Bei Verwendung von Musik auf Liedtexte achten bzw. Stücke ohne Text wählen (wegen möglicher „Botschaften“) Motivationsarbeit Schrittweise Aufgabenbewältigung Vermeidung von Assoziationen zwischen Objekten, z. B. Sportgeräten und psychotischen Gedanken Zur Vermeidung von Fehldeutungen: Sportübungen und Abläufe bzw. Sinn und Zweck der Übung vorab erklären Nur direkt benötigtes Material im Sportraum aufbewahren Keine „Verfolgungsspiele“ (z. B. Fangen) Kontinuierliche Anleitung, viele Wiederholungen, Gedächtnisstützen geben Behutsame Kontaktaufnahme Soziale Kompetenzen stärken
Empfohlene Maßnahmen
Psychische Aspekte von Sporttraining bei psychischen Störungen 213
11
Psychische Aspekte
Perfektionismus Leistungsdenken Niedriges Selbstwertgefühl Gefühl der Überforderung Schnelles Versagensgefühl (vor allem, wenn Sportübungen ein Ziel haben) Ängstlich-unsichere Komponente Schwierigkeiten, eine Übung aus eigenem Antrieb zu beginnen oder eine Übung durchzuhalten/aufrecht zu erhalten Interessenminderung Mangelnde Motivation Sport zu treiben oder am Sport selbst Starkes Grübeln Hoffnungslosigkeit (mangelnder Entwicklungsgedanke beim Sport bzw. gegenüber der eigenen sportlichen Fitness) Ausbleiben einer inneren Verstärkung
Tendenz, dem Gesprächspartner ins Wort zu fallen Probleme, eine gestellte Aufgabe zu Ende zu führen Distanzminderung Ideenflucht Verlust sozialer Hemmungen Leichte Ablenkbarkeit Tendenz zu überhöhter Selbsteinschätzung (insbesondere beim Gruppensport beachten) Schwierigkeiten bei der Einhaltung von Regeln Größenideen
Affektive Störungen – depressive Patienten
Affektive Störungen – manische Patienten
Bech-Rafaelsen-Manie-Skala (BRMAS; Bech 2005)
Beck Depressions Inventar II (BDI II; Hautzinger et al. 2006)
Beispiele für störungsspezifische Erhebungsinstrumente
11
Störungsbild
. Tab. 11.2 (Fortsetzung)
Auf Reizintensität achten (Gruppengröße, Lautstärke) Darauf achten, dass Patient sich nicht verausgabt Verletzungsgefahr beachten Darauf achten, dass Patient mit seiner Konzentration bei der Sportaufgabe ist, z. B. durch parallele Anleitung oder Beschreibung der Sportübung Regeln deutlich erklären und immer wieder darauf verweisen Eignung zum Gruppensport klären
An Termine erinnern bzw. aufschreiben Kurze Sporteinheiten, viele Pausen Aufgabenschwierigkeit an individuelles Leistungsniveau anpassen Langsames Heranführen an Aufgaben mit einem höheren Schwierigkeitsgrad Wettkampfcharakter bei Übungen und Sonderrollen einzelner Mitspieler vermeiden Wenn möglich, Vergleiche mit anderen Mitsportlern vermeiden Erfolge und bewältigte Aufgaben positiv verstärken Motivierende Gesprächsführung (bei Instruktionen, Fehlerkorrekturen, Feedback) Geduldiges, empathisches und wertschätzendes Auftreten
Empfohlene Maßnahmen
214 V. Oertel et al.
Soziale Kompetenzschwierigkeiten Tendenz, Verhalten deutlich nach Lust/Unlust auszurichten Neigung zu Minderwertigkeitsgefühlen Angst vor Misserfolg In der Entgiftungsphase: häufig Gereiztheit, Aggressionen, Erregungszustände
Gedächtnisdefizite Aufmerksamkeitsprobleme Konzentrationsschwierigkeiten Gefühle der Überforderung Störung des Denkvermögens Störung der emotionalen Kontrolle (des Sozialverhaltens, der Motivation) Einschränkung der alltagspraktischen Fertigkeiten Angst vor Neuem
Vermeidungs- und Schonverhalten Sportliches Training kann für den Patienten eine Art Konfrontation darstellen Bei pulsgesteuertem Training können Patienten die körperlichen Zeichen von Anstrengung als Angstsymptome missdeuten
Abhängigkeitssyndrom
Demenzen
Angststörungen
Erfassung State- und Trait-Angst: State-Trait Angst-Inventar (STAI; Laux et al. 1981)
Screening-Instrument: Mini-Mental- Status-Test (MMST; Folstein et al. 1975) Strukturiertes Interview für die Diagnose einer Demenz (SIDAM; Zaudig u. Hiller 1996) Kognitive Beeinträchtigung: Demenz-Test (DT; Kessler et al. 1988) Alltagsbewältigung: Bayer ADL-Skala (Erzigkeit u. Lehfeld 2010)
Problembereiche der Abhängigkeit: Cage-Test (Ewing 1984) Münchner Alkoholismus-Test (MALT; Feuerlein et al. 1999) Basler Drogen- und Alkoholfragebogen (BDA; Ladewig et al. 1976)
(Fortsetzung)
Zielklärung (konfrontative Maßnahme?) Informationen über Wirkungen & Risiken vermitteln Wettkampfcharakter bei Übungen vermeiden Zur Sicherheitsvermittlung Bekanntes anbieten (Musik, Abläufe, Übungsleiter, Räume, Geräte) Mit risikoarmen Sportarten/Übungen beginnen, langsam Risikobereitschaft erhöhen Intensive therapeutische Begleitung notwendig
Koordinative Anforderung niedrig halten Auswahl von Aufgaben mit geringer Komplexität (z. B. bzgl. Choreographie oder Aufwärmspiele) Bei Angst vor Neuem Rückgriff auf Bekanntes Als Gedächtnisstütze: Bekanntes anbieten (Musik, Abläufe, Übungsleiter, Räume, Geräte) Sporttermine & weitere Termine schriftlich notieren und mitgeben Kurze Übungen, kurze Sporteinheiten, viele Wiederholungen Klare Instruktionen; wenn möglich visuelle Unterstützung und/oder vor- und mitmachen
Aufgabenschwierigkeit schrittweise erhöhen Vorsicht: Gefahr der Suchtverschiebung; wenn möglich, präventiv eingreifen Verstärkung durch Instruktionen, Feedback Interesse und Freude an den Übungen wecken Steigerung von Freude und Motivation Soziale Kompetenzen trainieren, Instruktionen anpassen Deeskalierend wirken Realistische Ziele entwickeln
Psychische Aspekte von Sporttraining bei psychischen Störungen 215
11
Psychische Aspekte
Hoher Leistungsanspruch Perfektionistisches Denken Suchtverschiebung Körperwahrnehmung ist gestört
Manipulatives Verhalten Störungen der Gruppendynamik Fehlende Affektkontrolle Impulsive, aggressive Durchbrüche Rascher Wechsel von Motivation, Stimmung und Antrieb
Essstörungen
Borderline- Persönlichkeitsstörung
Borderline-Persönlichkeitsinventar (BPI; Leichsenring 1997) Skala zur Erfassung der Impulsivität und emotionalen Dysregulation der Borderline-Persönlichkeitsstörung (IES-27; Kröger u. Kosfelder 2011)
Strukturiertes Inventar für anorektische und bulimische Essstörungen nach DSM-IV und ICD-10 (SIAB; Fichter u. Quadflieg 1999) Körperwahrnehmung: Eigenschaftswörterliste zur Körperwahrnehmung bei anorektischen Patientinnen (EWL-AP; Steinhausen 1993)
Beispiele für störungsspezifische Erhebungsinstrumente
11
Störungsbild
. Tab. 11.2 (Fortsetzung)
Körperwahrnehmung schulen Grenzen zeigen und auf Einhaltung achten Termine einhalten, Struktur Angemessene und kontinuierliche Intensität des Trainings Manipulatives Verhalten unterbinden Aggressionen/Impulse umlenken Körperbezogene Fertigkeiten zur Spannungs- und Emotionsregulation
Schulung von Körpergefühl und -wahrnehmung Freude an der Bewegung vermitteln Übungen mit Leistungscharakter vermeiden
Empfohlene Maßnahmen
216 V. Oertel et al.
217 Psychische Aspekte von Sporttraining bei psychischen Störungen
kEmpfehlungen für die Praxis
Ausschlaggebend für eine regelmäßige Teilnahme schizophrener Patienten sind der Beziehungsaufbau, der besonders intensive Aufbau von Motivation und deren Pflege (Suslow u. Donges 2010). Nach Abklingen der akuten Phase ist ein wohldosiertes Therapieprogramm, abhängig von der individuellen Belastbarkeit, angebracht. Während einer akuten psychotischen Krankheitsphase ist ein Sporttraining nicht unbedingt indiziert (Payk u. Brüne 2013) oder nur unter Berücksichtigung der spezifischen Symptome indiziert. Nach Abklingen der akuten Phase ist ein wohldosiertes Therapieprogramm, abhängig von der individuellen Belastbarkeit, jedoch durchaus angebracht. Der Therapeut muss in jedem Fall auf ein ruhiges, klares und sicheres Auftreten achten, eine behutsame Kontaktaufnahme herbeiführen und auch mit seinem übrigen Verhalten versuchen, eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen (Lesch et al. 2007). Bedürfnisse nach Kontakt und Gruppenerleben sollten vor allem in der Aufwärmphase erfüllt werden. Da die Aufmerksamkeitsspanne gerade in Akutphasen gering ist, sollten eine kontinuierliche Anleitung sowie klare und einfache Instruktionen und Feedbackvermittlung seitens des Übungsleiters erfolgen. Die Gesprächsführung des Übungsleiters sollte hinsichtlich Qualität und Quantität der Auffassungskapazität der Betroffenen angemessen sein. Es ist hilfreich, die Komplexität von Übungen langsam zu steigern und gerade zu Beginn einfach zu halten. Man sollte als Übungsleiter sehr komplexe Übungen vermeiden, viele Wiederholungen einbauen und darauf achten, Gedächtnisstützen zu geben, z. B. durch wiederholtes Erklären oder Vormachen von Übungen. Auch Übungen, die kurz andauern, sind längeren und schwierig zu merkenden Übungen vorzuziehen. Überflüssige Reizquellen wie z. B. Lichtreize, laute Musik oder Außengeräusche sind zu minimieren. Hölter (2011) empfeh-
11
len darüber hinaus, nicht zu viel Material im Sportraum aufzubewahren, sondern Materialien lediglich dann bereitzustellen, wenn sie direkt benötigt werden. Kontinuierliche Anleitungen des Übungsleiters, vor allem in der Cool-Down-Phase (Phase am Ende der Sporteinheit, in der man die sportlichen Übungen langsamer werden lässt und irgendwann beendet), sollen möglichem psychotischem Erleben vorbeugen. 11.3.2
Affektive Störungen
z Depression
Depressive Patienten nehmen im Vergleich zu Patienten mit anderen Störungsbildern, wie z. B. mit Schizophrenie, wesentlich schneller aus Eigenüberzeugung an der Sporttherapie teil und zeigen eine höhere Bereitschaft zum Sporttreiben. In einigen Fällen, besonders bei akutem Interessenverlust, Freudlosigkeit oder starkem Grübeln, liegt diese grundlegende Motivation jedoch nicht vor. Dann kann es vorkommen, dass Patienten das regelmäßige Training als Pflichttermin und damit als Belastung empfinden. Zudem kann sich die Umsetzung des Trainings – besonders, wenn die Depression durch eine starke Antriebslosigkeit gekennzeichnet ist – als problematisch erweisen. Es besteht die Gefahr, dass sich der Patient bereits durch die Empfehlung eines sportlichen Trainings überfordert fühlt (Huber u. Köllner 2013). Das Gefühl der Überlastung kann dann im schlimmsten Fall die depressive Symptomatik verstärken (Lehofer u. Lehofer 2005). Deshalb sollte der Therapeut dem Patienten besonders geduldig, empathisch und wertschätzend gegenübertreten (Lesch et al. 2007). Depressive Patienten neigen dazu, sehr hohe Anforderungen an sich selbst zu stellen (Perfektionismus) und leistungsorientiert zu denken, wodurch schnell ein Gefühl der Überforderung entsteht. Beispielsweise setzen depressive Patienten sich selbst häufig sehr hohe (oft nicht erreichbare) Ziele. Wer-
218
V. Oertel et al.
den dann die Ziele auch seitens der Übungsleiter so hoch gesetzt, dass sie nicht erreicht werden (können), wirkt das auf die Patienten demotivierend und kann auch das Selbstwertgefühl vermindern. Generell können bei affektiven Störungen Sportinterventionen zur Ablenkung von Grübelgedanken sowie zur Steigerung von Selbstwirksamkeit beitragen. Bei depressiven Patienten kommt es zudem in akuten Phasen häufig zu Konzentrationsschwierigkeiten, die ein Verfolgen der Instruktionen bei sportlichem Training schwierig machen können. kProjekterfahrung
11
Das Einfordern zur Teilnahme am Sporttraining empfanden depressive Patienten eher als Belastung, weniger als Unterstützung, da sie nicht mit dem subjektiv empfundenen Druck zurechtkamen und diese typischen negativ verzerrten Kognitionen auslöste. Weiterhin musste man streng darauf achten, die Aufgabenschwierigkeit so zu gestalten, dass sie gerade so zu bewältigen war, und umgehend eingreifen, wenn Patienten eine Aufgabe nicht sofort schafften. kEmpfehlungen für die Praxis
Für depressive Patienten sollte die Aufgabenschwierigkeit so gestaltet werden, dass die Übungen an das individuelle Leistungsniveau angepasst sind. Die Patienten sind durch verbale Ansprache positiv zu bestärken (z. B. „Genauso machen Sie es richtig!“). Weiterhin ist es wichtig, dem depressiven Patienten zu vermitteln, dass es nicht um die Leistung geht und dass es keine negativen Auswirkungen hat, sollte eine Übung einmal nicht so gut gelingen. Es empfiehlt sich deshalb auch, Vergleiche mit anderen Mitsportlern zu vermeiden, da bei der Depression oftmals eine Tendenz zu „Abwärtsvergleichen“ („Ich bin schlechter als andere“) vorliegt. Die Förderung der Motivation des Patienten, nach und nach mehr Aktivität aufzubauen, ist in diesem Zusammenhang ein
wesentlicher Bestandteil des Sporttrainings (Lesch et al. 2007). Dies kann durch eine sorgfältige Übungsauswahl (Dosierung, Schwierigkeitsgrad, Anspruch an Kraft, Koordination, Ausdauer etc.), eine sorgfältige Festsetzung der Pausen und der Länge der Sporteinheiten sowie durch die Art der Instruktions- und Feedbackvermittlung und Fehlerkorrektur erreicht werden. Insgesamt wird geraten, eine motivierende Gesprächsführung anzustreben, die Patienten bei erfolgreich bewältigten Aufgaben zu bestärken und alle Aufgaben mit Wettkampfcharakter zu vermeiden. Aufgrund der häufig begleitend vorliegenden kognitiven Störungen sollten keine Trainings mit hohen technischen und taktischen Anforderungen zum Einsatz kommen (Hölter 2011). Feste Termine und genaue Trainingsinstruktionen können die Umsetzung deutlich erleichtern (Hölter 2011) und dienen als Gedächtnisstütze und Motivationshilfe. kÜbungsleiterwissen: Interviewfrage „Wie nehmen depressive Patienten das Training an?“
Übungsleiter 4: „Ich hatte das Gefühl, dass die meisten Patienten Spaß am Sport hatten. Relativ wenig Überzeugungsarbeit brauchte ich bei Patienten mit einer Depression zu leisten.“ Physiotherapeut 1: „Das ist sehr unterschiedlich und variiert von Patient zu Patient. Viele sind sehr dankbar für ein wenig ‚Abwechslung‘ und Hilfe. Andere, die z. B. in einer tiefen Depression stecken, empfinden die Therapie eher als weitere Belastung und sind daher (zu Beginn) sehr distanziert.“ z Manie
Bei manischen Patienten muss grundsätzlich vor Einschluss zu einem Gruppensporttraining die Gruppentauglichkeit geprüft werden: Manische Patienten sind häufig sehr unruhig und distanzgemindert, lassen Gesprächspartner nicht ausreden und kön-
219 Psychische Aspekte von Sporttraining bei psychischen Störungen
nen schwer eine gestellte Aufgabe zu Ende führen. Häufiger fangen manische Patienten mehrere Dinge gleichzeitig an und führen sie nicht zu Ende. Zudem kann es zu Störungen in der Gruppe führen, indem manische Patienten andere Patienten wiederholt ansprechen oder deren Handlungen kommentieren, wodurch diese sich dann gestört oder verunsichert fühlen. Es kann auch vorkommen, dass manische Patienten distanzgemindert sind und beispielsweise andere Patienten zur Unterstützung bei den Übungen körperlich berühren. Das können gerade schizophrene oder traumatisierte Patienten als störend und beängstigend empfinden. Ein weiteres Symptom der Manie ist Ideenflucht, d. h., dass verschiedene Gedanken, Ideen oder Pläne aufkommen, die jedoch nicht zu Ende gedacht werden. Deshalb werden dann oft Aufgaben nicht vollständig ausgeführt. Manische Patienten neigen zudem zu einer überhöhten Selbsteinschätzung und Größenideen („Ich bin besser als du“), was insbesondere in Gruppen mit depressiven Patienten zu Schwierigkeiten führen kann. kProjekterfahrung
Eine Beobachtung bei einer manischen Patientin war, dass sie ständig andere Patienten anfeuerte, deren Leistung kommentierte und sich selbst lobte („Ich bin die Beste“, „Ich kann das besser als andere“). Dies führte dazu, dass ein depressiver Patient Motivationsprobleme bekam, grübelte und sich selbst erniedrigte („Ich bin schlechter als andere“). Die manische Patientin musste während der akuten Krankheitsphase vom Sporttraining ausgeschlossen werden. kEmpfehlungen für die Praxis
Bei manischen Patienten sollte man darauf achten, dass der Patient mit seiner Aufmerksamkeit bei der Sportaufgabe bleibt. Man sollte klare Anweisungen geben, Regeln deutlich erklären und häufig wiederholen. Die Aufmerksamkeit muss immer wieder auf die Sportaufgabe gelenkt werden. Wenn
11
ein manischer Patient dazwischenredet, sollte man ihn unterbrechen und mit ihm Gesprächsregeln vereinbaren. Da intensive Reize als Trigger für die manische Symptomatik wirken können, sind zu laute Musik, viele unterschiedliche Geräte, schnelle Wechsel bei Übungen, viel Austausch mit anderen Mitsportlern in akuten manischen Phasen zu vermeiden. 11.3.3
Abhängigkeitssyndrom
Die meisten Abhängigkeiten gehen mit sozialen Folgeschäden einher. Viele Patienten müssen erst wieder lernen, soziale Beziehungen aufzubauen und zu pflegen. Sportliche Aktivität – vor allem im Gruppensetting – trägt dazu bei. Suchterkrankte leiden häufig unter Minderwertigkeitsgefühlen und neigen darüber hinaus zu einem überhöhten Leistungsanspruch, gepaart mit Angst vor Misserfolg. Ein Merkmal der Abhängigkeit besteht darüber hinaus in aggressivem Verhalten oder Erregungszuständen, gerade im Entzug. Der Zustand der Patienten kann von Gereiztheit bis hin zu Aggressivität reichen, so dass im Einzelfall die Eignung zum Sporttraining zu prüfen ist. Ein weiterer Punkt, der v. a. bei langjähriger Abhängigkeit zu beachten ist, sind Einschränkungen im Bereich der Konzentration und der Auffassung. Bei einer sog. Suchtverschiebung treiben die Patienten als alternative Strategie zum Substanzkonsum übermäßig Sport. Dies trägt dann nicht zur Verbesserung der Symptomatik bei, sondern ist als eine Verschiebung des eigentlichen Problems anzusehen und erscheint für den langfristigen Therapieverlauf nicht günstig. kProjekterfahrung
Eine Patientin trieb lediglich in der Alkohol- Entgiftungsphase regelmäßig und übermäßig (jeden Tag mehrere Stunden) Sport. Sobald die Entgiftungsphase abgeschlossen war, beendete sie den Sport. Hier lag der
220
V. Oertel et al.
Verdacht vor, dass es zu einer Verschiebung der Sucht kam. Es wurde versucht, mit der Patientin ein angemessenes und kontinuierliches Sportverhalten zu planen und umzusetzen. kEmpfehlungen für die Praxis
11
Um besonders Patienten mit einer Abhängigkeit alternative Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit Aggressivität und Erregung aufzuzeigen, bietet es sich für den Übungsleiter an, das Ziel „Stärkung sozialer Kompetenzen“ in der Gruppe als zentrales Motiv zu verfolgen. Besonders in der Aufwärm- und Cool-Down-Phase bieten sich häufig Gelegenheiten dazu. Aber auch bei Sportarten, die häufig alleine durchgeführt werden, z. B. Laufen, empfiehlt es sich, die Gruppenform dem Einzeltraining vorzuziehen (Stoll u. Ziemainz 2012). Bei der Auswahl von Übungen sowie bei den Instruktionen und beim Feedback ist darauf zu achten, dass Abhängige eine Tendenz aufweisen, ihr Verhalten nach Lust/ Unlust auszurichten. Es ist ratsam, Patienten für gelungene Aufgaben positiv zu verstärken („Ja“, „Super“, „Gut gemacht“), auch wenn die Sportaufgabe nicht vollständig oder bis zum Ende ausgeführt wurde. Zudem sollten besonders viele „spaßbringende“ Elemente in die Sportstunden integriert werden, z. B. durch Hinzunahme von Aufwärmspielen oder zusätzlichem Material. Das ist wichtig, weil für Abhängige eine Übung Spaß machen muss. Ansonsten verlieren sie schnell die Lust an der Übung (Motivationsverlust). Für den Übungsleiter ist es zudem wichtig, realistische Ziele zu definieren und die Patienten bei der Umsetzung zu unterstützen (Hölter 2011). Zu Beginn der Therapie sollte aufgrund von möglichen Konzentrationsstörungen die Komplexität der Übungen langsam gesteigert werden. Um eine Suchtverschiebung zu verhindern, raten Stoll u. Ziemainz (2012), das Sporttraining in ständiger Rücksprache mit dem Patienten zu dokumentieren und zu besprechen.
11.3.4
Demenzen
Demente Patienten leiden unter Gedächtnisdefiziten, Problemen mit der Aufmerksamkeit und Konzentration und fühlen sich aus diesem Grund häufig überfordert. Es können Angst vor Neuem und der Wunsch nach Sicherheit bestehen – Faktoren, die von der Ausführung der Sportübungen ablenken. Schwierigkeiten zeigen sich vor allem bei komplexen Handlungsabfolgen. Auch Störungen der emotionalen Kontrolle, des Sozialverhaltens und der Motivation können auftreten. Dennoch profitieren demente Patienten nicht nur von der physischen, sondern vor allem auch von der psychischen Aktivierung. Die soziale Interaktion und die Gruppendynamik stellen große Wirkungsfaktoren dar. kProjekterfahrung
Eine Patientin mit einer fortgeschrittenen Demenz war in einem guten körperlichen Zustand. Sie vergaß jedoch im durchgeführten Zirkeltraining die Anweisungen ständig, so dass der Übungsleiter die Instruktion häufig wiederholen musste. Hier war es hilfreich, dass der Übungsleiter die Übungen auf Karteikarten zeichnete und diese Karten gut sichtbar bei den Stationen auslegte. kEmpfehlungen für die Praxis
Generelle Ziele von Sporttraining bei Demenz sind der Aufbau von Motivation, die Steigerung der sozialen Kompetenz sowie eine Verbesserung der kognitiven Fähigkeiten. Angesichts der Gedächtnisprobleme dementer Patienten sollten Instruktionen einfach gehalten und bei Bedarf wiederholt werden. Insgesamt sind kürzere Sporteinheiten von etwa 30 Minuten zu empfehlen, da ansonsten Konzentration und Aufmerksamkeit nachlassen. Übungen und Gruppenspiele sind deshalb in ihrer koordinativen Anforderung niedrig zu halten, so dass der Spaß an der Bewegung und die allgemeine Aktivierung im Vordergrund stehen. Es kann hilf-
221 Psychische Aspekte von Sporttraining bei psychischen Störungen
reich sein, während des Trainings mit akustischen und visuellen Reizen zu arbeiten (bimodale Instruktion). Bildmaterial zum Erklären bzw. Erinnern der Übungen (z. B. Stationskarten mit Bildern für die Übungen im Zirkeltraining) kann die Teilnahme am Training erleichtern. Zusätzlich hilft es, Übungen vor- oder noch besser mitzumachen. Die Betreuungsintensität während des Trainings sollte für die einzelnen Teilnehmer so hoch wie möglich sein. Es ist wichtig, den Patienten eine feste Struktur für das Training und das Gefühl von Fürsorge und Sicherheit zu geben. Durch das Anbieten von Bekanntem (Musik, Abläufe, Räume, Geräte) und durch eine konstante Betreuung durch einen/mehrere Übungsleiter können Gedächtnisstützen gegeben und Sicherheit vermittelt werden. Hilfreich ist, die Termine für das Sporttraining und sonstige Informationen (z. B. welche Kleidung benötigt wird) zu notieren und den Patienten mitzugeben. Während des Cool-Down-Trainings sind Entspannungsübungen nur mit guter Vorbereitung und genau dosiert einzusetzen. Auch hierbei sollten die Instruktionen einfach und klar gehalten werden. Ist das Zeitfenster einer Entspannungsübung zu lange, kann es passieren, dass Patienten zeitweise ihr Umfeld vergessen. 11.3.5
Angststörungen
Angstpatienten nehmen durch Sport angeregte Signale ihres Körpers, wie z. B. einen erhöhten Puls, als potenziell gefährlich wahr, weil sie derartige Symptome als sich anbahnende Panikattacke fehlinterpretieren. Da Angstpatienten Situationen, die Angst auslösen, tendenziell meiden (man spricht von Vermeidungsverhalten), erschwert dies die Umsetzung des Trainings (Searle et al. 2011). Sport kann als konfrontative Maßnahme verstanden werden. Wenn dies therapeutisch angestrebt ist, muss das
11
mit dem Patienten jedoch gut vor- und nachbesprochen werden, da ansonsten die Maßnahmen zu einer Überforderung führen können. Stellt sich ein Patient nun dieser Herausforderung und nimmt an einem Sporttraining teil, wird er in vielen Fällen zunächst aufgrund einer solchen Fehlinterpretation physiologischer Parameter (wie z. B. Schwitzen oder heftigeres Atmen) eine Verstärkung der Angstsymptomatik erleben. Es lohnt sich jedoch, an dieser Stelle das Training nicht abzubrechen, sondern den Sport als therapeutische Expositionsübung durchzuführen. Fehlt der Patient häufiger, könnte das Fehlen ein Vermeidungs- oder Schonverhalten darstellen. So könnte beispielsweise bei Patienten mit sozialer Phobie die unregelmäßige Teilnahme am Sporttraining darauf hinweisen, dass Erröten und Schwitzen während des Trainings beim Patienten das Gefühl der Peinlichkeit auslösen und er deshalb vom Training fernbleibt. Bei Patienten mit Agoraphobie kann die Anfahrt zum Sporttraining ein größeres Hindernis darstellen und somit schon die Aufnahme eines regelmäßigen Sporttrainings verhindern. kProjekterfahrung
Angstpatienten fiel es häufig in den ersten Stunden einer sportlichen Intervention schwer, die Augen zu schließen. Dies sollte vor allem bei Entspannungs- und Cool- Down- Übungen bedacht werden. Es hat sich bewährt zu betonen, dass sie in ihrer Entscheidung, die Augen zu schließen oder offen zu lassen, vollkommen frei sind. Oft kam es vor, dass sie sich dann nach einigen Sitzungen von sich aus zum Schließen der Augen entscheiden konnten. Ebenso hat sich gezeigt, dass ihnen schon allein das Angebot, jederzeit aufstehen und hinausgehen zu können, einen Teil ihrer Angst bzw. der Angst vor der Angst oder vor den Paniksymptomen nehmen konnte.
