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German Pages 566 Year 2019
Adressat und Adressant in antiken Briefen
Beiträge zur Altertumskunde
Herausgegeben von Susanne Daub, Michael Erler, Dorothee Gall, Ludwig Koenen und Clemens Zintzen
Band 382
Adressat und Adressant in antiken Briefen Rollenkonfigurationen und kommunikative Strategien in griechischer und römischer Epistolographie Herausgegeben von Gernot Michael Müller, Sabine Retsch und Johanna Schenk
ISBN 978-3-11-067620-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-067630-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-067633-4 ISSN 1616-0452 Library of Congress Cataloging in Publication Control Number: 2019950092 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Gernot Michael Müller, Sabine Retsch und Johanna Schenk Einleitung | 1
I.
Philosophie und Wissensvermittlung im antiken Brief
Jan Erik Heßler ἄφθαρτός μοι περιπάτει καὶ ἡμᾶς ἀφθάρτους διανοοῦ Korrespondenz unter gottgleichen Freunden und Lehrbriefe in der Schule Epikurs | 27 Vincenzo Damiani Das Verhältnis zwischen Adressat und Adressant in der Wissensvermittlung Kommunikationsstrategien in Briefproömien und Widmungsbriefen | 49
II.
Kommunikative Strategien in den Briefen Ciceros
Sabine Retsch (Exil-)Kommunikation unter Brüdern: Cicero, Q. fr. 1,3 | 71 Tobias Dänzer Politik aus der zweiten Reihe: Ciceros Briefe an C. Scribonius Curio (fam. 2,1–7) | 95
III.
Zur Funktion von Briefen in der spätrepublikanischen Historiographie
Martin Stöckinger Briefe in der Historiographie Strategien schriftlicher Kommunikation bei Caesar und Sallust | 123
VI | Inhalt
IV.
Briefe in der Literatur der Frühen Kaiserzeit: Zur Konstruktion von Dichterpersona und Adressat bei Horaz und Statius
Johannes Zenk Selbstdarstellung und Belehrung Horazens epistula ad Pisones als Beispiel guter und stimmiger Dichtung (Hor. ars 119‒152) | 159 Gregor Bitto Leser in Bcc. Zu den Praefationes von Statius’ Silvae | 181
V.
Kommunikationsstrukturen und Rollenkonfigurationen bei Plinius d.J. und bei Lukian
Thorsten Fögen Vom Epigramm zur Ekphrasis Zum Topos der brevitas in den Briefen des Jüngeren Plinius | 207 Margot Neger Adressaten und epistularum personae in den Briefen des jüngeren Plinius | 233 Markus Hafner Zur Konstruktion der ‚Lachgemeinschaft‘ in Lukians fiktiven BriefFassaden | 253
VI.
Biblische Verwendungsweisen des Briefs
Andrea Taschl-Erber Identitätspolitische Rhetorik Der Brief „an die Heiligen in Kolossä“ | 279
Inhalt | VII
Stephan Witetschek Offenbarung im Brief Zur Medialität der Johannesapokalypse im Kontext neutestamentlicher Epistolographie | 329
VII.
Ziele brieflicher Kommunikation im Frühen Christentum und bei den Kirchenvätern
Eva Baumkamp Zur Funktion von Briefen in innergemeindlichen Auseinandersetzungen Ein Hilfsgesuch spanischer Bischöfe an die nordafrikanische Kirche Mitte des dritten Jahrhunderts | 359 Marie Revellio Das Zusammenspiel von Adressatencharakteristiken und Literaturzitaten Eine Analyse identitätsstiftender Kommunikationsstrategien in den Briefen des Hieronymus | 381
VIII. Aspekte des spätantiken Briefs zwischen Bildungsdiskursen und Vergangenheitsbezug Christian Fron Der Schüler als Spiegelbild und Kommunikationsgegenstand Kommunikationsstrategien bei der Korrespondenz von Libanios mit Eltern, Familienangehörigen und Fürsprechern in Entwicklungsberichten hinsichtlich seiner μαθηταί | 409 Tabea L. Meurer In scribendo formam vetustatis amplector Vergangenheitsbezüge als Strategie kommunikativer In- und Exklusion in der Korrespondenz des Q. Aurelius Symmachus | 429
VIII | Inhalt
IX.
Formen und Funktionen von Briefkommunikation im poströmischen Gallien
Gernot Michael Müller Faustus von Riez im Gespräch mit Ruricius von Limoges Zur epistolaren Modellierung einer asketischen Lehrer-Schüler-Beziehung im poströmischen Gallien | 453 Johanna Schenk Der Bischof als Rhetor, oder: Wie reagiert man auf ‚rufschädigende Gerüchte‘? Zu Alc. Avit. epist. 57P | 497 Index | 519 Index locorum | 525
Gernot Michael Müller, Sabine Retsch und Johanna Schenk
Einleitung I Das Funktionsspektrum des antiken Briefs geht weit darüber hinaus,1 lediglich die „schriftliche Mitteilung von einer realen, historischen Person an eine andere reale, historische Person, die in der Regel zu einer schriftlichen Gegenäußerung auffordert,“2 zu transportieren und damit aus wissenschaftlicher Perspektive eine wertvolle historische Quelle zu bezeichnen.3 Obgleich der antike Brief zweifelsohne eine in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzende Primärquelle für die Ereignisgeschichte der Antike darstellt, erfüllt er darüber hinaus eine Vielzahl weiterer kommunikativer Funktionen, die ihn inhaltlich wie stilistisch zu einer äußerst komplexen Gattung machen. Entsprechend dieser Vielschichtigkeit findet die Epistolographie in praktisch allen altertumswissenschaftlichen Disziplinen von der Klassischen Philologie über die Alte Geschichte und die Archäologie bis hin zur neutestamentlichen und patristischen Theologie Beachtung, wobei die vielschichtigen kommunikativen Funktionen des antiken Briefs, wie noch anzudeuten sein wird, erst in jüngerer Zeit stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt sind.4 Reflex seiner gattungsspezifischen Komplexität ist zunächst die Tatsache, dass sich bereits in der Antike eine Theorie des Briefs herausgebildet hat.5 Zu
|| 1 Die folgenden Ausführungen verstehen sich als exemplarischen Einblick in das Funktionsspektrum des antiken Briefs und seine wissenschaftliche Erforschung, der keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben will; vgl. ergänzend den ausführlicheren Überblick in G.M. Müller (2018a). 2 W.G. Müller (1994) 61. 3 Vgl. hierzu Cornelius Nepos’ Aussage in seiner Atticus-Vita, wonach ein Leser der Briefe Ciceros in diesen nicht weniger als eine Art Geschichte der späten Republik vorfinde (Nep. Att. 16,2f.): Quamquam eum [sc. Atticum] praecipue dilexit Cicero, ut ne frater quidem ei Quintus carior fuerit aut familiarior. ei rei sunt indicio praeter eos libros, in quibus de eo facit mentionem, qui in uulgus sunt editi, undecim uolumina epistularum, ab consulatu eius usque ad extremum tempus ad Atticum missarum: quae qui legat, non multum desideret historiam contextam eorum temporum. 4 Vgl. Stowers (1986). 5 Einen Überblick über die Brieftheorie sowie über die Gestaltungsformen des antiken Briefs im Allgemeinen geben die einschlägigen Lexikonartikel von Dziatzko (1897), Sykutris (1931),
https://doi.org/10.1515/9783110676303-001
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nennen sind hier exemplarisch die einschlägigen Kapitel in Demetrios’ rhetorischem Traktat De elocutione6 sowie die Kapitel De sermocinatione und De epistulis am Ende der Ars rhetorica des Julius Victor aus dem 4. Jh. n. Chr., welche die erste überlieferte systematische Brieftheorie in lateinischer Sprache darstellen.7 Darüber hinaus werden theoretische Überlegungen über den Brief bereits lange vor der Zeitenwende in Exkursen oder Musterbriefen von Briefstellern greifbar: In ihnen finden sich Vorschriften für die formale und inhaltliche Gestaltung von Briefen, welche der zeitgenössischen Praxis entsprungen waren und den Usus des Briefeschreibens widerspiegelten.8 Ihren Niederschlag fand die Brieftheorie außerdem durch entsprechende Reflexionen in den Briefen selbst – etwa bei Cicero und Seneca –, wodurch jene zu weiteren wichtigen Quellen für die Brieftheorie wurden.9 Sodann fanden elementare Instruktionen für das Schreiben von Briefen sogar Eingang in Unterrichtssequenzen der zweiten und dritten Stufe im römischen Bildungssystem, dem Unterricht beim grammaticus und dem Rhetoriklehrer, wobei sich deren Interesse in erster Linie auf die Wahl des hinsichtlich Adressat oder Situation adäquaten Stils eines Briefs konzentrierte.10 In der Theorie wurde der Brief zunächst als ‚Gespräch unter Abwesenden‘11 oder als ‚halbierter Dialog‘12 bezeichnet. Durch die Wesensverwandtschaft mit dem mündlichen Gespräch kristallisierten sich folgende formale, stilistische und sprachliche Charakteristika des antiken Briefs heraus: angemessene Kürze, Klarheit des Ausdrucks, Orientierung am Umgangston der Gebildeten sowie unaufdringliche Eleganz hinsichtlich des rhetorischen Schmucks. Dem Brief
|| Schneider (1954), Kytzler (1965), W.G. Müller (1994), Görgemanns (1997), Görgemanns/Zelzer (1997) und Schmidt (1997). 6 Demetr. Eloc. 223–235. 7 S. hierzu Celentano (1994); für einen Überblick über die brieftheoretische Literatur der Antike vgl. Malherbe (1988) und Poster (2007a). 8 Vgl. Nickisch (1994), Sp. 76–86. 9 So unterscheidet Cicero beispielsweise in einem Brief an Curio zwischen heiteren und ernsten Spielarten des Briefs (fam. 2,4,1): reliqua sunt epistularum genera duo, quae me magno opere delectant: unum familiare et iocosum, altertum severum et grave. 10 S. hierzu Nickisch (1994) 77; Schmidt (1997) 772; zum Zusammenhang zwischen Schulunterricht und Briefstil vgl. Bauer (2011) 98–100; zum Verhältnis von Briefstil und Rhetorik vgl. Malherbe (1988). 11 Z. B. Cic. Phil. 2,4,7: amicorum conloquia absentium; vgl. allgemein zur Verwendung dieses Motivs bei Cicero die Beiträge in Garcea (2003) sowie mit Blick auf die lateinische Epistolographie des 1. Jh.s v. Chr. und des 1. Jh.s n. Chr. insgesamt Corbinelli (2008). 12 S. Demetr. Eloc. 223: […] εἶναι γὰρ τὴν ἐπιστολὴν οἶον τὸ ἕτερον μέρος τοῦ διαλόγου.
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wurde andererseits die Fähigkeit zuerkannt, ‚Abbild der Seele‘13 zu sein oder Präsenz zwischen den Briefpartnern – im Sinne einer ‚Illusion des Beieinanderseins‘14 – herzustellen, welche deren räumliche Trennung nachgerade aufzuheben vermochte. Gefordert waren somit für den privaten Brief auch der Einbezug des Ethos des Schreibenden und ein expliziter Adressatenbezug, wobei motivisch gerade die Freundschaftstopik eine gewichtige Rolle spielte15 und ein sorgsam ausgearbeiteter Brief gleichsam als ‚Geschenk‘ für den Adressaten angesehen wurde.16 Normative Strukturen hinsichtlich des Inhalts gab es nicht, jedoch sollte der Brief nie allein nur praktischen Bedürfnissen,17 sondern immer auch der Pflege von Kontakten dienen.18 Als „Medium sprachlich-kommunikativen Handelns“19 verfügte der antike Brief somit über ein breites Spektrum an Funktionen, wobei diese selten isoliert voneinander gleichsam in Reinform, sondern meist in Kombination auftraten. Zu den in der Theorie genannten Funktionen traten noch vielfältige Formen der Selbstrepräsentation, die häufig bereits ein über den primären Adressaten hinausgehendes breiteres Publikum im Blick hatte, so etwa im Falle des jüngeren Plinius, der in seinen Epistulae intensiv an einer positiven Selbstdarstellung arbeitete und den Brief als Medium für die Selbstmodellierung und Stilisierung zum idealen Senator nutzte.20 Bei Seneca zeigt sich indessen, auf welche Weise der Brief bewusst als Einkleidungsform für konkrete Unterweisungen benutzt wurde: Seine Epistulae morales ad Lucilium stellen eine lebensnahe Einführung in die Philosophie der Stoa dar und wirken aufgrund des vermittelnden Mediums zum einen besonders eingängig und bieten dem Autor zum anderen die Möglichkeit, dem intendierten Leserkreis seiner Weisungen in ansprechender
|| 13 Vgl. ebd. 227: σχεδὸν γὰρ εἰκόνα ἕκαστος τῆς ἑαυτοῦ ψυχ ς γράφει τὴν ἐπιστολήν; mit Blick auf Cicero s. De Giorgio (2008). 14 S. Kytzler (1965) 497; vgl. auch Marcone (2002). 15 Vgl. Wilcox (2012) mit Blick auf Cicero und Seneca. 16 S. Demetr. Eloc. 224: δεῖ γὰρ ὑποκατεσκευάσθαι πως μᾶλλον τοῦ διαλόγου τὴν ἐπιστολήν· ὁ μὲν γὰρ μιμεῖται αὐτοσχεδιάζοντα, ἡ δὲ γράφεται καὶ δῶρον πέμπεται τρόπον τινά. 17 Vgl. die grundlegende Definition des Briefs bei Cic. fam. 2,4,1: Epistularum genera multa esse non ignoras, sed unum illud certissimum […], ut certiores faceremus absentis, si quid esset, quod eos scire aut nostra aut ipsorum interesset. 18 Vgl. zu dieser Funktion des Briefs Cic. Att. 12,53: ego, etsi nihil habeo, quod ad te scribam, scribo tamen, quia tecum loqui videor; vgl. die Zusammenstellung weiterer Testimonien bei Thraede (1970) 27–47; zur gemeinschaftsstiftenden Funktion der Briefe Ciceros s. auch Bernard (2013). 19 Ermert (1979) 59. 20 Vgl. aus der grundlegenden Literatur Ludolph (1997), Radicke (1997) und Gauly (2008).
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Form darzubieten.21 Gemeinsam ist den Briefen Plinius’ d. J. und Senecas das Bestreben, einen über den im Formular genannten Adressaten hinausragenden Leserkreis zu erreichen, der zum ‚sekundären‘ Adressaten bzw. zum Adressaten ‚auf zweiter Ebene‘ wird. In der Spätantike gehörte die Epistolographie zu den produktivsten literarischen Gattungen.22 Die spätantiken Briefschreiber verbinden politische, religiöse und allgemein kulturelle Inhalte mit Strategien der Identitätsbildung und -bewahrung:23 Die überlieferten Briefwechsel geben einerseits Auskunft darüber, wie sich die zunehmende politische Desintegration des römischen Reichs konkret vor Ort auswirkte, wie die lokalen Eliten darauf reagierten, welche Folgen Einfall und Ansiedlung barbarischer Populationen für die betreffende Region hatte oder wie das Zusammenleben mit den sesshaft gewordenen Barbaren funktionierte, um hier nur einige der wichtigsten Themenbereiche zu nennen.24 Zum anderen wird der spätantike Brief aber auch als Medium erkennbar, über den die Korrespondenzpartner ihren eigenen kulturellen Standort in dieser komplexen Gemengelage aushandeln und sich seiner wechselseitig vergewissern. Das programmatische Streben nach Gemeinschaftsstiftung innerhalb der spätantiken Eliten durch die gegenseitige Versicherung von Bildung und Romanitas sowie durch Freundschaftsbezeugungen bei gleichzeitiger Abgrenzung gegenüber den neueingewanderten Ethnien konstituieren somit zentrale kommunikative Ziele des spätantiken Briefs.25 Nicht zu übergehen ist sodann die große Bedeutung, die Briefen im frühen Christentum zukam. Ausgehend von den Schreiben des Apostels Paulus,26 die schon früh in den Kanon der biblischen Schriften aufgenommen wurden, spielten sie etwa bei der Kontaktpflege von Gemeinden und Bischöfen und in innerkirchlichen Auseinandersetzungen eine zentrale Rolle, wie sich exemplarisch an den überlieferten Briefen Cyprians von Karthago zeigen lässt.27 Mit der Christianisierung der römischen Kultur in der Spätantike verbanden sich schließlich die im frühen Christentum entstandenen Funktionen des Briefs mit jenen oben
|| 21 S. statt vieler aus der neuesten Literatur Dietsche (2014). 22 Vgl. beispielsweise die Überblicksdarstellungen von Schneider (1954) und jetzt von Sogno/Storin/Watts (2017); speziell zur Briefliteratur in Gallien s. Chadwick (1955). 23 Vgl. Mratschek (2008). 24 Zu Wahrnehmung und Beschreibung von Barbaren sowie zur epistolaren Kommunikation zwischen der römischen Elite und diesen s. Everschor (2007); vgl. auch G.M. Müller (2018b). 25 Vgl. mit Blick auf Ruricius von Limoges G.M. Müller (2013). 26 Vgl. einführend Suhl (2007). 27 S. Baumkamp (2014).
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skizzierten traditionellen Verwendungsweisen28 und sicherten auf diese Weise deren Fortleben über das Ende der Antike hinaus.29
II Die altertumswissenschaftliche Forschung hat die antike Briefliteratur zunächst vor allem als historische oder biographische Quelle rezipiert.30 Daneben stießen die materiellen und pragmatischen sowie allgemein kulturgeschichtliche Aspekte antiker Briefkommunikation wie z. B. die verschiedenen Beschreibstoffe und ihre wechselnden Konjunkturen, die Beförderungsmöglichkeiten sowie die Entstehung von Briefsammlungen auf Aufmerksamkeit.31 Allerdings konnte bereits die intensive und kontrovers geführte Diskussion um eine tragfähige gattungstypologische Definition des antiken Briefs zu Beginn des 20. Jahrhunderts Indizien für seine Komplexität beibringen. Im Bemühen um eine möglichst präzise kategoriale Unterscheidung seiner Ausprägungen geriet dabei das breite Spektrum seiner Möglichkeiten ebenso in den Blick wie auch die davon abhängenden Stufen seiner Literarizität. Der auf diese Weise herausgearbeitete Spielraum reichte vom Privatbrief über den Kunstbrief in Prosa oder Vers, den offenen und amtlichen Brief, den (philosophischen) Lehrbrief oder den fingierten Brief bis hin zum werkseinleitenden Widmungsbrief. Dabei stand die Forschung anfangs vor allem unter dem Einfluss von Adolf Deissmanns strikter Einteilung in den alltäglichen zweckdienlichen ‚Brief‘ und die kunstvoll ausgefeilte literarische ‚Epistel‘.32
|| 28 S. Markschies (2006). 29 Vgl. Constable (1976) sowie zur Briefkultur der Karolingerzeit Steckel (2011). 30 So erlangte beispielsweise Ciceros Familie innerhalb der althistorischen Forschung zur römischen Familie geradezu ‚paradigmatischen‘ Charakter, da Einzelheiten des familiären Alltags Eingang in die zahlreichen überlieferten Briefe fanden, wodurch eine Art ‚Familienbiographie‘ zumindest partiell nachgezeichnet werden und bedeutsame Rückschlüsse auch auf das familiäre Leben im 1. Jh. v. Chr. im Allgemeinen gezogen werden konnten; vgl. Harders (2008) 249. 31 Vgl. beispielsweise Nicholson (1994) und Kolb (2000) sowie nicht zuletzt Cugusi (1983). Schröder bemängelt in diesem Zusammenhang freilich, dass selten in gebotenem Maße zwischen Briefen der klassischen Zeit und denjenigen der Spätantike differenziert werde; vgl. Schröder (2007) 138; zu Briefsammlungen s. etwa Gibson (2012); einen Überblick über spätantike Briefsammlungen bieten die Beiträge in Sogno/Storin/Watts (2017). 32 Während Deissmann den ‚Brief‘ kategorisch als ‚unliterarisch‘ einstufte, da er sich nur im privaten Rahmen an einen oder mehrere Adressaten wende und als situationsbedingtes „Stück
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Von dieser intransigenten Distinktion ist die Forschung längst abgekommen und sie hat erkannt, dass die Grenzen zwischen beiden Ausprägungsformen durchweg fließend sind. Diese Erkenntnis gründet zum einen auf dem Befund, dass antike Autoren danach strebten, auch privaten Gelegenheitsbriefen eine kultivierte Form zu verleihen und ihnen so eine „gesellschaftlich stilisierte Individualität“33 einzulegen. Komplementär dazu konnte in vielfältiger Weise herausgearbeitet werden, dass die Literarizität eines Schriftstücks nicht allein von der Publikationsabsicht des Adressanten abhängig ist. So enthalten beispielsweise selbst die privatesten Briefe innerhalb der Korrespondenz Ciceros mehr oder weniger deutliche Spuren von Stilisierung.34 Zudem erweisen sich nicht nur die Publikationsabsicht eines Autors, sondern auch weitere Komponenten – etwa die Persönlichkeit des Adressaten, der Inhalt, die Form oder das Stilniveau – als entscheidende Faktoren für die Literarizität von Briefen. Neben dem Bestreben um eine möglichst genaue Klassifizierung antiker Briefe konzentrierte sich die ältere Forschung auf Herausarbeitung und Funktionsbestimmung der für diese charakteristischen Topik. Verwiesen sei hier exemplarisch auf die einschlägigen Monographien von Koskenniemi (1954), dessen Fokus auf einer Typologie der Phraseologie des griechischen Briefs bis um 400 n. Chr. lag, sowie von Thraede (1970), der sich das Ziel setzte, den „briefeigenen Motivschatz als Schulgut dingfest zu machen“35 und auf diese Weise Topik und Phraseologie als wesentlichen Bestandteil epistolarer Traditionsbildung zu erweisen sowie unter explizitem Einbezug des christlichen Briefs historisch nachzuzeichnen.36 Einen der prominentesten literaturwissenschaftlichen Ansätze der jüngeren Forschungsgeschichte zum antiken Brief, der die Aufmerksamkeit für die spezifischen Möglichkeiten eines Briefautors schärfte, seine textinterne Rolle aktiv zu profilieren und zu gestalten, markiert das epistolarity-Konzept: Dieses geht davon aus, dass das ‚Ich‘ eines jeden Briefs als Konstruktion anzusehen ist. Denn „anyone who has some experience of writing and receiving letters knows
|| Leben“ jeglicher Kunstfertigkeit entbehre, wertete er die für die Publikation bestimmte Epistel als „Erzeugnis literarischer Kunst“, welches dementsprechend inhaltlich allgemeiner und weniger persönlich gehalten sei, woraus eine größere Verständlichkeit für den weiten Leserkreis resultiere. Jegliche Mischformen aus den dichotomisch gegenübergestellten Arten erachtete er schlichtweg als „schlechte Briefe“; vgl. Deissmann (1908) 158–160. 33 Vgl. Thraede (1970) 3. 34 Vgl. W.G. Müller (1994) 63. 35 Thraede (1970) 8. 36 S. auch die Arbeiten von Cugusi (1983), freilich unter Ausblendung des spätantiken und christlichen Briefs, und Abram (1994).
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that what is written is never exactly what would be said, if the two correspondents were face to face. No matter how intimate, informal or ‚sincere‘ a letter is, it will never be the same as oral utterance.“37 Die Schriftlichkeit führe demnach einen jeden Brief unweigerlich zum Status von ‚Literatur‘ und die logische Konsequenz dieser Annahme ist die völlige Aufhebung der Distinktion zwischen alltäglichem Brief und literarischer Epistel. Die Möglichkeit der bewussten Konstruktion des ‚Brief-Ich‘ wurde bereits in der Antike vielfältig genutzt und fand einen ihrer bekanntesten ‚Anwender‘ im jüngeren Plinius. Dieser nutzte die Einzelbriefe seiner selbst publizierten Briefsammlung, wie oben bereits angedeutet, als Mittel zur Selbstdarstellung (selffashioning), die er über direktes, mehr noch aber über indirektes Selbstlob umsetzte.38 Plinius verfolgte dabei die Absicht, beim Leser der Briefe den Eindruck zu evozieren, es handle sich bei dem in allen Belangen idealen ‚Brief-Ich‘ um das ‚Ich‘ seiner eigenen Person. Die von ihm intendierte Gleichsetzung des ‚Brief-Ich‘ mit dem realen historischen Plinius lässt sich als bewusste kommunikative Strategie identifizieren:39 Die ‚primären‘ Funktionen des Mediums Brief verlieren somit zugunsten einer ‚sekundären‘ Funktion – der Selbstmodellierung – an Bedeutung. Das Beispiel des jüngeren Plinius hat insbesondere in der Spätantike Schule gemacht.40 Infolgedessen hat sich die Forschung zur spätantiken Epistolographie zunächst vor allem darauf verlegt, strukturelle und inhaltliche Bezüge zwischen dieser und dem plinianischen Modell41 herauszuarbeiten und auf diese Weise die konstitutive Traditionsgebundenheit spätantiker Briefsammlungen aufzuzeigen.42 Auf dieser Grundlage konzentriert sich die jüngere Forschung zum spätantiken Brief vor allem auf jene von Plinius d. J. idealtypisch realisierten ‚sekundären‘ Funktionen, die in diesem die ‚primären‘ häufig überlagern und bisweilen sogar aufheben. So stellte etwa Bruggisser (1993) für die Korrespondenz des Symmachus zum einen den völligen Verzicht der Informationsvermittlung zugunsten des Freundschaftserweises fest, welcher als ‚rite social et culturel‘ in ihr denn auch die alleinige Botschaft repräsentiert.43 Zum anderen erkannte er in Symmachus’ Briefen ein signifikantes Streben nach || 37 De Pretis (2004) 6. Vgl. die hierfür grundlegende Studie von Altman (1982) sowie Jenkins (2006). 38 Vgl. die Literaturhinweise oben in Anm. 20. 39 Vgl. nochmals Gauly (2008). 40 S. Gibson/Rees (2013). 41 Vgl. Zelzer (1989) und Zelzer/Zelzer (2002) zu Ambrosius. 42 S. nochmals Thraede (1970). 43 Vgl. auch Marcone (2002).
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Demonstration der eigenen Bildung, das ebenfalls als ‚sekundäre‘ Funktion von Briefkommunikation einzuordnen ist.44 Derartige Funktionalisierungen des Mediums Brief lassen sich indessen nicht nur bei paganen Briefschreibern feststellen, sondern sie finden sich auch in der patristischen Briefliteratur. Beispielsweise wies Conring (2001) überzeugend darauf hin, dass Hieronymus die Behandlung exegetischer, dogmatischer oder ethischer Fragestellungen in seinen Briefen vorrangig dazu nutzt, sich in der Rolle des überlegenen Lehrers zu inszenieren, der nicht nur dem im Formular genannten Adressaten, sondern meistens vielmehr einem weiteren Leserkreis Ratschläge erteilt.45 In Rebenichs prosopographischer Untersuchung zu Hieronymus’ Briefen (1992) repräsentierte die Freundschaftstopik die Leitfragestellung,46 während auf dem Feld der Kommunikativität von Briefen im Allgemeinen sicherlich die Arbeit Mratscheks (2002) wegweisend ist, die in Paulinus von Nola eine Schlüsselfigur für Etablierung und Pflege kommunikativer Netzwerke innerhalb der spätantiken christlichen Elite erkannte. Wie sehr die jeweiligen theologischen Ansichten die Freundschaft unter christlichen Briefpartnern beeinflussen konnte, zeigt exemplarisch Ghettas Untersuchung (2014) über die persönlichen Beziehungsgeflechte bedeutender Bischöfe der Epoche: So lässt sich anhand der Briefe nachverfolgen, dass divergente theologische Auffassungen zum Bruch zwischen Hieronymus und Paulinus von Nola führten, während Augustinus von Hippo Kontakte trotz theologischer Differenzen generell aufrecht zu erhalten suchte. Wie die Briefsammlungen christlicher Verfasser und hier vor allem jene der Kirchenväter Ambrosius, Augustinus und Hieronymus in der älteren Forschung in erster Linie auf theologisches und ereignisgeschichtliches Interesse gestoßen sind,47 bevor die soeben exemplarisch skizzierten Fragestellungen in den Fokus der Aufmerksamkeit geraten sind,48 datiert auch im Bereich der biblischen Epistolographie die Untersuchung ihrer kommunikativen und literarischen Strukturen erst in die jüngere Vergangenheit.49 Dabei steht in den hierfür einschlägigen
|| 44 Vgl. Bruggisser (1993) 3. 45 Vgl. Conring (2001) 248–250, die letzteres Phänomen als „Adressatendoppelung“ (S. 250) bezeichnet. 46 Zur Prosopographie als Zugang zu Briefen vgl. auch Morgenstern (1993) zu Augustinus. 47 Im Bereich der christlichen Briefschreiber ist auf Leclercq (1929) mit Einzelartikeln zu Hieronymus, Ambrosius, Augustinus und Paulinus von Nola zu verweisen. Vgl. auch Hennings (1994) zu Hieronymus und Augustinus. 48 S. etwa Fürst (1999) zu Hieronymus. 49 Für einen Überblick über die Briefkultur des antiken Judentums als Hintergrund christlicher Epistolographie s. Doering (2012).
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Studien meist das Verhältnis zu anderen antiken Briefen und Briefsammlungen im Vordergrund. Während Deissmann die Schreiben des Paulus noch in die Nähe von Gebrauchsbriefen einfacher Leute rückte und somit auch den Apostel selbst für relativ ungebildet hielt, kommt die neuere Forschung zu einem anderen Schluss: Stirewalt (2003) stellte für die Briefe des Paulus Ähnlichkeiten zu amtlichen Schreiben fest, nach deren Modell sie gestaltet worden seien.50 Bauer (2011) weist im Anschluss daran aber auch auf Unterschiede zur paganen Brieftradition hin, welche sich durch den spezifisch christlichen Inhalt und die dadurch bedingten motivischen Veränderungen, beispielsweise den Verzicht auf die Bilderwelt des Mythos, ergebe. Hoegen-Rohls (2013) fragt ganz grundsätzlich nach der Brieflichkeit der paulinischen Schreiben und kommt zu dem Ergebnis, dass es sich bei ihnen um einen eigenen Brieftyp handle, der eigens für die Verkündung der Heilsbotschaft entwickelt worden sei. Im Hinblick auf eine kommunikationstheoretische Annäherung an die Paulusbriefe ist schließlich noch Oestreich (2012) zu erwähnen, der im Rahmen der Performanzkritik die Eigenschaft von Texten – und dabei insbesondere von Briefen – als Kommunikationsmedium betont. Er interpretiert die Schreiben des Paulus als (unvollständige) „Zeugnisse kommunikativer Ereignisse“51 und warnt davor, angesichts der in der Antike vorherrschenden Mündlichkeit ihren schriftlichen Charakter zu sehr in den Vordergrund zu rücken. Die Forschungsgeschichte zur antiken Epistolographie lässt sich zusammenfassend folglich so skizzieren, dass diese zunächst in erster Linie als ereignisgeschichtliche, philosophische oder theologische Quelle rezipiert worden ist, bevor erst in jüngerer Zeit Fragen nach sozial- und kulturgeschichtlichen, kommunikativen, literarischen oder jüngst narratologischen Aspekten52 stärker in den Blick gerieten, welche die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der antiken Epistolographie inzwischen auch weitgehend bestimmen. Komplementär dazu wurde die in der älteren Forschung vorgenommene strikte Unterscheidung des überlieferten Materials in verschiedene Brieftypen und vor allem seine über lange Zeit wirkmächtige binäre Strukturierung in Gebrauchsbrief und literarischer Epistel zunehmend infrage gestellt und durch flexiblere Beschreibungsmodelle ersetzt, welche den antiken Brief als ein konstitutiv mobiles Genus begreifen, das unabhängig von seinem Gebrauchskontext offen für unterschiedlichste Formen literarischer Gestaltung ist und dessen Wahrneh-
|| 50 Vgl. auch Breytenbach (2015). 51 Oestreich (2012) 250. 52 Vgl. allerdings schon Traub (1955) sowie Illias-Zarifopol (1994) zu Plinius d. J., der in der narratologisch beeinflussten Briefforschung bislang im Zentrum der Aufmerksamkeit steht.
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mung entweder als Dokument der Alltagsschriftlichkeit oder als Stück Literatur wesentlich von seinem Rezeptionshorizont abhängt.53 So sehr die Forschung zum antiken Brief in den letzten Jahrzehnten erheblich an Intensität und Breite gewonnen hat, konzentriert sich diese vor allem auf die Erschließung einzelner Autoren oder die Bearbeitung sehr spezifischer Fragestellungen.54 Vor diesem Hintergrund sind in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche wegweisende Arbeiten zu einzelnen einschlägigen Epistolographen und Briefkorpora entstanden, die dabei durchaus auch generalisierbare Ergebnisse im Hinblick auf die oben genannten aktuellen Fragehorizonte der altertumswissenschaftlichen Briefforschung gezeitigt haben.55 Für einen umfassenden Überblick über die antike Epistolographie stehen demgegenüber weiterhin in erster Linie ältere Arbeiten zur Verfügung, die vor allem an einer formalen und inhaltlichen Dokumentation der Überlieferung interessiert waren.56 Freilich sind in der jüngsten Vergangenheit vor allem im Bereich der spätantiken Epistolographie autoren- und sammlungsübergreifende Initiativen zu konstatieren, die in ihrem Zugriff auch aktuelle Trends der altertumswissenschaftlichen Epistolographieforschung aufgreifen und weiterführen.57 Dennoch bleibt abschließend zu konstatieren, dass sich diese bei aller inzwischen erzielten Breite und Intensität vor allem in Einzelstudien konkretisiert und dass neuere übergreifende Zugriffe auf ihren Gegenstand daneben immer noch eher selten sind,58 welche die in der jüngeren Vergangenheit erfolgreich etablierten Fragestellungen in einer autoren- oder gar epochenübergreifenden Perspektive er-
|| 53 S. hierzu grundlegend mit Blick auf die Epistolographie der lateinischen Spätantike Schwitter (2015). 54 Als Beispiel sei an dieser Stelle auf die Beiträge in Eickhoff (2016) zur Muße und Rekursivität in der antiken Briefliteratur verwiesen. 55 Neben den verschiedenen Literaturangaben in den vorangehenden Anmerkungen sind an dieser Stelle exempli gratia zu nennen: Hutchinson (1998), Hall (2009) und White (2010) zu Cicero, Cancik-Lindemaier (1967) zu Seneca, Lefèvre (2009) und Gibson/Morello (2012), Marchesi (2015) und Gibson/Whitton (2016) zu Plinius d. J., Fleury (2006) und Freisenbruch (2007) zu Fronto, Rücker (2012) zu Ausonius, Harries (1994) zu Sidonius Apollinaris, Mathisen (1999) zu Ruricius von Limoges, Shanzer/Wood (2002) zu Avitus von Vienne und Schröder (2007) zu Ennodius. 56 Für den lateinischen Brief s. immer noch grundlegend Peter (1901). 57 Vgl. die Beiträge in Delmaire/Alpi (2009), in Neil/Allen (2015) und in Sogno/Storin/Watts (2017). 58 S. etwa Stowers (1986) sowie die Beiträge in Morrello/Morrison (2007) und Desmoulliez/Hoet-van Cauwenberghe/Jolivet (2010); zur griechischen Epistolographie der Kaiserzeit und der Spätantike s. jetzt auch die Beiträge in Vox (2013).
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proben und auf diese Weise deren entsprechendes Potential in einem weiteren Horizont oder gar mit Blick auf die gesamte Antike fruchtbar machen.
III Neben der Frage nach den Bedingungen für die Zusammenstellung von Briefen zu Sammlungen beschäftigt sich die aktuelle altertumswissenschaftliche Epistolographieforschung, wie angedeutet, vor allem mit den kommunikativen Funktionen von Briefen, die über ihre primäre Funktion der Informationsvermittlung hinausgehen, wie etwa deren Beitrag zu Bildung und Erhalt von kommunikativen und sozialen Netzwerken sowie zum self- und role-fashioning ihrer Autoren, wobei der letzte Bereich auch von hoher Relevanz für Auswahl und Überlieferung von Sammlungen ist. Bei diesen im weiteren Sinne kulturwissenschaftlichen Perspektiven liegt der Fokus im Hinblick auf die Textstruktur von Briefen in der Regel beim Autor und seinen textinternen Konfigurationsformen und -möglichkeiten. Weniger gerät bislang in den Blick, wie sich die damit verbundenen kommunikativen Funktionen und Ziele in der textinternen Modellierung des Adressaten und damit verbunden in den Kommunikationsstrukturen zwischen diesen beiden Größen abbilden bzw. welcher Spielraum dabei denkbar ist. Eine Analyse der kommunikativen Strukturen von Briefen und ihrer textinternen Akteure markiert folglich gleichsam die konsequente literaturwissenschaftliche Ergänzung der aktuellen kulturwissenschaftlichen Fragestellungen zur antiken Epistolographie. Insofern mit den textinternen Größen ‚Adressat‘ und ‚Adressant‘ und deren kommunikativer Interaktion konstitutive Merkmale des Briefs benannt sind, eignet sie sich aber auch dazu, jene übergreifende Perspektive auf die gesamte Überlieferung der Antike einzunehmen, die in der altertumswissenschaftlichen Epistolographieforschung, wie gesehen, weiterhin eher sporadisch eingenommen wird. Das evidente systematische wie diachrone Potential der Fragestellung aufzugreifen und für die weitere Erforschung antiker Briefe fruchtbar zu machen, war Anliegen einer altertumswissenschaftlichen Tagung, die vom 1. bis zum 3. Juni 2016 an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt stattgefunden hat. Sie verfolgte das Ziel, in exemplarischen Fallstudien aus interdisziplinärer Perspektive die angedeuteten kommunikativen Strukturen und Strategien des antiken Briefs herauszuarbeiten, wobei insbesondere die textinternen Größen ‚Adressat‘ und ‚Adressant‘ im Interaktionsraum des Briefs im Zentrum des Analyseinteresses standen. Des Weiteren war zu untersuchen, inwieweit die in der
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Forschung bereits hinlänglich herausgearbeitete Verwendung von Briefen für das self-fashioning ihres Autors auch über die textinterne Modellierung des Adressaten realisiert werden kann. Dabei war auch zu berücksichtigen, dass möglicherweise nicht nur der direkt im Formular genannte Briefempfänger Adressat der Korrespondenz ist, sondern ein über diesen hinausreichendes Publikum, das somit als ‚Adressat auf zweiter Ebene‘ fungiert. Eine solche in der Regel implizite Ausdehnung des Empfängerradius erweitert neben dem Funktionsspektrum des Briefs im Allgemeinen auch die Gestaltungsoptionen der briefinternen Sprecherinstanzen, zu denen unter anderem auch das Ziel der Selbstdarstellung des Adressanten gegenüber einem größeren Publikum gehört. Eine wichtige Fragestellung war daher, welche Funktionen einem weitergefassten Adressatenkreis zukommen können und wie sich diese auf die sprachliche, stilistische oder argumentative Gestaltung von Briefen auswirken. Ein Spezialfall dieser Perspektive ist, dass eine dritte – explizit genannte oder nur implizit angedeutete – Person in Briefen präsent ist und das kommunikative Design eines Briefs beeinflusst. Schließlich erlaubte der diachrone, die gesamte griechische und römische Antike umfassende Ansatz der Tagung danach zu fragen, welchen Einfluss frühere Briefkorpora auf spätere Sammlungen im Hinblick auf die in ihnen verhandelten Fragestellungen hatten, woran sich die Frage nach der Literarizität von Briefen in ihrer späteren Rezeption unmittelbar anschloss. Der vorliegende Sammelband dokumentiert mit seinen 18 Beiträgen den wissenschaftlichen Ertrag der Eichstätter Tagung, wobei seine Gliederung in neun teils systematisch, teils diachron konzipierten Kapiteln den Aufbau der Tagung aufgreift und weiter ausdifferenziert.59 Das erste Kapitel des Bandes trägt die Überschrift „Philosophie und Wissensvermittlung im antiken Brief“ und wird eröffnet durch den Beitrag von Jan Erik Heßler mit dem Titel: „ἄφθαρτός μοι περιπάτει καὶ ἡμᾶς ἀφθάρτους διανοοῦ. Korrespondenz unter gottgleichen Freunden und Lehrbriefe in der Schule Epikurs“ (S. 27‒48). In ihm wendet sich Heßler der epistolaren Kommunikation unter Epikureern zu und zeigt auf, dass selbst private Briefe zur Vermittlung der philosophischen Lehren Epikurs herangezogen wurden. Als solche leisteten auch sie einen Beitrag dazu, Epikur bereits zu Lebzeiten göttliche Ehren zuteilwerden zu lassen. Im Anschluss daran veranschaulicht Vincenzo Damiani unter dem Titel „Das Verhältnis zwischen Adressat und Adressant in der Wissensvermittlung: Kommunikationsstrategien in Briefproömien und Widmungsbriefen“ (S. 49‒68) anhand verschiedener Widmungsbriefe des Archimedes von Syrakus und des Apollonios von Perge sowie der Briefproömien || 59 S. auch den Tagungsbericht von Retsch/Schenk (2016).
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Senecas und Diogenes’ von Oenoanda die Strategien, welche der jeweilige Verfasser beispielsweise zur Festigung von Bindungen mit dem Rezipienten oder zur Darstellung der eigenen Person anwandte. Das zweite Kapitel mit dem Titel „Kommunikative Strategien in den Briefen Ciceros“ beginnt mit Sabine Retschs Beitrag „(Exil-)Kommunikation unter Brüdern: Cicero, Q. fr. 1,3“ (S. 71‒93), in dem sie untersucht, wie die verwandtschaftliche Beziehung zwischen Adressant und Adressat dezidiert in die argumentative Kommunikationsstruktur eines Briefs, den Cicero seinem Bruder Quintus aus der Verbannung schickt, einfließt und zwei kommunikative Strategien innerhalb desselben Schreibens eng miteinander verknüpft werden. Dabei arbeitet sie heraus, dass die brüderliche Beziehung im Rahmen eines komplexen Argumentationsgefüges als harmonisch präsentiert wird und der Adressat lobend hervorgehoben wird, um ihn im Anschluss für ein in Zusammenhang mit der Rückberufung des Adressanten aus dem Exil stehendes Anliegen zu gewinnen. Ein Vergleich des Schreibens mit einem zeitgleich entstandenen, an Atticus adressierten Brief zeigt auf, inwiefern Cicero seine Argumentation in ein und derselben Angelegenheit adressatenabhängig variiert. So kristallisiert sich heraus, dass seine Kommunikation mit dem Freund Atticus im vorliegenden Fall auf einem vertrauteren Level als die brüderliche Kommunikation erfolgt und er seine eigene Bruderrolle im Medium ‚Brief‘ strategisch auszuspielen weiß. Im zweiten Beitrag des Kapitels mit dem Titel „Politik aus der zweiten Reihe: Ciceros Briefe an C. Scribonius Curio (fam. 2,1–7)“ (S. 95‒119) arbeitet Tobias Dänzer heraus, wie Cicero innerhalb einer sechsteiligen Briefserie zunächst über fünf Briefe hinweg eine briefübergreifende Strategie – die Einschwörung des Adressaten auf sein staatspolitisches Programm – verfolgt und dabei die gleichen Motive (amicitia, exspectatio, res publica) in unterschiedlicher Intensität verwendet, bevor er diese im sechsten Brief einem realen Zweck – der Gewinnung des Adressaten für den Konsulatsbewerber Milo – zuführt und den Brief, der auch aufgrund der spezifischen Botensituation eine Sonderstellung in der Briefserie einnimmt, dadurch als belastbares Instrument realpolitischer Politik heranzieht. Der nachfolgende siebte Brief ist hingegen als Kontrastfolie zur vorausgehenden Briefserie zu verstehen, da mit der grundlegend veränderten Kommunikationssituation neue Rollenzuschreibungen der Briefpartner einhergehen. Das folgende Kapitel mit der Überschrift „Zur Funktion von Briefen in der spätrepublikanischen Historiographie“ enthält den Beitrag „Briefe in der Historiographie. Strategien schriftlicher Kommunikation bei Caesar und Sallust“ von Martin Stöckinger (S. 123‒155), in dem dieser anhand einer Analyse ausgewählter Partien der beiden im Titel genannten Geschichtsschreiber Funktionen der
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in ihren historiographischen Werken eingelegten Briefe aufzeigt. Diese dienen zum einen den Aussagezielen des Erzählers, der damit als ‚zweiter Adressant‘ fungiert. Zum anderen richten sie sich nicht nur an Figuren innerhalb der Erzählung, sondern zugleich auch an das Publikum, das damit sozusagen Adressat auf zweiter Ebene wird. Das sich anschließende vierte Kapitel „Briefe in der Literatur der Frühen Kaiserzeit: Zur Konstruktion von Dichterpersona und Adressat bei Horaz und Statius“ beginnt mit Johannes Zenks Aufsatz, der überschrieben ist mit: „Selbstdarstellung und Belehrung. Horazens epistula ad Pisones als Beispiel guter und stimmiger Dichtung. Hor. ars 119–152“ (S. 159‒180). Zenk arbeitet darin die explizite und implizite Selbstdarstellung des Sprechers neben dem Aspekt der Belehrung als konstitutives Charakteristikum dieses Briefgedichts heraus. Hierbei gelangt er zunächst zu dem Ergebnis, das Thema ‚Stimmigkeit‘ ziehe sich quasi als roter Faden durch die gesamte Versepistel, und auch der Sprecher selbst stelle sich als Dichter dar, dem es gelingt, gute und stimmige Dichtung zu schreiben. Er folgert daraus, dass in diesem Text nicht der Adressat des Briefs, sondern vielmehr der Adressant selbst sowie die gebildete Öffentlichkeit als sekundäre Adressaten im Zentrum des gestalterischen Interesses der Versepistel stehen. Danach legt Gregor Bitto unter der Überschrift „Leser in Bcc. Zu den Praefationes von Statius’ Silvae“ (S. 181‒203) dar, wie der Adressant dem Leser den Abstand zwischen sich und den Adressaten der einzelnen Silvae vor Augen führt, um ihm deutlich zu machen, dass er nicht Teil von Statius’ sozialem Netzwerk, sondern nur Zuschauer ist – und sich, modern ausgedrückt, in der Position eines Bcc-Empfängers befindet. Der Leser erkennt dies anhand der Adressierung, die sich gerade nicht an ihn selbst richtet. Die Intention des Verfassers ist hierbei jedoch kein striktes Ausschließen des Lesers, sondern vielmehr eine Einladung zur Teilnahme am literarischen ‚Puzzlespiel‘, das er in den Praefationes inszeniert. Die Beiträge der fünften Sektion sind den „Kommunikationsstrukturen und Rollenkonfigurationen bei Plinius d.J. und bei Lukian“ gewidmet; im ersten Aufsatz mit dem Titel „Vom Epigramm zur Ekphrasis: Zum Topos der brevitas in den Briefen des Jüngeren Plinius“ (S. 207‒231), setzt sich Thorsten Fögen mit dem von der Brieftheorie zwar geforderten, letztlich aber flexibel gehandhabten epistolaren Merkmal der Kürze auseinander, das auch Plinius entsprechend verwendet. So entschuldigt sich dieser für mangelnde brevitas etwa damit, dass Ausführlichkeit ein Zeichen der Wertschätzung des Adressaten darstelle und Kürze eigentlich zur amicitia im Widerspruch stehe. Auf die Gestaltung der plinianischen Schreiben, deren Stil er als „kunstvolle Kunstlosigkeit“ charakterisiert, habe außerdem die Inkorporierung verschiedener Gattungen in die Brief-
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form Einfluss. Darauf folgt Margot Negers Aufsatz „Adressaten und epistularum personae in den Briefen des jüngeren Plinius“ (S. 233‒252), dessen Schwerpunkt auf der bisher wenig erforschten Rolle der in der Adresszeile genannten Empfänger liegt. Diese treten nicht nur explizit als Rezipienten einzelner Schreiben, sondern in anderen Briefen – und teilweise bereits vor der ersten Nennung als Adressat – auch intern als Handlungsträger auf, wodurch ein sorgfältiges Arrangement dieser Personen innerhalb der Briefsammlung offensichtlich wird. Dabei dienen sie oft der Selbstdarstellung des Plinius, etwa indem sie als Kontrastfigur zu ihm agieren. Den Abschluss des Kapitels bildet Markus Hafners Beitrag „Zur Konstruktion der ‚Lachgemeinschaft‘ in Lukians fiktiven BriefFassaden“ (S. 253‒275), in dem dieser ein mehrschichtiges kommunikatives Modell entwickelt, mit welchem sogenannte ‚Lachgemeinschaften‘ innerhalb von Lukians fiktiven ‚Brief-Fassaden‘ theoretisch klassifiziert werden können. Dieses zeigt auf, dass die Rollenkonfigurationen der Interaktionspartner variabel sind und von ihnen folgende drei Bündnisse bzw. Antagonismen eingegangen werden können: 1. Adressant und Adressat vs. dritte Person, 2. Adressant mit dritter Person vs. Adressat und 3. Adressat mit dritter Person vs. Adressant. Der Ein- und Ausschluss Einzelner findet indessen eine Entsprechung im zeithistorischen Kontext, da Lukian in seinen Texten die gesellschaftliche Marginalisierung derjenigen nachzeichnet, die für sich παιδεία in Anspruch nehmen, dann jedoch scheitern und öffentlich verlacht werden. Das sechste Kapitel wendet sich sodann „Biblischen Verwendungsweisen des Briefs“ zu. Eröffnet wird es von Andrea Taschl-Erbers Beitrag „Identitätspolitische Rhetorik. Der Brief ‚an die Heiligen in Kolossä‘“ (S. 279‒328), in dem sie herausarbeitet, wie der Schreiber ‚Paulus‘ im deuteropaulinischen Brief an die Kolosser durch die geliehene Autorität des Apostels zur gottlegitimierten Instanz avanciert. In der Auseinandersetzung mit literarisch konstruierten Gegnern wird diesen unter der Verwendung traditioneller sophistischer Topoi, etwa des Betrugsvorwurfs, die Verbreitung von ‚Irrlehren‘ vorgeworfen. Als neues Kriterium der Inklusion und Exklusion im Rahmen des Wir-ihr-Diskurses erscheint dabei die Teilhabe an Jesu Tod und Auferstehung durch die Taufe und somit die korporative Identität als Leib Christi. Ausgehend von Reflexionen über frühchristliche (v.a. paulinische) Briefe rückt Stephan Witetschek im Anschluss in seinem Aufsatz „Offenbarung im Brief. Zur Medialität der Johannesapokalypse im Kontext neutestamentlicher Epistolographie“ (S. 329‒355) die Diskussion um die Brieflichkeit der Offenbarung des Johannes in den Fokus der Betrachtung. Mittels einer Analyse des Präskripts der Johannesapokalypse konstatiert er, diese mute zwar paulinisch an, ihre kommunikative Absicht unterscheide sich aber von derjenigen der Paulusbriefe. Darauf aufbauend argumentiert er,
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die Johannesapokalypse könne zwar keineswegs uneingeschränkt als Brief aufgefasst werden, nichtsdestoweniger weise sie aber deutliche Briefmerkmale auf, die unter anderem eine Vernetzung zwischen den dort genannten Gemeinden herstellten. Unter Einbezug der Funktion von Sendschreiben kommt er abschließend zu dem Ergebnis, dass gerade das Medium ‚Brief‘ dem Autor ermögliche, das an ihn ergangene Offenbarungswissen in die Kontingenz von Raum und Zeit eingehen zu lassen und dem intendierten Adressatenkreis auf diese Weise zugänglich zu machen. Das siebte Kapitel beinhaltet Beiträge, die „Ziele brieflicher Kommunikation im Frühen Christentum und bei den Kirchenvätern“ in den Blick nehmen. So geht Eva Baumkamp in ihrem Beitrag „Zur Funktion von Briefen in innergemeindlichen Auseinandersetzungen. Ein Hilfsgesuch spanischer Bischöfe an die nordafrikanische Kirche Mitte des dritten Jahrhunderts“ (S. 359‒379) am Beispiel des Briefkorpus des karthagischen Bischofs Cyprian der Frage nach, welche Aufgaben Briefe in innergemeindlichen Streitigkeiten haben konnten. Ausgehend von der Analyse von Cyprians Brief 67 unterscheidet sie drei Ebenen, auf denen Schreiben ein Argument sein konnten. Hierzu zählen zunächst Argumentationsstrategien innerhalb des Schreibens, etwa die Nennung bestimmter Bibelstellen; darüber hinaus konnte auch der einzelne Brief Argument sein, indem er eine Person beispielsweise durch Namensnennung als Teil der christlichen Gemeinschaft erweisen konnte. Als dritte Argumentationsebene schließlich sieht sie die Zusammenstellung von Briefen zu einem Corpus, das – im Falle Cyprians – anhand einzelner Facetten das Gesamtbild eines guten Bischofs entwirft. Anschließend analysiert Marie Revellio in ihrem Beitrag „Das Zusammenspiel von Adressatencharakteristiken und Literaturzitaten. Eine Analyse identitätsstiftender Kommunikationsstrategien in den Briefen des Hieronymus“ (S. 381‒405) die Verwendung von Zitaten aus der Aeneis in diesen. Dabei konstatiert sie zunächst, dass Hieronymus ein reichsweites kommunikatives Netzwerk aufgebaut habe, dem insbesondere Mitglieder der Oberschicht angehörten. Dieses habe er genutzt, um seine Autorität im Bereich des Bibelwissens zu untermauern und sich selbst und als exegetisch-asketischen Mentor zu positionieren. Durch eine detaillierte Untersuchung der Zitierpraxis innerhalb der Schreiben kann sie aufzeigen, inwiefern Hieronymus hierbei gezielt Aeneiszitate einsetzte: Die Verwendung entsprechender Zitate hänge nicht von Briefthemen, sondern von den jeweiligen Adressatinnen und Adressaten ab. Indem Hieronymus mittels des Einflechtens von Versen und Versteilen aus der Aeneis auf einen reichsweit gültigen Literaturkanon rekurriere, konstruiere er eine textuelle christliche Gemeinschaft und biete sich selbst als kompetenten Gesprächspartner an.
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Zu Beginn des achten Kapitels mit dem Titel „Aspekte des spätantiken Briefs zwischen Bildungsdiskursen und Vergangenheitsbezug“ untersucht Christian Fron unter der Überschrift „Der Schüler als Spiegelbild und Kommunikationsgegenstand. Kommunikationsstrategien bei der Korrespondenz von Libanios mit Eltern, Familienangehörigen und Fürsprechern in Entwicklungsberichten hinsichtlich seiner μαθηταί“ (S. 409‒428) Entwicklungsberichte und Empfehlungsschreiben des im Titel genannten Rhetors. Besonders interessieren ihn dabei die Gewichtung von wiederkehrenden Themenbereichen unter Berücksichtigung der Situation, dass sich hier Adressat und Adressant über eine beiden bekannte dritte Person, den Schüler, austauschen. Wie Fron bei der Analyse von Libanios’ Antwortschreiben auf Empfehlungsschreiben, die neue Schüler mitbringen, feststellt, betont der Rhetor in der Regel die Zusammenarbeit von Vater und Lehrer bei dessen Bildung: Der erstgenannte sei für dessen gute Anlagen verantwortlich, der letztgenannte für die Verfeinerung dieser Anlagen durch die rhetorische Ausbildung. Unterschiede bestehen nach Fron jedoch darin, dass bei vorheriger Bekanntschaft von Vater und Lehrer die Wichtigkeit der Verbindung hervorgehoben wird, während er diese als nebensächlich bewertet, falls sie zuvor nicht existierte. Die Funktion, die Vergangenheitsbezüge im Briefwerk des Symmachus haben, erläutert dann Tabea L. Meurer in ihrem mit „In scribendo formam vetustatis amplector. Vergangenheitsbezüge als Strategie kommunikativer In- und Exklusion in der Korrespondenz des Q. Aurelius Symmachus“ überschriebenen Beitrag (S. 429‒450). Derartige Referenzen dienen dabei vor allem der Selbstverortung des Adressanten und als Mittel sowohl der Integration als auch der Distinktion, beispielsweise gegenüber hohen Militärs nichtrömischer Abstammung. Auf diese Weise entwirft Symmachus seine eigene Identität im Rahmen eines dynamischen Aushandlungsprozesses, was eine flexible Positionierung der eigenen Person innerhalb der heterogenen Eliten ermöglichte. Das neunte und letzte Kapitel des Sammelbandes gilt „Formen und Funktionen von Briefkommunikation im poströmischen Gallien“. In seinem ersten Beitrag porträtiert Gernot Michael Müller unter dem Titel „Faustus von Riez im Gespräch mit Ruricius von Limoges. Zur epistolaren Modellierung einer asketischen Lehrer-Schüler-Beziehung im poströmischen Gallien“ (S. 453‒496) die Kommunikationsbeziehung zwischen den beiden dort genannten Briefpartnern. Dabei zeigt er zunächst auf, mit welchen Strategien sich Ruricius von Limoges seinen Adressaten als Begleiter und Lehrer auf dem Weg zu einer asketischen Lebensweise zu gewinnen trachtet, ohne sein Selbstverständnis als Vertreter der gallorömischen Bildungselite dabei preiszugeben. Im Anschluss daran arbeitet er zum einen heraus, wie Faustus die von ihm erwartete Rolle aufgreift
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und in der Briefkommunikation mit Ruricius umsetzt, sowie zum anderen, dass er diese nach dem Aufstieg seines Briefpartners zum Bischof von Limoges gekonnt der damit gewonnenen Gleichrangigkeit ihres Verhältnisses anpasst. Ein abschließender Ausblick legt nicht nur die Bedeutung der fünf Faustus-Briefe an Ruricius für dessen postumes Gedächtnis als prominentes Beispiel einer Konversion zur vita religiosa aus dem Kreis der gallorömischen Bildungselite dar, sondern deutet auch an, dass dessen weitgehende Auslagerung auf die fünf Schreiben des Faustus in der Überlieferung der Ruricius-Korrespondenz selbst den Freiraum eröffnet hat, eine komplementäre Entwicklung ihres Autors zu erinnern, nämlich jene, infolge seiner Konversion ebenso wie Faustus zum Lehrer und Ratgeber der asketischen Lebensweise geworden zu sein. Im letzten Beitrag des Sammelbandes mit dem Titel „Der Bischof als Rhetor, oder: Wie reagiert man auf ‚rufschädigende Gerüchte‘? Zu Alc. Avit. epist. 57P“ (S. 497‒517) analysiert Johanna Schenk ein Schreiben des Bischofs Avitus von Vienne und zeigt anhand von dessen Umgang mit einem indirekten Vorwurf mangelnder Bildung auf, inwiefern Briefe zur Selbstvergewisserung der Briefpartner verwendet werden konnten. Nach einer kurzen Darstellung der relevanten historischen Hintergründe arbeitet sie detailliert die Strategien heraus, die der Autor hierbei einsetzt. Dazu zählt vor allem die Inszenierung von Adressat und Adressant als Mitglieder einer hochgebildeten Elite, etwa durch die Diskussion über Literatur und korrekten Sprachgebrauch und die sorgsame stilistische Gestaltung des Schreibens. Insbesondere vor dem Hintergrund des zunehmenden Einflusses von Nichtrömern in Gallien im 5./6. Jh. kommt diesem Vorgehen große Bedeutung zu, da gerade Bildung als Ausweis von Adel und Romanitas galt.
IV Die Eichstätter Tagung vom Juni 2016 und der aus ihr hervorgegangene Sammelband hätten ohne die Unterstützung vieler nicht realisiert werden können. Sie sollen hier abschließend dankend Erwähnung finden. Ein Dank geht an die an die Sekretärin der Eichstätter Klassischen Philologie Karin Strobl und die Hilfskräfte Anne Fleischmann, Markus Schinkel und Dennis Will für die tatkräftige Unterstützung bei Organisation und Durchführung der Tagung. Für deren großzügige Finanzierung sei der Pädagogischen Stiftung Cassianeum und der Forschungsförderung der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt gedankt.
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Für die Aufnahme des vorliegenden Bandes in die Reihe „Beiträge zur Altertumskunde“ gilt herzlicher Dank deren Herausgebern, vor allem Michael Erler. Für Lektorat und Einrichtung der Beiträge haben Herausgeberinnen und Herausgeber vor allem der Hilfskraft Bastian Wagner zu danken. Er, Julia Müller und Johannes Wilhelm haben sich sodann der beschwerlichen Arbeit der Registererstellung unterzogen. Schließlich sei ebenso herzlich dem Verlag Walter de Gruyter, namentlich Herrn Dr. Mirko Vonderstein und Herrn André Horn, für die hervorragende Zusammenarbeit und die professionelle Betreuung des Projekts gedankt. Eichstätt, im Juni 2019 Gernot Michael Müller, Sabine Retsch und Johanna Schenk
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| I. Philosophie und Wissensvermittlung im antiken Brief
Jan Erik Heßler
ἄφθαρτός μοι περιπάτει καὶ ἡμᾶς ἀφθάρτους διανοοῦ Korrespondenz unter gottgleichen Freunden und Lehrbriefe in der Schule Epikurs
1 Vorbemerkung In meinem Beitrag möchte ich Motive, Strategien und Formen der brieflichen Kommunikation in der Schule Epikurs vorstellen. Vor einer Besprechung ausgewählter Texte möchte ich auf einige Aspekte eingehen, die für deren Bewertung wichtig sind: 1. Zunächst sollte man erwähnen, dass sich die Epikureer in erster Linie als Gemeinschaft von Freunden verstanden. Daher wird auch in den Lehrschriften und Spruchsammlungen häufig der Wert der Freundschaft betont, etwa in den Κύριαι δόξαι: ὧν ἡ σοφία παρασκευάζεται εἰς τὴν τοῦ ὅλου βίου μακαριότητα πολὺ μέγιστόν ἐστιν ἡ τῆς φιλίας κτῆσις. Von allem, was die Weisheit zur Glückseligkeit des ganzen Lebens bereithält, ist weitaus das Größte die Erwerbung der Freundschaft.1 ἡ αὐτὴ γνώμη θαρρεῖν τε ἐποίησεν ὑπὲρ τοῦ μηθὲν αἰώνιον εἶναι δεινὸν μηδὲ πολυχρόνιον καὶ τὴν ἐν αὐτοῖς τοῖς ὡρισμένοις ἀσφάλειαν φιλίας μάλιστα κατεῖδε συντελουμένην. Dieselbe Erkenntnis, die uns die Zuversicht gibt, dass nichts Schreckliches ewig ist oder lange währt, lässt uns auch begreifen, dass gegenüber diesen begrenzten Übeln die von der Freundschaft gewährte Sicherheit die vollkommenste ist.2
|| Ich möchte mich an dieser Stelle ganz herzlich bei den VeranstalterInnen der schönen und ertragreichen Tagung bedanken für die Mühen der Organisation sowie die Betreuung des zugehörigen Sammelbands. Außerdem geht mein Dank an meinen Kollegen Vincenzo Damiani für Hinweise und Rückmeldungen zu diesem Beitrag. 1 KD 27, Übers. Essler. 2 KD 28, Übers. Essler.
https://doi.org/10.1515/9783110676303-002
28 | Jan Erik Heßler
Die hier und in anderen Texten beschriebene Haltung bestimmt den Umgang der Schulmitglieder untereinander, und auch deren Korrespondenz.3 2.
3.