222
V. Oertel et al.
kEmpfehlungen für die Praxis
11
Bei Angstpatienten ist es wichtig, die Angst vor Neuem und Unbekanntem zu kennen und dementsprechend neue Übungen behutsam einzuführen und jede neue Maßnahme zu erklären. Zudem sollten bestimmte störungsspezifische Ängste berücksichtigt werden. Beispielsweise könnte bei sozialer Phobie die Angst, sich durch Übungen oder Gruppenspiele zu blamieren, auftreten. Die Teilnahme von Angstpatienten an einem Sporttraining sollte psychotherapeutisch begleitet werden. Angstpatienten müssen ausführlich über die auftretenden körperlichen Reaktionen bei Sport aufgeklärt werden, damit diese nicht als Angstsymptome interpretiert werden und die Angstsymptomatik verschlimmern. Sollte die Therapie noch nicht so weit fortgeschritten sein, ist von Sporttraining zunächst abzuraten (Lehofer u. Lehofer 2005). Wichtig für den Übungsleiter ist es, den Patienten im Weitermachen und nicht im Vermeiden von Situationen zu bestärken. Hier sollten Übungsleiter und Patient eng zusammenarbeiten, die Teilnahme an einer Gruppe gut vorbereiten und mögliche Ängste besprechen. In einem solchen Fall kann das Sporttraining auch im therapeutischen Sinne als Konfrontationstherapie genutzt werden. Vor Aufnahme des Sporttrainings ist eine genaue Absprache von Übungsleiter und dem sonstigen Behandlungsteam wichtig, damit das Ziel des Sporttrainings definiert und festgelegt wird, z. B. ob das Training als Konfrontationstherapie oder als bewältigende Maßnahme zur Verminderung der Symptomatik aufzubauen ist. Zur Verminderung von Angst kann der Übungsleiter die Patienten unterstützen, indem er eine positive Atmosphäre schafft und versucht, Leistungssituationen zu vermeiden. Ein Gefühl der Sicherheit kann auch vermittelt werden, indem immer derselbe Raum genutzt wird, dieselben Trainer da sind und eher risikoarme Sportarten bevorzugt werden.
11.3.6
Essstörungen
Patienten mit Essstörungen leiden häufig unter einem gestörten Verhältnis zu ihrem Körper, was während einem sportlichen Training deutlich werden kann. Hölter (2011) beschreibt eine Körperbildstörung als wesentliches Merkmal von Essstörungen, die bei der Planung von Sporttraining berücksichtigt werden muss. Weiterhin haben essgestörte, insbesondere anorektische Patienten einen hohen Leistungsanspruch und tendieren zu perfektionistischem Denken. Aus diesem Grund ist bei der Magersucht damit zu rechnen, dass die Patienten sich sehr stark fordern und bei Nichterreichen ihrer Ziele dysfunktionale Gedanken entwickeln. Auch eine Suchtverschiebung (7 Abschn. 11.3.3) kann auftreten.
kProjekterfahrung
Eine Yogalehrerin berichtet, dass es diesen Patienten vor allem bei Entspannungsübungen schwer falle, sich auf ihren Körper zu konzentrieren und einzulassen. Es komme häufig vor, dass sie mit ihren Gedanken auf den Bauch fokussiert seien und ihnen das bewusste Durchführen der Bauchatmung Probleme bereite. Des Öfteren wirken sie zudem müde und erschöpft. Als besonders wertvoll erachtet sie die regelmäßigen Besprechungen im Anschluss an die Yogastunde, in denen es den Patienten möglich ist, zu reflektieren und rückzumelden, wie sie die Stunde empfunden haben. Regelmäßige Rücksprachen mit dem behandelnden Therapeuten unterstützen den Therapieverlauf. kEmpfehlungen für die Praxis
Die Freude an Bewegung zu wecken ist eine der zentralen Aufgaben des Übungsleiters bei der Arbeit mit essgestörten Patienten. Dies ist ein Ziel, um zwanghaftes, perfektionistisches Verhalten zu minimieren und eine Veränderung der Motivationslage zu erreichen: Der Sport soll längerfristig nicht für eine Gewichtsreduktion genutzt werden,
223 Psychische Aspekte von Sporttraining bei psychischen Störungen
sondern beispielsweise zum Wiedererlangen eines adäquaten Körpergefühls oder zur Steigerung der Motivation. Wichtig ist es für Übungsleiter, regelmäßige Rücksprache mit dem behandelnden Psychotherapeuten und Arzt zu halten und den Schwerpunkt des Trainings auf soziale Interaktion, positives Erleben und Schulung der Körperwahrnehmung anstatt auf die Steigerung der Leistungsfähigkeit zu richten. Als Beispiel raten Stoll u. Ziemainz (2012), Lauftherapie einzusetzen, damit die Patienten körpereigene (Warn-)Signale kennenlernen, an einer realistischen Körperwahrnehmung und -einschätzung arbeiten und Sport für ein körperlich-seelisches Gleichgewicht nutzen. Der Übungsleiter sollte den behandelnden Psychotherapeuten und Arzt regelmäßig über mögliche Auffälligkeiten im Verhalten (z. B. zwanghaftes Verhalten, übermäßiges Sporttreiben) informieren, um gegebenenfalls das Training anzupassen. 11.3.7
Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ
11
che Traumata unter Umständen durch den Körperkontakt bei Sportübungen reaktiviert werden. So können Bewegungen, Berührungen oder ein erhöhter Herzschlag als Trigger fungieren und Intrusionen (Wiedererinnerungen eines Traumas wie z. B. Flashbacks) auslösen (Hölter 2011). Über das Bewegungsverhalten von Borderline- Patienten ist allerdings insgesamt nur wenig bekannt. Bisherige Studien kommen zu dem Schluss, dass das festgestellte Bewegungsverhalten von Studie zu Studie stark variiert (von Antriebsarmut bis hin zum Gehetzt- oder Getriebensein) und einem raschen Wechsel unterliegt (Berger und Cruz 19981; Franz 2006; Kern 2002). Borderline-Patienten halten häufig Termine nicht ein und haben Probleme mit einer Struktur. Darüber hinaus zeigen Borderline- Patienten manchmal manipulatives Verhalten, versuchen den Gruppenablauf zu stören und lösen damit Verunsicherung bei anderen Patienten aus. Motivationslage, Stimmung und Antrieb können rasch wechseln (z. B. von übermotiviert bis hin zu geringer Motivation innerhalb weniger Minuten). Das kann auch dazu führen, dass Trainingseinheiten vorzeitig verlassen oder Termine gänzlich ausgelassen werden. Es ist daher wichtig, dass Anweisungen klar und strukturiert gegeben werden und kein Raum für Manipulationen gegenüber den Übungsleitern oder den Mitsportlern gegeben wird. Ein weiteres Problem und Kernsymptom von Borderline-Patienten ist zudem die fehlende Affektkontrolle. Dies kann zu impulsivem und aggressivem Verhalten führen (vgl. Linehan 1996). Umgekehrt aber kann Sporttraining helfen, Aggressionen abzubauen und Impulse in „unschädliche Bahnen“ umzulenken.
Psychische Aspekte können bei der Durchführung sportlichen Trainings mit Borderline- Patienten limitierend sein und haben oft einen größeren Einfluss als körperliche Faktoren (Hölter 2011). Bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung spielen Störungen des Körperkonzepts und der Körperwahrnehmung im Hinblick auf bewegungstherapeutische Maßnahmen eine entscheidende Rolle. Borderline-Patienten weisen häufig eine schlechtere Körperwahrnehmung auf, spüren ihren Körper schlecht und merken nicht so gut wie andere Personen, wenn sie erschöpft sind. Die Schulung der Körperwahrnehmung sollte daher ein wichtiger Bestandteil des Trainings sein. Häufig sind bei der Borderline-1 Persönlichkeitsstörung traumatische Erfahrungen in der Vorgeschichte von Bedeutung. Es muss beachtet werden, dass sol-
Berger MR, Cruz R (1998) Movement Characteristics of Borderline and Narcissistic Personality Disorder Patients: Poster Presentation. Vortrag, American Dance Therapy Association Annual Conference, Albuquerque, New Mexico, USA
224
V. Oertel et al.
kProjekterfahrung
Borderline-Patienten fiel es oft schwer, Grenzen anderer einzuhalten oder ihre eigenen zu achten. Aufgabe des Übungsleiters war es, Grenzüberschreitungen zu verhindern, den Patienten Achtsamkeit für sich selbst und den Körper zu lehren und ihnen ihre eigene Verantwortung diesbezüglich aufzuzeigen. kEmpfehlungen für die Praxis
11
Während eines Sporttrainings mit Borderline-Patienten geht es häufig um die Einhaltung von Grenzen und Regeln. Ein „Zuviel“ an körperlicher Anstrengung oder Perfektionismus kann schnell mit der Überbelastung des Patienten einhergehen. Es ist darauf zu achten, dass Borderline- Patienten eine angemessene und kontinuierliche Intensität des Trainings absolvieren, da Ziele und Pläne einem raschen Wechsel unterliegen können. Dies sollte in der Trainingsplanung beachtet werden. Wird aggressives oder impulsives Verhalten gezeigt, müssen die Patienten vom Übungsleiter aufgefordert werden, dies zu unterlassen. Möglichem manipulativem Verhalten von Borderline-Patienten sollte man mit klaren und unmissverständlichen Anweisungen begegnen. Man kann Sporttraining hier als eine Art „Skillstraining“ (vgl. Linehan 1996) betrachten. Bohus u. Brokuslaus (2006) und Brokuslaus (2002) haben im Rahmen der dialektisch behavioralen Therapie (DBT) Körpertherapien für Borderline-Patienten beschrieben, die der Verbesserung der Körperwahrnehmung und Akzeptanz (Körperbild), der Vermittlung körperbezogener Fertigkeiten zur Spannungsregulation sowie der Vermittlung körperbezogener Fertigkeiten zur Emotionsregulation dienen. Diese Ansätze können gut auch in ein sportliches Training übernommen werden. Bei der Auswahl von Übungen ist bei Borderline-Patienten eine mögliche Traumatisierung infolge eines Missbrauchs in der
Vergangenheit zu beachten (Linehan 1996). Der Übungsleiter sollte körperliche Berührungen, wenn z. B. Übungen angeleitet werden, vermeiden oder sehr behutsam ausführen und immer den Sinn erklären. Zusammenfassung Die körperliche Belastbarkeit und Leistungsfähigkeit eines Sporttreibenden hängt maßgeblich von seinem psychischen Zustand ab. Dabei spielen Persönlichkeitseigenschaften, frühere Erfahrungen, aber auch der aktuelle psychische Zustand eine Rolle. Das Wissen über psychische Merkmale der einzelnen Störungsbilder ist wichtig, um Schwierigkeiten und Probleme während des Trainings zu vermeiden. Schizophrene Patienten leiden in akuten Phasen unter Reizüberflutung, weshalb einfache Übungen ohne Interpretationsspielraum gewählt werden sollten. In Residualphasen ist die Motivationsarbeit besonders bedeutsam. Depressive Patienten dürfen nicht zu sehr in eine Leistungssituation kommen und sollten kontinuierlich positiv verstärkt werden. Manische Patienten stören in einem Gruppentraining häufig, weil sie sich selbst erhöhen und andere verunsichern. Deshalb sollten die Gruppentauglichkeit geprüft und feste Regeln vereinbart werden. Bei Patienten mit Abhängigkeitssyndrom steht die Anregung zu Spaß am Sport und Bewegung sowie der Aufbau sozialer Kompetenzen im Vordergrund. Demenzkranke haben Gedächtnisprobleme und benötigen daher viele Wiederholungen bei den Übungen. Essgestörte Patienten haben einen hohen Leistungsanspruch, weshalb vermieden werden sollte, ein Gefühl des Wettbewerbs unter den Teilnehmern aufkommen zu lassen. Borderline-Patienten tendieren – ähnlich wie Patienten mit Essstörungen – zu Körperwahrnehmungsstörungen.
225 Psychische Aspekte von Sporttraining bei psychischen Störungen
Insgesamt sollten psychische Merkmale vom Übungsleiter beobachtet und in der Trainingsplanung berücksichtigt werden. Bei allen Personen mit psychischen Störungen ist ein langsames, schrittweises Heranführen an die Anforderungen des sportlichen Trainings notwendig. Dies erscheint insbesondere bei ängstlichen Personen, aber auch bei Personen mit Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsproblemen empfehlenswert. Sofern das Training nicht explizit auf Leistungssteigerung ausgerichtet ist, stehen die Steigerung der Motivation, die Schulung der Körperwahrnehmung und die Vermittlung von Freude an der Bewegung im Vordergrund. Auch die Steigerung der sozialen Kompetenz und die Förderung des sozialen Austauschs sind Kernziele von sportlichem Training bei psychisch Erkrankten und für die Trainingsplanung bedeutsam. Es sollte eine regelmäßige Rücksprache mit dem Behandlerteam erfolgen, um Beobachtungen, Probleme, aber auch Fortschritte auszutauschen/mitzuteilen.
Literatur AMDP (Hrsg) (2007) Das AMDP-System: Manual zur Dokumentation psychiatrischer Befunde, 8. überarb. Aufl. Hogrefe, Göttingen Bartuska H, Buchsbaumer M, Mehta G, Pawlowsky G, Wiesnagrotzki S (Hrsg) (2005) Psychotherapeutische Diagnostik. Leitlinien für den neuen Standard. Springer, Wien Bassler M, Leidig S (Hrsg) (2005) Psychotherapie der Angsterkrankungen. Krankheitsmodelle und Therapiemodelle – störungsspezifisch und schulenübergreifend. Thieme, Stuttgart, New York Bech P (2005) Bech Rafaelson Manie Skala (BRMAS). In: CIPS (Hrsg) Internationale Skalen für Psychiatrie. Beltz, Weinheim
11
Berger M, Hecht H (Hrsg) (2003) Psychische Erkrankungen: Klinik und Therapie, 2 Aufl. Urban & Fischer/Elsevier, München Bohus M, Brokuslaus I (2006) Körpertherapie im Rahmen der Dialektisch Behavioralen Therapie. In: Remmel A (Hrsg) Handbuch Körper und Persönlichkeit. Schattauer, Stuttgart, New York, S 272–284 Borg G (1998) Borg’s Perceived Exertion and Pain Scales. HK, Champaign, IL Brickenkamp R (2002) Test d2: Aufmerksamkeits- Belastungs- Test, 9., überarb. u. neu normierte Aufl. Hogrefe, Göttingen Brokuslaus I (2002) Körpertherapie bei Patientinnen mit einer Borderlinestörung. Praxis klinische Verhaltensmedizin und Rehabilitation 59:190–194 Conzelmann A (2009) Differentielle Sportpsychologie - Sport und Persönlichkeit. In: Schlicht W, Strauß B (Hrsg) Enzyklopädie der Psychologie. Grundlagen der Sportpsychologie. Sportpsychologie. Hogrefe, Göttingen Erzigkeit H, Lehfeld H (2010) Bayer ADL-Skala (BADL): Eine Skala zur Erfassung von Beeinträchtigungen der Alltagskompetenz bei älteren Patienten mit Einbußen der kognitiven Leistungsfähigkeit. Pearson Assessment, Frankfurt/Main Ewing JA (1984) Detecting alcoholism. The CAGE questionnaire. Jama 252(14):1905–1907 Exner C, Lincoln T (2011) Neuropsychologie schizophrener Störungen. Hogrefe, Göttingen Feuerlein W, Küfner H, Ringer C, Antons-Volmerg K (1999) Münchner Alkoholismustest (MALT), 2. Aufl. Beltz Test, Göttingen Fichter M, Quadflieg N (1999) Strukturiertes Inventar für Anorektische und Bulimische Eßstörungen. Hogrefe, Göttingen Folstein MF, Folstein SE, McHugh PR (1975) “Mini- mental state”. A practical method for grading the cognitive state of patients for the clinician. Journal of psychiatric research 12 (3):189–198 Franke GH (2002) SCL-90-R. Die Symptom- Checkliste von Derogatis Deutsche Version-Manual, 2., vollst. überarb. u. neu normierte Aufl. Beltz, Göttingen Franz AM (2006) Borderline-Persönlichkeitsstörung. In: Schmidt E (Hrsg) Lehrbuch Konzentrative Bewegungstherapie. Schattauer, Stuttgart, S 268–282 Hardy CJ, Rejeski WJ (1989) Not what, but how one feels: The measurement of affect during exercise. Journal of Sport and Exercise Psychology 11:304–317
226
11
V. Oertel et al.
Hautzinger M, Keller F, Kühner C (2006) Beck De- Linehan M (1996) Dialektisch-Behaviorale Therapie pression Inventar II (BDI 2). Harcourt Test Serder Borderline-Persönlichkeitsstörung. CIP- vice, Frankfurt Medien, München Hölter G (2011) Bewegungstherapie bei psychischen Maß R (2010) Diagnostik der Schizophrenie. Hogrefe, Erkrankungen. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln Göttingen Huber G, Köllner V (2013) Bewegung und Ausdauer- Morrison AP, Wells A, Nothard S (2002) Cognitive training. In: Senf W, Broda M, Wilms B (Hrsg) and emotional predictors of predisposition to halTechniken der Psychotherapie: Ein methodenüberlucinations in non-patients. The British journal of greifendes Kompendium. Thieme, Stuttgart, S 202 clinical psychology/the British Psychological SoKay SR, Fiszbein A, Opler LA (1987) The positive ciety 41(Pt 3):259–270 and negative syndrome scale (PANSS) for schizo- Niemann H, Sturm W, Thöne-Otto A, Willmes K (2008) phrenia. Schizophrenia bulletin 13(2):261–276 CVLT California verbal learning test. German adKern E (2002) Wege aus Verlassenheit und Selbstentaptation. Manual. Pearson Assessment, Frankfurt fremdung: Körperorientierte personenzentrierte Nimz G (2012) Aufmerksamkeit und Konzentration Psychotherapie bei einer Borderline- im Sport. Zeitschrift für Gesundheit und Sport Persönlichkeitsstörung. Praxis klinische VerBd 2, Nr1 haltensmedizin und Rehabilitation 59:201–209 Payk TR, Brüne M (2013) Checkliste Psychiatrie und Kessler J, Denzler P, Markowitsch H (1988) Demenz- Psychotherapie, 6 Aufl. Thieme, Stuttgart Test. Beltz, Weinheim Pöhlmann K, Joraschky P, Brähler E (in Druck) Kröger C, Kosfelder J (2011) Skala zur Erfassung der Dresdner Körperbildfragebogen - Manual. HogImpulsivität und emotionalen Dysregulation der refe, Göttingen Borderline-Persönlichkeitsstörung (IES-27). Ma- Reitan RM (1958) Validity of the Trail Making Test as nual. Hogrefe, Göttingen an indication of organic brain damage. Perceptual Krohne HW, Egloff B, Kohlmann CW, Tausch A and Motor Skills 8:271–276 (1996) Untersuchungen mit einer deutschen Ver- Resch F, Parzer P, Brunner R (2008) Entwicklungssion der „Positive and Negative Affect Schedule“ psychpathologie der Persönlichkeitsstörungen. (PANAS). Diagnostica 42(2):139–156 Zeitschrift für Psychiatrie, Psychologie und Ladewig D, Graw P, Miest C, Hobi V, Schwarz E Psychotherapie 56 (4):275–284. doi:https://doi.or (1976) Basler Drogen- und Alkoholfragebogen g/10.1024/1661-4747.56.4.275 (BDA). Pharmakopsychiat 9:305–312 Schäfer K (2010) Aufrechterhaltung des SportLaux G, Brunnauer A (2005) Beeinträchtigung der treibens. Eine längsschnittliche Online-Befragung Fahrtüchtigkeit und beruflichen Leistungsfähigbei Erwerbstätigen. Dissertation, Karlsruher Inskeit durch Psychopharmaka unter Langzeittitut für Technologie, Karlsruhe gesichtspunkten. In: Linden M, Müller WE Schwinger M, Olbricht S, Stiensmeier-Pelster J (2013) (Hrsg) Rehabilitations-Psychopharmakotherapie. Der Weg von der Persönlichkeit zu sportlichen Arzneimittelbehandlung chronifizierender und Leistungen: Ein hierarchisches Modell. Zeitchronifizierter psychischer Syndrome. Deutscher schrift für Sportpsychologie 20:81–93 Ärzte-Verlag, Köln Searle A, Calnan M, Lewis G, Campbell J, Taylor A, Laux L, Glanzmann P, Schaffner P, Spielberger C Turner K (2011) Patients’ views of physical acti(1981) Das State-Trait-Angstinventar (Testmappe vity as treatment for depression: a qualitative mit Handanweisung, Fragebogen STAI-G Form study. The British journal of general practice: the X 1 und Fragebogen STAI-G Form X 2). Beltz, journal of the Royal College of General PractitioWeinheim ners 61(585):149–156. doi:https://doi.org/10.3399/ Lehofer D, Lehofer C (2005) Sport- und Bewegungsbjgp11×567054 therapie. In: Lehofer M, Stuppäck C (Hrsg) De- Steinhausen H (1993) Anorexia und Bulimia nervosa. pressionstherapien: Pharmakotherapie - PsychoIn: Steinhausen H, von Aster M (Hrsg) Handbuch therapie - Soziotherapie - Ergänzende Therapien. Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin bei Thieme, Stuttgart, S 43–47 Kindern und Jugendlichen. Beltz, Weinheim, Lehrl S (2005) Mehrfachwach-Wortschatz- S 383–410 Intelligenztest MWT-B, 5. Aufl. Spitta, Balingen Stoll O, Ziemainz H (2012) Laufen psychoLeichsenring F (1997) Borderline Persönlichkeitstherapeutisch nutzen. Grundlagen, Praxis, Greninventar. Hogrefe, Göttingen zen. Springer, Berlin Heidelberg Lesch OM, Hofmann G, Walter H (2007) Bewegungs- Suslow T, Donges US (2010) Kognitives Training therapie aus psychiatrischer Sicht. In: Zwick mit schizophrenen Patienten. Zeitschrift für (Hrsg) Bewegung als Therapie: Gezielte Schritte Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie zum Wohlbefinden. Springer, Wien, S 199–233 58(2):111–117
227 Psychische Aspekte von Sporttraining bei psychischen Störungen
Volz HP, Reischies F, Riedel M (2010) Kognitive Störungen bei schizophrenen Patienten. Der Nervenarzt 81(1):39–54 Wittchen HU, Wunderlich U, Gruschwitz S, Zaudig M (1996) Strukturiertes Klinisches Interview für DSM-IV (SKID). Beltz-Test, Göttingen Wydra G (2014) Der Fragebogen zum allgemeinen habituellen Wohlbefinden (FAHW und FAHW-12). Entwicklung und Evaluation eines mehr-
11
dimensionalen Fragebogens, 5. überarb. u. erw. Version. Sportwissenschaftliches Institut der Universtität des Saarlandes, Saarbrücken Zaudig M, Hiller W (1996) SIDAM - Strukturiertes Interview für die Diagnose einer Demenz vom Alzheimer Typ, der Multiinfarkt- (oder vaskulären) Demenz und Demenzen anderer Ätiologie nach DSM-III-R, DSM-IV und ICD-10 (SIDAM-Handbuch). Huber, Bern
229
Ernährungsaspekte bei psychischen Störungen David Prvulovic und Yurdagül Zopf
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 V. Oertel, F. Hänsel (Hrsg.), Aktiv für die Psyche, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67880-0_12
12
230
D. Prvulovic and Y. Zopf
nnLernziele 55 Kennenlernen der Ernährungsgewohnheiten, die sich auf die psychische Gesundheit auswirken 55 Kennenlernen der Auswirkungen von psychischen Störungen und ihrer medikamentösen Behandlung auf die Nahrungsaufnahme und den Ernährungsstoffwechsel 55 Kennenlernen von Empfehlungen für die Nahrungsaufnahme während einer psychopharmakotherapeutischen Behandlung
12.1
12
Einführung
Während der Einfluss der Ernährung auf das Risiko für körperliche Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Krankheiten oder Diabetes mellitus seit mehreren Jahrzehnten Gegenstand umfangreicher epidemiologischer und experimenteller Untersuchungen ist, richtet sich das Interesse mittlerweile zunehmend auch auf mögliche Zusammenhänge der Ernährung mit psychischen Störungen. Dabei stehen drei wesentliche Fragestellungen im Raum: 1. Beeinflussen Ernährungsgewohnheiten die Entstehung und das Risiko psychischer Krankheiten? 2. Können durch gezielte Modifikation von Ernährungsfaktoren (z. B. durch Nahrungsergänzungen) bereits bestehende psychische Krankheiten günstig beeinflusst werden? 3. Wie wirken sich psychische Störungen und ihre Behandlung auf das Ernährungsverhalten und den Ernährungsstoffwechsel aus? Zur Beantwortung der Fragestellung, ob Ernährung und Ernährungsgewohnheiten die psychische Gesundheit beeinflussen können, soll beispielhaft auf die wissenschaftliche Evidenz zur sog. mediterranen Diät eingegangen werden. Die mediterrane Diät bezeichnet traditionelle Ernährungsgewohn-
heiten, die typisch für den südeuropäischen Raum sind und sich durch eine ballaststoffund fischreiche Kost sowie den häufigen Gebrauch von Olivenöl auszeichnen. Der Konsum von Fleisch und Milchprodukten ist hingegen eingeschränkt. Hier zeigen systematische Reviews und Metaanalysen von Beobachtungsstudien, dass die mediterrane Diät mit einem geringeren Risiko für Depressionen (7 http://institut-vmv.de/pravention-therapie/psychische-erkrankungen) und für kognitiven Abbau (Psaltopoulou et al. 2013) einhergeht. Viele der für die mediterrane Kost charakteristischen Aspekte, wie eine erhöhte Zufuhr von ballaststoffreichen, anti-inflammatorischen Nahrungsmitteln wie Obst und Gemüse und eine reduzierte Aufnahme von fettreichen tierischen Produkten und raffiniertem Zucker, werden auch von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfohlen. Diese hat – ebenso wie andere Organisationen – eine beispielhafte Ernährungspyramide aufgestellt, die in . Abb. 12.1 dargestellt wird. Es gibt zahlreiche Belege für die Rolle von Inflammation in der Pathophysiologie psychischer Störungen, einschließlich Depressionen. Ergebnisse aus Meta-Analysen zeigen einen eindeutigen Zusammenhang zwischen einer entzündungsfördernden Ernährung und dem Risiko einer Depressionsdiagnose oder -symptomatik. Daher könnte eine anti- inflammatorische Ernährung ein präventives Mittel sowie eine wirksame Intervention bei Depressionen darstellen. Als besonders vorteilhaft könnte sich hierbei eine Verschiebung von westlich geprägten Ernährungsmustern, mit hohem Konsum von Fast-Food, rotem Fleisch und Wurstwaren sowie raffiniertem Getreide und Zucker hin zur beschriebenen mediterranen Ernährung mit regelmäßigem Fischverzehr erweisen. Aktuell befasst sich die Forschung auch verstärkt mit der Beziehung zwischen Darm und Gehirn. Im Kontext der sogenannten Darm-Hirn-Achse wurde bereits gezeigt, dass das Darmmikrobiom einen Einfluss
231 Ernährungsaspekte bei psychischen Störungen
Tierische Fette
12
Süßigkeiten
Fleisch 2 – 3 pro Woche
Eier 2 – 3 Stück pro Woche
Fisch 1 – 2 pro Woche
Milch und Milchproducte mind. 2 x täglich Obst mind. 2 x täglich
Gemüse mind. 2 – 3 x täglich
Getreideproducte mehrmals täglich z.B. Brot, Teigwaren, Hülsenfrüchte Getränke mind. 1,5 l täglich (vorwiegend Mineralwasser) Regelmäßige körperliche Aktivität
Mäßig Alkohol
mind. 2 – 3 pro Woche (20 – 30 Minuten) .. Abb. 12.1 Ernährungspyramide nach den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE)
auf die Gehirnfunktion und wahrscheinlich auch auf Stimmung und Verhalten nimmt, was eine weitere Möglichkeit darstellt, wie die Ernährung die psychische Gesundheit bzw. psychische Störungen beeinflussen kann. Bei der Vermittlung dieser Beziehung spielen wahrscheinlich Gehirnareale, Neurotransmitter und Neuropeptide, die im Schnittbereich von Stimmung und Appetitregulation involviert sind, eine wichtige Rolle. Eine gezielte Modulation der intestinalen Mikrobiota und der Kommunikation mittels ihrer Metabolite über die Darm- Hirnachse-Achse stellt im Hinblick auf Prävention und Therapie von psychischen- und Gehirnerkrankungen einen vielversprechenden Ansatz dar. Nahrungspolyphenole sind dabei vielseitige Verbindungen,
die sich als äußerst vorteilhaft erwiesen haben, um Inflammation, oxidativem Stress und Neurodegeneration entgegenzuwirken. Aufgrund ihrer schlechten Bioverfügbarkeit in Blut und Gehirn scheint ihr protektives Potenzial primär über die intestinale Mikrobiota bzw. die Verstoffwechselung der dort ansässigen kommensalen Bakterien vermittelt zu sein. So ist z. B. ein bifidogener Effekt von Polyphenolen bereits bekannt. Präklinische Studien haben günstige Wirkungen dieser bioaktiven sekundären Pflanzenstoffe bei Erkrankungen des Gehirns aufgezeigt, insbesondere bei neurologischen Entwicklungsstörungen wie dem Down-Syndrom oder Autismus-Spektrum- Störungen, bei neurodegenerativen Erkrankungen wie der Parkinson- oder
232
12
D. Prvulovic and Y. Zopf
Alzheimer-Krankheit sowie bei psychiatri- erzielen: Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperschen Störungen wie Depressionen und aktivitäts-Syndrom (ADHS), depressive StöAngstzuständen. Klinische Studien sind je- rung, bipolare affektive Störung, Schizodoch verstärkt erforderlich um Polyphenole phrenie, Alzheimer-Demenz und vaskuläre als potentiell effektive Nutraceuticals zur Demenz (Sinn et al. 2010). Grundsätzlich Prävention und Behandlung psychischer Er- scheint der Einsatz von Mononährstoffen krankungen sowie deren konkreten Einfluss bei psychischen Störungsbildern nur vereinauf die Darm-Hirnachse bewerten zu kön- zelt erfolgversprechend zu sein, etwa dann, nen. Auch im Sinne einer erhöhten Poly- wenn dadurch ein spezifisches, für die Stöphenolzufuhr eignet sich das vorgestellte rung relevantes biochemisches System ausmediterrane Ernährungskonzept – mit reichend beeinflusst werden kann. Es ist reichlich Gemüse, Obst (v. a. Beerenobst) daher anzunehmen, dass eher komplexere und (nativem) Olivenöl. nährstoffbasierte Interventionen den komAntworten auf die zweite Frage zur Be- plexen neurochemischen Veränderungen bei einflussung psychischer Krankheiten durch psychischen Störungen Rechnung tragen gezielte Nahrungsergänzungen werden der- und daher in künftigen kontrollierten klinizeit in zahlreichen klinischen Studien schen Studien bevorzugt zum Einsatz komgesucht. Grundlage hierfür bilden me- men werden. chanistische und systembiologische ModellIm Folgenden soll am Beispiel der Schivorstellungen zur Entstehung, Aufrecht- zophrenie sowie am Beispiel der Anorexia erhaltung oder Kompensation patho- nervosa der Einfluss psychischer Störungen logischer Zustände bei psychischen auf die Nahrungsaufnahme skizziert werStörungen. So konnten vielversprechende den. Diese beiden Krankheitsbilder wurden Effekte einer hochdosierten Vitamin- ausgewählt, da sie zu gegensätzlichen Versubstitution (L-Methyl-Folat; Dosis: 15 schiebungen physiologischer Regulationsmg/d) bei Patienten mit einer depressiven mechanismen führen, was in dem einen Fall Episode gezeigt werden, wenn sie als Zusatz die Entwicklung von Übergewicht und in zu einer bestehenden, antidepressiven medi- dem anderen Fall die Entwicklung von kamentösen Therapie erfolgte (Papakostas Untergewicht zur Folge haben kann. In beiet al. 2012). Auch bei der Behandlung der den Fällen steigt durch die veränderte Alzheimer-Demenz konnte eine Nahrungs- Nahrungsaufnahme das Risiko für körperergänzung mit hochdosierten Bausteinen liche Komplikationen erheblich und muss der Phospholipidsynthese (Omega- 3- daher behandelt werden. Fettsäuren, Nukleotide, Cholin) zu einer Verbesserung der Gedächtnisleistung sowie neurophysiologischer Parameter beitragen 12.1.1 Einflüsse psychischer (Ritchie et al. 2014). Störungen und ihrer Der Einsatz von kombinierten Omega-3medikamentösen und Omega-6-Fettsäuren oder von hoch doBehandlung auf die sierten, isolierten langkettigen Omega- 3- Ernährung Fettsäuren (DHA, EPA) als Nahrungsergänzung konnte in vielen, wenngleich nicht in allen Untersuchungen eine Besserung von Im Folgenden sollen Einflüsse von bepsychopathologischen und kognitiven Sym- stimmten Psychopharmaka auf die Erptomen bei den folgenden Krankheitsbildern nährung dargestellt werden.
233 Ernährungsaspekte bei psychischen Störungen
rnährung und Übergewicht bei E Schizophrenie: Verstellung der Energie-Homöostase durch Antipsychotika In den letzten Jahrzehnten ist das Problem des Übergewichts bei schizophrenen Patienten zunehmend in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Während Jugendliche vor dem Ausbruch der Schizophrenie noch kein Übergewicht aufweisen (Weiser et al. 2004), kommt es nach Behandlungsbeginn zu einer deutlichen Gewichtszunahme (Baptista et al. 2004), sodass die Prävalenz von Übergewicht bei schizophrenen Patienten bei 40–60 % liegt (Green et al. 2000; Carpiniello et al. 2008). Übergewicht wird als eine über das Normalmaß hinausgehende Zunahme des Körperfetts definiert. Eines der hierfür am häufigsten verwendeten indirekten Maße ist der Body Mass Index (BMI) (Körpergewicht [kg]/Körpergröße [m]2). Gemäß WHO (2000) werden Unter- und Übergewicht anhand des BMI eingeteilt (. Tab. 12.1). Das Risiko für metabolische und kardiovaskuläre Erkrankungen nimmt mit der Ausprägung des Übergewichts zu. Insbesondere das sog. metabolische Syndrom (Fettstoffwechselstörung, fehlende Insulinwirkung, Bluthochdruck, Zunahme des Unterhautfettgewebes) – auch als „tödliches
.. Tab. 12.1 Einteilung von Unter-, Normalund Übergewicht nach Body Mass Index (WHO 2000) Einteilung
Body Mass Index (BMI) [kg/m2]
Untergewicht
>Patienten mit psychotischen Störungen, insbesondere mit Schizophrenie, entwickeln erheblich häufiger Übergewicht und mit diesem zusammenhängende Stoffwechselveränderungen, wie z. B. Fettstoffwechselstörung oder Diabetes mellitus. Der größte Risikofaktor für die Gewichtszunahme ist die Einnahme von Antipsychotika der zweiten Generation.
12
Zweifellos hat die Einführung der Atypika aufgrund ihrer geringeren motorischen Nebenwirkungen zu einer erheblichen Verbesserung der Lebensqualität in der Behandlung von schizophrenen und anderen psychiatrischen Patienten geführt. Andererseits führt die damit oft einhergehende Gewichtszunahme zu neuen, nicht unerheblichen gesundheitlichen Risiken, die regelmäßige Kontrollen (BMI, Taillen- und Hüftumfang, Serumlipide und -glukose) und spezifische Maßnahmen zwingend erfordern. Neben einer Modifikation des Essverhaltens (mit Hilfe gezielter Ernährungsberatung) gehört eine Steigerung der körperlichen Aktivität zu
den Kernmaßnahmen, um die Energiebilanz auch unter antipsychotischer Medikation günstig zu beeinflussen und einer Gewichtszunahme mittel- und langfristig entgegen zu wirken (Das et al. 2012). Können trotz dieser Maßnahmen keine hinreichenden Effekte erzielt werden, muss schließlich unter Abwägung aller Risiken eine Umstellung der antipsychotischen Medikation erwogen werden.
rnährung und Untergewicht bei E Anorexia nervosa: Verstellung des Körperschemas Die Anorexia nervosa („Magersucht“) ist eine unter Umständen lebensbedrohliche Essstörung und betrifft Frauen 10-mal häufiger als Männer (Berger 2012; Schneider 2017). Neben den in 7 Kap. 5 geschilderten diagnostischen Kriterien der Anorexia nervosa nach ICD-10 (WHO 1992) kommt es bei dieser Störung häufig neben einer bloßen Vermeidung von Speisen auch zu selbstinduziertem Erbrechen oder Abführen. Manche Patientinnen steigern bewusst ihre körperliche Aktivität, um dadurch den Energieverbrauch zu erhöhen, oder nehmen Appetitzügler und Medikamente ein, die den Körper entwässern (Abführmittel/Diuretika). Es kommt zu umfassenden Störungen des Hormonsystems (Hypothalamus- Hypophysen-Gonaden-(HPA)-Achse), mit dazugehörigen Symptomen wie Ausbleiben der monatlichen Periode (Amenorrhoe) bei Frauen und Libido- und Potenzverlust bei Männern. Beginnt die Störung vor der Pubertät, kommt es in der Regel zu einer Verzögerung und Hemmung der normalen Pubertätsentwicklung (Wachstumsstopp, fehlende Brustentwicklung bei Mädchen, kindliche Aus
235 Ernährungsaspekte bei psychischen Störungen
prägung der Genitalien bei Jungen). Nach Besserung der Essstörung kann die Pubertätsentwicklung mit Verzögerung oft normal abgeschlossen werden. Organische Komplikationen können in Form von Störungen des Elektrolythaushalts (Hypokaliämie mit Gefahr von Herzrhythmusstörungen), des Säure-BasenHaushaltes sowie von Muskelschwäche und Krampfanfällen vorkommen. Insbesondere die Elektrolytstörungen können zu lebensgefährlichen Komplikationen bis hin zum Tode führen. Darüber hinaus kann es aufgrund chronischer Mangelversorgung des Körpers zur Entwicklung von Ödemen, Hypotonie, Hypercholesterinämie, Haarausfall, Osteoporose und sogar zu einer Pseudoatrophie des Hirns kommen. Durch langanhaltende Mangelernährung kann ebenfalls die Funktion des Immunsystems geschwächt werden, was gehäufte und zum Teil schwer verlaufende Infektionen begünstigt. Die endokrinen Veränderungen umfassen unter anderem eine Verminderung von Keimdrüsenhormonen, des Schilddrüsenhormons (low-T3-Syndrom) und eine Erhöhung des Cortisols (Schneider 2017). Die neurobiologischen Mechanismen, die zu dieser erheblichen Störung der Nahrungsaufnahme führen, wurden in den letzten Jahren mit Hilfe von funktionellen bildgebenden Methoden erforscht. So konnten Mohr und Kollegen (2010) zeigen, dass die Körperschemastörung bei Patienten mit Anorexia nervosa mit einer systematischen Überschätzung der eigenen Körpermaße und mit einer veränderten Gehirnaktivität einherging.
12
Die Behandlung der Anorexia nervosa hängt zunächst von der Ausprägung körperlicher Komplikationen ab. Bei einem BMI von ≤ 14 kg/m2, einem Gewichtsverlust von > 30 % des Ausgangsgewichts innerhalb von drei Monaten oder beim Vorliegen von Elektrolytentgleisungen, EKG-Veränderungen oder vermehrten Infektionen liegt die Indikation für eine dringliche stationäre Behandlung vor, notfalls auch gegen den Willen des Patienten unter Einschaltung der Behörden. Hierbei wird neben der Behandlung von Elektrolytstörungen auch eine Wiederherstellung des Gewichts mit einen BMI von mindestens 18 kg/m2 angestrebt. Die angestrebte Gewichtszunahme liegt dabei bei maximal 500–1000 g pro Woche. Die hierfür erforderliche Nahrungs- bzw. Nährstoffzufuhr kann über eine Magensonde oder intravenös erfolgen. Im Rahmen von psychotherapeutischen Interventionen kommen familientherapeutische sowie kognitiv-behaviorale Ansätze in Frage (Schneider 2017). 12.1.2
Ergänzender Ernährungsplan
In . Tab. 12.2 stellen wir einen Ernährungsplan vor, der Empfehlungen für das Ernährungsverhalten während der Einnahme von Psychopharmakotherapie gibt. Dabei ist die Tabelle unterteilt in die Kategorien „empfehlenswert“ sowie „möglichst meiden“ und wird jeweils durch ein Beispielgericht ergänzt.
236
D. Prvulovic and Y. Zopf
. Tab. 12.2 Beispielhafter Ernährungsplan für Patienten, die Psychopharmaka einnehmen Empfehlenswert
Möglichst meiden
Beispielgericht
Prävention und Therapieunterstützung: - Vitamin B1, B6, B12, C, D, Folsäure, Magnesium, Eisen, Zink, Selen, Chrom, Omega-3-Fettsäuren (7 http://institut-vmv.de/ pravention-therapie/psychische- erkrankungen; Hüther 2014) Vermeidung von Übergewicht: - Kalorienreduzierte Diät und viel Bewegung
Verminderung der Medikamentenwirkung: - Milchprodukte - Alkoholische Getränke - Koffeinhaltige Getränke, wie Kaffee, schwarzer Tee, Cola, Eistee - Nikotin - Bitterorangen und Grapefruit
Lachs mit Sesampanade auf Quinoa mit Blattspinat
Schizophrenie
Positiver Einfluss auf das Nervensystem: - Omega-3-haltige Öle wie Leinöl, Chiaöl, Rapsöl, Hanföl oder Fischöl - Fetthaltiger Meeresfisch - Vollkornprodukte - Vitamin B6 (erhöhter Bedarf) - Zink - Frisches Obst, Gemüse
Vermeidung von Zucker und raffinierten Mehlen: - Zuckerhaltige Getränke - Fertigsoßen - Softdrinks - Süßes Gebäck (Kekse…) - Süßigkeiten - Weizen- bzw. Weißmehlprodukte
Kartoffeln mit Spinat und Ei
Depression
Prävention und Therapieunterstützung: - Vitamin B6-haltige Nahrungsmittel: Hefe, Hirse, Reiskleie, Nüsse, Weizenkeime, Sojabohnen, Hülsenfrüchte wie Linsen, Feigen, Rosinen, Holunderbeeren, Zuckermais, Blumenkohl, Spinat, Grünkohl - Folat - Gewürze mit potenziell antidepressiven und stimmungsaufhellenden Wirkungen: Kurkuma und Curcumin, Melisse, Lavendel, Rosenblüten - Ungesättigte Fettsäuren - Ausreichende Zufuhr von Omega-3- Fettsäuren
Mögliche Auslöser depressiver Störungen bei zu hohem Verzehr: - Stark verarbeitete Lebensmittel (Fast Food, verarbeitete Fleischwaren) - Weizen - Zucker Bei Einnahme von MAO-Hemmern (Gefahr der Tyramin-Vergiftung): - Stark fermentierter Käse
Rote Linsensuppe mit Curry
Bei Einnahme von Psychopharmaka
12
237 Ernährungsaspekte bei psychischen Störungen
Zusammenfassung
12
macologic treatments. Ann Clin Psychiatry 24(3):225–39 Falissard B, Mauri M, Shaw K, Wetterling T, Doble A, Giudicelli A et al. (2011) The METEOR study: frequency of metabolic disorders in patients with schizophrenia. Focus on first and second generation and level of risk of antipsychotic drugs. Int Clin Psychopharmacol 26:291–302 Goff DC, Sullivan LM, McEvoy JP, Meyer JM, Nasrallah HA, Daumit GL, Lamberti S, D’Agostino RB, Stroup TS, Davis S, Lieberman JA (2005) A comparison of ten-year cardiac risk estimates in schizophrenia patients from the CATIE study and matched controls. Schizophr Res 80(1):45–53 Green AI, Patel JK, Goisman RM, Allison DB, Blackburn G (2000) Weight gain from novel antipsychotic drugs: need for action. General hospital psychiatry 22:224–235 Hursting SD (2014) Obesity, energy balance, and cancer: a mechanistic perspective. Cancer Treat Res 159:21–33 Hüther H (2014) Psychische Erkrankungen. Institut für Vorsorge und moderne Vitalstoffmedizin, Tiefenbach Mohr HM, Zimmermann J, Röder C, Lenz C, Overbeck G, Grabhorn R (2010) Separating two components of body image in anorexia nervosa using fMRI. Psychol Med 40(9):1519–29 Papakostas GI, Shelton RC, Zajecka JM, Etemad B, Rickels K, Clain A, Baer L, Dalton ED, Sacco GR, Schoenfeld D, Pencina M, Meisner A, Bottiglieri T, Nelson E, Mischoulon D, Alpert JE, Literatur Barbee JG, Zisook S, Fava M (2012) L-methylfolate as adjunctive therapy for SSRI-resistant major depression: results of two randomized, Baptista T, Zárate J, Joober R, Colasante C, Beaulieu S, double-blind, parallel-sequential trials. Am J PsyPáez X et al. (2004) Drug induced weight gain, an chiatry 169(12):1267–74 impediment to successful pharmacotherapy: focus Psaltopoulou T, Sergentanis TN, Panagiotakos DB, on antipsychotics. Curr Drug Targets 5:279–99 Sergentanis IN, Kosti R, Scarmeas N (2013) Ann Berger M (2012) Psychische Erkrankungen. Klinik Neurol. Mediterranean diet, stroke, cognitive imund Therapie, 4. Aufl. Elsevier, München pairment, and depression: A meta-analysis Carpiniello B, Corda E, Maccioni R, Pinna F (2008) 74(4):580–91 [Schizophrenia, obesity and pharmacotherapy- associated weight gain]. La Clinica terapeutica Ritchie CW, Bajwa J, Coleman G, Hope K, Jones RW, Lawton M, Marven M, Passmore P, Souvenaid R 159:299–306 (2014) A new approach to management of early Correll CU, Manu P, Olshanskiy V, Napolitano B, Alzheimer’s disease. J Nutr Health Aging Kane JM, Malhotra AK (2009) Cardiometabolic 18(3):291–9 risk of second generation antipsychotic medications during first-time use in children and adole- Rouch I, Trombert B, Kossowsky MP, Laurent B, Celle S, Ntougou Assoumou G, Roche F, Barthescents. JAMA 302:1765–73 lemy JC (2014) Metabolic Syndrome is Associated Das C, Mendez G, Jagasia S, Labbate LA (2012) with Poor Memory and Executive Performance in Second- generation antipsychotic use in schizoElderly Community Residents: The PROOF phrenia and associated weight gain: a critical reStudy. Am J Geriatr Psychiatry Jan 25 view and meta-analysis of behavioral and phar-
Psychische Störungen können sich unmittelbar (z. B. bei der Anorexia nervosa) oder mittelbar aufgrund von Medikamenten-Nebenwirkungen (z. B. bei der Schizophrenie) auf das Essverhalten auswirken. Das Essverhalten wiederum kann zu körperlichen Komplikationen führen, wie etwa zu Entwicklungs- und Hormonstörungen bei Unterernährung oder zu einem erhöhten Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes bei Überernährung und Übergewicht. Eine speziell auf ihre Problematik abgestimmte Diät kann Menschen, die Psychopharmaka einnehmen, dabei helfen, Übergewicht und dessen Folgen zu vermindern. Darüber hinaus gibt es Hinweise dafür, dass bestimmte Ernährungsfaktoren präventiv gegen manche psychischen und hirnorganischen Störungen wirksam sein könnten. Um diesen möglichen Zusammenhang besser zu belegen, bedarf es allerdings weiterführender Studien.
238
D. Prvulovic and Y. Zopf
Schneider F (2017) Facharztwissen Psychiatrie und Psychotherapie. 2. Auflage. Springer, Berlin Heidelberg Sinn N, Milte C, Howe PR (2010) Oiling the brain: a review of randomized controlled trials of omega-3 fatty acids in psychopathology across the lifespan. Nutrients 2(2):128–70 Weiser M, Knobler H, Lubin G, Nahon D, Kravitz E, Caspi A, Noy S, Knobler HY, Davidson M (2004)
12
Body mass index and future schizophrenia in Israeli male adolescents. The Journal of clinical psychiatry 65:1546–1549 WHO (1992) The ICD-10 classification of mental and behavioral disorders: Clinical descriptions and diagnostic guidelines. WHO, Geneva WHO (2000) Obesity: preventing and managing the global epidemic. Report of a WHO Consultation. WHO, Geneva
239
Werkzeugkasten – Übungen zum Training Pia Mehler, Lars Bremkes, Stefanie Elsner und Kristina Steinbrecher
Unter Mitarbeit von Andrea Röser und Alexandra Sadtler Ergänzende Information Die elektronische Version dieses Kapitels enthält Zusatzmaterial, auf das über folgenden Link zugegriffen werden kann [https://doi.org/10.1007/978-3-662-67880-0_13]. Die Videos lassen sich durch Anklicken des DOI-Links in der Legende einer entsprechenden Abbildung abspielen, oder indem Sie diesen Link mit der SN More Media App scannen.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 V. Oertel, F. Hänsel (Hrsg.), Aktiv für die Psyche, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67880-0_13
13
13
240
P. Mehler et al.
13.1
lanung und Formen der P Übungen
Der Werkzeugkasten enthält eine Zusammenstellung verschiedener Übungen für ein sportliches Training. Die Planung eines Trainings beruht auf der Grundlage eines bestimmten Zieles. Durch das Ziel wiederum werden bestimmte Inhalte ausgewählt, die die Organisationsform der Trainingssequenz bestimmen (z. B. eine Trainingseinheit „Gruppenspiele zur Koordinationsschulung“ oder eine Trainingseinheit mit dem Thema Sturzprophylaxe, ein Zirkeltraining oder Aerobic-Training). Die zu wählende Organisationsform ist somit hauptsächlich von der Zielsetzung und den Eigenschaften der Zielgruppe abhängig. Sind das Ziel sowie die Organisationsform des Trainings gewählt, werden den einzelnen Phasen (Aufwärmphase, Hauptteil und Cool- Down- Phase) bestimmte Übungen zugeordnet. Da zuerst das Ziel für ein Training feststehen sollte, sind die Inhalte und Übungen des Werkzeugkastens nach den folgenden Zielsetzungen geordnet: 55 Aufwärmen (7 Abschn. 13.2), 55 Mobilisation und Lockerung (7 Abschn. 13.2), 55 Flexibilitätsschulung (7 Abschn. 13.2), 55 Koordination (7 Abschn. 13.2), 55 Kräftigung 7 Abschn. 13.2) und 55 Verbesserung der allgemeinen aeroben Ausdauer (7 Abschn. 13.2).
Viele Übungen kombinieren mehrere Zielsetzungen, so dass ein ökonomisches Training möglich ist. Die Übungen, die dem Leser nun vorliegen, wurden im Rahmen des Forschungsprojektes anhand der Organisationsformen Zirkeltraining und Aerobic-Training mit psychisch erkrankten Personen erprobt. Für die Aufwärm- sowie Cool-Down-Phase dienten hauptsächlich Aufwärm-, Mobilisa-
tions-, Flexibilitäts- und Koordinationsübungen. Der Hauptteil bestand aus Übungen zur Kräftigung und der Ausdauer. Die genannten Organisationsformen Zirkeltraining und Aerobic-Training wurden für das Studienprojekt gewählt, um auch mit einfachen Mitteln für die Teilnehmer ein motivierendes, sozialintegratives und praktisch umsetzbares Training zu gestalten. Aerobicsowie Zirkeltraining bieten die Möglichkeit, Teilnehmer mit unterschiedlichem Leistungsniveau (auch innerhalb einer Übungsgruppe) zur gleichen Zeit effektiv zu trainieren. Das Training kann auch mit wenig Material und Geräten sowie bei begrenzter Raumgröße durchgeführt werden. Außerdem haben wir uns aufgrund aktueller Forschungsergebnisse im Bereich des aeroben Ausdauersportes (für eine Zusammenfassung der Wirkungen von Sport bei psychischen Störungen s. 7 Kap. 2) hauptsächlich auf aerobes Ausdauer- und Kraft- und Koordinationstraining konzentriert (z. B. Aerobic, Zirkeltraining, Laufen). Die positiven Effekte auf psychische Störungen gelten im Ausdauerbereich als am besten. Andere Organisationsformen sind natürlich auch möglich und ebenfalls mit den Inhalten des Werkzeugkastens durchzuführen. Alle Übungen wurden so ausgewählt, dass sie mit geringem Aufwand und einer geringen Anzahl an vorhandenen Geräten durchgeführt werden können. Zudem enthält der Großteil der Beschreibungen Variationsmöglichkeiten, sodass die Übungen für Anfänger und für fortgeschrittene Teilnehmer individuell angepasst werden können. Um die Übungen zu variieren, können z. B. unterschiedliche Trainingsmethoden, Ausführungsvarianten (7 Kap. 7 und 8) sowie Trainingsparameter (z. B. Belastungsnormative und Druckbedingungen; s. 7 Abschn. 8.1 und folgende) eingesetzt werden. Für eine geeignete Planung des Trainings sollten außerdem die Trainingsprinzipien beachtet werden (7 Abschn. 7.4.2).
241 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
Übungen, die ein hohes Risiko zur Fehlausführung bergen, wurden nicht in den Werkzeugkasten aufgenommen. Für die einzelnen Stationen des Zirkeltrainings stehen sog. Stationskarten zur Verfügung, die ein Bild und eine Kurzbeschreibung der Übung enthalten. Diese finden Sie zum Download unter 7 https://link.springer. com/chapter/10.1007/978-3-662-46537-0_13. Im Sinne einer gezielten Trainingssteuerung (7 Abschn. 8.1) und zur Verdeutlichung der erreichten Fortschritte ist es zudem sinnvoll, in regelmäßigen Abständen Kontrollmethoden einzusetzen (7 Abschn. 8.2) 8.3.. Dies kann durch Integration geeigneter sportmotorischer Tests in das Zirkeltraining und durch Protokollierung der Testleistungen geschehen.
13
z Struktur des Werkzeugkastens
Die Erläuterungen der Übungen sind alle nach dem gleichen Muster aufgebaut. . Tab. 13.1 zeigt die Gliederungspunkte, nach denen die Übungen beschrieben werden. Nicht jede Übung enthält alle Unterpunkte.
z Anwenden der Inhalte
Die Aufwärmphase verfolgt hauptsächlich drei Ziele: 55 allgemeine Ganzkörpererwärmung, 55 Lockerung und Mobilisation sowie 55 koordinative Vorbereitung. Der Werkzeugkasten stellt für die Aufwärmphase und Cool-Down-Phase allgemeine Aufwärmübungen, Aufwärm- und Kennen-
. Tab. 13.1 Erläuterungen zu den einzelnen Gliederungspunkten der Übungsbeschreibungen Gliederungspunkte
Beschreibung
Hauptziel
Das Hauptziel gibt an, mit welchem Ziel bzw. zu welchem Zweck eine Übung einsetzt werden sollte. Welche Muskelgruppen werden gestärkt oder gedehnt? Was ist der hauptsächlich zu stärkende Muskel? Dient die Übung zum Aufwärmen, Kennlernen oder Lockern?
Bewegungsablauf
Hier erfolgt eine detaillierte Erläuterung zur Durchführung der Übung. Übungen des Zirkeltrainings sind meist in eine Beschreibung der Ausgangsposition und der Ausführung der Übung eingeteilt. Aufwärmspiele in der Gruppe werden an dieser Stelle in ihrem Spielablauf beschrieben.
Instruktion
Bei einigen Übungen empfiehlt es sich, den Teilnehmern spezielle Instruktionen zu geben, um Fehlausführungen zu vermeiden und die Teilnehmer in ihrer Körperwahrnehmung und bei der Übungsausführung zu unterstützen. Unter diesem Punkt findet der Übungsleiter Instruktionsbeispiele, die er direkt während der Trainingssteuerung benutzen kann. Hinweise zur Gestaltung von Instruktionen finden sich auch in 7 Kap. 7.
Empfehlung
Hier werden Tipps und Erfahrungswerte genannt, um auf Besonderheiten hinzuweisen.
Variation
Der Punkt „Variation“ enthält Möglichkeiten zur Abwandlung der beschriebenen Übung. Er gibt an, wie die Übung für Anfänger oder Fortgeschrittene oder für mehr Abwechslung im Training geändert werden kann. Hinweise zur gezielten Variation von Übungen finden sich auch in 7 Kap. 7.
Materialien
Für jede Übung werden notwendige Materialien gelistet.
242
13
P. Mehler et al.
lernspiele, Lockerungs- und Mobilisationsübungen, Koordinations- sowie Flexibilitätsübungen zur Verfügung. Je nach Ausführung oder Wahl einer Variation können manche Übungen sowohl für die eine als auch für die andere Phase im Training eingesetzt werden. Je nach Trainingsziel sind die Übungen aus der Aufwärm- und Cool-Down-Phase auch in den Hauptteil integrierbar. Dehnübungen können z. B. in der Aufwärmphase mit niedriger Intensität durchgeführt werden. Wird ein ganzes Training auf das Ziel der Flexibilität ausgerichtet, kommen die Übungen auch im Hauptteil zur Anwendung, und in der CoolDown-Phase dient der Einsatz von Dehnübungen der Beseitigung von Kontraktionsrückständen (noch kontrahierte Muskelfasern). Es empfiehlt sich Übungen, die das Hauptziel der Kräftigung und der Verbesserung der allgemeinen aeroben Ausdauer verfolgen, vor allem im Hauptteil durchzuführen. Da viele Übungen meist mehrere Ziele gleichzeitig verfolgen, kommen Mehrfachnennungen der Übungen in den verschiedenen Zielkategorien mit einem entsprechenden Verweis vor. >>Das Besondere am Werkzeugkasten ist, dass sich der Übungsleiter anhand der Auflistung der Übungen und deren Einteilung nach Zielen sein Training individuell zusammenstellen kann.
Je nach Anzahl und Leistungsstand der Teilnehmer sowie nach räumlichen und materiellen Gegebenheiten können die Übungen ausgewählt und angepasst werden. Die Sammlung an Übungen stellt nur einen Ausschnitt aus einer noch größeren Anzahl an möglichen Übungen dar. Die Struktur des Werkzeugkastens soll dazu anregen, eigene Erfahrungen, Anpassungen und Inhalte zu ergänzen. Bei der Übungsauswahl sind neben den besonderen Merkmalen der Zielgruppe und
den räumlichen sowie materiellen Gegebenheiten auch die, in den theoretischen Teilen dieses Buches (Teil II und Teil III), spezifizierten medizinischen, bewegungs- und trainingswissenschaftlichen sowie psychologischen Grundlagen zu beachten, insbesondere die Prinzipien der Trainingssteuerung und der Trainingskontrolle. Für die Durchführung des Trainings sind jeweils zwei Übungsleiter vorgesehen. Die Übungsleiter sollten nicht nur im sportwissenschaftlichen Bereich qualifiziert sein, sondern auch über Erfahrung im psychologischen und therapeutischen Bereich verfügen. Vor allem Kenntnisse über die Symptomatik der verschiedenen psychischen und psychosomatischen Störungsbilder sind unabdingbar und bei der Trainingsplanung zu berücksichtigen (7 Kap. 8). In allen Phasen des Trainings bietet sich der Einsatz von Musik als Unterstützung der Durchführung des Trainings an. Für das Aerobic-Training ist Musik ein unverzichtbarer Bestandteil. Werden die Übungen zur Durchführung eines Zirkeltrainings (für eine Gruppengröße von bis zu 12 Teilnehmern) genutzt, empfehlen wir folgenden Ablauf: 55 Anzahl der Stationen: 6 Stationen (an denen je nach Gruppengröße 2 Personen parallel trainieren können). 55 Belastungszeit: Das Belastungsintervall an einer Station beträgt 60 Sekunden. 55 Pausenzeit: Zwischen den Belastungsphasen liegt jeweils eine Pause von 20 Sekunden.