Die Epikureer sind eine Kultgemeinschaft, die Elemente aus dem Herrscherkult, dem Götterkult, dem Heroenkult und dem Totenkult erkennen lässt.4 Norman DeWitt sieht die epikureische Philosophie gar als eine Art Nebenprodukt des prioritären Kults.5 Epikur und seine Anhänger bilden natürlich eine Philosophengemeinschaft.6
Sehen wir nun, wie diese Elemente zusammenwirken: Epikur und seine Anhänger verstehen ihre Philosophie, wie die Texte zeigen, vornehmlich als Lehre von der Natur (φυσιολογία). Daher widmet auch der Schulgründer sein Hauptwerk in 37 Büchern, Über die Natur (Περὶ φύσεως), diesem Gebiet.7 Die gesamte epikureische Ethik basiert, wie Epikur und seine Schüler stets betonen, auf naturphilosophischen Erkenntnissen – auch wenn jüngere Studien bezweifeln, dass in den Lehrschriften zu zentralen Fragen eine konkrete Verbindung von Ethik und Physik geboten wurde.8 In der Zeit nach Lukrez’ De rerum natura wurde epikureische Lehre vor allem im Bereich der Ethik rezipiert,9 wie etwa Schriften Ciceros oder Senecas zeigen.10 Innerhalb der Ethik von besonderer Bedeutung sind die Aussagen zur Haltung des epikureischen Weisen im Gegensatz zu den πολλοί, der Masse.11 Beachtet ein Schulanhänger alle Regeln, verheißt Epikur am Ende des Briefs an Menoikeus Folgendes: ταῦτα οὖν καὶ τὰ τούτοις συγγενῆ μελέτα πρὸς σεαυτὸν ἡμέρας καὶ νυκτὸς πρός ‹τε› τὸν ὅμοιον σεαυτῷ, καὶ οὐδέποτε οὔθ’ ὕπαρ οὔτ’ ὄναρ διαταραχθήσῃ· ζήσῃ δὲ ὡς θεὸς ἐν ἀνθρώποις. οὐθὲν γὰρ ἔοικε θνητῷ ζῴῳ ζῶν ἄνθρωπος ἐν ἀθανάτοις ἀγαθοῖς.
|| 3 Zur epikureischen Freundschaft und weiteren Textpassagen vgl. O’Connor (1989); Essler (2013); zum Begriff φίλοι im Kepos vgl. auch Clay (2009) 15f. 4 Vgl. Capasso (1987) 25–37; Clay (1998a); Clay (1998b); Clay (2009); zuletzt Heßler (2018). 5 DeWitt (1936) 205. 6 Vgl. aber Clay (2009) 26: „Epicurus’ Garden was not a school [...], there was no scientific or historical research conducted in Epicurus’ Garden“; einführend zur epikureischen Gemeinschaft vgl. Erler (1994) 205–215; Clay (2009). 7 Für eine Einführung vgl. Arrighetti (2013) 325–334. 8 Vgl. Heßler (2014) 286f. m. Anm. 229; 311–314 mit weiterer Literatur. 9 Eine Ausnahme stellt etwa das Werk Περὶ φύσεως des Bischofs Dionysios von Alexandria dar († 264 n. Chr.), wozu jetzt Fleischer (2016). 10 Vgl. Vicol (1945); Hermes (1951); Freise (1989); Jones (1989). 11 Vgl. Heßler (2014) 294–333.
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Befasse Dich also mit diesen Dingen und dem, was mit ihnen zusammenhängt, Tag und Nacht, mit Blick auf Dich selbst und Deinesgleichen; und niemals, nicht im Wachen und nicht im Traum, wirst Du in Verwirrung geraten – Du wirst leben als eine Art Gott unter Menschen. Denn in keiner Hinsicht gleicht einem sterblichen Wesen ein Mensch, der umgeben von unsterblichen Gütern lebt.12
Der Weise lebt in Ataraxie, dem Inbegriff von Lust, und auch körperlicher Schmerz kann ihm nichts anhaben. Epikur selbst soll dies bis zum eigenen Tod gelungen sein, wie ein Brief an Idomeneus zeigt: τὴν μακαρίαν ἄγοντες καὶ ἅμα τελευτῶντες ἡμέραν τοῦ βίου ἐγράφομεν ὑμῖν ταυτί· στραγγουρικά τε παρηκολούθει καὶ δυσεντερικὰ πάθη ὑπερβολὴν οὐκ ἀπολείποντα τοῦ ἐν ἑαυτοῖς μεγέθους· ἀντιπαρετάττετο δὲ πᾶσι τούτοις τὸ κατὰ ψυχὴν χαῖρον ἐπὶ τῇ τῶν γεγονότων ἡμῖν διαλογισμῶν μνήμῃ. Als ich den glücklichen Tag verbrachte und gleichzeitig den letzten meines Lebens, schrieb ich Dir diesen Brief: Die Schmerzen in Blase und Eingeweiden sind so stark, dass sie größer nicht sein können. All dem stellte sich entgegen die Freude in der Seele über die Erinnerung an die Gespräche, die wir in der Vergangenheit hatten.13
Sein Leben nach den eigenen Prinzipien hat zur Folge, dass Epikur bereits zu Lebzeiten göttliche Verehrung genießt, etwa durch Proskynese, worauf wir noch zurückkommen werden. In seinem Testament sorgt Epikur für seine Schüler vor und bestimmt ebenso die Einrichtung von Gedenkfeiern für sich, Verwandte und prominente Schüler, ebenfalls ein Zeichen freundschaftlicher Zuneigung.14 Die Gemeinde trifft sich zu bestimmten Feiertagen, isst gemeinsam und gedenkt der vorbildlichen Verstorbenen. Man fügt sich also in die Landschaft der vielen Kultgemeinschaften des hellenistischen Athens ein.15 Der Weise als eine Art Gott auf Erden kann, auch nach seinem Tod, als Modell dienen, das die Schulanhänger verehren und nachahmen, um die Art von Glückseligkeit zu erreichen, zu der nur ein epikureischer Weiser fähig ist. Die ὁμοίωσις θεῷ Platons wird bei Epikur gleichsam ent-transzendiert zu einer ὁμοίωσις σοφῷ.16 Der Respekt gegenüber dem Schulgründer, der auf dieser Vorstellung basiert,
|| 12 Epikur, Brief an Menoikeus 135,2f. Diese und die folgenden Übersetzungen stammen vom Verfasser. 13 Epikur, Brief an Idomeneus oder Epistula superorum dierum: Diogenes Laertius 10,22 = Epic. Epist. Fr. 52 2Arrighetti = Fr. 138 Usener. 14 Zum Testament Epikurs vgl. D.L. 10,16–20. 15 Vgl. Heßler (2018). 16 Heßler (2014) 116 und 327–333 mit Passagen aus Platon, Xenophon, Aristoteles und weiterer Literatur; vgl. vor allem Erler (2002).
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zeigt sich aber nicht nur durch Ehrbezeugungen, sondern auch am Umgang der Schulgemeinschaft mit Texten. Die Epikureer verfassen Biographien über die gottgleichen Männer17 und die Schriften der Meister werden konserviert: Erstellt werden Zusammenfassungen und Sammlungen der Briefe, etwa durch Philonides im 2. Jh. v. Chr.18 Zahlreiche Zitate und Exzerpte sind bis heute erhalten in Papyri aus Herculaneum oder in der Monumentalinschrift des Diogenes von Oinoanda.19 Die Worte des Meisters werden memoriert, damit sie durch beständige Wiederholung und Einübung zur Glückseligkeit verhelfen.20 Epikur gilt nicht nur als gottgleiches Vorbild, sondern wird auch mit der Wahrheit identifiziert. Da der Schulgründer als Heilsbringer verstanden wird, ist es wichtig, dass seine therapeutischen Worte jederzeit und überall verfügbar sind und keinen Veränderungen unterliegen. Folglich müssen die Schriften des σωτήρ, des Retters, bewahrt werden wie heilige Schriften.21 Angesichts der Stellung Epikurs und der Bedeutung seiner Texte sprach und spricht man von absoluter Autorität des Meisters und Orthodoxie innerhalb der Schule.22 In diesen Kontext eingebettet sind die Briefe, über die ich im Folgenden handeln möchte.
2 Privatbriefe Von den Privatbriefen Epikurs sind ca. 150 Fragmente unterschiedlicher Länge erhalten.23 Teilen lassen sie sich in zwei Klassen, Briefe rein privaten Inhalts und solche, die epikureische Lehre enthalten – wobei eine strenge Trennung schwierig ist.24 Wie wir bereits erwähnten, verstanden sich die Schüler Epikurs
|| 17 Vgl. Erler (1994) 75–120; Erbì (2016) 79. 18 Angeli (1986); zu Philonides jetzt Koch Piettre (2010). 19 Zur Lehre Epikurs in den herculanischen Papyri vgl. Leone (2000); vgl. die Einleitungen und Texte in Angeli (1988a) zu PHerc. 1005; Capasso (1988) zu PHerc. 1027; Tepedino Guerra (1994) zu PHerc. 1232 und 1289β; Militello (1997) zu PHerc. 1418 und 310; Gallo (2002) zu PHerc. 1044. Zu Diogenes von Oinoanda vgl. Gordon (1996). 20 Erler (1998). 21 Vgl. Angeli (1986); Capasso (1987) 39–57; Erler (1993). 22 Vgl. aber Erler (1992a); Erler (1992b). 23 Der Großteil der Texte gesammelt als Frr. 40–133 2Arrighetti; vgl. Angeli (1993); Erler (1994) 103–118; Tepedino Guerra (2010); Arrighetti (2013) 317–322; Erbì (2016) 75f. Zur Chronologie der Briefe vgl. Erbì (2016) 76f. 24 Die Fragestellung, wann ein Brief ‚Privatbrief‘ und wann ‚Kunstbrief‘ ist, und ob nicht in der Antike alle Briefe zur Veröffentlichung bestimmt oder zumindest bis zu einem gewissen
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in erster Linie als Freunde, was sich auch in der Korrespondenz niederschlägt, wie die vertraute Anrede an Leontion zeigt25 oder die Briefe an die Freunde, an die Freunde in Lampsakos und an die Freunde in Kleinasien.26 Bereits äußerlich zeigt sich also die Verbundenheit von Schülern und Meister. Wenn wir uns dem Inhalt einiger Texte zuwenden, ist ein Begriff von besonderer Bedeutung, der uns bereits im Brief an Idomeneus begegnete, nämlich διαλογισμός (s. S. 29). Dieser Terminus steht für die Gespräche zwischen den befreundeten Philosophen:27 Die Erinnerung an diese und die hierüber empfundene Lust kann, wie im Falle Epikurs, sogar über Krankheit und Schmerz hinweghelfen. Doch διαλογισμός wird im Kepos nicht nur im Sinne von ‚Gespräch‘ benutzt: im Proömium des Briefes an Pythokles, mit dem wir uns später noch beschäftigen werden (s. S. 38‒40), ist zweimal von διαλογισμoί die Rede. Beim ersten Mal versucht Pythokles in einem Brief, die Diskussionen ins Gedächtnis zu rufen, beim zweiten Mal bittet er Epikur, einen διαλογισμός zu schicken: Das Wort wird also auch im Sinne von ‚Abhandlung‘ verwendet. Dies zeigt uns einen wichtigen Aspekt (nicht nur) epikureischer Briefliteratur: Ein Brief wird verstanden als Dialog beziehungsweise Dialogersatz zwischen Freunden der Philosophengemeinschaft, die weit voneinander entfernt sein können – denken wir etwa an die Schule in Lampsakos.28 Kurz darauf (s. S. 36) spricht Epikur von διαλογίσματα, was man verstehen kann als Ergebnisse des Schuldialogs: Ist die Möglichkeit eines Gesprächs nicht gegeben, tut es auch ein διαλογισμός in Briefform29 – wie es im Brief an Pythokles heißt, kurzgefasst und präzise.30 Was dies für die Briefe in Traktatform bedeutet, sehen wir im nächsten Teil des Beitrags. Halten wir zunächst fest, dass die Briefkultur der Epikureer genau die Forderung erfüllt, die auf Artemon, den Herausgeber der Briefe des Aristoteles, zu-
|| Grad literarisiert sind, war von Beginn der Tagung an eines der Hauptthemen der Diskussionen. Bei Epikur scheint eine Trennung in ‚Brieffragmente‘ und ‚Lehrbriefe‘/‚Briefepitomai‘ (An Herodot, Pythokles und Menoikeus) am wenigsten problematisch. 25 Diogenes Laertius 10,5 = Epic. Epist. Fr. 71 2Arrighetti = Fr. 143 Usener: παιὰν ἄναξ, φίλον Λεοντάριον, οἵου κροτοθορύβου ἡμᾶς ἐνέπλησας ἀναγνόντας σου τὸν ἐπιστόλιον. – „Beim Herrn Apoll, liebe kleine Leontion, mit wie lautem Beifall hast Du mich erfüllt, als ich Dein Briefchen gelesen habe!“. 26 Briefe an die Freunde: Epic. Epist. Fr. 99 2Arrighetti = Fr. 185 Usener; Briefe an die Freunde in Lampsakos: Epic. Epist. Fr. 96 2Arrighetti = Fr. 108 Usener; Briefe an die Freunde in Kleinasien: Epic. Epist. 98 2Arrighetti = Fr. 106f. Usener. 27 Vgl. Indelli/Tsouna-McKirahan (1995) 154f. 28 Vgl. Angeli (1988b). 29 Vgl. De Sanctis (2011) 230; De Sanctis (2012) 98; Erbì (2016) 77. 30 Vgl. zu diesen Passagen De Sanctis (2011) 217–219.
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rückgeht: Ein Brief ist die eine Hälfte eines Dialogs.31 Diese Auffassung wird bereits von Epikur durch einen Terminus festgehalten, διαλογισμός. Die Briefe erfüllen also zunächst den Zweck, Adressaten und Adressanten im freundschaftlichen ‚Ferngespräch‘ zu vereinen und so die Philosophengemeinschaft am Leben zu erhalten.32 Dass das Verhältnis vertraut ist, zeigt bereits der Idomeneusbrief (s. S. 29): Epikur schildert seine Schmerzen in Blase und Eingeweiden, was ein gewisses Näheverhältnis voraussetzt. Anschließend macht er Vorgaben zur Versorgung der Kinder seines verstorbenen Schülers Metrodor. Beide Themen, Krankheit und Sorge um den Nachwuchs, finden wir auch in einem Brief an Mithres.33 Idomeneus ist ein häufig erwähnter Schüler, der mit Batis verheiratet war, der Schwester des eben erwähnten Metrodor.34 Er ist uns auch aus weiteren Briefen bekannt, so spricht Seneca von dem Brief:
|| 31 Ps.-Demetrios, Über den Stil 223f.: Ἀρτέμων μὲν οὖν ὁ τὰς Ἀριστοτέλους ἀναγράψας ἐπιστολάς φησιν, ὅτι δεῖ ἐν τῷ αὐτῷ τρόπῳ διάλογόν τε γράφειν καὶ ἐπιστολάς· εἶναι γὰρ τὴν ἐπιστολὴν οἷον τὸ ἕτερον μέρος τοῦ διαλόγου. καὶ λέγει μέν τι ἴσως, οὐ μὴν ἅπαν· δεῖ γὰρ ὑποκατεσκευάσθαι πως μᾶλλον τοῦ διαλόγου τὴν ἐπιστολήν· ὁ μὲν γὰρ μιμεῖται αὐτοσχεδιάζοντα, ἡ δὲ γράφεται καὶ δῶρον πέμπεται τρόπον τινά. – „Artemon, der Herausgeber der Briefe des Aristoteles, sagt, dass man einen Brief in derselben Weise schreiben soll wie einen Dialog. Denn ein Brief sei quasi der eine von zwei Teilen eines Dialogs. Teilweise hat er vielleicht recht, doch nicht ganz: Denn ein Brief muss etwas mehr geschliffen sein als ein Dialog, denn letzterer ahmt einen Stegreifredner nach, ersterer wird schriftlich abgefasst und als eine Art Geschenk geschickt“. 32 Vgl. Erbì (2016) 87. 33 PHerc. 1418, col. 31, 4–19 Militello = Epic. Epist. Fr. 78 2Arrighetti = Fr. 177 Usener: „ἑβδόμη‹ι› γὰρ ἡμέραι“ – φησίν – „ὅτε ταῦτ’ ἔγραφον, οὐχὶ [ἀποκεχ]˹ώ˺[ρη]˹κε˺ν κα[τὰ τὴν] οὔρησιν [ἐμ]οὶ οὐθέν καὶ ἀλγηδόνες ἐνῆ[σα]ν τῶν ἐπὶ τὴν τελευταίαν ἡμέραν ἀγουσῶν. σὺ οὖν, ἄν τι γένηται, τὰ παιδία τὰ Μητροδώρου διοίκησον τέτταρα ἢ πέντ’ ἔτη μηθὲν πλεῖον δαπανῶν ἤπερ νῦν εἰ[ς ἐ]μὲ δαπανᾶ‹ι›ς κατ’ ἐνιαυτόν“. καὶ προβάς· „ὑπὲρ τῶν υἱῶν οἶδα καὶ Αἰγέα καὶ Διόδωρον καὶ τῆς σῆς φρενὸς ὄντας, [καὶ οὐ]κ ἀρέσκευμα μ[ό]νον (weiter in der Ausgabe Arrighetti: ποι[ουμέν]ο[υς] [ἐ]π’ αὐ[τῶν, ὡ]ς [ἐ]π[ὶ τοῦτων γε] πρέ[π]‹ει, ἀ›[λλὰ] καὶ [ἐπ]ιλύ‹πω›[ς ἐσχη]κό̣[τας] πρὸς τ[ὴν ἐκείνου τελευτή]ν). – „‚Das ist der siebte Tagʻ, sagt er, ‚an dem ich dies schreibe, daß meine Blase den Dienst verweigert, und ich habe Schmerzen von der Sorte, wie sie zum letzten Tag führen. Du also, wenn etwas passiert, übernimm die Verwaltung für Metrodors Kinder für vier oder fünf Jahre, ohne mehr auszugeben, als Du jetzt jährlich für mich ausgibstʻ. Und weiter: ‚Über diese Söhne weiß ich, dass auch Aigeus und Diodor dieselben Gefühle haben wie Du, und nicht nur ihnen gegenüber wohlwollend sind, wie es sich ihnen gegenüber gehört, sondern auch voller Trauer sind über seinen Todʻ“. Zu beiden Texten zuletzt Erbì (2016) 88–90. 34 Alle Passagen zu Idomeneus mit Erläuterungen bei Angeli (1981); vgl. auch Erler (1994) 244–246.
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[…], Idomeneo quae inscribitur, quem rogat, ut quantum potest fugiat et properet, antequam aliqua vis maior interveniat et auferat libertatem recedendi. […], der an Idomeneus adressiert ist, den er bittet, soweit er kann zu fliehen und zu eilen, bevor eine größere Macht eingreift und die Möglichkeit des Rückzugs nimmt.35
Epikur rät hier seinem Freund und Schüler, in einer konkreten Gefahrensituation die Flucht zu ergreifen und ergänzt noch einige allgemeine Ratschläge.36 Dieser Brief lässt sich also am ehesten in die Kategorien „symbouleutischer Brief“ oder „paränetischer Brief“ bei Pseudo-Libanios einordnen.37 Briefe privaten Inhalts bzw. in konkreten Situationen haben wir also kennengelernt – in manche Briefe legt Epikur auch allgemein gehaltene Aussagen zu seiner Lehre ein, etwa in einem Brief an Anaxarch: ἐν τῇ πρὸς Ἀνάξαρχον ἐπιστολῇ ταυτὶ γέγραφεν (Ἐπίκουρος)· ἐγὼ δ’ ἐφ’ ἡδονὰς συνεχεῖς παρακαλῶ καὶ οὐκ ἐπ’ ἀρετάς, κενὰς καὶ ματαίας καὶ ταραχώδεις ἐχούσας τῶν καρπῶν τὰς ἐλπίδας. Im Brief an Anaxarch schrieb er folgendes: Ich lade ein zu permanenten Lustempfindungen und nicht zu Tugenden, die führen zu unbegründeten und törichten und verwirrenden Hoffnungen auf Belohnung.38
Die Verbindung der beiden Ebenen privat/Lehre zeigt schön Epikurs Brief an seine Mutter, in der er ihre Sorgen um den Sohn zu lindern versucht:39 αἱ μὲν [γὰρ φαντασίαι] τῶν ἀπόν[των ἀπὸ τῆς ὄψ]εως ἐπι[οῦσαι τῇ ψυχῇ] τ̣ ὸν μέ[γιστον τάραχο]ν παρέ[χουσιν. ἂν δὲ τὸ ὅ]λ̣ον [πρᾶγμα ἀκρειβῶ]ς διαθε[ᾷ, μαθήσει ὅτι ἀν]τικρὺς ε̣ ἰ̣ σι τοιαῦται καὶ μὴ παρόντων οἷαι καὶ παρόν̣ των. […] π̣ρὸς οὖν ταῦτα, ὦ μῆτερ, [θάρρει· μ]ὴ̣ γὰρ ἐπιλ[ογίσῃ τ]ὰ̣ φάζματα ἡμ[ῶν κακά]. τ̣ ίθει δ’ αὐτ[ὰ ὁρῶσα] καθ’ ἡμέρα[ν ἀγαθ]όν τι ἡμᾶς π[ροσκ]τ̣ ωμένους εἰς [τὸ μακρ]οτέρω τῆς ε[ὐδαιμ]‹ο›νίας προβαίν[ειν. ο]ὐ̣ γὰρ μεικρὰ οὐδέ[ν τ’ ἀνύ]τοντα περιγείνεται ἡ[μ]ε̣ ῖ̣ ›ν τάδ’ οἷα τὴν διάθ̣ ε̣ σ̣ιν̣ ἡμῶν ἰσόθεον ποιεῖ καὶ οὐδὲ διὰ τὴν θνητότητα τῆς ἀφθάρτου καὶ μακαρίας φύσεως λειπομένους ἡμᾶς δείκνυσιν. ὅτε μὲν γὰρ ζῶμεν, ὁμοίως τοῖς θεοῖς χαίρο̣ μ̣εν […]. Die Bilder von Abwesenden außer Sichtweite, die in die Seele eindringen, verursachen größte Verstörung. Doch wenn Du die ganze Sache genau betrachtest, wirst Du lernen, dass die (Bilder) von Abwesenden exakt so sind wie die von Anwesenden. […] Mit Blick darauf, Mutter, sei also zuversichtlich: Bewerte die Bilder von uns nicht als schlecht. Den-
|| 35 Seneca, Epistulae morales 22,5 = Epic. Epist. Fr. 56 2Arrighetti = Fr. 133 Usener. 36 Vgl. Erbì (2016) 81f. 37 Epist. Charact. p. 15,5-17 Weichert. 38 Plutarch, Adversus Colotem 1117a = Epic. Epist. Fr. 42 2Arrighetti = Fr. 116 Usener. 39 Literatur bei De Sanctis (2012) 97, Anm. 14.
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ke, wenn Du sie siehst, dass wir jeden Tag etwas Gutes hinzuerwerben und so vorankommen, zu einer höheren Stufe der Glückseligkeit. Für uns sind die Dinge – keine unwichtigen und wirkungslosen – ein Gewinn, die unsere Natur gottgleich machen und zeigen, dass wir nicht einmal durch unsere Sterblichkeit der unsterblichen und glückseligen Natur unterlegen sind. Während wir leben, freuen wir uns genauso wie die Götter [...].40
Dann folgt eine Lücke. Am Ende heißt es: μετὰ δὴ τοιούτων ἡμᾶς ἀγαθῶν προσδόκα, μῆτερ, χαίροντας αἰεὶ καὶ ἔπαιρε σεαυτὴν ἐφ’ οἷς π̣ράττομεν. τῶν μέ[ν]τοι χορηγιῶν φείδου, πρὸς Διός, ὧν συνεχῶς ἡμεῖν ἀποστέλλεις. Geh also davon aus, Mutter, dass wir immer froh sind inmitten solcher Güter, und sei stolz angesichts der Dinge, die wir tun. Doch spar Dir, bei Zeus, die Hilfszahlungen, die Du mir ständig schickst.41
Hier finden wir also zum einen die private Ebene: „mir geht es gut“, „ich brauche kein Geld“. Zum anderen integriert Epikur Lehrelemente, nämlich Aussagen zu den φαντασίαι. Diese dienen dazu, didaktisch-wissenschaftlich zu argumentieren, dass die Sorgen um den Sohn unbegründet sind. Mit diesem Brief sind wir auch bei einem Thema angelangt, das bereits im Titel dieses Beitrags erwähnt wird, „gottgleiche Freunde“: Dass die Epikureer ein Leben wie Gott auf Erden führen können, sahen wir bereits im Menoikeusbrief (s. S. 29), und auch in weiteren Briefen äußert sich Epikur ähnlich.42 Das häufige Rekurrieren auf die εὐδαιμονία des epikureischen Philosophen, die an diejenige der Götter heranreicht, kann im Brief an die Mutter, im Rahmen der Ausführungen zur φαντασία, begründen, dass die konkrete Adressatin sich keine Sorgen machen muss. Liest jemand anderem solche Briefe vor, haben sie eine protreptische Funktion: Der Leser bzw. implizite Adressat soll den Weg der epikureischen
|| 40 Diogenes von Oinoanda Fr. 125, coll. 1–4 Smith = Epic. Epist. Fr. 72a 2Arrighetti. 41 Diogenes von Oinoanda Fr. 126, coll. 1–2 Smith = Epic. Epist. Fr. 72b 2Arrighetti. 42 Vgl. z.B. Philodem, De pietate 31,879‒895 Obbink = Epic. Epist. Fr. 114 2Arrighetti = Fr. 387 Usener: ἡμ[εῖς θεοῖς] θύωμεν» φησίν [«ὁσί]ως καὶ καλῶς οὗ [καθ]ήκει, κα[ὶ κ] καλῶ‹ς› πάντα πράττωμεν [κα]τὰ τοὺς νόμους, μ[η]θὲ[ν] ταῖς δόξαις α[ὑ]τοὺς ἐν τοῖς περὶ͙ τῶν ἀρίστων κ͙[αὶ] σεμνοτάτων διαταράττοντ`ε´[ς· ἔτι] δὲ καὶ δίκαιο[ι θύω]μεν ἀφ’ ἧς ἔλε[γον δό]ξης· οὕτω γὰρ [ἐν]δέχεται φύσ[ιν θνη]τὴν ὁμοίω[ς τῶι Διῒ] νὴ{ι} Δία ‹διά› γ͙ειν, [ὡς φαί]νεται. – „‚Lass uns den Göttern opfern‘, sagt er, ‚gottgemäß und gut, wie es sich gehört, und alles gut und nach den Gesetzen ausführen und uns nicht durch leere Meinungen verwirren bei Dingen, die mit den besten und ehrwürdigsten Wesen zu tun haben. Außerdem lass uns gerecht opfern, aus dem genannten Grund; denn so ist es möglich, dass ein sterbliches Wesen ein Leben führt wie Zeus, bei Zeus, wie es scheint‘.“
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Philosophie weitergehen bzw. beginnen, um einen ähnlichen Status zu erreichen. Im Kontext gottgleicher Philosophen dienen die Briefe offenbar einem weiteren Zweck: dem Makarismos der jeweiligen Adressaten, wie die nächsten Beispiele zeigen:43 μακαρίζω σε, ὦ Ἀπελλῆ, ὅτι καθαρὸς πάσης παιδείας ἐπὶ φιλοσοφίαν ὥρμησας. Ich preise Dich glücklich, Apelles, weil Du Dich unverdorben durch jede Form von Ausbildung auf den Weg zur Philosophie begeben hast!44 παιδείαν πᾶσαν, μακάριε, φεῦγε τἀκάτιον ἀράμενος. Setz die Segel, Glücklicher, und flieh vor jeder Form von Ausbildung.45
Eigentlich richtet sich die Bezeichnung μακάριος an Götter oder aber sie attestiert einem Menschen göttliche Gunst – diese erfahren die Briefpartner des Kepos durch Epikur. Dass er und seine Anhänger den Göttern nicht nachstehen, sahen wir bereits im Brief an die Mutter. In einem weiteren kurzen Fragment wird die Bezeichnung ἰσόθεος Epikurs Schüler Pythokles zugeschrieben: καθεδοῦμαι προσδοκῶν τὴν ἱμερτὴν καὶ ἰσόθεον εἴσοδον. Ich sitze hier und warte auf Dein reizendes und gottgleiches Eintreten.46
Das gerne angeführte, augenfälligste Beispiel für die Haltung der Epikureer, das auch im Titel dieses Beitrags zitiert wird, entstammt einem Brief Epikurs an Kolotes:47 ὡς σεβομένῳ γάρ σοι τὰ τόθ’ ὑφ’ ἡμῶν λεγόμενα προσέπεσεν ἐπιθύμημα ἀφυσιολόγητον τοῦ περιπλακῆναι ἡμῖν γονάτων ἐφαπτόμενον καὶ πάσης τῆς εἰθισμένης ἐπιλήψεως γίνεσθαι κατὰ τὰς σεβάσεις θεῶν καὶ λιτάς· ἐποίεις οὖν καὶ ἡμᾶς ἀνθιεροῦν σὲ αὐτὸν καὶ ἀντισέβεσθαι. […] ἄφθαρτός μοι περιπάτει καὶ ἡμᾶς ἀφθάρτους διανοοῦ.
|| 43 Vgl. De Sanctis (2011) 219. 44 Athenaios 588a = Epic. Epist. Fr. 43 2Arrighetti = Fr. 117 Usener. 45 Diogenes Laertius 10,6 = Epic. Epist. Fr. 89 2Arrighetti = Fr. 163 Usener. 46 Diogenes Laertius 10,5 = Epic. Epist. Fr. 88 2Arrighetti = Fr. 165 Usener; zu μακαρίζω s. auch Epic. Epist. Fr. 117 2Arrighetti = Fr. 153 Usener. 47 Zu Kolotes’ Leben und Schriften vgl. Erler (1994) 235–240 sowie die Einleitung in Kechagia (2011).
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Voller Bewunderung für das, was ich sagte, befiel Dich die physiologisch unbegründete Begierde, mich zu umarmen und mich an den Knien zu fassen und nach all den üblichen Gebärden bei der Verehrung und Anbetung von Göttern. Du hast mich dazu gebracht, Dich meinerseits zu verehren und zu bewundern. […] Also geh mir durch die Welt als Gott und betrachte mich als Gott.48
Ob dieser Text genau so verfasst wurde, wissen wir nicht. Der zugrundeliegende Tenor ist jedenfalls gut epikureisch: Epikur ist die Instanz, die den Adressaten glücklich preisen kann, hier erklärt er Kolotes gar zum ἄφθαρτος, zum Gott. Man sollte aber, auch angesichts der Formulierung περιπάτει, davon ausgehen, dass die Aussage nicht wörtlich zu nehmen ist, eher ist hier gemeint „von mir aus, dann bin ich eben ein Gott. Du als gleichwertiger Freund und fortgeschrittener Epikureer, bist dann aber auch ein Gott. Geh also so durch die Welt“. Dennoch ist der Text ein bemerkenswertes Zeugnis des Selbstverständnisses der Schulanhänger, die durch die Kenntnis der Geheimnisse der Welt zu Auserwählten und gottgleichen Wesen werden, was ihnen durch den Meister schriftlich bestätigt wird. Die privaten Briefe, die – etwa von Peter Eckstein – auch Gemeindebriefe genannt wurden,49 bieten einen Einblick in diese eingeschworene Kultgemeinschaft von Freunden. Sie enthalten Elemente der Lehre, dienen aber vor allem der Kommunikation zwischen vertrauten Personen, dem διαλογισμός. Doch man nimmt nicht nur bei den Lehrbriefen, zu denen wir gleich kommen, sondern auch bei den privaten Briefen an, dass sie von Beginn an für die Veröffentlichung bestimmt waren.50 Hierzu können wir einen Brief heranziehen, der 2011 als Teil der Oxyrhynchos-Papyri veröffentlich wurde: ἀποστεί̣ [λα]τε καὶ πρὸς̣ Λεοντέα ἵνα κ̣[ἀ]κεῖνος ἀπογράψηται̣ . καὶ τὸ ἀντίγραφον κέλευε σώζε̣ ι(ν) ἵνα καὶ οἱ λοιποὶ ἔχωμε(ν) χρῆσθαι· ἔτι δὲ γίνωσκε ὅτι τοῦ Ἐλαφηβολιῶνος ἀροῦμεν διὰ νήσων· ὥσ̣τ’ ἀπαντᾶν ἐπὶ Σάμου […] ὑπάρχει σοι καὶ παντὶ τῶ̣ι̣ ε̣ ὐ̣κ̣α̣ι̣ ροῦντι τῶ̣ν̣ τ̣ ἀ̣μ̣[ὰ δε]χ̣ο̣μένων ἅμα̣ διαθ̣ [εω]ρ̣[οῦ]ντ̣ α̣ [ἕ]καστα ὧν [ἐγὼ ἀ]π̣α̣γγέλ̣λ̣ω καὶ̣ α̣ὐτ̣ [οῖς ἄ]δ̣ηλον ὡς συλ̣λογ̣[ίζετ]α̣ι̣ . ἃ̣ς̣ [δ’] ἐπιστολὰς̣ [ἐλάβ]ε̣ τε προσ[θὲ]`ς´, [τήν] τε ἀ̣[πεστ]αλμένη̣[ν παρὰ] ἐ̣ μ̣[οῦ πρ]ὸς Μ[ιθρῆν [...]. (sc. wenn Du für Dich eine Kopie gemacht hast), schick (sc. den Text) an Leonteus, damit er sich auch eine Kopie macht. Sag ihm, er soll sie aufbewahren, damit sie auch die anderen benutzen können. Außerdem wisse, dass wir im Monat Elaphebolion aufbrechen und durch die Inseln reisen. Deshalb kannst Du und jeder, der Zeit hat von denen, die meine Lehre verfolgen, uns auf Samos treffen, um gemeinsam jeden einzelnen Gegenstand zu
|| 48 Plutarch, Adversus Colotem 1117b = Epic. Epist. Fr. 65 2Arrighetti = Fr. 141 Usener. 49 Eckstein (2004) 161. 50 Clay (2009) 18–20 mit Epic. Epist. Fr. 59 2Arrighetti; De Sanctis (2011) 220.
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betrachten, von denen, die ich lehre, und von denen ihnen nicht klar ist, wie man sie verstehen sollte. Schick die Briefe, die ihr bekommen habt, und den, den ich an Mithras geschickt habe […].51
Dann folgt eine Lücke. Zwei Aspekte sind hier wichtig: Zum einen empfiehlt der Adressant höchstwahrscheinlich dem Adressaten, den Brief, den er gerade verfasst, zu kopieren und weiterzugeben.52 Zum anderen erfolgt ein Angebot: Wenn ein Anhänger einen Text nicht verstehen sollte, kann er Epikur treffen und sich fragliche Punkte erklären lassen. Hier tritt der persönliche διαλογισμός neben den brieflichen, von dem wir vorhin gehört haben. Beide Elemente bilden eine Einheit.53 Neben diesem aufschlussreichen Dokument zeigt auch der folgende Text, den Seneca zitiert, die Haltung Epikurs zu seinen Briefen: si gloria tangeris, notiorem te epistulae meae facient quam omnia ista quae colis et propter quae coleris. Wenn Dich Ruhm reizt, werden Dich meine Briefe bekannter machen als alles, was Du in Ehren hältst und wofür Du in Ehren gehalten wirst.54
Diese selbstbewusste Aussage spricht ebenfalls dafür, dass die Briefe stets für die Veröffentlichung bestimmt waren, offenbar nicht nur für Leser innerhalb der Schulgemeinschaft. Wir können also festhalten: Die Privatbriefe sind an bestimmte Personen adressiert, zugleich aber auch für weitere Leser bestimmt, nämlich die Mitglieder der Schulgemeinschaft.55 Die Weitergabe der Texte kann den Adressanten, aber auch die Adressaten, wie im Falle der ἰσόθεοι, zu Vorbildern für die Leser werden lassen und die Botschaften des Heilsbringers verbreiten. Wie der Brief an Idomeneus zeigt, schreibt Epikur an Freunde, die auch private Informationen erhalten, etwa Details über eine Krankheit. Weitere Elemente sind Trost und Regelungen zur Sorge um Nachkommen. Zuletzt sind die Briefe durchwirkt von seiner Lehre: Der Schulgründer setzt seine Philosophie im Leben um und hat am Ende seiner Tage keine Angst vor dem Tod. Gerade der
|| 51 Epikur, Epistulae ad familiares POxy 5077 Fr. 1, col. 1 Schorn/Obbink. 52 Zur Interpretation vgl. die Kommentare von Obbink/Schorn (2011) und Angeli (2013); dort (S. 18) präsentiert Angeli auch eine modifizierte Edition des Texts; zu diesem Brief s. auch den Beitrag von Vincenzo Damiani in diesem Band. 53 Vgl. De Sanctis (2012) 104–106. 54 Seneca, Epistulae morales 21,3 = Epic. Epist. Fr. 55 2Arrighetti = Fr. 132 Usener. Zum vermeintlichen Widerspruch zwischen dem Streben nach Ruhm und der epikureischen Maxime λάθε βιώσας vgl. Roskam (2007) 49; vgl. auch Erbì (2016) 80f. 55 Vgl. Erbì (2016) 78.
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Brief an die Mutter zeigt das Nebeneinander von Privatem, Lehre und der Selbststilisierung Epikurs.
3 Lehrbriefe Diese, so könnte man sagen, Polyvalenz der privaten Briefe zeigt sich auch an den drei erhaltenen Lehrbriefen, die sich ganz anders präsentieren als die bisher besprochenen Texte: Es handelt sich um ἐπιτομαί, Zusammenfassungen,56 zwei zu komplizierten physikalischen Phänomenen, einer enthält in knapper Form die wichtigsten Inhalte der epikureischen Ethik. Elemente, die einen Brief personalisieren, sind teilweise vorhanden – wie der Beginn des Briefs an Pythokles, einer Abhandlung über Meteorologie und Astronomie, zeigt:57 ἤνεγκέ μοι Κλέων ἐπιστολὴν παρὰ σοῦ ἐν ᾗ φιλοφρονούμενός τε περὶ ἡμᾶς διετέλεις ἀξίως τῆς ἡμετέρας περὶ σεαυτὸν σπουδῆς, καὶ οὐκ ἀπιθάνως ἐπειρῶ μνημονεύειν τῶν εἰς μακάριον βίον συντεινόντων διαλογισμῶν, ἐδέου τε σεαυτῷ περὶ τῶν μετεώρων σύντομον καὶ εὐπερίγραφον διαλογισμὸν ἀποστεῖλαι, ἵνα ῥᾳδίως μνημονεύῃς· τὰ γὰρ ἐν ἄλλοις ἡμῖν γεγραμμένα δυσμνημόνευτα εἶναι, καίτοι, ὡς ἔφης, συνεχῶς αὐτὰ βαστάζεις. ἡμεῖς δὲ ἡδέως τέ σου τὴν δέησιν ἀπεδεξάμεθα καὶ ἐλπίσιν ἡδείαις συνεσχέθημεν. γράψαντες οὖν τὰ λοιπὰ πάντα συντελοῦμεν ἅπερ ἠξίωσας πολλοῖς καὶ ἄλλοις ἐσόμενα χρήσιμα τὰ διαλογίσματα ταῦτα, καὶ μάλιστα τοῖς νεωστὶ φυσιολογίας γνησίου γευομένοις καὶ τοῖς εἰς ἀσχολίας βαθυτέρας τῶν ἐγκυκλίων τινὸς ἐμπεπλεγμένοις. καλῶς δὴ αὐτὰ διάλαβε, καὶ διὰ μνήμης ἔχων ὀξέως αὐτὰ περιόδευε μετὰ τῶν λοιπῶν ὧν ἐν τῇ μικρᾷ ἐπιτομῇ πρὸς Ἡρόδοτον ἀπεστείλαμεν. Kleon brachte mir einen Brief von Dir, in dem Du weiter Dein Wohlwollen gegenüber mir zeigst, meinen Bemühungen um Dich angemessen, und Du versuchtest, nicht ohne Erfolg, an die Diskussionen zu erinnern, die auf ein glückliches Leben abzielen. Du hast mich gebeten, Dir über himmlische Phänomene eine kurzgefasste und gut geschriebene Abhandlung zu schicken, damit Du sie leicht im Gedächtnis behalten kannst; meine sonstigen Schriften sind schwer zu speichern, obwohl Du sie, wie Du sagst, ständig in der Hand hast. Ich habe Deine Anfrage mit Freude erhalten und bin von angenehmen Hoffnungen ergriffen. Nachdem ich alles Übrige geschrieben habe, werde ich also zu Ende bringen, worum Du gebeten hast. Diese Darlegungen werden für viele andere nützlich sein, und besonders für diejenigen, die erst seit kurzem von der wahren Physiologie kosten, und diejenigen, die verstrickt sind in heftigere Stressphasen des Alltags. Nimm sie also gut
|| 56 Vgl. Angeli (1986); Spinelli (2010). 57 Vgl. Erler (1994) 77–79; Tulli (2014).
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auf, präge sie Dir ein und geh sie aufmerksam durch mit dem Übrigen, was ich in der kleinen Epitome an Herodot geschickt habe.58
Epikur nimmt auf einen Brief Bezug, den Pythokles über den gemeinsamen Freund Kleon schickte. Zudem ist von einer konkreten Anfrage die Rede: Der Adressat hatte um eine Abhandlung zu Himmelserscheinungen gebeten. Dieser Bitte kommt Epikur mit Freuden nach, und erwähnt noch Pythokles’ philophrosyne und seinen Fleiß.59 Wir erkennen also eine spezifische Situation und eine Verbindung von Adressat und Adressant, nämlich die bekannte freundschaftliche Lehrer-Schüler-Beziehung. Pythokles wird anderweitig mehrfach erwähnt und begegnete uns bereits bei den Privatbriefen als ἰσόθεος.60 Zuletzt betont Epikur noch, dass dieser Text auch für andere, ob Neulinge oder Fortgeschrittene, nützlich sein dürfte.61 Der Adressatenkreis ist also nicht auf Pythokles beschränkt,62 die prägnante Betonung des Nutzens zeigt die protreptische Intention des Briefs – trotz seiner komplexen Inhalte. Zum Schluss des Briefs erläutert Epikur noch zusammenfassend, worin dieser Nutzen besteht: ταῦτα δὲ πάντα, Πυθόκλεις, μνημόνευσον· κατὰ πολύ τε γὰρ τοῦ μύθου ἐκβήσῃ καὶ τὰ ὁμογενῆ τούτοις συνορᾶν δυνήσῃ, μάλιστα δὲ σεαυτὸν ἀπόδος εἰς τὴν τῶν ἀρχῶν καὶ ἀπειρίας καὶ τῶν συγγενῶν τούτοις θεωρίαν, ἔτι τε κριτηρίων καὶ παθῶν, καὶ οὗ ἕνεκεν ταῦτα ἐκλογιζόμεθα. ταῦτα γὰρ μάλιστα συνθεωρούμενα ῥᾳδίως τὰς περὶ τῶν κατὰ μέρος αἰτίας συνορᾶν ποιήσει. All das, Pythokles, merk Dir. Denn Du wirst weitestgehend den Mythos hinter Dir lassen und das sehen, was damit verwandt ist. Vor allem aber widme Dich der Betrachtung der Ursprünge, des Unbegrenzten und der damit verwandten Gegenstände, zudem der Kriterien und Affekte, und dessen, wofür wir uns all diese Gedanken machen. Wenn Du das zusammen betrachtest, wird es Dich leicht die Ursachen für Einzelphänomene sehen lassen.63
Der Brief und die enthaltenen Erläuterungen zeigen: Man muss keine Angst vor Zeus haben, wenn man versteht, wie Blitze wirklich entstehen. φυσιολογία be-
|| 58 Epikur, Brief an Pythokles 84f. 59 Ιm Abschnitt zu den Briefen in Ps.-Demetrios’ Über den Stil finden wir die Stichwörter φιλοφρόνησις und σύντομος (231). 60 Vgl. zu Datierungserwägungen Heßler (2011) mit weiterer Literatur; zu Pythokles vgl. Erler (1994) 77; De Sanctis (2012) 99–102. 61 Vgl. zum Proömium De Sanctis (2012) 102–104. 62 Vgl. De Sanctis (2012) 106–108. 63 Epikur, Brief an Pythokles 116.
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freit also von Furcht,64 die Briefe bieten das nötige Wissen als schriftliche Form des Lehrgesprächs, wie wir sahen. Aufgabe des Adressaten als Gesprächspartner ist es, sie als Vorbereitung auf alle Lebenssituationen im Gedächtnis zu behalten. Diese Vorgabe bestimmt auch Beginn und Schluss des nächsten Briefs, einer Zusammenfassung der epikureischen Physik, die sich an Herodot richtet:65 Über den Adressaten, an den noch weitere Schriften gerichtet sind, wissen wir wenig.66 Nach der Anrede finden wir folgenden Text: τοῖς μὴ δυναμένοις, ὦ Ἡρόδοτε, ἕκαστα τῶν περὶ φύσεως ἀναγεγραμμένων ἡμῖν ἐξακριβοῦν μηδὲ τὰς μείζους τῶν συντεταγμένων βίβλους διαθρεῖν, ἐπιτομὴν τῆς ὅλης πραγματείας εἰς τὸ κατασχεῖν τῶν ὁλοσχερωτάτων δοξῶν τὴν μνήμην ἱκανῶς αὐτοῖς παρεσκεύασα, ἵνα παρ’ ἑκάστους τῶν καιρῶν ἐν τοῖς κυριωτάτοις βοηθεῖν αὑτοῖς δύνωνται, καθ’ ὅσον ἂν ἐφάπτωνται τῆς περὶ φύσεως θεωρίας. καὶ τοὺς προβεβηκότας δὲ ἱκανῶς ἐν τῇ τῶν ὅλων ἐπιβλέψει τὸν τύπον τῆς ὅλης πραγματείας τὸν κατεστοιχειωμένον δεῖ μνημονεύειν. Für diejenigen, Herodot, die nicht in der Lage sind, alles, was ich über die Natur geschrieben habe, im Detail zu lesen oder die längeren Abhandlungen durchzugehen, habe ich eine Epitome des ganzen Systems vorbereitet, damit sie die Hauptlehrsätze hinreichend im Gedächtnis behalten, damit sie in jeder einzelnen Situation sich selbst helfen können bei den wichtigsten Dingen, soweit sie sich mit der Betrachtung der Natur befassen. Diejenigen, die hinreichend fortgeschritten sind im Erfassen des Ganzen, müssen den elementaren Grundriss des ganzen Systems im Gedächtnis behalten.67
Epikureische Lehre wird auch hier als Lebenshilfe oder Therapie in allen Lebenslagen bezeichnet. Diese bietet der Brief nicht nur für Herodot als Adressaten, sondern für alle Menschen, die hier in zwei Gruppen präsentiert werden:
|| 64 Vgl. KD 11: εἰ μηθὲν ἡμᾶς αἱ τῶν μετεώρων ὑποψίαι ἠνώχλουν καὶ αἱ περὶ θανάτου, μήποτε πρὸς ἡμᾶς ᾖ τι, ἔτι τε τὸ μὴ κατανοεῖν τοὺς ὅρους τῶν ἀλγηδόνων καὶ τῶν ἐπιθυμιῶν, οὐκ ἂν προσεδεόμεθα φυσιολογίας.– „Wenn uns unbehagliche Gefühle über Himmelserscheinungen gar nicht belasten würden und über den Tod, dass er uns etwas angeht, und auch der Umstand, dass wir die Grenzen der Schmerzen und Begierden nicht verstehen, bräuchten wir die Lehre von der Natur nicht mehr“; KD 12: οὐκ ἦν τὸ φοβούμενον λύειν ὑπὲρ τῶν κυριωτάτων μὴ κατειδότα τίς ἡ τοῦ σύμπαντος φύσις, ἀλλ' ὑποπτευόμενόν τι τῶν κατὰ τοὺς μύθους· ὥστε οὐκ ἦν ἄνευ φυσιολογίας ἀκεραίους τὰς ἡδονὰς ἀπολαμβάνειν. – „Es ist unmöglich, sich von Furcht in den wichtigsten Bereichen zu befreien, wenn man nicht weiß, was die Natur des Kosmos ist, sondern irgendwie doch an die Elemente des Mythos glaubt. Deshalb ist es unmöglich, ohne das Studium der Natur wahre Lustempfindungen zu genießen“. 65 Vgl. Erler (1994) 75–77. 66 Vgl. zur Datierung Verde (2010) 65f.; Heßler (2011) mit weiterer Literatur; zum Adressaten Erler (1994) 75f.; Verde (2010) 66–68. 67 Epikur, Brief an Herodot 35.
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diejenigen, die Fachtraktate nicht lesen können, und Fortgeschrittene. Epikur fährt fort: βαδιστέον μὲν οὖν καὶ ἐπ’ ἐκεῖνα συνεχῶς, ἐν ‹δὲ› τῇ μνήμῃ τὸ τοσοῦτο ποιητέον, ἀφ’ οὗ ἥ τε κυριωτάτη ἐπιβολὴ ἐπὶ τὰ πράγματα ἔσται καὶ δὴ καὶ τὸ κατὰ μέρος ἀκρίβωμα πᾶν ἐξευρήσεται, τῶν ὁλοσχερωτάτων τύπων εὖ περιειλημμένων καὶ μνημονευομένων· ἐπεὶ καὶ τῷ τετελεσιουργημένῳ τοῦτο κυριώτατον τοῦ παντὸς ἀκριβώματος γίνεται, τὸ ταῖς ἐπιβολαῖς ὀξέως δύνασθαι χρῆσθαι καὶ ‹τοῦτο ἀδύνατον μὴ πάντων› πρὸς ἁπλᾶ στοιχειώματα καὶ φωνὰς συναγομένων. Darauf müssen wir kontinuierlich zurückgreifen und es soweit speichern, dass wir im Wesentlichen einen Zugriff auf die Dinge haben und jede genaue Erklärung für Einzelprobleme finden, wenn die wichtigsten Grundrisse verstanden und gespeichert sind. Denn auch für den fertig Ausgebildeten ist das Wichtigste bei jeder genauen Erklärung, schnell die Zugangsmethoden nutzen zu können, und das ist unmöglich, wenn man nicht alles auf einfache Elemente und Begriffe zurückführt.68
Die Betrachtungen richten sich also auch an fertig Ausgebildete, und somit eigentlich an alle Menschen.69 Die Ausführungen des Herodotbriefs sind Grundlage für jede Lebenssituation. Was wir hier bereits sehen, zeigt sich im ganzen Brief: Persönliche Elemente, wie wir sie im Schreiben an Pythokles sahen, sind nicht vorhanden, der ganze Brief ist allgemein gehalten und konzentriert sich auf physikalische Phänomene. Epikur schließt den Einleitungsteil wie folgt: ὅθεν δὴ πᾶσι χρησίμης οὔσης τοῖς ᾠκειωμένοις φυσιολογίᾳ τῆς τοιαύτης ὁδοῦ, παρεγγυῶν τὸ συνεχὲς ἐνέργημα ἐν φυσιολογίᾳ καὶ τοιούτῳ μάλιστα ἐγγαληνίζον τῷ βίῳ ποιήσασθαι, καὶ τοιαύτην τινὰ ἐπιτομὴν ‹συνέθηκα› καὶ στοιχείωσιν τῶν ὅλων δοξῶν. Da eine solche Methode für alle nützlich ist, die mit der Physiologie vertraut sind, habe ich, der ich zur kontinuierlichen Beschäftigung mit der Physiologie aufrufe und in einem solchen Leben die meiste Ruhe finde, eine solche Epitome verfasst, einen Abriss meiner gesamten Lehren.70
Hier, wie auch in der Schlusspartie Kap. 83, wird die Gesamtaussage der Anfangsparagraphen wiederholt und ergänzt durch den Hinweis, dass die vorgestellten Inhalte zu einem Leben in Seelenruhe beitragen und nützlich sind – der Nutzen der jeweiligen Philosophie ist ein zentrales Element protreptischer Schriften. Bei einer solchen sind wir nun angelangt, nämlich beim Brief an Me-
|| 68 Epikur, Brief an Herodot 36. 69 Vgl. Verde (2010) 68–72. 70 Epikur, Brief an Herodot 37.
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noikeus. Über den Adressaten wissen wir gar nichts,71 und auch eine einleitende Bemerkung wie an Herodot und Pythokles ist nicht vorhanden. Nach der Grußformel erfolgt der unmittelbare Einstieg in die Thematik: μήτε νέος τις ὢν μελλέτω φιλοσοφεῖν, μήτε γέρων ὑπάρχων κοπιάτω φιλοσοφῶν. οὔτε γὰρ ἄωρος οὐδείς ἐστιν οὔτε πάρωρος πρὸς τὸ κατὰ ψυχὴν ὑγιαῖνον. Weder sollte man in jungen Jahren zögern, sich philosophisch zu betätigen, noch sollte man im Alter das Philosophieren als Mühe empfinden. Denn für das, was für die Seele heilsam ist, ist niemand zu jung oder zu alt.72
Die wahren Adressaten des Briefes sind also alle Menschen, unabhängig vom Alter. Die Zielsetzung des Briefs und der gesamten Philosophie Epikurs ist gleich zu Beginn explizit formuliert: Sie heilt die Seele. Die therapeutische Intention der Philosophie des Kepos, die sich auch an anderen Texten zeigt, wurde häufig mit Marcello Gigante als philosophia medicans bezeichnet.73 Am Ende des Proömiums heißt es: μελετᾶν οὖν χρὴ τὰ ποιοῦντα τὴν εὐδαιμονίαν [...] ἃ δέ σοι συνεχῶς παρήγγελλον, ταῦτα καὶ πρᾶττε καὶ μελέτα, στοιχεῖα τοῦ καλῶς ζῆν ταῦτ’ εἶναι διαλαμβάνων. Also muss man das trainieren, was einem den Zustand der Glückseligkeit verschafft […] Was ich Dir immer und immer wieder geraten habe, das setze in die Tat um und übe es – Du verstehst ja, dass es die Grundlage eines schönen Lebens ist.74
In den letzten Sätzen des Briefes erfolgt erneut, wie wir bereits sahen (s. S. 29), der Appell zur μελέτη, zur Übung.75 Der restliche Teil der Schrift bietet die wichtigsten Themen epikureischer Ethik und folgt den ersten vier Κύριαι δόξαι. Epikur äußert sich zu Göttern, Tod, Lust und Begierde sowie zu den Eigenschaften des unerschütterlichen Weisen. Präsentiert wird dies in der Form eines Protrep-
|| 71 Vgl. Heßler (2011). 72 Epikur, Brief an Menoikeus 122,1f. 73 Gigante (1975); vgl. aber schon Amerio (1952) 541. Ein weiterer grundlegender Text ist Porphyrios, Ad Marcellam 31 = Epic. Epist. Fr. 247 2Arrighetti = Fr. 221 Usener: κενὸς ἐκείνου φιλοσόφου λόγος, ὑφ’ οὗ μηδὲν πάθος ἀνθρώπου θεραπεύεται· ὥσπερ γὰρ ἰατρικῆς οὐδὲν ὄφελος, εἰ μὴ τὰς νόσους τῶν σωμάτων θεραπεύει, οὕτως οὐδὲ φιλοσοφίας, εἰ μὴ τὸ τῆς ψυχῆς ἐκβάλλει πάθος. – „Sinnlos ist die Rede des Philosophen, von dem kein menschliches Leid geheilt wird. Denn wie Medizin keinen Nutzen hat, wenn sie nicht die körperlichen Krankheiten beseitigt, so hat Philosophie keinen, wenn sie nicht das seelische Leiden austreibt“. 74 Epikur, Brief an Menoikeus 122,5–123,1. 75 Vgl. zur Technik der μελέτη Erler (1998); Erler (2001).
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tikos, d.h. unter steter Betonung des Nutzens und Heilscharakters der epikureischen Philosophie.76 Wir sehen, dass Epikur in allen drei Briefen unterstreicht,77 dass die nun gebotenen Aussagen grundlegend für das Glück des Menschen sind, weshalb eine dauerhafte Auseinandersetzung mit der Lehre und deren Einprägen erforderlich sind: Menoikeus 122,5: μελετᾶν οὖν χρὴ τὰ ποιοῦντα τὴν εὐδαιμονίαν [...].
Pythokles 84: τῶν εἰς μακάριον βίον συντεινόντων.
Menoikeus 123,1: ἃ δέ σοι συνεχῶς παρήγγελλον, ταῦτα καὶ πρᾶττε καὶ μελέτα, στοιχεῖα τοῦ καλῶς ζῆν ταῦτ’ εἶναι διαλαμβάνων.
Herodot 36: βαδιστέον μὲν οὖν καὶ ἐπ’ ἐκεῖνα συνεχῶς.
Menoikeus 135,2: ταῦτα οὖν καὶ τὰ τούτοις συγ-γενῆ μελέτα πρὸς σεαυτὸν ἡμέρας καὶ νυκτὸς πρός ‹τε› τὸν ὅμοιον σεαυτῷ, καὶ οὐδέποτε οὔθ’ ὕπαρ οὔτ’ ὄναρ διαταραχθήσῃ.
Herodot 36: πρὸς ἁπλᾶ στοιχειώματα καὶ φωνὰς συναγομένων Herodot 37: στοιχείωσιν τῶν ὅλων δοξῶν.
Die Lehrbriefe haben also dasselbe Ziel, unterscheiden sich aber nicht nur im Inhalt – Ethik und Physik –, sondern auch in der Form: Vom Brief an Pythokles über den an Herodot zu dem an Menoikeus sind immer weniger persönliche Elemente fassbar, analog zum Befund der Informationen über die Adressaten. Menoikeus wird nach der Grußformel nicht mehr mit Namen angesprochen. Wie das zu erklären ist, lässt sich durch Aussagen in den Briefen selbst beantworten: Die Texte sind von Anfang an für ein breiteres Publikum gedacht, der namentlich genannte Adressat tritt zurück. Der am wenigsten persönliche Brief, derjenige an Menoikeus, ist inhaltlich wie sprachlich leicht zu verstehen und nach den Regeln protreptischer Rhetorik durchstilisiert.78 Er ist also ganz darauf ausgelegt, sich an jeden potentiellen Leser zu richten. Es wäre denkbar, dass der Brief nie an Menoikeus – wer auch immer er war – geschickt wurde, sondern etwa einem früh verstorbenen Schüler gewidmet wurde.79 Sucht man in der Literatur nach Vorläufern der epikureischen Lehrbriefe, wird man nur bedingt fündig: Die Briefe, die in den Corpora Platons, Isokrates’
|| 76 Vgl. Heßler (2014) 62–71. 77 Zu den Anfangs- und Schlusspartien der drei Lehrbriefe vgl. jetzt De Sanctis (2015). 78 Vgl. Heßler (2014) 40–99. 79 Vgl. Heßler (2011).
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und Demosthenes’ überliefert sind, sind literarische Briefe, jedoch enthalten sie, anders als diejenigen Epikurs, historisch-biographische Angaben, und viele sind recht kurz gehalten. Die pseudepigraphischen Briefe, etwa die Briefe des Sokrates und der Sokratiker, sind alle nach Epikur anzusetzen, vor allem bietet kein Text die eigentümliche Form eines Traktats in Briefform. Interessant ist, was wir bei Ps.-Demetrius zum Thema finden: τὸ δὲ μέγεθος συνεστάλθω τῆς ἐπιστολῆς, ὥσπερ καὶ ἡ λέξις. αἱ δὲ ἄγαν μακραὶ καὶ προσέτι κατὰ τὴν ἑρμηνείαν ὀγκωδέστεραι οὐ μὰ τὴν ἀλήθειαν ἐπιστολαὶ γένοιντο ἄν, ἀλλὰ συγγράμματα τὸ χαίρειν ἔχοντα προσγεγραμμένον. Die Länge eines Briefes muss ebenso wie der Stil gemäßigt sein. Diejenigen, die allzu lang sind und zudem recht überladen im Ausdruck, sind wohl nicht wirklich Briefe, sondern Traktate, die überschrieben sind mit „xy zum Gruße“.80
Nach dieser Vorgabe sind unsere drei ἐπιτομαί also keine Briefe, erst recht, wenn wir kurz darauf Folgendes lesen: εἰ γάρ τις ἐν ἐπιστολῇ σοφίσματα γράφοι καὶ φυσιολογίας, γράφει μέν, οὐ μὴν ἐπιστολὴν γράφει. Wenn jemand in einem Brief zu sophistischen und physiologischen Fragestellungen schreiben sollte, dann schreibt er zwar, doch er schreibt keinen Brief.81
Solche ‚uneigentlichen‘ Briefe, also wissenschaftliche Traktate mit Grußformel, finden sich erst Mitte des dritten Jahrhunderts wieder bei Autoren wie Archimedes, über den wir im Beitrag von Vincenzo Damiani informiert werden. Epikur dürfte also nicht nur als Erster die Form der Epitome systematisiert und benutzt haben, sondern auch eine neue Form literarischer Briefe, die Lehrbriefe, konsequent eingesetzt haben.82
|| 80 Ps.-Demetrios, Über den Stil 228. 81 Ps.-Demetrios, Über den Stil 231. 82 Muir (2009) 143: „With these three letters a new genre has emerged; the letter-form is being used not only to expand and clarify the details of a philosophical system but to recommend and encourage what is in the end a way of life“. Der aristotelische Protreptikos und die Kyprischen Reden des Isokrates, die als protreptische bzw. paränetische Sendschreiben zu verstehen sind, mögen Epikur inhaltlich und sprachlich beeinflusst haben (Heßler [2014] 43–82), unterscheiden sich unter formalen Gesichtspunkten aber ebenfalls stark von den epikureischen Lehrbriefen.
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4 Zusammenfassung Wir fanden bei Epikur zwei Brieftypen: Privatbriefe und Lehrbriefe. Letztere vermitteln das Wissen, das für ein Leben ohne Furcht und Störungen grundlegend ist, Adressat sind alle Menschen. Die Privatbriefe enthalten teilweise auch Lehrsätze, vor allem aber zeigen sie den Meister, der schon ein solches Leben führt, als großes Vorbild. Sie dienen als Ersatz für den täglichen Kontakt und das Gespräch unter Freunden. Zudem kann Epikur ausgewählte Schüler ebenfalls zum ἰσόθεος oder μακάριος und somit zum Vorbild erklären. Adressat sind die Mitglieder der Philosophengemeinschaft, die persönliche Briefe weitergeben. Trotz der genannten Unterschiede in Form und Inhalt verfolgen die Briefe Epikurs also dasselbe Ziel, den Weg zu weisen zu einem Leben in ἀταραξία und ἡδονή.
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Vincenzo Damiani
Das Verhältnis zwischen Adressat und Adressant in der Wissensvermittlung Kommunikationsstrategien in Briefproömien und Widmungsbriefen
1 Briefproömien und Widmungsbriefe Sowohl in antiker als auch in moderner Zeit gilt der Brief als eine literarische Sammelgattung, die sich durch inhaltliche Kriterien nicht eindeutig definieren lässt.1 Als vielseitig einsetzbares Mittel zur direkten Kontaktaufnahme zwischen Adressant und Adressat(en) über zeitliche und räumliche Grenzen hinweg erhält er je nach Zweck und Gelegenheit der Kommunikation eine unterschiedliche Prägung.2 Die Theorie der Epistolographie hat jedoch seit der Antike3 Elemente erkannt, die eine gewisse Kontinuität aufweisen und als inhaltsunabhängig betrachtet werden können.4 Dazu gehören vor allem Hinweise auf das konkrete Verhältnis, in dem Adressat und Adressant zueinander stehen,5 wie etwa die Gewohnheit des Adressanten, auf vorhergehende Mitteilungen des Adressaten Bezug zu nehmen, um den Betreff der vorliegenden Korrespondenz unmittelbar klarzustellen (meistens eine explizite Aufforderung zur Beantwortung einer bestimmten Frage),6 oder die Erinnerung an freundschaftliche Beziehungen.7 Bei näherer Betrachtung ergibt sich freilich, dass das Vorhandensein von Grußformeln am Anfang und am Ende (χαίρειν, salutem; ἔρρωσο, vale), die
|| Allen, die an der Diskussion zu diesem Beitrag teilgenommen haben, und insbesondere Prof. Dr. Thorsten Fögen, sei hier für wertvolle und wohlwollende Hinweise herzlichst gedankt. Marion Schneider und Christoph Vornberger bin ich für die geduldige und sorgfältige Durchsicht des Manuskripts zutiefst verpflichtet. 1 2 3 4 5 6 7
Vgl. Rahn (1969) 109; Belke (1973) 142–157; Berger (1984) 1047; 1338. Zu antiker und moderner Klassifizierung von Brieftypen s. Berger (1984) 1327f. S. Malherbe (1988). S. dazu Berger (1984) 1330f. Vgl. Berger (1984) 1332; 1338; 1363. Vgl. Blyth (1992) 148. Vgl. Berger (1984) 1329.
https://doi.org/10.1515/9783110676303-003
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auf den ersten Blick als ein handfestes Trennungsmerkmal betrachtet werden könnten, kein eindeutiges Kriterium darstellt, denn Texte, in denen diese Formeln fehlen, beinhalten trotzdem die eben genannten, für Briefliteratur typischen Elemente.8 Vor einigen Jahren hat Langslow versucht, diese Ambiguität in einem Schema zu verdeutlichen, in welchem Briefe, die Anfangs- und Schlussgrußformeln aufweisen, von Briefen mit bloßer Anrede in der 2. Person unterschieden werden.9 Dieselbe Differenzierung (Grußformeln/bloßer Appell) wurde bereits von Ruppert und Janson gemacht, wobei Ersterer zwischen forma (dedicandi) epistolaris und forma allocutionis unterscheidet,10 Letzterer eine eher gattungsbedingte Spaltung zwischen epistolary und rhetorical prefaces postuliert.11 Es fällt auf, dass jeder dieser formal betrachtet ähnlichen Klassifizierungsversuche sich auf einen anderen Texttyp bezieht, nämlich jeweils Brief, Widmung, praefatio/Proömium. Diese Tatsache allein zeigt schon, wie schwierig eine klare Definition der einzelnen Textsorten sein kann. Ich möchte hier trotzdem versuchen, einige Abgrenzungen als Arbeitshypothese hervorzuheben. Beschränkt man die Untersuchung auf literarische Briefe, also auf Briefe, die nicht nur an den angesprochenen Adressaten, sondern in der Absicht einer späteren Publikation an ein potentiell unbegrenztes Publikum gerichtet sind, so fällt auf, dass Hinweise auf das Verhältnis zwischen Adressat und Adressant entweder in den Randpartien des Textes (Proömium und Schluss) vorkommen oder zum Inhalt des Briefes selbst werden – je nachdem, welche Rolle der Brief als Form in Bezug auf seinen Inhalt spielen soll. Es bestehen, anders formuliert, zwei Grundformen des literarischen Briefes: einerseits der Brief als Begleitschrift, also der Brief, der in Zusammenhang mit einem Haupttext steht und diesen mit zusätzlichen, teilweise inhaltsfremden Informationen versieht,12 andererseits der Brief als eigentlicher Inhaltsträger, der selbst als Haupttext gilt und als solcher durch ein Proömium eingeleitet wird.13 Aus diesem Befund können zwei Schlüsse gezogen werden: 1) praefationes und Widmungen beinhalten Elemente, die für die Briefform typisch sind. 2) Sie zielen im Grunde auf dasselbe Resultat. Der erste Punkt beruht auf dem bereits erwähnten relativ neutralen Charakter des Briefes als literarischer Gattung. Vorausgesetzt, dass das Haupt-
|| 8 Vgl. Langslow (2007) 214. 9 Vgl. Langslow (2007) 216. 10 Vgl. Ruppert (1911) 11. 11 Vgl. Janson (1964) 23. 12 Vgl. Graefenhain (1892) 38–42. 13 Vgl. zu dieser Unterscheidung Ruppert (1911) 11f.; van Dam (2008) 18–21.