Für ein mögliches Aerobic-Training sind in wichtige Grundschritte sowie Schritte mit Kick- und Boxelementen gelistet. Die Ausführungen der Schritte sind anhand kurzer Videosequenzen auch online zu diesem Buch erhältlich (. Abb. 13.78, 13.79, 13.80, 13.81, 13.82, 13.83, 13.84, 13.85, 13.86, 13.87, 13.8 8, 13.89, 13.90, 13.91, 13.92, 13.93, 13.94, 1 3.95, 13.96, 13.97, 13.98, 13.99, 13.100, 13.1 01, 13.102, 13.103, 13.104, 13.105, 13.106, 1 3.107, 13.108, 13.109, 13.110, und 13.111).
243 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
13
.. Abb. 13.1 Inhalte des Werkzeugkastens im Überblick
Zusätzlich zu den Videosequenzen finden Sie dort auch ein Informationsblatt zum Einsatz von Musik und zu Besonderheiten der Musikstruktur im Rahmen des Aerobic-Trainings. . Abb. 13.1 gibt nochmals einen Überblick über die Inhalte des Werkzeugkastens.
13.2
I nhalte und Übungen zum Aufwärmen
13.2.1
Spielerisches Aufwärmen
Alle, die… z Hauptziel
Kennenlernen, Förderung der Reaktionsfähigkeit, Anregung der Kreativität, Aufwärmen
z Bewegungsablauf
55 Vorbereitung: Alle Spieler stehen in einem Kreis mit Blick zur Kreismitte. Jeder Teilnehmer steht entweder in einem Reifen, oder sein Platz ist durch ein Hütchen oder einen sonstigen Gegenstand gekennzeichnet. Ein Spieler steht in der Mitte des Kreises und beginnt. 55 Spiel: Der Spieler in der Mitte ruft: „Alle, die ein dunkles T-Shirt anhaben“. Daraufhin verlassen alle, die ein dunkles T-Shirt anhaben, ihren Platz und suchen sich einen neuen. Der Spieler in der Mitte hat nun die Möglichkeit, sich einen Platz im Kreis zu suchen, der leer geworden ist. Ein neuer Spieler wird keinen neuen Platz erhalten, er wechselt in die Kreismitte und hat nun die Aufgabe, sich etwas Neues auszudenken, was den nächsten Platzwechsel bestimmter Teilnehmer angibt.
244
P. Mehler et al.
z Empfehlung
z Bewegungsablauf
Die erste Runde bzw. ein oder mehrere Beispielrunden kann gerne der Übungsleiter vor Spielbeginn übernehmen, um den Teilnehmern das Spiel näher zu erläutern und ihnen Ideen zu geben, welche Arten von Wechsel angesagt werden können. Einige Beispiele: 55 „Alle, die lange/kurze Haare haben.“ 55 „Alle, die im März/sonstiger Monat Geburtstag haben.“ 55 „Alle, die Vanilleeis/sonstige Speisen mögen.“ 55 „Alle, die gerne in der Natur spazieren gehen.“
Zunächst laufen alle durcheinander durch die Halle. Von Zeit zu Zeit sucht sich jeder Spieler einen Partner und läuft mit ihm gemeinsam eine oder mehrere Kurven. Danach trennen sich beide wieder.
z Materialien
Reifen, Hütchen oder alternative Standplatzmarkierung pro Teilnehmer
z Instruktion
„Und nun suchen wir uns einen Partner: Mit dem nächsten, der uns entgegenkommt, laufen wir ein Stück zusammen. Erzählen Sie sich gerne etwas. Was hat der andere wohl am Wochenende getan?“ z Empfehlung
Zu Beginn dieses Aufwärmspieles sollte der Übungsleiter die Teilnehmer dazu auffordern und ermutigen, allein, zu zweit oder auch zu dritt zu laufen.
Allein – zu zweit – allein (. Abb. 13.2) z Materialien
z Hauptziel
Keine
Kennenlernen, Aufwärmen, Überwindung von Distanzgefühlen, Schulung der räumlichen Orientierungsfähigkeit
z Referenz
13
.. Abb. 13.2 Allein – zu zweit – allein
Vgl. Bucher (2007, S. 203)
245 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
13
Arm-Bein-Koordination
z Bewegungsablauf
z Hauptziel
Alle laufen möglichst kreuz und quer durch die Halle. Dabei versuchen sich Entgegenkommende gegenseitig ganz leicht z. B. an der Schulter zu berühren. Der Spielleiter ruft jenes Körperteil, welches berührt werden soll, den Spielern zu (z. B. Rücken, Bauch, Kopf, Arm, Oberschenkel).
Schulung der Konzentration sowie Rhythmus- und Koppelungsfähigkeit, spielerisches Aufwärmen z Bewegungsablauf
Ausgangsposition ist der Hampelmann. Beine und Arme führen beide eine vom Körper seitliche Bewegung aus. Auf Ansagen des Übungsleiters wechseln die Teilnehmer passend die Beine und/oder Arme in eine zum Körper senkrechte Bewegung (vor und zurück). z Empfehlung
Wird die Übung, wie es beim Hampelmann üblich ist, hüpfend ausgeführt, können die Teilnehmer schnell in einen zu hohen Beanspruchungsbereich kommen. Daher bietet es sich an, mit der Anfängervariante zu beginnen. z Variation
55 Für Anfänger: Statt mit den Beinen zu hüpfen, kann auch eine Schrittfolge ausgeführt werden. Die Bewegung kann in Schritten oder in einer Wippbewegung ausgeführt werden. 55 Für Fortgeschrittene: Unterschiedliche Kombinationen sind möglich. 55 Die Arme führen eine 3-Takt-Bewegung im Gegensatz zu der 2-Takt-Beinbewegung aus (z. B. nach oben, zur Seite, nach vorne). Die 3-Takt-Armbewegung kann zunächst einmal im Stand geübt werden. z Materialien
Keine
Begegnung z Hauptziel
Förderung von Rücksichtnahme, Kennenlernen, Aufwärmen, Überwindung von Distanzgefühlen, Verbesserung der Umstellungs- und Koppelungsfähigkeit sowie der räumlichen Orientierung und Reaktionsfähigkeit
z Empfehlung
Ist eine Gruppe noch sehr distanziert, kann zunächst auch einmal die zweite Variante gewählt werden, oder es können beide Bewegungsaufgaben vermischt werden. z Variation
55 Derjenige, der berührt wurde, sollte sofort die Laufrichtung ändern. 55 Anstatt andere Mitspieler zu berühren, kann der Übungsleiter auch Körperteile ansagen, die vorsichtig den Boden berühren sollen (z. B. rechte Hand, rechtes Knie, Gesäß). 55 Die Übung kann auch im Gehen durchgeführt werden. z Materialien
Keine z Referenz
Vgl. Bucher (2007, S. 203)
Bewegungsstafette (. Abb. 13.3)
z Hauptziel
Spielerisches Aufwärmen, Verbesserung von Koordination und Konzentration z Bewegungsablauf
55 Vorbereitung: Aus allen Spielern werden zwei Gruppen gebildet. Die Mitglieder beider Gruppen stellen sich in jeweils einer Linie auf. Die ersten in jeder Gruppe stehen sich gegenüber. Der Abstand wird je nach Raumgröße größtmöglich gewählt. 55 Übung: Auf Kommando des Spielleiters starten die ersten Läufer beider Gruppen
246
P. Mehler et al.
.. Abb. 13.3 Bewegungsstafette
gleichzeitig. Dort, wo sie sich treffen, kann ein Ball übergeben werden, und die Spieler laufen wieder ans Ende der Reihe ihrer Gruppe. Die Stafette ist fertig, wenn alle eine vorher definierte Anzahl von Runden gelaufen sind. z Variation
Anstatt eines Balles kann auch ein anderer Gegenstand übergeben oder per Handschlag abgeklatscht werden. z Materialien
13
55 Ball 55 Variation: anderer Gegenstand oder keine Materialien z Referenz
Vgl. Brugger et al. (1990, S. 68)
Bewegungswürfel
55 5 = Arme kreisen 55 6 = Storchengang Alle laufen frei durch den Raum, und jeder Teilnehmer soll nacheinander eine Übung würfeln. Wahrscheinlich können nicht alle den Würfel sehen, deshalb sollte die Zahl laut in den Raum gerufen werden. z Empfehlung
Sechs Übungen sind gleichzeitig sehr viel. Hier empfiehlt es sich, die Übungen in großer Schrift auf ein Blatt Papier oder Flipchart zu schreiben und sichtbar im Raum zu positionieren, sodass es alle Teilnehmer schnell lesen können. z Variation
Alle geraden Würfelzahlen stehen für eine Übung, alle ungeraden Würfelzahlen für eine andere.
z Hauptziel
z Materialien
Spielerisches Aufwärmen, Schulung der Reaktionsfähigkeit
Würfel, Übungsanleitung
z Bewegungsablauf
Vgl. Witting u. Dörken (2009, S. 28)
Jeder Zahl auf dem Würfel ist eine bestimmte Übung zugeordnet. Beispiel: 55 1 = Hopserlauf 55 2 = Hampelmann 55 3 = Drehung um die eigene Achse 55 4 = seitlich laufen
z Referenz
Durcheinanderlaufen z Hauptziel
Förderung der allgemeinen Bewegungskoordination (räumliche Orientierung, Rhythmus-, Reaktions-, Differenzierungsund Umstellungsfähigkeit), Aufwärmen
247 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
z Bewegungsablauf
Sich frei im Raum bewegen anhand verschiedener Vorgaben: 55 Gangart: Dribbeln, Hopserlauf, gehen, sprinten usw. 55 Orientierung: eng, weit, eckig, rund usw. 55 Richtung: vorwärts, seitwärts, rückwärts 55 Aufgaben: z. B. 3 Schritte seitwärts laufen mit Blick nach innen + 3 Schritte seitwärts mit Blick nach außen z Empfehlung
Die Teilnehmer sind meistens dazu geneigt, im Kreis zu laufen. Dies kann bewusst aufgebrochen werden, indem die Teilnehmer hin und wieder dazu aufgefordert werden, durcheinander zu laufen. Damit kann die Übung auch dazu genutzt werden, Distanzen abzubauen. z Variation
Raum durch Markierungen verkleinern oder vergrößern z Materialien
Keine z Referenz
Vgl. Bucher (2007, S. 38)
Ebbe und Flut z Hauptziel
Schulung der Vorstellungskraft und des Körpergefühls, „Sich in die Bewegung hineinspüren“, Bewegungspräzision z Bewegungsablauf
Alle Spieler bewegen sich frei durch den Raum. Der Übungsleiter beschreibt imaginative Situationen und leitet die Bewegungen der Teilnehmer an. Folgende Beschreibungen sind denkbar: 55 Einzelne Pfützen befinden sich auf dem Boden: Die Teilnehmer können von einer zur anderen springen. 55 Wasser umspielt die Füße der Teilnehmer. Man kann das Wasser vor sich hertreiben oder damit spritzen.
13
55 Das Wasser geht bis zu den Knien, und man watet oder geht im Storchengang durch das Wasser. 55 Die Wasseroberfläche befindet sich in Hüfthöhe. Die Fortbewegung erfordert ein stärkeres Abstoßen mit den Füßen, der Gang wird angepasst. 55 Das Wasser befindet sich in Höhe des Brustkorbes. Zur Fortbewegung müssen nun auch Hände und Arme eingesetzt werden. Anschließend sinkt das Wasser, und die Bewegungen werden in umgekehrter Reihenfolge wiederholt. z Empfehlung
Dieses Spiel nur durchführen, wenn der Übungsleiter die Teilnehmer schon gut kennt und weiß, dass er das Mittel der Imagination anwenden kann. Er hat die Aufgabe, das Wasser als ein angenehmes Gefühl und nicht als Bedrohung darzustellen. Hilfreich sind dabei Adjektive wie „weich“, „angenehm warm“, „sanft“ usw. z Materialien
Keine z Referenz
Vgl. Kolb (2007, S. 208)
Einfrieren z Hauptziel
Bewusstes Wahrnehmen der Körperspannung, Verbesserung des Körpergefühls, spielerisches Aufwärmen z Bewegungsablauf
Alle laufen zur Musik kreuz und quer durch den Raum. Sobald die Musik gestoppt wird, frieren alle in ihrer aktuellen Stellung ein. Diese Stellung für drei Sekunden halten und Körperspannung bis in die Fingerspitzen aufbauen. Sobald die Musik wieder losgeht, können sich alle wieder entspannen und zur Musik weiter laufen.
248
P. Mehler et al.
z Empfehlung
Dieses Aufwärmspiel kann auch sehr gut als Cool-Down-Übung angeleitet werden. z Variation
Während des Laufens zur Musik können verschiedene Cool-Down- bzw. Lockerungsübungen ausgeführt werden (z. B. Schwingen der Arme), damit möglichst abwechselnde eingefrorene Körperhaltungen zustande kommen. z Materialien
55 Spiel: Auf Kommando des Spielleiters läuft aus jeder Gruppe ein Spieler los. Ist der Spieler am Hütchen angelangt, würfelt er einmal, schreibt die gewürfelte Zahl auf das Blatt und läuft zur Gruppe zurück. Dann läuft der nächste Spieler los und addiert seine gewürfelten Punkte zu den vorigen. Ziel jeder Gruppe ist es, zuerst 50 Punkte zu erhalten. Die Punktzahl ist dem Leistungsniveau der Gruppe und der zur Verfügung stehenden Zeit anzupassen. z Empfehlung
Keine z Referenz
Vgl. Brugger et al. (1990, S. 50)
Einlaufen mit Würfeln (. Abb. 13.4)
Der nächste Spieler läuft erst nach Abklatschen durch den vorherigen Spieler los. Würfel, Stift und Papier liegen auf der Seite des Hütchens.
z Hauptziel
Spielerisches Aufwärmen, Förderung der Konzentration z Bewegungsablauf
13
55 Vorbereitung: Die Spieler teilen sich in Kleingruppen auf. Pro Gruppe wird ein Hütchen auf die andere Seite des Raumes gestellt. Dort befinden sich für jede Gruppe ein Würfel, ein Blatt Papier und ein Bleistift.
.. Abb. 13.4 Einlaufen mit Würfeln
z Variation
55 Ziel ist es, genau auf eine bestimmte Anzahl von Punkten zu kommen. 55 Gerade und ungerade Würfelpunkte haben andere Rechenfunktionen inne, z. B: Alle geraden Zahlen werden addiert, alle ungeraden subtrahiert. Die zu erreichende Zahl sollte hier deutlich herabgesetzt werden. 55 Es können auch immer alle Spieler gleichzeitig laufen und alle nach der ge-
249 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
laufenen Runde würfeln. Dann werden die Punkte aller zusammengezählt. Hier liegen Würfel, Zettel und Stift auf der Seite des Startpunktes der Runde. z Materialien
Hütchen, Stifte, Zettel, Würfel z Referenz
Vgl. Brugger et al. (1990, S. 268)
13
Endloskette (. Abb. 13.5)
z Hauptziel
Spielerisches Aufwärmen, Tempogefühl lernen, Verbesserung von Reaktionsfähigkeit und Schnelligkeit z Bewegungsablauf
Die Spieler bilden in 3er-Gruppen eine Schlange und halten sich alle mit der rechten Hand an jeweils einem Seil fest. Alle laufen langsam durch den Raum. Auf Kommando
a
b
.. Abb. 13.5 (a, b) Endloskette (a) in Kleingruppen, (b) mit Slalom und in der Gesamtgruppe
250
P. Mehler et al.
des Spielleiters oder durch Musikstopp läuft der Hinterste nach vorne an den anderen vorbei und setzt sich an die Spitze (. Abb. 13.5a). Der Spieler, der an den anderen vorbei läuft, erhöht für diese Zeit sein Lauftempo.
z Variation (. Abb. 13.5b)
55 Alle heben das Seil nach oben, und der Hinterste läuft im Slalom um die anderen nach vorne. 55 Alle Spieler der Gesamtgruppe gehen zusammen an ein Seil. Der Hintere muss nun die ganze Gruppe überholen. Dafür werden alle Seile aneinander geknotet. 55 Der Vordere versucht, an den Hintermann zu kommen („Eine Schlange versucht sich selber in den Schwanz zu beißen“). z Materialien
Seile (1 Seil pro 3er-Gruppe) z Referenz
Vgl. Brugger et al. (1990, S. 85)
Flussüberquerung z Hauptziel
13
Schulung der räumlichen Orientierungsund kinästhetischen Differenzierungsfähigkeit z Bewegungsablauf
55 Vorbereitung: Bierdeckel werden in kleinen, passenden Abständen auf dem Boden im Raum verteilt. 55 Spiel: Die Teilnehmer müssen nun versuchen, sich nur auf diesen durch den Raum fortzubewegen. z Empfehlung
Dieses Spiel kann Rutschgefahr bergen. Prüfen Sie Bodenbeschaffenheit sowie die Schuhe der Teilnehmer. Bei zu rutschigen Gegebenheiten eine andere Aufwärmübung wählen.
z Variation
55 Aufgabe der Teilnehmer ist es, die Bierdeckel nicht zu berühren. 55 Als Begrenzungen können am Rand zwei Seile oder Bänke eine Art „Ufer“ darstellen. Aufgabe der Teilnehmer ist es nun, trockenen Fußes von einem zum anderen Ufer zukommen. Dabei können die Teilnehmer auch von beiden Ufern gleichzeitig starten, sodass sie sich gegenseitig ausweichen müssen. z Materialien
55 Bierdeckel 55 Variation: Seile, Bänke z Referenz
Vgl. Kolb (2007, S. 182f)
Glasplattentransport z Hauptziel
Gemeinsames Agieren in der Gruppe, Stärkung der Kooperation z Bewegungsablauf
55 Vorbereitung: Alle Teilnehmer stellen sich in einen Kreis und halten ein langes und geschlossenes Seil mit beiden Händen vor ihrem Körper. 55 Spiel: Aufgabe der Teilnehmer ist es, sich vorzustellen, sie würden gemeinsam eine große Glasplatte transportieren. Dabei soll die „Glasplatte“ immer gerade gehalten, über Hindernisse transportiert oder aufgestellt werden. z Instruktion
55 „Stellen Sie sich vor, Sie tragen alle gemeinsam eine große Glasplatte in ihren Händen.“ 55 Mögliche Zusatzinstruktionen zur Unterstützung der Übung: 55 „Wichtig ist es, die Platte immer in Abstimmungen mit den anderen Teilnehmer der Gruppe zu halten. Achten Sie darauf, wo sich ihr Nachbar, ihr Gegenüber
251 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
13
und auch die anderen Spieler im Raum befinden und wie sie sich bewegen. Versuchen Sie, die Glasplatte zunächst einmal möglichst gerade zu halten, und bewegen Sie sich nun im Raum fort. Es können sich verschiedene Hindernisse im Raum befinden oder Aufgaben auf Sie zukommen, die die Stellung der Glasplatte verändern. Beides werde ich zum gegebenen Zeitpunkt ansagen.“ z Empfehlung
Der Übungsleiter sollte die Übung entsprechend anleiten und die Teilnehmer durch die einzelnen Situationen des Spieles leiten. Dabei können die Teilnehmer für die eigenen Bewegungen und die der anderen sensibilisiert werden. Je nach Zielsetzung kann nach der Übung auch eine kurze Auswertung mit der Gruppe erfolgen, z. B. anhand folgender Fragen: Wie ist es Ihnen während der Übung ergangen? Welche Herausforderungen es gab? Was hat gut geklappt?
55 Tempo variieren 55 Variation der Abstände der Hütchen z Materialien
55 Hütchen 55 Variation: Bälle z Referenz
Vgl. Bucher (2007, S. 19)
Memorystaffel (. Abb. 13.7)
z Materialien
Ein langes oder mehrere kurze an den Enden zusammengeknotete Seile z Referenz
Vgl. Kolb (2007, S. 166)
Hütchenlauf (. Abb. 13.6)
z Hauptziel
Aufwärmen, Verbesserung der räumlichen Orientierungsfähigkeit, Umstellungs- und Rhythmusfähigkeit z Bewegungsablauf
55 Hütchen in einer oder zwei Reihen aufstellen 55 Slalom um die Hütchen laufen z Variation
.. Abb. 13.6 Hütchenlauf
55 Verschiedene Lauf- und Gangarten (z. B. einbeinig, seitlich, mit Ball prellen, Knie anziehen)
z Hauptziel
Spielerisches Aufwärmen, Kennenlernen, Schulung des Kurzzeitgedächtnisses z Bewegungsablauf
Je nach Anzahl der Spieler werden zwei oder mehrere Gruppen gebildet. Die Mannschaften stehen nebeneinander. Am anderen Ende des Raumes liegen einige Memorykarten. Ziel des Spieles ist es, als erste Gruppe alle Paare der eigenen Memorykarten zum Startpunkt zu bringen. Der erste Spieler aus jeder Gruppe läuft los und deckt eine Karte auf. Der zweite Spieler deckt die nächste Karte auf. Hat er ein Pärchen gefunden, können beide Karten zurück zum Startpunkt gebracht werden. Ist es kein Pärchen, müssen beide Karten wieder zugedeckt werden. Dieser Spieler kann jedoch dem nächsten Läufer beschreiben, welche Karten nicht zusammen gehören.
252
P. Mehler et al.
.. Abb. 13.7 Memorystaffel
z Variation
55 Während die Spieler zu den Memorykarten laufen und zurück, können sie einen Ball dribbeln. 55 Anstatt der Memorykarten können auch Spielkarten oder Zahlenkarten von 1-10 benutzt werden, und die Spieler müssen die Karten nach der Reihenfolge zum Startpunkt bringen. z Materialien
13
55 Memorykarten 55 Variation: Spiel- oder Zahlenkarten z Referenz
Vgl. Klee (2008, S. 79)
Rettungssprung (. Abb. 13.8)
z Hauptziel
Verbesserung der Reaktionsfähigkeit und räumlichen Orientierungsfähigkeit, Aufwärmen z Bewegungsablauf
55 Vorbereitung: Reifen werden auf dem Boden mit der gleichen Anzahl wie Teilnehmer ausgelegt. 55 Spiel: Freies Umlaufen der Reifen mit Musik. Bei Stoppen der Musik oder Rufen sucht sich jeder Teilnehmer einen Reifen.
.. Abb. 13.8 Rettungssprung
z Variation
55 Teilnehmer um die Reifen laufen lassen, dabei dürfen sie weder den Reifen noch den Innenraum des Reifens mit dem Fuß berühren. 55 Teilnehmer laufen nur von Reifen zu Reifen. Bei dieser Variation der Übung müssen die Abstände der Reifen sorgfältig gewählt werden. 55 Die Reifen werden mit auf Papier geschriebenen Ziffern von 1–9 ausgelegt. Die Teilnehmer haben die Aufgabe, ver-
253 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
B
B
A
A
13
B
A A A
B
B
.. Abb. 13.9 Schattenlaufen
schiedene Zahlenkombinationen abzulaufen (Telefonnummer, Alter, Geburtsdatum usw.)
z Variation
Vgl. Bucher (2007, S. 20)
55 Spieler A steht Spieler B gegenüber und ahmt dessen Bewegungen spiegelbildlich oder gegengleich nach. 55 Alle Spieler ahmen ein Gruppenmitglied nach, und alle bilden dabei z. B. eine lange Schlange. 55 Es können vom Übungsleiter auch verschiedene Themen vorgegeben werden (z. B. Morgenrituale, Sportarten, Tiere usw.).
Schattenlaufen (. Abb. 13.9)
z Materialien
z Materialien
Reifen, Gerät zum Abspielen von Musik, Variation: Zahlenschilder z Referenz
z Hauptziel
Förderung der räumlichen Orientierungsfähigkeit sowie der Rhythmusfähigkeit z Bewegungsablauf
Die Teilnehmer gehen zu zweit zusammen. Spieler B läuft Spieler A hinterher und imitiert verschiedene Laufstile des Vordermanns. z Empfehlung
Am besten ist es, dieses Spiel nicht in den ersten gemeinsamen Trainingsstunden einzusetzen. Die Teilnehmer sollten schon einige verschiedene Aufwärmübungen gelernt haben.
Keine z Referenz
Vgl. Bucher (2007, S. 38)
Seilakrobatik (. Abb. 13.10)
z Hauptziel
Schulung der Reaktionsfähigkeit, Rhythmusfähigkeit und Bewegungspräzision z Bewegungsablauf
55 Vorbereitung: Alle Teilnehmer stellen sich in einen Kreis und halten ein langes und geschlossenes Seil mit beiden Händen vor ihrem Körper.
254
P. Mehler et al.
z Materialien
Ein langes oder mehrere kurze an den Enden zusammengeknotete Seile z Referenz
Vgl. Kolb (2007, S. 170)
Seilmannschaften z Hauptziel
Gemeinsames Aufwärmen, Kennenlernen, Schulung der räumlichen Orientierungsund kinästhetischen Differenzierungs- sowie der Umstellungsfähigkeit z Bewegungsablauf
.. Abb. 13.10 Seilakrobatik
55 Spiel: Der Übungsleiter gibt verschiedene Anweisungen, und die Teilnehmer müssen am besten gleichzeitig und so schnell wie möglich darauf reagieren.
13
Mögliche Anweisungen und dazugehörige Reaktionen sind folgende: 55 „Rechts“: Die rechte Hand löst sich vom Seil und wird nach oben gehoben. Anschließend fasst sie wieder das Seil. 55 „Links“: Die linke Hand löst sich vom Seil und wird nach oben gehoben. Anschließend fasst sie wieder das Seil. 55 „Kreuz links“: Die linke Hand greift über die rechte Hand und das Seil wird somit ein Stückchen weitergegeben. 55 „Kreuz rechts“: Die rechte Hand greift über die rechte Hand und das Seil wird somit ein Stückchen weitergegeben. 55 „Beide Hände“: Die Teilnehmer lassen das Seil fallen. z Variation
55 Die Geschwindigkeit kann erhöht werden. 55 Das Seil kann in einem bestimmten Rhythmus nach rechts oder links gegeben werden.
Immer zwei Teilnehmer fassen die Enden eines Seiles und bewegen sich durch den Raum. Aufgabe ist es, sich so zu bewegen, dass das Seil gespannt wird und man nicht mit anderen Seilschaften zusammenstößt oder mit deren Seil verheddert. z Empfehlung
Die Längen der Seile bzw. der Abstand zwischen den Teilnehmern sollte der Größe des Raumes angepasst sein. z Variation
55 Der Raum kann durch Begrenzungen (z. B. Seil am Boden oder Hütchen) verkleinert werden. 55 Vorgegeben wird, ob die Seilschaften entweder hinter- oder nebeneinander laufen sollen. 55 Der Übungsleiter kann die Teilnehmer auch absichtlich dazu auffordern, dass sich ihre Seile miteinander verheddern sollen. Aufgabe ist es dann, dass entstandene Knäul wieder aufzulösen. z Materialien
55 Seile (1 Seil pro 2er-Gruppe) 55 Variation: Materialien zum Begrenzen des Raumes z Referenz
Vgl. Kolb (2007, S. 158f)
255 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
13
z Referenz
Vgl. Brugger et al. (1990, S. 124)
Sprung-Wiederholungen z Hauptziel
Schulung der Phantasie und Selbsteinschätzung sowie des Kurzzeitgedächtnisses, spielerisches Aufwärmen, dynamische Kraftausdauer z Bewegungsablauf
.. Abb. 13.11 Seilparcours
Seilparcours (. Abb. 13.11)
z Hauptziel
Spielerisches Aufwärmen, Schulung der Bewegungspräzision und dynamischen Kraftausdauer z Bewegungsablauf
Mehrere Seile werden hintereinander oder gefächert auf den Boden gelegt. Aufgabe ist es jetzt, auf unterschiedlichste Arten über die Seile zu laufen bzw. zu hüpfen (z. B. Einbeinspringen, Parallelsprünge, Zehnspitzenlaufen, rückwärts), ohne die Seile zu berühren. z Empfehlung
Empfehlenswert ist es, zunächst erst einmal nur eine Laufart vorzugeben und nach und nach andere Laufarten vorzugeben. Bei diesem Spiel kann man die Teilnehmer auch gut aktiv in die Spielgestaltung einbeziehen, indem sie Laufarten vorschlagen können. z Variation
Variationen in Lage und Distanz der Seile möglich z Materialien
Seile (min. 5 Stück)
Alle Reifen sind frei im Raum verteilt. Die Spieler gehen paarweise zusammen. Ein Spieler springt 3–4 Sprünge freier Wahl. Diese Kombination wird 2- bis 3mal wiederholt. Sein Partner merkt sich die genaue Bewegungsabfolge und wiederholt genau die gleiche Sprungkombination. z Instruktion
„Beginnen Sie am besten mit einfachen Sprungkombinationen.“ z Variation
55 Die Anzahl der Sprungkombinationen kann je nach Leistungsniveau verringert oder erhöht werden. 55 Die Reifen liegen in einer Doppelreihe auf dem Boden. Der erste Spieler zeigt eine Sprungkombination, die alle in der Gruppe nacheinander wiederholen. z Materialien
Reifen z Referenz
Vgl. Brugger et al. (1990, S. 124f)
Sternschnuppe (. Abb. 13.12)
z Hauptziel
Spielerisches Aufwärmen, Tempogefühl lernen, Kennenlernen z Bewegungsablauf
55 Vorbereitung: Alle Spieler bilden einen Kreis.
256
P. Mehler et al.
.. Abb. 13.12 Sternschnuppe
55 Spiel: Ein Teilnehmer läuft außen um den Kreis herum. An einer beliebigen Stelle stellt er sich in den Kreis. Genau an dieser Stelle laufen beide Partner (zur rechten sowie zur linken Seite) los. Beide laufen in die Richtung, von der die „Sternschnuppe“ gekommen ist. Wer zuletzt wieder am Ausgangsort eintrifft, wird neue Sternschnuppe und beginnt eine neue Runde. z Empfehlung
13
55 Einem Teilnehmer, der „Sternschnuppe“, wird sozusagen eine Sonderrolle zuteil. Da diese jedoch positiv konnotiert ist, übernehmen die Teilnehmer diese Rolle gerne. 55 Bei einer kleinen Gruppe oder auch einem kleinen Raum ist darauf zu achten, dass der Kreis groß genug ist. Bei kleinem Radius erhöht sich die Rutschund somit Verletzungsgefahr. Hier auf genügend Abstand zwischen den Teilnehmern achten.