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merkmal der brieflichen Kommunikation in der Zentralsetzung der konkreten Bindung zwischen Adressat und Adressant als Individuen liegt, die abgesehen von ihrer intendierten Beispielhaftigkeit in eine einmalige Kommunikationssituation involviert sind, kann dieses Muster doch theoretisch beliebig umfunktionalisiert werden, um verschiedenen Kommunikationsbedürfnissen gerecht zu werden.14 Genauso wie die Widmung stellt dann das Proömium grundsätzlich den Raum dar, in dem der Autor mit seinem Adressaten und dadurch mit seiner Leserschaft in Kontakt tritt und dabei Anlass, Zweck und Inhalt seines Diskurses erklärt.15 Auf die Funktionsähnlichkeit von Widmungsschreiben und Proömien hat bereits Graefenhain in seiner 1892 veröffentlichten Dissertation De more libros dedicandi aufmerksam gemacht und sie mit der Tatsache erklärt, dass Widmungsbriefe oft vom Textträger abgelöst waren und daher einfacher verloren gehen konnten,16 was die Wiederholung der Informationen, die sonst im Widmungsbrief Platz fanden, auch innerhalb des Textes, also in einem einleitenden Abschnitt, nötig machte.17 Einfacher erscheint mir jedoch, die Ähnlichkeit damit zu begründen, dass Widmungsbriefe absichtlich als Proömien konzipiert und damit als Bestandteile des Gesamtwerkes veröffentlicht wurden – was wiederum nicht ausschließt, dass Widmungsbriefe Werke begleiten konnten, welche bereits mit einem Proömium versehen waren: Dies ist etwa bei den Proömien zu Ciceros Topica und Academica der Fall, deren Widmungsbriefe unter den Familiares überliefert sind.18 Basierend auf diesen Beobachtungen sollen in den folgenden Ausführungen Widmungsbriefe und Briefproömien nebeneinander als Mittel zu demselben
|| 14 Vgl. Porqueras Mayo (1957) 107–110. 15 Zu Proömien und praefationes in antiker Literatur s. Porqueras Mayo (1957); Janson (1964); Santini/Scivoletto/Zurli (1990–1998); Bureau/Nicolas (2008). 16 Ein Beispiel dafür ist der an Messalenos gerichtete Widmungsbrief zu Arrians Ἐπικτήτου ἐγχειρίδιον, dessen Inhalt aus Simplikios’ Testimonium (P 4–9, p. 192 Hadot) teilweise rekonstruiert werden kann (vgl. Brandt [2015] 14–15). Vgl. auch Janson (1964) 106, der den Widmungsbrief Ciceros an Varro zu seinen Academica in dieser Kategorie erwähnt: Der Brief war offensichtlich nicht als praefatio zum Werk konzipiert und ist wohl aus diesem Grund auch innerhalb der Familiares unabhängig vom gewidmeten Werk überliefert worden; s. dazu ferner van Dam (2008) 30f. 17 Graefenhain (1892) 33: „Epistula scilicet tabellis inscripta et libro addita cum facile amitti posset, ea verba, quibus certior fieri debebat is, cui liber mittebatur, de dedicatione, ipsi commentationi inserebantur. Itaque praefationes nihil aliud spectant atque epistulae; quae sit causa, qui finis dedicationis, quam rem quoque modo auctor agere velit, et in epistulis et in praefationibus plerumque exponitur“. Vgl. auch Porqueras Mayo (1957) 111f.: „No obstante, algunas veces, por no existir prólogos, las dedicatorias hacen sus veces“. 18 Cic. fam. 7,19 und 9,8.
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Zweck betrachtet werden, und zwar dem der Herstellung und Steuerung einer besonderen Bindung zwischen dem Adressanten als Autor und dem Adressaten als Personifizierung der Leserinstanz. Dieser Zusammenhang soll hier am Beispiel eines spezifischen Kommunikationsbereiches, der wissensvermittelnden Prosa wissenschaftlich-philosophischen Inhaltes, näher untersucht werden. Darüber hinaus sind Widmungsbriefe und Briefproömien genauso wie praefationes im Allgemeinen insofern betrachtenswert, als sie über den literarischen Charakter des jeweiligen Werkes und das Milieu, in dem es entstanden und für das es konzipiert ist, wichtige Hinweise liefern können.19 Das Spektrum der in Frage kommenden Textgrundlagen für eine derartige Analyse ist hinsichtlich der abzudeckenden Zeitspanne vom Hellenismus, wo die ersten Beispiele solcher Texte auftreten, bis hin zur Spätantike und hinsichtlich der Spezialkompetenzen, die man dafür benötigen würde, zu breit, als dass man auch bei Beschränkung auf einen überblicksmäßigen Gesamtabriss der Fülle von verschiedenen literarischen, historischen und persönlichen Konstellationen gerecht werden könnte. Aus diesem Grund und in der Hoffnung, immerhin eine beispielhafte Auswahl anzubieten, werde ich meine Aufmerksamkeit auf vier für verschiedene Zeiten und Gattungen des Briefgenres repräsentative Schriftsteller beschränken. Archimedes von Syrakus und Apollonios von Perge, beide im 3. Jh. v. Chr. an verschiedenen Küsten des Mittelmeers als Mathematiker tätig, bieten die ersten erhaltenen Beispiele von Widmungsbriefen überhaupt.20 Beide haben jedoch meines Wissens nur selten unter dieser Perspektive gezielte Aufmerksamkeit erhalten.21 Die philosophischen Briefe des Stoikers Seneca (1. Jh. n. Chr.) und des Epikureers Diogenes von Oinoanda, dessen Monumentalinschrift wohl in die erste Hälfte des 2. Jhs. n. Chr. zu datieren ist,22 lassen sich ebenfalls auf einen gemeinsamen Nenner bringen, nämlich die in der Schule Epikurs entwickelte Tradition des Lehrbriefes.23 Für Seneca wird in diesem Fall die praefatio der aus verschiedenen Gesichtspunkten eigenartigen Epistula 95 als Vorlage dienen. Innerhalb der Inschrift des Diogenes finden sich verschie-
|| 19 Vgl. dazu van Dam (2008) 21f. 25. 20 S. Sykutris (1931) 206. Das älteste Beispiel einer Anrede am Anfang eines fachliterarischen Textes, die als Widmung interpretiert werden kann, geht frühestens auf das Proömium von Hesiods Ἔργα zurück, s. Janson (1964) 16. Eine Auflistung der Autoren mathematischer Werke, die sich nach Archimedes und Apollonios des nunmehr zum τόπος gewordenen Widmungsbriefes bedienen, bietet Fraser (1972) Bd. 2, 579, Anm. 181. 21 S. Fraser (1972) 400–405; eine weitere Ausnahme in Bezug auf Archimedes ist Cambiano (1984). 22 Zur Datierung s. Hammerstaedt (2014) 145. 23 Vgl. dazu den Aufsatz von Jan Erik Heßler in diesem Band.
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dene Briefe, jedoch ist nur bei einem, dem Brief an Antipatros, die Einleitungspartie noch erhalten.
2 Widmungsbriefe antiker Mathematiker 2.1 Archimedes von Syrakus Archimedes’ (285-212 v. Chr.)24 Widmungsbriefe, welche in ihrer sprachlichen Gestaltung noch klare Spuren der ursprünglich dorischen Fassung verraten,25 begleiten fünf Abhandlungen über geometrische Probleme. Nach der von Heiberg festgelegten chronologischen Anordnung seiner Werke26 handelt es sich dabei um Τετραγωνισμὸς παραβολῆς, Πρὸς Ἐρατοσθένην ἔφοδος, beide Bücher des Traktats Περὶ σφαίρας καὶ κυλίνδρου, Περὶ ἑλίκων, Περὶ κωνοειδέων καὶ σφαιροειδέων. Alle Briefe bis auf den zur ἔφοδος, der an den berühmten Eratosthenes von Kyrene gerichtet ist,27 wenden sich an den alexandrinischen Mathematiker Dositheos (vielleicht mit Dositheos Pelusiotes identisch).28 Offenbar war die Wahl des Adressaten für Archimedes durch zufällige Umstände bedingt und beruhte nicht auf einer persönlichen Bekanntschaft. Dositheos war Schüler des ebenso in Alexandria ansässigen Astronomen Konon, mit dem Archimedes wiederum persönlich befreundet war.29 Dass alle erhaltenen Widmungsbriefe des Archimedes an Kollegen adressiert sind, die zu verschiedenen Zeiten in Alexandria wirksam waren, hat Anlass zu der Hypothese gegeben, dass er seine Studienzeit in der ägyptischen Kulturhauptstadt verbracht hat.30 Dafür gibt es jedoch keinen positiven Beweis; plausibler scheint, dass Archimedes Konon während dessen Aufenthalts auf Sizilien kennengelernt hatte.31 Der Widmungsbrief zum Τετραγωνισμὸς παραβολῆς stellt die Rahmenbedingungen der Korrespondenz unmittelbar klar. Anders als bei Dositheos, demgegenüber || 24 S. zu Archimedes’ Leben Asper (2003) 28; Netz (1999) 313. 25 S. Fraser (1972) 402. 26 Heiberg (1879) 10–12; vgl. auch Knorr (1978); Schneider (2016) 24f. 27 Vgl. Dijksterhuis (1987) 12. Die Schrift wurde erst 1906 im Codex Hierosolymitanus Nr. 35 „in der Bibliothek des Metochions des Klosters τοῦ παναγίου τάφου“ in Konstantinopel von Johan Ludvig Heiberg gelesen und im darauffolgenden Jahr ediert (Heiberg [1907] 235). 28 S. zur Figur und zu den Quellen, die sie erwähnen, Dicks (1971); Fraser (1972) 401f. mit Anm. 197. 29 Zu Konon s. Fraser (1972) 401 und Anm. 188. 30 Dijksterhuis (1987) 11; s. auch Fraser (1972) 399. 31 Vgl. Acerbi (2007) 85.
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Archimedes nicht mehr als eine sachliche, berufliche Einstellung an den Tag legt,32 drückt der Syrakusaner kurz nach Konons Tod aufrichtige Trauer um seinen φίλος aus und erklärt ohne Umschweife, dass Dositheos, offenbar in seiner Eigenschaft als Konons Schüler, nun als ‚Ersatzadressat‘ gelten muss:33 ἀκούσας Κόνωνα μὲν τετελευτηκέναι, ὃς ἦν οὐδὲν ἐπιλείπων ἁμῖν ἐν φιλίᾳ, τὶν δὲ Κόνωνος γνώριμον γεγενῆσθαι καὶ γεωμετρίας οἰκεῖον εἶμεν τοῦ μὲν τετελευτηκότος εἵνεκεν ἐλυπήθημες ὡς καὶ φίλου τοῦ ἀνδρὸς γεναμένου καὶ ἐν τοῖς μαθημάτεσσι θαυμαστοῦ τινος, ἐπροχειριξάμεθα δὲ ἀποστεῖλαί τοι γράψαντες, ὡς Κόνωνι γράφειν ἐγνωκότες ἦμες, γεωμετρικῶν θεωρημάτων, ὃ πρότερον μὲν οὐκ ἦν τεθεωρημένον, νῦν δὲ ὑφ’ ἁμῶν τεθεώρηται, πρότερον μὲν διὰ μηχανικῶν εὑρεθέν, ἔπειτα δὲ καὶ διὰ τῶν γεωμετρικῶν ἐπιδειχθέν. Da ich gehört habe, daß Konon gestorben ist, der mir immer seine herzliche Freundschaft bewiesen hat, daß du aber Konons vertrauter Freund und ein erfahrener Mathematiker seiest, trauerte ich um den Verstorbenen als um einen Freund und einen bewundernswerten Mathematiker, und beschloß, dir die Untersuchung über ein Problem, die ich eigentlich Konon übersenden wollte, zuzustellen, ein Problem nämlich, das bisher noch nicht, jetzt aber durch mich in Angriff genommen worden ist; und zwar habe ich die Lösung des Problems zuerst durch Methoden der Mechanik gefunden, alsdann durch Methoden der reinen Geometrie. (Übers. Czwalina)
Die Wörter φιλία und φίλος treten je einmal innerhalb einer Periode auf, das Verb ἐλυπήθημες signalisiert Archimedes’ persönliche Anteilnahme am Tod seines Freundes. Dennoch rückt das Interesse am Fortschritt der Wissenschaft, das auch in den anderen Briefen immer wieder als roter Faden begegnet, bald in den Vordergrund: Konon sei nicht nur ein lieber Freund gewesen, sondern auch und vor allem ein hervorragender Mathematiker (ἐν τοῖς μαθημάτεσσι θαυμαστοῦ τινος), den Archimedes schlichtweg als idealen Ansprechpartner in absentia beschreibt. Dositheos ist zwar als γεωμετρίας οἰκεῖον angesprochen, seine eigenen Beiträge zu den Werken, die ihm Archimedes zukommen ließ, mussten sich jedoch, wie Schneider anmerkt, auf „Eingangsbestätigungen und vor allem Anfragen“ begrenzen, wobei es sich um keine „Mitteilung neuer, für Archimedes interessanter Ergebnisse aus dem Bereich der Inhaltsbestimmungen“ handelte.34 Im Brief zum ersten Buch von Περὶ σφαίρας καὶ κυλίνδρου ist sogar eine implizite Unterscheidung zwischen Dositheos’ begrenzter Kompetenz und dem fachkundigen Urteil von Kollegen zu bemerken: Dositheos gehöre zu den οἰκεῖοι τῶν μαθημάτων (in Heibergs Übersetzung: „mathematices studiosi“) || 32 Vgl. Janson (1964) 21. 33 Quadr. vol. 2 p. 262 Heiberg. 34 Schneider (2016) 32.
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und bekomme in dieser Eigenschaft eine Kopie von Archimedes’ Schriften, während die eigentlich intendierten Adressaten, unter denen Konon zweifellos den ersten Rang einnahm, οἱ περὶ τὰ μαθήματα ἀναστρεφόμενοι („mathematices periti“) seien.35 Im Brief zu Περὶ ἑλίκων entschuldigt sich Archimedes dafür, dass die Beweise (ἀποδείξεις) von θεωρήματα (gemeint sind wohl προτάσεις θεωρημάτων, vgl. Eratosth. vol. 2 p. 426, 4–5 Heiberg),36 die er einst an Konon geschickt habe, eine derart lange Bearbeitungszeit verlangt hätten.37 Grund dafür sei die Gewohnheit, sie vorher an andere Kollegen zu senden, die sich für eine Durchsicht bereiterklärt hatten (τοῖς περὶ τὰ μαθήματα πραγματευομένοις καὶ μαστεύειν αὐτὰ προαιρουμένοις). Die Fassungen, die Dositheos erreichen, sind also offenbar das mühsam erarbeitete Ergebnis einer bereits abgeschlossenen Reihe von Korrekturen, Änderungen und Anregungen, wie Archimedes selbst mehrmals verrät, etwa wenn er auf Probleme hinweist, deren Lösung zuerst unmöglich zu sein schien, später aber durch intensivere Untersuchungen gefunden werden konnte.38 Dositheos’ inhaltlicher Beitrag ist verhältnismäßig gering; zusätzlich erhält er als letzter eine revidierte Version des jeweiligen Werkes. Auf Grundlage der überlieferten Widmungsbriefe scheint also seine Funktion eher die eines ‚stellvertretenden Adressaten‘ zu sein als die eines aktiven peer reviewers. Nicht anders ist Eratosthenes’ Rolle in der ἔφοδος zu bewerten.39 Die Schrift hat eine weniger technische Note, da sie allgemein die Funktion einer mechanischen heuristischen Beweismethode für geometrische Probleme erörtert: Der Adressat wird dabei als ein Intellektueller (σπουδαῖον) beschrieben, dessen Interessen im Bereich der Philosophie liegen (φιλοσοφίας προεστῶτα ἀξιολόγως), der aber auch den Wert der mathematischen Forschung zu schätzen weiß (τὴν ἐν τοῖς μαθήμασιν κατὰ τὸ ὑποπίπτον θεωρίαν τετιμηκότα). Eratosthenes ist also kein Fachmann im engeren Sinne, er beschäftigt sich mit mathematischen Fragen bei Gelegenheit (κατὰ τὸ ὑποπίπτον). Nichtsdestotrotz wird er, genauso wie es für Dositheos der Fall sein musste, von Archimedes dazu aufgefordert, selbst Beweise für die Lehrsätze zu finden, die er ihm sendet.40 Diese Praxis dient freilich nicht nur der Korrektur und Kontrolle.41 Sie gehört, wie von Asper formuliert, zu einer Art „spielerische[n] Rätseldia-
|| 35 Sph. Cyl. 1, vol. 1 p. 4, 18–21 Heiberg. 36 S. Mugler (1958) 220, 368. 37 Spir. vol. 2 p. 2, 6–10 Heiberg. 38 Con. Sph. vol. 1 p. 246, 5–7 Heiberg; Spir. vol. 2 p. 2, 11–13 Heiberg. 39 Eratosth. vol. 2 p. 426–430 Heiberg. 40 Vgl. Janson (1964) 21. 41 S. dazu Fraser (1972) 402.
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log[s]“42 und repräsentiert für Archimedes ein wichtiges Element der auktorialen Selbstdarstellung,43 was bereits von Pseudo-Demetrios als Merkmal der brieflichen Kommunikation theoretisiert wird.44 In seinen Widmungsbriefen pflegt Archimedes sonst auch gezielt Auskunft über seine eigene Arbeitsweise zu geben: Ein klares Zeichen dafür, dass ihm der Fortschritt der mathematischen Wissenschaften auf inhaltlicher Ebene genauso wichtig ist wie der Versuch, späteren Generationen eine fruchtbare methodische Vorlage zu hinterlassen.45 Manchmal geht jedoch diese belehrende Absicht so weit, dass etwa bewusst falsch formulierte, deshalb unbeweisbare προτάσεις vor die Kollegen gebracht werden, bloß um zu zeigen, zu welchen absurden Folgen die Eifrigkeit derjenigen führen kann, die behaupten, alles demonstrieren zu können.46 Diese Haltung lässt sich mit anderen Bemerkungen vergleichen, die Archimedes gleichermaßen zur Bestimmung seiner eigenen Stellung als Wissenschaftler dienen sollen: Zuweilen beklagt er mit Erstaunen die Unzulänglichkeit oder gar das Nichtvorhandensein von Vorarbeiten zu den von ihm berücksichtigten Problemen.47 Dadurch begründet und verteidigt er sein Forschungsvorhaben in Bezug auf die aus seiner Perspektive fortdauernde Entwicklung der Disziplin und bezieht zugleich Stellung im Konkurrenzverhältnis zu Zeitgenossen.48 Im Fall von Seneca und Diogenes von Oinoanda werden wir sehen, wie im philosophischen Diskurs die Selbstdarstellung des Adressanten auf eine noch deutlichere Weise didaktischen Zwecken zu dienen hat. Eine weitere wichtige Funktion des archimedischen Widmungsbriefes, die bisher unerwähnt geblieben ist, ist die listenartige Ankündigung der Inhalte des Hauptwerkes. Der Brief ist so zeitgleich als Einführung in die Materie gedacht und setzt die Grundlage für das Verständnis des darauffolgenden Stoffes.49 Elemente des Briefes als Gebrauchsform, wie etwa die Erwähnung des Namens eines Überlieferers, kommen bei
|| 42 Asper (2003) 22. S. dazu auch Dijksterhuis (1987) 33f. 43 Vgl. Asper (2007) 167 und Anm. 502. 44 Ps.-Demetr. Eloc. 227: σχεδὸν γὰρ εἰκόνα ἕκαστος τῆς ἑαυτοῦ ψυχῆς γράφει τὴν ἐπιστολήν. καὶ ἔστι μὲν καὶ ἐξ ἄλλου λόγου παντὸς ἰδεῖν τὸ ἦθος τοῦ γράφοντος, ἐξ οὐδενὸς δὲ οὕτως, ὡς ἐπιστολῆς. Zu Schwellentexten (Widmungsbriefe und praefationes) als Raum der auktorialen Selbstdarstellung s. die gründliche Analyse von Fögen (2009), insbes. S. 106–289. 45 Vgl. Eratosth. vol. 2 p. 430, 14–18 Heiberg. 46 Spir. vol. 2 p. 2, 22–4, 4 Heiberg. 47 Quadr. vol. 2 p. 262, 13–264, 4 Heiberg; Spir. vol. 2 p. 2, 18–21 Heiberg. 48 S. Asper (2007) 161 und Anm. 457. 49 Vgl. dazu Peter (1901) 243; Fraser (1972) 400 und 419 für Apollonios’ Widmungsbriefe; Netz (1999) 94 und insbes. 120: „The first [scil. der Widmungsbrief] talks about mathematics; the latter [= der Hauptkörper des Werkes] is mathematics.“
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Archimedes sonst nur selten vor. Ein einziges Mal weist er auf seinen Freund Herakleides hin, der dem Dositheos Bücher mit Beweisen anderer Sätze zugestellt haben soll.50
2.2 Apollonios von Perge Viele der Elemente, die bei Archimedes zu erkennen sind, begegnen uns auch in Apollonios’ Briefen. Eine Generation jünger als Archimedes (etwa 260–190 v. Chr.), ist Apollonios hauptsächlich für sein Werk Κωνικά bekannt, dessen Entstehung ungefähr in den ersten Jahrzehnten des 2. Jh. v. Chr. anzusetzen ist.51 Von den ursprünglich acht Büchern sind nur die ersten vier in griechischer Fassung erhalten, während die Bücher 5 bis 7 (das achte Buch ist verschollen) in arabischer Übersetzung vorliegen. Apollonios wirkte für einige Zeit in Alexandria und Pergamon; an in Pergamon tätige Adressaten sind seine Widmungsbriefe gerichtet: Die ersten drei Bücher des Traktats wurden an Eudemos gesandt, die restlichen an Attalos, den einige, jedoch ohne ausreichende Beweise – vor allem wegen der fehlenden Angabe des Titels βασιλεύς in der Anrede – mit König Attalos I. von Pergamon gleichsetzen.52 Attalos tritt, ähnlich wie Dositheos in Archimedes’ Fall, als Adressat nach Eudemos’ Tod auf. Das incipit des Briefes zum 4. Buch erinnert stark an Archimedes’ Briefe zum Τετραγωνισμὸς παραβολῆς und zur Ἔφοδος:53 πρότερον μὲν ἐξέθηκα γράψας πρὸς Εὔδημον τὸν Περγαμηνὸν τῶν συντεταγμένων ἡμῖν κωνικῶν ἐν ὀκτὼ βιβλίοις τὰ πρῶτα τρία, μετηλλαχότος δ’ ἐκείνου τὰ λοιπὰ διεγνωκότες πρός σε γράψαι διὰ τὸ φιλοτιμεῖσθαί σε μεταλαμβάνειν τὰ ὑφ’ ἡμῶν πραγματευόμενα πεπόμφαμεν ἐπὶ τοῦ παρόντος σοι τὸ τέταρτον. Vor einiger Zeit gab ich von meinem Werk über die Kegelschnitte in acht Büchern die ersten drei Bücher heraus, indem ich sie an Eudemos aus Pergamus sandte. Nun ist Eudemos aber gestorben. Da beschloß ich, die übrigen Bücher Dir zu senden, weil Du ja mit besonderer Vorliebe an meiner wissenschaftlichen Arbeit Anteil nahmst, und so schicke ich Dir denn hiermit das vierte Buch. (Übers. Czwalina)
|| 50 Spir. vol. 2 p. 2, 4–5 Heiberg. 51 Zu Apollonios’ Lebensdaten s. jetzt den detaillierten Bericht bei Fleischer (2016) 59–70; ferner Fried/Unguru (2001) 2f.; Huxley (1963); Toomer (1970) 179. 52 Huxley (1963) 101; Fraser (1972) 417f.; Fried/Unguru (2001) 416 Anm. 1; Fleischer (2016) 60, Anm. 6. 53 Con. 4 vol. 2 p. 3, 1–8 Heiberg.
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Eine weitere Ähnlichkeit besteht in der Funktionalisierung des Widmungsbriefes als Einleitung und Themenindex. Mansfeld hat diesen Zug insbesondere im 1. Brief an Eudemos auf die Tradition der eisagogischen προλεγόμενα zurückführen wollen (Angabe von Thema, Nützlichkeit und Gliederung der Materie sowie systematische Anordnung),54 wobei eine allgemeinere Charakterisierung im Sinne einer bloßen Einführung in den zu behandelnden Stoff nach archimedischem Vorbild zutreffender scheint.55 Des Weiteren sind auch bei Apollonios Elemente der Selbstdarstellung und -positionierung zu verzeichnen, etwa wenn er auf den bahnbrechenden Charakter einiger seiner Theoreme hinweist56 oder im kurzen Begleitschreiben zum 2. Buch Eudemos bittet, den Text bei Gelegenheit an andere Kollegen weiterzugeben, um dessen Verbreitung unter Fachleuten zu sichern.57 In graduellem Unterschied zu Archimedes, der sich um die äußeren Umstände der Publikation seiner Werke (relativ gesehen) weniger zu kümmern scheint als um ihre Inhalte, ist es für Apollonios wichtig, dass seine Schriften eine strenge formale Revision durchlaufen, bevor sie öffentlich verfügbar werden. Genauso wie Dositheos erhält Attalos eine Endfassung des Buches. Apollonios dokumentiert jedoch gerne in seinen Briefen, wie das später bei Arrian58 und vor allem Galen der Fall sein sollte,59 die Schritte des Publikationsverfahrens.60 Die Briefe an Eudemos zum 1. und 2. Buch werden mit persönlichen Anmerkungen eröffnet, welche bei Archimedes und selbst im Brief an Attalos oft fehlen: Man findet dort topische Hinweise auf Gesundheit und Gesamtbefinden von Adressat und Adressant (εἰ ὑγιαίνεις, ἔχοι ἄν καλῶς· καὶ αὐτὸς δὲ μετρίως ἔχω),61 auf die Person, die mit der Zustellung des Haupttextes beauftragt ist,62 sowie die Erinnerung an ein vorhergehendes Treffen mit dem Adressaten.63 Im Brief zum 1. Buch erzählt Apollonios auch, wie die erste Fassung der Κωνικά zustande gekommen war und sich verbreitet hatte, ehe sie einer regelrechten διόρθωσις unterzogen wurde. Er habe die Anregung, sich mit Kegelschnitten zu beschäftigen, dem sonst unbekannten Mathematiker Naukrates zu verdanken: Als dieser dabei war, von Alexandria abzufahren, stellte Apol-
|| 54 Vgl. Mansfeld (1998) 38. 55 Vgl. Asper (2007) 117 und Anm. 166. Vgl. auch Netz (1999) 94. 56 Con. 1, vol. 1 p. 4, 20 Heiberg; Con. 4, vol. 2 p. 4, 1 Heiberg. 57 Con. 2, vol. 1 p. 192, 7–11 Heiberg. Dazu Fleischer (2016) 65–69. 58 Arr. Epict. epist. ad Gell. p. 5, 10–12 Schenkl. 59 S. dazu König (2009). 60 Allgemein zum Thema Dorandi (2007); zu Apollonios vgl. van Dam (2008) 28f. 61 Con. 2, vol. 1 p. 192, 3–4 Heiberg. 62 In diesem Fall Apollonios’ gleichnamiger Sohn: Con. 2, vol. 1 p. 192, 5–6 Heiberg. 63 Con. 1, vol. 1 p. 1, 3–7 Heiberg.
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lonios in aller Eile für ihn einen Entwurf der gesamten acht Bücher zusammen, mit der Absicht, sie später zu revidieren und nacheinander zu veröffentlichen. Frühere, provisorische Versionen der ersten zwei Bücher hatten jedoch bereits unter diversen Bekannten zirkuliert, sodass Apollonios es für nötig hält, seinen Adressaten vor möglichen Abweichungen zu warnen (ἑτέρως ἔχουσιν). Von falschen Formulierungen ist hier gar nicht die Rede: Man könnte folglich vermuten, Apollonios’ Anliegen bei der ἔκδοσις seiner Κωνικά sei in diesem Fall hauptsächlich philologischer Natur gewesen.64
3 Briefproömien philosophischer Lehrbriefe Wenden wir uns nun den Proömien philosophischer Briefe zu. Beide Beispiele, die im Folgenden betrachtet werden, zeichnen sich nicht bloß dadurch aus, dass sie verschiedene Aspekte des Spannungsfeldes Autor – Empfänger in einem Unterweisungskontext widerspiegeln, wie etwa Freundschaftsbekenntnisse, Vorfreude auf künftige συνουσία zwischen Lehrer und Lehrling, erzieherische Absicht des Adressanten, die sich durch Mahnung bzw. Paränese äußert, aktive und selbstständige Haltung des Adressaten als Schüler, der die Anfertigung einer bestimmten Schrift zu Lernzwecken anfordert. Diese Texte sind auch deswegen besonders beachtenswert, weil sie dem Adressanten zur Rechtfertigung seiner Wahl einer ungewöhnlichen Textform dienen.
3.1 Senecas Epistula 95 Senecas Briefsammlung an Lucilius stellt ein literarisch konzipiertes Textkorpus dar,65 in dem die Briefe notwendig in einem inneren Zusammenhang miteinander stehen. Dies führt oft zu einer Lockerung der rhetorischen Struktur des Briefproömiums, da ein einzelner Brief, just weil er nie vom Kontext der Briefsammlung zu lösen ist, auf manche der in der Brieftopik geläufigen Elemente verzichten und den Diskurs ohne Weiteres aufnehmen kann. Epistula 95 ist in dieser Hinsicht eine aufschlussreiche Ausnahme, denn dort hat das Proömium die explizite Funktion, den Adressaten auf eine unerwartete Unterbrechung der regulären Korrespondenz aufmerksam zu machen und gleichzeitig die Ursache || 64 Nach Mansfeld (1998) 44 lässt sich das durch den Einfluss der alexandrinischen Philologie erklären. 65 Vgl. Sen. epist. 8,2; Graver/Long (2015) 3f. und Rahn (1969) 158f.
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dafür auf dessen eigenen entsprechenden Wunsch zurückzuführen.66 Es handelt sich um einen der längsten Briefe der Sammlung, der den Aufbau einer monographischen Abhandlung aufweist, in der sich Diatribe und theoretische Überlegungen regelmäßig abwechseln. Die Fragestellung lautet, ob die paränetische Literatur in Form praktischer praecepta allein zur Erlangung der sapientia genug ist. Seneca zeigt sich der Notwendigkeit einer Vorrede bewusst, um die Wahl der literarischen Form zu begründen. Der Brief fängt an mit einem Bezug auf die Aufforderung des Adressaten, die wie gewöhnlich als Anlass gilt: Petis a me ut id quod in diem suum dixeram debere differri repraesentem et scribam tibi an haec pars philosophiae quam Graeci paraeneticen vocant, nos praeceptivam dicimus, satis sit ad consummandam sapientiam. scio te in bonam partem accepturum si negavero. eo magis promitto et verbum publicum perire non patior: ‚postea noli rogare quod inpetrare nolueris‘. interdum enim enixe petimus id quod recusaremus si quis offerret. haec sive levitas est sive vernilitas punienda est promittendi facilitate. Du bittest mich, ich solle das, was auf einen besonderen Termin – wie ich erklärt hatte – verschoben werden müsse, sofort behandeln und dir schreiben, ob der Teil der Philosophie, den die Griechen „Parainetike“ (ermahnenden), wir „Praeceptiva“ (vorschreibenden) nennen, dazu genüge, die Weisheit voll auszubilden. Ich weiß, du wirst es von der positiven Seite nehmen, wenn ich ablehne. Desto mehr verspreche ich es und werde das Sprichwort nicht umkommen lassen: ‚In Zukunft erbitte nichts, was du gar nicht haben willst.‘ Bisweilen nämlich verlangen wir dringend etwas, was wir zurückwiesen, wenn es uns jemand anböte. Das mag Leichtfertigkeit sein oder Unterwürfigkeit – bestraft werden muß es mit gegenseitiger Bereitschaft, ein Versprechen zu geben.“ (Übers. Rosenbach)
Lucilius hat sich offenbar eine positive Antwort auf seine Bitte gewünscht, die ihm Seneca aber nicht liefert, denn er leugnet die Wirksamkeit praktischer Anweisungen, die nicht auf die Erlernung der Grundprinzipien der Philosophie aufbauen, und ‚bestraft‘ seinen Schüler durch eine ingens epistula dafür, dass er unentbehrliche Schritte der προκοπή voreilig vorwegzunehmen versucht. Der Status des funktional eigenständigen Proömiums wird dann noch durch einen chiastisch aufgebauten Schlusssatz in einer Art praeteritio rhetorisch verdeutlicht: sed ut omisso principio rem ipsam adgrediar („doch um ohne weitere Umschweife zur Sache zu kommen“). Freilich ist das Portrait des strengen Lehrers, das sich aus dieser Konstellation ergibt, nur eine Facette der vielseitigen auktorialen Figur, die Seneca konstruiert, möglicherweise auch nicht ihr Hauptmerkmal.67 Ein Text wie die Epistula 6, wo es heißt ego vero omnia in te cupio transfundere, et in hoc aliquid gaudeo || 66 S. dazu Graver/Long (2015) 11f. 67 Zu Senecas Selbstdarstellung in den Epistulae morales s. Setaioli (2014) 194; 196.
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discere, ut doceam („ich wünsche wirklich alles auf dich zu übertragen, und daran freue ich mich, etwas zu lernen, um es zu lehren“),68 bestätigt die oft vertretene Behauptung, dass Senecas Art der Unterweisung eine selbsterzieherische Instanz vorsieht, die ihrerseits als Rechtfertigung der erzieherischen Instanz fungiert.69 Er stellt sich nie als vollkommenen Weisen dar, wie etwa Epikur dies tut, dessen Briefe Seneca sonst als ein zentrales Gattungsvorbild gelten,70 sondern als einen fehlbaren Mitsucher der Wahrheit.71 Ganz im Sinne Epikurs gilt dabei wiederum die amicitia, die Seneca an Lucilius bindet und die in verschiedenen Briefen und Briefproömien thematisiert wird, nicht als τόπος in Briefen, sondern als wichtigste Voraussetzung der philosophischen διδαχή.72
3.2 Diogenes’ Brief an Antipatros Die Kommunikationsumstände, die aus Diogenes’ Brief an Antipatros hervorgehen, unterscheiden sich in mancherlei Hinsicht von denen Senecas. Der fragmentarisch erhaltene Brief73 gehört zur monumentalen Inschrift, die am Ende des 19. Jh. in Oinoanda (Lykia, Südwestkleinasien) entdeckt wurde. Die laufenden Grabungen vor Ort liefern noch heute neue Fragmente.74 Diogenes muss über einen gewissen Einfluss auf die Stadtpolitik verfügt haben und wohlhabend genug gewesen sein, um seine eigenen Werke und manche von Epikurs Werken auf einer städtischen στοά eingravieren lassen zu können, mit dem Ziel, wie er sagt, τοῖς εὐσυνκρίτοις [...] [φιλανθρώπως βοη]θεῖν („um denjenigen, die über eine gute atomische Verfassung verfügen, [...] [wohlwollend] zu helfen“), und zwar durch die heilende Mitteilung von Epikurs Philosophie.75 Sein Freund Antipatros, ebenso ein Anhänger des Kepos, hatte ihn gebeten, ihm eine Abhandlung über die Theorie der Unendlichkeit der Welten (περὶ ἀπειρίας κόσμων) || 68 Sen. epist. 6,13. 69 Vgl. Cancik (1967) 76–80; Edwards (2015) 46. 70 Vgl. Ep. Hdt. 37: παρεγγυᾷ […] τὸ […] ἐγγαληνίζον τῷ βίῳ ποιήσασθαι […] ἐπιτομήν. Zum Text Lapini (2015) 9–13. 71 Dazu Edwards (2008) 91; 95–98. 72 Vgl. Edwards (2008) 90–93; ead. (2015). 73 S. dazu Hoffman (1976) 54f.; Roskam (2015) 160. 74 Neuere Entdeckungen sind nun bei Hammerstaedt/Smith (2014) gesammelt. Beiträge zu den Arbeiten an der Inschrift erscheinen regelmäßig in der Zeitschrift Epigraphica Anatolica. 75 Fr. 2 col. 2,14–col. 3,2 Smith. Vgl. Hammerstaedt (2014), insbes. 139–145; Id. (2016) 261f. Zur Inschrift im Allgemeinen und zu Diogenes’ Person und Lebensdaten s. Smith (1993), insbes. 35–143; Gordon (1996). Zur Interpretation des Adjektivs εὐσύγκριτος und der Frage nach den Adressaten der Inschrift s. jetzt Roskam (2015), insbes. 154.
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zu schicken. Dem Vorbild von Epikurs Gemeinde- und Lehrbriefen folgend, bedankt sich Diogenes am Anfang seines Schreibens für die σημεῖα εὐνοίας (nach Smiths Ergänzung), die ihm Antipatros immer wieder gewährt habe, und für dessen Bemühen um die Umsetzung von Diogenes’ Paränese zur Vervollständigung des epikureischen βίος. Das Briefproömium erklärt weiter im Einzelnen die persönlichen Umstände, die Diogenes zum Schreiben veranlassen. Er halte sich momentan auf Rhodos auf, um dem kalten Winter seiner Heimat Oinoanda zu entrinnen,76 und hoffe, Antipatros und dessen Freunde in Athen zum Ende des Winters wieder treffen zu können.77 Da aber die Unabsehbarkeit der Ereignisse und sein hohes Alter die Zukunft ungewiss machten (ein τόπος, der in derselben Form auch in Varros Widmungsbrief zum ersten Buch der Rerum rusticarum libri an dessen Frau Fundania begegnet),78 habe er sich entschieden, die von Antipatros erbetene Schrift in brieflicher Form zu übersenden, anstatt auf seinen nächsten Besuch zu warten. An diesem Punkt beginnt ein anekdotischer excursus, der (auch in der Wortwahl) stark an die Rahmenhandlungen von Platons Dialogen erinnert und ähnlich wie bei Seneca die zusätzliche Funktion hat, den Sinn einer untypischen Textform zu erklären:79 συντυχίᾳ δὲ τοῦ πράγμα|τος ἀγαθῇ κέχρησαι· | πρὶν ἢ γὰρ ἐλθεῖν σου | τὴν ἐπιστολήν, v. Θεο|10δωρίδας ὁ Λίνδιος, ἑ|ταῖρος ἡμῶν, ὃν οὐκ ἀ|γνοεῖς, ἀρχόμενος ἔτι | τοῦ φιλοσοφεῖν, τὸν || αὐτὸν ἔπρ̣α̣ττεν λό|γον. ἐναρθ̣ ρότερος | δ’ οὗτος ἐγ[ε]ίνετο, διὰ | τὸ ἐν ἀμφο̣ ῖ̣ ν ἡμεῖν |5 παροῦσι στ̣ ρ̣έφεσθαι· | αἱ γὰρ ἐξ ἀλ̣λήλων | συνκαταθ[έσ]ε̣ ις τε | καὶ ἀντιφά̣[σει]ς, ἔτι δ’ ἐ|ρωτήσεις, ἀ̣κρειβεσ|10τέραν ἐπ̣[οιο]ῦ̣ντο | τοῦ ζητο[υ]μ̣ένου | τὴν ἔρε[υν]αν. v. διὰ τοῦ|το οὖν, Ἀντ̣ ίπατρε, | τὴν διάλε[ξ]ιν ἐκεί||νην ἀπέστειλά σοι, ἵν̣ [α] | δὴ τὸ ἴσον γένηται τῷ | κἂν παρ̣ὼν αὐτός, ὁ|μοίως Θεοδωρίδᾳ, |5 τὰ μὲν ὡμολόγεις, οἷς | δ’ ἐπηπόρεις καὶ προσ|επυνθάνου. Und in dieser Angelegenheit hattest Du Glück, da vor dem Eingehen Deines Briefes Theodoridas von Lindos, ein Dir nicht unbekannter Schulgefährte von uns (scil. ein Epikureer), in der Philosophie noch ein Anfänger, sich gerade mit demselben Thema befasste. Dieses konnte von uns besser aufgegliedert werden, indem wir es in direkter Auseinandersetzung miteinander (hin- und her)drehten und wendeten, denn unser Übereinstimmen und Widersprechen sowie unser Hinterfragen ermöglichten eine sorgfältigere Erforschung des Problems. Aus diesem Grunde also, Antipater, übersende ich Dir jenen Dialog, sodass Du dich in derselben Lage befindest, als wärest Du anwesend, genauso wie Theodoridas, und stimmtest mit einigen Punkten überein und stelltest bei Zweifeln Rückfragen (meine Übersetzung).
|| 76 χιόνι βάλλεσθαι τὴν παρ’ ἡμεῖν γῆν, fr. 63 col. 1, 1–2 Smith. S. Smith (1993) 35. 77 Fr. 62 col. 2,3 Smith. 78 Varro rust. 1,1,1. 79 Fr. 63 col. 2, 6–4, 9 Smith.
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Was Antipatros erhält, ist eine in den Brief eingebettete Verschriftlichung eines Dialogs zwischen Diogenes und einem gemeinsamen Freund, einem gewissen Theodoridas aus Lindos. Die Besprechung hatte zufälligerweise kurz vor dem Eingang von Antipatros’ Bitte stattgefunden und kreiste eben um das Thema der ἀπειρία κόσμων. Interessanterweise wird Theodoridas dadurch zu einem Vertreter des Briefadressaten innerhalb des Briefes selbst gemacht: Denn so erscheint es, als wäre Antipatros direkt anwesend (ἵνα δὴ τὸ ἴσον γένηται κἂν παρὼν αὐτός). Durch die Einsetzung dialogischer Mittel im Brief verstärkt Diogenes die kommunikative Wirkung des Schreibens und stellt dem Adressaten ein weiteres didaktisches Hilfsmittel zur Verfügung. Nicht anders als Seneca stellt auch Diogenes sich nun in seiner praefatio als Autor implizit selbst dar. Man kann wohl sagen, dass seine Haltung derjenigen eines Epicurus redivivus ähnelt.80 In einem der Brieffragmente, die in einem 2011 publizierten Papyrus aus Oxyrhynchus überliefert sind,81 kündigt Epikur eine baldige Reise διὰ νήσων in Richtung Samos an, wo er sich vornimmt, seine dortigen Anhänger zu treffen und mit ihnen seine Lehren zu diskutieren; in der Zwischenzeit beabsichtige er, noch an andere φίλοι und abermals an den Adressaten selbst zu schreiben, wahrscheinlich um ihnen ein βιβλίον zu übersenden:82 ἔτι δὲ γίνωσκε | ὅτι τοῦ Ἐλαφηβολιώνος | ἀροῦμεν διὰ νήσων· ὥσ̣τ’|10 ἀπαντᾶν ἐπὶ Σάμου κα|λῶς καὶ ἡδέως καὶ μακα|ρίως ὑπάρχει σοι καὶ παν|τὶ τῶ̣ι̣ ε̣ ὐ̣κ̣α̣ι̣ ροῦντι τῶ̣ν̣ | τ̣ ὰ̣ ὅ̣ [λα δε]χο̣ μένων, ἅμα̣ |15 διαθ̣ [εω]ρ̣[εῖ]ν τ̣ ὰ̣ [ἕ]καστα | ὧν [σοι ἀ]π̣α̣γγέλ̣λ̣ω καὶ̣ | α̣ὐτ̣ [οῖς] δ̣ῆλον ὡς συλ̣|λο[γὴ ἔστ]α̣ι̣ . τ̣ ὰ̣ ̀ς ́ δ̣’ ἐπιστο̣ |λὰς̣ [πέμπ]ε̣ τε̣ πρὸς α̣[ ] [ὥσ]|20τε ἀ̣[πεστ]αλμένη̣[ς λοιδορο]|τ̣ ά̣τ̣ [ης π]ρός μ[ε καὶ Μητρό]|δω[ρον τι]ν̣ ’ ἡ̣[μᾶς ἂν μὴ αἰ]|τιάσα[σθ]α̣ι· πρὸς [τούτοις] | γράψω̣ [το]ῖς φίλ̣ο̣ ις [ὕστε]|25ρόν ̀σοι [ ̣ ̣ ̣] ̣ ̣ απω[ ̣ ̣ ̣ ̣] | τ̣ ὸ̣ β̣ι̣β̣[λίον ̣ ̣ ̣] ̣ ι̣ ν ̣[ ̣ ̣ ̣ ̣ ̣] Du sollst außerdem wissen, dass wir im Monat Elaphebolion auf dem Weg über die Inseln abreisen werden, sodass Du und bei Gelegenheit jeder von denjenigen, welche die Grundprinzipien meiner Lehre annehmen, mich in Samos im Zeichen des Guten, der Freude und der Glückseligkeit treffen und zusammen (mit mir) jede einzelne der Fragen, die ich Dir ankündige und von denen sie selbstverständlich eine (schriftliche) Sammlung erhalten werden, erörtern kann. Schickt ihm (scil. Leonteus, einem Schüler Epikurs) jedoch die Briefe, sodass es vermieden wird, dass jemand uns Vorwürfe macht, da schon ein höchst beleidigender Brief an mich und Metrodor gerichtet wurde. Darüber hinaus werde ich an die Freunde, dann an Dich schreiben […] das Buch […] (meine Übersetzung).
|| 80 Dazu Hammerstaedt (2014) 144f.; Id. (2016) 272 und Anm. 49. Vgl. auch Gordon (1996) 122– 135; Clay (1998) 58f. 81 Obbink/Schorn (2011). 82 POxy 5077 col. 1, 7–26 Angeli.
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Die kommunikative Situation hier ist offensichtlich am ehesten vergleichbar mit derjenigen, die Diogenes beschreibt bzw. bewusst konstruiert: Der Brief, genauer gesagt sein einleitender Abschnitt, soll die Bindung des Empfängers an den Absender verstärken,83 ob es nun um einen einzelnen oder um eine ganze Gemeinde geht; er weist auf sachlicher Ebene auf eine vorhergehende Korrespondenz hin, ruft aber auch emotionale Elemente auf, die ihrerseits die Effizienz der didaktischen Mitteilung durch ein exemplum gewährleisten; schließlich bietet er, wie das Wort βιβλίον vermuten lässt, über das der lückenhafte Text an dieser Stelle des Papyrus leider keine präziseren Auskünfte gibt, auch eine Schilderung der Textgattung, die vom Brief eingeleitet wird.
4 Fazit In der vorangehenden Analyse habe ich den Versuch unternommen, bei zwei verschiedenen Varianten wissensvermittelnder Kommunikation, nämlich dem gleichzeitig durch Konkurrenz und Kooperation geprägten Dialog unter Fachkollegen einerseits und der auf gegenseitiger φιλία zwischen Meister und Schüler basierenden philosophischen Unterweisung andererseits, Funktionskonstanten der Textsorte Widmungsbrief/Briefproömium zu bestimmen. Als primäre Funktion hat sich dabei der Aufbau bzw. die Aufrechterhaltung einer Bindung an den Adressanten ergeben. In den oben genannten Beispielen zeigt sich dies vor allem daran, dass der Adressant auf die bereits laufende Korrespondenz oder auf die bestehenden Verhältnisse zum Adressaten Bezug nimmt mit der Absicht, Betreff und Anlass der Mitteilung deutlich zu machen. Dabei kann, je nach Situation, eine Aufforderung zu Kritik und Anregung von Seiten des Adressaten (Prinzip des peer reviewing)84 oder eine mehr oder minder implizite Erinnerung an die Voraussetzungen des Unterweisungsverhältnisses vorkommen (gegenseitige φιλία und Vertrauen, auctoritas und Gültigkeit des vom Adressanten angebotenen exemplum, Bereitschaft des Adressaten zum Lernen und Üben). Gleichzeitig ist der Widmungsbrief bzw. das Briefproömium auch ein Raum der auktorialen Selbstdarstellung. Der Adressant gestaltet dadurch eine eigene
|| 83 S. Roskam (2015) 159. 84 In manchen Fällen fungiert eine solche Aufforderung über die eigentliche Bedeutung hinaus als rhetorisches Mittel der captatio.
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Figur, die seine Absicht verrät, die im Text vertretenen Positionen zu beglaubigen und, falls nötig, im Rahmen eines Konkurrenzverhältnisses zu verteidigen. Auf sachlicher Ebene dient diese Art Paratext schließlich oft dazu, den Umgang des Adressaten mit dem Text möglichst zu unterstützen und zu steuern. In den Briefen von Archimedes und Apollonios enthält er eine Zusammenfassung des Inhaltes und fungiert, indem noch nicht die Sondersprache des Fachdiskurses einsetzt, als erste Einführung in die Materie. Im Fall der philosophischen Unterweisung, deren Form und Methoden viel weniger strukturiert sind als die der mathematischen Prosa, tritt er dagegen als Instrument der Bestimmung und Rechtfertigung der literarischen Form des Textes auf.85
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|| 85 Zu dieser spezifischen Funktion in Diogenes’ Inschrift s. Hammerstaedt (2016) 272.
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| II. Kommunikative Strategien in den Briefen Ciceros
Sabine Retsch
(Exil-)Kommunikation unter Brüdern: Cicero, Q. fr. 1,3 1 M. Tullius Cicero im Exil Caecin. 100: Nam quod ad exsilium attinet, perspicue intellegi potest quale sit. Exsilium enim non supplicium est, sed perfugium portusque supplici. Nam quia volunt poenam aliquam subterfugere aut calamitatem, eo solum vertunt, hoc est sedem ac locum mutant. Itaque nulla in lege nostra reperietur, ut apud ceteras civitates, maleficium ullum exsilio esse multatum.1 Denn was die Selbstverbannung angeht, so kann man deutlich erkennen, was es damit auf sich hat. Die Selbstverbannung ist nämlich keine Strafe, sondern ein Zufluchtsort und Schutz vor der Strafe. Denn weil man sich einer Strafe oder einem Unheil entziehen will, deshalb , das heißt, man ändert seinen Wohnsitz und Aufenthaltsort. Daher findet sich in keinem unserer Gesetze, dass, wie in den anderen Staaten, ein Vergehen mit Verbannung bestraft wird.2
Bei der Abfassung dieser Zeilen hatte Marcus Tullius Cicero im Jahre 69/68 v. Chr. wohl kaum im Sinn, dass ihn der genannte Definitionsgegenstand knapp zehn Jahre später selbst betreffen sollte.3 Während das ex(s)ilium4 einem römischen Bürger in der früheren republikanischen Zeit die Möglichkeit eröffnete, sich einer drohenden Verurteilung mittels freiwilligem Verlassen der Stadt zu entziehen, vollzog sich zu Ciceros Lebzeiten insofern ein Wandel, als dass das exsilium nun zur Vermeidung des Strafvollzugs genutzt wurde,5 bevor es ab dem
|| 1 Der lateinische Text der Rede Pro A. Caecina folgt der OCT-Ausgabe von Clark (1978). 2 Übersetzung des Passus aus der Rede Pro A. Caecina: Fuhrmann (1985), mit orthographischer Anpassung. 3 Der zitierte Passus aus Ciceros Rede Pro A. Caecina ist Teil eines staatsrechtlichen Exkurses über das Bürgerrecht beziehungsweise dessen Verlust (Caecin. 98–101), vgl. zur Rede und ihrer Datierung sowie zum Zeitpunkt des Prozesses Mühlhölzl (1992) 2, 4–8 und 141–144; Stini (2011) 31. 4 Zur Etymologie des Wortes ex(s)ilium und dem damit einhergehenden Vorrang der Schreibweise exsilium vor exilium vgl. Schmitzer (2010) 57, mit Verweis auf Cassiod. gramm. VII = de orthographia, 1, p. 152,6. 5 Zur rechtsgeschichtlichen Definition und Entwicklung des römischen Exils vgl. Kleinfeller (1909) 1683–1685; s. zudem Grasmück (1978) 62–145, v.a. 62–109, der betont, dass Cicero mit seinen Ausführungen in Caecin. 100 „das exilium ohne nachfolgende Ächtung im Auge“ (102)
https://doi.org/10.1515/9783110676303-004
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Jahre 63 v. Chr. durch die lex Tullia de ambitu zur Strafe selbst umfunktioniert werden sollte.6 Obgleich Cicero im März 58 v. Chr. noch am Tag vor der Verabschiedung der auf ihn gemünzten7, vom verfeindeten8 Volkstribun P. Clodius Pulcher eingebrachten lex Clodia de capite civis Romani9 floh und sich faktisch ‚freiwillig‘10 in die Verbannung begab, verleiht der Umstand, dass die Transformation des exsilium von der Emigration aus freien Stücken hin zur auferlegten Strafe ausgerechnet durch sein eigenes konsularisches Gesetz eingeleitet worden war, seinem Exil (März 58 v. Chr. bis August 57 v. Chr.) eine besondere Tragik.11
|| gehabt habe; s. außerdem Doblhofer (1987) 49–59, v.a. 51; Kelly (2006) 17–67; Stini (2011) 31– 53. 6 Zur lex Tullia de ambitu als poena legis s. Kleinfeller (1909) 1684; Grasmück (1978) 102–103; Doblhofer (1987) 51–52; Nadig (1997) 48–55; Gamauf (1998) 344; Stini (2011) 32–36; Kelly (2006) 43–44. 7 Zur Vorgeschichte, d.h. Ciceros Durchgreifen gegen Beteiligte der Catilinarischen Verschwörung im Jahre seines Konsulats (63 v. Chr.), vgl. Plut. Cic. 19–22. Cicero selbst kommentiert sein Handeln rückblickend in Sull. 33: […] quinque hominibus comprehensis atque confessis […]; ego vitam omnium civium, statum orbis terrae, urbem hanc denique, […] quinque hominum amentium ac perditorum poena redemi (der lateinische Text der Rede Pro Sulla folgt der OCT-Ausgabe von Clark [1978]); zum Umstand, dass Cicero dort nicht erwähnt, dass es sich bei der verhängten Strafe um die Todesstrafe handelt, sowie zu seinem Bemühen, eine gewisse Distanz zwischen sich selbst und der über die Catilinarier verhängten Todesstrafe herzustellen, s. Robinson (1994) 43–51, v.a. 44–45 und 50. 8 Zum bona-dea-Skandal und der Feindschaft zwischen Clodius und Cicero vgl. Att. 1,13,3; Plut. Cic. 28–31. 9 Vell. 2,45: , qui civem Romanum demnatum interemisset, ei aqua et igni interdiceretur (der lateinische Text der Historia Romana folgt der Ausgabe von Watt [1988]). 10 Laut Häsler (1935) verließ Cicero die Heimat zwar freiwillig, kam damit aber „dem bereits erwarteten Verbannungsbeschluß nur um einen halben Tag“ (40–41) zuvor. Erst das einige Tage später von Clodius veranlasste Plebiszit nannte Cicero namentlich, dom. 44: Quaero enim quid sit aliud nisi proscribere VELITIS IVBEATIS VT M. TVLLIVS IN CIVITATE NE SIT BONAQVE EIVS VT MEA SINT: ita enim re, etsi aliis verbis, tulit. Hoc plebei scitum est? (der lateinische Text der Rede De domo sua folgt der OCT-Ausgabe von Peterson [1911]); zudem wurde ein Bannkreis um Rom angesetzt, Att. 3,4: […] ut mihi ultra quingenta milia liceret esse, illuc pervenire non liceret (der lateinische Text der Epistulae ad Atticum folgt den OCT-Ausgaben von Watt [1963] und Shackleton Bailey [1961]); vgl. hierzu auch Plut. Cic. 32. 11 Zu den Hintergründen der Verbannung Ciceros s. Grasmück (1977) 165–167; Grasmück (1978) 110–127; Christopherson (1989) 33–48; Shackleton Bailey (1991) 1–4; Nicholson (1992) 19–23; Spielvogel (1993) 53–71; Kelly (2006) 110–125.
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2 Q. fr. 1,3 als Teil der Ciceronischen Exilkorrespondenz Der Nachwelt wurden aus Ciceros Exilzeit12 insgesamt 34 Briefe tradiert. Von diesen richten sich vier an Ciceros Ehefrau Terentia sowie seine Kinder Tullia und Marcus (fam. 14,1–14,4), zwei an den Bruder Quintus (Q. fr. 1,3–1,4), siebenundzwanzig an den Freund Atticus (Att. 3,1–3,27) und einer an Q. Caecilius Metellus Nepos (fam. 5,4), der im Jahre 57 v. Chr. gemeinsam mit P. Cornelius Lentulus Spinther das Konsulat innehatte. Was den Typus der Ciceronischen Exilbriefe angeht, so lautet die gängige Meinung, es handle sich um „echte Privatbriefe“13, die sich „nicht an eine breite Öffentlichkeit“14 richten. Hinsichtlich der Intention, die Cicero mit ihnen jeweils verfolgt, scheint auf den ersten Blick nur der Brief an den Politiker Q. Caecilius Metellus Nepos hervorzustechen: Mit fam. 5,4 arbeite Cicero, so die Deutung des Briefes, unübersehbar darauf hin, dass der Adressat ihm in der Sache ‚Rückberufung aus dem Exil‘ wohlwollend zur Seite stehe oder zumindest nicht die Unterstützung des Amtskollegen P. Cornelius Lentulus Spinther korrumpiere.15 Denn Cicero stellt dem Angesprochenen in aller Offenheit als Gegenleistung für die Zukunft seine eigene Unterstützung in Aussicht,16 wodurch deutlich wird, dass das Schreiben (politisch-)strategisch motiviert ist.17 Anders verhalte es sich, so die traditionelle Lesart der Exilbriefe, mit den Schreiben, die Cicero an Quintus, Terentia und seine Kinder sowie Atticus adressiert: diese gewähren einen unverstellten Blick in seine gedankliche Exilwelt und geben seine inners-
|| 12 Gemäß der Typologie von Herescu (1959) 137–156 handelt es sich bei Ciceros Exil der Jahre 58/57 v. Chr. um das erste von dreien. Das zweite Exil sei die Statthalterschaft von Kilikien (51/50 v. Chr.) gewesen, während das dritte als „émigré de l’intérieur“ (141) zu bezeichnen sei und seine letzten Lebensjahre ab 47 v. Chr. umfasse; vgl. hierzu sowie zu Ciceros späterer Uminterpretation des Exils der Jahre 58/57 v. Chr. Cohen (2007). 13 Jäger (1986) 33. 14 Jäger (1986) 33. 15 So Kasten (1976) 960; zu Ciceros Meinung hinsichtlich Q. Caecilius Metellus Nepos s. Att. 3,12,1: […] inimico consule designato?; zu dessen Einsatz für Ciceros Rückberufung aus der Verbannung vgl. p. red. in sen. 25–26; Sest. 130–131. 16 Fam. 5,4,2: Quod si mihi tua clementia opem tuleris, omnibus in rebus me fore in tua potestate tibi confirmo (der lateinische Text der Epistulae ad familiares folgt der OCT-Ausgabe von Watt [1982]). 17 Zu Ciceros politisch motivierter Lenkung von Adressaten jenseits der Exilbriefe s. exemplarisch die Analyse der Korrespondenz zwischen Cicero und C. Scribonius Curio (fam. 2,1–7) im Beitrag von Tobias Dänzer in diesem Tagungsband (95‒119).
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ten Emotionen preis, lautet das Urteil.18 In logischer Konsequenz, so könnte man nun (vorschnell) schlussfolgern, stünde innerhalb der gesamten Ciceronischen Exilkorrespondenz also einem einzelnen, dezidiert strategisch motivierten Brief (fam. 5,4) eine große Gruppe von 33 Briefen gegenüber, welche allesamt nicht aus einer strategischen Haltung heraus abgefasst wurden, sondern schlichtweg vertraut-familiär bzw. freundschaftlich und ohne komplexere Hintergedanken formuliert sind. Dass eine solche Distinktion der Ciceronischen Exilbriefe in die intransigenten Kategorien ‚strategisch motivierter Brief‘ und ‚nicht strategisch motivierter Brief‘ indes zu kurz greift, wird m.E. besonders an den Briefen, die Cicero an seinen Bruder Quintus schreibt (Q. fr. 1,3 und 1,4), deutlich. Diese setzen sich innerhalb der großen, vermeintlich nicht aus einer strategischen Haltung heraus abgefassten Gruppe an Briefen durch das spezifische verwandtschaftliche Verhältnis zwischen dem Adressanten, d.h. dem Schreiber, und dem Adressaten ab.19 Im Forschungsdiskurs wird ihnen ein besonders hoher Grad an Emotionalität bescheinigt: Sie seien – ebenso wie die Exilbriefe an Terentia und die Kinder – „spontaner und direkter“20 und somit emotionaler verfasst als die an Atticus gerichteten Exilbriefe, lautet das Urteil.21
|| 18 Zur traditionellen Lesart der Exilbriefe s. exemplarisch Stockton (1971): „[…] it must be admitted that Cicero in exile reminds one of a petulant and emotionally self-indulgent child. Some of the letters have a note that can be described only as ʽwhining’” (190); zu den Themen und den zum Ausdruck gebrachten Emotionen in Ciceros Exilbriefen s. Garcea (2005) 143–268; Kelly (2006) 133–160; zu Ciceros Heimweh als Charakteristikum seiner Exilbriefe s. Cohen (2007) 109; zur Deutung der Exilbriefe s. außerdem zusammenfassend Hutchinson (1998): „Cicero’s letters from exile have typically been viewed as extreme and somewhat embarrassing outpourings of emotion.” (25); s. jedoch auch Jäger (1986), der konstatiert, dass es sich bei Ciceros Exilbriefen zwar um Briefe privaten Charakters handle, solche jedoch durchaus „kalkuliert formuliert“ (33) sein könnten. 19 Die Briefe Q. fr. 1,3–1,4 sind Teil der unvollständig tradierten brüderlichen Korrespondenz Epistulae ad Quintum fratrem, die insgesamt 27 Briefe Ciceros aus den Jahren 60/59–54 v. Chr., nicht aber die der Gegenseite (d.h. Quintus’ Briefe) enthält, wobei der über die Briefsammlung Epistulae ad familiares überlieferte Brief fam. 16,16 die einzige Ausnahme bildet. Dass Cicero in der Verbannung auch seinerseits Briefe des Bruders erhielt, belegen u.a. die Briefe Att. 3,22 und Att. 3,26. 20 Jäger (1986) 96. 21 Vgl. Jäger (1986) 31–135, v.a. 95–96; Claassen (1999) 109; s. zudem Marsh (2014) 43: „emotional storm of shame and guilt“; auch Hutchinson (1998) 25–48, v.a. 38–47, bescheinigt dem Brief Q. fr. 1,3 eine emotionale Ausgestaltung, identifiziert in ihm jedoch zugleich eine starke rhetorische Färbung (38: „fully formalized rhetoric“) und erkennt in den Exilbriefen im Ganzen einen hohen Grad an Komplexität: „There the relations of emotion, persuasion, art, and the self are elaborate and entangled. These very letters, which appear on a superficial inspection so direct and straightforward, show on more careful analysis the complexity and organizing
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Obschon die brüderliche Beziehung in den Briefen Q. fr. 1,3 und 1,4 wiederholt und auffällig direkt ins Zentrum der Briefkommunikation gerückt wird,22 wurde die Interaktion zwischen Adressant und Adressat ebenso wie die spezifische, auf den Adressaten abgestimmte Briefintention seitens des Adressanten bisher nur wenig hinterfragt.23 Exemplarisch soll daher im Folgenden die brüderliche Exilkommunikation der beiden Cicerones unter dem Aspekt der Kommunikativität der Gattung ‚Brief‘ besprochen werden, wobei sich die Untersuchung auf den Brief Q. fr. 1,3, der etwa doppelt so umfangreich wie der Brief Q. fr. 1,4 ist, konzentriert. Hierfür werde ich nach einer kurzen Vorstellung des Adressaten beleuchten, mittels welcher im Text greifbarer kommunikativer Strategien Cicero den Brief an seinen Bruder Quintus in seiner Charakteristik als „Medium sprachlichkommunikativen Handelns“24 funktional zum Erfolg zu führen beabsichtigt und inwiefern die verwandtschaftliche Beziehung zwischen Adressant und Adressat in die (textinterne) argumentative Kommunikationsstruktur eingeknüpft wird und Letzterer für die (textexterne) Rückberufung des Adressanten aus dem Exil instrumentalisiert werden soll.
3 Q. Tullius Cicero Über Quintus Tullius Cicero, den Adressaten des Briefes Q. fr. 1,3, sind der Nachwelt durch das Ciceronische Œuvre einige biographische Eckdaten be|| intelligence so characteristic of their author” (48); zur rhetorischen Lesart der Briefe Ciceros s. zudem Beard (2002) 103–144. 22 So etwa in Q. fr. 1,3,3: quid mihi sine te umquam aut tibi sine me iucundum fuit? (der lateinische Text der Epistulae ad Quintum fratrem folgt der OCT-Ausgabe von Watt [1958]). 23 Die einschlägige Studie zu Ciceros Briefen von White (2010) spart die Briefe Q. fr. 1,3 und 1,4 beinahe vollständig aus und auch Morello’s (2013) Aufsatz zu Ciceros individuellem Umgang mit Adressaten konzentriert sich auf andere Personen (Papirius Paetus, Curio, Atticus, Marius und Cato). Während Jäger (1986) 86–90 und 95–96 eine sprachlich-stilistische Analyse der Briefe Q. fr. 1,3 und 1,4 vorlegt, widmet Hutchinson (1998) Ciceros Exilbriefen in seiner Monographie zur Ciceronischen Briefkorrespondenz ein ganzes Kapitel (25–48) und bespricht den Brief Q. fr. 1,3 im Detail (38–47) (s. hierzu nochmal Anm. 21 dieses Beitrags); zu nennen sind an dieser Stelle zudem Bannon (1997), die in ihrer Studie zur brüderlichen pietas auf eine Überlappung der familiären und öffentlichen Bereiche im Brief Q. fr. 1,3 hinweist (109: „personal anguish is interwoven with political strategy in letters to both Quintus and Atticus“), und Prost (2015), der im Brief Q. fr. 1,3 u.a. eine „dimension politique” (17) und eine „dimension symbolique“ (18) identifiziert. 24 Ermert (1979) 59.
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kannt:25 Im Jahre 102 v. Chr. geboren und damit nur wenige Jahre jünger26 als Marcus (bzw. ‚Cicero‘), wurde Quintus gemeinsam mit diesem unterrichtet27 und begleitete ihn auf eine Bildungsreise nach Griechenland (79–77 v. Chr.).28 Er war Ciceros einziger Bruder.29 Zurück in Rom schlug Quintus eine politische Laufbahn ein und bewarb sich für das Jahr 65 v. Chr. erfolgreich um das Amt des Ädils.30 Im Jahre 62 v. Chr. erlangte er die Prätur, die ihn für drei Jahre in die ferne Provinz Asia (61–58 v. Chr.), als deren Statthalter er fungieren sollte, führte.31 Wenige Monate nach seiner Rückkehr nach Rom32 erhielt er von Cn. Pompeius Magnus, dem für die kommenden fünf Jahre die potestas rei frumentariae toto orbe übertragen worden war, eine legatio und begab sich für ein halbes Jahr in die Provinz Sardinia (57–56 v. Chr.).33 Weitere Verpflichtungen als Legat folgten: Für C. Iulius Caesar ging Quintus nach Gallia und Britannia (54–52 v. Chr.)34 und für seinen eigenen Bruder nach Cilicia (51–50 v. Chr.).35 Der Großteil seiner politischen Aktivitäten spielte sich somit fern von Rom ab und die höchste Karrierestufe, das Konsulat, erreichte er – im Gegensatz zu Cicero – nie.36 Wie dieser starb er im Jahre 43 v. Chr. im Zuge der Proskriptionen des Zweiten Triumvirats.37
|| 25 Zu Quintus’ Leben und Wirken s. die Übersichten von Pütz (1833), Drumann (1844), Blase (1847), Wiemer (1930), Münzer (1948), McDermott (1971) und Deißmann-Merten (1979). 26 Att. 1,5,2: […] fratrem […] minorem […]; zur Rekonstruktion des Geburtsjahres 102 v. Chr. s. Wiemer (1930) 3. 27 So Ciceros Worte in orat. 2,1–3. 28 Vgl. fin. 5,1. 29 Att. 3,19,2: […] unici fratris […]. 30 Att. 1,4,1: obieris Quinti fratris comitia; Q. fr. 1,3,8: […] cum aedilitatem petebas […]; zur Datierung von Quintus’ Ädilität vgl. McDermott (1971) 712. Eine vorausgehende Quästur ist nicht belegt, so Drumann (1844) 720. 31 Att. 1,14,5: Senatus et de provinciis praetorum […] decernebat […]; Att. 1,15,1: Asiam Quinto, suavissimo fratri, obtigisse audisti; zu Quintus’ Statthalterschaft in der Provinz Asia vgl. Q. fr. 1,1 und 1,2. 32 Laut Cicero reiste Quintus Ende April 58 v. Chr. aus der Provinz Asia ab, Att. 3,9,1: Quintus frater cum ex Asia discessisset ante Kal. Mai. […]. 33 Vgl. Att. 4,1,7; Q. fr. 2,1–2,7; zum Zusammenhang der legatio und Pompeius’ Hilfe bei Ciceros Rückberufung aus dem Exil s. Sternkopf (1904) 383–384; Wiseman (1966) 111–112. 34 Vgl. Q. fr. 2,13–3,7. 35 Fam. 15,4,8: […] Quintus frater legatus […]. 36 Zu Quintus’ Ambitionen auf das Konsulat des Jahres 54 v. Chr. s. Wiseman (1966) 108–115, v.a. 109 und 114. 37 Vgl. Plut. Cic. 46–47.
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4 Verknüpfte Kommunikationsstrategien: Missverständnis-Behebung als Mittel zur Lenkung des Adressaten in Rom Der Brief Q. fr. 1,3 ist auf den 13. Juni 58 v. Chr. datiert.38 Mit ihm antwortet Cicero seinem Bruder Quintus auf einen Brief, in dem dieser seine Verwunderung darüber, dass eine seit Wochen geplante Zusammenkunft39 seitens des älteren Bruders abgesagt worden war, zum Ausdruck gebracht hatte.40 Quintus’ Erstaunen ist angesichts der Vorgeschichte verständlich: Da er selbst seit 61 v. Chr. die Statthalterschaft der Provinz Asia innegehabt hatte, konnten die Brüder über einen langen Zeitraum hinweg nur brieflich miteinander kommunizieren. Das Treffen wäre ein ersehntes Wiedersehen nach Jahren der Trennung gewesen,41 zumal sich der verbannte ältere Bruder gegenwärtig in einer nie zuvor dagewesenen Ausnahmesituation befand. Da das Ende von Quintus’ provinzialen Dienstgeschäften mit Ciceros ersten Wochen jenseits des Bannkreises um Rom zusammenfiel, war es für die Brüder naheliegend, die Rückreise42 des Jüngeren gen Westen für eine persönliche Zusammenkunft zu nutzen, obgleich sich die Festlegung des exakten Treffpunktes anfangs schwierig gestaltete: Während Cicero Ende April 58 v. Chr. in Brundisium sogar noch in Erwägung gezogen hatte, seinen eigenen Aufenthaltsort vom Ort des geplanten Treffens abhängig zu machen,43 erreichten ihn bis Ende Mai 58 v. Chr. nur widersprüchliche Meldungen bezüglich Quintus’ Reiseroute, die ihn, der aus Sicherheitsgründen inzwischen in das entferntere Thessalonike weitergereist war, veranlassten, dem Bruder einen Boten mit der Bitte, ihn direkt in Thessalonike zu treffen,
|| 38 Zur Interpretation des Briefes s. Hutchinson (1998) 38–48; Garcea (2005) 35–41; Prost (2015), 15–21 und 33; zur Datierung s. Shackleton Bailey (1980) 166; Jäger (1986) 86. 39 Cicero erwähnt dieses Treffen zum ersten Mal in einem Brief an Atticus vom 29. April 58 v. Chr., Att. 3,7,3: […] de fratre, ubi eum visuri essemus […]. 40 Quintus’ Schreiben ist nicht erhalten (vgl. nochmals Anm. 19 dieses Beitrags) und der Inhalt nur aus Q. fr. 1,3 rekonstruierbar. 41 Q. fr. 1,1,1: […] annum tertium accessisse desiderio nostro et labori tuo […]. Nam superioribus litteris non unis sed pluribus, […] tamen tibi ego spem maturae decessionis adferebam, […] ut quam diutissime te iucunda opinione oblectarem […]. 42 Zum Zeitpunkt der Abreise vgl. nochmal Anm. 32 dieses Beitrags. 43 Att. 3,7,3: nam aut accedemus in Epirum aut tarde per Candaviam ibimus. Dubitationem autem de Epiro non inconstantia nostra adferebat sed quod de fratre, ubi eum visuri essemus, nesciebamus.
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nach Athen zu schicken.44 Quintus hatte sich zwischenzeitlich für die Seeroute Ephesus–Athen entschieden und war am 15. Mai 58 v. Chr. in Athen angekommen,45 doch erreichten ihn dort nur Boten seines älteren Bruders, die das Treffen mündlich absagten. Einen Brief mit einer schlüssigen Erklärung der Absage erhielt er bei dieser Gelegenheit nicht.46 Dass Quintus eine solche Erklärung nachträglich erhalten sollte, zeigt der Beginn des besagten Antwortschreibens seitens Ciceros (= Q. fr. 1,3), der für die Untersuchung der kommunikativen Briefstrategien in seiner Funktion als Aufhänger für Ciceros im Folgenden entwickelte Argumentation von zentraler Bedeutung ist. So belegt der erste Satz des Briefes, dass Quintus seinerseits zuvor die Befürchtung geäußert hatte, der Bruder habe ihm aus Zorn keinen Brief geschickt und habe ihn nicht sehen wollen: Q. fr. 1,3,1: Mi frater, mi frater, mi frater, tune id veritus es, ne ego iracundia aliqua adductus pueros ad te sine litteris miserim aut etiam ne te videre noluerim? ego tibi irascerer? tibi ego possem irasci? Mein Bruder, mein Bruder, mein Bruder, wie hast du nur befürchten können, ich hätte meine Leute in einer Aufwallung von Zorn ohne Brief zu dir geschickt oder gar, ich hätte dich nicht sehen wollen? Ich sollte dir zürnen? Ich könnte überhaupt böse auf dich sein?47
Bereits die sprachliche Ausgestaltung des Briefbeginns zeigt, dass Cicero bemüht ist, Quintus’ Befürchtungen zu entkräften und die Angelegenheit aufzuklären: Der unvermittelte Einstieg in den Brief mittels dreifacher direkter Anrede an den Adressaten (Mi frater, mi frater, mi frater) mutet in Kombination mit den pointierten Fragesätzen geradezu dialogisch an und der briefspezifische
|| 44 Att. 3,8,1: […] quas ob causas in Epirum non essemus profecti, quod et Achaia prope esset, plena audacissimorum inimicorum, et exitus difficilis haberet cum inde proficisceremur. Accessit cum Dyrrachi essemus ut duo nuntii adferrentur, unus classe fratrem Epheso Athenas, alter pedibus per Macedoniam venire. Itaque illi obviam misimus Athenas ut inde Thessalonicam veniret. Ipsi processimus et Thessalonicam a. d. X Kal. Iun. venimus neque de illius itinere quicquam certi habebamus nisi eum ab Epheso ante aliquanto profectum. 45 Att. 3,9,1: Quintus frater […] Athenas venisset Id. Mai. […]. 46 Erst etwas später gab Cicero Philogonos, einem Freigelassenen seines Bruders, einen Brief für Letzteren mit. In diesem legte er Quintus eine zügige Weiterreise nach Rom nahe und verlieh seiner Bitte durch eine mündlich übermittelte Nachricht Nachdruck, Q. fr. 1,3,4: Sed tamen, quoquo modo potui, scripsi et dedi litteras ad te Philogono, liberto tuo, quas credo tibi postea redditas esse; in quibus idem te hortor et rogo quod pueri tibi verbis meis nuntiarunt, ut Romam protinus pergas et properes. 47 Übersetzung der Passagen aus den Epistulae ad Quintum fratrem: Blank-Sangmeister (1993), mit geringfügigen Modifikationen.
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Topos vom ‚Gespräch unter Abwesenden‘48 – gemäß dem die räumliche Trennung zweier Briefpartner durch das Medium ‚Brief‘ nachgerade aufgehoben wird – tritt deutlich zu Tage.49 Die anaphorische Ansprache an den Bruder lässt die schriftliche Kommunikation unmittelbarer wirken und wird durch das Possessivpronomen mi verstärkt, wodurch ein affektiver Grundton sowie ein starker Adressatenbezug des Briefes angezeigt und ein klarer Fingerzeig auf ein vertrautes, harmonisches Verhältnis zwischen Adressant und Adressat gegeben wird. Mittels rhetorischer Fragen (ego tibi irascerer? tibi ego possem irasci?) artikuliert der Schreiber deutlich, dass negative Gefühlswallungen seinerseits überhaupt nicht möglich seien, und bringt damit zum Ausdruck, dass er den Adressaten des Briefes vielmehr gerne von Angesicht zu Angesicht gesehen hätte. Cicero gibt Quintus zu verstehen, dass die brüderliche Liebe zu ihm im Exil nicht getrübt worden war, und stellt in Abrede, dass die Absage des Treffens auf einer in dessen Brief offenbar angedeuteten Zerrüttung des brüderlichen Verhältnisses beruht. Er deklariert nicht nur Quintus’ Befürchtungen – oder vielmehr Anschuldigungen – von Beginn an als Missverständnis, sondern rückt auch die Beziehung zwischen Adressant und Adressat bewusst in den Vordergrund der brieflichen Kommunikation. Seine eigene Zuneigungsbekundung fungiert als Beweis des guten brüderlichen Verhältnisses und markiert als erstes Argument den Beginn einer ausgefeilten sechsteiligen Argumentationskette. Mit ihr zielt Cicero darauf ab, sein befremdliches Handeln (d.h. die Absage des Treffens und den Verzicht auf einen erklärenden Brief) zu rechtfertigen und das durch Mündlichkeit entstandene Missverständnis aus der Ferne per schriftlichem Medium ‚Brief‘ zu beheben.50 Die durch die Zuneigungsbekundung angestoßene ‚MissverständnisBehebungsstrategie‘ findet ihre Fortsetzung im zweiten Argument, dem Aspekt der Schuld des Adressanten am Exil (Q. fr. 1,3,1):51 Cicero hält Quintus’ brief-
|| 48 Zum Topos, wonach ein Brief ein Gespräch unter Abwesenden (amicorum conloquia absentium) sei, s. Phil. 2,7. 49 Zur szenenartigen ‚Gesprächssituation‘ des Briefes Q. fr. 1,3 vgl. Jäger (1986) 87. 50 S. hierzu Hutchinson (1998) 38: „His object is partly to mollify Quintus, and assure him of his own affection: the display of emotion has, then, in part a persuasive purpose.” Laut Prost (2015) wohnte Ciceros vormaligem (Fehl-)Verhalten das Potenzial inne, eine „grave crise de l’amor fraternel” (18) zu provozieren. 51 Q. fr. 1,3,1: Scilicet, tu enim me adflixisti, tui me inimici, tua me invidia ac non ego te misere perdidi. Meus ille laudatus consulatus mihi te, liberos, patriam, fortunas, tibi velim ne quid eripuerit praeter unum me. Sed certe a te mihi omnia semper honesta et iucunda ceciderunt, a me tibi luctus meae calamitatis, metus tuae, desiderium, maeror, solitudo.
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licher Selbstanklage „mit ironischem Unterton“52 entgegen, dass vielmehr er selbst – respektive seine Feinde und deren Hass – schuld am Unglück b e i d e r Brüder gewesen sei (ego te misere perdidi […] mihi te […] tibi velim ne quid eripuerit praeter unum me). Er lässt Quintus’ Vermutungen bezüglich der Ursache des abgesagten Treffens als haltlos erscheinen, besagt doch dessen bisherige Schuld- und Tadellosigkeit (a te mihi omnia semper honesta et iucunda ceciderunt) in logischer Konsequenz, dass er selbst keinen Grund gehabt haben könne, ihm gegenüber verstimmt zu sein. Die persuasiv-strategische Färbung des Arguments emergiert dabei erst vor dem Hintergrund, dass seine panegyrisch anmutende Lobrede auf Quintus von früheren Briefen der brüderlichen Korrespondenz diametral widerlegt wird: Quintus’ problematischer Charakter und sein Verhalten während der Statthalterschaft in der Provinz Asia hatten zuvor durchaus Verstimmungen im brüderlichen Verhältnis evoziert und Cicero hatte keineswegs immer nur honesta et iucunda seitens des jüngeren Bruders erhalten.53 Als drittes Argument führt Cicero seine eigene Transformation vom Bruder zum ‚Bild eines lebendigen Toten‘54 (effigiem spirantis mortui) an, dessen Anblick er Quintus habe ersparen wollen (Q. fr. 1,3,1–2):55 Unter Wiederholung der Anschuldigung seitens Quintus’ (ego te videre noluerim?), die er rhetorisch versiert in eine Passivkonstruktion und damit ins Gegenteil verkehrt (Immo vero me a te videri nolui),56 ruft Cicero unter Verwendung zweier Alliterationen nos-
|| 52 Jäger (1986) 87. 53 In Q. fr. 1,2,7 kritisiert Cicero Quintus’ sprachliche Ausfälle sowie dessen Jähzorn, Sorglosigkeit bei der amtlichen Korrespondenz und Spottlust: Ac si omnium mearum litterarum praecepta repetes, intelleges esse nihil a me nisi orationis acerbitatem et iracundiam et, si forte, raro litterarum missarum indiligentiam reprehensam. Quibus quidem in rebus si apud te plus auctoritas mea quam tua sive natura paulo acrior sive quaedam dulcedo iracundiae sive dicendi sal facetiaeque valuissent, nihil sane esset quod nos paeniteret. 54 Ein Motiv, das sich schon bei Sophokles (Ant. 1167 und Phil. 1018) finde, so Shackleton Bailey (1980) 166; Garcea (2005) 243. Von Cicero selbst wurde es in abgewandelter Form ein Jahr später erneut verwendet (dom. 98), so Doblhofer (1987) 166–169; zu Ciceros Gefühl des Verlusts der eigenen Identität im Exil s. Citroni Marchetti (2000) 164–165. 55 Q. fr. 1,3,1–2: Ego te videre noluerim? Immo vero me a te videri nolui; non enim vidisses fratrem tuum, non eum quem reliqueras, non eum quem noras, non eum quem flens flentem, prosequentem proficiscens dimiseras, ne vestigium quidem eius nec simulacrum sed quandam effigiem spirantis mortui. Atque utinam me mortuum prius vidisses aut audisses, utinam te non solum vitae sed etiam dignitatis meae superstitem reliquissem! Sed testor omnis deos me hac una voce a morte esse revocatum, quod omnes in mea vita partem aliquam tuae vitae repositam esse dicebant. 56 Zum paradoxen Charakter der Passage s. Hutchinson (1998) 41f.
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talgisch das Bild der sich liebenden, beim Abschied weinenden Brüder auf (eum quem flens flentem, prosequentem proficiscens dimiseras) und beklagt zugleich seine neue Rolle als machtloser Verbannter:57 Am Verlust seiner dignitas laborierend,58 klingt aus seinen Worten Todessehnsucht59 durch, wobei die Rückführung seiner Entscheidung gegen einen Selbstmord auf die Person des Bruders (me hac una voce a morte esse revocatum, quod omnes in mea vita partem aliquam tuae vitae repositam esse dicebant) ihre emotionale Wirkung auf diesen nicht verfehlt und dessen Verständnis für die Situation vergrößert haben dürfte.60 Gleichzeitig wird Ciceros „Akt der Aufopferung“61 durch seine Briefe an Atticus und Terentia (und seine Kinder) relativiert, denen zufolge Atticus die treibende Kraft hinter seiner Entscheidung, am Leben zu bleiben, gewesen sei62 und besonders seine Kinder Tullia und Marcus von seinem Weiterleben profitiert hätten63 – ein Befund, der verdeutlicht, wie stark Cicero sich in seinen Briefen stets auf die Person des Adressaten fokussiert64 und die Verbindung zu diesem innerhalb des brieflichen Settings auch im Exil nie aus den Augen verliert. Im Bereich emotionaler Befindlichkeiten ist ebenso das vierte Argument, mit dem Ciceros vormaliges Handeln plausibel gemacht werden soll, angesiedelt (Q. fr. 1,3,2–3):65 Mit Verweis auf seinen damaligen emotionalen Zustand (pigritia; infinita vis lacrimarum et dolorum) versucht Cicero, den Verzicht auf einen Brief – und damit zugleich den Verzicht auf eine schriftliche Erläuterung der Absage des Treffens – schlüssig zu erklären, wobei seine Worte prononciert aufzeigen, wie im Medium ‚Brief‘ eine Verschriftlichung von Emotionen erfol-
|| 57 Zu Ciceros Rolle im Exil s. Jäger (1986) 88. Claassen’s (1999) 83–85 Beschreibung der Ciceronischen Exilbriefe als anti-consolatio trifft m.E. auch auf Q. fr. 1,3 zu. 58 Barschel (2016) definiert dignitas „als Lebenssinn“ (110) Ciceros. 59 Zur Todessehnsucht, die Cicero in seinen Briefen und rückblickend in den Reden äußert, s. z.B. Att. 3,3; Att. 3,4; Att. 3,6; Att. 3,7,2; Att. 3,26; p. red. in sen. 24 und 34. 60 Zu Ciceros Intention, im Brief Mitleid zu erregen, s. Hutchinson (1998) 47. 61 Barschel (2016) 111. 62 Att. 3,4,1: Me, mi Pomponi, valde paenitet vivere; qua in re apud me tu plurimum valuisti. 63 Fam. 14,4,5: Sed si hoc fuit liberis nostris gratius, nos vivere, cetera, quamquam ferenda non sunt, feramus. 64 Zu Ciceros Abstimmung von Briefinhalten auf den jeweiligen Adressaten vgl. Hutchinson (1998) 47–48; zum Adressatenbezug als Charakteristikum der Gattung ‚Brief‘ s. Sykutris (1931) 194; Schmidt (1967) 325; Müller (1994) 61–62; Görgemanns/Zelzer (1997) 1163. 65 Q. fr. 1,3,2–3: Nam quod ad te pueri sine litteris venerunt, quoniam vides non fuisse iracundiae causam, certe pigritia fuit et quaedam infinita vis lacrimarum et dolorum. Haec ipsa me quo fletu putas scripsisse? eodem quo te legere certo scio. An ego possum aut non cogitare aliquando de te aut umquam sine lacrimis cogitare? cum enim te desidero, fratrem solum desidero? ego vero suavitate [prope] fratrem prope aequalem, obsequio filium, consilio parentem.
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gen kann (me quo fletu putas scripsisse?). Wohl im Wissen, dass seine Argumentation eher dürftig ist, da sie nicht hinreichend erklärt, warum er angesichts der vorhandenen Brieftransportgelegenheit66 nicht einmal einige wenige Zeilen an Quintus mitgeschickt hatte, leitet Cicero rasch mittels rhetorischer Fragen zu einer positiven Kurzcharakteristik des Bruders (fratrem solum desidero? ego vero suavitate [prope] fratrem prope aequalem, obsequio filium, consilio parentem) über, die es ihm ermöglicht, nicht weiter auf die Frage nach dem Ausbleiben dieses einen Briefes einzugehen.67 Er erweist sich somit sogar dem eigenen Bruder gegenüber als Meister der Rhetorik. Lagen alle Argumente, mittels derer Cicero das Missverständnis zu beseitigen beabsichtigt (1. brüderliche Zuneigung; 2. eigene Schuld am Exil; 3. Transformation seiner selbst; 4. emotionaler Zustand), bisher im Bereich der eigenen Affekte und der hoffnungslosen Verbannungssituation an sich, so werden danach zwei weitere Argumente genannt, von denen zumindest das erste nicht emotionaler, sondern praktischer Natur ist. Mit diesem, d.h. dem fünften Argument, fokussiert Cicero sich zum ersten Mal auf die Situation des Adressaten (Q. fr. 1,3,4):68 Quintus solle vor Ort in Rom sein (te praesidio esse volui), falls man dort gerichtlich gegen ihn vorgehe (si qui essent inimici quorum crudelitas nondum esset nostra calamitate satiata).69 Dass dieses Szenario im Bereich des Möglichen liegt, hatte Cicero kurz zuvor von Atticus erfahren und es bereitet ihm in der Ferne größte Sorgen, zumal er bereits die Gefahr an sich als Verschlimmerung seiner eigenen (Exil-)Situation empfindet.70 Indem Cicero den
|| 66 Zum Brieftransport in der Antike s. Dziatzko (1897) 839–840; Kytzler (1965) 497; Görgemanns/Zelzer (1997) 1161; Schmidt (1997) 773; Nikitinski (2001) 229–247. 67 Während Jäger (1986) in der dreifachen Rollenzuschreibung des jüngeren Bruders primär eine „Form des Trostes“ (88) für beide Brüder sieht und Bannon (1997) 107 die genannten Rollen mit Blick auf die brüderliche pietas als Ausdruck von Ergebenheit seitens Quintus bewertet, legt Claassen (1999) 108 den Ausdruck fratrem solum desidero als Verweis auf Ciceros Isolation im Exil aus. Dagegen rechnet Hutchinson (1998) 43 die Passage dem rhetorischen Stilregister zu, da sich eine fast identisch lautende Formulierung in einer Rede Ciceros finde, vgl. p. red. in sen. 37: […] frater, qui in me pietate filius, consiliis parens, amore, ut erat, frater inventus est […] (der lateinische Text der Rede Post reditum in senatu folgt der OCT-Ausgabe von Peterson [1911]). 68 Q. fr. 1,3,4: Primum enim te praesidio esse volui, si qui essent inimici quorum crudelitas nondum esset nostra calamitate satiata. 69 Vermutlich drohte Quintus, dem ehemaligen Statthalter der Provinz Asia, ein Repetundenprozess (de repetundis), so Nicholson (1992) 75; Bannon (1997) 108; Garcea (2005) 55; zur politischen Dimension des Briefes s. Prost (2015) 17–18. 70 Att. 3,8,2: Nunc istic quid agatur magno opere timeo; quamquam tu altera epistula scribis Id. Mai. audire fore ut acrius postularetur, altera iam esse mitiora; sed haec est pridie data quam
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Zusammenhang zwischen Quintus’ Sicherheit und seiner eigenen eigenmächtigen Absage des Treffens hervorhebt, signalisiert er dem Bruder, dass Letztere aus rationalen Gründen erfolgt und sein eigenes Handeln somit als vorausschauend zu bewerten sei. Im Anschluss fügt Cicero als sechstes Argument den Trennungsschmerz, den sie beide im Falle eines Wiedersehens erlitten hätten, an71 und gibt dabei mittels des verstärkenden Präfixes „per-“ (pertimui) zu verstehen, dass er diesen sehr gefürchtet habe (congressus nostri lamentationem pertimui). Vor allem aber hätte Quintus sich nach einem Treffen nicht mehr von ihm losreißen können (ne a me distrahi non posses). Im Rückschluss bedeutet Cicero Quintus damit, dass er sich selbst in der Pflicht gesehen habe, sie beide vor einem solch großen Trennungsschmerz zu bewahren. Wie beim vorausgehenden fünften Argument stellt Cicero die Absage des Treffens als ratio-gestützte Entscheidung seinerseits dar, wobei der Eindruck entsteht, dass die Entscheidungsgewalt über eine Angelegenheit, die beide Brüder zugleich betrifft, trotz seiner momentanen Verbannung alleine in seiner Verantwortung zu liegen habe – schließlich ist er der ältere Bruder. Indem er die brüderliche Beziehung erneut explizit thematisiert und mittels zweier Superlative auf sprachlicher Ebene unterstreicht, wie nahe sie sich doch stünden (amantissimis et coniunctissimis fratribus), schließt er das sich durch die erste Hälfte des Briefes (Q. fr. 1,3,1–4) ziehende komplexe Argumentationsarrangement gleichsam ringkompositorisch ab. Im Falle der beiden letztgenannten Argumente fällt auf, dass Cicero diese als aufeinanderfolgend markiert (primum; deinde) und sie somit sprachlich von allen anderen bisher identifizierten Argumenten abhebt und in den Vordergrund rückt. Ein Abgleich mit dem zeitgleich entstandenen Atticusbrief 3,972 zeigt, dass es sich bei diesen beiden Argumenten um zwei der Hauptgründe, wegen derer er das Treffen absagte, handelt:73 So lässt Cicero Atticus gegenüber
|| illa, quo conturbor magis. Itaque cum meus me maeror cottidianus lacerat et conficit tum vero haec addita cura vix mihi vitam reliquam facit. […] in maximis meis aerumnis et luctibus hoc metu adiecto […]. 71 Q. fr. 1,3,4: deinde congressus nostri lamentationem pertimui; digressum vero non tulissem atque etiam id ipsum quod tu scribis metuebam, ne a me distrahi non posses. His de causis hoc maximum malum quod te non vidi, quo nihil amantissimis et coniunctissimis fratribus acerbius ac miserius videtur accidere potuisse, minus acerbum, minus miserum fuit quam fuisset cum congressio tum vero digressio nostra. 72 Der Brief Att. 3,9 ist auf den 13. Juni 58 v. Chr. und somit auf denselben Tag wie Q. fr. 1,3 datiert. 73 Att. 3,9,1: Quintus frater cum ex Asia discessisset ante Kal. Mai. et Athenas venisset Id. Mai., valde fuit ei properandum, ne quid absens acciperet calamitatis, si quis forte fuisset qui contentus
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verlauten, dass er mit der zügigen Weiterreise seines Bruders beabsichtigt habe, weiteres Unglück vor Ort in Rom zu vermeiden (ne quid absens acciperet calamitatis, si quis forte fuisset qui contentus nostris malis non esset). Außerdem hätte Quintus eine erneute Trennung nicht verkraftet (ne a me digredi non posset). Darüber hinaus erwähnt Cicero auch das Quintus gegenüber geäußerte Argument der eigenen unglücklichen Transformation (meas miserias luctu adflictus et perditam fortunam illi offerrem aut ab illo aspici paterer). Der Ausdruck quod verum est, den Cicero im Kontext seiner Darlegung benutzt, lässt indes aufhorchen: entspricht das, was er Quintus jenseits dieser drei Atticus gegenüber kommunizierten Gründe mitteilt, denn etwa nicht der Wahrheit? Tatsächlich findet sich in der Aufzählung in Att. 3,9 ein Grund, den Cicero in seinem Brief an Quintus dezidiert verneint hatte: non potui […] illum amantissimum mei mollissimo animo tanto in maerore aspicerem. Gegenüber seinem Freund Atticus gibt Cicero zu, dass er Quintus nicht habe sehen wollen,74 während er dies dem Bruder gegenüber ausdrücklich negiert. Anzumerken ist in Bezug auf diese Inkonsistenz, dass Cicero Quintus vormals in der Tat nicht, wie dieser vermutet hatte, aus Zorn oder ernsthafter Verstimmung nicht sehen wollte. Grund war vielmehr dessen sanftes Gemüt (mollissimo animo).75 Auch hatte Cicero befürchtet, dass es ihn selbst hart treffen werde, wenn er den leidenden, ihn sehr liebenden jüngeren Bruder zu Gesicht bekäme. Offenbar wollte er diese unglückliche Situation vermeiden, um sein bisheriges eigenes Leid nicht noch zu potenzieren. Gleichwohl ist die augenscheinliche Diskrepanz zwischen den Briefaussagen gegenüber Quintus und denjenigen gegenüber Atticus als deutliches Indiz dafür zu werten, dass die brüderliche Kommunikation auf einem weniger vertrauten Level erfolgt als diejenige zwischen dem Freundespaar Cicero-Atticus.76 Zugleich fällt auf, dass Cicero das ‚Vergehen‘, dem Bruder bei der
|| nostris malis non esset. Itaque eum malui properare Romam quam ad me venire, et simul (dicam enim quod verum est, ex quo magnitudinem miseriarum mearum perspicere possis) animum inducere non potui ut aut illum amantissimum mei mollissimo animo tanto in maerore aspicerem aut meas miserias luctu adflictus et perditam fortunam illi offerrem aut ab illo aspici paterer. Atque etiam illud timebam, quod profecto accidisset, ne a me digredi non posset; versabatur mihi tempus illud ante oculos cum ille aut lictores dimitteret aut vi avelleretur ex complexu meo; zu Ciceros Erklärungsmuster in beiden Briefen vgl. Hutchinson (1998) 44–45; zu Ciceros Exilkommunikation mit Atticus und speziell dessen Rolle als Adressat s. Léovant-Cirefice (2014); Prost (2015), 21–24. 74 Ebenso später in Att. 3,10,2: […] ne aut illius luctum squaloremque aspicerem […]. 75 Vgl. Prost (2015) 19–20. 76 Zu Ciceros Freundschaft (amicitia) mit Atticus sowie seiner brüderlichen Liebe (amor) zu Quintus s. Prost (2015); Hutchinson (1998) 47.
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Absage des Treffens keinen erklärenden Brief mitgeschickt zu haben, offensichtlich als deutlich geringer erachtet als die Absage des Treffens selbst, da er dieses in seiner Stellungnahme gegenüber Atticus gänzlich ausklammert. Der kurze Vergleich der Briefe an Quintus (Q. fr. 1,3) und Atticus (Att. 3,9) zeigt, dass Cicero sein vormaliges Handeln beiden Briefpartnern gegenüber begründet, die argumentative Struktur selbst jedoch adressatenbezogen variiert. Besonders auffällig ist in diesem Kontext, dass der Aspekt des Brüderlichen, den Cicero zu Beginn seiner Argumentation im Quintusbrief so stark betont, keine Entsprechung im Atticusbrief hat – was als Beleg für eine funktional strategische Komponente der Fokussierung auf das brüderliche Verhältnis im Brief Q. fr. 1,3 zu werten ist.77 In der zweiten Hälfte des brieflichen Gesprächs (Q. fr. 1,3,5–10) fokussiert Cicero sich ganz auf seinen Bruder und das zuvor angedeutete drohende Unheil vor Ort in Rom. Hatte Cicero eingangs noch beklagt, dass er seiner Familie ausgerechnet in Zeiten der Gefahr nicht als Verteidiger zur Seite stehen könne,78 so zeigt sich nun sein Bestreben, dem Bruder dennoch im Rahmen seiner eingeschränkten Möglichkeiten aus dem Exil heraus, d.h. per Briefkommunikation, zur Seite zu stehen.79 Obgleich er in größter Sorge ist und den Bruder unbedingt vor noch größerem Unglück bewahren möchte, sieht er sich zum Zeitpunkt der Niederschrift des Briefes mit der Schwierigkeit konfrontiert, über zu wenige Informationen hinsichtlich der Vorgänge in Rom zu verfügen, um effektiv handeln zu können.80 Seine Hilfe manifestiert sich daher in der zweiten Strategie des Briefes: der Lenkung des Adressaten in Rom, die (zunächst) auf die Gefahrenabwendung vor Ort, d.h. in Rom, abzielt. Bereits mit der Absage des Treffens in Thessalonike hatte Cicero die zeitnahe Ankunft seines Bruders in Rom prospektiv eingesteuert, damit dort in dessen Abwesenheit kein Unheil geschieht. Mangels detaillierter Kenntnisse über die Geschehnisse in Rom gibt er Quintus aus der Ferne nun eine Serie motivierender Anweisungen und hilfreicher Ratschläge, von denen der erste auf dessen seelische Stärkung abzielt:
|| 77 Ciceros persuasives Anliegen im Brief besteht somit einerseits, wie Hutchinson (1998) 38 und 47 zutreffend konstatiert, im Besänftigen des Bruders, im Bekunden der eigenen Zuneigung und im Erregen von Mitleid, ist aber andererseits darüber hinaus sogar noch breiter angelegt. 78 Q. fr. 1,3,2: nunc commisi ut vivo me careres, vivo me aliis indigeres, mea vox in domesticis periculis potissimum occideret, quae saepe alienissimis praesidio fuisset. 79 Darüber hinaus bittet Cicero auch Atticus, sich der Sache anzunehmen, Att. 3,8,4: Me et meorum malorum maeror et metus de fratre in scribendo impedit. Tu ista omnia vide et guberna. 80 Att. 3,9,3: Mihi etiam unum de malis in metu est, fratris miseri negotium; quod si sciam cuius modi sit, sciam quid agendum mihi sit.
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Q. fr. 1,3,5: Nunc si potes, id quod ego qui tibi semper fortis videbar non possum, erige te et confirma, si qua subeunda dimicatio erit. Spero, si quid mea spes habet auctoritatis, tibi et integritatem tuam et amorem in te civitatis et aliquid etiam misericordiam nostri praesidi laturam. Falls dir möglich ist, was ich, der ich in deinen Augen immer stark war, nun nicht kann: Sei zuversichtlich und mutig für den Fall, dass noch irgendein Kampf zu bestehen ist. Ich hoffe, wenn denn meine Hoffnung noch etwas besagt, dass dir deine Redlichkeit und deine Beliebtheit bei den Mitbürgern und auch das Mitleid mit mir einigen Schutz bieten werden.
Ciceros Hoffnung, dass der Krug des drohenden Unheils an Quintus vorbeigeht, beruht auf dessen faktischer Unschuld (integritatem) und Beliebtheit in Rom (amorem in te civitatis) sowie dem Umstand, dass man mit ihm selbst, dem verbannten Bruder, Mitleid (misericordiam) habe. Ebenso wie seiner Meinung nach primär negative Emotionen (metus; invidia)81 sein eigenes Unglück verantwortet hatten, könnten positivere, namentlich die misericordia, seinen Bruder nun schützen. Nichtsdestotrotz fürchtet Cicero, dass noch stärker gegen Quintus vorgegangen werde, wenn man vor Ort in Rom erkenne, dass dessen Bitten und Unversehrtheit ihm selbst Mitgefühl einbringen und auf diese Weise zum Vorteil gereichen könnten.82 Vorsichtshalber gibt er dem Bruder weitere praktische Ratschläge an die Hand, indem er ihm die Namen möglicher Unterstützer (Crassus, Calidius,83 Messala84) und die Namen derer, denen nicht (Pompeius85) oder nur bedingt (Hortensius86) zu trauen sei, nennt.87 Von Letzterem war Cicero
|| 81 Vgl. z.B. Q. fr. 1,4,1: Intimus, proximus, familiarissimus quisque aut sibi pertimuit aut mihi invidit; zu dieser Textpassage und zum Verrat ehemaliger vermeintlicher Freunde s. Citroni Marchetti (2000) 142–147, v.a. 146. Weitere Nennungen jener invidia erfolgen z.B. in Att. 3,7,2: Non faciam ut enumerem miserias omnis in quas incidi per summam iniuriam et scelus non tam inimicorum meorum quam invidorum […]; Att. 3,9,2: […] nos non inimici sed invidi perdiderunt; fam. 14,1,1: sed omnia sunt mea culpa commissa, qui ab iis me amari putabam qui invidebant, eos non sequebar, qui petebant; fam. 14,3,2: inimici sunt multi, invidi paene omnes; zu Ciceros Urteil über das Verhalten der nobiles im Hinblick auf seine Verbannung s. Spielvogel (1993) 68–71, zur invidia Ciceronis s. Christopherson (1989) 33–48. 82 Q. fr. 1,3,8–9: […] cum intellegant homines quantum misericordiae nobis tuae preces et tua salus adlatura sit, oppugnent te vehementius. 83 Q. fr. 1,3,7–8: Tu, si forte quid erit molestiae, te ad Crassum et ad Calidium conferas censeo; vgl. dazu McDermott (1971) 706–707, demzufolge Crassus’ und Calidius’ Hilfestellung im finanziellen Bereich anzusiedeln sei. 84 Q. fr. 1,3,9: Messalam tui studiosum esse arbitror. 85 Q. fr. 1,3,9: Pompeium etiam simulatorem puto. 86 Q. fr. 1,3,8: […] puto per Pomponium fovendum tibi esse ipsum Hortensium […].
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besonders enttäuscht,88 warnt Quintus jedoch nachdrücklich davor, seine Echauffiertheit publik zu machen,89 da Hortensius womöglich eine Schlüsselrolle in der Angelegenheit des Verses über die lex Aurelia90 spielen könne: Augenscheinlich hatte Cicero Bedenken, dass Quintus in einem Gerichtsverfahren zusätzlich durch den besagten Vers belastet werden könne, und ermahnt ihn daher ausdrücklich, Vorsicht walten zu lassen.91 Der Adressant des Briefes gibt dem Adressaten neben der Nennung eines potenziellen örtlichen Unterstützerkreises somit vier konkrete Handlungsinstruktionen zur Gefahrenabwendung in Rom: 1. vor Ort in Rom zu sein,92 2. stark und zuversichtlich zu sein, 3. sich die Sympathien des Hortensius zu erhalten und 4. die Causa lex Aurelia iudicaria im Blick zu behalten. Deutlich wird, dass Cicero hinsichtlich des Bruders, aber auch sich selbst zwei Szenarien vor Augen hat: im Negativszenario würden seine eigenen Feinde Quintus in Rom gerichtlich befehden und das Unglück beider Brüder würde sich bei negativem Ausgang der Auseinandersetzung derart potenzieren, dass er selbst keinen Grund mehr zum Weiterleben habe,93 zumal seine eigenen Kinder in Rom sodann dem Verwaisen anheimfielen.94 Im Positivszenario bliebe Quintus unbehelligt – eine Option, die zweifelsohne vorzuziehen wäre, zumal auch Cicero selbst davon profitieren würde:
|| 87 Zu Ciceros Aufzählung potenzieller Freunde und Feinde vgl. Citroni Marchetti (2000) 147– 152 [ebenso Citroni Marchetti (2001) 92], die darauf hinweist, dass Quintus die genannten Personen selbst einer „prova degli amici“ (148) zu unterziehen habe, wobei Cicero hoffe, dass sein Bruder die schlechten Erfahrungen, die er selbst mit einigen Personen gemacht hatte, nicht am eigenen Leibe erfahren müsse, Q. fr. 1,3,9: Sed haec utinam experiare! 88 Q. fr. 1,3,8: quorum [Cicero schließt Q. Arrius mit ein] ego consiliis, promissis, praeceptis destitutus in hanc calamitatem incidi; Att. 3,8,4: […] quod ei crediderim quem esse nefarium non putarim. Jäger (1986) nennt Ciceros Urteil „pauschal und übertrieben” (89). Plausibler wird es indessen, wenn der namentlich erwähnte Hortensius stellvertretend weitere gleichgesinnte nobiles repräsentiere, so Spielvogel (1993) 70; s. zudem Hall (2009) 83. 89 Q. fr. 1,3,8: Sed haec occultabis, ne quid obsint. 90 In dem einzeiligen Epigramm, das Quintus zugeschrieben wird, wird Kritik an der lex Aurelia iudicaria, einem Gesetz aus dem Jahre 70 v. Chr., und somit zugleich an den Personen, die sie unterstützt hatten (= die damaligen Konsuln Pompeius und Crassus), geübt. Da Hortensius das Gesetz nicht unterstützt hatte, könne er Quintus’ Autorschaft womöglich glaubhaft bestätigen, so Shackleton Bailey (1980) 168; Garcea (2005) 40–41; Möller (2009) 81. 91 Q. fr. 1,3,8: illud caveto […], ne ille versus […] confirmetur. 92 Die in Q. fr. 1,3,4 erwähnte Instruktion hatte Quintus zwar im vorausgehenden Brief erhalten, sie bildet aber bereits den Auftakt der nun im Brief formulierten Handlungsinstruktionen. 93 Q. fr. 1,3,6: Illud quidem nec faciendum est nec fieri potest, me diutius quam aut tuum tempus aut firma spes postulabit in tam misera tamque turpi vita commorari […]. 94 Q. fr. 1,3,10: sed te incolumi orbi non erunt.
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Q. fr. 1,3,5: sin eris ab isto periculo vacuus, ages scilicet si quid agere posse de nobis putabis. […] Sed ista qualia sint tu velim perspicias mihique declares. Bist du aber dieser Gefahr enthoben, wirst du gewiss etwas unternehmen, wenn du glaubst, mir damit helfen zu können. […] Ich möchte aber, dass du dir einen Überblick von der Lage verschaffst und mir darüber berichtest.
Die Verwendung des Futurs ages in Verbindung mit dem verstärkenden Adverb scilicet zeigt an, dass Cicero an dieser Stelle keinen Befehl, keinen Wunsch und keine höfliche Bitte äußert, sondern seine eigene Erwartungshaltung hinsichtlich Quintus’ künftigem Verhalten zum Ausdruck bringt. Er suggeriert dem Bruder, der ihm bisher finanziell unter die Arme gegriffen hatte,95 dass er in Rom als Unterstützer respektive als Informant zu agieren habe. Mit der Lenkung des Adressaten verfolgt Cicero ein doppeltes Ziel: Er instruiert Quintus, damit dieser erstens in Rom unbeschadet bleibe und sich zweitens danach als Unterstützer für ihn selbst einsetzen könne und ihm auf diese Weise bei der Rückberufung aus dem Exil helfe. Ciceros Ausführungen im vorliegenden Brief dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die eigene, rasche Rückberufung das wohl erstrebens- und fördernswerteste Ziel eines jeden Verbannten ist.96 Vor dem Hintergrund, dass der Brief Q. fr. 1,3 am Ende funktional darauf abzielt, Quintus zu Ciceros Nutzen vor Ort zu instrumentalisieren, wird deutlich, wieso Letzterer das brüderliche Missverständnis eingangs auf derart ausführliche Weise zu beheben versucht und den Aspekt des harmonischen Bruderverhältnisses so stark betont: Er appelliert an Quintus als Bruder. Beide Briefstrategien sind funktional eng miteinander verknüpft: nur bei Erfolg der ersten Strategie – dem Beheben des Missverständnisses – besteht auf beiden Interaktionsseiten eine positive Gesprächsgrundlage, auf der Cicero ‚weiterarbeiten‘ kann. Auf Basis einer guten brüderlichen Beziehung, die frei von Störfaktoren (wie z.B. Missverständnissen) ist, wird sich Quintus als empfänglich für die Anliegen des älteren Bruders erweisen, wodurch dessen zweite Strategie – die Lenkung des Adressaten vor Ort in Rom – funktional zum Erfolg geführt werden kann und in der brüderlichen Kommunikation zugleich der Boden für künftige Briefstrategien bereitet wird.
|| 95 Q. fr. 1,3,7: quasi vero nunc me non tuae facultates sustineant […]. 96 Zu Ciceros Einstellung hinsichtlich einer Rückkehr nach Rom s. Spielvogel (1993) 73.
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5 Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Cicero im Brief Q. fr. 1,3 zwei kommunikative Strategien miteinander verknüpft. Die erste von ihnen, das Beheben eines Missverständnisses, verfügt über einen hohen Grad an Komplexität: Mittels einer Reihe von Argumenten im Rahmen einer durchdachten Kombination aus impliziten und expliziten Verweisen auf die eigene Befindlichkeit, das harmonische Bruderverhältnis zwischen Adressant und Adressat, die lobenswerte Persönlichkeit des Adressaten und die Exilierung an sich begründet Cicero seinem Bruder gegenüber sein vormals tadelnswertes Verhalten (Absage des Treffens; Verzicht auf die Übersendung eines erklärenden Briefes), das er nicht nur als emotional, sondern auch als rational bedingt sowie prospektiv eingesteuert präsentiert. Ein Abgleich mit dem auf denselben Tag datierten Brief Att. 3,9 zeigt, dass Ciceros Argumentation gegenüber Quintus von derjenigen gegenüber Atticus divergiert, wobei er seine Darlegung gegenüber Letzterem explizit als ‚wahr‘ (verum) bezeichnet. Seine Kommunikation mit dem eigenen Bruder erfolgt im vorliegenden Fall auf einem weniger vertrauten Level als seine Kommunikation mit dem Freund Atticus. Darüber hinaus legen Querverweise auf Briefe innerhalb und außerhalb der brüderlichen Korrespondenz gewisse Diskrepanzen hinsichtlich des vermittelten Gehalts des Briefes Q. fr. 1,3 offen – so etwa im Falle des panegyrisch anmutenden Lobes der charakterlichen Eigenschaften des Bruders, das durch frühere Briefe, die dessen vormals nicht immer vorbildliches Verhalten belegen, diametral widerlegt wird. Funktional steht die erste identifizierte Briefstrategie im Dienste einer sich anschließenden zweiten Briefstrategie, der Lenkung des Adressaten in Rom, da das Aufklären des Missverständnisses erst das stabile Fundament bildet, auf dem der Adressant im Folgenden weiter auf den Adressaten einzuwirken vermag und als Konsequenz das dem Brief implizit eingelegte und seitens des Adressanten intendierte Positivszenario eintreten kann: Der brieflich besänftigte Quintus soll die Handlungsinstruktionen, die ihm sein älterer Bruder aus dem Exil heraus per Medium ‚Brief‘ an die Hand gibt, befolgen, um Gefahren für seine eigene Person in Rom abzuwenden. Nur so kann er anschließend vor Ort für den Verbannten erfolgreich tätig werden und letztlich dessen Rückberufung, die aufgrund der brüderlichen Verbindung gewiss im Interesse beider liegen musste, befördern und vorantreiben. Wie sukzessive dargelegt, illustriert der Brief Q. fr. 1,3 nicht nur exemplarisch, inwiefern sich ein starker Adressatenbezug in Ciceros brüderlicher Kor-
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respondenz widerspiegelt und Quintus sich gerade aufgrund des verwandtschaftlichen Verhältnisses als empfänglicher Adressat diverser Instruktionen seitens Ciceros zu erweisen hat, sondern zeigt auch den genuin multifunktionalen Charakter des Kommunikationsmediums ‚Brief‘ an sich auf. Aufgrund der inneren funktionalen Verknüpfung der beiden Briefstrategien miteinander wird deutlich, dass Cicero sich der Kommunikativität von Briefen auch im Exil sehr bewusst ist und er sich diese aus der Exilsituation heraus zunutze machen möchte – und zwar nicht nur, wie eingangs erwähnt, gegenüber dem Politiker Q. Caecilius Metellus Nepos, sondern sogar gegenüber dem eigenen Bruder. Der Brief Q. fr. 1,3 gewährt somit keinesfalls einen unverstellten Blick in Ciceros Gefühlswelt im Exil, sondern belegt, dass die brüderliche Kommunikation in dieser Phase der Korrespondenz dezidiert strategisch angelegt ist: Cicero nimmt den Adressaten Quintus in dessen Rolle als Bruder in die Pflicht, wodurch sich zeigt, dass er als Adressant seine eigene Bruderrolle im schriftlichen Kommunikationsmedium ‚Brief‘ strategisch auszuspielen weiß.
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Tobias Dänzer
Politik aus der zweiten Reihe: Ciceros Briefe an C. Scribonius Curio (fam. 2,1–7) 1 Ciceros politisches Programm der 50er Jahre Als Cicero am 4. September des Jahres 57 unter allgemeinem Jubel aus dem Exil nach Rom zurückkehrte, fühlte er sich als erster Mann im Staat. Er wertete den Senatsbeschluss, der ihn gegen den bewaffneten Widerstand seines Erzfeindes Clodius zurückberief, als gemeinschaftliches Werk der Guten, auf dessen Grundlage sich die staatliche Ordnung wiederherstellen ließ. Die Reden, die Cicero nach seiner Rückkehr hielt, galten einerseits der Abrechnung mit denjenigen, die sein politisches Erbe zerstört hatten, namentlich den Konsuln des Jahres 58, Gabinius und Piso, sowie freilich dem Volkstribun Clodius. Zum anderen entwickelte er ein neues politisches Programm, dem er in der Rede Pro Sestio bleibenden Ausdruck verlieh. Clodius hatte gegen Sestius, der sich als Volkstribun des Jahres 57 zusammen mit dem Amtskollegen Milo für die Rückkehr Ciceros eingesetzt hatte, eine Anklage de vi angestrengt. Cicero fiel die letzte Verteidigungsrede zu, die er nutzte, um gegen die staatsfeindlichen Umtriebe der Clodianer sowie letztlich gegen die Politik der Triumvirn Front zu machen. Ciceros Aufruf zu einer neuen Politik der Optimaten, unter denen er alle boni bis hinunter zu den Freigelassenen verstand, die sich für die Bewahrung der traditionellen Verfassungsordnung einsetzten, mündete in das berühmte Schlagwort des cum dignitate otium. Der Staat sollte von den Feinden im Inneren befreit, die principes zur Anerkennung der Autorität des Senats wie der Gerichte zurückgerufen werden.1 Die Träger dieses Programms, die principes optimatium, rekrutierten sich zwangsläufig aus der römischen iuventus. Daraus begründet sich – ein Merkmal mehrerer Reden post reditum – die wiederholte Hinwendung zur Altersgruppe derer, die in den 80er Jahren geboren waren und in den 50er Jahren den cursus || 1 Sest. 98: huius autem otiosae dignitatis haec fundamenta sunt, haec membra, quae tuenda principibus et vel capitis periculo defendenda sunt: religiones, auspicia, potestates magistratuum, senatus auctoritas, leges, mos maiorum, iudicia, iuris dictio, fides, provinciae, socii, imperi laus, res militaris, aerarium. Vgl. hierzu z.B. Wirszubski (1954); Fuhrmann (1960); Christes (1988); Materiale (2004); Meyer (2005) 20–53; Kaster (2006) 31–37. Zur „trilogia politica“ Pro Sestio, De re publica und De legibus vgl. Cerami (2004).
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honorum begannen. Das als solches wahrgenommene Kollektiv der jugendlichen nobiles galt zur Krisenzeit der späten Republik als bedeutender, jedoch schwer kontrollierbarer Machtfaktor der politischen Willens- und Konsensbildung. Im gewaltsam ausgetragenen Kampf verschiedener politischer Gruppierungen, der den Staat zusehends der Anarchie zutrieb, spielten die iuvenes eine zentrale Rolle bei Wahlen und für die Durchsetzung der jeweiligen politischen Ziele.2 Cicero allerdings, der in der Sestiana als Mahner der Jugend auftritt, stand der politischen und moralischen Integrität der jungen Hoffnungsträger, jener jeunesse dorée der ausgehenden Republik, äußerst skeptisch gegenüber, wusste aber, wie wichtig es war, sie sich gewogen zu machen.3 In der im Jahr 56 gehaltenen Verteidigungrede für Marcus Caelius Rufus, einen bilderbuchhaften Vetreter dieser Generation, listet Cicero die Laster der Jugend auf, die er in lässliche Ausschweifungen und unbedingt zu vermeidende Vergehen unterteilt: Zu letzteren gehöre das Anzetteln von Unruhen und hinterhältigen Unternehmungen sowie das Verjubeln des väterlichen Erbes.4 In einem Brief an Atticus aus dem Jahr 50 bezeichnete er sie resignativ als perdita iuventus, womit er diejenigen meinte, die zu Caesar übergelaufen waren, damit aber der ganzen Generation den Stempel aufsetzte.5
2 Ciceros Eingeständnis seiner politischen Wirkungslosigkeit Wenige Monate nach seiner staatstragenden Rede für Sestius trafen sich im April des Jahres 56 Caesar und Pompeius in Luca, um die politische Strategie des Triumvirats für die folgenden Jahre festzulegen.6 Die Zusammenkunft be-
|| 2 Hierzu Timmer (2005); Materiale (2004) 149; Eyben (1993) 56–72; Dettenhofer (1992) 1–31. Vgl. Com. Pet. 6,33. Zur Jugend als officiosissima natio candidatorum vgl. Meier (1966) 175–177. 3 Vgl. exemplarisch die Briefe an Atticus aus dem Jahr 60 (Att. 1,18 [SB 18] und 1,19 [SB 19]) bzw. 59 (Att. 2,7,3 [SB 27]: haec sanguinaria iuventus inimicissima est), woraus Ciceros dilemmatisches Ringen mit der und um die iuventus ersichtlich wird. Hierzu Dettenhofer (1992) 37–38. 4 Cael. 42. 5 Att. 7,7,6 (SB 130); ebd. 7,3,5 (SB 126): omnem fere iuventutem; vgl. auch Dettenhofer (1992); Timmer (2005). 6 Aus Ciceros Brief an Lentulus Spinther geht hervor, dass es sich wohl nicht um eine (geplante) Konferenz der drei Männer handelte, sondern um eine überstürzte Zusammenkunft von Caesar und Pompeius, wobei sich Caesar vorher bereits mit Crassus in Ravenna besprochen
Politik aus der zweiten Reihe: Ciceros Briefe an C. Scribonius Curio (fam. 2,1‒7) | 97
deutete zugleich Ciceros politische Isolation: So förderte sein Reformvorschlag des den ager Campanus betreffenden caesarischen Siedlergesetzes, den er als Angriff auf das Triumvirat konzipiert hatte, den Schulterschluss der potentes, die ihm geboten, jede weitere Maßnahme gegen Caesars Politik zu unterlassen.7 Seine Pläne des Jahres 55, sich durch die Unterstützung des Pompeius um das Amt des Zensors zu bewerben, um Einfluss auf senatorische Entscheidungen zu gewinnen, scheiterten.8 In einem berühmten Brief an seinen Bruder Quintus aus dem Herbst des Jahres 54 beklagt Cicero die Lage des Staates, den Verlust seines Ansehens und seine politische Wirkungslosigkeit:9 abduco equidem me ab omni rei publicae cura dedoque litteris, sed tamen indicabo tibi quod mehercule in primis te celatum volebam. angor, mi suavissime frater, angor nullam esse rem publicam, nulla iudicia, nostrumque hoc tempus aetatis, quod in illa auctoritate senatoria florere debet, aut forensi labore iactari aut domesticis litteris sustentari, illud vero quod a puero adamaram, πολλὸν ἀριστεύειν καὶ ὑπείροχος ἔμμεναι ἄλλων, totum occidisse […]. Ich halte mich von allen politischen Sorgen fern und ergebe mich der Wissenschaft, aber ich will dir doch sagen, was ich weiß Gott gerade dir am liebsten verheimlicht hätte: Es quält mich, liebster Bruder, quält mich furchtbar, daß wir keinen Staat mehr haben, keine Gerichte, daß ich in meinem Alter, in dem ich eigentlich als hochangesehener Senator glänzend dastehen müßte, mich mit Prozessen herumschlage oder mich mit privaten literarischen Arbeiten hinschleppe, daß der Stern, der mir von Kindesbeinen an voranleuchtete – ‚Immer der Erste zu sein und sich auszuzeichnen vor anderen‘ – völlig erloschen ist […].
Fortdauernde private Feindseligkeiten mit Clodius, dessen Trupps den Wiederaufbau seines Hauses auf dem Palatin zu hintertreiben suchten und ihm selbst nach dem Leben trachteten, führten Cicero vor Augen, wie machtlos er selbst, der Senat und die Gerichte waren, die es nicht vermochten, den Umtrieben des Clodius einen Riegel vorzuschieben.10
|| hatte (fam. 1,9,9 [SB 20]). Zur Frage nach Art und Zusammensetzung der ‚Konferenz von Luca‘ vgl. z.B. Jackson (1978); Tatum (1999) 213–222; Seager (2002) 110–119. 7 Vgl. die betreffende Passage aus dem Brief an Lentulus Spinther fam. 1,9,8–9 (SB 20); vgl. Stockton (1962). 8 Att. 4,2,6 (SB 74). Wahrscheinlich ist, dass Cicero die Befugnisse des Zensors, die durch Clodius’ lex Clodia de censoria notione beschnitten worden waren, wiederherstellen wollte; vgl. Tatum (1999) 133–135. 9 Q. fr. 3,5,4 (SB 25) (Übersetzung Kasten [1976]). 10 Die Kapitulation vor Caesar im Frühjahr 56 hatte nicht zuletzt den Grund darin, dass er sich persönliche Sicherheit versprach; vgl. z.B. fam. 1,9,21 (SB 20).
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In der zweiten Hälfte der 50er Jahre unternahm Cicero verschiedene Schritte, um politisches Gewicht zurückzuerlangen. So gelang ihm im Jahr 53 der größte politische Erfolg seit dem Konsulat, als er sich erfolgreich, unterstützt von Pompeius, um die Stelle im Augurenkollegium bewarb, die Publius Licinius Crassus, der Sohn des Triumvirn, durch seinen Tod freigegeben hatte.11 Cicero sah im Augurenamt, das dem Inhaber hohes soziales Ansehen eintrug und ihm die Möglichkeit der obnuntiatio bot, ein Instrument zur Beeinflussung politischer Entscheidungen. In De legibus pries er das Mitspracherecht, welches das Augurenamt bei der Gestaltung staatlicher Prozesse verlieh, in klangvollen Tönen.12 Ein weiterer Versuch Ciceros, seine politischen Vorstellungen durchzusetzen, war die Unterstützung der Bewerbung Milos um das Konsulat des Jahres 52. Hauptgrund hierfür war freilich zunächst eher ein persönlicher denn ein politischer: Clodius hatte angekündigt, im selben Jahr als Prätor kandidieren zu wollen, nachdem er seine Kandidatur für das Jahr 53 aufgrund der verspäteten Wahlen und der infolgedessen verkürzten Amtszeit zurückgezogen hatte.13 Clodius’ Prätur hätte Cicero in existentielle Bedrängnis gebracht, weshalb er das Konsulat Milos als notwendiges Korrektiv sah. Eine offene Unterstützung Milos wäre allerdings ebenfalls politisch bedenklich gewesen, da sich Pompeius entschieden gegen Milo positioniert hatte.14 Vor diesem Hintergrund gewinnt die Politik Ciceros an Bedeutung, die nicht öffentlich verfochten wurde, sondern die gewissermaßen hinter den Kulissen gewirkt wurde. Ich möchte daher die Frage untersuchen, wie Cicero in Zeiten politischer Ohnmacht den Privatbrief nutzt, um Entscheidungen zu beeinflussen und an der Tagespolitik mitzuwirken. Im Mittelpunkt der Untersuchung sollen sechs Briefe stehen – es sind die Familiares 2,1–6 –, die Cicero im Jahr 53 an den aufstrebenden Politiker Gaius Scribonius Curio schrieb, um diesen für die Sache der boni und die Unterstützung von Milos Konsulatsbewerbung zu gewinnen. Die Kontrastierung mit dem späteren 7. Brief an Curio, den Cicero im Dezember 51 aus seiner Provinz Kilikien in die Hauptstadt sandte, soll schließlich die Strategie der früheren Briefe reliefieren. || 11 Vgl. Linderski (1972); Tucker (1976); Taylor (1949). Linderski (1972) erwog eine Datierung in das Jahr 52. 12 leg. 2,31; zu Ciceros pragmatischem Verständnis des Augurenamts vgl. Pina Polo (2010) 165–184. 13 Benner (1987) 146. 14 Pompeius unterstützte Milos Mitbewerber Hypsaeus und Scipio (Cic. Mil. 24; Ascon. Mil. 31; 33 Clark). Zum angespannten Verhältnis zwischen Pompeius und Milo vgl. auch Cic. Q. fr. 3,2,2 (SB 22); 3,6(8),6 (SB 26); hierzu Lintott (1974) 65.