Strom-Reifen-Lauf (. Abb. 13.13)
z Hauptziel
Kennenlernen und Vertrauen zum Mitspieler aufbauen, spielerisches Aufwärmen, Schulung der Koordination z Bewegungsablauf
Die Spieler gehen partnerweise zusammen, und jedes Paar bekommt einen Reifen. Spieler A steigt in den Reifen und Spieler B hält ihn in Bauchhöhe des Partners und führt diesen durch den Raum, ohne dass A den Reifen berührt. z Variation
Keine
55 Spieler A darf sich frei bewegen, und Spieler B muss den Reifen so führen, dass er nicht von A berührt wird. 55 Mehrere Pärchen schließen sich zusammen. Das bedeutet, dass jeder Teilnehmer (außer der erste und der letzte) in einem Reifen läuft und selber den Reifen von seinem Vordermann in der Hand hält. Es wird sozusagen eine Reifenschlange gebildet.
z Referenz
z Materialien
z Materialien
Vgl. Brugger et al. (1990, S. 49)
Reifen
257 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
13
.. Abb. 13.13 Strom-Reifen-Lauf
.. Abb. 13.14 Tanzende Reifen
z Referenz
Vgl. Brugger et al. (1990, S. 69)
Tanzende Reifen (. Abb. 13.14)
fen und Rollen des Reifen erfordert erhöhte Aufmerksamkeit, nicht mit anderen zusammenzustoßen.
z Hauptziel
z Variation
Spielerisches Aufwärmen, Erlernen von Tempogefühl
55 Die Reifen werden auf der Stelle gedreht.
z Bewegungsablauf
Reifen (je Teilnehmer 1 Reifen)
Jeder bekommt einen Reifen. Aufgabe ist es nun, durch den Raum zu laufen und dabei seinen Reifen zu rollen. Gleichzeitiges Lau-
z Materialien z Referenz
Vgl. Brugger et al. (1990, S. 52)
258
P. Mehler et al.
Zahlenreaktionsspiel z Hauptziel
Spielerisches Aufwärmen, Schulung des Reaktionsvermögens z Bewegungsablauf
Alle Spieler laufen im Kreis durch den Raum. Vorher ausgemachte Klatschsignale des Übungsleiters haben unterschiedliche Reaktionen zufolge. Beispiel: 55 1× klatschen = umdrehen und in die andere Richtung laufen 55 2× klatschen = um die eigene Achse drehen 55 3× klatschen = rückwärts laufen z Empfehlung
Es ist empfehlenswert, zu Beginn nur mit zwei Übungen anzufangen und erst dann weitere Übungen hinzuzunehmen, wenn dies funktioniert. Je nach Leistungsniveau der Teilnehmer sind die Übungen gut zu kombinieren. Ausdauerübungen (Hampelmann) können z. B. mit Halteübungen kombiniert werden (Einbeinstand). Somit entsteht ein Gleichgewicht zwischen anstrengenden und weniger anstrengenden Übungen.
13
z Variation
55 Die Klatschsignale können in unterschiedlichen Rhythmen geklatscht werden. Jedem Rhythmus sollte dann eine einzelne Übung zugeordnet sein. 55 Unterschiedliche Laufstile oder Übungen können mit eingebaut werden. 55 Anstatt zu klatschen, kann auch gewürfelt werden, und die Zahlen auf dem Würfel stehen für unterschiedliche Übungen. Würfeln können der Übungsleiter oder die Teilnehmer abwechselnd untereinander (s. Übung „Bewegungswürfel“). 55 Die Übungen können anstatt mit unterschiedlichen Anzahl von Klatschern auch mit Geräuschen kodiert werden, z. B.:
55 Klatschen = Hampelmann 55 Schnipsen = Einbeinstand rechts 55 Stampfen = Apfelpflücken z Materialien
Variation: Würfel z Referenz
Variation: vgl. Witting u. Dörken (2009, S. 38) 13.2.2
Aufwärmübungen
Arme kreisen z Hauptziel
55 Mobilisation und Aufwärmen der Arme sowie der Oberarm- und Schultermuskulatur 55 Variation: Verbesserung der Koordinationsfähigkeit z Bewegungsablauf
Die Arme kreisen langsam seitlich am Körper. z Variation
55 Während des Armkreisens können die Trainierenden sich frei im Raum bewegen. 55 Anstatt eines Kreises können Zahlen oder Buchstaben in die Luft „gemalt“ werden (z. B. eine stehende Acht oder der eigene Name). 55 Bei beidseitigem Kreisen der Arme kann die Richtung beider Arme entgegengesetzt verlaufen. 55 Arme seitlich im 90°-Winkel vom Körper wegstrecken und in immer größer werdenden Kreisen um die eigene horizontale Achse kreisen. Arme sind dabei angespannt. Richtungswechsel nicht vergessen. z Materialien
Keine
259 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
a
b
c
13
d
.. Abb. 13.15 (a-d) Beinpendel (a) nach vorne, (b) nach hinten, (c) seitlich nach außen, (d) seitlich nach innen. Foto: R. Tisje
Beinpendel (. Abb. 13.15)
z Materialien
z Hauptziel
Keine
Je nach Intensität und Umsetzung eine Aufwärm-, Mobilisierungs- oder auch aktive Dehnübung sowie eine Übung zur Schulung des Gleichgewichtes z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Einbeinstand 55 Übung: Schwingen eines Beines in verschiedene Richtungen: –– nach vorne –– nach hinten –– seitlich 55 Der Rücken bleibt gerade und möglichst aufrecht. Bei den Vor- und Rückwärtsbewegungen des Beines wird jedoch der Stand durch leichtes Beugen des Oberkörpers in die gleiche Richtung stabiler. z Empfehlung
Zur Unterstützung des Gleichgewichtes können die Arme parallel zum Boden vom Körper weggestreckt werden. Bei Gleichgewichtsschwierigkeiten gerne den Teilnehmern die Möglichkeit des Festhaltens z. B. an der Wand anbieten. z Variation
55 Achterkreisen 55 Ziffern oder Buchstaben schreiben
Hütchenlauf „Slalom“ z Hauptziel
Aufwärmen, Verbesserung der Ausdauer, Schulung der Koordination, allgemeine Beinbeweglichkeit z Bewegungsablauf
Hütchen in eine Reihe stellen im Abstand von ½ – 1 m, sodass im Slalom um die Hütchen gelaufen werden kann. Am Ende umdrehen und im Slalom zum Startpunkt zurücklaufen. z Variation
55 Der Abstand der Hütchen kann vergrößert sowie verkleinert werden. 55 Während des Slalomlaufs zusätzlich einen Ball neben dem Körper prellen. z Materialien
55 Hütchen 55 Variation: Ball
edizinball auf Reise M (. Abb. 13.16)
z Hauptziel
Aufwärmen, Kontakt und Vertrauen schaffen in der Gruppe, Trainieren der diagonalen Züge, Strecken und Dehnung, Kräfti-
260
P. Mehler et al.
a
b
c
.. Abb. 13.16 (a-c) Medizinball auf Reise (a) seitlich, (b) über den Kopf, (c) durch die Beine. Foto: R. Tisje
gung der Rückenstrecker und Mobilisation der Lendenwirbelsäule z Bewegungsablauf
13
Alle Teilnehmer stehen in einer Reihe, sodass jeder auf den Rücken seines Vordermannes blickt. Ein Medizinball wird in die Runde gegeben. Der Ball muss jeweils auf eine bestimmte Art an den Hintermann oder die Hinterfrau übergeben werden. Hierbei ist es wichtig, dass die einzelnen Übungen sauber und deutlich ausgeführt werden. Dabei geht es nicht um Schnelligkeit. Wird der Ball z. B. seitlich nach hinten übergeben, bleiben die Beine am Boden, und es dreht sich nur der Oberkörper. Die Teilnehmer drehen sich abwechselnd nach rechts und nach links. z Instruktion
„Achten Sie darauf, dass die Hüfte während der Übung weiterhin nach vorne zeigt.“ z Empfehlung
Achten Sie als Übungsleiter darauf, dass die Teilnehmer im richtigen Abstand zueinander stehen; nicht zu nah und nicht zu weit entfernt, sodass sie Platz haben, die Übungen komplett auszuführen, und sie keinen Schritt auf ihren Nachbarn zu machen müssen.
z Variation
55 Der Ball kann abwechselnd über den Kopf und unter den Beinen hindurch weitergegeben werden. 55 Ein weiterer Medizinball wird in die Runde gebracht. z Materialien
Medizinball (1 Medizinball für 5–6 Teilnehmer)
Schultern heben z Hauptziel
55 Aufwärmen des Schultergürtels 55 Variation: Aufwärmen des Schultergürtels und Schulung der Koordination z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: aufrechter Stand, die Arme hängen dabei locker am Körper. 55 Übung: Beide Schultern ziehen gleichzeitig nach oben und werden wieder fallen gelassen. z Instruktion
„Ziehen Sie die Schultern beim Einatmen zu den Ohrläppchen. Und lassen sie beim Ausatmen wieder sinken“
13
261 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
z Variation
55 Diese Übung kann im Stand oder während einer Aerobic-Aufwärmphase z. B. auch im „Side to side“-Step durchgeführt werden. 55 Die Schultern werden abwechselnd angehoben. z Materialien
Keine 13.2.3
Mobilisation und Lockerung
z Arme kreisen
55 Ausgangsposition: Auf einem Stuhl sitzend mit geradem Rücken, die Füße sind auf dem Boden aufgestellt, die Arme hängen locker neben dem Körper. 55 Übung: Die Schultern nach innen eindrehen. Die Arme drehen sich dabei nach innen mit. Danach werden die Schulterblätter nach hinten geführt. Die Arme drehen sich mit, und die Daumen zeigen nach außen hinten. Wichtig dabei ist, dass die Schultern unten bleiben und das Brustbein gehoben ist. z Instruktion
s.7 Abschn. 13.2
„Heben Sie beim Zurückziehen der Schultern das Brustbein an. Ihre Schultern sind weit von den Ohren entfernt.“
z Beinpendel
s.7 Abschn. 13.2
Brustöffner (. Abb. 13.17)
z Hauptziel
Dehnung der Brustmuskulatur und Schulung der Aufrichtung a
z Bewegungsablauf
z Empfehlung
s. allgemeine Empfehlung zu Beginn des Abschnitts „Flexibilitätsschulung“ (7 Abschn. 13.2.3)
b
.. Abb. 13.17 (a, b) Brustöffner. (a) Schultern nach vorne, (b) Schultern nach hinten. Foto: R. Tisje
262
P. Mehler et al.
z Variation
55 Die Übung kann auch auf einem Gymnastikball ausgeführt werden. 55 Einsatz verschiedener Dehntechniken (s. 7 Abschn. 7.4.6 und 8.2.6)
z Materialien
55 Stuhl 55 Variante: Gymnastikball z Referenz
Vgl. Froböse (2011, S. 80)
enker oder Droschkenkutscher D (. Abb. 13.18)
z Hauptziel
Entspannung und Lockerung z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Sitz auf einem Stuhl, die Füße stehen schulterbreit auseinander, die Arme hängen locker neben dem Körper. 55 Übung: Die Unterarme werden auf den Oberschenkel abgelegt. Dabei hängen die Hände locker zwischen den Beinen
nach unten. Die Nackenmuskulatur wird entspannt, der Kopf hängt locker nach unten. Entspannend wirkt nun eine bewusste Atmung (tiefes Ein- und Ausatmen in den Bauch). Nach einigen Atemzügen aufrichten und die Übung wiederholen. z Empfehlung
Bei dieser Übung empfiehlt es sich, ein Feedback von den Teilnehmern einzuholen. Nicht jeder empfindet diese sitzende Position als entspannend. Sie ist jedoch eine gute Alternative zu ähnlichen Entspannungsübungen im Liegen. z Variation
Sitzen an der Hallenwand angelehnt oder auf der Matte z Materialien
55 Stuhl 55 Variation: Turnmatte z Referenz
Vgl. Froböse (2011, S. 86)
Die Schraube (. Abb. 13.19)
z Hauptziel
13
Rotationsschulung und Schulung des Körper- und Haltungsbewusstsein, Dehnung der Brustmuskulatur und Mobilisation der Wirbelsäule z Bewegungsablauf
.. Abb. 13.18 Denker oder Droschkenkutscher. Foto: R. Tisje
55 Ausgangsposition: Aufrechte Sitzposition auf einem Stuhl, die Hände ruhen auf den Oberschenkeln. Die linke Hand wird seitlich, außen am rechten Oberschenkel nahe des Knies abgelegt. 55 Übung: Der Oberkörper dreht zur rechten Seite auf. Der rechte Arm wird dabei nach hinten oben geführt, wobei der Kopf mitgeht und der Hand nachblickt. Die Hüfte bleibt stabil. 55 Die Position für einige Sekunden (10–15) lang halten.
13
263 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
Grashalm z Hauptziel
Dehnung der seitlichen Bauchmuskulatur, Mobilisation der Lendenwirbelsäule und der unteren Brustwirbelsäule z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Auf dem Rücken liegend werden die Beine gebeugt aufgestellt. Die Fußsohlen stehen dabei komplett auf dem Boden, und die Knie sind eng zusammen. Die Arme sind seitlich auf Schulterhöhe ausgestreckt. 55 Übung: Nun werden die Knie langsam abwechselnd zur einen Seite und dann zur anderen Seite Richtung Boden gebracht. Die Schultern und die Arme bleiben am Boden. z Materialien
Turnmatte
andgelenke kreisen und dehnen H (. Abb. 13.20)
.. Abb. 13.19 Die Schraube. Foto: R. Tisje
55 Nach einigen Wiederholungen einen Seitenwechsel einleiten. z Empfehlung
s. allgemeine Empfehlung zu Beginn des Abschnitts „Flexibilitätsschulung“ (7 Abschn. 13.2.3)
z Variation
Einsatz verschiedener Dehntechniken (s. 7 Abschn. 7.4.6 und 8.2.6)
z Materialien
z Hauptziel
Lockerung und Dehnung der Handgelenke, der Finger und des Unterarmbeugers z Bewegungsablauf
55 Lockerung: Die Finger ineinander verschränken und die Handgelenke locker im Kreis drehen (beide Richtungen). 55 Dehnung: Der linke Arm streckt gerade nach vorne. Die Handinnenfläche zeigt dabei nach oben. Die rechte Hand fasst die Handinnenfläche und die Finger der linken Hand und beugt diese nach unten, bis eine leichte Dehnung verspürt wird.
Stuhl
z Empfehlung
z Referenz
s. allgemeine Empfehlung zu Beginn des Abschnitts „Flexibilitätsschulung“ (7 Abschn. 13.2.3)
Vgl. Froböse (2011, S. 66)
264
P. Mehler et al.
a
b
.. Abb. 13.20 (a, b) Handgelenke (a) kreisen und (b) dehnen. Foto: R. Tisje
z Variation
Einsatz verschiedener Dehntechniken (s. 7 Abschn. 7.4.6 und 8.2.6)
13
z Materialien
oben schauen und einige Sekunden halten. Danach aus dem Hohlkreuz den Rücken nach oben wölben. Der Bauchnabel zieht dabei nach innen. Der Kopf sinkt dabei sanft nach unten.
Keine z Medizinball auf Reise
z Empfehlung
Mobilisation, Entspannen der Wirbelsäule
55 Die entspannende Wirkung der Übung kann durch eine parallele Atemübung verstärkt werden. 55 Beim Hineingehen in den Pferderücken tief ein- sowie beim Hinübergleiten in den Katzenbuckel tief ausatmen.
z Bewegungsablauf
z Materialien
s. 7 Abschn. 13.2
Pferderücken – Katzenbuckel (. Abb. 13.21)
z Hauptziel
55 Ausgangsposition: Vierfüßlerstand, die Knie befinden sich direkt unter der Hüfte und die Hände in Höhe der Schultern mit Blick zum Boden. 55 Übung: Zu Beginn den Bauch Richtung Boden schieben und somit ins Hohlkreuz gehen. Dabei Kopf leicht anheben, nach
Turnmatte
Schaukel (. Abb. 13.22)
z Hauptziel
Dehnung des langen Rückenstreckers und Verbesserung der Beweglichkeit (Mobilisation)
265 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
a
13
b
.. Abb. 13.21 (a, b) Pferderücken – Katzenbuckel. Foto: R. Tisje
a
b
.. Abb. 13.22 (a, b) Schaukel (a) mit angezogenen Knien, (b) mit einem gestreckten Bein. Foto: R. Tisje
z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Auf dem Rücken liegend werden die Beine gebeugt und an den Körper gezogen. 55 Übung: Die Hände fassen die Schienbeine oder Knie und ziehen diese zum Bauch. Dabei werden Kopf und Schulter leicht vom Boden abgehoben, und es entsteht eine Art kleines „Paket“. Der Trainierende kann sanft auf dem Rücken vor und zurück schaukeln.
z Materialien
Turnmatte z Referenz
Vgl. Froböse (2011, S. 78)
Schultern kreisen z Hauptziel
Mobilisieren des Schultergürtels z Bewegungsablauf
Beim Schaukeln in die Ausgangs- bzw. Sitzposition kann ein Bein gestreckt werden.
55 Ausgangsposition: Aufrechter Stand, die Arme hängen dabei locker am Körper. 55 Übung: Die Schultern ziehen nach oben und können langsam nach hinten sowie nach vorne gekreist werden.
z Variation
z Empfehlung
Bei Knieproblemen können auch die Oberschenkel gefasst werden.
Bei Schwierigkeiten, die Schultern kreisförmig zu bewegen, kann Variante 2 helfen.
z Empfehlung
266
P. Mehler et al.
z Variation
55 Diese Übung kann im Stand oder während einer Aerobic-Aufwärmphase auch im „Side to side“-Step durchgeführt werden. 55 Die Hände fassen auf die Schultern, und der Teilnehmer konzentriert sich auf die Kreisbewegung der Ellenbogen. Dabei kreisen die Schultern meist automatisch mit. z Materialien
Keine
erwringen im Liegen V (. Abb. 13.23)
z Instruktion
„Achten Sie darauf, dass Arme und Schultern Bodenkontakt haben.“ z Empfehlung
s. allgemeine Empfehlung zu Beginn des Abschnitts „Flexibilitätsschulung“ (7 Abschn. 13.2.3)
z Variation
Einsatz verschiedener Dehntechniken (s. 7 Abschn. 7.4.6 und 8.2.6)
z Materialien
Turnmatte
erwringen im Sitzen V Dehnung der Gesäßmuskulatur und Mobili- (. Abb. 13.24) z Hauptziel
13
sation der Lenden- und der Brustwirbelsäule
z Hauptziel
z Bewegungsablauf
Dehnung der Gesäßmuskulatur, des Oberkörpers, der Abduktoren, der Rumpfrotatoren und Mobilisation der Wirbelsäule
55 Ausgangsposition: Rückenlage auf der Turnmatte, Beine liegen gestreckt am Boden. 55 Übung: –– Das linke Bein winkelt an, und der linke Fuß wird außen neben dem gestreckten Bein in einer angenehmen Position abgestellt. –– Der aufgestellte Fuß wird nach innen über das andere Bein abgelegt. –– Der linke Arm wird gerade seitlich vom Körper weggestreckt, und der Blick geht in Richtung des geöffneten Armes.
.. Abb. 13.23 Verwringen im Liegen. Foto: R. Tisje
z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Aufrechtes Sitzen auf der Turnmatte, beide Beine liegen gestreckt nebeneinander, der Rücken ist gerade. 55 Übung: 55 Die Übung besteht aus 3 wichtigen Komponenten: –– Das linke Bein winkelt an, und der linke Fuß wird außen (gekreut) neben dem gestreckten Bein in einer angenehmen Position abgestellt.
.. Abb. 13.24 Verwringen im Sitzen. Foto: R. Tisje
267 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
a
13
b
.. Abb. 13.25 (a, b) Windspiel. (a) Ausgangsposition, (b) Übung. Foto: R. Tisje
–– Der rechte Arm wird gestreckt an das angewinkelte Knie angelegt und drückt das linke Bein leicht nach rechts/nach innen. –– Der linke Arm setzt hinter dem Gesäß auf, und der Oberkörper dreht nach links. Der Blick ist dabei unterstützend über die linke Schulter gerichtet. –– Dehnung halten, entspannen und Seite wechseln.
Windspiel (. Abb. 13.25)
z Hauptziel
Mobilisation der Seitneige z Bewegungsablauf
s. allgemeine Empfehlung zu Beginn des Abschnitts „Flexibilitätsschulung“ (7 Abschn. 13.2.3)
55 Ausgangsposition: Aufrechte Sitzposition auf einem Stuhl einnehmen. Die Beine sind dabei hüftbreit aufgestellt und die Arme strecken parallel zum Boden seitlich vom Körper weg. Rücken- und Bauchmuskulatur sind angespannt. 55 Übung: Die Arme werden seitlich parallel zum Boden noch etwas weiter vom Körper weggestreckt. Der Oberkörper verschiebt sich in Richtung der ausgestreckten Arme zur Seite mit.
z Variation
z Variation
z Empfehlung
Einsatz verschiedener Dehntechniken (s. 7 Abschn. 7.4.6 und 8.2.6)
z Materialien
Turnmatte
55 Ausgangsposition: Aufrechte Sitzposition auf einem Stuhl einnehmen. Die Beine sind dabei hüftbreit aufgestellt und die Arme hängen locker neben dem Körper.
268
P. Mehler et al.
55 Übung: Der Oberkörper wird zur rechten Seite geneigt, bis ein leichtes Ziehen in der linken Seite verspürt wird. Die rechte Hand nähert sich dabei dem Boden. Der Kopf bildet dabei die Verlängerung der Wirbelsäule. z Materialien
Stuhl z Referenz
Vgl. Froböse (2011, S. 76) 13.2.4
Flexibilitätsschulung
z Empfehlung für alle Dehnübungen
13
55 Die korrekte Ausführung der Dehnübungen sollte zunächst eingeführt werden. Dabei sollte auch das Dehnspannungsgefühl geschult werden. 55 Um eine zu hohe Dehnbeanspruchung zu vermeiden, bietet es sich an, mit dem intermittierenden Dehnen zu beginnen. Hier nehmen die Patienten die Dehnstellung kurz ein und lösen sie dann wieder langsam auf. 55 Haben die Patienten keine Probleme mit der Bewegungsausführung der Dehnübung, empfiehlt es sich, die Dehnposition langsam einzunehmen, 15 bis 30 Sekunden zu halten und wieder aufzulösen.
Äpfelpflücken (. Abb. 13.26)
z Hauptziel
Dehnung der RückenSchultermuskulatur
und
hinteren
z Bewegungsablauf
Beide Arme nach oben strecken, so lang machen wie möglich. Den ganzen Körper strecken, wenn möglich dabei auf die Zehenspitzen gehen. Arme können abwechselnd gestreckt werden.
.. Abb. 13.26 Äpfelpflücken. Foto: R. Tisje
z Instruktion
„Stellen Sie sich vor, dort oben hängen gut aussehende Äpfel oder ein anderes wohlschmeckendes Obst.“ z Variation
55 Die Teilnehmer können während dieser Übung gleichzeitig durch den Raum laufen. 55 Die Übung wird sitzend auf einem Stuhl ausgeführt. 55 Kombination von Pflücken und Ablegen (mit gestreckten Beinen). z Materialien
Keine
269 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
13
.. Abb. 13.27 Bein an Körper heranziehen. Foto: R. Tisje
ein an Körper heranziehen B (. Abb. 13.27)
z Hauptziel
Dehnung der Hüftstrecker und Kniebeuger z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Rückenlage auf der Turnmatte mit gestreckten Beinen. 55 Übung: Das rechte Bein wird möglichst eng an den Oberkörper geführt und dann langsam gestreckt. z Empfehlung
s. allgemeine Empfehlung zu Beginn dieses Abschnitts z Variation
.. Abb. 13.28 Beine dehnen im Grätschstand. Foto: R. Tisje
55 Übung: Der Oberkörper beugt und dreht sich seitlich in Richtung des rechten Fußes. Die Hände können dabei durch Fassen der Wade und leichtes Heranziehen die Dehnung unterstützen. Danach den Oberkörper in Richtung des linken Fußes bringen. z Empfehlung
Einsatz verschiedener Dehntechniken (s. 7 Abschn. 7.4.6 und 8.2.6)
s. allgemeine Empfehlung zu Beginn dieses Abschnitts
z Materialien
z Variation
Keine
Einsatz verschiedener Dehntechniken (s. 7 Abschn. 7.4.6 und 8.2.6)
eine dehnen im Grätschstand B (. Abb. 13.28)
z Materialien
z Hauptziel
Keine
Dehnung der Adduktoren sowie des Hüftstreckers
z Beinpendel
s. 7 Abschn. 13.2
z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Grätschstand; Beine sind dabei durchgedrückt.
z Brustöffner
s. 7 Abschn. 13.2
270
P. Mehler et al.
a
b
c
.. Abb. 13.29 (a-c) Dehnen im Grätschsitz. (a) Dehnen mit aufrechtem Rücken, (b) Dehnen mit gebeugtem Rücken zur Seite, (c) Dehnen mit gebeugtem Rücken nach vorne. Foto: R. Tisje
z Die Schraube
s. 7 Abschn. 13.2
13
ehnen im Grätschsitz D (. Abb. 13.29)
z Empfehlung
s. allgemeine Empfehlung zu Beginn dieses Abschnitts z Variation
55 Ausgangsposition: Sitzen auf der Matte im Grätschsitz, Beine sind dabei durchgestreckt. 55 Übung: Der Oberkörper wird gerade nach vorne gebeugt. Die Arme strecken dabei nach vorne.