Politik aus der zweiten Reihe: Ciceros Briefe an C. Scribonius Curio (fam. 2,1‒7) | 99
Die Briefe fam. 2,1–7 sind bislang kaum fruchtbar gemacht worden, um ein vertieftes Verständnis des Briefschreibers Cicero zu gewinnen.15 Ich möchte insbesondere die kommunikativen Strategien herausheben, auf die Cicero zurückgreift, um Curio politisch auf Linie zu bringen.
3 Cicero und Curio Wer war Caius Scribonius Curio?16 Geboren wohl um das Jahr 84, gehört er in die Generation, die ihre politische Karriere unter dem Einfluss der Dreimänner begann. Curio galt als unberechenbarer, aufstrebender Politiker, dessen herausragende Begabung nach übereinstimmendem Zeugnis antiker Quellen seine mitreißende, demagogische Rhetorik war, was ihn zu einer zentralen Figur in der Politik der ausgehenden 50er Jahre machte.17 Sueton überliefert die so hübsche wie bedeutsame Anekdote, Pompeius habe, um gegen Curio auf dem politischen Parkett bestehen zu können, noch einmal Rhetorikunterricht genommen.18 Bereits zu Beginn der 50er Jahre, also vor Eintritt in die Ämterlaufbahn, hatte sich Curio offen in Opposition zu Caesar gesetzt, was ihn für die Optimaten und vor allem für Cicero attraktiv machte. Insbesondere nach Vereitelung der Vettius-Affäre im Jahr 59, mit der Caesar den jüngeren Kontrahenten auszuschalten versucht hatte, galt Curio als ernstzunehmender Gegenspieler der Triumvirn.19 Ab 55 war er Quaestor oder Proquaestor in Asia und gelangte im Jahr 50 zum Volkstribunat. Hier schloss sich Curio mit zunehmender Offenheit Caesar an, der ihn schließlich gänzlich an sich zog – wohl nicht zuletzt dadurch, dass er ihm dessen enorme Schuldenlast bezahlte.20 Curio fiel bereits 49, in Diensten Caesars stehend, im Kampf gegen ein verbündetes Heer aus Optimaten und Numidern unter Iuba in Africa.21 || 15 Erwähnung und kurze Besprechungen finden die Briefe etwa bei Stowers (1986) 63–65; Hutchinson (1998) 7; Leach (2006) 256–258; Hall (2009) 66–71; White (2010) 21–22; 24–25; 85; Rollinger (2014) 205–209. 16 Zu Curio vgl. Dettenhofer (1992) 33–63; Gruen (1974) 470–488. Die umfassendste Darstellung zum Leben Curios auf der Grundlage der antiken Quellen ist noch immer Münzer (1921). 17 Vgl. Cic. Brut. 280; 283; App. civ. 2,26; Vell. 2,48,3. 18 rhet. 2: Cn. Pompeium quidam historici tradiderunt sub ipsum civile bellum quo facilius C. Curioni promptissimo iuveni causam Caesaris defendenti contradiceret repetiisse declamandi consuetudinem. 19 Zur Vettius-Affäre Cic. Att. 2,24 (SB 44); Dettenhofer (1992) 40–43; Timmer (2005) 204–205. 20 Vgl. Suet. Caes. 29,1; Vell. 2,48,4. 21 Caes. civ. 2,23–2,43.
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Eine tendenziöse, doch in den wesentlichen Punkten von den antiken Quellen gestützte Charakteristik Curios findet sich bei Velleius Paterculus, die ausläuft in ein historiographisches Resümee, das Curio zum Gegenspieler Ciceros werden lässt, der dessen Staatsidee geradezu vernichtet habe:22 Bello autem civili et tot quae deinde per continuos XX annos consecuta sunt malis non alius maiorem flagrantioremque quam C. Curio tribunus pl. subiecit facem, vir nobilis eloquens audax, suae alienaeque et fortunae et pudicitiae prodigus, homo ingeniosissime nequam et facundus malo publico, cuius animo voluptatibus vel libidinibus neque opes ullae neque cupiditates sufficere possent. hic primo pro Pompei partibus, id est, ut tunc habebatur, pro re publica, mox simulatione contra Pompeium et Caesarem, sed animo pro Caesare, stetit (id gratis an accepto centiens sestertio fecerit, ut accepimus, in medio relinquemus). ad ultimum saluberrimas et coalescentis condiciones pacis, quas et Caesar iustissimo animo postulabat et Pompeius aequo recipiebat, discussit ac rupit, unice cavente Cicerone concordiae publicae. Was aber die Entzündung des Bürgerkriegs mit all seinem zwanzig Jahre währenden Unheil angeht, so war der größte Hetzer und Brandstifter kein anderer als der Volkstribun Gaius Curio. Er war ein Mann aus einer adligen Familie, beredt und verwegen, der sein eigenes Hab und Gut und sein Schamgefühl ebenso preisgab wie das anderer Leute, ein genialer Taugenichts, der seine Beredsamkeit zum Unglück des Staates gebrauchte. Um ihn mit seinen Lüsten und Begierden zu befriedigen, reichten keine Geldmittel und keinerlei aufreizende Vergnügungen aus. Er stand zuerst auf der Seite des Pompeius, das bedeutete damals: auf der Seite des Staates, dann war er scheinbar gegen Pompeius und gegen Caesar, seiner wahren Gesinnung nach aber eher für Caesar. Ob er das umsonst tat oder, wie es heißt, aufgrund einer Bestechungssumme von 10 Millionen Sesterzen, das will ich hier nicht entscheiden. Was jedenfalls die Bemühungen um einen friedlichen Ausgleich unter zuträglichen und annehmbaren Bedingungen betraf – Caesar hatte solche höchst unparteiisch gestellt und Pompeius war bereit, sie anzunehmen – so machte Curio sie schließlich zunichte, obwohl sich Cicero in einzigartiger Weise für die Wahrung der staatlichen Eintracht einsetzte.
Welcher Art aber war Ciceros Verhältnis zu Curio vor dessen Entschluss, sich Caesar anzuschließen? Zunächst hatte Cicero vom Vater Curios die Aufgabe übertragen bekommen, als politischer Mentor für seinen Sohn zu fungieren.23 Eine Begebenheit aus dieser Zeit schleudert Cicero Antonius in der 2. Philippica entgegen (Phil. 2,44–46). Curio habe ein Liebesverhältnis zu Antonius gehabt und sich für diesen um sechs Millionen Sesterzen verbürgt – eine Summe, die er nicht zahlen konnte. Curio habe Cicero angefleht, den Vater zu überreden, die-
|| 22 Vell. 2,48,3–5 (Übersetzung Giebel [1998]). 23 Dies geht am deutlichsten aus den Briefen an Curio (insbes. aus fam. 2,1,2 [SB 45]) sowie der im Folgenden referierten Episode der 2. Philippica hervor.
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ser möge die Schulden bezahlen – der Vater gab den Bitten Ciceros nach und verbot dem Sohn den Umgang mit Antonius. Cicero unterstreicht seine Verdienste um das Haus der Scribonii emphatisch, indem er ausruft: „Wie viel Schmach habe ich damals von dieser so angesehenen Familie genommen!“24 Eine zweite Begebenheit, die daran zweifeln lässt, ob Curio in den Augen Ciceros zu den schönsten Hoffnungen berechtigte, war dessen Eintreten für Clodius im sogenannten Bona-Dea-Skandal des Jahres 62 v.Chr. Bekanntlich hatte sich Clodius am Fest der Bona Dea in Frauenkleidern – Männern war der Zutritt verwehrt – ins Haus des damaligen Pontifex Maximus Caesar geschlichen, wohl um sich heimlich bei dessen Gattin Pompeia einzustellen, war entdeckt worden und sollte verurteilt werden. Der Versuch von Seiten der Konsuln, den Religionsfrevel strafrechtlich zu verfolgen, scheiterte an der fehlenden Zustimmung der Volksversammlung. Dies war, so schreibt Cicero an Atticus, „den milchbärtigen Jugendlichen, dieser ganzen catilinarischen Bande unter Führung des Töchterchens Curios“ anzulasten, die den Antrag zu hintertreiben suchten, indem sie die Zugänge zum Abstimmungsort besetzt hielten.25 Bemerkenswert ist hier die Formulierung der catilinarischen Bande, die Cicero freilich leicht aus der Feder geflossen sein dürfte, um politisches Rowdytum und sittliche Verworfenheit anzuklagen. Festzuhalten bleibt, dass der Mann, auf den Cicero später seine politische Hoffnung übertragen wird, zunächst als catilinarische Existenz etikettiert wird. Ciceros Einschätzung gegenüber Curio wandelte sich, als bemerkbar wurde, dass sich dieser mit zunehmender Vehemenz gegen Caesar und Pompeius stellte und als öffentliche Identifikationsfigur des sich formierenden Widerstands gegen die potentes wahrgenommen wurde.26 Mit Clodius scheint sich Curio besonders in der Frage nach Ciceros Rückberufung aus dem Exil entzweit zu haben.27 Cicero hegte seit 59 die zumindest leise Hoffnung, in Curio einen aussichtsreichen Gewährsmann für seine politische Agenda gefunden zu haben und somit zugleich eine zweckdienliche Verbindung mit den von ihm gefürchteten adulescentes anbahnen zu können.28 Jedenfalls nennt Cicero Curio bereits in
|| 24 Phil. 2,46: Quo tempore ego quanta mala florentissimae familiae sedavi vel potius sustuli! Zur Episode auch Val. Max. 9,1,6; Plut. Ant. 2,4. 25 Att. 1,14,5 (SB 14): nam cum dies venisset rogationi ex senatus consulto ferendae, concursabant barbatuli iuvenes, totus ille grex Catilinae duce filiola Curionis, et populum ut antiquaret rogabant. Vgl. Dettenhofer (1992) 35–38; Benner (1987) 82. 26 Att. 2,7,3 (SB 27); 2,8,1 (SB 28); 2,12,2 (SB 30). 27 Dettenhofer (1992) 43. 28 Vgl. Att. 2,8,1 (SB 28), wenngleich der defätistische Ton unüberhörbar ist: ipse (Curio) vero mirandum in modum ‚reges odisse superbos‘. peraeque narrabat incensam esse iuventutem
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der Rede gegen Vatinius 56 v. Chr. princeps iuventutis, der mit der Sache der res publica enger verbunden sei als man es von Vertretern dieser Alterstufe erwarten könne.29 Wie nun geht Cicero in seinen sechs Briefen des Jahres 53 vor, um den wankelmütigen Politiker, diese catilinarische Gestalt, auf seine Seite zu ziehen?
3.1 Ciceros Briefe an Curio Die auffälligste Gemeinsamkeit der Briefe 1–5, im Vergleich zum längeren sechsten Brief, ist ihre relative Kürze. Hinweise zum Briefwechsel mit Curio und zur Art der Zustellung der Briefe gibt Cicero im ersten Brief selbst. Nachdem sich Cicero mit ausladender rhetorischer Geste von Curios Vorwurf freizusprechen versucht, der ihn offenbar im vorangegangenen Brief der neglegentia geziehen hatte, gibt Cicero das crimen mit den Worten zurück:30 equidem neminem praetermisi, quem quidem ad te perventurum putarem, cui litteras non dederim; etenim quis est tam in scribendo impiger quam ego? a te vero bis terve summum et eas perbrevis accepi. Niemandem, von dem ich annehmen konnte, daß er Dich antreffen würde, habe ich ohne einen Brief für Dich gehen lassen, denn einen so fleißigen Briefschreiber wie mich gibt es doch sonst kaum. Hingegen habe ich von Dir nur zwei- oder höchstens dreimal einen Brief, und zwar einen ganz kurzen, erhalten.
Das Zitat zeigt zunächst, dass der Briefwechsel von Cicero und Curio reger war, als es die erhaltenen sieben Briefe nahelegen. Zum anderen gibt Cicero hier einen Hinweis auf die Zustellung der Briefe: Diese erfolgte mehrheitlich durch Reisende, die unterwegs in die Provinz Asia waren. Das hat freilich entscheidenden Einfluss auf den Inhalt der Briefe: Leichter als durch Zustellung mittels handverlesener Boten konnten die Briefe abgefangen und geöffnet werden, was bestimmte Themenfelder, die politisch kompromittierend waren, von vornhe|| neque ferre haec posse. bene habemus nos, si in his spes est; opinor, aliud agamus. ego me do historiae. Optimistischer zeigt sich Cicero in einem späteren Brief desselben Jahres, nachdem Curio gegen Caesar und Pompeius gesprochen und auch von den boni Beifall erhalten hatte: Att. 2,18,1 (SB 38): Unus loquitur et palam adversatur adulescens Curio. huic plausus maximi, consalutatio forensis perhonorifica, signa praeterea benevolentiae permulta a bonis impertiuntur. Vgl. auch Att. 2,19,3 (SB 39). 29 Vat. 24: C. Curionem […] cum filio principe iuventutis cum re publica coniunctiore etiam quam ab illa aetate postulandum fuit, delere voluisti. 30 Fam. 2,1,1 (SB 45) (Übersetzung Kasten [2004]).
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rein ausschloss.31 So eint die Briefe 1–5 denn auch eine nahezu ermüdende inhaltliche Uniformität, die das tagespolitische Geschehen sowie wertende und tendenziöse politische Urteile ausblendet und stets dieselben Motive wiederholt. Cicero thematisiert dies im 4. Brief selbst, den er mit der bekannten, freilich nicht sonderlich tiefgehenden theoretischen Skizze des Privatbriefs einleitet:32 Epistularum genera multa esse non ignoras sed unum illud certissimum, cuius causa inventa res ipsa est, ut certiores faceremus absentis si quid esset quod eos scire aut nostra aut ipsorum interesset. huius generis litteras a me profecto non exspectas; domesticarum enim tuarum rerum domesticos habes et scriptores et nuntios, in meis autem rebus nihil est sane novi. reliqua sunt epistularum genera duo, quae me magno opere delectant, unum familiare et iocosum, alterum severum et grave. utro me minus deceat uti non intellego. iocerne tecum per litteras? civem mehercule non puto esse qui temporibus his ridere possit. an gravius aliquid scribam? quid est quod possit graviter a Cicerone scribi ad Curionem nisi de re publica? atque in hoc genere haec mea causa est ut neque ea quae non sentio velim scribere. Wie Du weißt, gibt es viele Gattungen von Briefen, und eine von ihnen ist unstreitig die, um deretwillen die Sache überhaupt erfunden worden ist: um jemandem in der Ferne Nachricht zukommen zu lassen, wenn es etwas gibt, was man den Betreffenden wissen lassen will oder dieser selbst wissen möchte. Indessen erwartest Du einen Brief dieser Art gewiß nicht von mir; denn für Deine privaten Angelegenheiten hast Du Deine Korrespondenten und Botengänger, und bei mir ist alles beim alten. Bleiben noch zwei weitere Gattungen von Briefen, die mir an sich rechte Freude machen: einmal die vertraulichen, scherzhaften, sodann die ernsten, gesetzten. Welche von beiden mir weniger anstünde, weiß ich nicht. Soll ich brieflich mit Dir scherzen? Der ist, meine ich, kein rechter Staatsbürger, der bei diesen Zeiten noch lachen könnte. Oder soll ich ernstere Töne anschlagen? Dann gibt es nur ein Thema, über das ein Cicero an einen Curio ernsthaft schreiben könnte: die Politik (res publica). Dabei befinde ich mich jedoch in einer verzwickten Lage: wie ich denke, wage ich nicht zu schreiben, und wie ich nicht denke, mag ich nicht schreiben.
Die eigentlichen Aufgaben der epistula familiaris als Medium des Nachrichtenaustauschs, als heiteres Gespräch mit einem abwesenden Freund sowie als Ort ernster Betrachtungen scheiden sämtlich aus. Die Frage lautet daher: Warum und vor allem was schreibt Cicero an Curio? Gerade die Abwesenheit konkreter
|| 31 Über die Unwägbarkeiten der Briefzustellung Nikitinski (2001) 241–243; Nicholson (1994). 32 Fam. 2,4,1 (SB 48) (Übersetzung Kasten [2004]). Der Brief wurde insbesondere für brieftheoretische Ansätze berücksichtigt; vgl. z.B. White (2010) 21–22; Hutchinson (1998) 7; 177–178; Cordier (1995); Thraede (1970) 27–38. Dazu kritisch Rollinger (2014) 181–184.
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Inhalte erlaubt in vorzüglicher Weise, die kommunikativen Strategien des Briefschreibers Ciceros nachzuvollziehen.33
3.2 Kommunikative Strategien: amicitia, exspectatio, res publica In Brief 1 kommt Cicero nach einer etwas umständlichen Einleitung mit der erwähnten Exkulpierung vom Vorwurf der neglegentia zum eigentlichen Anliegen. Die im 4. Brief vorgestellten Kategorien des Privatbriefs sind auch hier nicht erfüllt. Es werden indes bereits diejenigen Strategien evident, die Cicero im Verlaufe der ersten fünf Briefe wiederholt zur Anwendung bringen wird: Beteuerung der Freundschaft (amicitia), Äußerung einer immensen Erwartungshaltung gegenüber dem Adressaten (exspectatio) und seine Festlegung auf eine politische Rolle innerhalb des Staates (res publica):34 ego te afuisse tam diu a nobis et dolui, quod carui fructu iucundissimae consuetudinis, et laetor, quod absens omnia cum maxima dignitate es consecutus quodque in omnibus tuis rebus meis optatis fortuna respondit. breve est quod me tibi praecipere meus incredibilis in te amor cogit: tanta est exspectatio vel animi vel ingeni tui ut ego te obsecrare obtestarique non dubitem sic ad nos conformatus revertare ut, quam exspectationem tui concitasti, hanc sustinere ac tueri possis. et quoniam meam tuorum erga me meritorum memoriam nulla umquam delebit oblivio, te rogo ut memineris, quantaecumque tibi accessiones fient et fortunae et dignitatis, eas te non potuisse consequi ni meis puer olim fidelissimis atque amantissimis consiliis paruisses. qua re hoc animo in nos esse debebis ut aetas nostra iam ingravescens in amore atque in adulescentia tua conquiescat. Deine lange Abwesenheit von uns habe ich einesteils bedauert, weil ich den Genuß des mir so lieben Umgangs mit Dir entbehren mußte, andrerseits freue ich mich darüber, daß Du in Deiner Abwesenheit alles in höchst ehrenvoller Weise erreicht hast und in all Deinen Belangen der Erfolg meinen Wünschen entspricht. Nur wenig ist es, was meine unsägliche Liebe mich Dir nahezulegen zwingt. Man wartet sehnsüchtig auf Deine schönen Herzens- und Geistesgaben, und so stehe ich nicht an, Dich inständig zu bitten: kehre so gefestigt zu uns zurück, daß Du den Erwartungen, die Du geweckt hast, entsprichst und sie nicht enttäuschst. Bei mir wird kein Vergessen je die Erinnerung an Deine Verdienste um mich auslöschen, und darum bitte ich auch Dich, bei allem, was Dir an Glück und Ansehen zuwachsen wird, Dich dessen zu erinnern, daß es Dir versagt geblieben wäre, wenn Du Dich nicht einst in deiner Jugend meinen aus treuester Liebe entsprungenen Ratschlägen gefügt hättest. So ist es Deine Pflicht, Dich gegen mich so zu verhalten, daß mein sich bereits dem Ende zuneigendes Leben in Deiner Liebe, Deiner Jugend Ruhe findet.
|| 33 Zur Bedeutung von Ciceros ‚belanglosen‘ Briefen Rollinger (2014) 187–194. 34 Fam. 2,1,2 (SB 45) (Übersetzung Kasten [2004]).
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Zunächst amicitia: Die Betonung freundschaftlicher Verbundenheit ist nicht originell und entspricht gängiger politischer Praxis, die in den privaten Brief zwischen Politikern und insbesondere den Ciceros Eingang gefunden hat.35 Im Unterschied zu jener höheren Form der Freundschaft, der Cicero in De amicitia das Loblied sang, war das Zweckbündnis das wichtigste Mittel zur Durchsetzung des eigenen politischen Willens. Das Begriffsfeld der amicitia (darunter fallen Nuancierungen wie amor, consuetudo, necessitudo) bezeichnet Formen eines personenpolitischen Verhältnisses, das als leitendes Prinzip der römischen Regierungspraxis funktionierte.36 Unentbehrlich für ein fruchtbares politisches Verhältnis waren die officia, merita, benevolentiae, die als Unterpfand des freundschaftlichen Bündnisses dienten. Um das freundschaftliche Potenzial mit Curio zu aktivieren, schlägt Cicero eine raffinierte rhetorische Strategie ein: Er beschwört das freundschaftliche Band auf verschiedenen zeitlichen Ebenen und zeichnet so ein vielschichtiges und dauerhaftes Abhängigkeitsverhältnis: Zunächst beklagt der Schreiber das Fehlen des alltäglichen Umgangs, der iucunda consuetudo. Sodann wird die memoria bemüht, mit deren Hilfe er länger zurückliegende gegenseitige merita ins Feld führt und somit lebenslange Freundschaft suggeriert. Auf Seiten Curios dürften die merita besonders in dessen Opposition gegen Caesar und im Einsatz für Ciceros Rückkehr aus der Verbannung liegen, auf Seiten Ciceros in dessen Tätigkeit als politischer Mentor – man denke an die schmachvolle Episode, die Cicero in der 2. Philippica eindrücklich schildern wird. Schließlich weist er Curio darauf hin, dass er gewissermaßen für dessen politischen Aufstieg verantwortlich sei, da er dafür die Grundlagen gelegt habe. Daraus leitet Cicero das Recht ab, fordern zu dürfen, dass Curio sich auch in Zukunft seinem politischen Programm verpflichtet fühlen müsse. Dies geschieht durch die Dichotomie von Alter und Jugend: Cicero sucht alte Verdienste für die Zukunft nutzbar zu machen. Die Bezeigung höchster Liebe ist allen Briefen als basso continuo zugrundegelegt.37 Im zweiten Brief, dem Trauerbillett anlässlich des Todes des Vaters
|| 35 Vgl. etwa Hall (2009); zur Korrespondenz zwischen Cicero und Curio ebd. 66–71. Vgl. auch Rollinger (2014) 194–220; Wilcox (2012) 25–39; Cordier (1995). 36 Hierzu umfassend Rollinger (2014); vgl. auch Spielvogel (1993) 3–19; Bleicken (1995) 180– 196; Meier (1966) 7–63. 37 Vgl. fam. 2,3,2 (SB 47): illud cognosces profecto, mihi te neque cariorem neque iucundiorem esse quemquam. Ebd. 2,4,2 (SB 48): et hoc, quicquid attigi, non feci inflammandi tui causa sed testificandi amoris mei.
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Curios im Jahr 53, wird die amicitia zu einem väterlichen Abhängigkeitsverhältnis gesteigert:38 Gravi teste privatus sum amoris summi erga te mei patre tuo, clarissimo viro; qui cum suis laudibus tum vero te filio superasset omnium fortunam si ei contigisset ut te ante videret quam a vita discederet. sed spero nostram amicitiam non egere testibus. tibi patrimonium di fortunent! me certe habebis cui et carus aeque sis et iucundus ac fuisti patri. Mit Deinem Vater, diesem herrlichen Mann, ist mir ein gewichtiger Zeuge meiner innigen Liebe zu Dir entrissen worden. Durch seine Ruhmestaten und nicht zuletzt durch Dich als seinen Sohn hätte er aller Glück in den Schatten gestellt, wenn es ihm vergönnt gewesen wäre, Dich noch wiederzusehen, bevor er aus dem Leben schied. Dein Erbe mögen die Götter segnen; die Liebe Deines Vaters, die Freude, die er an Dir hatte, wirst Du gewiß bei mir wiederfinden.
Die amicitia zwischen Cicero und Curio ist freilich eine ererbte: Wiewohl das Verhältnis Ciceros zu Curio dem Älteren nicht ungetrübt war – es kursierte eine In P. Clodium et Curionem betitelte Streitschrift Ciceros – scheint dies dem politischen Freundschaftsbündnis nicht grundlegend geschadet zu haben.39 Wenn Cicero den Vater also zunächst als testis amicitiae apostrophiert, um dies sodann zur Hoffnung spero nostram amicitiam non egere testibus zu relativieren, so drückt sich darin das Bestreben aus, das Bündnis mit dem Vater im Sohn fortzuführen. Mehr als eine standardisierte Beileidsformel dürfte es sein, wenn Cicero schließlich Curios väterliches Erbe dem Segen der Götter anempfiehlt. Ein weiteres verbindendes Element der ersten fünf Briefe ist exspectatio, die Erwartungshaltung, die Cicero an Curio heranträgt. Auffällig ist allein die zahlenmäßig prominente Nennung des Begriffs: Im ersten Brief wird sie zweimal genannt, im dritten dreimal, im vierten und fünften jeweils einmal. Exspectatio || 38 Fam. 2,2 (SB 46) (Übersetzung Kasten [2004]). Hierzu White (2010) 24–25: „Even a note of condolence can be made to foreground the relationship between writer and recipient: […] Every officium thus contributes something above and beyond its immediate purpose, and the letters rarely fail to draw attention to that dimension of particular transactions.“ Vgl. auch Wilcox (2012) 61–63. Die Steigerung von Freundschaften und weitläufigeren Bekanntschaften zu familiären Verwandtschaftsverhältnissen ist ein häufig bemühter Topos in Ciceros Korrespondenz; vgl. Wilcox (2012) 32–33. 39 Die Invektive ging auf Reden im Senat zurück, die Cicero unter dem Eindruck von Clodius’ Freispruch im Prozess wegen Religionsfrevels nach dem Bona-Dea-Skandal gehalten hatte. Der ältere Curio wurde insofern zur Zielscheibe, als er im Prozess als Verteidiger des Clodius aufgetreten war, wobei sich Ciceros Angriffe aber wohl hauptsächlich gegen Clodius richteten. Das Pamphlet war schließlich gegen den Willen Ciceros in Umlauf gekommen. Vgl. Att. 3,12,2 (SB 57); 3,15,3 (SB 60); Schol. Bob. 85–91; Crawford (1994) 227–263. Zum Verhältnis von Cicero zu Curio pater vgl. McDermott (1972), bes. 397–405.
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ist damit neben amicitia Leitmotiv und Hauptthema der ersten fünf Briefe. Bedeutsam ist die suggestive sprachliche Gestaltung, mit der Cicero seinen Briefpartner geradezu beschwört, der Erwartungshaltung gerecht zu werden, die man ihm in der Heimat entgegenbringe und die er sich selbst durch seine Verdienste um den Staat aufgebaut habe. Im ersten Brief dient die Akzentuierung der Personalpronomina ego, te/tui, nos der Suggestion eines Gruppengefühls, im zweiten wird der exspectatio-Begriff polyptotisch eingeprägt, im vierten wird exspectatio zur gravis adversaria personifiziert und als incredibilis charakterisiert, im fünften als mirabilis gekennzeichnet.40 Cicero agiert hier planvoll: Er wiederholt Begriff und Motiv, variiert sie sprachlich und steigert die Intensität seines Werbens von Brief zu Brief. Worauf richtet sich nun die exspectatio des Briefschreibers? Dies war in der Jugend-Alter-Dichotomie und im aus wechselseitigen merita gewebten Band des 1. Briefs bereits angeklungen. Cicero hatte dort seiner Hoffnung Ausdruck verliehen, Curio würde sich, nach Rom zurückgekehrt, als Wahrer seines politischen Programms erweisen. Der 53-jährige ingravescens hatte es sich zum Ziel gesetzt, den etwa 30-jährigen Hoffnungsträger aus dem Kreise der Romana iuventus als politischen Freund an sich zu binden und auf die Vertretung seiner politischen Interessen festzulegen.41 In den weiteren Briefen wird Cicero konkreter: Curio hatte durch einen Freund in Rom Leichenspiele für seinen Vater ankündigen lassen. Im darauf bezugnehmenden Schreiben (fam. 2,3) spielt Cicero die Bedeutung der munera auf semantischer Ebene auseinander: Das schönste Geschenk, so Cicero, mache man den Freunden, den Bürgern und dem Staat nicht durch öffentliche Spiele, munera, sondern durch verdienstvolle Leistungen um den Staat:42 brevi tamen sic habeto, in eum statum temporum tuum reditum incidere ut iis bonis quae tibi natura, studio, fortuna data sunt facilius omnia quae sunt amplissima in re publica consequi possis quam muneribus. quorum neque facultatem quisquam admiratur (est enim copiarum, non virtutis) neque quisquam est quin satietate iam defessus sit. […] summa scito in exspectatione esse eaque a te exspectari quae a summa virtute sum-
|| 40 Fam. 2,1,2 (SB 45): tanta est exspectatio vel animi vel ingeni tui ut ego te obsecrare obtestarique non dubitem sic ad nos conformatus revertare ut, quam exspectationem tui concitasti, hanc sustinere ac tueri possis. 2,3,2 (SB 47): summa scito in exspectatione esse eaque a te exspectari quae a summa virtute summoque ingenio exspectanda sunt. 2,4,2 (SB 48): est enim tibi gravis adversaria constituta et parata incredibilis quaedam exspectatio. 2,5,2 (SB 49): Unum illud nescio gratulerne tibi an timeam, quod mirabilis est exspectatio reditus tui. 41 Vgl. hierzu Leach (2006) 256–258; van der Blom (2010) 313. 42 Fam. 2,3,1–2 (SB 23) (Übersetzung Kasten [2004]). Derselbe Gedanke findet sich in off. 2,55– 59; vgl. Leach (2006) 257.
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moque ingenio exspectanda sunt. ad quae si es, ut debes, paratus, quod ita esse confido, plurimis maximisque muneribus et nos amicos et civis tuos universos et rem publicam adficies. Soviel jedoch laß Dir in aller Kürze sagen: Die Zustände, die Du bei Deiner Rückkehr antriffst, sind so beschaffen, daß Du mit den Vorzügen, die Dir Veranlagung, Strebsamkeit und Glück verliehen haben, alle glänzenden politischen Ziele leichter erreichen kannst als durch Leichenspiele. Über ihre Pracht wundert sich kein Mensch, denn das geht den Beutel an, nicht den Mann, und alle Welt ist nachgerade übersättigt. […] Wisse, daß man Dich mit höchster Spannung erwartet und von Dir erhofft, was man von überragender Tüchtigkeit und Begabung erwarten muß! Wenn Du dafür, wie Du solltest, gewappnet bist – und ich zweifle nicht daran – dann machst Du uns Freunden, allen Deinen Mitbürgern und dem Staat das reichste und schönste Geschenk.
Cicero fürchtete, Curio könne seine ökonomische und politische Unabhängigkeit, seine integritas, verlieren, wenn er allzu viel Geld in die Leichenspiele für den Vater investierte. Dass Curio auf den Rat Ciceros offenbar nicht das mindeste gab, zeigt ein Bericht Plinius’ des Älteren über die verschwenderischsten Theaterbauten der späten Republik. Dort heißt es, um das Theater des Scaurus zu übertreffen, habe Curio sich etwas Neuartiges ausdenken müssen: Ergebnis sei ein „noch größerer Wahnsinn aus Holz“, insania e ligno, gewesen.43 In zwei hölzernen Theatern, die auf Angeln standen und drehbar waren, konnten vormittags zwei unterschiedliche Stücke gespielt werden. Für die nachmittäglichen Gladiatorenkämpfe konnten die Hälften gedreht und so miteinander vereinigt werden, dass ein Amphitheater entstand.44 Es lässt sich annehmen, dass ein beträchtlicher Teil der Schulden, die Curio in den 50er Jahren angehäuft hatte und die ihn schließlich in Caesars Arme trieben, aus diesem Theaterbau stammte.45
|| 43 Plin. nat. 36,116: Aufert animum et a destinato itinere degredi cogit contemplatio tam prodigae mentis aliamque conectit maiorem insaniam e ligno. C. Curio, qui bello civili in Caesarianis partibus obiit, funebri patris munere cum opibus apparatuque non posset superare Scaurum […] ingenio ergo utendum suo Curioni et aliquid excogitandum fuit. 44 Plinius entrüstet sich darüber, dass sich das römische Volk, Bezwinger des Erdkreises, so leichtsinnig einem derart abenteuerlichen Gerüst anvertraut, das jederzeit aus den Angeln geraten könnte (nat. 36,118–119): en hic est ille terrarum victor et totius domitor orbis, qui gentes, regna diribet, iura exteris mittit, deorum quaedam immortalium generi humano portio, in machina pendens et ad periculum suum plaudens. […] ecce populus Romanus universus, veluti duobus navigiis inpositus, binis cardinibus sustinetur et se ipsum depugnantem spectat, periturus momento aliquo luxatis machinis! 45 Dies deutet Plinius an, wenn er Curio als non opibus insignis kennzeichnet (nat. 36,120).
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Im 4. Brief wird Curio dazu angestachelt, sich um laudes, mit denen man sich gloria um den Staat erwerbe, zu bemühen. Im 5. Brief wird Cicero konkreter und spricht mit eindringlichen Worten über die politische und moralische Zerrüttung des Staates. Am Ende des Briefes wird Curio nichts weniger angetragen als die Aufgabe, zum Retter des Staates zu werden:46 Unum illud nescio gratulerne tibi an timeam, quod mirabilis est exspectatio reditus tui; non quo verear ne tua virtus opinioni hominum non respondeat, sed mehercule ne, cum veneris, non habeas iam quod cures; ita sunt omnia debilitata iam prope exstincta. sed haec ipsa nescio rectene sint litteris commissa. quare cetera cognosces ex aliis. tu tamen, sive habes aliquam spem de re publica sive desperas, ea para, meditare, cogita quae esse in eo civi ac viro debent qui sit rem publicam adflictam et oppressam miseris temporibus ac perditis moribus in veterem dignitatem et libertatem vindicaturus. Nur eines weiß ich nicht recht: ob ich Dir gratulieren soll oder mich ängstigen muß, daß man Deine Heimkehr mit so riesiger Spannung erwartet. Nicht als ob ich befürchtete, Deine Persönlichkeit könnte den Erwartungen der Leute nicht entsprechen. Weiß Gott nicht! Aber alles ist so gelähmt, ja beinahe schon erloschen, daß Du, wenn Du hier bist, kaum noch ein Betätigungsfeld finden wirst. Doch vielleicht hätte ich nicht einmal dies unbedenklich schreiben dürfen. Darum laß Dir die Einzelheiten von andern berichten. Aber magst Du noch ein wenig Hoffnung für den Staat haben oder verzweifeln – auf jeden Fall wappne Dich, stelle Dich darauf ein und halte Dir vor Augen, was von einem Manne und Bürger verlangt wird, der berufen ist, den durch die Unbilden der Zeit und die Verderbnis der Sitten zerrütteten und niedergebeugten Staat zur alten Würde und Freiheit zurückzuführen!
Curio wird hier auf das Ideal des optimatium princeps festlegt, wie es Cicero der Jugend in der Sestiana vorgehalten hatte.47 Die abschließende Periode enthält Ciceros politisches Programm der 50er Jahre in nuce: Die Bildwahl – omnia prope exstincta – entspricht einer gängigen der Reden Ciceros post reditum.48 Mehrfach werden die Konsuln des Jahres 58 Gabinius und Piso als Totengräber des Staates bezeichnet, Clodius in der Sestiana als Freudentänzer auf dem Sarg der Republik gezeigt.49 Angesichts der Auswüchse des Bandenterrors forderte Cicero die junge Politikergeneration auf, als moralisch integre Bürger an der dignitas und der libertas des Staates festzuhalten. Dabei berührt er einen für die späte || 46 Fam. 2,5,2 (SB 49) (Übersetzung Kasten [2004]). 47 Vgl. hierzu und zum Folgenden die Analyse des Briefs durch Lepore (1954) 318–327. 48 Zur Klage Ciceros über die res publica amissa, adflicta, nulla in Reden, Traktaten und Briefen vgl. etwa Meier (1966) 1 Anm. 1. 49 Vgl. z.B. Sest. 109. Vgl. auch Pis. 9, wo Cicero Piso bustum rei publicae nennt; prov. 2 tituliert Gabinius und Piso als duo rei publicae portenta ac paene funera. Sest. 88 über Clodius: ille tot iam in funeribus rei publicae exultans ac tripudians.
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Republik topischen Diskurs, wenn er Curio die Rolle des vindex zuweist. Der Begriff des vindex libertatis ist fester Bestandteil der staatspolitischen Reflexion Ciceros in der zweiten Hälfte der 50er Jahre und eignet sich, den Zusammenhang von Brief, Rede und staatstheoretischer Schrift exemplarisch zu beleuchten. In De re publica ließ Cicero Scipio bemerken, dass aus monarchischen und aristokratischen Herrschaftsstrukturen das Freiheitsstreben des Volkes hervorgehe, nicht umgekehrt aus der Freiheit der Wunsch nach Beherrschung.50 Dass der Ausdruck, den Cicero hierfür verwandte (a regum et a patrum dominatione solere in libertatem rem populi vindicari), zum Schlagwort der augusteischen Propaganda werden konnte, belegt seine politische Brisanz und Belastbarkeit.51 In der Sestiana hatte der Begriff des vindex eine realpolitische Abschattung erfahren, als Cicero Milo als vindex vestrae libertatis apostrophierte: Milo war – freilich weitgehend gegen Ciceros eigentliche Überzeugung52 – zum Erhalter von Recht und Ordnung geschminkt worden und fungierte im ideologischen Rahmen der Rede als Vorkämpfer für Ciceros Staatsideal, indem er sich als zupackender Garant für die staatliche, religiöse und private Sicherheit gezeigt habe.53 Der politische Ehrentitel des vindex, den Cicero Curio in Brief 5 in Aussicht stellte, war also sicherlich nicht ungeeignet, um auf einen ehrgeizigen Politiker Eindruck zu machen. Der Brief fungiert hier als Instrument der Versöhnung von staatstheoretischer Reflexion und politischer Arbeit, wobei ihn sein appellativer und propagandistischer Charakter mit der Rede verbindet. Die Vorteile des Privatbriefs vor der Rede sucht Cicero sämtlich zu nutzen: Der private Brief erlaubt die gezielte Steuerung einer einzigen Person, er suggeriert Dringlichkeit, Persönlichkeit und Exklusivität.54 Zudem verfolgt Cicero eine briefübergreifende Strategie, die Vari|| 50 Cic. rep. 1,48 (Scipio): itaque et a regum et a patrum dominatione solere in libertatem rem populi vindicari, non ex liberis populis reges requiri aut potestatem atque opes optimatium. 51 Vgl. r. gest. div. Aug. 1: Annos undeviginti natus exercitum privato consilio et privata impensa comparavi, per quem rem publicam a dominatione factionis oppressam in libertatem vindicavi. Hierzu Walser (1955) 254–364; Welwei (2004) 29. 52 Mehrfach drückt Cicero seine Sorgen über Milos politische und moralische Integrität aus: vgl. Cic. Q. fr. 3,6(8),6 (SB 26); 3,7(9),2 (SB 27). 53 Cic. Sest. 144: video T. Milonem, vindicem vestrae libertatis, custodem salutis meae, subsidium adflictae rei publicae, extinctorem domestici latrocini, repressorem caedis cotidianae, defensorem templorum atque tectorum, praesidium curiae, sordidatum et reum. Vgl. z.B. auch Mil. 80, wo Milo als tanti conservator populi, tanti sceleris ultor gerühmt wird. 54 Vgl. White (2010) 82–86 („Controlling the Frame“). Vgl. auch Ciceros Brief an Paetus fam. 9,21,1 (SB 188), wo er über Stilunterschiede zwischen öffentlicher Rede (iudicium, contio) und Brief spricht und für letzteren die persönliche Kontaktsituation hervorhebt (epistulas cotidianis verbis texere solemus). Hierzu Hutchinson (1998) 5.
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ation und Rekomposition sich wiederholender Motive vorsieht, um sie in immer klarer artikulierter Weise einem konkreten Ziel zuzuführen. Im emphatischen Schlussappell des 5. Briefes, der im Ausdruck des vindicaturus seinen Höheund Endpunkt hat, wird die größere Sache des 6. Briefs, die Werbeschrift für den vindex Milo, nun auch begrifflich vorbereitet. Der 6. Brief unterscheidet sich von den vorigen fünf zunächst hinsichtlich seiner Länge und der Ausführlichkeit, mit der Cicero um Curios Unterstützung wirbt. Die Sonderstellung des 6. Briefes wird unterstrichen durch den Briefauftakt, in dem Cicero wie im 1. Brief die Art der Zustellung beschreibt:55 Nondum erat auditum te ad Italiam adventare cum Sex. Villium, Milonis mei familiarem, cum his ad te litteris misi. sed tamen, cum appropinquare tuus adventus putaretur et te iam ex Asia Romam versus profectum esse constaret, magnitudo rei fecit ut non vereremur ne nimis cito mitteremus, cum has quam primum ad te perferri litteras magno opere vellemus. Obwohl hier noch nichts davon verlautet, daß Du Dich Italien näherst, schicke ich Dir Sextus Villius, einen Freund meines Milo, mit diesem Briefe entgegen. Immerhin nimmt man an, Deine Ankunft stehe nahe bevor, und daß Du aus Asien nach Rom unterwegs bist, steht ja fest, und so bringt die Wichtigkeit der Sache alle Bedenken, ich könnte diesen Brief zu früh abgehen lassen, zum Schweigen. Mir liegt nämlich sehr viel daran, daß Du ihn so bald wie möglich erhältst.
Hier nun handelt es sich um einen handverlesenen Boten, den Cicero zu Curio sandte, sobald mit dessen Rückkehr nach Rom zu rechnen war. Bedeutsam ist, dass Cicero mit Sextus Villius einen Vertrauten Milos und daher einen verlässlichen und parteiischen Zusteller entsendet. Im Gegensatz zu privaten tabellarii, die lediglich für die Überbringung der Briefe eingesetzt wurden und meist die Post mehrerer Schreiber und Empfänger mit sich nahmen, wurde der eigens ausgesuchte Bote teilweise mit mündlichen Nachrichten und gewissen Vollmachten ausgestattet. Der Bote, der zuweilen eine bedeutsame Persönlichkeit des politischen Lebens war, konnte vor Ort als ‚Agent‘ auftreten, sollte hierzu möglichst einen guten Eindruck auf den Adressaten machen, eventuelle Rückfragen beantworten und im Notfall kurzfristige Entscheidungen treffen.56 Die Wahl des Sextus Villius entstand sicherlich aus der Überlegung heraus, mit der Entsendung eines loyalen und, so darf trotz der spärlichen Informationslage angenommen werden, nicht unbekannten Mannes des öffentlichen Lebens in
|| 55 Fam. 2,6,1 (SB 50) (Übersetzung Kasten [2004]). 56 Vgl. Nikitinski (2001) 244.
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Rom seinem Anliegen Bedeutung zu verleihen.57 Mit der Entsendung des Boten versucht Cicero überdies, Curio früher als andere für seine Sache, deren Wichtigkeit, magnitudo, er unterstreicht, zu gewinnen. Auch sprachlich und argumentativ unterscheidet sich dieser Brief von den früheren. Ein vertraulicher, ins Flehentliche neigender Ton wird in einen stark rhetorisierten Satzbau gebunden. In der ersten Briefhälfte verweist Cicero in verschlungener Periode und anbiederndem Gestus auf die gegenseitigen officia, merita und beneficia, um neuerlich das nützliche Potenzial der amicitia zu aktivieren. Sodann kommt er zum eigentlichen Gegenstand seines Briefs – Wahlwerbung für Milo:58 Ego omnia mea studia, omnem operam, curam, industriam, cogitationem, mentem denique omnem in Milonis consulatu fixi et locavi statuique in eo me non offici solum fructum sed etiam pietatis laudem debere quaerere. neque vero cuiquam salutem ac fortunas suas tantae curae fuisse umquam puto quantae mihi sit honos eius, in quo omnia mea posita esse decrevi. huic te unum tanto adiumento esse, si volueris, posse intellego ut nihil sit praeterea nobis requirendum. Ich habe all mein eifriges Bemühen, alle rastlose Sorge, ja, all mein Sinnen und Trachten auf das Ziel gerichtet und dafür eingesetzt, Milo das Konsulat zu verschaffen, und stehe auf dem Standpunkt, daß ich verpflichtet bin, dabei nicht nur auf den Lohn für meine Dienste, sondern auch auf den Ruhm meiner Dankbarkeit zu sehen. Wohl niemand hat je sein eigenes Leben, sein Hab und Gut so am Herzen gelegen, wie mir sein Aufstieg zu diesem Amt. Meine ganze Existenz hängt davon ab. Und Du bist der einzige, der dabei, wenn Du willst, so wirksam helfen könnte, daß ich mich nach weiterer Hilfe nicht umzusehen brauche.
Es folgt ein geschönter Bericht – Lintott nannte ihn „a commentariolum petitionis in miniature“59 – über die Unterstützung, die Milo in Rom genieße: Er habe die Zuneigung der Optimaten gewonnen, die des Volkes, der Jugend und der bei Wahlen einflussreichen Kreise.60 Es fehle indes an einem verlässlichen und angesehenen Wahlkampfmanager:61
|| 57 Quint. inst. 6,3,86; Hor. sat. 1,64–72, wobei sich die referierte Episode – so ist für Ciceros Unternehmen zu hoffen – nach der Briefzustellung ereignet haben dürfte. 58 Fam. 2,6,3 (SB 50) (Übersetzung Kasten [2004]). 59 Lintott (1974) 66. 60 Dass Cicero hier die staatspolitischen Vorstellungen von concordia ordinum und consensus omnium bonorum auf die Person Milos projiziert, ist evident; vgl. Lepore (1954) 322; Zarecki (2014) 59–60. 61 Fam. 2,6,4 (SB 50) (Übersetzung Kasten [2004]).
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dux nobis et auctor opus est et eorum ventorum quos proposui moderator quidam et quasi gubernator. qui si ex omnibus unus optandus esset, quem tecum conferre possemus non haberemus. An einem Führer und Vertrauensmann fehlt es uns, der die geschilderte Wetterlage zu nutzen versteht und sozusagen das Ruder in die Hand nimmt. Sollte ich diesen einen Mann aus der Gesamtheit auswählen, ich wüßte nicht, wen ich Dir gleichstellen sollte.
Das Bild des Steuermanns ist, wiewohl topisch für den Lenker des Staatsschiffs, nicht grundlos gewählt. In einem oder mehreren nicht erhaltenen Briefen hatte Cicero, wie er am Beginn des 5. Briefes schreibt, eine geläufige Redewendung gebraucht: ut scripsi ad te ante, in eadem es navi. Im Bild des gemeinsamen Schiffs oder Bootes, das also ebenfalls mehrfach zur Anwendung gekommen ist, lassen sich sämtliche kommunikativen Strategien Ciceros verbinden. Es ist Ausdruck des politischen Bandes und der optimatischen Parteiung: Der ausgediente Kapitän übergibt an den jungen, der das Schiff auf Kurs halten und in den Hafen bringen möge. Curio gelangte schließlich im Jahr 50 zum Volkstribunat und genoss augenscheinlich breite Unterstützung im Volk.62 Das Glückwunschschreiben (fam. 2,7) vom 19. Dezember 51, das Cicero mit einiger Verspätung aus seiner Provinz Kilikien sandte, zeigt des Schreibers Unbehagen, nicht persönlich, sondern nur brieflich und aus großer Entfernung Einfluss auf seinen ehemaligen Schützling und auf die römische Politik nehmen zu können. Der 7. Brief weist wesentliche Unterschiede zu den vorhergehenden Briefen auf, die auf die veränderte Kommunikationssituation zurückzuführen sind. Cicero schreibt aus der fernen Provinz an Curio in Rom, nicht wie vordem aus Rom in die Provinz. Damit haben sich die Möglichkeiten der Einflussnahme auf die römische Politik gewandelt: Während Cicero den politischen Prozess in Rom nicht mitgestalten kann, ja überhaupt nur mit einiger Verzögerung Nachrichten aus der Hauptstadt empfängt – longe enim absum, audio sero –,63 steht Curio im Zenit der politischen Teilhabe, ist dem älteren Adressanten also politisch deutlich überlegen. Somit entfällt eines der konstitutiven Merkmale der früheren Briefstrategie: exspectatio. Cicero ist nicht in der Position, seinen Briefpartner wie vordem von väterlicher Warte aus zum gewünschten moralischen und politischen Verhalten anzuleiten, sondern setzt sich selbst gegen den Volkstribunen herab. Hatte er in den
|| 62 Vgl. etwa App. civ. 2,26: ἐχθρὸς ὢν καὶ ὅδε τῷ Καίσαρι καρτερὸς καὶ ἐς τὸν δῆμον εὐχαριτώτατος καὶ εἰπεῖν ἱκανώτατος. 63 Fam. 2,7,1 (SB 107). Die Klage wiederholt sich in den Briefen aus Kilikien an M. Caelius; vgl. fam. 2,9,1 (SB 85); 2,10,1 (SB 86); 2,11 (SB 90); 2,13,1 (SB 93).
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Briefen des Jahres 53 seine und die Rolle seines Adressaten in Alter-Jugend-, Vater-Sohn- und Mentor-Zögling-Dichotomien ausgedrückt, so erfordert die veränderte kommunikative Situation neue Zuschreibungen. Solche findet Cicero in einer sich steigernden Reihung von Rollen, die er angesichts des nunmehr arrivierten Politikers einzunehmen gedenke: Cur ego absum vel spectator laudum tuarum vel particeps vel socius vel minister consiliorum?64 Während Cicero in den früheren Briefen Curio auf seine bzw. die römische Sache festzulegen trachtete, bietet er sich nunmehr als außenstehender Betrachter an, als Parteigenosse und als Helfer bei der Durchsetzung der politischen Ziele Curios. Zu diesem Rollenwechsel stimmt die sprachliche Gestaltung des Briefs: Sollte Curio etwa im 1. Brief (s.o.) schon durch den Gebrauch der Personalpronomina tu-egonos auf die gemeinsame Sache festgelegt werden, wird Curio (tu) nun zum alleinigen Referenzpunkt. Cicero hebt sein eigenes staatspolitisches Ideal zugunsten der Empfehlung an Curio auf, mit sich selbst zu Rate zu gehen: Tecum loquere, te adhibe in consilium, te audi, tibi obtempera. Was wie eine philosophische Anleitung zur Selbstreflexion anmutet, ist die dringliche Bitte um die Bewahrung des politischen Status quo. Curio steht in der Adressatenkonstruktion des Briefs für den Politiker des Ausgleichs und der Mäßigung, der das Machtgleichgewicht in Rom aufrechterhalten soll. Cicero appelliert an Curio, er möge für den senatus consultum und die leges so eintreten, dass nichts Außergewöhnliches und Neues beschlossen werde, solange er, Cicero, in Kilikien sei.65 Aus dem Briefwechsel Ciceros mit M. Caelius, der den Statthalter Kilikiens minutiös über die Vorgänge in Rom unterrichten sollte,66 lässt sich in unvergleichlicher Weise der Moment nachvollziehen, in dem klar wird, dass Curio seine optimatische Politik aufgegeben und sich Caesar angeschlossen hat.67 Im Brief fam. 8,6 vom Februar 50 unterrichtete Caelius Cicero zunächst darüber, dass es kaum Senatsbeschlüsse gebe, dem Curio das Tribunat ‚einfriere‘, alles stagniere und die
|| 64 Fam. 2,7,2 (SB 107). 65 Fam. 2,7,4 (SB 107): [peto] nunc a tribuno pl. et a Curione tribuno, non ut decernatur aliquid novi, quod solet esse difficilius, sed ut ne quid novi decernatur, ut et senati consultum et leges defendas, eaque mihi condicio maneat qua profectus sum. Hoc te vehementer etiam atque etiam rogo. 66 Vgl. z.B. fam. 2,10,4 (SB 86): De re publica ex tuis litteris, ut antea tibi scripsi, cum praesentia tum etiam futura magis exspecto. Qua re ut ad me omnia quam diligentissime perscribas te vehementer rogo. Die Briefe Ciceros an Caelius sind fam. 2,8–15, die des Caelius an Cicero fam. 8,1–14. Vgl. hierzu Habicht (1990) 76. 67 Zum Briefwechsel Hutchinson (1998) 141–148.
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römische Bürgerschaft von der Schlafkrankheit ergriffen scheine.68 In seiner eigenen Handschrift (also nicht der seines Schreibers) ergänzt er den Brief schließlich, indem er das frühere Urteil über Curio revidiert – jetzt sei diesem warm, da man ihn ‚zerpflückt‘ habe: Weil man ihm den Schaltmonat nicht gewährte, um den er seine Amtszeit verlängern wollte, sei er zu den Popularen um Caesar übergelaufen.69 Ciceros Antwort reflektiert den Bruch in Caelius’ Brief, wenn er zuerst schreibt: gaudebam sane et congelasse nostrum amicum laetabar otio, um dann hinzuzusetzen:70 Extrema pagella pupugit me tuo chirographo. Quid ais? Caesarem nunc defendit Curio? Quis hoc putaret praeter me? Nam, ita vivam, putavi. Di immortales, quam ego risum nostrum desidero! Die letzte Seite von Deiner eigenen Hand hat mir einen Stich versetzt. Was sagst Du? Curio tritt jetzt für Caesar ein? Wer hätte das erwartet außer mir! Denn, so wahr ich lebe, ich habe es geahnt. Mein Gott! Wie gerne würde ich mit Dir darüber lachen!
Curio erwies sich letztlich nicht als der verlässliche Mann, den man sich als Stimme der neuen Optimaten oder als Versöhner der politischen Kräfte wünschen konnte. Nachdem er sich im Laufe seines Volkstribunats von Caesar hatte kaufen lassen, legte er sein Veto gegen die Abberufung des Prokonsuls aus Gallien ein, womit er scheiterte, und floh schließlich Ende des Jahres 50 zu Caesar nach Ravenna.71 Schließlich war es Cicero selbst, der in Briefen des Folgejahres die fatale Rolle, die ‚sein‘ Curio für den Ausbruch des Bürgerkriegs spielte, dokumentierte.72
|| 68 Fam. 8,6,3–4 (SB 88): Consules autem habemus summa diligentia: adhuc senatus consultum nisi de feriis Latinis nullum facere potuerunt. Curioni nostro tribunatus conglaciat. sed dici non potest, quomodo hic omnia iaceant. nisi ego cum tabernariis et aquariis pugnarem, veternus civitatem occupasset. 69 Fam. 8,6,5 (SB 88): Quod tibi supra scripsi Curionem valde frigere, iam calet; nam ferventissime concerpitur; levissime enim, quia de intercalando non obtinuerat, transfugit ad populum et pro Caesare loqui coepit […]. 70 Fam. 2,13,3 (SB 93) (Übersetzung Kasten [2004]). 71 Hierzu App. civ. 2,26–33. 72 Att. 10,4,8–10 (SB 195); fam. 16,11,2 (SB 143): Curio meus illum (sc. Caesarem) incitabat.
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4 Zusammenfassung In den Briefen fam. 2,1–6 an C. Scribonius Curio verfolgt Cicero eine briefübergreifende Strategie, wobei er einen Vorzug brieflicher Kommunikation vor anderen Kommunikationsformen nutzt: die Wiederholbarkeit des Briefs, d.h. die Briefserie, wobei jeweils dieselben Motive – amicitia, exspectatio, res publica – in unterschiedlichen Graden der Explizität die Briefe konstituieren. Die ersten fünf Briefe dienen der Einschwörung Curios, eines typischen Vertreters der spätrepublikanischen perdita iuventus, auf sein staatstheoretisches Ideal, das nicht den vorgefundenen Gegebenheiten entspricht und in den Augen Ciceros nur mit einer Politikergeneration zu bewerkstelligen wäre, die sich auf die traditionelle Verfassung besinnt. Anhand des Ehrentitels des vindex libertatis, den Cicero Curio im 5. Brief anträgt, lassen sich exemplarisch Ciceros Versuche der Versöhnung von staatstheoretischer Reflexion und politischer Realität sowie der Vorteil der epistula familiaris gegenüber der Rede als propagandistischem Mittel aufzeigen: Persönlichkeit, Dringlichkeit und Exklusivität des privaten Briefs erlauben die gezieltere Beeinflussung des Adressaten und seine Festlegung auf das politische Programm des Adressanten. Im 6. Brief werden die kommunikativen Strategien der früheren Briefe schließlich einem realen Zweck zugeführt, der Gewinnung Curios als einflussreichem Wahlkämpfer für Milos Bewerbung um das Konsulat des Jahres 52: amicitia dient als Trägerin eines politischen Vorgehens, das Ciceros idealtypischen Entwurf der res publica und seine Erwartungshaltung (exspectatio) an den aufstrebenden Politiker Curio der gesellschaftlichen und tagespolitischen Lage in Rom anpasst. Die vergleichsweise größere Wichtigkeit (magnitudo) des 6. Briefs wird unterstrichen durch die spezifische Botensituation: Mit Sextus Villius ist der Überbringer des Briefs ein Vertrauter Milos, der als politischer ‚Agent‘ Ciceros fungiert. Die Briefe 1–6 an Curio sind Ausdruck für Ciceros Bestreben, angesichts einer neuen politischen Realität und dieser zum Trotz sein in der Sestiana entworfenes staatstheoretisches Programm des cum dignitate otium in die Tat umzusetzen. Der Brief gilt Cicero insbesondere in der Zeit politischer Machtlosigkeit als belastbares Instrument realpolitischer Arbeit. Der 7. Brief vom Dezember 51 kann als Kontrastfolie zu den früheren, planvoll entwickelten Briefen 1–6 dienen. Aus einer veränderten persönlichen, politischen und kommunikativen Situation heraus entstanden, hat Cicero neue Rollenzuschreibungen zu finden, die ihn selbst zum Betrachter, Bittsteller und bestenfalls Parteigänger des nunmehr bedeutenderen Mannes werden lassen. Im Entgleiten der Kontrolle über den brieflichen Rahmen manifestiert sich die politische Isoliertheit Ciceros: Die strategische Einschwörung auf ein staatspoli-
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tisches Programm, die Leitfaden der Briefe 1–6 gewesen war, ist aufgehoben zugunsten der flehentlichen – und letztlich wirkungslosen – Bitte um Bewahrung einer zerfahrenen politischen Realität.
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| III. Zur Funktion von Briefen in der spätrepublikanischen Historiographie
Martin Stöckinger
Briefe in der Historiographie Strategien schriftlicher Kommunikation bei Caesar und Sallust Briefe gehören ebenso wie Reden seit jeher zum festen Repertoire historiographischer Darstellungen.1 So kommunizieren etwa in der Erzählung vom Ring des Polykrates im dritten Buch von Herodots Historien Polykrates und sein Gastfreund Amasis mittels Briefen (Hdt. 3,40 und Hdt. 3,42,4–43,1), und so spielen – um ein weiteres Beispiel von vielen möglichen aus der griechischen Historiographie zu nennen – auch in der Pausanias-und-Themistokles-Episode im ersten Buch des Thukydides Briefe eine große Rolle (Thuk. 1,128–138). Wir haben es bei solchen Fällen und den römischen Texten, die ich im Folgenden behandeln werde, kurz gesagt, mit Briefen auf zweiter Ebene zu tun, d.h. mit Briefen, die auf welche Weise auch immer in eine Erzählung integriert sind. Da in der historischen Erzählung in der Regel der kommunikative Kontext des Briefverkehrs (wie etwa Anlass und Zweck der Briefe, die äußere Situation der Adressaten und Adressanten, die Orte, von denen ein Brief abgeschickt und wo ein Brief gelesen wird etc.) genauer erläutert wird und nicht erst rekonstruiert werden muss, bietet die Darstellung von Briefen in der Historiographie – zumindest potenziell und implizit – einen Ort der Reflexion über die Gattung Brief. Dennoch soll das Ziel meiner Untersuchung nicht darin bestehen, eine Art Brieftheorie aus den zu analysierenden Beispielen abzuleiten. Vielmehr soll es mit der vergleichenden Analyse von Briefen bei Caesar und Sallust – allgemein gesprochen und in Anlehnung an den Untertitel dieses Bandes – um ‚Kommunikationsstrategien‘ in einem relativ eng abgegrenzten Bereich der römischen Historiographie der späten Republik gehen (zur genauen Begründung der Textauswahl s.u.). Die eingangs angedeutete Ähnlichkeit zwischen Briefen und Reden hat dazu geführt, dass diese beiden Arten der Äußerung oft gemeinsam untersucht
|| 1 Caesar-Zitate richten sich nach der Teubner-Ausgabe von Hering (1987) für das Bellum Gallicum und nach der OCT-Ausgabe von Damon (2015) für das Bellum Civile; Sallust-Zitate folgen der OCT-Ausgabe von Reynolds (1991). Die Caesar-Übersetzungen sind den Reclam-Ausgaben von Deißmann (1980; Gall.) und (1971; civ.), Sallust-Übersetzungen der Tusculum-Ausgabe von Eisenhut/Lindauer (32006) entnommen und geringfügig adaptiert. Abkürzungen antiker Werktitel richten sich nach dem System des Neuen Pauly oder sind, sofern dort nicht aufgelistet, selbsterklärend.
https://doi.org/10.1515/9783110676303-006
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werden.2 Ein solches Vorgehen ist gerechtfertigt, bringt aber auch einige Probleme mit sich, auf die ich weiter unten eingehen werde. Die Gemeinsamkeiten zwischen Briefen und Reden in der Historiographie sind schnell benannt: In beiden Fällen handelt es sich um Äußerungen von Figuren, die in das Narrativ eingebettet sind. Beide Formen der Äußerung lassen sich in vielfältige Unterarten gliedern: Grabreden, Feldherrnreden vor der Schlacht, politische Beratungsreden, diplomatische Rededuelle etc. auf der einen Seite; Empfehlungsschreiben, Bittgesuche, Felddepeschen etc. auf der anderen.3 Schließlich können sowohl Rede als auch Brief recht unterschiedlich in die Erzählung integriert sein: Bald wird der Austausch von Reden oder Briefen bloß erwähnt, bald wird der Inhalt von Reden oder Briefen knapp zusammengefasst, bald werden Reden oder Briefe wörtlich wiedergegeben. Sowohl bei der Analyse von Reden als auch bei Briefen in der Historiographie hat man lange Zeit danach gefragt, ob es sich um authentische Äußerungen der historischen Personen handelt und das je nachdem zu beweisen oder zu widerlegen versucht.4 Bei Briefen stellt sich dieses Problem noch in verschärftem Maße, da sie ja per Definition schriftlich verfasst sind, sie damit im gleichen Medium wie die historische Erzählung stehen und man also nicht wie bei Reden darauf angewiesen wäre, dass Mitschriften oder Hypomnemata existieren. Die Zeiten, in denen solche Fragen im Zentrum der Forschung standen, scheinen seit der literaturwissenschaftlichen Wende in der historiographischen Forschung5 vorbei, und so geht man mittlerweile davon aus, dass alle Briefe in der Historiographie mehr oder weniger fingierte, oder vorsichtiger ausgedrückt: vom Erzähler gestaltete Äußerungen sind, und dass man sich daher auf andere Fragestellungen konzentrieren sollte. Im Zusammenhang mit der Untersuchung von Reden in der Historiographie hat Dennis Pausch drei interpretatorische Maximen in Erinnerung gerufen, die sich auf die Untersuchung von Briefen in leicht modifizierter Form übertragen
|| 2 So etwa bei Büchner (21982) 160–243 und Schnorr von Carolsfeld (1888). 3 Die spätantiken Brieftheoretiker Ps.-Demetrios und Ps.-Libanios listen je nach Schreibanlass eine Vielzahl (21 bzw. 41) unterschiedlicher Brieftypen auf, die jeweils eigene stilistische Charakteristika aufweisen sollten. Cf. Ebbeler (2010) 469 und Fögen (2018) 49–55. 4 Generell scheint die Wiedergabe von Briefen dem λόγος-Satz aus dem Methodenkapitel des Thukydides zu folgen (Thuk. 1,22,1). Hinweise auf die reichhaltige Sekundärliteratur zu dieser Stelle würden den Rahmen dieser Fußnote sprengen. 5 Der Beginn der dezidiert literaturwissenschaftlichen Erforschung historiographischer Texte wird für gewöhnlich mit den Arbeiten von Wiseman (1979) und Woodman (1988) in Verbindung gebracht; Pausch (2011) ist ein neueres Beispiel aus dieser Reihe. Zuletzt wurde aber auch scharfe Kritik an diesem Ansatz geäußert, cf. Lendon (2009).
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lassen und anhand derer konkrete Fragestellungen entwickelt werden können:6 (a) Zum einen sei eine kontextgebundene statt isolierter Betrachtung der Rede bzw. des Briefes anzustreben. Ein solches Vorgehen schützt vor einer bloß formalistischen Betrachtung der jeweiligen Äußerung und hilft, sie in das narrative Kontinuum des Textes einzubetten. Auf diese Weise können interessante Wechselwirkungen mit dem die Äußerung umgebenden Bericht des Erzählers zu Tage treten. Dies ist bei der Untersuchung von Briefen umso wichtiger, als dass dort – anders als bei Reden – in nicht wenigen Fällen der genaue Inhalt nicht oder nicht sehr ausführlich referiert wird. (b) Ferner sei es ratsam, die Unterschiede zwischen den Verwendungsweisen von Reden bzw. Briefen bei den einzelnen Historikern zu betonen, anstatt nach Gemeinsamkeiten zu suchen. Zwar mag es bei der Funktion von Reden bzw. Briefen durchaus Konstanten und große Gemeinsamkeiten innerhalb der historiographischen Tradition geben; die Spezifika zwischen den einzelnen Autoren können jedoch besser durch eine Art der Kontrasthermeneutik herausgearbeitet werden und sind für die weitere wissenschaftliche Diskussion aussagekräftiger als die Kontinuitäten. Allein schon aus diesem – forschungsstrategischen – Grund habe ich mich entschieden, mit Caesar und Sallust zwei Autoren zugrunde zu legen (und bei diesen Autoren jeweils zwei verschiedene Werke); hinzu kommt, dass Caesars Kommentarien gar nicht der Historiographie im engen Sinn zuzurechnen sind7 und sich schon deshalb für einen kontrastiven Vergleich eignen. (c) Schließlich seien produktionsästhetische Fragen (in deren Hintergrund oftmals noch Fragen nach der Authentizität von Reden und Briefen stehen) rezeptionsästhetischen Fragestellungen hintanzustellen. Letztere seien deshalb vorzuziehen, da sie die Wirkung der jeweiligen Passage auf den Leser betonen und auf ihre narrativen Vorteile abzielen. Auch dieser Maxime Pauschs ist gewiss zuzustimmen, jedoch scheint mir – insbesondere im Zusammenhang mit Briefen – an einer Stelle Vorsicht geboten: Zwar ist es richtig, dass die Kategorie der Authentizität in einem quellenkritischen Sinn nicht länger ein sinnvolles Analysekriterium sein kann, doch kann sie eben genau als rezeptionsästhetische Kategorie ein wichtiges Element sein, mit dem Briefe ihre Wirkung auf den Leser entfalten. Denn leisten Reden und Briefe in Erzählungen nicht genau dies, dass sie als die
|| 6 Zum Folgenden s. Pausch (2010) 3–7. 7 Zur Gattungsfrage von Caesars Kommentarien und ihren Schnittmengen mit der ‚klassischen‘ Historiographie cf. zuletzt Schauer (2016) 85–104; nach wie vor lesenswert Bömer (1953) sowie Adcock (1956) 6–18. Zur funktionalen Verwandtschaft der römischen Gattung des commentarius mit Briefen militärischen und politischen Inhalts cf. Riggsby (2006) 133–155 und Mundt (2004).
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sinngemäß wiedergegebenen Worte oder gar als die (möglicherweise fingierten) ipsissima verba einer Figur besondere Glaubwürdigkeit erzeugen sollen? Ich schlage daher vor, im Zusammenhang von Briefen in historiographischen Darstellungen von ‚konstruierter‘ oder ‚fingierter Authentizität‘ zu sprechen, um eben jenen Effekt beschreiben zu können. Eine solche ‚konstruierte‘ oder ‚fingierte Authentizität‘ liegt natürlich nicht bei jedem Brief in gleichem Maße vor, sondern kann im jeweiligen Text unterschiedlich stark zum Tragen kommen, doch das sei an Ort und Stelle ausgeführt. Bei allen Gemeinsamkeiten bestehen aber auch signifikante Unterschiede zwischen Brief und Rede, die sich besonders auf das bereits erwähnte Medium der Schriftlichkeit und auf den Aspekt der Abwesenheit zwischen Sender und Empfänger der Äußerung beziehen. Das schließt folgende Fragen ein, denen ich in meiner Untersuchung besondere Beachtung schenken möchte: Welche Rolle spielen die räumliche Distanz und die zeitliche Verzögerung zwischen den Kommunikationspartnern? Wird das Medium der Schrift thematisiert und bewertet? Kommt den schriftlichen Äußerungen eines Briefes größere Autorität zu oder den Reden, bei denen der Redner persönlich für das Gesagte einstehen kann? Gibt es in Abgrenzung zur Rede briefspezifische Möglichkeiten des Scheiterns der Kommunikation? Caesar und Sallust bieten hinreichend viele Gemeinsamkeiten und hinreichend viele Unterschiede für einen Vergleich: Sie schreiben beide in etwa der gleichen Zeit über im weiteren Sinn zeitgeschichtliche Themen. Gleichzeitig unterscheiden sie sich in einem zentralen Punkt, nämlich der Erzählperspektive: Während bei Sallust streng heterodiegetisches Erzählen8 vorliegt, ist bei Caesar eine Nähe zwischen dem Autor Julius Caesar, dem Erzähler und schließlich der Figur Caesar nicht zu leugnen – eine Konstellation, die die Frage nach Adressaten und Adressanten etwa derjenigen Briefe, die Caesar erhält, noch komplexer macht.9 Insgesamt behandle ich vier Stellen eingehender, je eine aus dem Bellum Gallicum, dem Bellum Civile, dem Catilina und dem Jugurtha.
|| 8 Terminus nach Genette (1972) 255–256. 9 Ich unterscheide hier und im Folgenden zwischen (1) dem Erzähler, (2) der Figur Caesar und (3) der historischen Persönlichkeit und dem Autor Caesar. Den Unterschied zwischen (2) und (3) versuche ich durch möglichst unmissverständliche Formulierungen deutlich zu machen. Grundlegend zu narratologischen Problemen in Bezug auf den Erzähler, den Autor und die Figur Caesar in den Kommentarien Reijgwart (1993).
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1 Stimmen der Geschichte (Caes. Gall. 2,1–2) Am Beginn des zweiten Buchs seiner Commentarii de bello Gallico legt der Erzähler Caesars Anlass für den Feldzug gegen die Belger dar (Gall. 2,1–2,2,1): Cum esset Caesar in citeriore Gallia in hibernis, ita uti supra demonstravimus, crebri ad eum rumores adferebantur, litterisque item Labieni certior fiebat omnes Belgas, quam tertiam esse Galliae partem dixeramus, contra populum Romanum coniurare obsidesque inter se dare. (2) coniurandi has esse causas: primum, quod vererentur, ne omni pacata Gallia ad eos exercitus noster adduceretur; (3) deinde, quod ab nonnullis Gallis sollicitarentur, partim qui, Germanos diutius in Gallia versari noluerant, ita populi Romani exercitum hiemare atque inveterascere in Gallia moleste ferebant, partim qui mobilitate et levitate animi novis imperiis studebant; (4) ab nonnullis etiam, quod in Gallia a potentioribus atque iis, qui ad conducendos homines facultates habebant, vulgo regna occupabantur, qui minus facile eam rem imperio nostro consequi poterant. [2] (1) His nuntiis litterisque commotus Caesar duas legiones in citeriore Gallia novas conscripsit et inita aestate in ulteriorem Galliam qui deduceret Q. Pedium legatum misit. Während Caesar sich im diesseitigen Gallien aufhielt und, wie wir oben berichteten, das Heer im Winterlager lag, drangen immer häufiger Gerüchte zu ihm, die durch Briefe des Labienus bestätigt wurden, dass sich alle Belger, die, wie erwähnt, einen der drei Teile Galliens bewohnen, gegen das römische Volk zusammenschlössen und untereinander Geiseln austauschten. (2) Die Gründe für die Verschwörung waren folgende: Erstens fürchteten sie, dass nach der Unterwerfung des gesamten übrigen Galliens unser Heer gegen sie geführt würde, (3) zweitens wurden sie von einigen Galliern in Unruhe versetzt, teils weil diese zwar dagegen gewesen waren, dass die Germanen länger in Gallien blieben, jedoch auch schlecht ertrugen, dass das Heer des römischen Volkes in Gallien überwinterte und auf die Dauer dort blieb, teils weil sie einen Umsturz herbeizuführen suchten, da sie von Natur aus unbeständig und leichtfertig sind. (4) Da oft in Gallien mächtige Männer, die die Möglichkeit hatten, eine Gefolgschaft zu bilden, die Führung eines Stammes an sich rissen, versuchten einige auch deshalb Unruhe zu erregen, weil dies unter unserer Herrschaft nicht mehr so leicht möglich wäre. [2] (1) Die Berichte und Briefe veranlassten Caesar, zwei neue Legionen im diesseitigen Gallien auszuheben und zu Beginn des Sommers dem Legaten Q. Pedius den Auftrag zu geben, sie in das Innere Galliens zu führen.
Wie schon bei seinem ersten Auftritt im Bellum Gallicum überhaupt (Gall. 1,7,1), so wird Caesar auch hier aus der Ferne herbeigerufen: Aus Briefen seines zuverlässigen Legaten Labienus, den er zur Leitung des Winterlagers in Gallien bestellt hatte (Gall. 1,54,3),10 und aus Gerüchten habe er in seinem Winterlager
|| 10 Labienus hat sich bereits im Krieg gegen die Helvetier Verdienste erworben, cf. Gall. 1,21– 22; an dieser Stelle sticht er umso mehr hervor, da er mit Considius einem General gegenüber-
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diesseits der Alpen erfahren, dass die Belger Dunkles im Schilde führten und bereits Vorkehrungen für einen Aufstand träfen. Insgesamt werden drei Gründe für ihre Vorkehrungen angeführt: erstens ihre Angst vor den Römern, zweitens eine mögliche Aufwiegelung durch die keltisch-stämmigen Gallier und drittens die allgemeine Tendenz in Gallien, dass Häuptlinge nach der Königsherrschaft strebten. Unabhängig von dem (eher historisch relevanten) Problem, ob Caesar schon lange vor Erhalt der Nachrichten beabsichtigt hatte, die Belger zu unterwerfen, oder ob er tatsächlich erst durch die Nachrichten dazu veranlasst wurde, gegen die Belger ins Feld zu ziehen,11 sind an der vorliegenden Stelle mindestens drei Dinge bemerkenswert: Zunächst ist es kaum möglich festzustellen, welche Teile der indirekten Rede den rumores, welche den litterae zuzuschlagen sind. Die Briefe des zuverlässigen Generals, die doch eigentlich die Kriegsgründe sauber dokumentieren sollen, scheinen die Gerüchte zu bestätigen,12 letztlich wird jedoch der Inhalt der Gerüchte und Briefe vermischt.13 Damit eng zusammen hängt ein zweiter Aspekt: Als ob der Erzähler diese Unsauberkeit korrigieren wollte, spricht er in der Anknüpfung zu Beginn des zweiten Paragraphen nunmehr von „Briefen und Nachrichten“, die Caesar zum Handeln veranlassen, und lässt die Gerüchte unerwähnt: His nuntiis litterisque commotus Caesar duas legiones in citeriore Gallia novas conscripsit […].
|| gestellt wird, der einen Fehler begeht (cf. Schauer [2016] 182–184, der allerdings den Kontrast zwischen Considius und Caesar betont). Schauer (2016) charakterisiert Labienus als Caesars „Stellvertreter“ (182) und „beste[n] Legat“ (192), Kraner/Dittenberger/Meusel (181960) I 191 ad loc. bezeichnen ihn als „geeignet und tüchtig als Vertreter des Statthalters, nicht bloß als Vertreter des Feldherrn“. 11 Zu diesem Problem, das – durch die Belger fokalisiert – auch in Gall. 2,1,2 angesprochen wird, s. Lieberg (1998) 143–146, der dort Caesars Feldzug – ganz wie in der Erzählung dargestellt – als Reaktion und keine von langer Hand geplante Kampagne betrachtet (s. besonders 143 und 144). 12 Die Formel certior fiebat ist hier ausnahmsweise nicht phraseologisch im Sinne eines nicht näher qualifizierten ‚Benachrichtigtwerdens‘ zu verstehen, sondern der Komparativ ist tatsächlich als Komparativ zu lesen, cf. Deißmanns (1971) treffende Übersetzung („[die Gerüchte] wurden ihm bestätigt“). 13 Contra Kraner/Dittenberger/Meusel (181960) I 192 ad Gall. 2,1,3: „Aufzählung der verschiedenen Beweggründe des Aufwiegelns (sollicitare), die Caesar nicht mehr als Inhalt der Gerüchte, sondern als tatsächlich Bekanntes hinzufügt“ (Hervorhebung d. Verf.). Die Kommentatoren verkennen, dass der Erzähler den Leser dies nur glauben machen will, sprich, dass es Teil seiner Strategie ist, Zusammenhänge, die teilweise aus Gerüchten bekannt sind, als gesichertes und allgemein anerkanntes Wissen darzustellen, cf. besonders das ethnographische Klischee im letzten Satz.
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Mit dem Wort nuntius wird im Bellum Gallicum, so es nicht ‚Bote‘ bedeutet,14 in einem recht neutralen Sinn eine ‚Nachricht‘ bezeichnet;15 soweit ich sehe, tritt es nie an die Stelle eines nicht belegbaren Gerüchts, im Gegenteil scheint Nachrichten, die mit dem Wort nuntius bezeichnet werden, eine besondere Zuverlässigkeit zu eignen.16 Der Gedanke, das Wort nuntius sei an der vorliegenden Stelle lediglich aus Gründen der Variatio gesetzt, meine aber eigentlich dasselbe wie rumores aus dem ersten Satz, ist also zurückzuweisen. Doch damit sind der Wortgebrauch und seine Gründe noch nicht vollständig erklärt: Unterscheidet die Figur Caesar also zwischen den Gerüchten und den Briefen und lässt sie die Gerüchte nicht an sich heran, um ihre Maßnahmen ausschließlich auf die in den Briefen übermittelte Faktenlage zu stützen? Oder verhält es sich vielmehr so, dass der Erzähler das Element, dass einige der geäußerten Befürchtungen lediglich Gerüchte waren, geflissentlich unter den Tisch fallen lässt? Von der Beantwortung dieser Fragen hängt ab, ob man Caesar (sowohl die Figur Caesar als auch die historische Persönlichkeit) als kühlen,
|| 14 OLD s.v. nuntius 1. 15 OLD s.v. nuntius 2 und 3; Merguet (1886) 699 s.v. nuntius zielt in der typischen Art seiner Artikel eher auf die Phraseologie des Wortes ab und gliedert das Lemma sinnvollerweise nicht nach den Bedeutungen ‚Bote‘ und ‚Nachricht‘. Damit wird auch der Tatsache Rechnung getragen, dass nicht an allen Stellen zweifelsfrei zu entscheiden ist, ob das eine oder das andere gemeint ist. Insbesondere ist dies bei aufgelisteten Phrasen wie nuntios accipere oder mittere oder auch bei per nuntios etc. der Fall. 16 Folgende Auswahl an Stellen mag dies belegen: Quellen für nuntii werden genannt bei Gall. 3,3,1 (cf. Gall. 3,2,1: exploratores; in Gall. 3,4,1 sollen sich die nuntii schließlich als wahr erweisen), Gall. 5,11,2 (cf. Gall. 5,10,2: equites; auch Briefe sind hier im Spiel), Gall. 5,46,1 (nimmt auf einen von Cicero autorisierten Brief Bezug) und Gall. 7,40,1 (cf. Gall. 7,39, wo der angesehene Haeduer Eporedorix als Quelle genannt wird). In Gall. 6,10,4 scheinen die Sueben zuverlässige nuntii über das römische Heer zu erhalten, auf deren Grundlage sie ihre nächsten Maßnahmen treffen. Die Zuverlässigkeit von nuntii wird ebenfalls – hier nun in (notwendiger?) Ergänzung zu Gerüchten – in Gall. 6,30,2 und Gall. 7,8,4 betont (cf. fama; in beiden Fällen kann nuntius/-ii auch ‚Bote[n]‘ bedeuten). In der Erzählung von der Auseinandersetzung bei Gergovia kommt es neben der bereits erwähnten Stelle Gall. 7,40,1 zu drei weiteren relevanten Nennungen des Wortes: Die nuntii in Gall. 7,43,1 entsprechen der Wahrheit und grenzen sich insofern von den zuvor erwähnten nuntii des Litaviccus ab (Gall. 7,42,1), bei denen es sich, anachronistisch gesprochen, um ‚fake news‘ handelt (cf. Gall. 7,38); in Gall. 7,48,1, wo nuntii abermals ‚Boten‘ bedeuten können, bestätigen diese den zuvor erwähnten clamor und veranlassen die Gallier zum Handeln. Fazit: Gall. 7,42,1 ist, soweit ich sehe, die einzige Stelle im Bellum Gallicum, an der mit dem Wort nuntius eine Falschnachricht bezeichnet wird. Es ist hier wahrscheinlich durch die Haeduer fokalisiert, die der Täuschung des Litaviccus aufsitzen. Ansonsten scheinen mit dem Wort nuntius bezeichnete Nachrichten – auch und besonders in Abgrenzung zu den (eher negativ konnotierten) Wörtern für Gerüchte – eine spezifische Dignität zu besitzen.
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rational handelnden Feldherrn betrachtet, oder ob man den Erzähler bereits hier als den immer im Dienst seines Helden stehenden Propagandisten ansieht, als der er in den Kommentarien zum Bürgerkrieg noch deutlicher hervortritt. Natürlich können sich diese beiden Lösungsansätze überschneiden, allerdings neige ich dem zweiten zu, und zwar aufgrund eines dritten bemerkenswerten Elements in diesem Abschnitt: Mit dem Relativsatz quam tertiam esse Galliae partem dixeramus blickt der Erzähler bei der ersten Nennung der Belger zurück auf das Proömium seiner Schrift. Der Hinweis, dass es sich bei den Belgern „wie gesagt um den dritten Teil Galliens“ handle, kommt auf textexpliziter Ebene noch recht neutral und unscheinbar daher, tatsächlich wird mit dem intratextuellen Verweis auf das Proömium zum ersten Buch jedoch auch die dort getroffene Aussage in Erinnerung gerufen, dass die Belger von allen Stämmen Galliens der tapferste und, was damit wohl impliziert wird, der gefährlichste Stamm seien.17 Es geht dem Erzähler also wenig überraschend um eine möglichst positive Darstellung der Taten Caesars. Diese Tendenz wird durch die Einführung der Briefe, ihren tüchtigen Adressanten Labienus und bei der zweiten Nennung durch das Kaschieren des Faktums, dass ein Teil des Referierten auch auf Gerüchten basierte, verstärkt. Da die Briefe in der oratio obliqua wiedergegeben werden und ihre Darstellung stark gerafft ist, darf man den Erzähler als einen zweiten Adressanten der Briefe betrachten, der den Inhalt der Briefe auf seine anderen Darstellungszwecke abstimmt. Wenn man nun davon ausgeht, dass Schnittmengen zwischen dem Erzähler und Caesar als historischer Persönlichkeit bestehen, kann man möglicherweise noch von einem dritten Adressanten sprechen. Ebenso ist die Figur Caesar nicht der einzige Adressat der Briefe, vielmehr sind die Briefe – gerade indem sie die wesentlichen Gründe für Caesars Handeln so gerafft darstellen – auch an den Leser18 der Kommentarien gerichtet
|| 17 Cf. Gall. 1,1,3: horum omnium fortissimi sunt Belgae, propterea quod a cultu atque humanitate provinciae longissime absunt minimeque ad eos mercatores saepe commeant atque ea, quae ad effeminandos animos pertinent, important. ‒ „Die Belger sind von allen Stämmen die tapfersten, weil sie von der verfeinerten Lebensweise und hochentwickelten Zivilisation der römischen Provinz am weitesten entfernt sind. Denn nur sehr selten gelangen Händler zu ihnen mit Waren, die die Lebensweise verweichlichen können.“ 18 Mit ‚Leser‘ meine ich hier und im gesamten Aufsatz den ‚impliziten Leser‘ im Sinne von Iser (1972) 9, demzufolge Texte über ein „Beteiligungsangebot“ (59) an den Leser verfügen; davon zu unterscheiden ist ein (intendiertes) Publikum, welches diese „Leserrolle“ (60) annehmen kann, aber nicht muss. Das bedeutet nicht, dass das intendierte oder tatsächliche Publikum für die Bewertung der hier behandelten Texte nicht von Belang ist. Wenn dieses gemeint ist, versuche ich es durch andere Formulierungen als ‚Leser‘ zu markieren.
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und tragen zum apologetischen Charakter der Schrift bei:19 Mit Briefen eines verdienten Generals lassen sich weitreichende militärische Entscheidungen jedenfalls eher begründen als mit Gerüchten. Und in jedem Fall sollen die Kriegsgründe außerhalb der Person des Feldherrn und seines Macht- und Eroberungswillens liegen; auch dies wird mit den Briefen geleistet. Auf die übergreifenden Fragestellungen dieses Bandes und meines Beitrags rückbezogen, kann man anhand dieser Stelle geradezu exemplarisch die Komplexität verschiedener, sich teilweise überlagernder Adressanten und Adressaten von Briefen innerhalb historischer Werke beobachten. Auch wenn diese verschiedenen Stimmen beim vorliegenden Beispiel wohl kaum im Sinne einer Polyphonie interpretiert werden können, sondern vielmehr in den Diskurs der Rechtfertigung Caesars einstimmen, ist es nicht unerheblich festzuhalten, dass diese verschiedenen Stimmen in Caesars Kommentarien überhaupt existieren. Man könnte hier auf formaler Ebene abgebildet sehen, was inhaltlich vor sich geht: Wie sich Caesar Stamm für Stamm und Landstrich für Landstrich in Gallien aneignet und unter seine Kontrolle bringt, so vereint der Erzähler auch die verschiedenen Stimmen seines Geschichtswerks unter sein diskursives Kommando.20
|| 19 Aus dem oben Dargelegten scheint die alte, insbesondere in der deutschen Forschung (Gelzer, Meier) vertretene und mittlerweile umstrittene These, dass Caesar zunächst sukzessive jährliche Rechtfertigungsschriften an den Senat schickte und dass diese erst Ende der 50erJahre zum vorliegenden Werk zusammengefügt und veröffentlicht wurden, wenigstens nicht unplausibel (n.b. die apologetischen Tendenzen würden aber auch bei anderen Publikationsformen und Adressatenkreisen zum Tragen kommen). Dagegen geht Wiseman (1998) von einer sukzessiven Veröffentlichung der Commentarii de bello Gallico (teilweise im Rahmen von Lesungen) bereits im Laufe der 50er-Jahre, auch außerhalb Roms und auch bei einem breiteren Publikum aus. Ebenfalls zu einer sukzessiven Veröffentlichung tendierend Riggsby (2006) 9– 11. Busch (2006) 161–165 argumentiert für ein überwiegend militärisches Publikum, bestehend aus der militärischen Führungsschicht, aber durchaus auch in die unteren Ebenen der Armee reichend. Zum generellen apologetischen Charakter und ähnlichen Tendenzen in der zeitgenössischen Literatur cf. Adcock (1956) 16–18 und Batstone/Damon (2006) 10. 20 In diesem Sinne auch Schauer (2016) 113: „Wie Caesar Herr des militärischen Geschehens ist, so ist er es auch – und erst recht – über das literarische: […]“
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2 Elemente einer kontrafaktischen Geschichte (Caes. civ. 3,57) Auch in den Commentarii de bello civili sind Briefe von kaum zu überschätzender Bedeutung. Es ist vielleicht nicht mehr als eine Laune der Überlieferungsgeschichte, dass der Text, wie er auf uns gekommen ist, mit dem Wort litteris beginnt (civ. 1,1,1–2). ***Litteris [a Fabio] C. Caesaris consulibus redditis aegre ab his impetratum est summa tribunorum plebis contentione ut in senatu recitarentur. Vt vero ex litteris ad senatum referretur impetrari non potuit. (2) Referunt consules de re publica infinite. [infinite Hotomanus coll. Gel. 14,7,9 : in civitate ω] Nachdem der Brief Caesars den Konsuln übergeben worden war, gelang es nur durch äußerste Anstrengung der Volkstribunen, dass er im Senat verlesen wurde. Es konnte jedoch nicht erreicht werden, dass im Senat über den Inhalt des Briefes verhandelt wurde. Stattdessen berichteten die Konsuln allgemein über die Lage des Staates.
Da über den Brief und seinen Inhalt sonst nichts gesagt wird und da der überlieferte Text über keine Einleitung verfügt, nehmen viele Herausgeberinnen und Herausgeber vor dem ersten überlieferten Wort eine Lacuna an.21 Sie gehen davon aus, dass im Brief (und damit auch in der Erzählung) gestanden haben könnte, dass Caesar auf die Forderung des Senates, dass er seine Legionen entlasse, eingehen wolle, wenn Pompeius dasselbe tue. Im Senat – es handelt sich um die Sitzung vom 1. Januar 49 v. Chr. – wird der Brief überhaupt nur gegen Widerstand verlesen. Darüber verhandelt wird explizit nicht (ut vero ex litteris
|| 21 Obwohl Damon (2015) im Text ihrer kritischen Ausgabe eine Lacuna markiert, führen Batstone/Damon (2006) 43 ein gewichtiges Argument dafür an, dass das Bellum Civile tatsächlich so begonnen hat, wie es auf uns gekommen ist. Die Stelle korrespondiert nämlich mit dem letzten Satz aus Bellum Gallicum 7, wo – in einem anderen Kontext – ebenfalls davon die Rede ist, dass von Caesar verfasste Briefe nach Rom gelangen (Gall. 7,90,8; n.b. die Stelle ist textkritisch umstritten: Im Überlieferungszweig α beginnt der Satz mit his litteris cognitis […], in β mit huius anni rebus cognitis […]; Klotz [41957] macht daraus huius anni rebus litteris cognitis […] [mit Verweis auf die Buch-Enden von Gall. 2 und 4, wo ebenfalls im letzten Satz von Briefen Caesars die Rede ist], Hering [1987] bietet folgenden Text: huius anni rebus cognitis […] – es ist also wahrscheinlich, gilt aber unter den Caesar-Herausgebern des 20. Jahrhunderts als alles andere als gesichert, dass litteris tatsächlich im Text gestanden hat). Grillo (2012) 184 schließt sich – ebenfalls ohne Erwähnung des textkritischen Problems in Gall. 7,90,8 – der Interpretation von Batstone/Damon (2015) an, führt aber auch weitere Stimmen auf, die von einer Lacuna am Beginn des Bellum Civile ausgehen.
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ad senatum referretur, impetrari non potuit); stattdessen geben die Konsuln wie gewöhnlich zu Jahresbeginn ihren Bericht über die Lage des Staates. Ich werde unten noch einmal auf diesen Beginn der Erzählung zurückkommen. Etwas eingehender behandeln möchte ich in diesem zweiten Abschnitt meines Beitrags eine andere Stelle aus den Kommentarien zum Bürgerkrieg, nämlich civ. 3,57. Man befindet sich im Frühsommer des Jahres 48, Caesar ist den Truppen des Pompeius nach Epirus gefolgt, und hat sie südlich der Stadt Dyrrachium, die den Pompejanern lange Zeit als Arsenal und Basis diente, abschneiden und großflächig zum Meer hin einkesseln können. Es folgt ein zermürbender Stellungskrieg, in dem um die Hoheit über die entscheidenden Anhöhen um Dyrrachium gekämpft wird (civ. 3,42–53). Auch wenn auf der Peloponnes Achaia nicht genommen werden konnte (civ. 3,56,2–4), sieht die Lage zu diesem Zeitpunkt noch nicht gänzlich ungünstig für Caesar aus, denn Pompeius gehen die Vorräte für die Reiterei, seine wichtigste Waffe, aus (civ. 3,49,2). Erst drei Kapitel nach der vorliegenden Stelle soll sich für Caesar endgültig das Blatt wenden, wenn zwei seiner gallischen Reiterführer zu Pompeius überlaufen und ihm denjenigen Ort in Caesars Verteidigungswall bei Dyrrachium verraten, an dem er am besten angreifen kann (civ. 3,60,3–61,3). Doch diese Ereignisse stehen zum Zeitpunkt von civ. 3,57 erst noch bevor. An dieser Scharnierstelle der Erzählung ist die Situation für Caesar noch ausgeglichen. Trotzdem unterbreitet er nun ein Friedensangebot.22 Die diplomatische Kommunikation ist in hohem Maße vermittelt. Caesar beauftragt Clodius und stattet ihn mit Briefen aus; dieser solle sich an den aus Syrien mit zwei Legionen herbeieilenden Scipio (den Schwiegervater des Pompeius) wenden, welcher schließlich auf Pompeius Einfluss nehmen solle. Der Inhalt der Briefe an Scipio wird wie folgt wiedergegeben (civ. 3,57,2–4): (2) huic [sc. Clodio] dat litteras mandataque ad eum; quorum haec erat summa: sese omnia de pace expertum nihil adhuc arbitrari vitio factum eorum, quos esse auctores eius rei voluisset, quod sua mandata perferre non opportuno tempore ad Pompeium vererentur. (3) Scipionem ea esse auctoritate, ut non solum libere quae probasset exponere, sed etiam ex magna parte compellere atque errantem regere posset; praeesse autem suo nomine exercitui, ut praeter auctoritatem vires quoque ad coercendum haberet. (4) Quod si fecisset, quietem Italiae, pacem provinciarum, salutem imperii uni omnes acceptam relaturos. (2) Caesar gab ihm Briefe und Aufträge für Scipio mit, deren Inhalt kurz gesagt auf folgendes hinauslief: Obwohl er alles für den Frieden versucht habe, meine er, dass bisher
|| 22 So verstehen Interpreten und Kommentatoren die Formulierung civ. 3,57,1: non oblitus pristini instituti Caesar […] („Da Caesar seinem alten Vorsatz nicht untreu werden wollte […]“). Cf. Kraner/Hofmann/Meusel (121959) 232 ad loc.
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nichts geschehen sei aufgrund des Fehlers derjeniger, die er zu Vermittlern bestimmt habe, da sie sich scheuten, Pompeius auch zu ungelegener Zeit seine Vorschläge zu unterbreiten. (3) Scipio aber besitze genügend Ansehen, um nicht allein das, was er für gut halte, freimütig darzulegen, sondern er könne Pompeius auch weitgehend zur Rede stellen und ihn, wenn er irre, auf den richtigen Weg bringen. Außerdem führe er das Heer unter eigenem Oberbefehl, so dass er nicht nur seinen Einfluss geltend zu machen brauche, sondern auch die Macht habe, um gegebenenfalls Zwang auszuüben. (4) Wenn er sich durchsetze, werde es später allgemein heißen, man habe die Ruhe in Italien, den Frieden in den Provinzen, ja die Rettung des Reiches einem einzigen zu verdanken.
Das Ergebnis der Mission ist allerdings ernüchternd (civ. 3,57,5): Haec ad eum mandata Clodius refert ac primis diebus, ut videbatur, libenter auditus reliquis ad colloquium non admittitur, castigato Scipione a Favonio, ut postea confecto bello reperiebamus, infectaque re sese ad Caearem recepit. Diese Vorschläge überbrachte Clodius Scipio, doch während er in den ersten Tagen geneigte Zuhörer fand, wurde ihm an den darauffolgenden keine Unterredung mehr gewährt, da Favonius Scipio schwere Vorwürfe gemacht hatte, wie wir nach Beendigung des Krieges erfuhren. Daher kehrte Clodius ohne Erfolg zu Caesar zurück.
Die Episode über die Briefe an Clodius und Scipio mündet also in eine Sackgasse: Trotz der hochrangigen Unterhändler bleibt Caesars Gesuch ohne Wirkung, und auch in der sprachlichen Darstellung herrscht eine große Diskrepanz zwischen der wortreichen Schilderung des Briefinhalts und dem knapp vorgetragenen Effekt des Unterfangens.23 Man kann sich fragen, warum der Erzähler so viel Aufwand betreibt, um den Inhalt der Briefe zu referieren, wenn die Kommunikation zwischen den verschiedenen Adressanten und Adressaten so schnell im Sande verläuft. Die Stelle kann aus meiner Sicht abermals als eine Art Rechtfertigung gelesen werden. Vor der insbesondere für die Caesarianer verlustreichen Schlacht von Dyrrachium, mehr aber noch vor dem infernalischen Zusammentreffen in Pharsalos, aus dem Caesar zwar als Sieger hervorgeht, welches aber für Rom zu einem nationalen Trauma werden sollte, wird noch einmal der Friedenswille des kompromissbereiten Feldherrn zur Schau gestellt.24 Mehr noch, die Zusammenfassung des Briefes enthält geradezu Elemente einer kontrafakti-
|| 23 Diese Diskrepanz wird dadurch noch verstärkt, dass der referierte Briefinhalt als summa (civ. 3,57,2), also als eine Zusammenfassung des Wesentlichen dargestellt wird; es wird auf diese Weise der Eindruck vermittelt, dass der tatsächliche Brief noch länger gewesen ist. 24 In diesem Sinn auch Batstone/Damon (2006) 112–113, die überdies anführen, dass Scipio in der vorliegenden Passage bewusst kontrastiv zu Caesar als unsicherer und unfähiger Politiker porträtiert werde, der seinem Untergebenen Favonius stattgibt.
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schen Geschichte: Der Satz civ. 3,57,4 (Quod si fecisset, quietem Italiae, pacem provinciarum, salutem imperii uni omnes acceptam relaturos), durch seine sorgfältige rhetorische Ausgestaltung25 als Zusammenfassung und Zuspitzung der gesamten Bitte markiert, weist Formulierungen auf, wie sie zur Beschreibung der späteren Friedenszeiten unter Caesar und Augustus Standard werden.26 Natürlich wird offen gelassen, wer der eine Einzige (uni) sei, der der Grund für den sofortigen Frieden werden könnte; aber es ist klar, dass Scipio damit suggeriert werden soll, er könne dieser Mann sein. Der referierte Briefinhalt an der vorliegenden Stelle erfüllt damit eine ganz ähnliche Funktion wie der Beginn des Bellum Civile, wie es auf uns gekommen ist. Dort wird zwar der Inhalt des Schreibens nicht wiedergegeben, jedoch soll wohl in beiden Fällen ausgedrückt werden, dass alles anders verlaufen wäre, hätten Caesars Briefe nur Gehör gefunden. Der Bürgerkrieg, mithin die Schlachten von Dyrrachium und Pharsalos, hätten vermieden werden können, wenn sich der schriftlich artikulierte und also dokumentierte Friedenswille des Feldherrn durchgesetzt hätte. Die Verantwortung für das Blutvergießen tragen in der Logik der Erzählung folglich diejenigen, die nicht auf das von Caesar Geschriebene eingegangen sind. John Henderson schreibt zu dieser Funktion von Briefen im Bellum Civile treffend: In the course of the narrative, it becomes clear how writing has, if it has, a role to play in Bellum Civile. On the one hand, letters are centrally important, and the letters that compose them carry the brunt of the campaign; for this war is, before all, a war of words, where the prize at stake in the Kriegschuldfrage [sic] is, more than diplomatic victory in psychological warfare, the very stairway to world supremacy.27
|| 25 Das zweite Akkusativsubjekt, welches das Schlagwort der Friedensbemühungen enthält, ist durch Alliteration hervorgehoben (pacem provinciarum). Die drei Akkusativsubjekte quietem Italiae, pacem provinciarum und salutem imperii sind asyndetisch gereiht und als Klimax angeordnet; die Genitivattribute dehnen den Fokus der Darstellung Schritt für Schritt aus. Es wird auf diese Weise der Eindruck erweckt, dass alles mit allem zusammenhänge. Direkt nach dieser Ausdehnung des Fokus aufs Allgemeinste und Größte (imperium) folgt in pointiert antithetischer Juxtaposition die Nennung eines – unbestimmten – Einzelnen (uni), der die Herstellung von Frieden in all diesen Bereichen bewerkstelligen könne. 26 Cf. OLD s.v. quies 6a und OLD s.v. salus 5. Salus wurde bereits in der frühen Republik personifiziert und als Gottheit verehrt (OLD s.v. 7 und Saladino [1994]). Besonders stark treten diese Tendenzen in Anlehnung an hellenistische Herrscherkulte (cf. den Beinamen σωτήρ) im Zusammenhang mit Caesar und Augustus sowie im Frühprinzipat auf, s. Weinstock (1971) 167– 174. 27 Henderson (1996) 265. Ich danke Kathrin Winter für den Hinweis auf diesen Aufsatz.
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3 Konstruierte Authentizität (Sall. Catil. 34–35) Auch bei Sallust sind Briefe von zentraler Bedeutung. So werden in der Monographie über die Verschwörung des Catilina gleich an vier28 und im Bellum Iugurthinum an drei29 Stellen bedeutende Briefe in direkter oder indirekter Rede wiedergegeben; hinzu kommen die Epistula Cn. Pompei ad Senatum und der Mithridates-Brief aus den Historien-Fragmenten. Und auch die beiden unter dem Namen Sallust überlieferten Briefe an Caesar, die gemeinsam mit den anderen Briefen des sallustischen Korpus überliefert sind,30 die aber Teile der Forschung für Pseudepigraphen halten,31 sind mindestens ein Beleg dafür, dass man in der Antike Sallust für einen ausgezeichneten Briefeschreiber hielt. Ich beginne meine Interpretationen mit zwei Briefen aus der Coniuratio, nämlich aus den Kapiteln 34 und 35. Doch dazu zunächst ein wenig Kontext: Nachdem Catilina durch Ciceros Rede aus dem Senat gejagt wurde (Catil. 31,4– 9), trifft er in den Kapiteln 32 und 33 seine Maßnahmen für den bevorstehenden Kampf. Es ist ein Beispiel für Kommunikation, die Distanzen überwindet: Catilina rüstet sein Heer, stimmt sich zuvor noch in Rom mit seinen Spießgesellen Cethegus und Lentulus vor dem geplanten Angriff ab und bricht ins Lager des Manlius nach Etrurien auf (Catil. 32,1–2). Gleichzeitig schickt Manlius seinerseits Gesandte zu Marcius, der in das im nördlichen Etrurien gelegene Faesulae unterwegs war, mit der Bitte, die Sanktionen gegen die Verschwörer aufzuheben (Catil. 32,3–33). Marcius lässt ihn jedoch abblitzen, rät zu einer Niederlegung der Waffen und verweist im Übrigen auf den Senat in Rom. Catilina
|| 28 Catil. 30,1 (Lucius Saenius: Manlius habe zu Waffen gegriffen), 34 (Rundschreiben), 35 (Catulus), 44,5 (Lentulus an Catilina). Daraus ergibt sich eine außerordentliche Vielfalt an Stimmen und Erzählmodi, die den eigentlichen Erzählerbericht ergänzen: Schmal (2001) 33 rechnet aus, dass die Exkurse, Briefe und Reden innerhalb der Monographie – den Vorspann ausgenommen – „ein gutes Drittel des Textes ausmachen“. 29 Iug. 9,1–3 (Empfehlungsschreiben), 24 (Adherbal), 70,5 (Bomilcar an Nabdalsa; vereitelter Anschlag auf Jugurtha). 30 Und zwar im sogenannten Florilegium Vaticanum, dem Vaticanus latinus 3864 (V), cf. Reynolds (21986) 343 und 348–349, Reynolds (1991) xiv und Schmal (2001) 25 und hier Anm. 8. 31 Für die ältere Forschung: Peter (1901) 175. Neuerdings Schmal (2001) 27–30; contra Eisenhut (32006) 465–467 (beide mit weiteren Hinweisen auf die ältere Forschung). Per e-litteras weist mich Felix Mundt auf ein ebenso einfaches wie überzeugendes Argument gegen die Echtheit der Briefe hin: Sie sind „in Sallusts typischem Historiographiestil verfasst […], den Sallust doch wohl für die Historiographie entwickelt hat und der für einen Brief Anfang der 40er Jahre ungewöhnlich wäre.“
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schickt von unterwegs Briefe an die Konsularen, die laut dem Erzähler alle den etwa gleichen Inhalt hätten (Catil. 34,2): se falsis criminibus circumventum, quoniam factioni inimicorum resistere nequiverit, fortunae cedere, Massiliam in exsilium proficisci, non quo sibi tanti sceleris conscius esset, sed uti res publica quieta foret neve ex sua contentione seditio oreretur. Er sei falschen Beschuldigungen zum Opfer gefallen. Weil er gegen die Partei seiner Feinde nicht mehr habe aufkommen können, füge er sich in sein Schicksal und gehe nach Massilia in die Verbannung, nicht etwa weil er sich eines so schweren Verbrechens bewusst sei, sondern damit der Staat zur Ruhe komme und aus seinem persönlichen Kampf kein Aufruhr entstehe.
Die Erzählinstanz selbst markiert dann, dass diese Schreiben von dem im Folgenden wiedergegebenen Brief divergieren (Catil. 34,3: Ab his longe divorsas […]), den Catulus im Senat verlesen hat. Er ist anders als alle bisher hier analysierten Briefe in direkter Rede in die Erzählung eingefügt; mit dem Wort exemplum (Catil. 34,3) weist es der Erzähler als eine Abschrift aus (Catil. 35):32 ‚L. Catilina Q. Catulo. Egregia tua fides, re cognita, grata mihi magnis in meis periculis, fiduciam commendationi meae tribuit. (2) Quam ob rem defensionem in novo consilio non statui parare; satisfactionem ex nulla conscientia de culpa proponere decrevi, quam me dius fidius veram licet cognoscas. (3) Iniuriis contumeliisque concitatus, quod fructu laboris industriaeque meae privatus statum dignitatis non obtinebam, publicam miserorum causam pro mea consuetudine suscepi, non quin aes alienum meis nominibus ex possessionibus solvere non possem – et alienis nominibus liberalitas Orestillae suis filiaeque copiis persolveret – sed quod non dignos homines honore honestatos videbam meque falsa suspicione alienatum esse sentiebam. (4) Hoc nomine satis honestas pro meo casu spes relicuae dignitatis conservandae sum secutus. (5) Plura cum scribere vellem, nuntiatum est vim mihi parari. (6) Nunc Orestillam commendo tuaeque fidei trado; eam ab iniuria defendas, per liberos tuos rogatus. Haveto.‘ Lucius Catilina grüßt Quintus Catulus. Deine außergewöhnliche, durch die Tat bewiesene Treue, die mir in meinen schweren Bedrängnissen so willkommen ist, gibt mir Zuversicht, mich Dir anzuvertrauen. (2) Deshalb beschloss ich auch, keine Verteidigung für meinen neuen Entschluss anzubieten, wohl aber entschied ich für mich, im Bewusstsein meiner Schuldlosigkeit eine Rechtfertigung vorzulegen, die Du, beim Gott der Treue, als aufrichtig ansehen darfst: (3) Durch ungerechte, schmachvolle Behandlung aufgebracht, weil ich um die Früchte meiner Arbeit und Strebsamkeit gebracht wurde und die ehrenvolle Stellung nicht erhielt, nahm ich mich entsprechend meiner Gewohnheit der Sache der Verarmten an, die alle angeht; dies tat ich nicht, weil ich die auf meinen Namen lautenden
|| 32 Für den Wortgebrauch von exemplum im Sinne einer Abschrift bei Sallust und Cicero cf. Schnorr von Carolsfeld (1888) 21–22.
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Schulden aus meinem Besitz etwa nicht bezahlen könnte – sogar auf den Namen anderer eingetragene Schulden würde ja Orestillas Großzügigkeit aus ihren und ihrer Tochter Mitteln begleichen –, sondern weil ich Leute, die es nicht verdienten, mit Ehren ausgestattet sah, mich aber auf unbegründete Verdächtigung hin weggeschoben fühlte. (4) Aus diesem Grunde folgte ich den in meiner Lage durchaus ehrenhaften Hoffnungen, den Rest meiner Würde zu wahren. (5) Eigentlich möchte ich noch mehr schreiben, erhalte aber eben die Mitteilung, dass man eine Gewalttat gegen mich vorbereitet. (6) So empfehle ich Dir nun meine Orestilla und vertraue sie Deinem Beistand an. Schütze sie vor Unrecht, ich bitte Dich bei Deinen Kindern darum. Leb wohl!
Jonas Grethlein hat herausgearbeitet, dass der Brief des Catilina mit der Betonung der Wiederherstellung der eigenen dignitas andere Motive für die Verschwörung liefere als die Erzählinstanz, die von Anfang an den um sich greifenden moralischen Niedergang und das Gewinnstreben in Rom hervorhebt, die bei einem Menschen wie Catilina eben auf besonders fruchtbaren Boden gefallen seien. Dem Brief kommt nach Grethlein somit eine die Teleologie der Primärerzählung in Frage stellende bzw. korrigierende Funktion zu.33 Dieser Deutung kann man mit wenigen Abstrichen34 zustimmen; doch möchte ich in meinen Ausführungen einen Schritt hinter Grethleins Erwägungen zurücktreten und untersuchen, mit welchen Mitteln der Brief des Catilina ausgestaltet ist, um die || 33 Grethlein (2013) 283–288. 34 Ich bin mir etwas unsicher, inwiefern man aus der charakteristisch knappen LiviusPerioche tatsächlich historische Kausalitäten rekonstruieren kann. Grethlein (2013) 281–282 scheint sich dieses Problems bewusst zu sein, führt die Perioche im Anschluss aber immer wieder für ein spezifisches Modell der Sicht auf die Verschwörung an, das mit der im Brief artikulierten Sicht der Dinge korrespondiere. – Mundt (2019?) vertritt eine grundsätzlich andere Sicht der Dinge als Grethlein. Er zeigt, dass moralische Termini wie etwa virtus, aber auch dignitas von allen Akteuren gleichermaßen verwendet werden, und dass es Sallust folglich darum gehe, zu demonstrieren, dass derartig ausgehölte Begriffe im Diskurs der späten Republik ihre Wertigkeit verloren hätten. Prägnant etwa Mundt (2019?) Manuskript S. 8: „Die Protagonisten reden aneinander vorbei. Wenn jeder die gleichen Werte für sich in Anspruch nimmt, dann sind diese nicht einmal gültig (etwa wenn sie von Sallust oder Cato geäußert werden) und einmal nicht (wenn sie Catilina äußert), sondern Sallust stellt gerade heraus, wie die psychischen Systeme der Protagonisten und das soziale System der späten Republik nicht zusammenfinden.“ Dies habe auch Folgen für die Rolle des Lesers, wie es Mundt (2019?) Manuskript S. 9 formuliert: „[…] die stetige Wiederholung immer gleicher Begriffe bietet nur scheinbar ein einfaches Deutungssystem für die jüngste Vergangenheit und die Gegenwart an. In Wahrheit führt Sallust den Leser in einen Irrgarten, einen kleinen, aber in einen Irrgarten der Begriffe und Werte, aus der allenfalls sehr selbständiges und langes Nachdenken und Diskutieren ihn befreien können […]“. Stellen wie der vorliegende Brief wären folglich ein weiterer Beleg für Sallusts Technik, möglichst viele unterschiedliche Stimmen innerhalb seiner Monographien zur Sprache kommen zu lassen, um die sukzessive „Sinnentleerung“ (Mundt per e-litteras) moralischer Begrifflichkeit in der römischen Republik zu illustrieren.
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gewünschten erzähltechnischen Effekte zu erzielen. Vor allem aber soll diese Herangehensweise helfen, eine andere Fragestellung zu überwinden, die lange im Zentrum der Diskussion über die vorliegende Passage gestanden hat. Man hat lange Zeit darüber gestritten, ob der Brief eine authentische Äußerung Catilinas sei. Die Argumente scheinen ausgeglichen, wenn nicht sogar leicht für die Befürworter dieser These zu sprechen. Diese haben einige sprachliche Eigenheiten des Briefes dafür ins Felde geführt, die sie als ‚unsallustisch‘ identifizieren konnten,35 sowie handfeste Widersprüche zur Primärerzählung, die nur daraus resultieren könnten, dass Sallust den Brief unredigiert in sein Narrativ eingefügt habe.36 Das vielleicht stärkste Argument für die Authentizität des Briefes ist aber die Beobachtung, dass man, wenn man den Brief mit den zwei Reden Catilinas (Catil. 20,2–17 und Catil. 58) vergleicht, feststellen kann, dass diese weitaus glatter in den Duktus der sallustischen Erzählung eingepasst sind und keine starken Merkmale eines Idiolekts Catilinas aufweisen.37 Dennoch gibt es auch Argumente gegen eine Authentizität, da der Brief bisweilen eng mit der Primärerzählung verzahnt ist. Beispielsweise hat man gesehen, dass der Erzähler in Catil. 38,3, wenn er allgemein von den niederen Motiven der jungen Politikergeneration spricht und davon, wie diese Politiker jene Motive begründeten, mit der Fügung honestis nominibus eine ganz ähnliche Formulierung gebraucht wie er sie Catilina im Brief verwenden lässt (Catil. 35,4: Hoc nomine satis honestas […]).38 Muss man angesichts einer solchen Entsprechung nicht doch von einem Kompositionswillen seitens des Erzählers ausgehen, der Brief und Erzäh-
|| 35 Jacobs/Wirz/Kurfess (111922) 70–71 identifizieren die Formulierung me dius fidius als „unsallustisch“ und stellen ad licet cognoscas fest, dass licet bei Sallust sonst nicht mit Konjunktiv konstruiert werde. McGushin (1977) 196 fügt dem auf lexikalischer Ebene insgesamt sieben weitere Wörter und Phrasen hinzu, die sonst nicht bei Sallust zu belegen seien. Vretska (1976) 412 nimmt gemäß Thuk. 1,22,1 eine wichtige methodische Differenzierung zwischen „inhaltliche[r] Echtheit“ und „Wortwörtlichkeit“ des Briefes vor, die aber das Dilemma, dass die Authentizität nicht mit Sicherheit bewiesen oder widerlegt werden kann, ebenfalls nicht auflöst. 36 Catilinas eindrucksvoll in Catil. 5,7 und Catil. 20 geschilderte Geldnot wird im vorliegenden Brief explizit als Beweggrund geleugnet. 37 Schnorr von Carolsfeld (1888) 25–26. Büchner (21982) 163–164 bezeichnet den Brief als „Fremdkörper“, nimmt jedoch davon Abstand, ihn als wörtliche Wiedergabe anzusehen, sondern will darin eher Sallusts „Ringen beim ersten historischen Versuch“ sehen. – Zu Form und Funktion von Catilinas Reden in der Coniuratio cf. zuletzt detailliert Batstone (2010), der ebenfalls gleich eingangs anerkennt, dass sie im Ton ganz sallustisch sind, cf. hier S. 228–229, sowie Feldherr (2013) mit wichtigen Bemerkungen zur Intertextualität bei Sallust, die kein rein literarisches Phänomen ist, sondern im Austausch mit der historischen Wirklichkeit steht und auf diese Weise das Geschichtsbild und die historiographische Programmatik Sallusts beeinflusst. 38 Grethlein (2013) 286–287.
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lung in einzelnen Punkten aufeinander angepasst und eben auch den Brief bearbeitet hat? Weiterhin ist es augenfällig, dass in der Parallelüberlieferung zur Verschwörung des Jahres 63 – etwa bei Cicero, in dessen Catilinarien Briefe sonst eine große Rolle spielen39 – nirgends von diesem Brief berichtet wird, was besonders misstrauische Interpreten sogar dazu veranlassen könnte, anzunehmen, dass Sallust den Brief nicht nur bearbeitet, sondern fingiert hat. So weit muss man nicht gehen, aber auch der Hinweis auf den Brief des Lentulus in Catil. 44,5, den man aufgrund seiner identischen Einleitung40 gerne zu einem Vergleich heranzieht, taugt nur bedingt als Argument dafür, dass der Brief Catilinas eine wörtliche Wiedergabe ist. Beim kurzen Brief des Lentulus existiert nämlich eine parallele Überlieferung in Ciceros Dritter Catilinarie (Cic. Catil. 3,12), mit der man das Schreiben abgleichen kann, und es zeigt sich eben keine völlige Übereinstimmung; im Gegenteil treten deutliche Unterschiede zwischen den beiden Überlieferungen zu Tage, die eine Bearbeitung durch Sallust nahelegen.41 Wie beim Lentulus-Brief muss also auch beim vorliegenden Brief Catilinas die Frage nach der Authentizität in einem strengen produktionsästhetischen Sinn letztlich unbeantwortet bleiben. Was jedoch außer Frage steht, ist, dass der Brief, wenn man ihn aus einer rezeptionsästhetischen Warte betrachtet, Effekte hervorrufen soll, die mit dem Begriff der Authentizität beschrieben werden können.42 Ich wende mich erst den Effekten für den Leser der Coniuratio zu und behandle dann die Effekte auf den intradiegetischen43 Adressaten des Briefes, den Senator Quintus Catulus, sowie auf den weiteren Rezipientenkreis, dem er den Brief zugänglich macht. Im Anschluss an die beiden Briefe wird von der Erzählinstanz zwar nicht explizit bewertet, welche dieser beiden Schreiben Catilinas – der Rundbrief an die Konsularen oder die Epistel an Lentulus – den wahren Absichten Catilinas || 39 Cf. die abgefangenen Briefe in Cic. Catil. 3,4–13. Diese Briefe haben allerdings den Status von Beweismitteln (cf. 13: argumenta), eine Eigenschaft, die Catilinas Brief an Catulus bei aller Eindrücklichkeit und Aussagekraft nicht beanspruchen kann. 40 Cf. Catil. 34,3: (earum) exemplum infra scriptum est mit Catil. 44,4: (quarum) exemplum infra scriptum est. 41 Cf. Syme (1964) 73 und McGushin (1977) 220–222 ad loc.; contra Schnorr von Carolsfeld (1888) 30. 42 Die folgenden Ausführungen stehen in Einklang mit neuerer Authentizitätstheorie, wie sie Knaller/Müller (2005) entwickeln: Sie differenzieren zwischen „Subjekt- und Objektauthentizität“ (45–47). Letztere steht meinem weiter unten vorgeschlagenen Konzept einer ‚konstruierten Authentizität‘ besonders nah, insofern in diesem Verständnis „Authentizität […] als Effekt, als Ergebnis von Strategien der Wiedererkennung, als Anerkennung, als mediales Spiel konzipiert“ (46) ist. 43 Terminus nach Genette (1972) 238–241.
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entsprochen haben, doch die in Kapitel 36 folgende knappe Erzählung, dass er weiter aufrüstet und selbst zu den Amtsinsignien greift, tut ihr Übriges: Sie lässt für den Leser des Geschichtswerks nichts von einem freiwilligen Exil erkennen. Warum dann die beiden Versionen der Briefe? Das Schreiben an die Konsularen ist ein Täuschungsmanöver Catilinas, das in der Erzählung, die es gleich als ein solches entlarven kann, den dubiosen und hinterhältigen Charakter noch deutlicher profiliert. Doch auch aus dem zweiten Brief an sich soll man einen Eindruck von Catilina erhalten. Schnorr von Carolsfeld leugnet zwar eine solche Intention bei Sallust,44 aber diese Ansicht ist einer rein produktionsästhetischen Perspektive geschuldet. Wenn man etwa die von Demetrios formulierte Brieftheorie zugrunde legt, kann man bereits für die Antike eine Lesererwartung annehmen, innerhalb der man durchaus davon ausgeht, dass in einem Brief der Charakter des Schreibenden zum Ausdruck kommt.45 Die oratio recta ist im vorliegenden Beispiel das entscheidende Darstellungsmittel. In Verbindung mit den oben genannten sprachlichen Elementen, die in der Primärerzählung nicht vorkommen, lässt sie eine Authentizität entstehen, die der aufmerksame Leser als solche wahrnehmen kann und die dem Brief als Dokument eine spezifische Plausibilität verleiht. In der klassischen rhetorischen Terminologie könnte man eine solche Technik als ‚Ethopoiie‘ bezeichnen;46 der große Nachteil einer Anwendung dieses Begriffs auf die vorliegende Stelle liegt darin, dass damit suggeriert wird, der Brief sei in jedem Fall von Sallust fingiert. Da dies nicht feststeht, sondern es von Teilen der Forschung aus den oben dargelegten Gründen in Erwägung gezogen wird, dass Sallust einen tatsächlichen Brief eingefügt hat, möchte ich lieber von einer vom Erzähler ‚konstruierten Authentizität‘ sprechen. Mit dieser Formulierung möchte ich es dahingestellt sein lassen, ob Sal-
|| 44 Schnorr von Carolsfeld (1888) 25–26. 45 Cf. De eloc. 227: Πλεῖστον δὲ ἐχέτω τὸ ἠθικὸν ἡ ἐπιστολή, ὥσπερ καὶ ὁ διάλογος· σχεδὸν γὰρ εἰκόνα ἕκαστος τῆς ἑαυτοῦ ψυχῆς γράφει τὴν ἐπιστολήν. καὶ ἔστι μὲν καὶ ἐξ ἄλλου λόγου παντὸς ἰδεῖν τὸ ἦθος τοῦ γράφοντος, ἐξ οὐδενὸς δὲ οὕτως, ὡς ἐπιστολῆς. ‒ „Wie der Dialog, so soll der Brief stark von Charakter sein: Jeder schreibt einen Brief geradezu als Abbild seiner Seele. Es ist auch möglich, aus jeder anderen Form der Rede den Charakter des Schreibenden zu sehen, aber aus keiner so klar wie aus dem Brief.“ 46 Zur Ethopoiie in der antiken Briefliteratur, cf. Björk (2016) passim und besonders 119–123; Fögen (2018) 71 Anm. 109 und (2007) 202 und dort Anm. 59 mit Hinweisen auf die ältere Literatur zur Ethopoiie generell; Möller (2004) 99–101 über die ersten Versuche bei Isokrates, Ethopoiie mit Schriftlichkeit zu verknüpfen. Umfassend zur Ethopoiie in späterer Zeit cf. Amato/Schamp (2005).
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lust den Brief fingiert hat oder ob er einen Brief Catilinas mehr oder weniger unredigiert in sein Narrativ ‚montiert‘47 hat. Betrachten wir, um die Effekte jener konstruierten Authentizität besser beobachten zu können, auch den Adressaten des Briefes innerhalb der Diegese: Warum wendet sich Catilina an Catulus? Welche Wirkungen mag er mit dem Brief bei ihm intendiert haben? Und wie sind die tatsächlichen Folgen? Interessant ist auch hier zunächst die Frage, in welchem genauen Verhältnis die beiden Briefe Catilinas zueinander stehen. Catulus ist ja selbst ein Konsular und könnte auch das erste Schreiben erhalten oder irgendwie Kenntnis von ihm erlangt haben.48 Die Darstellung Sallusts beim ersten Brief ist gerafft und vermittelt den Eindruck, als habe Catilina den Konsularen nur kurz ein paar klar formulierte Informationen über seine Motive und Maßnahmen mitgeteilt.49 Catulus hat offensichtlich einen ausführlicheren und privateren Brief erhalten. Von dem angesehenen Elder Statesman scheint sich Catilina persönlich etwas zu versprechen, hat er ihm doch schon einmal aus einer schwierigen Lage geholfen. Bei Orosius ist überliefert, dass es maßgeblich Catulus zu verdanken gewesen sei, dass der gegen Catilina im Jahr 73 v. Chr. vorgebrachte Vorwurf des incestum mit der Vestalin Fabia, von dem Sallust in Catil. 15,1 im Vorbeigehen berichtet, wieder fallengelassen wurde.50 Auf dieses konkrete Ereignis scheint die Eingangsformulierung des Briefes anzuspielen, wenn Catilina mit dem Codewort des römischen Klientelwesens und einem Schlüsselbegriff des vorliegenden Bittgesuchs, fides,51 seinen früheren Patron zu umgarnen versucht.52 Der Jargon des Briefes ist höflich, aber doch vertraut; es werden auch ausführlich die Familienmitglieder – Catilinas Frau Orestilla (Catil. 35,3 und 6)
|| 47 Die Montagetechnik ist eigentlich ein Verfahren, das für die literarische Moderne signifikant ist (cf. Kiesel [2004] 299–444), hat aber durchaus schon antike Vorläufer in Theorie wie Praxis, cf. Kramer (2001) 1478–1479. 48 Dass in Rom Gerüchte über ein freiwilliges Exil Catilinas umgingen, geht aus Cic. Catil. 2,14.16 hervor. 49 Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die oratio obliqua das erste Schreiben treu wiedergibt und nicht etwa zusammenfassenden Charakter hat. Den Gedanken, dass Catulus sowohl das Rundschreiben als auch den in der oratio recta wiedergegebenen persönlichen Brief erhalten hat, halte ich für nicht ausgeschlossen, allerdings auch nicht für weiterführend. 50 Oros. 6,3,1: Eodem anno apud Romam Catilina incesti accusatus, quod cum Fabia uirgine Vestali commisisse arguebatur, Catuli gratia fultus euasit. Ob in dieser Sache ein formaler Prozess angestrengt wurde, ist unsicher, s. Gruen (1971) 60–61. 51 In diesem Sinne Vretska (1976) 412–413: Sowohl im ersten als auch letzten Satz des Briefes appelliert Catilina an die fides des Catulus (Catil. 35,1 und 6); im Verlauf des Briefes schwört er beim ‚Gott der Treue‘ (me dius fidius). 52 McGushin (1977) 196.
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und in der abschließenden Bitte die Kinder des Catulus (6) – erwähnt, wie es zwischen Freunden üblich ist. Aber gerade durch das Referieren der ipsissima verba bringt der Erzähler Catilinas sinistren Charakter zum Ausdruck. Paradigmatisch ist hierfür neben dem schmeichlerischen Grundton die Formulierung novum consilium (Catil. 35,2): In der Forschung ist man sich uneins darüber, ob diese Worte schlicht auf einen ‚neuen Entschluss‘ Catilinas, etwa denjenigen, ins Exil zu gehen, hinweisen sollen,53 oder ob es sich nicht vielmehr um einen Euphemismus für geläufigere Phrasen handelt, mit denen umstürzlerische Bestrebungen benannt werden, wie etwa novis rebus studere oder novas res quaerere/moliri.54 Meiner Ansicht nach trägt diese Ambiguität abermals zur Charakterisierung Catilinas bei, der schon zu Beginn der Haupterzählung prägnant und schier unübersetzbar ein simulator ac dissimulator genannt wurde (Catil. 5,4): Bei aller Vertrautheit bleibt er in der entscheidenden Sache Catulus gegenüber im Vagen, will mit dieser unpräzisen, zunächst harmlos wirkenden Allerweltsformulierung seinen mächtigen Patron hinters Licht führen, sich selbst aber alle Wege offenhalten. Die vielleicht entscheidende Pointe liegt darin, dass der Brief explizit an Catulus als Einzelperson adressiert ist, von diesem aber nun im Senat veröffentlicht wird. Der Widerspruch zum Rundschreiben, in dem explizit von einem Weggang ins Exil gesprochen wurde, wird so nicht nur Catulus als Primäradressaten und dem (impliziten oder tatsächlichen) Leser, sondern eben auch den Senatsmitgliedern, die das Rundschreiben kennen dürften, deutlich: Gegenüber Catulus, dem er sich anvertraut, erwähnt Catilina den Plan, ins Exil zu gehen, eben nicht explizit. Im Vergleich zu einer Rede, bei der der Sprecher anwesend ist und für das Gesagte eintreten und es gegebenenfalls klarstellen kann, eignet dem Brief eine Form der Darstellung, aus der die Rezipienten ihre Schlüsse in Abwesenheit des Adressanten ziehen. Darüber hinaus sind Briefe mobil und können denn auch mehrfach und in anderen Kontexten gelesen und vor anderen Personenkreisen als den primären Adressaten verlesen werden. Diese Eigenschaften des Mediums Brief machen sich der Erzähler und Catulus, der zwar sein Misstrauen nicht artikuliert, aber offensichtlich kein zweites Mal Catilina zu unterstützen bereit ist, zunutze: Durch die Konfrontation des knappen, an eine Vielzahl von Konsularen adressierten Rundschreibens mit dem persönlichen Brief an Catulus, der dann doch einer größeren Öffentlichkeit zugeführt wird, werden die Widersprüche manifest und die täuschenden Absichten Catilinas offenbar. || 53 Cf. McGushin (1977) 196. 54 So etwa Jacobs/Wirz/Kurfess (111922) 70 ad loc.