55 Der Oberkörper kann zum rechten Fuß geneigt werden. Die Dehnung halten. Danach „laufen“ die Hände zum anderen Fuß. Das seitliche Beugen sowie das Beugen nach vorne können auf diese Weise auch miteinander verbunden werden. Bei dieser Variante der Übung befindet sich der Rücken in gebeugter Haltung. 55 Einsatz verschiedener Dehntechniken (s. 7 Abschn. 7.4.6 und 8.2.6)
z Instruktion
z Materialien
z Hauptziel
Dehnung der hinteren Oberschenkelmuskulatur und der Adduktoren z Bewegungsablauf
„Versuchen Sie, Ihren Oberkörper so gerade wie möglich zu lassen, indem Sie Ihr Brustbein nach vorne in den Raum schieben.“
Turnmatte
271 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
13
Elefantenrüssel (. Abb. 13.30)
z Empfehlung
z Hauptziel
s. allgemeine Empfehlung zu Beginn dieses Abschnitts
Dehnung der hinteren Schulter und des Rückens z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Aufrechter Stand, die Schultern sind locker. 55 Übung: 55 Der rechte Arm wird lang nach vorne gestreckt und der linke Arm in Höhe des Ellenbogens des anderen Arms eingehakt. Der gestreckte Arm wird dadurch zur Brust gezogen. Die Hand des rechten Arms zeigt dann zur linken Seite. Der Arm wird soweit zur Brust gezogen, bis eine Dehnung in der Schulter zu spüren ist. 55 Der Kopf dreht sich in die Richtung der Dehnung, sodass man über die Schulter schräg nach hinten sieht.
z Variation
Einsatz verschiedener Dehntechniken (s. 7 Abschn. 7.4.6 und 8.2.6)
z Materialien
Keine
Flitzebogen (. Abb. 13.31)
z Hauptziel
Dehnung der Kniestreck- und Hüftbeugemuskulatur z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Auf der Turnmatte abknien und dabei das rechte Bein so aufstellen, dass Ober- und Unterschenkel einen rechten Winkel bilden. Die Hände umfassen das Knie des aufgestellten Beines. 55 Übung: Die Hüfte mit aufrechtem Oberkörper nach vorne und Richtung Boden schieben, bis eine Dehnung in der Vorderseite des linken Oberschenkels verspürt wird. Diese Übung dehnt primär den Hüftbeuger. z Empfehlung
s. allgemeine Empfehlung zu Beginn dieses Abschnitts z Variation
55 Der Unterschenkel des hinteren Beines wird mit der gleichseitigen Hand in Richtung des Gesäßes gezogen. 55 Diese Übung dehnt zusätzlich die Kniestreckmuskulatur und trainiert den Gleichgewichtssinn. 55 Einsatz verschiedener Dehntechniken (s. 7 Abschn. 7.4.6 und 8.2.6)
z Materialien .. Abb. 13.30 Elefantenrüssel. Foto: R. Tisje
Turnmatte
272
P. Mehler et al.
a
b
.. Abb. 13.31 (a, b) Flitzebogen. (a) Hüfte nach vorne unten, (b) hinteres Bein wird angezogen. Foto: R. Tisje
z Empfehlung
55 s. allgemeine Empfehlung zu Beginn dieses Abschnitts 55 Bewusst auf eine ruhige Atmung achten z Materialien
Turnmatte .. Abb. 13.32 Klein machen. Foto: R. Tisje
z Hauptziel
Dehnung der seitlichen Nackenmuskulatur
z Referenz
Vgl. Froböse (2011, S. 84) z Grashalm
13
Kopf neigen (. Abb. 13.33)
s. 7 Abschn. 13.2
z Handgelenke kreisen und dehnen
s. 7 Abschn. 13.2
Kleinmachen (. Abb. 13.32)
z Hauptziel
Entspannung und Dehnung der Streckmuskeln der Wirbelsäule z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Auf der Turnmatte abknien. Die Knie sind geschlossen; bei Bedarf können sie auch leicht geöffnet werden. 55 Übung: Der Oberkörper wird auf den Oberschenkeln und den Kopf gerade vor den Knien ablegen. Die Arme liegen seitlich neben dem Körper. Die Hände ruhen neben den Füßen.
z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Aufrechter Stand, die Schultern sind locker und die Arme hängen seitlich locker am Körper. 55 Übung: Der Kopf neigt zur Seite und wird mit einer Hand leicht in der Dehnung gehalten. Die Handfläche der Hand des gegenüberliegenden Arms zieht leicht nach unten. Dadurch wird die Dehnung verstärkt. Kurz halten und dann Seitenwechsel. z Instruktion
„Ziehen Sie Ihr rechtes Ohr zu Ihrer rechten Schulter. Dabei kann ihre rechte Hand die Dehnung leicht unterstützen. Zum Beenden der Übung schieben sie Ihren Kopf mit der rechten Hand sanft wieder in die gerade Ausgangsposition“ z Empfehlung
s. allgemeine Empfehlung zu Beginn dieses Abschnitts
273 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
13
.. Abb. 13.34 Lang machen im Liegen. Foto: R. Tisje
z Variation
Die Übung kann mit einer Atemübung verbunden werden. Beim Einatmen streckt sich der ganze Körper von den Fuß- bis zu den Fingerspitzen, beim Ausatmen entspannt sich der ganze Körper und wird ganz locker. .. Abb. 13.33 Kopf neigen. Foto: R. Tisje
z Variation
Einsatz verschiedener Dehntechniken (s. 7 Abschn. 7.4.6 und 8.2.6)
z Materialien
55 Turnmatte 55 Variation: Ball z Medizinball auf Reise
s. 7 Abschn. 13.2
z Materialien
Keine
angmachen im Liegen L (. Abb. 13.34)
z Hauptziel
Dehnung der Rumpfvorderseite, Unterstützung des Körperbewusstseins z Bewegungsablauf
Rückenlage, die Beine werden locker vom Körper weggestreckt und die Arme neben dem Kopf nach oben geführt. Der ganze Körper wird lang ausgestreckt. z Instruktion
„Machen Sie sich ganz lang und strecken Sie Ihren Körper von den Fuß- bis zu den Fingerspitzen.“
umpfbeuge im Stand R (. Abb. 13.35)
z Hauptziel
Dehnung der Hüftstrecker und der Gesäßmuskulatur sowie der unteren Rückenmuskulatur z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Aufrechter Stand, die Beine stehen geschlossen und gestreckt nebeneinander. 55 Übung: Der Oberkörper wird nun langsam nach unten gebeugt. Die Knie bleiben dabei durchgestreckt. Die Hände können in der Höhe der Waden oder der Knöchel (je nach Dehnbarkeit des Teilnehmers) greifen und den Oberkörper in der Dehnung halten.
274
P. Mehler et al.
a
b
.. Abb. 13.35 (a, b) Rumpfbeuge (a) mit Knöchel fassen, (b) mit offenen Händen. Foto: R. Tisje
z Empfehlung
s. allgemeine Empfehlung zu Beginn dieses Abschnitts z Variation
13
55 Die Hände ziehen mit offenen Handflächen in Richtung Boden. 55 Einsatz verschiedener Dehntechniken (s. 7 Abschn. 7.4.6 und 8.2.6)
.. Abb. 13.36 Rutschstellung. Foto: R. Tisje
z Materialien
Keine
Rutschstellung (. Abb. 13.36)
z Hauptziel
bzw. rechte Seite wandern und dort die Dehnung für einige Sekunden halten. z Instruktion
Dehnung des großen Brustmuskels (vertikale Anteile) und des Schultergürtels
„Versuchen Sie, das Brustbein so nah wie möglich in Richtung Matte zu bringen.“
z Bewegungsablauf
z Empfehlung
55 Ausgangsposition: Auf der Turnmatte abknien, die Knie sind dabei leicht geöffnet. Das Gesäß ruht auf den Beinen bzw. Fersen. 55 Übung: Die Arme strecken nach vorne, der Oberkörper wird dabei soweit wie möglich nach vorne abgelegt. Der Oberkörper kann dann auch auf die linke
s. allgemeine Empfehlung zu Beginn dieses Abschnitts z Materialien
Turnmatte z Schaukel
s. 7 Abschn. 13.2
13
275 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
a
b
.. Abb. 13.37 (a, b) Schmetterling. (a) Knöchel fassen, (b) Hände greifen. Foto: R. Tisje
Schmetterling (. Abb. 13.37)
z Hauptziel
Dehnung der Adduktorenmuskulatur z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Sitzen auf der Turnmatte 55 Übung: Die Fußsohlen werden vor der Hüfte zusammengelegt, die Hände fassen beide Füße oder Knöchel. Die Hüfte schiebt leicht nach vorne, der Rücken bleibt gerade. Die Knie können dabei leicht mit den Unterarmen nach unten gedrückt werden. z Instruktion
„Achten Sie auf einen geraden und aufrechten Oberkörper.“ z Empfehlung
s. allgemeine Empfehlung zu Beginn dieses Abschnitts z Variation
55 Die Hände fassen ineinander, beide Ellenbogen werden an der Oberschenkelinnenseite angelegt und drücken nach außen. 55 Die Übung wird in Rückenlage ausgeführt. Die Arme liegen dabei seitlich neben dem Körper ab. 55 Einsatz verschiedener Dehntechniken (s. 7 Abschn. 7.4.6 und 8.2.6).
.. Abb. 13.38 Schulterblatt fassen. Foto: R. Tisje
z Materialien
Turnmatte
Schulterblatt fassen (. Abb. 13.38)
z Hauptziel
Dehnung des breiten Rückenmuskels und des Trizeps
276
P. Mehler et al.
z Bewegungsablauf
Die rechte Hand wird auf dem Rücken zwischen den Schulterblättern gelegt, der Unterarm bleibt dabei nah am Kopf. Die linke Hand fasst den rechten Ellenbogen und zieht den Arm leicht nach hinten. Der Kopf ist möglichst aufgerichtet und der Rücken gerade. z Instruktion
55 „Stehen Sie dabei aufrecht und versuchen Sie, gerade nach vorne zu blicken.“ 55 „Spüren Sie, wie die Spannung langsam zunimmt? Es sollte ein deutliches Spannungsgefühl wahrgenommen werden. Auf keinen Fall sollte die Stellung weh tun!“ z Empfehlung
s. allgemeine Empfehlung zu Beginn dieses Abschnitts z Variation
Einsatz verschiedener Dehntechniken (s. 7 Abschn. 7.4.6 und 8.2.6)
.. Abb. 13.39 Seitliches Rumpfneigen. Foto: R. Tisje
z Materialien
13
Keine
Seitliches Rumpfneigen (. Abb. 13.39)
z Instruktion
„Es ist wichtig, dass Sie nicht in der Achse rotieren, sondern in der seitlichen Neigung mit dem Oberkörper gerade bleiben. Führen Sie die Übung langsam und kontrolliert aus.“
z Hauptziel
z Empfehlung
Dehnung der Rücken- und äußeren Schulterblattmuskeln
s. allgemeine Empfehlung zu Beginn dieses Abschnitts
z Bewegungsablauf
z Variation
55 Ausgangsposition: Aufrechter hüftbreiter Stand 55 Übung: Der rechte Arm wird senkrecht nach oben geführt. Der linke Arm hängt seitlich am Körper oder auf der Hüfte platziert. Oberkörper beugt dabei nach links; danach Seitenwechsel. 55 Wichtig: Der Rumpf bzw. Oberkörper soll nicht rotieren, sich vor oder zurück beugen, sondern in der Achse gerade bleiben.
Einsatz verschiedener Dehntechniken (s. 7 Abschn. 7.4.6 und 8.2.6)
z Materialien
Keine
eitliches Rumpfneigen mit dem S Thera-Band® (. Abb. 13.40)
z Hauptziel
Stabilisierung des seitlichen Rumpfes, des Oberköpers und des Trizeps
277 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
a
13
b
.. Abb. 13.40 (a, b) Seitliches Rumpfneigen mit dem Thera-Band®. (a) Ausgangsposition, (b) seitliches Rumpfneigen. Foto: R. Tisje
z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Der rechte Fuß stellt sich auf ein Ende des Thera-Bandes®. Das Thera-Band® wird mit der rechten Hand so gefasst, dass das andere Ende sich auf Hüfthöhe befindet. 55 Übung: Nun den rechten Arm seitlich am Kopf vorbei nach oben führen, lang strecken und den Oberkörper leicht zur Seite beugen. Endposition kurz (2–3 Sekunden) halten. Nach der Hälfte der Zeit die Seite wechseln. 55 Wichtig: Der Rumpf bzw. Oberkörper soll nicht rotieren, sich vor oder zurück beugen, sondern in der Achse gerade bleiben.
z Empfehlung
Es empfiehlt sich, in einem Vortest die für die jeweilige Übung und für den jeweiligen Teilnehmer individuell geeignete Ausgangsstellung (Bandvorspannung) bzw. Bandstärke zu bestimmen, sodass für den Teilnehmer ca. 15 Wiederholungen möglich sind. z Materialien
Thera-Band®
Storchenstand (. Abb. 13.41)
z Hauptziel
Dehnung des Kniestreckers und des Hüftbeugers
z Instruktion
z Bewegungsablauf
„Es ist wichtig, dass Sie mit dem Oberkörper gerade bleiben und nicht seitlich rotieren. Stellen Sie sich vor, hinter Ihnen befindet sich eine Wand, die Ihre Bewegung begrenzt.“
Ein Bein wird angewinkelt und die Ferse wird dabei so nah wie möglich Richtung Gesäß gezogen. Die Knie bleiben eng zusammen und der Rücken gerade. Die Hüfte schiebt dabei leicht nach vorne. Die Deh-
278
P. Mehler et al.
a
b
.. Abb. 13.41 (a, b) Storchenstand (a) im Stehen, (b) im Liegen. Foto: R. Tisje
nung kann durch Anspannen der Gesäßmuskulatur verstärkt werden. z Empfehlung
13
55 Mögliche Gleichgewichtsprobleme können dabei durch Festhalten mit der freien Hand an der Wand, Fixieren eines festen Punktes oder durch Wegstrecken des freien Armes und gleichzeitiges Ausbalancieren weitgehend vermieden werden. 55 Haben die Teilnehmer Probleme beim Greifen des Fußgelenkes, kann man ihnen eine der Varianten als Alternative vorschlagen.
Unterschenkelzug (. Abb. 13.42)
z Variation
Dehnung der Gesäßmuskulatur
55 Das Fußgelenk wird nicht mit der Hand gegriffen, sondern mit Hilfe eines Handtuchs oder eines Seiles gehalten. 55 Die Übung kann auch im Liegen durchgeführt werden. 55 Die Übung kann abgekniet auf der Turnmatte ausgeführt werden (s. Übung „Flitzebogen“). 55 Einsatz verschiedener Dehntechniken (s. 7 Abschn. 7.4.6 und 8.2.6).
.. Abb. 13.42 Unterschenkelzug. Foto: R. Tisje
z Hauptziel z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Rückenlage auf der Turnmatte mit aufgestellten Beinen. 55 Übung: Der linke Fuß wird auf dem rechten Oberschenkel in Höhe des Knies abgelegt. Beide Hände umfassen nun den rechten Oberschenkel und ziehen diesen in Richtung des Oberkörpers.
z Materialien
55 Keine 55 Variation: Seil oder Handtuch
z Empfehlung
s. allgemeine Empfehlung zu Beginn dieses Abschnitts
279 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
z Variation
Einsatz verschiedener Dehntechniken (s. 7 Abschn. 7.4.6 und 8.2.6)
z Materialien
Turnmatte z Verwringen im Liegen
s. 7 Abschn. 13.2.2
13
55 Übung: Durch weiteres Beugen des vorderen Beines entsteht eine Dehnung in der Wadenmuskulatur des hinteren Beines. 55 Instruktion 55 „Ihr Gewicht wird über die vordere Ferse nach unten gebracht. Stellen Sie sich vor, Sie würden mit der Ferse ein Geldstück in den Boden drücken.“
z Verwringen im Sitzen
s. 7 Abschn. 13.2.2
Wadendehnung (. Abb. 13.43)
z Hauptziel
Dehnung der Wadenmuskulatur z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Weite Schrittstellung, dabei wird das vordere Bein gebeugt und das hintere gestreckt. Der Oberkörper bleibt gerade. Beide Füße bleiben komplett am Boden, und die Fußspitzen zeigen nach vorne.
z Empfehlung
s. allgemeine Empfehlung zu Beginn dieses Abschnitts z Variation
55 Gleichgewichtshilfen einsetzen (z. B. Wand) 55 Einsatz verschiedener Dehntechniken (s. 7 Abschn. 7.4.6 und 8.2.6)
z Materialien
Keine 13.2.5
Koordination
z Arme kreisen
s. 7 Abschn. 13.2
z Hütchenlauf „Slalom“
s. 7 Abschn. 13.2
Schattenboxen (. Abb. 13.44)
z Hauptziel
Beanspruchung der Armmuskulatur, Verbesserung der Koordination, Ausdauer, Schnelligkeit und Beweglichkeit z Bewegungsablauf
.. Abb. 13.43 Wadendehnung. Foto: R. Tisje
55 Ausgangsposition: Leichte Schrittstellung und aufrechter Stand. Beide Arme sind zur Deckung oben, leicht versetzt und Hände zur Faust geballt. 55 Übung: Abwechselnd nach vorne boxen. Hüfte und Schultern dabei leicht mitdrehen. Die Hand wird möglichst gerade nach vorne geführt. Leichte Spannung in den Armen, die Füße können dabei leicht „mittänzeln“.
280
P. Mehler et al.
a
b
c
.. Abb. 13.44 (a-c) Schattenboxen. (a) Ausgangsposition, (b) Boxen, (c) Boxen mit Kurzhanteln. Foto: R. Tisje
z Instruktion
z Bewegungsablauf
„Deckung oben halten und bei jedem Schlag die Hüfte leicht mit drehen. Bleiben Sie dabei locker und probieren Sie aus wie die Bewegung sich für Sie gut anfühlt“
Ein Seil auf den Boden legen und nun abwechselnd beidbeinig von der einen auf die andere Seite hüpfen.
z Variation
Hierbei ist es wichtig, dem Teilnehmer einerseits konkrete Beispiele vorzugeben und andererseits gegebenenfalls Alternativen anzubieten.
55 Anstatt Fäuste zu ballen, können die Arme auch mit geöffneten Händen nach vorne geführt werden.
13
z Empfehlung
Für Fortgeschrittene: 55 Kurzhanteln dazu nehmen 55 Frequenz steigern
z Instruktion
z Materialien
z Variation
55 Keine 55 Variation: Kurzhanteln oder Gewichte z Schultern heben
s. 7 Abschn. 13.2.1
Seilhüpfen am Boden z Hauptziel
55 Training der dynamischen Schnellkraftausdauer und der Beinmuskulatur 55 Variation: Schulung der Koordination
„Achten Sie dabei auf ein leichtes Abfedern beim Hüpfen.“ 55 2 Seile können in einem bestimmten Winkel zueinander auf den Boden gelegt werden. Je nach Leistungsvermögen über eine geringere oder größere Distanz springen 55 Mit Zwischenschritt hüpfen 55 Auf der Stelle dribbeln 55 Im Galoppstil hüpfen 55 Knie anziehen 55 Tempo variieren 55 2 Seile über Kreuz legen, diagonal oder in einzelne 4 Ecken nacheinander hüpfen
281 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
z Materialien
55 Kleinen Hüpfer auf der Stufe mit einbauen.
2 Seile
Knee Lifts z Hauptziel
Verbesserung der Koordination
Ausdauer
und
der
z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Aufrechter Stand vor einer Stufe oder einem Stepper. 55 Übung: Linker Fuß auf die Stufe stellen, abdrücken und rechtes Knie nach oben ziehen. Dabei die Arme mit hoch nehmen. Rechtes Bein wieder unten vor der Stufe abstellen. Linken Fuß daneben stellen. Anschließend wiederholen und dabei mit dem rechten Fuß beginnen. z Variation
Für Änfänger: 55 Anstatt einer Stufe können die Teilnehmer einen Schritt nach vorne machen. Für Fortgeschrittene: 55 Höhere Stufe oder schnelleres Tempo wählen. a
13
b
Step-Kick-Box: 55 Diagonaler Arm boxt gerade nach vorne. 55 Anstatt das Knie hochzuziehen, kickt der Fuß nach vorne. 55 Kick und Boxschlag können auch gleichzeitig ausgeführt werden. z Materialien
Stufe, Stepper oder Kasten z Referenz
Vgl. Heldt (2004, S. 96 und S. 114)
nieheben auf dem Gymnastikball K (. Abb. 13.45)
z Hauptziel
Verbesserung der Ausdauer, Schulung der Koordination und des Gleichgewichts, Kräftigung der Oberschenkel- und Gesäßmuskulatur z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Auf den Gymnastikball setzen. Beine stehen angewinkelt, etwas mehr als schulterbreit und stabil auf dem Boden. c
.. Abb. 13.45 (a-c) Knieheben auf dem Gymnastikball. (a) Ausgangsposition, (b) Knie heben, (c) auf einem Bein halten. Foto: R. Tisje
282
P. Mehler et al.
55 Übung: Die Knie werden abwechselnd nach oben gezogen. Das andere Bein steht fest am Boden und schiebt den Oberkörper aktiv nach oben. Das Gesäß wird dabei leicht angehoben. 55 Wichtig: gute Körperspannung, Vermeidung des Hohlkreuzes und gerader Rücken. z Instruktion
„Bauen Sie eine gute Grundspannung im ganzen Körper auf. Der Rücken ist dabei gerade, und Sie verlagern ein Teil Ihres Gewichtes auf Ihre Fersen, sodass der Gymnastikball mehr eine Art Unterstützung als eine Sitzmöglichkeit ist.“ z Variation
Für Anfänger: 55 Auf dem Gymnastikball hoch und runter wippen. Dabei den Körper anspannen. 55 Auf dem Gymnastikball sitzend marschieren. Die Arme dabei mitnehmen.
13
Für Fortgeschrittene: 55 Während dem Sitzen auf dem Gymnastikball nur auf einem Bein halten. Nach einem bestimmten Zeitintervall (abhängig vom Leistungsniveau) das Bein wechseln. a
55 Übungsleiter und Teilnehmer können sich während der Übung ein Ball zuwerfen. z Materialien
Gymnastikball z Referenz
Angelehnt an Trucco u. Bucher (2007, S. 99) 13.3
Kräftigung
13.3.1
Obere Extremitäten
rme strecken in Rückenlage mit A Thera-Band® (. Abb. 13.46)
z Hauptziel
Kräftigung der Arm-, Schulter- und Brustmuskulatur z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: In Rückenlage mittig auf das Thera-Band® legen. Arme sind angewinkelt, liegen seitlich vom Körper. Das Thera-Band® ist um die Hände gewickelt, die in Schulterhöhe leicht vom Boden abheben. Das Thera-Band® befindet sich in Vorspannung. b
.. Abb. 13.46 (a, b) Arme strecken in Rückenlage mit Thera-Band®. (a) Ausgangsposition, (b) Arme gestreckt. Foto: R. Tisje
283 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
55 Übung: Arme strecken senkrecht nach oben. 55 Wichtig: Auf stabile Lendenwirbelsäule achten. z Empfehlung
55 Auf- und Abbewegung jeweils 2 Sekunden. 55 Es empfiehlt sich, in einem Vortest die für die jeweilige Übung und für den jeweiligen Teilnehmer individuell geeignete Ausgangsstellung (Bandvorspannung) bzw. Bandstärke zu bestimmen, sodass für den Teilnehmer ca. 15 Wiederholungen möglich sind. z Instruktion
„Die Lendenwirbel befinden sich am Boden. Die Füße sind aufgestellt.“
13
z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Der rechte Fuß stellt sich auf ein Ende des Thera-Bandes®. Die rechte Hand fasst das andere Ende und führt es in Schulterhöhe hinter den Körper. Der rechte Unterarm winkelt in Richtung der Schulter an, sodass der Oberarm senkrecht nach oben zeigt und das Thera-Band® zunächst noch keine Spannung erfährt. 55 Wichtig: Zu beachten ist eine korrekte Körperstellung vor allem im Bereich der Halswirbelsäule (HWS). 55 Übung: Durch Strecken des Armes wird der Trizeps und somit auch das Thera-Band® gespannt. z Instruktion
Thera-Band®, Turnmatte
55 Ausgangsposition: „Ellenbogen zeigt nach oben.“ 55 Übung: „Der Unterarm bildet abschließend eine Linie mit dem Oberarm.“
z Referenz
z Empfehlung
z Materialien
Angelehnt an Trucco u. Bucher (2007, S. 196)
rme strecken über Kopf mit A Thera-Band® (. Abb. 13.47)
z Hauptziel
Kräftigung des Trizeps und der Schultermuskulatur a
b
55 Auf- und Abbewegung jeweils 2 Sekunden 55 Es empfiehlt sich, in einem Vortest die für die jeweilige Übung und für den jeweiligen Teilnehmer individuell geeignete Ausgangsstellung (Bandvorspannung) bzw. Bandstärke zu bestimmen, sodass für den Teilnehmer ca. 15 Wiederholungen möglich sind. c
d
.. Abb. 13.47 (a-d) Arme strecken über Kopf mit Thera-Band®. (a) Ausgangsposition, (b) Übung mit Thera-Band®, (c) Ausgangsposition mit Kurzhanteln, (d) Übung mit Kurzhanteln. Foto: R. Tisje
284
P. Mehler et al.
z Variation
Das Thera-Band® kann durch Kurzhanteln ersetzt werden. z Materialien
55 Thera-Band® 55 Variation: Kurzhanteln
izeps-Curls mit dem Thera-Band® B (. Abb. 13.48)
z Hauptziel
Kräftigung der Bizeps-Muskeln z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Hüftbreiter Stand, die Beine sind leicht angewinkelt. Beide Füße werden mittig auf das Thera-Band® gestellt, die Enden des Bandes sind um die Hände gewickelt, die Ellena
bogen liegen am Körper an, die Arme zeigen nach vorne, die Fußspitzen zeigen nach vorne. 55 Übung: Die Unterarme werden langsam gebeugt. Dabei spannt sich das Thera-Band®. Die Arme werden danach wieder nach unten geführt. Die Übung wird in einer gleichbleibenden Geschwindigkeit ausgeführt. z Empfehlung
55 Auf- und Abbewegung jeweils 2 Sekunden 55 Es empfiehlt sich, in einem Vortest die für die jeweilige Übung und für den jeweiligen Teilnehmer individuell geeignete Ausgangsstellung (Bandvorspannung) bzw. Bandstärke zu bestimmen, sodass für den Teilnehmer ca. 15 Wiederholungen möglich sind.
b
13
.. Abb. 13.48 (a, b) Bizeps-Curls mit dem Thera-Band®. (a) Ausgangsposition, (b) Bizeps-Curls. Foto: R. Tisje
285 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
a
13
b
c
.. Abb. 13.49 (a-c) Dips. (a) Ausgangsposition, (b) Dips, (c) Dips mit vergrößertem Abstand zwischen Füßen und Stuhl. Foto: R. Tisje
z Materialien
z Instruktion
Thera-Band®
„Die Ellenbogen zeigen nach hinten.“
Dips (. Abb. 13.49)
z Hauptziel
Kräftigung der äußeren Oberarmmuskulatur, Stabilisation der Schultergelenke z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Die Hände stützen sich hinter dem Körper auf der Kante einer Bank, eines Kastens oder eines Stuhles ab, wobei die Finger nach vorne zeigen sollten. Die Füße werden schulterbreit und angewinkelt am Boden aufgestellt. 55 Übung: Die Arme werden gebeugt. Die Ellenbogen zeigen möglichst gerade nach hinten. Die Arme wieder strecken und zur Ausgangsposition zurückkehren.
z Variation
Für Anfänger: 55 Beugung in den Armen verringern Für Fortgeschrittene: 55 Abstand zwischen Füßen und Stuhl bzw. Bank vergrößern 55 Unterstützungsfläche verkleinern durch Überkreuzen der Füße z Materialien
Bank oder Kasten, Stuhl
ymnastikball zu den Knien rollen G (. Abb. 13.50)
z Hauptziel
55 Kräftigung der geraden Bauchmuskeln 55 Variation: Kräftigung der seitlichen Bauchmuskeln
286
P. Mehler et al.
a
b
c
.. Abb. 13.50 (a-c) Gymnastikball zu den Knien rollen. (a) Ausgangsposition, (b) Übung gerade nach vorne, (c) Übung seitlich zu einem Bein. Foto: R. Tisje
z Bewegungsablauf
13
55 Ausgangsposition: Rückenlage, die Füße fest auf den Boden stellen, Beine anwinkeln, Gymnastikball ruht auf dem Bauch. 55 Übung: Mit beiden Händen den Ball zu den Knien über die Oberschenkel nach oben rollen. Oberkörper dabei leicht anheben. z Variation
Beine werden leicht gegrätscht. Der Ball wird seitlich an nur einem Bein nach oben gerollt. z Materialien
z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Auf der Matte abknien, Füße am besten überkreuzen, Hände außerhalb der Matte auf den Boden, etwas mehr als schulterbreit in Schulterhöhe abstellen, Blick in Richtung Boden. 55 Übung: Die Arme anwinkeln. Dabei senkt sich der Oberkörper. Anschließend die Arme wieder strecken. Eine leichte Beugung der Arme zum Schutz der Gelenke auch beim Zurückkehren in die Ausgangsposition beibehalten. z Instruktion
Die Ellenbogen nicht ganz durchstrecken. Der Rücken und die Hüfte bilden eine Linie.
Turnmatte, Gymnastikball
Liegestütz im Knien (. Abb. 13.51)
z Hauptziel
Kräftigung der Schultergürtelmuskulatur und des Trizeps
z Variation
Für Fortgeschrittene: 55 Die Hände können weiter vorne oder enger zusammen abgestellt werden.