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4 Räumliche und zeitliche Abwesenheit: Der Brief Adherbals (Sall. Iug. 24) Auch das Bellum Iugurthinum enthält mehrere interessante Stellen, an denen von Briefen die Rede ist. So trägt schon zu Beginn der Erzählung das Empfehlungsschreiben des Publius Scipio an den alternden Micipsa maßgeblich dazu bei, dass dieser entgegen seinem ursprünglichen Entschluss neben seinen noch jungen Söhnen Adherbal und Hiempsal auch seinem Neffen Jugurtha eine tragende Rolle in seiner Nachfolge zukommen lässt (Iug. 9,1–3). Wie sich hier bereits andeutet und später herausstellen soll, wird damit der Grund für den folgenden Bündnisbruch der Numider und den Ausbruch des Kriegs bereitet. In Kapitel 24 – die Dinge haben mittlerweile ihren Lauf genommen – wird ein Bittgesuch des vor Jugurtha geflohenen Adherbal im Senat verlesen (Iug. 24,1–25,4). (1) Numidae paucis diebus iussa efficiunt. Litterae Adherbalis in senatu recitatae, quarum sententia haec fuit: (2) ‚Non mea culpa saepe ad vos oratum mitto, patres conscripti, sed vis Iugurthae subigit, quem tanta lubido extinguendi me invasit ut neque vos neque deos immortalis in animo habeat, sanguinem meum quam omnia malit. (3) Itaque quintum iam mensem socius et amicus populi Romani armis obsessus teneor, neque mihi Micipsae patris mei beneficia neque vestra decreta auxiliantur; ferro an fame acrius urgear incertus sum. (4) Plura de Iugurtha scribere dehortatur me fortuna mea, et iam antea expertus sum parum fidei miseris esse; (5) nisi tamen intellego illum supra quam ego sum petere neque simul amicitiam vestram et regnum meum sperare: utrum gravius existumet nemini occultum est. (6) Nam initio occidit Hiempsalem fratrem meum, deinde patrio regno me expulit. Quae sane fuerint nostrae iniuriae, nihil ad vos; (7) verum nunc vostrum regnum armis tenet; me, quem vos imperatorem Numidis posuistis, clausum obsidet; legatorum verba quanti fecerit, pericula mea declarant. (8) Quid est relicuom nisi vis vostra, quo moveri possit? (9) Nam ego quidem vellem, et haec, quae scribo, et illa, quae antea in senatu questus sum, vana forent potius, quam miseria mea fidem verbis faceret. (10) Sed quoniam eo natus sum, ut Iugurthae scelerum ostentui essem, non iam mortem neque aerumnas, tantummodo inimici imperium et cruciatus corporis deprecor. Regno Numidiae, quod vostrum est, uti lubet consulite; me manibus inpiis eripite, per maiestatem imperi, per amicitiae fidem, si ulla apud vos memoria remanet avi mei Masinissae.‘ [25] His litteris recitatis fuere qui exercitum in Africam mittendum censerent et quam primum Adherbali subveniendum; de Iugurtha interim uti consuleretur, quoniam legatis non paruisset. (2) Sed ab isdem illis regis fautoribus summa ope enisum, ne tale decretum fieret. (3) Ita bonum publicum, uti in plerisque negotiis solet, privata gratia devictum. (4) Legantur tamen in Africam maiores natu nobiles, amplis honoribus usi. In quis fuit M. Scaurus, de quo supra memoravimus, consularis et tum senatus princeps. (1) Die Numider führen die Aufträge in wenigen Tagen aus. Das Schreiben Adherbals wurde im Senat verlesen, sein Inhalt war folgender: (2) ‚Es ist nicht meine Schuld, Senatoren,
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wenn ich öfters Bittgesuche an Euch schicke, sondern das gewaltsame Vorgehen Jugurthas zwingt dazu. Den hat eine solche Sucht befallen, mich auszulöschen, dass er weder an Euch, noch an die unsterblichen Götter denkt, er will mein Blut um jeden Preis. (3) Deshalb werde ich, ein Verbündeter und Freund des römischen Volkes, schon im fünften Monat durch Bewaffnete im Belagerungszustand gehalten, und weder die Wohltaten meines Vaters Micipsa noch Eure Entscheidungen können mir helfen; ob ich von seinem Heer oder vom Hunger heftiger bedrängt werde, weiß ich nicht. (4) Mehr über Jugurtha zu schreiben, widerrät mir meine Lage; ich habe ja früher schon die Erfahrung gemacht, dass unglückliche Menschen zu wenig Vertrauen finden. (5) Das jedoch erkenne ich, dass er über mich hinwegzugehen sucht und dass er sich nicht auf Eure Freundschaft und zugleich auch auf mein Reich Hoffnung machen kann. Was von beiden Dingen er für wichtiger hält, ist niemandem verborgen. (6) Denn zuerst ließ er meinen Bruder Hiempsal erschlagen, dann vertrieb er mich aus meinem ererbten Reich. Das mögen vielleicht nur Verletzungen unserer Rechte gewesen sein und Euch nicht betroffen haben. (7) Jetzt aber hält er Euer Reich mit Waffengewalt besetzt und hat mich, den Ihr als Herrscher über die Numider eingesetzt habt, mit einem Belagerungsring eingeschlossen. Wie wenig er auf die Worte Eurer Gesandten gegeben hat, zeigt meine gefährliche Lage. (8) Was bleibt noch übrig, wodurch er beeindruckt werden könnte, außer Gewalt von Eurer Seite? (9) Denn ich wünschte mir wirklich lieber, dieses mein Schreiben und jene meine früheren Beschwerden im Senat wären gegenstandslos, als dass mein Unglück erst meine Worte erst glaubwürdig machen müsste. (10) Aber weil ich wohl dazu geboren bin, zur Veranschaulichung der Verbrechen Jugurthas zu dienen, bitte ich schon gar nicht mehr darum, mir Tod und Bitterkeiten, sondern nur die Tyrannei meines Feindes und körperliche Qualen zu ersparen. Mit dem Königreich Numidien, das Euch gehört, verfahrt nach Belieben! Mich aber entreißt – bei der Würde Eures Reichs und Eurer Freundestreue – seinen frevlerischen Händen, falls Euch noch irgendeine Erinnerung geblieben ist an meinen Großvater Masinissa.‘ [25] Nach Verlesung dieses Schreibens stellten einige den Antrag, ein Heer nach Afrika zu schicken und Adherbal möglichst schnell zu Hilfe zu kommen; über Jugurtha solle einstweilig entschieden werden, weil er den Gesandten den Gehorsam verweigert habe. (2) Aber jene bekannten Gönner des Königs stemmten sich mit aller Kraft dagegen, dass eine solche Entscheidung zustande komme. (3) So unterlag das allgemeine Wohl, wie es in den meisten Fällen zu geschehen pflegt, dem persönlichen Einzelinteresse. (4) Immerhin werden jetzt ältere Männer aus der Nobilität, die bedeutende Ehrenämter ausgeübt hatten, nach Afrika abgeordnet. Unter ihnen war der oben erwähnte Marcus Scaurus, ein ehemaliger Konsul und damals der erste des Senats.
In schroffem Gegensatz zum unterdrückten Brief zu Beginn von Caesars Bellum Civile trägt dieses ebenfalls an den Senat adressierte Schreiben aufgrund seiner Länge und rhetorischen Ausgestaltung den Charakter der Rede eines Abwesenden. Die Kategorie der Abwesenheit, die ohnehin – beginnend mit der antiken Brieftheorie – eine zentrale Kategorie der Briefliteratur ist,55 scheint mir auch ein
|| 55 Demetrios definiert den Brief bekanntermaßen als ‚die Hälfte eines Dialoges‘ (De eloc. 223: τὸ ἕτερον μέρος τοῦ διαλόγου); expliziter Ps.-Libanios Epistolimaioi charakteres 2: Ἐπιστολὴ μὲν
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interpretatorischer Schlüssel für die gesamte Passage zu sein: Aus dem fernen Afrika wendet sich Adherbal an den Senat und hat im Anschluss an die Rezitation keine Gelegenheit, auf Fragen der Senatoren zu antworten. So können sich diejenigen Senatoren, die es befürworten, ihm Hilfe zu schicken, nicht gegen die durch Jugurtha korrumpierten Kräfte im Senat durchsetzen. Das Motiv der Abwesenheit wird aber auch auf die zeitliche Achse gespiegelt, insofern im Brief ständig die Vergangenheit thematisiert wird.56 Er beginnt mit einer Captatio benevolentiae und der Schilderung der eigenen Notlage (Iug. 24,2–3); schon hier, zu Beginn des Schreibens, wird in die Vergangenheit verwiesen, nämlich auf die Wohltaten von Adherbals Vater und Förderer Micipsa, die der Erzähler selbst in den Kapiteln 7 und 10 erzählt hatte. Nach einer kurzen Reflexion über die rechte Art und Weise eines Bittgesuchs (Iug. 24,4) wird der Brief mit Schilderungen aus der jüngeren Vergangenheit fortgesetzt (Iug. 24,5– 7), u.a. wird die Tötung Hiempsals erwähnt (Iug. 24,6). Auch die hier erzählten Ereignisse finden alle ihre Entsprechung in der Primärerzählung; narratologisch könnte man hierbei von internen Analepsen57 sprechen: Tabelle 1
24,6 (Ermordung des Hiempsal)
12,4‒6
24,7 (Besetzung Numidiens)
12‒23,1
24,7 (Belagerung Adherbals in Cirta)
21,2‒3 und 23,1
24,7 (Missachtung der Gesandten)
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|| οὖν ἐστιν ὁμιλία τις ἐγγράμματος ἀπόντος πρὸς ἀπόντα γινομένη καὶ χρειώδη σκοπὸν ἐκπληροῦσα, ἐρεῖ δέ τις ἐν αὐτῇ ὥσπερ παρών τις πρὸς παρόντα. ‒ „Ein Brief ist folglich eine Art verschriftlichter Unterhaltung eines Abwesenden mit einem Abwesenden und ist nötig, weil er einen Zweck erfüllt: Man wird in ihm sprechen, wie ein Anwesender mit einem Anwesenden“ (zu dieser Stelle, cf. Fögen [2018] 51–52). Cf. auch Edwards (2005) 270: „But the most crucial element is the separation between writer and addressee. As Altman has persuasively put it, a letter serves both to bridge the distance between writer and addressee and, at the same time, to remind us of that distance […]“, Ebbeler (2010) 466 (über die frühesten lateinischen Briefe, die dem Zweck einer „communication in absentia“ dienten [Ebbelers Kursiven]) und 468f. (über weitere Entwicklungen des Abwesenheits-Topos in der lateinischen Briefliteratur) sowie Fögen (2018) 55–68 über explizite Auseinandersetzungen mit Problemen der Abwesenheit bei Cicero, Seneca und Plinius. 56 Insofern ist der Brief Adherbals vergleichbar mit dem Mithridates-Brief aus den HistorienFragmenten, in dessen Mittelteil sich mit Mithridates ebenfalls ein Nicht-Römer zur römischen Außenpolitik äußert, cf. Schmal (2001) 89–91. 57 Terminus nach Genette (1972) 90–91.
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Erst nach diesen Rückblenden des Adressanten Adherbals folgt das eigentliche Bittgesuch, dass der Senat ihm persönlich zu Hilfe kommen möge (Iug. 24,8– 10). Es scheint, als taste sich Adherbal in seinem Schreiben von der Vergangenheit, mit der er sein Anliegen begründet, Schritt für Schritt in die Gegenwart seiner Bitte; doch bei genauem Hinsehen ist das Gegenteil der Fall, denn auch dieses Bittgesuch enthält einen Blick in die Vergangenheit, der sogar noch weiter zeitlich zurückreicht als der Eingang des Briefes: Adherbal schließt mit dem Hinweis auf seinen Großvater Masinissa, welcher, nachdem er im Zweiten Punischen Krieg anfänglich noch Karthago unterstützt hatte, später überlief und im weiteren Verlauf sowie im Dritten Punischen Krieg zu einem wichtigen Verbündeten Roms wurde: […] me manibus inpiis eripite, per maiestatem imperi, per amicitiae fidem, si ulla apud uos memoria remanet aui mei Masinissae‘ (Iug. 24,10). Die bereits knapp ein Jahrhundert zurückliegende Vergangenheit des Bündnisses mit Masinissa scheint im gegenwärtigen Kontext geradezu obsolet, wenn man die Reaktion des Senats betrachtet. Bezeichnenderweise lassen sich nur einige ältere Senatoren durch den Brief zum Handeln gegen Jugurtha bewegen: legantur tamen in Africam maiores natu nobiles […] (Iug. 25,4).58 Sie, so wird wohl impliziert, können sich noch an jene friedvollere Vergangenheit erinnern und sie würdigen. Der Brief in seiner Gesamtheit und insbesondere aber sein Ende stehen, indem sie von der Vergangenheit erzählen und sie sogleich bewerten, in gewisser Nähe zum historiographischen Projekt des Erzählers des Bellum Iugurthinum.59 Man hat es, kurz gesagt, mit einem typischen ‚Plupast‘-Phänomen zu tun; Grethlein und Krebs, die diesen Terminus kürzlich geprägt haben, schreiben in der Einleitung ihres Bandes: „[…] both the historian’s narrative and his character’s recall constitute acts of memory, which hardly differ from one another.“60 Dieser allgemeine Befund ist für den vorliegenden Fall umso treffender als Sallust und Adherbal im selben Medium, nämlich dem der Schrift, operieren und sich beide an einen ähnlichen Adressatenkreis wenden, nämlich die römische Elite. Doch prüfen wir die Parallelen im Detail: Gegen Ende der kulturphilosophischen Einleitung zur Monographie wird ein Publius Scipio als Beleg für einen Menschen zitiert, der sich von der Erinnerung an die Ahnen zu tugendhaftem
|| 58 Cf. kontrastiv die Gesandtschaft in Iug. 21,4 (tres adulescentes), s. Koestermann (1971) 110 ad 25,4. 59 Vorsichtig in diese Richtung weisend bereits Büchner (21982) 190: „Mit Inhalt und Form nimmt so die Rede des Briefs […] an der Darstellung und Entwicklung der Ereignisse teil.“ 60 Generell zu Plupast-Phänomenen cf. Grethlein/Krebs (2012) 2–11, Zitat auf S. 8.
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Handeln anspornen ließ, und – im typischen Verfallsnarrativ der ausgehenden Republik – mit den Amtsträgern späterer Zeiten kontrastiert, die nur noch ihren eigenen Vorteil im Blick haben; unmittelbar danach setzt das eigentliche Narrativ (der Vorgeschichte) des Jugurthinischen Kriegs mit der Erwähnung der Freundschaft zwischen Scipio Africanus und eben jenem Masinissa ein (Iug. 4,5–9 und Iug. 5,4–5):61 Nam saepe ego audivi Q. Maxumum, P. Scipionem, praeterea civitatis nostrae praeclaros viros solitos ita dicere, quom maiorum imagines intuerentur, vehementissume sibi animum ad virtutem adcendi. (6) Scilicet non ceram illam neque figuram tantam vim in sese habere, sed memoria rerum gestarum eam flammam egregiis viris in pectore crescere neque prius sedari quam virtus eorum famam atque gloriam adaequaverit. (7) At contra quis est omnium, his moribus, quin divitiis et sumptibus, non probitate neque industria cum maioribus suis contendat? Etiam homines novi, qui antea per virtutem soliti erant nobilitatem antevenire, furtim et per latrocinia potius quam bonis artibus ad imperia et honores nituntur; (8) proinde quasi praetura et consulatus atque alia omnia huiusce modi per se ipsa clara et magnifica sint ac non perinde habeantur, ut eorum qui ea sustinent virtus est. (9) Verum ego liberius altiusque processi, dum me civitatis morum piget taedetque. Nunc ad inceptum redeo. […] [5] (4) Bello Punico secundo, quo dux Carthaginien-
|| 61 Die Kommentatoren sind sich nicht einig, ob die in Iug. 4,5 und Iug. 5,4 erwähnten Scipionen identisch sind. In Iug. 5,4 ist mit Sicherheit der Bezwinger Hannibals, der ältere Scipio Africanus gemeint (DNP 3, 178 s.v. ‚C. Scipio Africanus, P.‘ [I 71] 182–183). Unklar ist, wer in Iug. 4,5 gemeint ist: Koestermann (1971) 39 ad loc. sagt, es handle sich hier um den Sohn des L. Aemilius Paullus (DNP 1, 181–182 s.v. ‚Aemilius Paullus, L.‘ [I 32]) und Adoptivsohn des Publius Cornelius Scipio (DNP 3, 178 s.v. ‚C. Scipio, P.‘ [I 69]), also um den Adoptivenkel des älteren Scipio Africanus (DNP [I 71], s.o.), kurzum um den unter DNP 3, 178–179 s.v. ‚C. Scipio Aemilianus Africanus (Numatianus)‘ [I 70] genannten jüngeren Scipio Africanus. Von Burkard (2010) 332 ad Iug. 4,5 und im Eigennamenverzeichnis bei Eisenhut/Lindauer (32006) 485 wird dagegen nahegelegt, dass es sich bereits in Iug. 4,5 um den älteren Scipio Africanus (also DNP [I 71], s.o.) handle, der sich mit Masinissa verbündet hatte. Meines Erachtens hat Koestermann recht, und zwar aus folgenden Gründen: Der Scipio in Iug. 4,5 wird in einem Atemzug mit einem Q. Fabius genannt; Burkard (2010) 332 ad Iug. 4,5 nimmt an, dass damit Q. Fabius Maximus Verrucosus, genannt Cunctator, gemeint ist, der allerdings ein politischer Widersacher des älteren Scipio Africanus (DNP [I 71], s.o.) war; es liegt daher viel näher, dass es sich um den zweiten zur Adoption gegebenen Sohn des L. Aemilius Paullus (DNP [I 32], s.o.) handelt, nämlich um den Bruder des jüngeren Scipio Africanus (DNP [I 70], s.o.), Q. Fabius Maximus Aemilianus, der auf diese Weise zu einem Adoptivenkel des Cunctator wurde. Es ist zum einen eindrücklicher, wenn Scipio (DNP [I 70], s.o.) und Maximus – gewissermaßen als Einheit – ihres Vaters und, jeder für sich, seines Adoptiv-Vaters und -Großvaters gedenken (durch die Adoptionen stehen ja mehr Vorfahren als Gegenstand der Erinnerung zur Verfügung), zum anderen würde das Brüderpaar sich ja von der Erinnerung an genau jene Generation ‚entflammen‘ lassen, die auch von Adherbal und Sallust gerühmt wird, und eben dies ist vom jüngeren Scipio Africanus ja auch belegt, s. Eder (1997) 178.
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sium Hannibal post magnitudinem nominis Romani Italiae opes maxume adtriverat, Masinissa rex Numidarum in amicitiam receptus a P. Scipione, quoi postea Africano cognomen ex virtute fuit, multa et praeclara rei militaris facinora fecerat. Ob quae victis Carthaginiensibus et capto Syphace, quoius in Africa magnum atque late imperium valuit, populus Romanus quascumque urbis et agros manu ceperat, regi dono dedit. (5) Igitur amicitia Masinissae bona atque honesta nobis permansit. Sed imperi vitaeque eius finis idem fuit. Ich habe nämlich schon oft gehört, dass ein Quintus Maximus und ein Publius Scipio und auch noch andere berühmte Männer unseres Staates immer wieder Folgendes ausgesprochen haben: (6) Wenn sie die Wachsbildnisse ihrer Ahnen anschauten, würden sie in ihrem Inneren aufs Stärkste zur Tatkraft entflammt. Selbstverständlich bringe nicht das Wachs und nicht das Bildnis eine solche Wirkung mit sich, sondern diese Flamme lodere bei der Erinnerung an geschichtliche Leistungen im Herzen außergewöhnlicher Männer empor und verglimme nicht eher, als bis die eigene Tüchtigkeit den Ruf und Ruhm der Vorfahren erreicht habe. (7) Welchen Gegensatz bilden hier die jetzigen sittlichen Auffassungen! Sucht da nicht jeder seine Vorfahren zu überbieten im Reichtum und im Aufwand, keiner aber in der Rechtlichkeit und Strebsamkeit. Auch ‚neue Männer‘, die früher an Tüchtigkeit den Adel zu übertreffen pflegten, streben eher nach Art von Dieben und Räubern als mit rechten Mitteln nach Führungsposten und Ehrenämtern, (8) gerade als ob die Prätur und das Konsulat und alle anderen derartigen Ämter an sich schon etwas Glanzvolles und Großartiges wären und nicht viel mehr nach der Tüchtigkeit der betreffenden Amtsträger bewertet würden. (9) Doch habe ich mich schon zu freimütig geäußert und bin schon zu weit gegangen bei meinem Abscheu und Ekel vor dem sittlichen Zustand des Staates. Jetzt kehre ich zu meinem Gegenstand zurück. […] [5] (4) Im Zweiten Punischen Krieg, in dem der karthagische Feldherr Hannibal nach der Großmachtstellung des römischen Staates die Kräfte Italiens aufs Stärkste angeschlagen hatte, war Masinissa, der König der Numider, von Publius Scipio, der später wegen seiner Leistung den Beinamen Africanus erhielt, in ein Freundschaftsverhältnis aufgenommen worden und hatte viele glänzende Waffentaten vollbracht. (6) Deshalb machte das römische Volk diesem König nach der Niederlage der Karthager und der Gefangennahme des Syphax – dessen Herrschaftsgebiet in Afrika war groß und weithin in gutem Zustand – alle im Kampf eroberten Städte und Gebiete zum Geschenk. So blieb uns mit Masinissa eine treue und geachtete Freundschaft erhalten. Aber das Ende seines Lebens war zugleich auch das Ende seines Reiches.
Adherbal erinnert am Ende seines Briefes also wie der Erzähler am Anfang seiner Erzählung an diese tugendhafte Vorzeit. Um dies zu markieren, ist im letzten Satz des Briefes wohl auch das historiographische Code-Wort memoria gesetzt (Iug. 24,10). Die Senatoren, die sich auf das Bittgesuch hin zögerlich zeigen und ihr gutes Verhältnis zu Jugurtha erhalten wollen, sind dagegen typische Vertreter der vom Erzähler erwähnten verkommenen jüngeren Generation. Es wird auf diese Weise offensichtlich, dass zwischen dem expliziten Adressanten des Briefes Adherbal und dem sallustischen Erzähler eine enge Komplizenschaft besteht, und dass als Adressat des Briefes Sallusts Publikum mindestens genau-
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so entscheidend ist wie die Senatoren als die Primäradressaten innerhalb der Erzählung. Es kann dem Leser des Bellum Iugurthinum kaum entgehen, dass Adherbal wenig später genau auf die Art und Weise zu Tode kommen soll, die er mit seinem Brief zu vermeiden suchte (cf. Iug. 24,10: non iam mortem […], tantummodo […] cruciatus corporis deprecor mit Iug. 26,3: Iugurtha in primis Adherbalem excruciatum necat) und dass der an den Beginn von Sallusts Erzählung und in die bessere Vergangenheit weisende Name Masinissa sein letztes Wort bleiben wird.62 Bezeichnenderweise erscheint dieses Wort nicht als ein ausgesprochenes, sondern in einem Brief, also im Medium der Schrift, das oft und so auch hier mit dem Tod, der ultimativen Abwesenheit des Schreibenden, in Verbindung gebracht werden kann: Schon in den ersten Zeilen des Textes, in dem explizit das Medium der Schriftlichkeit thematisiert wird (Iug. 24,4: scribere und Iug. 24,9: scribo), ist der bevorstehende Tod Adherbals ausgemacht (Iug. 24,2: [Iugurtha], quem tanta lubido extinguendi me invasit) und wird auch zum Schluss noch einmal in aller Deutlichkeit angekündigt (Iug. 24,10: non iam mortem […] deprecor). Ebenso tot und machtlos wie Adherbal scheint die von ihm im Brief schriftlich in Erinnerung gerufene Vergangenheit, in der Rom und die Numidier noch verlässliche Bündnisse unterhielten.
5 Schlussfolgerungen In der Zusammenschau der vier vorliegenden Fälle lassen sich folgende Einsichten über den Gebrauch von Briefen bei Caesar und Sallust formulieren, die über die einzelnen Interpretationsergebnisse hinausgehen: (1) Eine Konstante scheint zu sein, dass die Briefe immer den Darstellungszwecken des jeweiligen Erzählers unterliegen. Wenn er zurücktritt und merklich andere Figuren wie etwa Catilina mit ihrer Stimme sprechen bzw. schreiben lässt, kann ein Brief beispielsweise den ohnehin schon bekannten Charakter der Figur verstärken. Wenn sich die Stimme des Erzählers und des Adressanten innerhalb der Erzählung annähern wie bei den in oratio obliqua referierten Briefen bei Caesar oder beim wörtlich wiedergegebenen Adherbal-Brief im Bellum Iugurthinum, ist die enge Verbindung zwischen Erzähler und Figur ohnehin offensichtlich.
|| 62 Treffend Koestermann (1971) 109 ad Iug. 24,10: avi mei Masinissae: „Der Name soll suggestiv nachwirken, daher die Nachstellung […]“.
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(2) Generell sind Briefe ein ebenso notwendiges wie elegantes Mittel zum Erreichen von Erzählökonomie. Gerade in historiographischen Texten militärischen und politischen Inhalts, wo Ereignisse, die gleichzeitig oder innerhalb kurzer Zeit an verschiedenen Schauplätzen stattfinden, erzählt werden, ist der Brief ein aus dem Alltagsleben bekanntes Mittel, an verschiedenen Orten befindliche Figuren miteinander kommunizieren zu lassen. Auf diese Weise werden die Distanzen zwischen den Schauplätzen auch erzähltechnisch überwunden und die verschiedenen Ereignisse zu einer Erzählung zusammengeführt. Alle vier untersuchten Texte haben dies gezeigt. (3) Die Briefe als Schriftstücke stehen in allen hier vorliegenden Fällen in irgendeinem Verhältnis zu Phänomenen der Mündlichkeit: Die Briefe des Labienus im Bellum Gallicum supplementieren63 die (wahrscheinlich tendenziell mündlichen)64 Gerüchte, die zu Caesar über die Alpen dringen; im Bellum Civile formuliert Caesar zusätzlich zu den Briefen noch Aufträge und schickt Unterhändler, die über einen möglichen Frieden mündlich verhandeln (Caes. civ. 3,57,2: mandata; 5: mandata und auditus); der Brief des Catilina wird überhaupt erst durch das mündliche Verlesen des Catulus dem Senat bekannt, und auch Adherbals Brief wird im Senat verlesen. Pauschs in der Einleitung referierte zweite Maxime aufgreifend,65 könnte zwischen den jeweiligen MündlichkeitsSchriftlichkeits-Verhältnissen noch detaillierter differenziert werden, etwa in Hinblick auf die Hierarchie der beiden Medien. In allen Fällen wäre es aber prinzipiell auch möglich gewesen, die Kommunikation nur über mündliche Wege, beispielsweise über Boten, ablaufen zu lassen. Die Gründe dafür, dass dies nicht geschieht, können vielfältig sein und etwa darin liegen, dass die Figuren tatsächlich mittels Briefen kommuniziert haben und die Historiker dieses || 63 Das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit an dieser Stelle kann gut mit der Supplement-Theorie Derridas erklärt werden. Derrida (1983 [frz. Original 1967]) 248–263 zufolge hat die Schrift als Supplement eine doppelte Funktionsweise: Sie gesellt sich zum gesprochenen Wort, das den Gedanken repräsentiert, hinzu und ist somit eine Repräsentation der Repräsentation. Gleichzeitig tritt sie jedoch als neue Präsenz an die Stelle des gesprochenen Worts und des Gedankens: „Es [sc. das Supplement] gesellt sich nur bei, um zu ersetzen. Es kommt hinzu oder setzt sich unmerklich an-die-Stelle-von […]“ (ebd. 250, Hervorhebung im Original). Eben diese Doppelfunktion ist an der vorliegenden Stelle zu beobachten: Wie ich oben gezeigt habe, kommen in Gall. 2,1,1 die Briefe des Labienus zu den mündlichen Gerüchten hinzu, um sich bereits in Gall. 2,2,1 an die Stelle der Gerüchte gesetzt und diese verdrängt zu haben. 64 Zur Mündlichkeit in Zusammenhang mit Gerüchten cf. Hardie (2012) 11, der in weiten Teilen seiner Studie allerdings fama auch als schriftliches Phänomen untersucht, sowie neuerdings Guastella (2017) passim und besonders 53–62 und 91–108. 65 S.o. meine Einleitung und Pausch (2010) 4f.
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Faktum treu wiedergeben. Oftmals scheint mir jedoch die Eigenschaft von Schriftstücken, mit ihnen eine(n) Kommunikation(sversuch) belegen und beweisen zu können, der maßgebliche Grund für deren breite Erwähnung und Wiedergabe im historischen Narrativ zu sein. (4) Verstärkt wird dies durch einen letzten Aspekt, nämlich dadurch, dass wir es in drei von vier Fällen mit gescheiterten Kommunikationen zu tun haben; lediglich zwischen Caesar und Labienus am Beginn von Gall. 2 verläuft die Kommunikation erfolgreich und zeitigt in der für Caesars Selbstdarstellung charakteristischen Effizienz schnell die gewünschten Folgen. Die Konzentration des jeweiligen Erzählers auf gescheiterte oder zumindest schwierige Kommunikationsversuche mittels Briefen lässt sich auch an anderen, oftmals sehr berühmten Stellen der Erzählung wie der brieflichen Kommunikation während des Gallieraufstands zwischen Caesar und dem von den Nerviern eingekesselten (Q.) Tullius Cicero (Gall. 5,45–48) belegen. Hier gelingt die Kommunikation mit Briefen nach einigen gescheiterten Versuchen noch gerade so; aber aufgrund der Mobilität der Botschaft scheint die Kommunikation mit Briefen immer prekär, insofern diese in falsche Hände gelangen oder in falschen Kontexten rezipiert werden können. Durch derlei gescheiterte Kommunikationsversuche werden Spuren für alternative Verläufe der Geschichte gelegt und beim Leser Gedankenexperimente in Gang gesetzt: Wie wäre die Geschichte verlaufen, hätte Catilinas Brief bei Catulus Gehör gefunden, wie, wenn Adherbal mit seiner Bitte an den Senat in Rom durchgedrungen wäre? In den beiden erwähnten Fällen sind diese Tendenzen nur implizit, aber sie können sich wie beim Beispiel aus dem Bellum Civile zu regelrechten Ansätzen kontrafaktischer Geschichtsschreibung ausprägen. In den vielfältigen Möglichkeiten des Scheiterns der Briefkommunikation scheint ein besonderes Potenzial zu liegen und ein Grund dafür, warum Briefe so gerne in historischen Erzählungen Erwähnung finden.66
|| 66 Ich danke Gernot Michael Müller, Sabine Retsch und Johanna Schenk für die Organisation der Tagung und die Herausgabe des Bandes. Den Diskutanten auf der Tagung gilt mein Dank für wertvolle Anregungen; besonders erwähnt seien Farouk Grewing, Dennis Pausch, Meike Rühl und Johannes Zenk. Dank schulde ich schließlich Eva Noller und Kathrin Winter, die frühere Versionen dieses Aufsatzes kritisch gelesen und förderlich kommentiert haben, Cornelia Heinsch für einen wichtigen Hinweis sowie Thorsten Fögen und Felix Mundt: Sie haben mir dankenswerterweise ihr noch unveröffentlichtes Material zur Briefliteratur bzw. zu Sallust zur Verfügung gestellt und die vorletzte Fassung meines Textes einer kritischen Lektüre unterzogen.
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| IV. Briefe in der Literatur der Frühen Kaiserzeit: Zur Konstruktion von Dichterpersona und Adressat bei Horaz und Statius
Johannes Zenk
Selbstdarstellung und Belehrung Horazens epistula ad Pisones als Beispiel guter und stimmiger Dichtung (Hor. ars 119–152)
I Zu Horazens Werk über die Dichtkunst existieren zwei verschiedene Varianten des Titels, ars poetica und epistula ad Pisones. Diese Titel gehen häufig mit den verschiedenen Auffassungen bezüglich der in der Forschung immer noch umstrittenen Gattungsfrage einher, ob es sich bei diesem Werk des Horaz eher um ein Lehrgedicht1 oder um eine Versepistel handelt.2 Daneben werden bisweilen auch Bezüge zur Satire oder eine Gattungsmischung angenommen.3 Fuhrmann konstatiert für die ars poetica – diese Bezeichnung soll, da sie die geläufigere ist, ohne Wertung zur Gattungsfrage gebraucht werden4 – Merkmale beider Gattungen, nämlich sowohl der Versepistel als auch des Lehrgedichts.5 Da auch Briefe6 und damit ebenso Briefgedichte belehrende Elemente7 enthalten können
|| 1 Laird (2007) 132; Oliensis (2009) 477; Hardie (2014) 43f. 2 Büchner (1979) 131; Holzberg (2009) 214; Wulfram (2008) 152ff.; 162f. Umstritten bei der Auffassung als Brief bleibt bisweilen noch die Frage, ob die ars poetica ein eigenständiges Buch oder Teil des zweiten Epistelbuches ist (vgl. Wulfram [2008] 165–168 und Reitz [2005] 212f.). 3 Vgl. Seeck (1995) 144, der von einem Lehrgedicht mit satirischen Elementen, „das in die Form der Horazischen Versepistel übersetzt ist“, ausgeht, und Reitz (2005) 224, die von einem sehr stark vom Lehrgedicht beeinflussten „Gattungsexperiment“ spricht. Knoche (1982) 49 und Braund (1992) 27 sehen in den Briefen des Horaz die Fortsetzung der Satiren, ebenso Williams (1972) 36 mit dem Hinweis, dass Horaz seine Briefe nie als epistulae bezeichnet hat. Dagegen legt De Pretis (2014) 99–107 Wert darauf, dass Satiren und Briefe trotz aller Gemeinsamkeiten verschiedene Gattungen seien. 4 Die Bezeichnung ars poetica ist erst seit Quintilian belegt und resultiert offenbar aus dem häufigen Gebrauch dieses Textes als Kompendium der Dichtungstheorie (vgl. beispielsweise Wulfram [2008] 163f. und Fuhrmann [1992] 126). Dagegen nimmt Laird (2007) 132 die Existenz dieses Titels schon vor Quintilian an. 5 Vgl. Fuhrmann (1993) 193f. 6 Auch die Frage, was nun eigentlich ein Brief ist und wie er im Spannungsfeld der Begriffe ‚Gattung‘ und ‚Textsorte‘ einzuordnen ist, ist nicht abschließend geklärt (vgl. beispielsweise Wulfram [2008] 49f.). Wulfram (2008) 50 bringt das Problem folgendermaßen auf den Punkt:
https://doi.org/10.1515/9783110676303-007
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und diese bei Horaz für die poetologischen Briefe zentral sind,8 soll das Augenmerk unserer Betrachtung auf ebendiesen Elementen der ars poetica liegen, die auf einen Bezug zum Lehrbrief hindeuten und damit Merkmale von Epistolarität9 aufweisen. Die Klärung der Gattungsfrage ist für diese Betrachtung daher nicht von Bedeutung. Fuhrmann sieht die epistolaren Elemente vor allem in der Thematik, die nicht „nach logisch-systematischen Kriterien, sondern in der locker gefügten Weise des urbanen Plaudertons“10 dargestellt wird, und betont die Polyphonie in der Entfaltung der Thematik mit Haupt- und Nebenmotiven.11 Im Folgenden soll nun ausgehend von Hor. ars 119–152 gezeigt werden, wie Horaz12 seine epistula ad Pisones mithilfe epistolarer Elemente und Kommunikationsstrategien nicht nur zur Belehrung der Adressaten, sondern auch zur Selbstdarstellung als guter Dichter nutzt, indem er mit seinem Werk über die Dichtkunst neben der Erwähnung dichtungstheoretischer Überlegungen vor allem vor dem Hintergrund der Gattung ‚Versepistel‘ ein gutes und stimmiges eigenes Briefgedicht verfasst. Es geht also um die Frage, wie sich Horaz in seiner Doppelrolle als Poetologe und Poet dem Leser präsentiert. Das Thema ‚Stimmigkeit‘ konstituiert trotz stark assoziativer Komposition13 – letztere ist ein
|| „Ein überlieferter Text wird für uns dann zum Brief, wenn ihn der tatsächliche Autor oder der firmierende Epistolograph explizit so bezeichnet, und/oder dank der markanten Präsenz epistolarer Charakteristika, wobei sich eingestandenermaßen im Einzelfall über den Grad oder überhaupt das Vorhandensein von ‚Brieflichkeit‘ gehörig streiten läßt.“ Ferner werden die Begriffe ‚Brief‘ und ‚Epistel‘ in diesem Beitrag ohne Unterscheidung verwendet, da die Literarizität der Briefe des Horaz außer Frage stehen dürfte. 7 Görgemanns (1997) 1168 bezeichnet beispielsweise die Briefe des zweiten Briefbuches des Horaz als „Lehrbriefe“. Morrison (2007) 107 sieht die zweifellos als Versepisteln aufzufassenden Briefe des ersten horazischen Briefbuches als Lehrbriefe in der Tradition Epikurs. Das erste Briefbuch des Horaz enthalte aber auch Elemente des philosophischen Lehrgedichts in der Tradition Lukrezens. 8 Vgl. Reitz (2005) 217f. 9 Zu Merkmalen der Epistolarität in den Briefen des Horaz allgemein vgl. Williams (1972) 38 und De Pretis (2014) 31f.; 100. 10 Fuhrmann (1993) 193. 11 Ebd. 12 Wenn von Horaz gesprochen wird, ist hier das epistolare Ich gemeint, das sich verschiedener Masken bedient, wie Seeck (1995) 151 feststellt. 13 Vgl. Seeck (1995) 149.
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Merkmal von Epistolarität14 – jene Einheit, die die gesamte Versepistel zusammenhält.15 Diese Stimmigkeit wird in dem berühmten Vers postuliert (ars 23): denique sit quidvis, simplex dumtaxat et unum. Kurz, sei das Werk, wie es wolle, nur soll es geschlossen und einheitlich sein (Übers. Kytzler).16
Dieser Vers schließt nach dem Beginn mit dem unpassenden Fabelwesen das Thema ‚stimmiges Kunstwerk‘ und damit das Thema der Versepistel ab.17 Zunächst soll nun die Textstelle Hor. ars 119–152 im Hinblick auf ihre inhaltliche Bedeutung für die ars poetica und den Adressatenbezug interpretiert werden, bevor anschließend gezeigt wird, wie Horaz vor allem Epistolarität zur Selbstdarstellung als guter Dichter nutzt, dem es gelingt, nach allen Regeln der Kunst ein stimmiges Briefgedicht zu verfassen. Dass Selbstdarstellung ein in der Briefliteratur wichtiges Element ist, hat insbesondere Ludolph zu den Plinius-Briefen herausgearbeitet. Er legt auf theoretischer Ebene aus dem Bereich der Kommunikationswissenschaft Bühlers „Organon-Modell“ zugrunde. Demnach habe ein Text immer die Aspekte ‚Absender‘ bzw. in unserer Terminologie ‚Adressant‘, ‚Adressat‘ und ‚Inhalt‘. Dazu gehören drei Formen sprachlicher Äußerung: die Darstellung in Bezug auf den Gegenstand, der Appell in Bezug auf den Adressaten und der Ausdruck in Bezug auf den Adressanten.18 Diese drei Aspekte sind stets gemeinsam zu betrachten, wobei sie nicht gleich stark ausgeprägt sein müssen. Dass Horaz in seinem Brief einen Inhalt darstellt, ist ebenso unbestritten wie die Tatsache, dass er sich belehrend an seine Adressaten wendet. Wenn nun die Frage der Selbstdarstellung im Mittelpunkt steht, geht es vor allem um den Aspekt des Adressan|| 14 Die Annahme von Fuhrmann (1993) 196, dass das Fehlen von Inhaltsübersichten und Ankündigungen zur Disposition den Leser fordern soll, damit er selbst erfasst, worum es geht, verkennt die damit erzeugte Epistolarität. 15 Vgl. Kytzler (1996) 146. Kytzler gebraucht an dieser Stelle statt ‚Stimmigkeit‘ den Begriff „Dichtkunst“ zur Eingrenzung des übergeordneten Themas ‚Dichtung‘ und ‚Gedicht‘. Zur Einheit des Werkes vgl. auch Seeck (1995) 147 und Hardie (2014) 48. Hösle (2009) 65 verwendet den Begriff „ästhetische Konsistenz“. 16 Ich folge, wenn nicht anders angegeben, der Ausgabe von Shackleton Bailey (42001). Alle Übersetzungen des Horaz-Textes stammen von Kytzler 1992. 17 Der Begriff ‚Stimmigkeit‘ passt ebenso zum zweiten Teil der ars poetica, in dem es um den Dichter geht. Auch dieser muss von seinen Begabungen und seiner Sorgfalt bzw. Kunstfertigkeit (vgl. Hor. ars 408–411) sowie von seiner inneren Einstellung zum Wesen der Kunst in gewisser Weise ‚stimmig‘ sein. 18 Vgl. Ludolph (1997) 30f. und Wulfram (2008) 17.
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ten. Ludolph bemerkt dazu: „Freilich können auch Briefe etwas über ihren Verfasser aussagen, die vornehmlich der Funktion der Darstellung oder dem Appell gewidmet sind. In diesen Fällen ist es sinnvoll, von einem ‚impliziten‘ Ausdruck zu sprechen.“19
II In der unserer Interpretation zugrundeliegenden Textstelle Hor. ars 119–152 erörtert Horaz nach seinen Ausführungen zu Struktur (V. 1–45), Wortmaterial (V. 46–72) und Stilebene (V. 73–118)20 die Frage nach der Handlung und den Charakteren der Dichtung. Beides soll entweder der Überlieferung entnommen werden oder muss, wenn etwas neu erfunden wird, in sich stimmig und kohärent sein. Horaz macht in dieser Passage allgemeine Aussagen zur Dichtung, die er mit Beispielen aus Tragödie und Epos exemplifiziert.21 Wichtig sind in beiden Fällen die Originalität der Dichtung, die keinesfalls sklavisch nachgeahmt werden darf, und die Wahl eines Stoffes, der vom Dichter zu bewältigen ist. Horaz leitet dieses Thema mit einer Gegenüberstellung der beiden Möglichkeiten der Stoffwahl ein, nämlich entweder der Tradition zu folgen oder etwas Neues zu erfinden. Darauf folgt eine Anrede an den scriptor (ars 119–127):22 Aut famam sequere aut sibi convenientia finge, scriptor. † honoratum † si forte reponis Achillem, impiger, iracundus, inexorabilis, acer iura neget sibi nata, nihil non arroget armis. sit Medea ferox invictaque, flebilis Ino, perfidus Ixion, Io vaga, tristis Orestes. si quid inexpertum scaenae committis et audes personam formare novam, servetur ad imum qualis ab incepto processerit et sibi constet.
|| 19 Ludolph (1997) 32. 20 Vgl. zur Gliederung der ars poetica Kytzler (1996) 145f. und Fuhrmann (1992) 128. Dass in V. 119 ein vom vorangehenden Text abgetrennter Abschnitt eingeleitet wird, begründet Bernays (2000) 84. 21 Vgl. Brink (1971) 195. 22 Ich weiche im folgenden Zitat der Ausgabe von Klingner (³1959) folgend mit dem Enjambement von scriptor von der Interpunktion Shackleton Baileys ab, der Hor. ars 119 als einen Satz auffasst und scriptor als Prädikativum zum nächsten Satz zieht. Auch Brink (1971) 199 und Rudd (1989) 169f. folgen der Auffassung Klingners mit der Begründung, dass der Vokativ scriptor die Interjektion qui scribitis (Hor. ars 38: sumite […] qui scribitis) wieder aufnimmt. Zum Bezug von scriptor und qui scribitis vgl. auch Wulfram (2008) 160 mit Anm. 472.
Horazens epistula ad Pisones als Beispiel guter und stimmiger Dichtung | 163
Entweder folge der Sage oder erdichte, was in sich übereinstimmt, Schriftsteller. Wenn du etwa neu den hohen Achilleus darstellst, so bestehe er rastlos, jähzornig, unerbittlich, heftig darauf, es gebe für ihn keine Rechte und er beanspruche alles für seine Waffen. Medea sei wild und unbesiegt, Ino in Tränen, heimtückisch Ixion, Io ruhelos, finster Orestes. Falls du Unbekanntes auf die Bühne bringst und es wagst, eine neue Person zu gestalten, so bleibe sie bis zum Ende, wie sie anfangs auftrat, und stimme mit sich selbst überein.
Dieser scriptor umfasst alle Dichter und damit auch die Pisonen als primäre Adressaten des Briefes.23 Der belehrende Charakter der Anrede wird durch die beiden Imperative sequere und finge noch zusätzlich verstärkt.24 Diese beiden Möglichkeiten, nämlich der Überlieferung zu folgen oder etwas Neues, aber in sich Stimmiges zu erfinden,25 erläutert Horaz in zwei Kondizionalgefügen, wobei in beiden Fällen einer Protasis im Indikativ, in der ein Vorgehen des Dichters beschrieben wird, eine Apodosis im Jussiv folgt, in der belehrend ausgeführt wird, was es im jeweiligen Fall zu beachten gilt. Als Beispiel für die Übernahme eines Charakters aus der Überlieferung führt Horaz Achill an, wobei die ihn beschreibenden Adjektive, die es bei der Charakterisierung zu beachten gilt, einen ganzen Vers umfassen (V. 121). Achill und den weiteren mythischen Figuren, die in den folgenden Versen mit meist einem Adjektiv charakterisiert werden, stellt Horaz mit den Worten [ali]quid inexpertum scaenae committere und audere personam formare novam die Variante eines neuen Stoffes und die damit verbundenen neu zu schaffenden Figuren gegenüber.26 Stoff und Figuren müssen vom Beginn bis zum Ende des Werkes in sich so stimmig sein wie die mythischen Figuren. Horaz legt sich nun fest, dass es leichter sei, einen überlieferten Mythos auf eigene Weise darzustellen als etwas Neues als Erster zu behandeln. Anschließend erklärt er ausführlich, wie man einen überlieferten Stoff originell in einem eigenen Werk erzählen kann (ars 128–130):27
|| 23 Vgl. Wulfram (2008) 161f. und Seeck (1995) 154–158 allgemein zu konkretem Adressatenbezug auf die Pisonen und zu allgemeinem ‚Du‘. 24 Zur belehrenden Funktion von Imperativen und Jussivformen vgl. Morrison (2007) 107f. (mit Anm. 4); 110f. 25 Zur Bedeutung von famam sequere und sibi convenientia finge vgl. Brink (1971) 197, der mit Recht darauf hinweist, dass sich famam sequere auf die mythische Überlieferung bezieht, die in der Antike meist als wahr eingestuft wurde, auch wenn die Frage nach der historischen Wahrheit für diese Gegenüberstellung zunächst ohne Bedeutung ist und erst mit Hor. ars 151 relevant wird. Vgl. dazu auch Fuhrmann (1992) 133f. 26 Vgl. Brink (1971) 203. 27 Vgl. Brink (1971) 208f. und Fuhrmann (1992) 134.
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† difficile est † proprie communia dicere, tuque rectius Iliacum carmen deducis28 in actus quam si proferres ignota indictaque primus. Schwierig ist, Allgemeines individuell zu sagen, und besser, du setzt die Dichtung um Troja in ein Bühnenstück um, als daß du Unbekanntes und Ungesagtes als erster vorlegst.
Auch wenn der Beginn von Vers 128 textkritisch nicht eindeutig geklärt werden kann,29 wird Horazens Argumentation deutlich. Er hält es für schwierig, Allgemeines (communia), was einerseits inexpertum wieder aufnimmt und andererseits durch ignota indictaque fortgeführt wird, auf eigene, individuelle Weise zu sagen, und wendet sich mit tuque wieder an den in Vers 120 angesprochenen scriptor.30 Aus dem Adverb rectius wird ersichtlich, dass es sich nicht um eine bloße Empfehlung, sondern durchaus um eine zu befolgende Lehre handelt, was die Irrealis-Form proferres im Gegensatz zum Indikativ deducis zusätzlich bestätigt. Horaz schlägt als erstes Beispiel, wie man der Überlieferung folgen könne, vor, ein Iliacum carmen in ein Drama zu verwandeln. Auch wenn nicht genau festgestellt werden kann, was Horaz konkret mit Iliacum carmen meint,31 ist klar, dass wohl ein möglicherweise konkretes Epos in die Gattung der Tragödie überführt werden soll. Dies schließt natürlich mit ein, dass die Eigenheiten der neuen Gattung berücksichtigt werden. Horaz setzt seine Argumentation anschließend mit der Frage fort, wie bei der Neugestaltung überlieferter Stoffe Originalität zu erreichen ist.32 Dabei führt er allerdings nicht, wie es in einer systematischen Betrachtung zu erwarten wäre, das gerade genannte Beispiel, ein Iliacum carmen in eine Tragödie zu verwandeln, fort, sondern beginnt ganz assoziativ zunächst mit allgemeinen Ausführungen zur imitatio eines Stoffes. Er belegt die Auswahl des Themas mit einem nicht gelungenen und einem gelungenen Beispiel aus dem Epos (ars 131– 152): publica materies privati iuris erit, si non circa vilem patulumque moraberis orbem, nec verbo verbum curabis reddere fidus
|| 28 Abweichend von Shackleton Bailey, der mit den codices deteriores diducis liest, folge ich mit Klingner (³1959) 207f. der Lesart deducis, die in allen anderen codices zu finden ist. 29 Vgl. dazu Brink (1971) 204ff. 30 Rudd (1989) 171. 31 Vgl. Brink (1971) 207. Dagegen geht Fuhrmann (1992) 134 selbstverständlich davon aus, dass die Ilias gemeint ist. 32 Kilpatrick (1990) 41.
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interpres, nec desilies imitator in artum, unde pedem proferre pudor vetet aut operis lex. Nec sic incipies ut scriptor cyclicus olim: ‚fortunam Priami cantabo et nobile bellum.‘ quid dignum tanto feret hic promissor hiatu? parturient montes, nascetur ridiculus mus. quanto rectius hic qui nil molitur inepte! ‚dic mihi, Musa, virum, captae post tempora Troiae qui mores hominum multorum vidit et urbis.‘ non fumum ex fulgore, sed ex fumo dare lucem cogitat, ut speciosa dehinc miracula promat, Antiphaten, Scyllamque et cum Cyclope Charybdin. Nec reditum Diomedis ab interitu Meleagri nec gemino bellum Troianum orditur ab ovo. semper ad eventum festinat et in medias res non secus ac notas auditorem rapit, et quae desperat tractata nitescere posse relinquit, atque ita mentitur, sic veris falsa remiscet, primo ne medium, medio ne discrepet imum. Allgemeingut gerät unter privates Besitzrecht, wenn du nicht in dem billigen, allen zugänglichen Kreise dich aufhältst, nicht als Nachahmer in die Klemme gerätst, aus der dich herauszuwagen dir Kleinmut oder das Gesetz des Werkes verbieten, nicht so anhebst, wie einst der Autor des Kyklos: „Priams Geschick will ich singen, den Krieg auch der Edlen.“ Wer solches verspricht, was wird er verkünden, das wert ist, so weit den Mund aufzumachen? Gebirge gebären, heraus kommt ein komisches Mäuschen. Wieviel richtiger er, Homer, der nichts ungeschickt anfaßt: „Nenne mir, Muse, den Mann, der nach der Eroberung von Troja zahlreicher Menschen Bräuche gesehn hat und ihre Städte.“ Nicht Qualm nach dem Glanz, sondern Licht nach dem Qualm will er geben, um dann leuchtende Wunderdinge zu zeigen, Antiphates und Szylla und nebst dem Zyklopen Charybdis. Die Heimkehr des Diomedes läßt er nicht mit dem Tod Meleagers, nicht mit dem Zwillingsei den Krieg um Troja beginnen; immer eilt er zum Ziel mitten hinein ins Geschehen, als sei es bekannt, entführt er den Hörer, läßt aus, woran er zweifelt, es könne, bearbeitet, glänzen, und so versteht er zu lügen, so Falsches mit Wahrem zu mischen, daß nicht dem Anfang die Mitte, der Mitte der Schluß widerstreitet.
Horazens Belehrung zielt darauf ab, den Adressaten zu erklären, wie man aus einem in der Öffentlichkeit bekannten Stoff (publica materies) nach allen Regeln der Kunst sein eigenes, originelles Werk macht. In dieser Passage häufen sich Wörter der Rechtssprache, die Horaz in Verbindung mit Dichtungstheorie bringt.33 Neben publica materies (V. 131) sind noch rectius (V. 129 und V. 140), fidus (V. 133) und operis lex (V. 135) zu nennen, wobei auch die Jussivformen in
|| 33 Vgl. Brink (1971) 209f.
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den Versen 122–127 in diesem Kontext anzuführen sind. Die Verwendung der Rechtssprache unterstreicht die Aussage, dass es in der Dichtung und für originelles Schreiben Gesetze oder zumindest Gesetzmäßigkeiten gibt, die jeder Autor bzw. jeder scriptor beachten muss. Horaz gebraucht in seiner Aufzählung dessen, was zu vermeiden ist, das Futur und spricht so die Adressaten im generischen Singular ganz konkret an, indem er ihnen sagt, was er nicht tun werde, im Sinne von nicht tun dürfe. Daraus ergibt sich vor allem in Bezug auf die Verse 131–139 ein für einen Brief typischer Plauderton, der sich vom Ton des ersten Teils unserer Textstelle (V. 119–130), in der die Gesetzmäßigkeit der Wahl von Stoff, Thema und Charakteren durch Imperativ- und Jussivformen dargestellt wird, stark unterscheidet. Auf den ersten Blick zählt Horaz diese erwähnten Gesetzmäßigkeiten allerdings nicht systematisch auf, sondern beginnt mit Negativbeispielen seine Überlegungen dazu, was zu vermeiden ist, nämlich sich nur im allgemein bekannten epischen Kyklos34 zu bewegen, sich allzu streng an die Vorlage zu halten (fidus interpres, V. 133f.)35 und sich damit selbst einzuengen (nec desilies imitator in artum, V. 134). Es genügt nicht, bloß Wort für Wort zu übersetzen (verbo verbum reddere, V. 133) oder die Vorlage zu imitieren. Worauf es ankommt, ist das Wetteifern mit den griechischen Vorlagen als aemulator.36 Dies illustriert Horaz zunächst ganz konkret am Vorgang des Übersetzens, anschließend noch einmal durch das Bild des imitator, der sich in Bedrängnis bringt und dort selbst kaum wieder herauskommt. Diese metaphorische Darstellung ist wiederum als epistolares Element aufzufassen. Der erfahrene Dichter verdeutlicht den Adressaten, die zu Beginn, noch bevor der Name Pisones fällt, als amici37 bezeichnet werden, in einem anschaulichen Bild die richtige Form der aemulatio. Wenn man aber berücksichtigt, dass in artum (V. 134) das Gegenteil des Adjektivs patulus (V. 132) ist,38 zeigt dies, dass die vordergründig assoziative Anleitung zu Originalität wohl durchkomponiert ist. Horaz erweckt durch die einfache Aneinanderreihung von Verboten, die lediglich in Form einer Aufzählung durch non (V. 132) und nec (V. 133, 134 und 136) gegliedert sind,39 den Eindruck des lockeren Gesprächs unter Freunden über den richtigen Weg durch
|| 34 Brink (1971) 210 weist darauf hin, dass non circa vilem patulumque moraberis orbem (V. 132) auf den epischen Kyklos verweist, der unbedingt zu meiden ist. Horaz spiele hier auf Kallimachos an. Zum Kallimachos-Bezug vgl. auch Rudd (1989) 172. 35 Seele (1991) zeigt, dass dieser Vers eindeutig negativ zu interpretieren ist und somit kein Beleg für die große Freiheit antiker Dolmetscher ist. 36 Seele (1991) 198 und Fuhrmann (1992) 154f. 37 Hor. ars 5: […] spectatum admissi risum, teneatis, amici? 38 Brink (1971) 211. 39 Der Aufzählungscharakter wird implizit auch von Brink (1971) 209–212 gesehen.
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die Weiten des Kyklos und durch die Enge der imitatio. Dieser Weg führt zu guter, stimmiger und damit auch origineller Dichtung. Intratextuelle Bezüge innerhalb der Passage zeigen, dass diese Folge an Überlegungen durchaus ihren roten Faden hat.40 Diese Ausführungen gipfeln schließlich darin, dass Horaz, indem er sich erneut auf vilis patulusque orbis (V. 132) bezieht, das konkrete Beispiel des scriptor cyclicus (V. 136) anführt, der Großes verheißt, am Ende aber dennoch nichts zustande bringt. Ihm wird der große Homer als Gegenspieler gegenübergestellt, der mit seiner Odyssee ein Musterbeispiel dafür geschaffen hat, wie man publica materies originell zu einem eigenen Werk verarbeitet. In dieser Passage wird erneut deutlich, wie Horaz Epistolarität zur Belehrung seiner Adressaten nutzt. Wie schon erwähnt, ist es ein weiterer Punkt der Aufzählung dessen, was zu meiden ist, der wiederum assoziativ mit nec an die vorhergehenden Ausführungen angeschlossen wird.41 Horaz beginnt mit dem Proömium augenscheinlich ein kyklisches Epos (ars 137–139):42 ‚fortunam Priami cantabo et nobile bellum.‘ quid dignum tanto feret hic promissor hiatu? parturient montes, nascetur ridiculus mus. „Priams Geschick will ich singen, den Krieg auch der Edlen.“ Wer solches verspricht, was wird er verkünden, das wert ist, so weit den Mund aufzumachen? Gebirge gebären, heraus kommt ein komisches Mäuschen.
Die kyklischen Epen von Homerepigonen galten in der Zeit des Horaz als qualitativ schlechte Dichtung.43 Diese Tatsache will Horaz mit diesem Beispiel, besonders aber durch die beiden auf das Zitat folgenden Verse verdeutlichen. Der Befund wird dadurch bestätigt, dass V. 137 mit V. 14, wie Bernays feststellt, metrisch bis ins Detail – sogar die Überbrückung der Hephthemimeres durch Elisionen – übereinstimmt.44 In V. 14 geht es noch allgemein um die Stimmig|| 40 Nach Seeck (1995) 147 rührt die vordergründige Assoziativität auch daher, dass Horaz nicht wie in Prosawerken eine technische Abhandlung schreiben will, sondern so seine künstlerische Freiheit nutzt. 41 Aufgrund der gezeigten Struktur der Aufzählung von vier ‚Verboten‘ scheint es nicht sinnvoll, dass Shackleton Bailey in seiner Ausgabe bei V. 136 einen neuen Absatz beginnen lässt. 42 Zu den Spekulationen, auf welchen konkreten Text dieses Zitat anspielen könnte, vgl. Brink (1971) 214. Es scheint mit Brink festzustehen, dass es sich durchaus um ein spezifisches Proömium eines uns nicht überlieferten kyklischen Epos handelt, was auch Rudd (1989) 173 annimmt. Allerdings ist dies für unsere Betrachtung nicht entscheidend. 43 Vgl. Rudd (1989) 173. 44 Vgl. Bernays (2000) 88f.
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keit von Kunstwerken, wobei Horaz die fehlende Stimmigkeit des gesamten Werkes bemängelt (ars 14–16): Inceptis gravibus plerumque et magna professis purpureus, late qui splendeat, unus et alter assuitur pannus […]. Oft wird an gewichtige Anfänge und große Versprechen hier und da ein Lappen von Purpur, daß weithin er leuchte, angeflickt […].
Es geht um erhabene Anfänge, die nicht halten, was sie versprechen. Der Bezug der beiden Verse aufeinander wird durch das Adjektiv gravis, das auf den hohen Stil des Epos hinweist, noch unterstützt. Die Kritik in V. 137 ist eindeutig: Der scriptor cyclicus nimmt sich ein für ihn nicht zu bewältigendes Thema vor, das Schicksal des Priamus und ein nobile bellum, was den gesamten trojanischen Sagenkreis umfasst. Dieses kündigt der schlechte Dichter zwar groß an, kann es aber nicht in gute Dichtung umsetzen. Homer hingegen entscheidet sich in seinen Epen jeweils für ein eng umgrenztes Thema, das er im jeweiligen Proömium auch benennt, in der Ilias den Zorn des Achill und in der Odyssee die Irrfahrten und die Heimkehr des Odysseus aus Troja. Horaz wählt als Beispiel die Odyssee und erklärt kurz, dass Homer dieses Thema immer im Blick behält und die Geschichte glanzvoll, um im Bild des Horaz zu bleiben, erleuchtet – sed ex fumo dare lucem / cogitat (V. 143f.). Die interessante Frage ist jetzt, wie Horaz die Mängel des Epigonen und die Vorzüge Homers seinen Adressaten vermittelt. Er tut dies beinahe wie in einem schon aus den Satiren bekannten Wechselgespräch,45 in dem aber der Gesprächspartner fehlt, sodass die Antworten sich aus dem Kontext ergeben. Horaz fingiert an dieser Stelle Mündlichkeit,46 was sich vor allem am kolloquialen Ton der Passage zeigt. Diese fingierte Mündlichkeit || 45 Zur Nähe der Satiren zu den Versepisteln, die Horaz selbst als sermones, ‚Gespräche‘, bezeichnet und, wie Wulfram bemerkt „zwischen der ‚eigentlichen Poesie‘ und der oratio soluta“ verortet, vgl. Wulfram (2008) 79f. mit Hinweis auf den Augustusbrief, den Horaz ebenfalls als sermo bezeichnet: Cum tot sustineas et tanta negotia solus, / […] in publica commoda peccem, / si longo sermone morer tua tempora, Caesar – Allein nimmst du so viele, so große Aufgaben auf dich: […] gewiß verletzte ich der Gemeinde Wohl, nähme ich mit langer Rede deine Zeit in Anspruch, Caesar (Hor. epist. 2,1,1–4, Übers. Kytzler) und nec sermones ego mallem / repentis per humum quam res componere gestas […] – Auch ich möchte selbst nicht am Boden kriechende Texte, sondern vielmehr gewaltige Taten gestalten […] (Hor. epist. 2,1,250b–251, Übers. Kytzler). Zur Nähe von Satiren und Versepisteln und den darin enthaltenen Belehrungen vgl. auch Reitz (2005) 214f. und Seeck (1995) 144. 46 Den Hinweis auf die Konzepte von ‚fingierter Mündlichkeit‘ und ‚fingierter Epistolarität‘ verdanke ich Alexander Kirichenko.
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wird auch in der assoziativen Gedankenführung deutlich. Horaz zitiert ein schlechtes Beispiel aus einem kyklischen Epos und wertet es mit einer rhetorischen Frage, ebenfalls ein Element der Mündlichkeit, und einer satirischen Äußerung ab, ohne näher auf die Unzulänglichkeiten einzugehen. Am deutlichsten wird das Satirische an der Formulierung ridiculus mus (V. 139): Das Monosyllabon am Versende, das noch dazu der eigentlich unbetonten Ultima des vorhergehenden Wortes eine Betonung verleiht, gilt als komisch.47 Zusätzlich wird das inhaltlich Ausgesagte sprachlich abgebildet, da der Vers mit einem viersilbigen Wort beginnt und auf einem einsilbigen Wort endet, dem einzigen einsilbigen Wort im ganzen Vers.48 Dann stellt Horaz mit der lateinischen Nachdichtung des Proömiums der Odyssee ein gelungenes Beispiel aus dem Epos gegenüber. Die Adressaten müssten, wenn sie denn anwesend wären, nur noch nickend zustimmen, dass ihnen dies alles durchaus einleuchte. Auffällig sind ferner die kurzen Parataxen, denn die Verse 136–140 bestehen jeweils aus genau einem Satz, dazu kommt die Ellipse in Vers 140. Im Gegensatz zu den Satiren, in denen häufig Wechselreden zu finden sind, ergibt sich hier jedoch die Kommunikationssituation eines Briefes,49 der in der Antike auch als halbierter Dialog aufgefasst wird.50 Weiterhin sind die Zitate, die ohne große Ankündigung und Einordnung in den Kontext auftauchen, epistolare Merkmale. Der Adressant geht davon aus, dass die Adressaten das Zitat ohne Erklärung verstehen, da sie im Gegensatz zu einer Wechselrede in der Satire weder anwesend sind noch ihre Anwesenheit fingiert wird.51 Der Adressant nimmt also ein gewisses Bildungsniveau der Adressaten an und streicht zusätzlich sein eigenes heraus. Er erklärt den Adressaten, als ob sie sich in lockerer Unterhaltung befänden und einander gut kennen würden, in satirischer Manier am Beispiel der Proömien, welche Probleme er im Epos des scriptor cyclicus und welche Vorzüge er in der homerischen Odyssee sieht. Horaz fährt mit den gleichen epistolaren Elementen wie im Beispiel des scriptor cyclicus fort, die nun aber in einer anderen Reihenfolge stehen. Auf den satirischen Vers, dass aus großen Anfängen nur ein lächerliches Mäuschen entstehe, folgt nun direkt die rhetorische Frage quanto rectius […] inepte (V. 140),52 die die rhetorische Frage quid […] promissor
|| 47 Vgl. Rudd (1989) 173. 48 Vgl. Hösle (2009) 67. 49 Vgl. De Pretis (2014) 101f. 50 Vgl. z.B. Wulfram (2008) 16. 51 Vgl. De Pretis (2014) 101. 52 Vers 140 wird zwar von Shackleton Bailey als Ausruf gewertet, kann syntaktisch aber auch als rhetorische Frage aufgefasst werden.