287 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
a
13
b
c
.. Abb. 13.51 (a-c) Liegestütz im Knien. (a) Ausgangsposition, (b) Liegestütz abgekniet, (c) Liegestütz für Fortgeschrittene auf den Füßen. Foto: R. Tisje
55 Die Ausgangsposition wird so verändert, dass der Teilnehmer nicht kniet, sondern auf den Fußspitzen steht. z Materialien
Turnmatte z Medizinball kopfüber ablegen
s. 7 Abschn. 13.2
55 Übung: Ellenbogen/Arme ziehen nach hinten. Schulterblätter werden dabei zusammengeführt. 55 Wichtig: Auf eine gerade Halswirbelsäule achten. z Instruktion
„Die Schultern bleiben unten.“
Rudern im Stehen mit Thera-Band® z Hauptziel
Kräftigung des Trizeps, des oberen Rückens und der Schulterstabilisatoren z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Mittelstück des Thera-Bandes® in Brusthöhe um eine Stange oder festen Gegenstand legen. Hüftbreite Schrittstellung, Arme und Ellenbogen eng am Körper halten und Thera-Band® spannen.
z Empfehlung
55 Es empfiehlt sich, in einem Vortest die für die jeweilige Übung und für den jeweiligen Teilnehmer individuell geeignete Ausgangsstellung (Bandvorspannung) bzw. Bandstärke zu bestimmen, sodass für den Teilnehmer ca. 15 Wiederholungen möglich sind. z Materialien
Thera-Band®
288
P. Mehler et al.
z Referenz
z Instruktion
Trucco u. Bucher (2007, S. 193)
„Versuchen Sie, mit dem Becken weder nach hinten noch nach vorne zu fallen, sondern gerade zu bleiben.“
13.3.2
Untere Extremitäten
Abduktorentraining in Seitlage (. Abb. 13.52)
z Variation
Beide Beine werden angehoben.
z Hauptziel
55 Kräftigung der Abduktoren 55 Variation: Kräftigung sowohl der Abduktoren als auch der Adduktoren z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Der Körper liegt seitlich am Boden und der Kopf ist auf dem unteren Arm abgelegt, oberer Arm kann leicht als Stütze genutzt werden. Beine liegen gerade ausgestreckt übereinander. 55 Übung: Oberes Bein anheben (Beinwinkel: ca. 45°), Hüfte und Oberkörper bilden eine Linie. a
z Materialien
Turnmatte z Referenz
Angelehnt an Mießner (2002)
Adduktorentraining in Seitlage (. Abb. 13.53)
z Hauptziel
Kräftigung der Adduktoren z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Der Körper liegt seitlich am Boden und der Kopf ist auf
b
13
c
.. Abb. 13.52 (a-c) Abduktorentraining in Seitlage. (a) Ausgangsposition, (b) Anheben des oberen Beines, (c) Anheben beider Beine. Foto: R. Tisje
289 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
a
13
b
.. Abb. 13.53 (a, b) Adduktorentraining in Seitlage. (a) Ausgangsposition, (b) Anheben des unteren Beines. Foto: R. Tisje
dem unteren Arm abgelegt, oberer Arm kann vor dem Oberkörper leicht als Stütze genutzt werden. Das obere Bein wird leicht angewinkelt nach vorne abgelegt. 55 Übung: Das untere Bein wird nun leicht angehoben und gesenkt. Hüfte und Oberkörper bilden eine Linie. z Instruktion
„Versuchen Sie, mit dem Becken weder nach hinten noch nach vorne zu fallen, sondern gerade zu bleiben.“
tere Knie schiebt Richtung Fußboden. Anschließend mit der Kraft beider Beine wieder in die Ausgangsposition drücken. z Instruktion
55 „Schieben Sie das hintere Knie gerade nach unten Richtung Boden. Der Oberkörper bleibt aufrecht und der Körperschwerpunkt in der Mitte.“ 55 „Rücken gerade halten.“ z Variation
Turnmatte
Der Trainierende bewegt sich vorwärts durch einen „Reifenparcour“ oder im Wechsel schrittweise nach vorne.
z Referenz
z Materialien
Angelehnt an Mießner (2002)
Keine
Ausfallschritte (. Abb. 13.54)
Kniebeuge (. Abb. 13.55)
z Hauptziel
z Hauptziel
Kräftigung der Gesäß- sowie der vorderen Oberschenkelmuskulatur
Kräftigung der Gesäß- und Oberschenkelmuskulatur
z Materialien
z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Ausfallschritt, Füße stehen etwas mehr als Schrittgröße auseinander, Zehen zeigen gerade nach vorne, Beine sind leicht gebeugt und hintere Ferse ist angehoben. 55 Übung: Der Oberkörper wird durch das Beugen der Beine abgesenkt. Das hin-
z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Hüftbreiter lockerer Stand 55 Übung: Beide Beine werden bis zu einem Winkel von 100° (Kniekehle) gebeugt. Anschließend wird der Körper wieder durch die Beinmuskulatur in den aufrechten Stand gebracht.
290
P. Mehler et al.
a
b
.. Abb. 13.54 (a, b) Ausfallschritte. (a) Ausgangsposition, (b) Ausfallschritt mit linkem Bein vorne. Foto: R. Tisje
a
b
13
.. Abb. 13.55 (a, b) Kniebeuge. (a) Ausgangsposition, (b) Kniebeuge. Foto: R. Tisje
291 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
a
13
b
c
.. Abb. 13.56 (a-c) Kniestand, Bein anhocken und wegstrecken. (a) Ausgangsposition/Vierfüßlerstand, (b) Arm und Bein bis in die Waagerechte gestreckt, (c) Zusammenführen von Ellenbogen und Knie. Foto: R. Tisje
55 Der Rücken sollte gerade gehalten werden. Die Blickrichtung ist nach vorne oben und die Fersen bleiben die ganze Zeit über am Boden. Die Arme können zur Unterstützung während der Übung nach vorne oder nach oben geführt werden. z Instruktion
55 „Schieben Sie Ihr Gesäß bei der Übung nach hinten unten, wie wenn Sie sich auf einen niedrigen Stuhl setzen.“ 55 „Ihr Gewicht wird über die Ferse nach unten gebracht. Stellen Sie sich vor, Sie würden mit der Ferse ein Geldstück in den Boden drücken.“ z Variation
Die Übungsposition kann für einige Sekunden gehalten werden. z Materialien
Keine
niestand, Bein anhocken und K wegstrecken (. Abb. 13.56)
z Hauptziel
Kräftigung der Gesäß- und hinteren Oberschenkelmuskulatur und des kompletten Rückens z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Vierfüßlerstand. Dabei befinden sich die Knie direkt unter der Hüfte und die Hände direkt in Höhe der Schultern. 55 Übung: Aus dem Vierfüßlerstand wird das rechte Bein weggestreckt (bis in die Waagerechte) und angehockt (Knie zur Brust). Beim Wegstrecken wird der linke Arme lang und ebenso parallel zum Boden nach vorne gebracht. Dann wird das Knie vor die Brust gezogen und mit dem Ellenbogen des gegenüberliegenden (oder kontralateralen) Armes zusammengeführt. Anschließend Arm und Bein wieder strecken.
292
P. Mehler et al.
z Instruktion
Wadenkräftigung (. Abb. 13.57)
„Das Bein nicht höher als die Waagerechte strecken und ein Hohlkreuz vermeiden.“
z Hauptziel
z Empfehlung
Besonders bei dieser Übung ist es wichtig, dem Teilnehmer eine Rückmeldung über seine Körperhaltung zu geben. z Variation
Für Anfänger: Beim Anhocken des Beines bleiben die Arme in der Ausgangsposition und werden nicht zum Knie gezogen oder weggestreckt. z Materialien
Turnmatte z Referenz
Vgl. Klee (2008, S. 81)
a
55 Kräftigung der Wadenmuskulatur, Schulung der Gleichgewichtsfähigkeit 55 Variation: Kräftigung der Unterarmmuskulatur z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Aufrechter Stand, die Füße stehen nah beieinander. Die Arme hängen locker am Körper. 55 Übung: Die Fersen werden angehoben, sodass auf den Fußballen gestanden wird. Danach im gleichen Tempo die Fersen wieder zu Boden führen und erneut anheben. Das Gewicht wird dabei nicht komplett wieder auf die Ferse verlagert, sodass die Auf- und Abbewegungen in einem gleichmäßigen Rhythmus ausgeführt werden.
b
13
.. Abb. 13.57 (a, b) Wadenkräftigung. (a) Ausgangsposition, (b) auf dem Fußballen. Foto: R. Tisje
293 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
z Variation
55 Variation der Armhaltung 55 Variation der Armhaltung mit gleichzeitigem Greifen. Die Finger öffnen und schließen sich in einem gleichmäßigen Rhythmus. 55 Einsatz von Gleichgewichtshilfen z Materialien
Keine 13.3.3
Rumpf
13
z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Unterschenkel oder Füße werden auf den Gymnastikball gelegt, sodass sie sich im 90°-Winkel zu den Oberschenkeln befinden. 55 Der untere Rücken bleibt während der ganzen Übung am Boden (!). Hände an die Schläfen, Blick Richtung Hallendecke. 55 Übung: Schultern und oberer Rücken werden eingerollt und langsam wieder abgelegt. Die Unterschenkel bzw. Füße sollten nicht vom Gymnastikball abheben.
Arme strecken in Rückenlage mit Thera- z Empfehlung Kinn- und Brustdistanz während der Übung Band® möglichst gleich halten.
Bauchpresse am Gymnastikball (Crunches) (. Abb. 13.58)
z Hauptziel
Kräftigung der geraden Bauchmuskeln
a
z Variation
Der Gymnastikball kann durch einen Stuhl ersetzt werden.
b
c
.. Abb. 13.58 (a-c) Bauchpresse am Gymnastikball. (a) Ausgangsposition mit den Händen an den Schläfen, (b) Bauchpresse mit den Händen an den Schläfen, (c) Bauchpresse mit verschränkten Armen. Foto: R. Tisje
294
P. Mehler et al.
z Variation
Der Gymnastikball kann durch einen Stuhl ersetzt werden. z Materialien
Gymnastikball, Turnmatte, Stuhl (s. Variation)
Hip Lifts (. Abb. 13.60)
z Hauptziel .. Abb. 13.59 Diagonale Bauchpresse am Gymnastikball. Foto: R. Tisje
z Bewegungsablauf
z Materialien
Gymnastikball, Turnmatte, Stuhl (s. Variation)
Diagonale Bauchpresse am Gymnastikball (. Abb. 13.59)
z Hauptziel
Kräftigung der Bauchmuskulatur
seitlichen/rotatorischen
z Bewegungsablauf
13
Kräftigung der geraden unteren Bauchmuskeln
55 Ausgangsposition: Unterschenkel oder Füße werden auf den Gymnastikball gelegt, sodass sie sich im 90°-Winkel zu den Oberschenkeln befinden. 55 Der untere Rücken bleibt während der ganzen Übung am Boden (!). Hände an die Schläfen, Blick Richtung Hallendecke. 55 Übung: Schultern und oberen Rücken anheben und dabei in der Schulterachse rotieren, sodass die Ellenbogen abwechselnd diagonal in Richtung des Knies der Gegenseite gebracht werden können. Die Unterschenkel bzw. Füße sollten nicht vom Gymnastikball abheben. z Empfehlung
Kinn- und Brustdistanz während der Übung möglichst gleich halten.
55 Ausgangsposition: Rückenlage, die Beine werden senkrecht nach oben gestreckt und dürfen dabei auch leicht angewinkelt sein. Die Hände befinden sich neben dem Körper oder können vor der Brust verschränkt werden. Die Fußsohlen werden möglichst horizontal zum Boden gehalten. 55 Übung: Das Becken wird leicht nach oben angehoben und dann wieder gesenkt. Die Fersen werden nach oben gestreckt, während der Oberkörper am Boden liegen bleibt. z Instruktion
55 „Stellen Sie sich vor, auf Ihren Füßen einen Teller Suppe zu balancieren.“ 55 „Die Hüfte wird durch Anspannen der Bauchmuskeln und nicht mit Schwung gehoben.“ z Empfehlung
Taktile Hilfen einsetzen, um die Bewegungsrichtung vorzugeben. z Materialien
Turnmatte z Medizinball auf Reise
s. 7 Abschn. 13.2
295 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
a
13
b
.. Abb. 13.60 (a, b) Hip Lifts. (a) Ausgangsposition, (b) Anheben der Hüfte. Foto: R. Tisje
a
b
.. Abb. 13.61 (a, b) Medizinball kopfüber ablegen. (a) Übung mit gehobenen Beinen, (b) Ausgangsposition mit aufgestellten Beinen. Foto: R. Tisje
edizinball kopfüber ablegen M (. Abb. 13.61)
z Hauptziel
Kräftigung der geraden Bauchmuskeln und Armsenker z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Auf den Rücken legen und die Beine dabei anheben, Füße überkreuzen. Der Medizinball wird zwischen beiden Hände genommen und liegt mit leicht gebeugten Armen hinter dem Kopf am Boden. 55 Übung: Die Arme bilden nun eine Verlängerung des Oberkörpers. Den Medizinball leicht anheben, sodass sich
auch die Schultern vom Boden heben, kurz halten und wieder ablegen. 55 Wichtig: Auf stabile Lendenwirbelsäule achten! z Variation
Die Beine können in der Ausgangsposition auch angestellt werden (. Abb. 13.61b).
z Materialien
Turnmatte; Medizinball z Rudern im Stehen mit Thera-Band®
s. 7 Abschn. 13.3
z Rückenhacker
7 Abschn. 13.3
296
P. Mehler et al.
b
a
.. Abb. 13.62 (a, b) Scheibenwischer mit gebeugten Beinen. (a) Ausgangsposition, (b) Übung. Foto: R. Tisje
cheibenwischer mit gebeugten S Beinen (. Abb. 13.62)
z Hauptziel
Kräftigung der äußeren seitlichen/rotatorischen Bauchmuskulatur z Bewegungsablauf
13
55 Ausgangsposition: Rückenlage, dabei Arme seitlich neben dem Körper ablegen. Hände können den Lendenwirbelbereich stützen und seitlich unter den Rücken geschoben werden. Beine werden im 90°-Winkel gebeugt, Knie bleiben zusammen. 55 Übung: Die gebeugten Beine werden abwechselnd nach rechts und links zum Boden gesenkt. 55 Wichtig: Der Schultergürtel bleibt während der ganzen Übung am Boden. z Instruktion
„Versuchen Sie, die Beine während der Übung immer über dem Boden zu halten.“ „Die Beine nur soweit in Richtung Boden bringen, wie Sie die Spannung halten können.“ z Materialien
Turnmatte
lexi-Bar®: senkrechtes Halten vor F dem Körper, beidhändig (. Abb. 13.63)
z Hauptziel
55 Kräftigung der Brust- und Schultergürtelmuskulatur sowie der tiefen Rumpfmuskulatur 55 Variationen: 55 Kräftigung des Brust- und breiten Rückenmuskels 55 Kräftigung der Brustwirbelsäule und des Sägemuskels z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Stabiler Stand, die Füße zeigen leicht nach außen, die Knie sind leicht gebeugt. Der Flexi-Bar® wird mit beiden Händen umgriffen und locker senkrecht vor dem Körper gehalten. Die Arme sind leicht angewinkelt. Dabei werden die Schultern tief gehalten und nicht nach oben gezogen. 55 Übung: Kurze Impulse bringen den Stab in Schwingungen („vor – zurück“ oder auch „rechts – links“) z Empfehlung
Geben Sie dem Flexi-Bar® gerne mal den richtigen Impuls, während der Teilnehmer
297 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
a
c
13
b
d
.. Abb. 13.63 (a-d) Flexi-Bar®: senkrechtes Halten vor dem Körper, beidhändig. (a) Beidhändiges Halten senkrecht, (b) beidhändiges Halten waagerecht, (c)
beidhändiges Halten waagerecht tief, (d) einhändiges Halten im Vierfüßlerstand. Foto: R. Tisje
298
P. Mehler et al.
das Trainingsgerät selbst in den Händen hält, damit er den Impuls direkt spüren kann. z Variation
55 Der Flexi-Bar® kann auch waagerecht mit beiden Händen vor dem Körper gehalten werden. Dabei kann die Schwingungsrichtung sowohl „hoch – runter“ als auch „vor – zurück“ gewählt werden. 55 Die Ausgangsposition ist der Vierfüßlerstand. Der Flexi-Bar® wird mit einem Arm, der eine Verlängerung des Rückens darstellt, nach vorne oder seitlich gehalten. z Materialien
Flexi-Bar®
13
Rumpfheben in Bauchlage (. Abb. 13.64)
z Hauptziel
55 Kräftigung des unteren Rückens 55 Variation: Kräftigung der Gesäß- und Rückenmuskulatur z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Auf den Bauch legen, die Arme auf dem unteren Rücken ablegen und die Hände am besten ineinanderlegen. Die Füße werden aufgestellt. 55 Übung: Der Oberkörper wird nun leicht angehoben und gehalten. Der Blick geht in Richtung Boden.
a
b
c
d
.. Abb. 13.64 (a-d) Rumpfheben in Bauchlage. (a) Ausgangsposition mit Händen auf dem Rücken, (b) Rumpfheben mit Händen auf dem Rücken, (c) Rumpf-
heben mit Armen seitlich vom Kopf, (d) Rumpfheben mit Schwimmbewegungen. Foto: R. Tisje
299 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
z Empfehlung
z Instruktion
Wichtig ist es, darauf zu achten, dass die Teilnehmer den Rücken nicht zu stark anheben.
„Achten Sie auf eine ruhige Atmung.“
z Variation
55 Gleichzeitig die Beine anheben. 55 Arme werden parallel zum Boden seitlich neben dem Kopf oder nach vorne gehalten. 55 Mit den Armen können langsame Schwimmbewegungen ausgeführt werden. z Materialien
Turnmatte
umpfheben in Bauchlage mit Ball R (. Abb. 13.65)
z Hauptziel
z Empfehlung
Wichtig ist es, darauf zu achten, dass die Teilnehmer den Rücken nicht zu stark anheben. z Variation
55 Anstatt einen Ball zu halten, machen die Arme langsame Schwimmbewegungen. 55 Die Arme werden waagerecht zum Boden angewinkelt und abwechselnd nach vorne gestreckt. z Materialien
Turnmatte, Ball
55 Kräftigung der Rückenmuskulatur 55 Variation: Kräftigung des Schultergürtels und der Rückenmuskulatur
z Referenz
z Bewegungsablauf
s. 7 Abschn. 13.2
55 Ausgangsposition: Auf den Bauch legen. Einen Ball in den Händen haltend beide Arme vor dem Körper ablegen. Die Füße werden aufgestellt. 55 Übung: Der Oberkörper sowie beide Arme mit dem Ball werden nun leicht angehoben und gehalten. Der Blick geht in Richtung Boden.
a
13
Angelehnt an Klee (2008, S. 81) z Seilhüpfen am Boden
Seitstütz rechts/links (. Abb. 13.66)
z Hauptziel
Kräftigung der äußeren seitlichen Bauchmuskeln und des viereckigen Lendenmuskels der rechten/linken Seite
b
.. Abb. 13.65 (a, b) Rumpfheben in Bauchlage mit Ball. (a) Ausgangsposition, (b) Rumpfheben mit Ball. Foto: R. Tisje
300
P. Mehler et al.
a
b
c
d
.. Abb. 13.66 (a-d) Seitstütz rechts/links. (a) Ausgangsposition, (b) Seitstütz, (c) Seitstütz mit angewinkelten Beinen, (d) Seitstütz mit angehobenen Bein. Foto: R. Tisje
z Bewegungsablauf
13
55 Ausgangsposition: Auf die rechte bzw. linke Seite legen und auf den rechten bzw. linken Unterarm abstützen. 55 Übung: Die Hüfte so weit nach oben bringen, dass der ganze Körper eine gerade Linie bildet. Dabei auf den rechten bzw. linken Fuß sowie weiterhin den rechten bzw. linken Unterarm abstützen. z Variation
Für Anfänger: 55 Entweder das obere oder untere Knie leicht angewinkelt nach vorne ablegen. 55 Beide Beine werden angewinkelt, die Unterschenkel auf der Turnmatte abgelegt, das Gesäß angehoben. Für Fortgeschrittene: 55 Fällt die Übung zu leicht, kann die Hüfte während des Abstützens abgesenkt und wieder angehoben werden, ohne dabei jedoch die Hüfte abzusetzen.
55 Das obere Bein kann während des Seitstütz angehoben und wieder gesenkt werden. z Materialien
Turnmatte
Umgekehrte Bauchpresse z Hauptziel
Kräftigung der geraden Bauchmuskeln; hauptsächlich des unteren Anteils z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Auf den Rücken legen und die Arme vor dem Oberkörper verschränken. Beine im Knie- und Hüftgelenk beugen und an den Körper heranziehen. 55 Übung: Gebeugte Beine anheben, das Becken wird durch Anspannen der Bauchmuskeln leicht angehoben, eingerollt, danach Becken durch dosiertes Entspannen der Bauchmuskeln wieder absenken.
301 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
z Instruktion
Bauchmuskeln werden während der Aufund Abbewegung gleichmäßig angespannt. z Variation
Die Arme können auch seitlich abgelegt werden. z Materialien
Turnmatte z Referenz
Vgl. Klee (2008, S. 73) 13.3.4
Schultergürtel
z Arme strecken in Rückenlage mit Thera-Band®
s. 7 Abschn. 13.3
a
13
z Arme strecken über Kopf mit Thera-Band®
s. 7 Abschn. 13.3
z Dips
s. 7 Abschn. 13.3
lexi-Bar®: einhändig, seitlich F (. Abb. 13.67)
z Hauptziel
Kräftigung der Schulterpartie und des oberen Rückens z Bewegungsablauf
Im stabilen Stand wird der Flexi-Bar® einhändig, seitlich mit leicht angewinkeltem Arm gehalten. Der Flexi-Bar® stellt eine Parallele zur Körperachse dar. Der Daumen
b
.. Abb. 13.67 (a, b) Flexi-Bar®: einhändig, seitlich. (a) Einhändiges Halten seitlich und senkrecht, (b) einhändiges Halten seitlich mit einbeinigem Stand. Foto: R. Tisje
302
P. Mehler et al.
zeigt nach vorne, während der Flexi-Bar® in Schwingungen versetzt wird.
z Rudern im Stehen mit Thera-Band®
z Empfehlung
Rückenhacker (. Abb. 13.68)
Geben Sie dem Flexi-Bar® gerne mal den richtigen Impuls, während der Teilnehmer das Trainingsgerät selbst in den Händen hält, damit er den Impuls direkt spüren kann. z Variation
55 Ein Bein wird zusätzlich angehoben. 55 Der Flexi-Bar® wird im Stehen, mit beiden Händen haltend, nach oben gestreckt. z Materialien
Flexi-Bar® z Liegestütz im Knien
s. 7 Abschn. 13.3
a
s. 7 Abschn. 13.3
z Hauptziel
Kräftigung des Schultergürtels und des ganzen Rückens z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Hüftbreiter locker Stand, die Füße stehen parallel zu einander. Der Rumpf wird leicht nach vorne gebeugt und ist gerade. Arme werden nach oben gestreckt, sodass sie eine Verlängerung des Rückens sowie eine Linie mit Rücken, Nacken und Hals darstellen. Die Handflächen sind geöffnet und zeigen nach innen, zueinander. Die Knie sind leicht gebeugt. 55 Übung: Die Arme werden leicht nach oben und unten bewegt. Wichtig sind b
13
.. Abb. 13.68 (a, b) Rückenhacker. (a) Ausgangsposition, (b) kurze Bewegungen der Arme. Foto: R. Tisje
303 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
kleine und kontrollierte Bewegungen sowie eine gute Grundspannung. z Instruktion
„Bewegen Sie Ihre Arme nur einige Zentimeter auf und ab.“ z Variation
Die Übungsposition kann für einige Sekunden gehalten werden. z Materialien
Keine z Referenz
Vgl. Froböse (2011, S. 64)
a
13
chultern öffnen mit dem TheraS Band® (. Abb. 13.69)
z Hauptziel
Kräftigung der Schultermuskulatur (Rotatorenmanschette) z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Schulterbreiter Stand. Ellenbogen am Körper halten. Die Arme leicht öffnen und das Thera-Band® in Vorspannung um die Hände wickeln, sodass es noch locker ist, aber nicht durchhängt. 55 Übung: Während die Ellenbogen am Körper bleiben, ziehen die Unterarme nach außen. Die Schultern öffnen sich
b
.. Abb. 13.69 (a, b) Schultern öffnen mit dem Thera-Band®. (a) Ausgangsposition, (b) Schultern geöffnet. Foto: R. Tisje
304
P. Mehler et al.
dabei nach hinten, und der Brustkorb richtet sich automatisch auf. z Instruktion
„Achten Sie auf eine horizontale Zugrichtung.“ z Empfehlung
Es empfiehlt sich, in einem Vortest die für die jeweilige Übung und für den jeweiligen Teilnehmer individuell geeignete Ausgangsstellung (Bandvorspannung) bzw. Bandstärke zu bestimmen, sodass für den Teilnehmer ca. 15 Wiederholungen möglich sind. z Materialien z Referenz
Vgl. Kempf u. Lowis (1999, S. 121)
Seitheben mit Thera-Band® (. Abb. 13.70)
z Hauptziel
Kräftigung der Schultermuskulatur
a
55 Ausgangsposition: Im aufrechten Stand ein Bein mittig auf das Thera- Band® stellen. Die Enden des Thera-Bandes® um die Hände wickeln. Die Arme sind seitlich vom Körper. Das Thera-Band® wird straff gehalten, aber nicht gespannt. 55 Übung: Die Arme werden nun seitlich gestreckt langsam und kontrolliert angehoben und danach wieder abgesenkt. Der Rücken bleibt dabei gerade, ein Hohlkreuz soll vermieden werden. Die Ellenbogen sind leicht gewinkelt. z Empfehlung
Thera-Band®
13
z Bewegungsablauf
b
Wenn das Thera-Band® lang genug ist, kann man sich in der Ausgangsposition auch im Parallelstand mit beiden Füßen auf das Band stellen. Diese Ausgangsposition unterstützt einen stabilen Rücken. z Instruktion
„Achten Sie darauf, dass die Handrücken nach oben zeigen.“
c
.. Abb. 13.70 (a-c) Seitheben mit Thera-Band®. (a) Ausgangsposition, (b) Seitheben mit gestreckten Armen, (c) Seitheben mit angewinkelten Armen. Foto: R. Tisje
305 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
z Variation
55 Die Arme können auch vor dem Körper nach oben geführt werden. 55 Für Anfänger: Die Arme stärker anwinkeln. z Materialien
Thera-Band®
nterarmschiene mit dem TheraU Band® (. Abb. 13.71)
z Hauptziel
Kräftigung des Schulterhebers z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Hüftbreiter Stand, die Beine sind leicht angewinkelt. Beide Füße werden mittig auf das Thera-Band® gestellt, die Enden des Bandes sind um die Hände gewickelt, die Ellen-
13
bogen liegen am Körper an, Fußspitzen zeigen nach vorne. 55 Übung: Die Unterarme werden in paralleler Haltung und eng am Körper anliegend nach oben vor das Gesicht geführt. Die Beine winkeln dabei leicht an, und der Oberkörper wird leicht nach vorne geneigt. z Empfehlung
55 Auf- und Abbewegung jeweils 2 Sekunden 55 Es empfiehlt sich, in einem Vortest die für die jeweilige Übung und für den jeweiligen Teilnehmer individuell geeignete Ausgangsstellung (Bandvorspannung) bzw. Bandstärke zu bestimmen, sodass für den Teilnehmer ca. 15 Wiederholungen möglich sind. z Materialien
Thera-Band® z Referenz
Kempf u. Lowis (1999, S. 119) 13.3.5
Beckengürtel
z Ausfallschritte
s. 7 Abschn. 13.2
Beinheben im Vierfüßlerstand (. Abb. 13.72)
z Hauptziel
Kräftigung der Gesäßmuskulatur z Bewegungsablauf
.. Abb. 13.71 Unterarmschiene mit dem Thera- Band®. Foto: R. Tisje
55 Ausgangsposition: Vierfüßlerstand. Dabei befinden sich die Knie direkt unter der Hüfte, und die Unterarme werden direkt in Höhe der Schultern auf dem Mattenboden abgelegt. 55 Übung: Das Knie wird im rechten Winkel angewinkelt und nach oben gehoben – so weit, bis der Oberschenkel in einer Linie mit dem Rücken verläuft. Das Bein wird nun in der Schwebe durch kleine Bewegungen um wenige Zentimeter angehoben und gesenkt.
306
P. Mehler et al.
a
b
c
.. Abb. 13.72 (a-c) Beinheben im Vierfüßlerstand. (a) Ausgangsposition Vierfüßlerstand, (b) Bein anheben mit kleinen Bewegungen, (c) Bein anheben mit großen Bewegungen. Foto: R. Tisje
z Instruktion
13
„Bleiben Sie mit dem Oberkörper stabil, und weichen Sie weder mit dem Becken noch mit den Schultern aus. Versuchen Sie ein Hohlkreuz zu vermeiden. Die Bewegung kommt aus der Hüfte.“
z Rumpfheben in Bauchlage
s. 7 Abschn. 13.2
13.3.6
Komplexübungen
Brücke (. Abb. 13.73)
z Variation
Mit dem angewinkelten Bein können auch größere Bewegungen ausgeführt werden. Bodenkontakt sollte dabei vermieden werden. z Materialien
Turnmatte z Kniebeuge
s. 7 Abschn. 13.2
z Kniestand, Bein anhocken und wegstrecken
s. 7 Abschn. 13.2
z Hauptziel
Kräftigung der Rücken-, Gesäß- und hinteren Oberschenkelmuskulatur z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: In der Rückenlage werden die Beine gebeugt. Die Arme werden seitlich neben dem Körper abgelegt. Die Handinnenflächen zeigen nach oben. 55 Übung: Hüfte anheben und oben halten. Oberschenkel, Hüfte und Oberkörper bilden dabei eine Linie.
307 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
a
b
c
d
13
.. Abb. 13.73 (a-d) Brücke. (a) Ausgangsposition, (b) Becken angehoben, (c) Brücke mit gestrecktem Bein, (d) Brücke mit senkrecht gestrecktem Bein, während die Hüfte gehoben und gesenkt wird. Foto: R. Tisje
z Empfehlung
Während der Übung die Teilnehmer erneut an das Heben der Hüfte erinnern. z Variation
Für Fortgeschrittene: 55 Die Hüfte wird während der Übung gesenkt und wieder angehoben, jedoch nicht wieder ganz abgelegt. Wahlweise kann beim Heben der Hüfte ein Ball unter der Hüfte hindurch und beim Senken über der Hüfte zurückgegeben werden. 55 Die Beine können wechselseitig für einen bestimmten Zeitabschnitt angehoben werden. 55 Ein Bein wird senkrecht angehoben und dabei das Becken abwechselnd gesenkt und gehoben. 55 Die Arme werden während der ganzen Übung auf der Brust verschränkt.
z Materialien
55 Turnmatte 55 Variation: Ball
atzüge mit dem Thera-Band® L (. Abb. 13.74)
z Hauptziel
Kräftigung der Schulter- und Rückenmuskulatur sowie des Trizeps z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Das Thera-Band® ist unter leichter Spannung schulterbreit um die Hände gewickelt, die Arme werden leicht angewinkelt nach oben gehalten, sodass das Thera-Band® über dem Kopf verläuft. 55 Übung: Die Ellenbogen ziehen nach unten, die Arme öffnen sich dabei. Der Rücken bleibt gerade, die Schulterblätter
308
P. Mehler et al.
a
b
.. Abb. 13.74 (a, b) Latzüge mit dem Thera-Band®. (a) Ausgangsposition, (b) Latzüge mit dem Thera-Band®. Foto: R. Tisje
ziehen leicht zusammen. Das Thera-Band® wird hinter dem Kopf zu den Schultern geführt.
13
z Empfehlung
Die Spannung des Thera-Bandes® zu Beginn der Übung ist je nach Leistungsniveau variabel. z Materialien
Thera-Band®
Laufen in Liegestützposition (. Abb. 13.75)
z Bewegungsablauf
55 Ausgangsposition: Liegestützposition mit leicht gegrätschten Beinen. Die Hände werden direkt unter den Schultern abgestützt. Die Füße sind aufgestellt. Der Blick ist in Richtung Boden. 55 Übung: Die Beine werden wechselseitig nach vorne angezogen. Die Füße können dabei abgestellt oder aber auch gleich wieder nach hinten geführt werden. Der Rücken sollte dabei möglichst gerade und das Gesäß möglichst niedrig sein.
z Hauptziel
Ganzkörperübung, Kräftigung der Arm-, Stütz-, Bein-, Rücken- und Brustmuskulatur, Verbesserung der Ausdauer
z Variation
Für Fortgeschrittene: Die Füße können ohne Pause schnell nach vorne gezogen werden.
309 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
a
13
b
.. Abb. 13.75 (a, b) Laufen in Liegestützposition. (a) Ausgangsposition, (b) Übung. Foto: R. Tisje
a
b
c
.. Abb. 13.76 (a-c) Unterarmstütz (a) auf der Turnmatte, (b) auf dem Trampolin, (c) mit gestrecktem Arm und Bein. Foto: R. Tisje
z Materialien
z Bewegungsablauf
Turnmatte
Unterarmstütz (. Abb. 13.76)
z Hauptziel
Ganzkörperübung, vor allem Kräftigung der geraden Bauchmuskeln, des Hüftbeugers und der geraden Schenkelmuskeln.
55 Körper in waagerechte Position bringen, sodass nur die Unterarme und die Fußspitzen auf dem Boden abgestützt werden. Kopf, Körper und Beine bilden eine gerade Linie. Der Körper ist unter Spannung, Blick in Richtung Boden. Die Bauchmuskeln dabei anspannen.
310
P. Mehler et al.
55 Wichtig: Auf eine gerade Halswirbelsäule achten.
z Seilhüpfen am Boden
z Instruktion
alken auf dem Minitrampolin W (. Abb. 13.77)
„Ziehen Sie Ihren Bauchnabel in Richtung Wirbelsäule und Ihren Hals so, dass er ein leichtes Doppelkinn formt.“ z Variation
55 Die Unterarme können statt auf dem Boden auf dem Minitrampolin abgestützt werden. Die waagerechte Körperposition ändert sich somit in eine leicht schräge Position (. Abb. 13.76b) 55 Für Fortgeschrittene: 55 Ein Arm und das gegenüberliegende Bein können gerade gestreckt, leicht angehoben werden. Hohlkreuz vermeiden (. Abb. 13.76). 55 Wichtig: Oberkörper dabei nicht drehen!
s. 7 Abschn. 13.2
z Hauptziel
Verbesserung der Ausdauer, Gleichgewichtsschulung z Bewegungsablauf
Lockeres Walken auf dem Minitrampolin. Die Arme dabei mitnehmen. z Empfehlung
55 Vor allem übergewichtige Teilnehmer können sich auf dem Trampolin unsicher fühlen. Eine aufmerksame Betreuung kann die Unsicherheit nehmen. Trotzdem eine weitere Übung als Alternative vorbereiten.
z Materialien
Variation: Minitrampolin
13.4
13
Verbesserung der allgemeinen aeroben Ausdauer
13.4.1
Ausdauerübungen
z Hütchenlauf „Slalom“
s. 7 Abschn. 13.2
z Knee Lifts
s. 7 Abschn. 13.2
z Knieheben auf dem Gymnastikball
s. 7 Abschn. 13.2
z Laufen in Liegestützposition
s. 7 Abschn. 13.2
z Schattenboxen
s. 7 Abschn. 13.2
.. Abb. 13.77 Walken auf dem Minitrampolin. Foto: R. Tisje
311 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
55 Wichtig: Beim Aufbau einen stabilen Stand des Trampolins sichern. z Variation
Für Fortgeschrittene: 55 Auf dem Trampolin laufen. 55 Die Knie anheben. 55 Während dem Walken oder Laufen gleichzeitig Gewichte in die Hände nehmen. 55 Während der Übung kann ein Stopp-Signal gegeben werden. Daraufhin bleibt der Teilnehmer in seiner Position und hält diese. 55 Übungsleiter und Teilnehmer können sich während der Übung ein Ball zuwerfen. Die Wurfarten können dabei variiert werden.
13
z Variation
55 Walking/Jogging: 55 Für Fortgeschrittene: Gewichte mit dazu nehmen 55 Sprint: 55 Für Anfänger: Auf der Stelle marschieren 55 Für Fortgeschrittene: 55 Gewichte mit dazu nehmen 55 Knie hoch nach oben ziehen 55 Allgemein: 55 Durch Reifen laufen z Materialien
Variation: Gewichte, Reifen z Referenz
Vgl. Heldt (2004)
z Materialien
Aerobic-Training
55 Minitrampolin 55 Variation: Ball oder Gewichte
13.4.2
z Referenz
Hauptziel des Aerobic-Trainings ist die Verbesserung der allgemeinen Ausdauerleistungsfähigkeit. Weitere Ziele sind die Mobilisation und die Schulung der Koordinationsfähigkeit (vor allem der ArmBein-Koordination). Auch Elemente, die dem Kräftigen und der Flexibilität dienen, können mit dem Aerobic-Training verknüpft werden.
7 http://www.m ini-t rampolin.d e/uebungen/walken.html
Walken/Joggen/Sprint z Hauptziel
Verbesserung der Ausdauer z Bewegungsablauf
55 Walking: Schnelles Gehen auf der Stelle, im Kreis oder über eine längere Strecke hinweg. Eine wichtige Rolle spielen hierbei das bewusste Abrollen der Füße und der leicht übertriebene Einsatz der Arme. 55 Jogging: Lockeres Laufen auf der Stelle, im Kreis oder über eine längere Strecke hinweg. 55 Sprint: Sprint- bzw. schnelle Laufbewegungen auf der Stelle. Oberkörper ist leicht nach vorne gebeugt, Knie nach vorne oben anziehen und Arme dazu im Rhythmus bewegen.
z Hauptziel
z Bewegungsablauf
Der genaue Bewegungsablauf der unten aufgelisteten Schritte und Schrittkombinationen kann anhand kurzer Videosequenzen online eingesehen werden (. Abb. 13.78, 13.79, 13.80, 13.81, 13.82, 13.83, 13.84, 13.85, 13.86, 13.87, 13.88, 13.89, 13.90, 13.91, 13.92, 13.93, 13.94, 13.95, 13.96, 13.97, 13.98, 13.99, 13.100, 13.101, 13.102, 13.103, 13.104, 13.105, 13.106, 13.107, 13.108, 13.109, 13.110, und 13.111). Zusätzlich zu den Videosequenzen finden Sie dort auch ein
312
P. Mehler et al.
Informationsblatt zum Einsatz von Musik und zu Besonderheiten der Musikstruktur im Rahmen des Aerobic-Trainings. z Empfehlung
Die hier vorgestellten Elemente eines Aerobic-Trainings stellen nur eine kleine Auswahl aus einem noch größeren Repertoire an Schritten und Schrittkombinationen der aktuellen Praxis dar. Bei der Durchführung eines Aerobic-Trainings ist es wichtig, eine für die Zielgruppe geeignete Choreographie und Musik mit passender Musikstruktur vorzubereiten. Vor allem der koordinative Anspruch sollte an das Leistungsniveau der Zielgruppe angepasst werden, um das primäre Ziel der Steigerung der Ausdauerleistung nicht zu vernachlässigen. Letztendlich können Sie dabei kreativ werden, verschiedene Grundschritte sowie Kick- und Boxelemente miteinander kombinieren, Fehlertoleranz vorleben;). Haben Sie Freude beim Ausprobieren und Bewegen zur Musik.
Aerobic-Grundschritte Basic Step
.. Abb. 13.79 Box Step (▶ https://doi.org/10.1007/000-bay)
.. Abb. 13.80 Double Step Touc (▶ https://doi.org/10.1007/000-baz)
13
.. Abb. 13.78 Basic Step (▶ https://doi.org/10.1007/000-bbx)
.. Abb. 13.81 Grapevine (▶ https://doi.org/10.1007/000-bb0)
313 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
.. Abb. 13.82 Heel touch (▶ https://doi.org/10.1007/000-bb1)
.. Abb. 13.85 Leg Curl (▶ https://doi.org/10.1007/000-bb4)
.. Abb. 13.83 Kick (▶ https://doi.org/10.1007/000-bb2)
.. Abb. 13.86 Mambo Cha Cha (▶ https://doi.org/10.1007/000-bb5)
.. Abb. 13.84 Knee Lift (▶ https://doi.org/10.1007/000-bb3)
.. Abb. 13.87 March Kick (▶ https://doi.org/10.1007/000-bb6)
13
314
13
P. Mehler et al.
.. Abb. 13.88 Pivot Turn (▶ https://doi.org/10.1007/000-bb7)
.. Abb. 13.91 Squad (▶ https://doi.org/10.1007/000-bba)
.. Abb. 13.89 Push Touch (▶ https://doi.org/10.1007/000-bb8)
.. Abb. 13.92 Step Touch (▶ https://doi.org/10.1007/000-bbb)
.. Abb. 13.90 Side to Side Step (▶ https://doi.org/10.1007/000-bb9)
.. Abb. 13.93 V Step Jump (▶ https://doi.org/10.1007/000-bbc)
315 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
13
erobic mit Kick- und A Boxelementen
.. Abb. 13.96 Hook Front im Side to Side Step (▶ https://doi.org/10.1007/000-bbf)
.. Abb. 13.94 March (▶ https://doi.org/10.1007/000-bbd) .. Abb. 13.97 Jab Cross diagonal im Side to Side Step (▶ https://doi.org/10.1007/000-bbg)
.. Abb. 13.95 V Step (▶ https://doi.org/10.1007/000-bbe)
.. Abb. 13.98 Uppercut im Side to Side Step (▶ https://doi.org/10.1007/000-bbh)
316
P. Mehler et al.
.. Abb. 13.99 Jap Cross im Side to Side Step + Knee Raise (▶ https://doi.org/10.1007/000-bbj)
.. Abb. 13.102 Jap Cross (▶ https://doi.org/10.1007/000-bbn)
.. Abb. 13.100 Traveling Jabs (3x) + Cross (▶ https://doi.org/10.1007/000-bbk)
.. Abb. 13.103 Abtauchen + (▶ https://doi.org/10.1007/000-bbp)
.. Abb. 13.101 Jap Cross schnell (4x) + Clab (▶ https://doi.org/10.1007/000-bbm)
.. Abb. 13.104 Front Kicks (▶ https://doi.org/10.1007/000-bbq)
13
side
Jap
(180°)
Cross
13
317 Werkzeugkasten – Übungen zum Training
.. Abb. 13.105 Side Kicks (▶ https://doi.org/10.1007/000-bbr)
.. Abb. 13.108 Kettenfauststöße (▶ https://doi.org/10.1007/000-bbv)
.. Abb. 13.106 Kicks back (▶ https://doi.org/10.1007/000-bbs)
.. Abb. 13.109 Ellenbogenschlag nach oben hinten (▶ https://doi.org/10.1007/000-bbw)
.. Abb. 13.107 Kettenfauststöße seitlich (▶ https://doi.org/10.1007/000-bbt)
.. Abb. 13.110 Unterarmblock nach oben außen (▶ https://doi.org/10.1007/000-bax)
nach
vorne
318
P. Mehler et al.
.. Abb. 13.111 Kombination: Hook + Cross Punch + Uppercut im Side to Side Step (▶ https://doi.org/10.1007/000-bby)
Literatur
Brugger L, Schmid A, Bucher W (1990) 1000 Spielund Übungsformen zum Aufwärmen, 3. Aufl. Hofmann, Schorndorf Bucher W (2007) 777 Spiel- und Übungsformen für Anfänger in Schule, Verein und Freizeit. Hofmann, Schorndorf
13
Froböse I (2011) Das neue Rückentraining: Mit 5-Minuten-Programm, 4. Aufl. Gräfe & Unzer, München Heldt U (2004) Tipps für Zirkeltraining, 5., überarb. Aufl. Meyer & Meyer, Aachen Kempf HD, Lowis A (1999) Fit und schön mit dem Thera-Band®. Trainingsbuch für Frauen. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg Klee A (2008) Circuit-Training & Fitness-Gymnastik, 4., erw. Aufl. Hofmann, Schorndorf Kolb M (2007) Spiele für den Herz- und Alterssport, 5., überarb. Auflage. Meyer & Meyer, Aachen Mießner W (2002) Richtig Bodystyling. BLV, München Trucco U, Bucher W (2007) 1019 Spiel- und Übungsformen, 2., überarb. u. erw. Aufl. Hofmann, Schorndorf Witting A, Dörken Y (2009) Bewegte Konzentrationsförderung - 100 neue und bewährte Übungen und Spiele. Limpert, Wiebelsheim
319
Serviceteil Stichwortverzeichnis – 321
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 V. Oertel, F. Hänsel (Hrsg.), Aktiv für die Psyche, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67880-0
321
A–B
Stichwortverzeichnis A Abhängigkeit, s. Abhängigkeitssyndrom –– nicht substanzgebundene 70 –– substanzgebundene 70 Abhängigkeitssyndrom 16, 21, 70, 197, 214 –– Behandlungsansätze 74 –– biologische Effekte 21 –– Entstehung 74 –– Epidemiologie 73 –– körperliche Aspekte beim Sporttraining 200 –– psychische Aspekte beim Sporttraining 219 –– psychologische Effekte 21 –– Symptomatik 71 –– Verlauf 74 Adaptation, s. Anpassung 130, 148 Adenosin-Tri-Phosphat (ATP) 115 Affektivität –– Störungen 52 Affektverflachung 61 Agoraphobie 80 Aktivierung 173 Aktivität –– körperliche 5 –– sportliche 5 Alkoholismus, s. Abhängigkeitssyndrom 21 Alzheimer-Demenz 77 AMDP-System 45 –– Kategorien 46 –– psychische Merkmale 46 –– somatische Merkmale 47 Ammoniak 152 Anamnese –– biografische 54 –– semistrukturierte 44 Anamnesegespräch 44 Angststörung 22, 79, 198, 214 –– Behandlungsansätze 82 –– biologische Effekte 23 –– Entstehung 82 –– Epidemiologie 81 –– generalisierte 80 –– körperliche Aspekte beim Sporttraining 202 –– psychische Aspekte beim Sporttraining 221 –– psychologische Effekte 22 –– Symptomatik 79 –– Verlauf 81 Anorexia nervosa 83 –– Behandlung 235 –– Ernährung 234 Anpassung 130, 148 –– Auslösung 130 –– Sicherung 131
Anspannungs-Entspannungs-Dehnen (AED) 135 Antagonisten-Kontraktions-Dehnen (AKD) 135 Antiaddiktiva 107 –– Agonisten 108 –– Antagonisten 108 Antidementiva 107 Antidepressiva 103 –– trizyklische (TZA) 103 Antiepileptika, s. Antikonvulsiva 106 Antikonvulsiva 106 Antipsychotika 101 –– Atypika 102 –– Nebenwirkungen 102 –– Typika 101 Antriebsstörung 53 Anxiolytika 106 Äquivalent, metabolisches (MET) 117, 118 Aspekt, körperlicher 191 Atemparameter 152 Ätiologie 38 ATP-Resynthese 115, 116 Atypika 233 Auffassung 49 Aufmerksamkeit 48 Aufmerksamkeitsstörung 48 Aufwärmspiel –– Ziele 173 Ausdauer 131, 150 Ausdauertraining –– Belastungsumfang 154 –– Intensitäten 153 –– Kontrollmethoden 161 –– Steuerparameter 151 –– Trainingsbereiche 153 –– Trainingsmethoden 153 –– Trainingssteuerung 151 –– Trainingsübungen 155
B Basisdiagnostik, motorische 196 Beanspruchung 130, 148 Beanspruchungsindikator, subjektiver 152, 155, 160 Befund, psychopathologischer 44 Befürchtung 50 Behandlerwissen 168, 169 Belastung 130, 148 Belastungsparameter 151 Benzodiazepine 106 Besonderheit, zirkadiane 53 Bewegungsapparat 112 Bewegungsfachkraft 7
322
Stichwortverzeichnis
Bewegungsfertigkeit 127 Bewegungslernen 121, 127 Bewegungsstruktur 121 –– Strukturkonzepte 121 Bewegungswissenschaft 119 Bewusstseinseinengung 48 Bewusstseinsstörung 48 –– qualitative 48 –– quantitative 48 Bewusstseinsverschiebung 48 Bindung 141 Blitzlicht-Methode 177 BMI (Body Mass Index) 203, 233 Borderline-Persönlichkeitsstörung 88, 198, 216 –– Behandlungsansätze 89 –– Entstehung 89 –– Epidemiologie 88 –– körperliche Aspekte beim Sporttraining 204 –– psychische Aspekte beim Sporttraining 223 –– Symptomatik 88 –– Verlauf 89 Borg-Skala 152 Bulimia nervosa 83
C Ceiling-Effekt 108 Cool-Down-Phase 217 Coping 40 Craving 75, 107
D Dabeibleiben 141 Dauermethode 131 Demenz 21, 76, 198, 214 –– Behandlungsansätze 78 –– biologische Effekte 22 –– Entstehung 77 –– Epidemiologie 76 –– körperliche Aspekte beim Sporttraining 201 –– psychische Aspekte beim Sporttraining 220 –– psychologische Effekte 22 –– Symptomatik 76 –– Verlauf 77 Denkstörung –– formale 49 –– inhaltliche 49 –– wahnhafte inhaltliche 50 Depersonalisationserleben 52 Depression 197, 214, 217 –– körperliche Aspekte 199 –– Symptome 66 Depression, s. affektive Störungen 18 Derealisationserleben 52
Diagnostik 211 –– Erhebungsinstrumente 211 –– medizinische 193 –– sportwissenschaftliche 193 Diät, mediterrane 230 Dienstleistungsmodell 171 Drugmonitoring, therapeutisches (TDM) 99, 106 DSM-V 35
E Effekt –– biologischer 14 –– psychologischer 14 Eindosierungseffekt 99 Emergenz 120 Empowerment 141 Energiebereitstellung 115 Entfremdungserlebnis 52 Entgiftung 75 Entgiftungsmittel 107 Entwöhnungsbehandlung 75 Entwöhnungsmittel 107 Entzugsbehandlung 75 Erfahrungswert 168 Erhebungsinstrument 211, 213 Erklärungsmodell, multifaktorielles 69 Ernährung 230 Erregungszustand, psychomotorischer 61 Essstörung 23, 83, 198, 216 –– Behandlungsansätze 87 –– biologische Effekte 24 –– Entstehung 85 –– Epidemiologie 84 –– körperliche Aspekte beim Sporttraining 203 –– psychische Aspekte beim Sporttraining 222 –– psychologische Effekte 23 –– psychomotorische Therapie 23 –– Symptomatik 83 –– Verlauf 85 Evaluation 161 Exploration 44 Expositionstraining 82
F Fähigkeit, koordinative 126, 133 Faktor, protektiver 40 Feedback 123, 127 –– Zeitstrukturen 125 Fehler 124, 127 Fertigkeitstraining, s. Koordinationstraining 159 Fettstoffwechsel 194 Fitness, körperliche 172 Fitnesssport 6
323 Stichwortverzeichnis
Flexibilität 134, 150 –– aktiv-dynamische 134 Flexibilitätstraining –– Kontrollmethoden 163 –– Trainingssteuerung 160 Forming-Phase 179 Fremdanamnese 54 Fremdgefährdung 53
G Gedächtnisstörung 48 Gesundheit 138 –– psychische 137 Gesundheitssport 6 Gewichtsreduktion 172 Gleichgewicht, arthro-muskuläres 134 Gruppendynamik 179 Gruppenphasenmodell nach Tuckman 179
H Halluzination 51 –– akustische 62 Herzfrequenz 152 Herzratenvariabilität (HRV) 152 Heterochronizität 130, 149 Hypertrophietraining 156 Hypomanie 67
I IANS (individuelle anaerobe Schwelle) 193 ICD-10 36 Ich-Störung 52, 62 Inflammation 194 Instruktion 123, 127, 176 –– bimodale 221 Intervallmethode 132, 133 Intrusion 223
K Kontraindikation 188 –– absolute 188 –– relative 188 Konzentration 48 Koordination 150 –– sensomotorische 126 Koordinationstraining 159 –– Kontrollmethoden 163 –– Trainingssteuerung 159 Kraft 132, 150 Kraftausdauer 132
Krafttraining 119 –– Belastungssteuerung 157 –– Belastungsumfang 156 –– Kontrollmethoden 162 –– sanftes 133, 155 –– Steuerparameter 155 –– Trainingsmethoden 156 –– Trainingssteuerung 155 –– Trainingsübungen 158
L Laktat 152 Leistungsdiagnostik 193 Leistungsfähigkeit 128 –– Komponenten 128 –– körperliche 194 Lernen, motorisches 120 Lernvariable 123 –– Feedback 123 –– Instruktionen 123 Lithium 105, 195
M Magersucht 83 Manie 197, 214, 218 –– körperliche Aspekte 199 –– Symptome 67 Medikamentenabhängigkeit 73 Merkfähigkeit 49 Messung, spiroergometrische 193 Mini Mental Status Test (MMST) 49 Modell, paternalistisches/maternalistisches 171 Mononährstoff 232 Motivation 139, 172 –– extrinsische 173 –– intrinsische 140, 173
N Nachhaltigkeit 174 Nahrungsergänzung 232 Neuroleptika, s. Antipsychotika 101 Norming-Phase 179
O Orientierungsstörung 48
P Panikstörung, s. Angststörung 22, 79 Parakinesie 53
B–P
324
Stichwortverzeichnis
Pathogenese 38 Perfektionismus 217 Performing-Phase 180 Persönlichkeit 54 Persönlichkeitsstörung 24, 45, 88 –– Definition 55 –– Unterformen 55 Phasenprophylaktika 105 Phobie –– soziale 80 –– spezifische 81 Phosphokreatin (PCr) 115 Phospholipidsynthese 232 Phosphorylierung –– anaerobe 115 –– oxidative 115 PNF-Methode 135 Projekterfahrung 168, 169 Propriozeptor 114 Psychopathologie 44 Psychopharmaka 98 –– Absetzen 99 –– Adhärenz 99 –– Bewegungsstörungen 195 –– Compliance 99 –– Nebenwirkungen 99, 195 –– Substanzgruppen 98 –– Wirkweise 98 Psychose –– endogene 35 –– exogene 35 Psychotherapie 60 Psychotherapie vier Wirkfaktoren 177 Pulsuhr 202
Q Qualitätssicherung 161 Querschnittsbefund 44
R Räumlichkeit 170 RCT-Standard 14 Rehabilitationssport 6 Reizüberflutung 212 Repräsentation, interne 120
RPE-Skala 152 Rückmeldung 177
S Sauerstoffaufnahme, maximale 152 Schizophrenie 16, 61, 197, 213 –– Behandlungsansätze 64 –– biologische Effekte 18 –– Entstehung 64 –– Epdemiologie 63 –– Ernährung 233 –– Hippokampusformation 18 –– körperliche Aspekte beim Sporttraining 198 –– Negativsymptome 61 –– Phasen 63 –– Positivsymptome 61 –– psychische Aspekte beim Sporttraining 212 –– psychologische Effekte 17 –– Symptomatik 61 –– Verlauf 63 Schwelle –– aerobe 153 –– anaerobe 153 Schwellenkonzept 153 Selbstbewusstsein –– geringes 209 Selbst-Erhaltungs-Therapie (SET) 78 Selbstgefährdung 53 Selektive Noradrenalin-Rückaufnahme-Inhibitoren (SNRI) 104 Selektive Serotonin-Rückaufnahme-Inhibitoren (SSRI) 104 semistrukturiert 44 Setting 175 Skelettmuskulatur 112 Soft-Signs, neurologische 196 Soziotherapie 60 Sportmedizin 112 Sportpsychologie 137 Sporttherapie 6 Sporttraining 7 –– biologische Effekte 14 –– psychologische Effekte 14 Sportwissenschaft 112 Sprachverarmung 61 Stimmenhören 62 Stimmungsbarometer 177
325 Stichwortverzeichnis
Stimmungsstabilisierer, s. Phasenprophylaktika 105 Storming-Phase 179 Störung –– affektive, s. affektive Störungen 18 –– alkoholbedingte 72 –– bipolare 65 –– depressive 65 –– der Affektivität 52 –– drogenbedingte 72 –– manisch-depressive 65 –– psychomotorische 53 –– unipolare 65 Störung, affektive 18, 65, 214 –– Aktivitätenaufbau 19 –– Antidepressiva 19 –– Behandlungsansätze 69 –– biologische Effekte 20 –– Entstehung 68 –– Epdemiologie 67 –– körperliche Aspekte beim Sporttraining 199 –– psychische Aspekte beim Sporttraining 217 –– psychologische Effekte 19 –– Symptomatik 66 –– Verlauf 67 Störung, psychische 8 –– Definition 34 –– Ernährung 230 –– Klassifikation 34 –– Kriterien 34 –– Vorkommen 60 Stress 39 Sucht, s. Abhängigkeitssyndrom 70 Suchtverschiebung 219 Suizidalität 53 Symptomkategorie 46 synthym 51 System –– triadisches 35 System, endokrines 115
T Tabakabhängigkeit 73 Theorie –– der Informationsverarbeitung 120 –– dynamischer Systeme 120 Therapie, biologische 60 Therapieverfahren, bewegungsorientierte 7 Training 128 –– gesundheitsstärkendes 5 Trainingsdurchführung 169, 176 Trainingskontrolle 161 Trainingsorganisation 169 Trainingsprinzip 129
P–Z
Trainingssteuerung 148, 177 –– Komponenten 149 Trainingsstruktur 178 Trainingswissenschaft 128 Trainingsziel 128 Tranquilizer 106 Typ-1-Fasern 113 Typ-2-Fasern 113
U Übergang, aerob-anaerober 153 Übergesundheit 199 Übertraining 195 Übung –– Schwierigkeitsgrad 178 Übungsfolge –– strukturierte 126 –– unstrukturierte 126 Übungsleiter –– Persönlichkeit 181 –– Qualifikation 181 –– Rollen 180 Übungsleiterwissen 168, 169
V Validation 78 Variation 127, 133 Verhandlungsmodell 171 Vermeidungsverhalten 221 Vitaminsubstitution 232 Volition 139 Vulnerabilität 38 Vulnerabilitätsfaktor 69 Vulnerabilitäts-Stress-Bewältigungs-Modell 38, 64, 68
W Wahn 50 –– Kriterien 50 –– Systematisierung 50 Wahnidee 62 Wahrnehmungsstörung 51
Z Ziel –– Akzente 171 –– Ebenen 171 Zielklärung 171 Zustimmung, informierte 171 Zwang 50