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hiatu (V. 138) wieder aufnimmt53 und somit das positive Gegenbeispiel einleitet. Horaz bringt anschließend eine zwei Verse lange lateinische Nachdichtung des Beginns der Odyssee und stellt dann in einem Vers bildlich die Vorzüge Homers den Unzulänglichkeiten des scriptor cyclicus antithetisch gegenüber: Während bei letzterem aus einem kurzen Lichtblitz Rauch entsteht, entsteht bei Homer aus Rauch Licht. Damit kaschiert er an dieser Stelle zusätzlich die in den Versen 119–130 auffällig starke Rolle54 als Belehrender zugunsten des freundschaftlichen Gesprächspartners, der nicht unmittelbar belehrt.55 Dass Horaz kurz zuvor zur Tragödie geschrieben hat und nun auf einmal unvermittelt Beispiele aus dem Epos bringt, lässt sich außer mit der von Seeck angeführten variatio in den Beispielen56 vor allem mit der Epistolarität erklären. Horaz hat zwar ein Thema, dies ist aber nicht das Schreiben einer Tragödie, sondern das Schreiben guter und stimmiger Dichtung. Wie dies funktioniert, illustriert er seinem Gesprächspartner an Beispielen. Während für die Wahl des Stoffes und der Charaktere (V. 119–129) noch die Tragödie als Beispiel herangezogen wird, ist nun das Epos das geeignete Beispiel, um die Vorgaben für die Adressaten zu untermauern. Nach dieser Gegenüberstellung der beiden Beispiele setzt Horaz zu einer kurzen Lobrede auf Homer an (V. 146–152), wobei es durch den Beginn mit nec so wirkt, als ob die Aufzählung, die im Futur an die Adressaten gerichtet ist, fortgesetzt wird. Allerdings spricht der Adressant die Adressaten jetzt nicht mehr direkt an. Das Subjekt ist nun Homer, über den in der dritten Person im Präsens wie über eine Tatsache gesprochen wird, wenngleich Horaz nun in der Rolle als Lobredner en passant belehrt. Wie Horaz den Adressaten vorgibt, was sie nicht tun sollen, sagt er über Homer, was dieser im Gegensatz zum scriptor cyclicus, auf den sich die Beispiele in den Versen 146f. beziehen, nicht tut, um dann die Vorzüge der homerischen Dichtung gegenüberzustellen, selbstverständlich mit der Intention, dass die Adressaten diese als Regeln für gute und stimmige Dichtung wahrnehmen. Diese Regeln sind der unmittelbare Einstieg ins Thema: das Mitreißen des Publikums, das Weglassen von Dingen, die auch nach einer Bearbeitung nicht glänzen, und die innere Stimmigkeit, für die es ohne Bedeutung ist, ob es sich um Wahres (vera, V. 151) handelt, was famam sequere (V. 119) entspricht, oder um Falsches (falsa, V. 151), was sibi convenien-
|| 53 Vgl. Brink (1971) 217. 54 Seeck (1995) 151 sieht in den Rollenwechseln des Autors eine Form der variatio. 55 Vgl. Seeck (1995) 155f. 56 Vgl. Seeck (1995) 150f.
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tia finge (V. 119) wieder aufnimmt.57 Entscheidendes Kriterium ist die Stimmigkeit. Wiederum fallen auch in diesen Versen die Merkmale von Epistolarität auf: Der Satzbau ist fast ausschließlich parataktisch, wobei die einzelnen Kola polysyndetisch verbunden sind, wenngleich die Lobrede auf Homer inhaltlich und im Detail, wie noch zu zeigen ist, sprachlich kunstvoll komponiert ist. Die einzigen Nebensätze in diesem Lob auf Homer sind quae / desperat tractata (V. 149f.) und primo ne […] discrepet imum (V. 152). Zudem spannt Horaz kunstvoll den Bogen zum Eingangsvers dieser Passage und rundet damit das Thema Handlung und Charaktere der Dichtung ab. Dies zeigt sich vor allem an der bildlichen Wortstellung im Vers primo ne medium, medio ne discrepet imum (V. 152) mit primo zu Beginn des Verses, imum am Ende des Verses und dem Polyptoton medium, medio um die Penthemimeres, wobei zusätzlich sowohl vor der Zäsur als auch nach der Zäsur jeweils auf einen Spondeus zwei Daktylen folgen. Horaz nimmt so das Hauptthema der ars poetica, stimmige Dichtung zu schreiben, wieder auf und damit auch die Aussage aus dem Vers denique sit quidvis, simplex dumtaxat et unum (V. 23). Zusätzlich wird Homer von Horaz beinahe über alle Theorie gehoben, denn ihm gelingt famam sequi et sibi convenientia fingere. Es wurde gezeigt, wie Horaz Epistolarität zur vorsichtigen und damit freundschaftlichen Belehrung seiner Adressaten nutzt. Zu Beginn der Passage, als es um die Grundvoraussetzung geht, spielt er noch die Rolle des Lehrers, während er dann zum lockeren Plauderton übergeht und die Atmosphäre eines freundschaftlichen Gesprächs schafft, um schließlich, teils als Lobredner, teils in Fortsetzung des Gesprächs, Homer als das Vorbild für einen Dichter schlechthin zu loben. Im Folgenden soll nun gezeigt werden, dass es Horaz keineswegs nur um Belehrung geht, sondern dass er besonders die untersuchte Passage zur Selbstdarstellung als guter Dichter nutzt.
III Im Zentrum steht nun der Adressant mit der Frage, wie er sich selbst und sein Können als guter Dichter darstellt.58 Horaz zeigt mit seiner epistula ad Pisones, dass er selbst in der Lage ist, gute und stimmige Dichtung zu schreiben. Sein || 57 Vgl. Brink (1971) 223. 58 Oliensis (2009) 452 geht in ihrem Aufsatz, in dem sie die ars poetica vor allem als Anleitung für das richtige gesellschaftliche Verhalten der Pisonen als Dichter liest, sogar so weit zu sagen, dass es Horaz nicht um die Belehrung der Adressaten geht, sondern um seine Selbstdarstellung im Kontext der gesellschaftlichen Anforderungen an einen Dichter.
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Thema ist zum einen die Dichtkunst im Allgemeinen, im Besonderen aber die Herstellung von Stimmigkeit, die ein einheitliches Werk ausmacht. Dies wird vor allem in dem eingangs schon zitierten Vers postuliert (ars 23): denique sit quidvis, simplex dumtaxat et unum. Kurz, sei das Werk, wie es wolle, nur soll es geschlossen und einheitlich sein.
Horaz erfüllt in seiner ars poetica all die Kriterien, die er selbst für gute und stimmige Dichtung aufstellt. Wie er das umsetzt, soll nun anhand der Verse 119–152 gezeigt und mit kurzen Ausblicken auf die gesamte ars poetica weiter untermauert werden. Dabei wird deutlich, dass seine Selbstdarstellung durch Merkmale der Epistolarität vordergründig kaschiert wird und, wenn man den Deckmantel der Belehrung abnimmt, umso deutlicher zutage tritt. Schon für das Thema der Stoffwahl kann man feststellen, dass Horaz sich an famam sequi (V. 119) orientiert. Er erfindet nichts völlig Neues, sondern kann auf umfassende dichtungstheoretische Vorlagen vor allem aus dem Hellenismus – Aristoteles dürfte ihm wohl im Original nicht vorgelegen haben59 – zurückgreifen. Seine wichtigste hellenistische Vorlage war höchstwahrscheinlich die uns nicht überlieferte Poetik des Neoptolemos von Parion, wobei damit weitere, uns unbekannte hellenistische Quellen nicht ausgeschlossen sind.60 Es ist jedoch nicht entscheidend, welche Elemente Horaz welcher Vorlage entnommen hat.61 Er wählt ganz seiner eigenen Vorgabe entsprechend einen Ausschnitt aus dem überlieferten dichtungstheoretischen Stoff und stellt diesen nicht als fidus interpres (V. 133f.) oder als zu strenger imitator (V. 134), sondern als guter Dichter dar, der ihn in neuer Form präsentiert, d.h. hier in hexametrischer Dichtung mit epistolaren Elementen.62 Damit tut er genau das, was er auf belehrender Ebene den Adressaten empfiehlt, nämlich lieber den Inhalt eines Iliacum carmen in Form einer Tragödie darzustellen, als bisher völlig Unbekanntes als Erster darzustellen (vgl. V. 129f.). Ferner schreibt er kein umfassendes Kompendium über die Dichtkunst im Allgemeinen, das er zu Beginn des Werkes groß
|| 59 Vgl. Fuhrmann (1992) 145. Fuhrmann geht stattdessen davon aus, dass Horaz die Inhalte der aristotelischen Poetik über andere Vermittler zugänglich waren. 60 Vgl. Fuhrmann (1992) 146 und Laird (2007) 133f. 61 Vgl. Fuhrmann (1992) 146–149 zu den Problemen bei der Rekonstruktion der Poetik des Neoptolemus und der damit verbundenen Frage, was an der ars poetica horazisch sei. Zu den Aristoteles-Bezügen vgl. Brink (1971) jeweils ad loc. 62 Fuhrmann (1992) 145 stellt fest, dass „‚Horazisch‘ […] demnach zuallererst die Form, die Auswahl und die Art der Darbietung“ seien.
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ankündigt, sodass nach einem kurzen, hellen Aufblitzen, um im Bild zu bleiben, Rauch entsteht, und arbeitet sich auch nicht der Reihe nach durch alle Vorlagen. Dies würde dem Vorgehen des scriptor cyclicus entsprechen.63 Horaz hingegen wählt wie Homer mit den Irrfahrten des Odysseus einen Stoff, nämlich das Schreiben von guter und stimmiger Dichtung, den er in zwei Teilen angeht. Zunächst steht das Werk, anschließend der Dichter im Mittelpunkt.64 Wie Homer beginnt er sein Werk in medias res (ars 1–9): Humano capiti cervicem pictor equinam iungere si velit et varias inducere plumas undique collatis membris, ut turpiter atrum desinat in piscem mulier formosa superne, spectatum admissi risum teneatis, amici? credite, Pisones, isti tabulae fore librum persimilem cuius, velut aegri somnia, vanae fingentur species, ut nec pes nec caput uni reddatur formae. Wollte zum Kopf eines Menschen ein Maler den Hals eines Pferdes fügen und Gliedmaßen, von überallher zusammengelesen, mit buntem Gefieder bekleiden, so daß als Fisch von häßlicher Schwärze endet das oben so reizende Weib: könntet ihr da wohl, sobald man euch zur Besichtigung zuließ, euch das Lachen verbeißen, Freunde? Glaubt mir, Pisonen, solchem Gemälde wäre ein Buch ganz ähnlich, in dem man Gebilde, so nichtig wie Träume von Kranken, erdichtet, so daß nicht Fuß und nicht Kopf derselben Gestalt zugehören.
Ohne irgendeine Einleitung beginnt Horaz mit der Beschreibung des Bildes eines Fabelwesens, bei dem das Haupt einer Frau zunächst in einen Pferdehals übergeht und schließlich in einem schwarzen Fisch endet – ein Bild, das wohl jeden Betrachter zum Lachen bringen wird. Mit dieser Illustration aus der bildenden Kunst führt Horaz, indem er ein misslungenes Beispiel bringt, unmittelbar in das Thema Stimmigkeit ein, was spätestens in der Formulierung ut nec pes nec caput uni / reddatur formae (V. 8f.) deutlich wird, wobei uni durch die Stellung am Versende besonders betont wird. Durch den Einstieg mitten ins Thema in Form der im Potentialis formulierten rhetorischen Frage schafft Horaz
|| 63 Siehe dazu wiederum die oben schon zitierten Verse Hor. ars 131–152. 64 Zur in der Forschung meist angenommenen Zweiteilung vgl. Fuhrmann (1992) 128, der für die ars poetica einen werkästhetischen und einen produktions- und wirkungsästhetischen Teil annimmt. Die Gliederung des Werkes ist in der Forschung immer noch umstritten. Zu anderen Einteilungen der ars poetica vgl. Hering (1979) 78–85, Bernays (2000) 84ff. und Holzberg (2009) 215.
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sogleich Vertrautheit zwischen sich und den Adressaten, die er als amici (V. 5) bezeichnet und im nächsten Vers mit Pisones namentlich anspricht. Zugleich schafft er durch die fehlende explizite Belehrung von Anfang an eine Atmosphäre, als ob sich Freunde über ein Thema, über das sie schon oft gesprochen haben, unterhalten bzw. als ob der Adressant dieses Gespräch durch den Brief einseitig fortführt. Dadurch entsteht schon zu Beginn des Werkes, wie oben schon für die Verse 119–152 erläutert, die Situation einer Belehrung im freundschaftlichen Gespräch. Der Adressant hat hierbei aber die Gelegenheit, von vornherein zu zeigen, worauf es ihm in seiner ars poetica ankommt: auf Stimmigkeit. Er steigt ohne Umschweife mitten ins Thema, in medias res, ein65 und vermittelt implizit, dass sein gerade begonnenes Werk eben nicht, um in Horaz‘ Bild zu bleiben, die Träume eines Kranken sind, sondern in sich stimmig. Der Anfang passt zum Ende, caput und pes ergeben eine Gestalt (una forma). Dass Horaz diese Formulierung mit primo ne medium, medio ne discrepet imum (V. 152) wieder aufnimmt, unterstreicht seine Kunstfertigkeit umso mehr. Er hat allerdings bei aller Assoziativität immer das Thema der Stimmigkeit im Blick (semper ad eventum festinat, V. 148). Auch der Dichter, um den es vornehmlich im zweiten Teil der ars poetica (V. 295–476) geht, muss ‚stimmig‘ sein, indem er nicht nur die Begabung eines verrückten Genies, sondern auch die entsprechenden artes, die richtige Einstellung zum Wirkungszweck – Horaz lehnt den Utilitarismus ab – sowie die richtige Einstellung zu Mühe und Kritik durch Freunde und Kunstrichter haben muss.66 Das Ende passt zum Anfang und zur Mitte. Wie am Anfang ein nicht stimmiges Kunstwerk beschrieben wird, zeichnet Horaz am Ende der ars poetica ringkompositorisch das Bild eines wahnsinnigen Dichters,67 bei dem die beiden von ihm selbst geforderten Eigenschaften des guten Dichters, ingenium und ars nicht im Gleichgewicht sind.68 Diese Forderung nach Gleichgewicht von ingenium und ars ergibt sich aus dem Beginn des zweiten Teils der ars poetica, in dem es um die Frage geht, wie ein guter Dichter sein muss (ars 295–298): ingenium misera quia fortunatius arte credit et excludit sanos Helicone poetas Democritus, bona pars non unguis ponere curat, non barbam, secreta petit loca, balnea vitat.
|| 65 Vgl. Fuhrmann (1993) 188 und Wulfram (2008) 160. 66 Zu Inhalt und Interpretation des zweiten Teils der ars poetica, der hier nur kurz angerissen werden kann, siehe beispielsweise Fuhrmann (1992) 138ff. 67 Vgl. Hösle (2009) 68. 68 Vgl. Brink (1971) 421.
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Weil Demokrit Genie für gesegneter als armselige Kunst hält und vom Helikon die vernünftigen Dichter ausschließt, müht sich auch der bessere Teil, nicht die Nägel zu schneiden, nicht den Bart, sucht einen abgeschiedenen Ort und meidet die Bäder.
Satirisch weist Horaz hier in der Mitte des Gedichts ingenium ohne ars zurück.69 Die vernünftigen Dichter (sani poetae) kommen nicht zum Zug. Die sani poetae werden am Ende der ars poetica durch die Bezeichnung vesanus poeta (V. 455) wieder aufgenommen, wobei beide Formulierungen auch mit velut aegri somnia, vanae / fingentur species (V. 7f.) in Verbindung stehen. Die gerade exemplarisch gezeigten intratextuellen Bezüge sind Beleg für die Selbstdarstellung. Dabei kommt Horaz die gewählte poetische Form zugute. Er schreibt „Reflexion über Dichtung und Dichtung zugleich“ und damit ein „Kunstwerk“.70 Wir können zwar aufgrund mangelnder Kenntnis des Wortlauts der Prätexte nicht beurteilen, wie eng Horaz diesen sprachlich folgt. Was wir aber in Bezug auf die sprachliche Wiedergabe beurteilen können, ist die Nachdichtung der ersten Verse der Odyssee, denn Horaz gibt das Zitat keineswegs Wort für Wort wieder; er hätte sogar den griechischen Hexameter als Zitat in seine Dichtung einbauen können, womit für die Belehrung, nämlich Homer als Vorbild anzuführen, das Ziel erfüllt wäre. Auch wäre die andere, schon erwähnte Funktion der Zitate erfüllt, nämlich seine Gelehrsamkeit im Sinne eines poeta doctus zum Ziel der Selbstdarstellung zu demonstrieren, was wohl die Hauptfunktion der vielen mythischen Beispiele ist (ars 120b–124): si forte reponis Achillem, impiger, iracundus, inexorabilis, acer iura neget sibi nata, nihil non arroget armis. sit Medea ferox invictaque, flebilis Ino, perfidus Ixion, Io vaga, tristis Orestes. Wenn du etwa neu den hohen Achilleus darstellst, so bestehe er rastlos, jähzornig, unerbittlich, heftig darauf, es gebe für ihn keine Rechte und er beanspruche alles für seine Waffen. Medea sei wild und unbesiegt, Ino in Tränen, heimtückisch Ixion, Io ruhelos, finster Orestes.
Das Beispiel Achills hätte genügt, um zu illustrieren, was famam sequi bedeutet. Durch das Namedropping zeigt Horaz seine Kenntnisse der für das Epos und die Tragödie bedeutenden Stoffe. Den gleichen Effekt hat das Aufzählen einzelner
|| 69 Vgl. Brink (1971) 329 und Fuhrmann (1992) 151f. 70 Fuhrmann (1992) 126. Hösle (2009) 57 verwendet für das Phänomen, dass eigene poetologische Vorgaben im poetischen Werk umgesetzt werden, den Begriff „Selbstinstantiierung“.
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Namen mythischer Figuren, mit denen er einzelne Stationen der OdysseeHandlung näher erläutert, ohne diese wirklich nachzuerzählen (ars 144f.): […] ut speciosa dehinc miracula promat, Antiphaten, Scyllamque et cum Cyclope Charybdin. […] um dann leuchtende Wunderdinge zu zeigen, Antiphates und Szylla und nebst dem Zyklopen Charybdis.
Solch ein Namedropping ist typisch für die epistolare Kommunikationssituation unter Freunden, in der klar ist, dass die Adressaten die Namen zuordnen können. Warum also dichtet Horaz nun den Anfang der Odyssee lateinisch mit folgenden Versen nach (ars 141f. bzw. Hom. Od. 1,1–3)? ‚dic mihi, Musa, virum, captae post tempora Troiae qui mores hominum multorum vidit et urbis.’ ‚Nenne mir, Muse, den Mann, der nach der Eroberung von Troja zahlreicher Menschen Bräuche gesehn hat und ihre Städte.‘ Ἄνδρά μοι ἔννεπε, Μοῦσα, πολύτροπον, ὅς μάλα πολλά πλάγχθη, ἐπεὶ Τροίης ἱερὸν πτολίεθρον ἔπερσεν· πολλῶν δ‘ ἀνθρώπων ἴδεν ἄστεα καὶ νόον ἔγνω. Muse! Erzähl mir vom wendigen Mann, der die heilige Feste Trojas zerstörte! Er sah dann auf mannigfaltiger Irrfahrt Vieler Menschen Städte; er lernte ihr Sinnen und Trachten […] (Übers. Weiher).
Der erste der beiden Verse bis zur Penthemimeres ist noch eine relativ wörtliche lateinische Wiedergabe der griechischen Wörter. Doch insgesamt fasst Horaz drei Verse Homers in zwei lateinische Verse zusammen.71 Horaz will sich wiederum selbst darstellen und zeigen, dass er das, was er fordert, auch umsetzen kann, dass er kein fidus interpres und kein imitator ist, sondern die Regeln der Originalität, die er für seine Adressaten aufstellt, selbst beherrscht. Somit hat die Selbstdarstellung des Adressanten in der ars poetica neben dem vordergründigen Ziel der Belehrung einen sehr hohen Stellenwert.
|| 71 Vgl. Brink (1971) 217, der dort einen genauen Vergleich der Vorlage Homers mit der Nachdichtung des Horaz anstellt.
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IV Anhand der Passage Hor. ars 119–152 wurde deutlich, dass Horaz seine epistula ad Pisones nicht nur, wie in dem verbreiteten Titel ars poetica impliziert, zur Belehrung seiner Adressaten über das Verfassen von guter und stimmiger Dichtung nutzt, sondern auch zur Selbstdarstellung. Gerade durch Epistolarität gelingt es, beide Seiten zu verbinden. Vordergründig dient das Werk tatsächlich der Belehrung, wobei diese durch verschiedene Rollen des Adressanten mehr oder weniger stark ausgeprägt ist. In der vorliegenden Passage unterrichtet der Lehrer über die Gesetzmäßigkeiten der Stoffwahl (V. 119–130), anschließend erklärt der Adressant wie in einem lockeren Gespräch unter Freunden, auf welche Weise es gelingt, obwohl man sich bei der Stoffwahl an die Tradition hält, originelle Dichtung zu schaffen. Die kommunikative Situation eines Briefes ermöglicht es Horaz außerdem, kein vollständiges theoretisches Lehrgebäude zu errichten, sondern assoziativ, wie zufällig, obwohl natürlich auch der Zufall kunstvoll geschaffen ist, anhand vieler Beispiele zu zeigen, wie stimmige Dichtung entsteht. Gleichzeitig nutzt Horaz diese Beispiele zur Selbstdarstellung. Dies gelingt besonders durch die Versform. Der Dichter bewegt sich damit nicht nur auf der vordergründigen Ebene des Lehrers, der aufgrund seines Wissens und seiner Erfahrung den Adressaten erklären darf, wie man gute Dichtung schreibt, sondern auch auf der Ebene des Dichters. Er schreibt selbst ein Gedicht, das allen Regeln, die er in dieser Passage beschreibt, gerecht wird. Er wählt sich ein Thema aus der Tradition, nämlich Dichtungstheorie, grenzt den Ausschnitt auf die Frage ein, wie stimmige Dichtung entsteht, beginnt ohne Umschweife in medias res und schafft es durch intratextuelle Bezüge, den Zusammenhang der gesamten ars poetica deutlich zu machen. Er demonstriert durch Zitate und Anspielungen auf Mythen seine Bildung, ist aber nicht ein fidus interpres oder ein imitator, sondern macht aus seinen Vorlagen, die er auf eigene Weise (proprie) wiedergibt, etwas Originelles. Dies zeigt sich besonders in der lateinischen Nachdichtung der ersten drei Verse des Odyssee-Proömiums, die er nicht griechisch zitiert oder Wort für Wort übersetzt, sondern ganz im Sinne der aemulatio lateinisch nachdichtet. Horaz ist also entgegen seiner eigenen Aussage nicht nur Schleifstein, der nicht schneiden darf. Er ist nicht nur Lehrer, der nichts mehr schreiben wird (ars 304b–308): ergo fungar vice cotis, acutum reddere quae ferrum valet exsors ipsa secandi; munus et officium nil scribens ipse docebo,
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unde parentur opes, quid alat formetque poetam, quid deceat, quid non, quo virtus, quo ferat error. Also dien ich als Schleifstein, der das Eisen wieder zu schärfen vermag, doch dem es verwehrt ist, selber zu schneiden. Aufgabe und Pflicht – selbst nichts schreibend – werde ich zeigen: wie man die Mittel bekommt, was den Dichter fördert und bildet, was passend ist, was nicht, wohin Können führt, wohin Irrtum.
In diesen Versen, die wie eine Inhaltsangabe klingen,72 werden beide Perspektiven, die in der ars poetica von Bedeutung sind und die gerade herausgearbeitet wurden, noch einmal deutlich. Horaz schreibt Dichtung über Dichtung, die zunächst einmal der Belehrung der Adressaten dient. Durch Epistolarität gelingt es ihm aber auch, sich als Adressanten in den Mittelpunkt zu stellen, dies so stark zu kaschieren, dass es erst bei genauerer Betrachtung und mehrmaliger Lektüre auffällt. Das Satirisch-Lustige und damit ein entscheidender Teil der Kommunikationssituation, der Epistolarität, dient nicht nur, wie Brink feststellt, dazu, einen eigentlich prosaischen Stoff in Dichtung darzustellen,73 sondern vor allem der versteckten, durchaus in hohem Maße vorhandenen Selbstdarstellung des Dichters, der das, was er seinen Adressaten zu vermitteln versucht, selbst beherrscht: das Verfassen von guter und stimmiger Dichtung. Horaz ist Schleifstein und Messer zugleich. Er belehrt und kritisiert die Dichtung anderer und betätigt sich gleichermaßen als Dichter. Dies konnte zumindest für die vorliegende Passage gezeigt werden. Sicher wäre es gewinnbringend, den gesamten Text der ars poetica im Hinblick auf die Selbstdarstellung des Adressanten zu untersuchen. Dies wäre Anlass für weitere Betrachtungen zur ars poetica, wobei es wohl besonders interessant wäre, den zweiten Teil, in dem es weniger um das Werk als vielmehr um den Dichter geht, unter dieser Fragestellung noch einmal genau unter die Lupe zu nehmen.
Literaturverzeichnis 1. Editionen, Übersetzungen und Kommentare Q. Horatius Flaccus: Opera, ed. Friedrich Klingner, Leipzig ³1959 (BT). Q. Horatius Flaccus: Opera, ed. D. R. Shackleton Bailey, Stuttgart 42001 (BT).
|| 72 Vgl. Brink (1971) 335. 73 Ebd.
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Gregor Bitto
Leser in Bcc. Zu den Praefationes von Statius’ Silvae
1 Einleitung Mit einem bemerkenswerten Anachronismus aus der analogen Welt setzen wir im Emailverkehr jemanden in Bcc, auch wenn diese Kopie schon lange nicht mehr mithilfe von Kohlepapier als eine Carbon Copy angefertigt wird. Blind ist diese Kopie, weil ihre Empfänger für den eigentlichen Empfänger der Nachricht nicht sichtbar sind und sie auch untereinander nicht voneinander wissen. Sie dürfen der Kommunikation zwischen Empfänger und Adressat gewissermaßen getarnt zusehen. Nicht ganz unähnlich, wie ich im Folgenden zeigen möchte, verfährt auch Statius mit den Praefationes zu seinen Silvenbüchern. Jedes dieser Silvae genannten und häufig in Hexametern abgefassten Gedichte ist zunächst für einen bestimmten Anlass geschrieben, wie die Einweihung eines kaiserlichen Reiterstandbildes oder eines Bades, für einen Geburts- oder Todesfall usw.1 Die Adressaten sind neben Kaiser Domitian Angehörige der gesellschaftlichen Elite, die man aufgrund eines zu vermutenden Mäzenatenverhältnisses Statius’ Patrone genannt hat.2 Etwa 93/94 n. Chr. entschließt sich Statius, solche Gelegenheitsgedichte aus den letzten drei bis vier Jahren auch in Buchform einer Sekundärpublikation zuzuführen, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in einer drei Bücher umfassenden Sammlung,3 der etwa ein Jahr später ein viertes Buch als Einzelpublika-
|| Ich danke Gernot M. Müller, Johanna Schenk und Sabine Retsch für die Einladung zu der wunderbaren Tagung und für die Gelegenheit, dass mein Beitrag an dieser Stelle erscheinen kann. 1 Vgl. die Übersicht über die Gelegenheiten bei Rühl (2006) 91–107. 2 Vgl. dazu die umfangreiche Untersuchung zu Patronageverhältnissen bei Statius und Martial von Nauta (2002). 3 So zuerst Vollmer (1898) 10–13, dagegen für sukzessive Publikation Nauta (2002) 285–289, gegen Nauta wiederum Rühl (2006) 138.
https://doi.org/10.1515/9783110676303-008
182 | Gregor Bitto
tion folgt.4 Ein fünftes Buch ist erhalten, das aber eine postume Veröffentlichung darstellen dürfte. Nicht nur Revisionsspuren in Silv. 5,3, sogar ein fragmentarischer Status des letzten Gedichts Silv. 5,5 weisen darauf hin.5 Ein besonderes Indiz ist gerade die Absenz desjenigen typischen Elements eines Silvenbuches, auf das ich im Folgenden das Augenmerk richten möchte: die in Prosa verfassten Widmungsepisteln, die als Praefationes jedem der vier Bücher vorangestellt sind.
2 Charakteristika der Praefationes zu den Silvae Eine Silven-Praefatio nennt nicht nur erwartungsgemäß gleich im ersten Satz den Widmungsträger, sondern bietet auch einige poetologische Gedanken zur Gattung der Silve und ihrer Eignung für die Veröffentlichung in Buchform.6 Außerdem werden jeweils alle Gedichte des Buches in ihrer Abfolge kurz durchgegangen, womit zugleich auf die Komposition als Buch verwiesen wird. Darüber hinaus werden die einzelnen Silven mit einigen Informationen zum Entstehungsanlass, zum Adressaten und/oder zur Abfassung versehen. Gerade diese auffällige Inhaltsverzeichnisfunktion kann die Praefatio zum fünften Buch nicht erfüllen. Sie ist ein Begleitschreiben, das nur das erste Gedicht dieses Buches einleitet. Es gibt keine weiteren Bezüge zu den anderen Gedichten dieses Buches. Die Praefationes zu Buch drei und vier verweisen sogar direkt auf die Nummerierung als drittes und viertes Buch,7 die Praefatio zum vierten Buch benennt die Fortsetzung explizit,8 sodass man eine Fortführung dieses Gedankenkomplexes für ein fünftes Buch, das von Statius selbst herausgegeben worden sein soll, geradezu erwarten muss.
|| 4 Einen Überblick über die Datierungen der einzelnen Silven und der Bücher gibt Nauta (2002) 443–444. Die im Detail umstrittenen Datierungen sind für die hier zu verfolgende Argumentation nicht von Belang. 5 Vgl. dazu den Überblick bei Gibson (2006) xxviii–xxx, sowie 265–266 zu Silv. 5,3 und 293 zu Silv. 5,5; bei letzterem ist gleichwohl nicht zu entscheiden, ob der Abbruch mit V. 87 durch einen Überlieferungsverlust bedingt ist. 6 Zu Silva(e) als Werktitel vgl. Malaspina (2013), der die Konnotation von Improvisatorischem nur bei Quintilian 10,3,17 belegt findet und dies als sekundäre Entwicklung von Statius’ Praefationes ausgehend ansieht. 7 Vgl. 3 pr. 7: tertius hic Silvarum nostrarum liber; 4 pr. 25: in quarto Silvarum. 8 Vgl. 4 pr. 24–27, s.u. 4.
Leser in Bcc. Zu den Praefationes von Statius’ Silvae | 183
Ich beschränke mich also auf die Praefationes zu den ersten vier Büchern, nicht nur um der Einheitlichkeit willen, sondern besonders hinsichtlich meiner konkreten Fragestellung. Denn mit den ersten vier Büchern haben wir gewissermaßen in abgesicherter Form den Fall der Weiterleitung an nicht genannte Empfänger. Die ursprünglichen Empfänger und Widmungsträger werden explizit im Gedicht benannt und besitzen, so dürfen wir annehmen, auch ein Autograph ihrer jeweiligen Silve. Der Leser des Silvenbuches hingegen erhält eine Kopie der ursprünglichen Silvae, zusammen mit einem Begleitschreiben, das ihn über den Inhalt und z.T. über den Originalanlass informiert.9 Der Abstand zum Original wird ihm dabei, so meine These, noch einmal gesondert durch die Adressierung des Begleitschreibens vor Augen geführt. Keine der vier Praefationes ist an den Leser allgemein gerichtet, wie es z.B. bei der Prosapraefatio zu Martials erstem, im Jahrzehnt zuvor veröffentlichtem Epigrammbuch der Fall ist (Weiteres s.u. 5.).10 Vielmehr ist Widmungsträger eines Buches immer auch jemand, der selbst im Buch bereits Adressat einer Silve ist. In Buch zwei und drei ist es jeweils der Adressat der ersten Silve im Buch (Melior in 2, Pollius Felix in 3). Bei Buch eins und vier hingegen okkupiert der Kaiser mit einem (Silv. 1,1) bzw. gleich drei Gedichten (Silv. 4,1–3) den ersten Platz im Buch. Der nächstfolgende Adressat ist dann aber jeweils auch der Widmungsträger.11 Marcellus, der Widmungsträger des vierten Buches, wird sogar über ein solches Vorgehen hinweggetröstet (4 pr. 2–5):12 reor equidem aliter quam invocato numine maximi imperatoris nullum opusculum meum coepisse; sed hic liber tres habet … se quam quod quarta ad honorem tuum pertinet. Ich glaube jedenfalls, dass ich keines meiner Werke ohne die zuvorige Anrufung der kaiserlichen Gottheit begonnen habe. Aber dieses Buch hat sogar drei ... [Textausfall] ... als dass die vierte [Silve] dich ehrt.
|| 9 Vgl. auch generell zum Komplex Veröffentlichung und Kontrolle des Textes durch den Autor Habinek (1998) 103–121. 10 Die genauere relative Datierung der Epigramme und der Silvae ist allerdings umstritten: vgl. den Überblick bei Johannsen (2006) 51–57 und die beiden tabellarischen Übersichten zu Martial und Statius bei Nauta (2002) 441–444. Wie van Dam (1984) 52 bemerkt, dürften Martials Praefationes zu Buch 1 und 2 aber sicher früher sein. 11 Silv. 1,2 ist ein Epithalamion für Stella, der in 1 pr. 1 angesprochen wurde. 12 Zugrunde liegt die OCT-Ausgabe von Courtney, die Zeilenzählung erfolgt nach dieser Ausgabe.
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Dafür, dass soziales Prestige zum ästhetischen Kriterium bei der Buchkomposition werden kann, muss man, nebenbei gesagt, natürlich nicht erst bis Statius warten. Aristophanes von Byzanz ordnet die unter Pindars Namen überlieferten Siegeslieder innerhalb eines Buches so an, dass Wettkämpfe mit höherem sozialen Prestige voranstehen und innerhalb einer Gruppe mit gleichen Wettkämpfen der Sieger mit höherem sozialen Prestige die frühere Stellung im Buch erhält.13 Die soziale Komponente spielt in den Praefationes generell keine untergeordnete Rolle. Was soeben mit einer gewissen Zuversicht als eine Hauptthese über den Abstand, der durch die Praefationes inszeniert wird, gesagt wurde, steht konträr zu einer Ansicht, wie sie u.a. Carole Newlands vertritt. Sie schreibt in einem grundlegenden14 Aufsatz zu diesen Praefationes: „the preface mediates between the private and public worlds. [...] [T]he preface opens the door to Statius’ social world.“15 Newlands bezeichnet dementsprechend die Prosavorworte explizit nicht als Paratexte,16 sondern als Schwelle (threshold) zum eigentlichen Silvenbuch, um ihre integrale Bedeutung und Funktion für das Buch zu unterstreichen.17 Sie
|| 13 Vgl. Lowe (2007) 171–174. 14 Wenn ich im Folgenden einen Punkt aus Newlands’ Deutung der Praefationes herausgreife, so möchte ich dennoch darauf hinweisen, dass die übrigen von ihr herausgearbeiteten Funktionen m.E. sehr treffend die Vorworte charakterisieren (z.B. p. 238, dass die Auflistung des Inhalts dem Leser eine sorgfältige Auswahl und künstlerische Einheit des Buches vorstellt). Es geht mir an dieser Stelle nur um die Relation von Primär- und Sekundärpublikum, wie sie in den Praefationes zum Ausdruck kommt bzw. von ihnen in besonderer Weise mitgestaltet wird. 15 Newlands (2008) 232. Eine Mittlerfunktion nehmen die Praefationes auch laut Rühl (2006) 137 ein, die in ihnen „eine ausreichende Orientierungshilfe für den Leser“ sieht. Ähnlich van Dam (1984) 51, der dies als eine Funktion einer Silvenpraefatio benennt (neben Inhaltsangabe, poetologischer Diskussion und Widmung). Vgl. auch Rosati (2015), der das Ideal der kleinen Form und die Unmittelbarkeit der improvisierten Dichtung mit veränderten Rezeptionsbedingungen in der flavischen Gesellschaft verbindet, die weniger auf Exklusivität orientiert sei. Dies ist vielleicht nicht als diametraler Gegensatz zur hier vertretenen These zu sehen, da die Schaffung sozialen Prestiges in unbestreitbarer Weise eine Facette der Silvae ist und Rosati eher einen unterschiedlichen Grad an Exklusivität meinen dürfte, nicht ein völliges Fehlen dieser. In diesem Sinne bieten, wie unten genauer ausgeführt wird (s. 6.), die Silvae Leerstellen als Deutungsanreize für ein weiteres Publikum in Bezug auf die soziale Welt der Silvae, ohne jedoch den weiteren Leserkreis im Ungewissen darüber zu lassen, dass ihm der Zugang zu dieser Welt nicht möglich ist. 16 Einen konzisen Überblick über die theoretischen Grundlagen der Paratextualität nach Genette (1989) bietet Jansen (2014) 3–9. 17 Newlands (2008) 240 (mit Bezug auf den Originaltitel von Genette [1989]: „Seuils“, in englischer Übersetzung mit dem Untertitel „Thresholds of Interpretation“). Dieses Bild verwendet
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verweist sogar darauf, dass Statius selbst diese Metaphorik gebrauche, wenn er in der Praefatio zum dritten Buch von 3,1 sagt, diese Silve eröffne die Schwelle des Buches (limen aperit, 3 pr. 9). Den Grad der Bedeutung der Vorworte möchte ich an dieser Stelle keineswegs schmälern. Die genaue Funktion jedoch scheint mir einer eingehenderen Prüfung würdig zu sein. Es leuchtet auf den ersten Blick unmittelbar ein, dass Vorworte, die Informationen liefern, die der Leser nicht aus den Gedichten selbst erhalten kann, einen Zugang zu eröffnen scheinen. Allerdings sind Informationen solcher Art in den Silvenpraefationes weder in der nötigen Dichte noch Tiefe vorhanden, um tatsächlich die Tür zu Statius’ sozialer Welt aufzuschlagen. Vielmehr zeigen sie dem Leser, was er alles nicht weiß, dass Selbstverständliches zwischen den Kommunikationspartnern gar nicht erst erwähnt wird, und dass man nur eine Außendarstellung erhält, die keineswegs die literarische Fiktion der Silvae mit realen Informationen untermauert. Die Praefationes sind also genauso wenig oder viel wie die Silvae selbst Eingangstor zu Statius’ sozialer Welt. Wenn man dies akzeptiert, wird der Weg für ein revidiertes Verständnis der Funktion dieser Vorworte frei. Doch bevor ich ein solches umreiße, möchte ich zunächst einige konkrete analytische Blicke auf die Silvenvorworte werfen, damit meine These von deren Informationsgehalt nicht nur eine Behauptung bleibt, die sich einfach dem ersten Leseeindruck widersetzen möchte.
3 Die Praefationes zu den ersten vier Büchern im Detail 3.1 Silvae 1 Die erste Praefatio18 betont für alle Gedichte außer dem vierten und dem sechsten die schnelle Abfassungszeit.19 Die konkreten Zahlangaben, dass das erste
|| auch Fitzgerald (2007) 71 in Bezug auf Martials Prosaepistel zum ersten Epigrammbuch mit Blick auf die dortige Theater-Metaphorik. 18 Für einen Vergleich von Angaben der Praefatio zur Vorstellung der Gedichte und dem Inhalt des Einzelgedichtes selbst, die nicht schematisch erfolge, verweise ich auf Johannsen (2006) 356–362. Dieser Unterpunkt ist nur damit befasst, die Informationsdichte der Praefationes zu erheben, um aufzuzeigen, dass konträr zu einer möglichen Erwartungshaltung gerade nicht ausreichende Informationen für den zweiten Rezipientenkreis geboten werden. Statius
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Gedicht an einem Tag, das zweite an zwei Tagen usw. verfasst sind,20 sind in der Tat nicht aus den Silvae selbst zu erschließen. Jedoch sind diese Angaben im Rahmen der allgemeinen poetologischen Reflexion dieses Vorwortes zu sehen: Die Veröffentlichung von anlassbezogener Dichtung gegenüber seinem kürzlich erschienenen Epos Thebais verteidigt Statius mit dem Hinweis auf Homer und Vergil, die als Epiker jeweils auch leichtere Dichtung verfasst hätten (1 pr. 1–15). Die Schnelligkeit der Abfassung ist zum einen ein auszeichnendes Merkmal für den Dichter, der so flexibel auf die Anlässe reagieren kann. Zum anderen dient der Hinweis auf die Schnelligkeit im Rahmen eines Bescheidenheitstopos als Entschuldigung für eventuelle Unvollkommenheiten.21 Dem Leser wird suggeriert, er erhielte hier tatsächlich die Silvae in ihrer originalen Form: Kopien zwar, aber wenn die Fehler des Moments noch stehen geblieben sind, dann zumindest Kopien, die ohne Revision dem Original entsprechen. Explizit als Zeugen für die Kompositionsgeschwindigkeit werden die Adressaten aufgerufen, implizit auch als Bürgen, dass man mit der veröffentlichten Silve in virtueller Form am Originalanlass teilhaben kann. Eine Ausnahme von der für die erste Praefatio beschriebenen Informationspolitik stellt der Hinweis für das vierte Gedicht dar, dass der Adressat Rutilius Gallicus bereits verstorben sei (1 pr. 28). Dies lässt sich dem Gedicht, das ausgerechnet eine Genesung des Rutilius thematisiert, nicht entnehmen. Aber mehr als das Faktum erhält der Leser eben nicht: Es wird sogar an dieser Stelle ein Hinweis auf die Kompositionsgeschwindigkeit ausgespart, da der inzwischen verstorbene Adressat nicht mehr als Zeuge auftreten könne.22
3.2 Silvae 2 Die Praefatio zum zweiten Buch bietet einiges Bekannte wie den Hinweis auf die Schnelligkeit der Abfassung beim ersten und fünften Gedicht, oder das under-
|| hält sich mit seinen Widmungsepisteln an das Stilideal der Kürze für den Brief (vgl. Ps. Dem., de eloc. 228). 19 Das Ende der Praefatio fehlt und damit wohl auch die entsprechende Angabe für 1,6. 20 1 pr. 18–19 zu 1,1: postero die quam dedicaverat opus; 1 pr. 21–22 zu 1,2: biduo scriptum; 1 pr. 26 zu 1,3: villam [...] descriptam uno die a nobis; 1 pr. 30 zu 1,5: intra moram cenae. 21 Ausführlich zu diesem Paradox, auch vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Improvisationskultur vgl. Rosati (2015). Zu den verschiedenen Zeitaspekten der Silvenpraefationes (Anlass, Schnelligkeit der Komposition, Verspätung, otium, Veröffentlichung) vgl. Parker (2014). 22 1 pr. 27–28: de quo nihil dico, ne videar defuncti testis occasione mentiri.
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statement hinsichtlich der angeblich unausgereiften Komposition des zweiten Gedichts.23 Neu ist eine generische Parallele: Die kurzen Silven 2,3 und 2,4, und implizit vielleicht auch 2,5, werden mit Epigrammen verglichen.24 Einige Daten zur sozialen Hierarchie lässt Statius hier expliziter als in der ersten Praefatio einfließen: die familiaritas mit dem Widmungsträger Melior (2 pr. 1); außerdem die Verbindung zwischen dem Adressaten von 2,6, dem iuvenis Ursus, und Melior (2 pr. 21–22). Diese Verbindung besteht auf der inhaltlichen Ebene insofern, als dass beide eine Trostsilve für den Verlust eines puer delicatus erhalten. Darüber hinaus offenbart die Praefatio, dass es anscheinend eine ganz handfeste Beziehung zwischen Melior und Ursus gibt, über eine literarische und okkasionelle Parallelität hinaus: Statius habe das Trostgedicht für Ursus mit in das Buch aufgenommen, nicht nur, weil er selbst Ursus etwas schulde, sondern auch, weil er diese Ehrung auch Melior anrechnen werde.25 Die finanzielle Metaphorik dieser Stelle (debeo, iactura, accepto ferre) lässt den Leser aufhorchen, er bleibt aber letztlich im Ungewissen, wie van Dam in seinem Kommentar notiert: „It is unclear why Ursus would do this. Either there is something in the relationship between St[atius], Ursus and Melior which escapes us, or St[atius] is hyperbolic in his attempts to credit Melior for all St[atius]’s poetry.“26 Man hat also die Wahl zwischen einer unverständlich bleibenden insiderInformation und einer vagen Hyperbel, wobei unerklärlich bleibt, warum diese Hyperbel nur für 2,6 in Anschlag gebracht wird. In der Tat sind gleich drei der sieben Gedichte des zweiten Buches Melior gewidmet (2,1/3–4), aber eben nicht alle bzw. die anderen werden außer 2,6 nicht in Verbindung mit Melior gebracht. Ebenso verzweifelt lässt Statius den Leser in Bezug auf das letzte Gedicht des Buches zurück: Es handelt sich um ein Gedicht, das den Geburtstag des verstorbenen Dichters Lucan feiert. In Auftrag gegeben hat es, so informiert uns die Praefatio, seine Witwe Polla Argentaria (2 pr. 22–24). Im Buch treffen wir noch auf eine andere Polla, die Frau des Villenbesitzers Pollius Felix, dem das zweite Gedicht gewidmet ist. Der nicht persönlich mit den Adressaten vertraute Leser wird bei der Lektüre des Buches auf die Frage stoßen, ob es sich um die|| 23 1 pr. 8 zu 2,1: festinanter; 1 pr. 18 zu 2,5: statim. 1 pr. 13–14: debuit [...] diligentius dici. 24 2 pr. 14–18: in arborem certe tuam, Melior, et psittacum scis a me leves libellos quasi epigrammatis loco scriptos. eandem exigebat stili facilitatem leo mansuetus, quem in amphitheatro prostratum frigidum erat sacratissimo imperatori ni statim tradere. 25 2 pr. 18–22: ad Ursum quoque nostrum, iuvenem candidissimum et sine iactura desidiae doctissimum, scriptam de amisso puero consolationem super ea quae ipsi debeo huic libro libenter inserui, quia honorem eius tibi laturus accepto est. 26 Van Dam (1984) 60.
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selbe Polla handeln könnte, gerade auch, wenn er die Buchkomposition berücksichtigt: 2,1 und 2,6 gehören durch die Bekanntschaft zwischen Melior und Ursus zusammen, ebenso dann auch 2,2 und 2,7 durch ihre verheirateten Adressaten Pollius und Polla? Statius betreibt gern mit den Namensbedeutungen seiner Adressaten Wortspiele. Ich verweise nur auf den Anfang der zweiten Praefatio: Melior, vir optime (2 pr. 1). Pollas zweiter Name Argentaria lädt natürlich zu Ähnlichem ein: Aber gerade die Polla in 2,2 wird mit finanzieller Metaphorik in Verbindung gebracht.27 Nur über die Polla von 2,7 erfahren wir aber aus der Praefatio, dass sie Argentaria heißt. Die Vermutung, dass es sich um die gleiche Polla handeln könnte, wird übrigens seit Barths Kommentar aus dem 17. Jh. immer wieder vertreten,28 besonders prominent von Robin Nisbet (1978).29 Literarische Gestaltung und Buchkomposition legen dem Leser eine Identifikation nahe. Wissen über die Tatsächlichkeit in die eine oder andere Richtung hat aber nur derjenige, der die Beteiligten persönlich oder wenigstens mittelbar persönlich kennt. Als appetizer gibt es in der Praefatio den Namenszusatz Argentaria, aber dieser macht das Ausmaß des Unwissens nur noch deutlicher. Dem Leser wird hier wieder bewusst gemacht, dass er nicht Teil dieses sozialen Netzwerkes ist, sondern einem Ausschnitt daraus zuschauen darf, ohne über die hintergründigen Zusammenhänge Bescheid zu wissen. Wie wenig Aufschluss für das Buch der Leser von der Lektüre der Praefatio erwarten darf, deutet Statius selbst an: ut totus hic ad te liber meus etiam sine epistula spectet (so dass dieses Buch von mir auch ohne Widmungsepistel ganz zu dir blickt, 2 pr. 3–4).
3.3 Silvae 3 Die dritte Praefatio ist noch deutlicher zurückhaltend in der Weitergabe von Informationen. Mehr als das erste Drittel nehmen die Beziehung zum Widmungsträger Pollius Felix und die Erläuterung zu 3,1 ein (3 pr. 1–10). Außer einem allgemeinen Lob des gebildeten Pollius, einer gewissen Nähe des Statius zu ihm, wird der Leser wiederum auf die Kompositionsgeschwindigkeit hingewiesen.30 || 27 Silv. 2,151–154: non tibi sepositas infelix strangulat arca / divitias avidique animum dispendia torquent / fenoris: expositi census et docta fruendi / temperies. 28 So van Dam (1984) 454. 29 Von Nauta (2002) 223–225 wenn nicht als Beweis, so doch als plausible Hypothese angenommen. S.u. 6. zu Sidonius’ Identifikation von Pollas zweitem Mann mit Statius. 30 3 pr. 9: statim ut viderem, his versibus adoravi.
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Bezeichnend ist der Anschein von Information zu 3,2: Dass Statius dem auf eine militärische Mission entsandten Maecius Celer gern gefolgt wäre, aber es nicht könne und darum ein Gedicht darüber geschrieben habe, ist nicht mehr als die Inszenierung der Grundsituation der Gattung des Prompempticons.31 Als solches wird es auch im Titel bezeichnet und – falls man der Authentizität der Silventitel gegenüber eher skeptisch eingestellt ist32 – als solches wird es schon in den ersten Versen identifizierbar. Auch der Hinweis auf die syrische Legion befindet sich im Gedicht selbst (3,2,121). Nur Topisches wird über Claudius Etruscus und 3,3 geäußert (3 pr. 14–16). Im Falle von 3,4 scheint dies zunächst anders zu sein: Statius erwähnt eine Verzögerung und beschreibt detailgetreu, dass der Lustknabe Domitians, Earinus, seine Haarlocke in einer mit Edelsteinen besetzten Büchse und mit einem Spiegel zum Asklepios in Pergamon gebracht habe.33 Gerade diese Details scheinen wie eine realistische Zusatzinformation und sind doch in kaum verschlüsselter Form auch im Gedicht selbst wiederzufinden (3,4,1–11; 94). Auch die Ankündigung des fünften Gedichts verläuft ähnlich: Quasi-privat vermerkt Statius zu der Silve, mit der er seine Frau zum Umzug nach Neapel auffordert, exhortor, wie er sagt: hic, si verum dicimus, sermo est, et quidem securus ut cum uxore et qui persuadere malit quam placere. Dies ist, wenn wir ehrlich sind, eine Plauderei und eine sichere jedenfalls, wie mit einer Ehefrau und eine Plauderei, die eher überzeugen als gefallen möchte (3 pr. 20–23).
Außer seinem eigenen männlichen Status als überlegener Partner, der sich im Gespräch mit der Frau nicht zu fürchten braucht und ihr nicht gefallen muss, ist neben dem Namen der Ehefrau, Claudia, nichts Faktisches über Statius und seine Ehe zu gewinnen. Der Leser wird höchstens zur biographistischen
|| 31 3 pr. 11–14: sequitur libellus quo splendidissimum et mihi iucundissimum iuvenem Maecium Celerem, a sacratissimo imperatore missum ad legionem Syriacam, quia sequi non poteram, sic prosecutus sum. 32 Eindeutig kritisch gegenüber den überlieferten Titeln ist Coleman (1988) xxviii–xxxii. Vgl. aber die eingehende Untersuchung bei Schröder (1999) 180–189, mit dem Ergebnis, dass man Statius nicht absprechen kann, seinen Silvae Titel gegeben zu haben, es aber nicht mit Sicherheit zu entscheiden sei, ob bzw. inwieweit diese mit den handschriftlich überlieferten Titeln übereinstimmen. 33 3 pr. 16–20: Earinus praeterea, Germanici nostri libertus, scit quam diu desiderium eius moratus sim, cum petisset ut capillos suos, quos cum gemmata pyxide et speculo ad Pergamenum Asclepium mittebat, versibus dedicarem.
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Fortspinnung angeregt, aber er erhält gerade keinen weiteren Einblick in Statius’ Privatleben. Dass der Umzug nach Neapel stattgefunden hat, erfährt man aus der Praefatio zum vierten Buch (4 pr. 10): Allerdings nimmt Statius weder dort noch in der Einleitung zu Buch drei Bezug auf den Erfolg der Überzeugungssilve bei seiner Frau. Sie taucht nach der Praefatio zu Buch drei und der Silve 3,5 nicht wieder auf.34 Fassen wir zusammen, was wir mit der ersten Sammlung an zusätzlichen Informationen aus den Praefationes gewonnen haben, so fällt das Resultat ernüchternd aus. Mit Ausnahme der Kompositionsgeschwindigkeit und zweier Angaben zur sozialen Hierarchie, nämlich die Verbindung von Ursus und Melior, sowie die Präzisierung des Status des Earinus, der im Gedicht Caesareus puer (3,4,7), in der Praefatio konkreter Germanici nostri libertus genannt wird, ist letztlich nichts zu gewinnen, außer einem allgemeinen Eindruck: Statius kennt die High Society bis hin zu seinem Kaiser. Wie genau diese Verbindungen aussehen, darüber lassen uns die Praefationes gerade im Dunkeln.
3.4 Silvae 4 Der Adressatenkreis umfasst in den ersten drei Büchern jeweils fünf Adressaten. Das vierte Buch bringt mit neun Silven nicht nur eine höhere Gedichtzahl, sondern auch trotz dreier Gedichte an Domitian sechs weitere Adressaten, von denen keiner in den ersten drei Büchern vertreten war, im Unterschied zum dritten Buch, das zwei Adressaten aus früheren Büchern enthält.35 Immerhin erwähnt Statius, dass Iulius Menecrates, der Adressat von 4,8, ein Schwiegersohn des schon bekannten Pollius ist (4 pr. 20–21). Der soziale Status wird allerdings häufiger explizit thematisiert: Septimius Severus, Adressat der Silve 4,5, gehöre zum secundus ordo, sei condiscipulus des Widmungsträgers des Buches (4 pr. 10–12); Plotius Grypus, Adressat von 4,9, sei maioris gradus iuvenis (4 pr. 22).
|| 34 Silv. 3,5 ist durchaus mehr als die angekündigte Überzeugungsrede: Klodt (2005) 197–222 arbeitet fünf Aspekte heraus: vgl. bes. 204–205: 1) „Ehrung für Claudia“, 2) „öffentliches Dokument der lebenslangen concordia der Ehepartner“, 3) „offizieller Abschied des Dichters von Rom“, 4) „poetische Form des Sprechens von sich selbst“, 5) Parallelisierung mit Ovid Trist. 4,10 und den Briefelegien an seine Gattin. Den vierten Aspekt betont Fögen (2007) 257–263 (vgl. 262: „ultimately it all amounts to a self-depiction: everyone and everything is centered around the artist with the result that the poem is much more about him than anyone else“). Für den Charakter von 3,5 als poetologische Sphragis vgl. Rühl (2006) 359–362. 35 Pollius Felix in 2,2 und 3,1; Claudius Etruscus in 1,4 und 2,3.
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Den Kunstgriff, dass ein Verdienst eines Silvenadressaten dem Widmungsträger des Buches angerechnet werden könne, verwendet Statius auch in 4,6 in Bezug auf Novius Vindex (4 pr. 15). Nur einen Ausschnitt, aber keinen Zugang zu haben, wird dem Leser – vielleicht aber aufgrund des Überlieferungslage nur dem modernen Leser – auch bei der Erwähnung des Adressaten von 4,7 bewusst: Dieser habe zuvor einen Brief über die Herausgabe der Thebais erhalten.36 Zumindest für den modernen Leser ist dieser Brief nicht zugänglich und wenn er nicht in zeitgenössischen Editionen der Thebais mitzirkulierte,37 ist er auch für den antiken Leser nur Teil einer unerreichbaren Privatkorrespondenz.
3.5 Zwischenfazit Wir können als Zwischenfazit festhalten: Die Praefatio eines Silvenbuches gibt kaum mehr preis als die Gedichte selbst. Durch ihre Existenz verweisen die Praefationes aber gerade auf dieses Defizit und das ist ihre eigentliche Leistung. Sie leiten nicht mit den nötigen Zusatzinformationen ein,38 die das Verständnis erleichtern, sondern stellen die Gedichte schaufensterartig aus. Nur zu diesem Zweck werden einige spärliche Informationen gegeben, die das Defizit pointieren. Sie rücken aber die folgenden Silven dadurch eben nicht näher an den Rezipienten.
4 Die Praefationes und ihre Rezipienten Die Begleitschreiben sind wie tatsächlich an die jeweiligen Empfänger gerichtete Briefe, die beiden Seiten Vertrautes bzw. Selbstverständliches nicht erwähnen und dem weiteren Leserkreis den Eindruck vermitteln, tatsächlich nur der
|| 36 4 pr. 17–18: epistula quam ad illum de editione Thebaidos meae publicavi. Coleman (1988) 58 (zu 4 pr. 16–17) vergleicht dieses Schreiben u.a. mit dem Brief an Trypho, der Quintilians Institutio vorangestellt ist und Trypho vom Widmungsträger des Werkes, Vitorius Marcellus, dem interessanterweise auch das vierte Buch der Silven gewidmet ist, abgrenzt. 37 Dies nimmt Janson (1964) 109 allerdings an. 38 Für Rühl (2006) 117 und 137 ist die Informationsübermittlung allerdings ein wichtiges Element der Praefationes.
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einen Hälfte eines Gesprächs beizuwohnen, wie eine bekannte antike Definition des Briefes lautet.39 Dabei ist die Rezipientenperspektive zumindest in indirekter Form dennoch integriert. In der ersten Praefatio heißt es zur Verteidigung der Publikation: sed apud ceteros necesse est multum illis pereat ex venia, cum amiserint quam solam habuerunt gratiam celeritatis. Aber bei den Übrigen müssen [sc. meine Silven] notwendigerweise viel an Nachsicht einbüßen, da sie die einzige Anmut, die sie hatten, nämlich die der Geschwindigkeit, verloren haben (1 pr. 11–13).
Der Leser wird hier gewissermaßen mit der Nase darauf gestoßen, dass er nicht dem Originalanlass beigewohnt habe und mithin eine wirkliche ästhetische Einschätzung gar nicht leisten könne. Das, was die Silven ausmache, hier polemisch auf den Aspekt der Geschwindigkeit reduziert, ist dem Leser einer veröffentlichten Silve gar nicht zugänglich. Wenn Statius z.B. in der dritten Praefatio sagt, dass er sofort, als er die Herculesstatue des Pollius gesehen habe (statim ut videram, 3 pr. 10), diesen mit Versen geehrt habe, dann wird deutlich, worin für ihn ein wesentlicher Teil der Silvenpoetik besteht: in der Reaktion auf die Gelegenheit, im Zusammenspiel von Dichtung und Moment – gerade in dem also, was bei einer späteren Veröffentlichung entfallen muss und das auch die Praefationes mit ihren spärlichen Angaben nicht ausgleichen. Noch expliziter setzt Statius in der zweiten Praefatio den Originaladressaten vom Leser ab: nec nunc eam [sc. celeritatem] apud te iacto qui nosti, sed et ceteris indico, ne quis asperiore lima carmen examinet [...]. Und ich lobe sie [die Geschwindigkeit] nicht vor dir, der du darum weißt, sondern zeige sie den Übrigen an, damit nicht einer mit einer härteren Feile das Gedicht untersucht [...] (2 pr. 9–11).
Das Feilen und das Untersuchen sind Tätigkeiten, die nur bei einem Schriftstück möglich sind, für den Originaladressaten im Moment der Rezitation also eine untergeordnete Rolle spielen, aber in verzerrter Perspektive für den Leser
|| 39 Ps. Demetrios, de eloc. 223 (εἶναι γὰρ τὴν ἐπιστολὴν οἷον τὸ ἕτερον μέρος τοῦ διαλόγου), der hier die Ansicht des Artemon von Kassandreia wiedergibt; zu antiken Brieftheorien vgl. den Überblick bei Trapp (2003) 42–46. Zu den Praefationes als Briefen vgl. Rühl (2006) 115–118.
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plötzlich in den Vordergrund rücken. Das Lesepublikum wird also darauf hingewiesen, dass sein üblicher Rezeptionsmodus gänzlich ungeeignet für die Silven ist. Allerdings steht ihm auch kein anderer zur Verfügung, es kann sich nicht von Statius die Gedichte vortragen lassen – und selbst, wenn es das könnte, der Originalanlass ist für immer vergangen. Die Rezipientenperspektive ist der vierten Praefatio nicht nur in fiktiver Form als Vorwegnahme von Einwänden gegen die Publikation solcher anlassbezogenen Dichtung eingeschrieben, sondern die bereits erwähnte höhere Gedichtzahl wird von Statius direkt in diesen Zusammenhang gestellt: quare ergo plura in quarto Silvarum quam in prioribus? ne se putent aliquid egisse qui reprehenderunt, ut audio, quod hoc stili genus edidissem. Warum sind also mehr Gedichte im vierten Silvenbuch als in den früheren? Damit nicht diejenigen meinen, etwas erreicht zu haben, die, wie ich höre, mich tadeln, dass ich Dichtung dieser Art herausgegeben habe (4 pr. 24–27).
Als Gegenargumente führt Statius ins Feld, dass eine Rezitation vor dem Kaiser schon mehr als eine Veröffentlichung sei und außerdem die Freiheit für spielerische Dichtung auch in der Öffentlichkeit gegeben sei. Schließlich sei es, wenn überhaupt, der Dichter selbst, der sich kompromittiere.40 Hier ist Statius noch weiter von seinem Lesepublikum entfernt: Nachdem er ihm in den ersten beiden Praefationes deutlich gemacht hat, dass ihm die wesentlichen ästhetischen Möglichkeiten zur Einschätzung seiner Dichtung fehlen, sind hier die Anderen nur noch haltlose Kritiker, denen der Dichter noch entschlossener entgegentritt, indem er ihnen noch mehr Gedichte bietet, die sie nicht würdigen können. Nun steckt generell in solchem Umgang mit Kritik, ob nun vermeintlicher, antizipierter oder tatsächlicher, ja immer auch das Angebot an den Leser, es nicht den bornierten Kritikern gleichzutun. Dementsprechend hat Nina Johannsen in ihrer ausführlichen Analyse der Prosavorworte bei Statius und Martial auch darin die Hauptfunktion dieser Passagen gesehen: Sie seien als captatio benevolentiae angelegt, die eine gegenteilige Reaktion provozieren solle.41 Generell ist dies natürlich ein etabliertes Verfahren: Man denke nur an das poetolo-
|| 40 4 pr. 28–34: deinde multa ex illis iam domino Caesari dederam, et quanto hoc plus est quam edere! exerceri autem ioco non licet? ‚secreto‘ inquit. sed et sphaeromachia spectantes et palaris lusio admittit. novissime, quisquis ex meis invitus aliquid legit, statim se profiteatur adversum. ita quare consilio eius accedam? in summam, nempe ego sum qui traducor; taceat et gaudeat. 41 Johannsen (2006) 354.
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gisch aufgeladene Neid-Motiv.42 Allerdings liegt der Fall bei Statius etwas anders: Er wendet sich ja nicht einfach gegen Kritiker, die eine andere ästhetische Auffassung haben. Denn dann könnte man als Leser mit der passenden Ästhetik präpariert werden, um an die Silvenlektüre zu gehen. Die Ästhetik der Silven besteht aber nicht darin, einfach weniger raffinierte und polierte Dichtung zu präsentieren – was sich nebenbei bemerkt wohl auch kaum einem gebildeten antiken Leser glaubhaft als positives Charakteristikum vermitteln ließe.43 Die Ästhetik der Silven beruht vielmehr, wie eben kurz skizziert, auf der Verbindung von Moment und Dichtung. Dass dieses ein ästhetisches Kriterium sein könnte, das andere ästhetische Prinzipien wie das des Raffinements außer Kraft setzen kann, lässt sich wohl noch mit einem Vorwort vermitteln. Aber es bleibt abstrakte poetologische Diskussion, das Erleben der Silven als Anlassdichtung ist für den Leser höchstens virtuell unter bestimmten Umständen möglich. Er ist wieder darauf zurückgeworfen, mit einer Kopie eines unzugänglichen Originals leben zu müssen. Die Praefatio hat den Graben zwi-
|| 42 Vgl. z.B. Pindar, Nem. 4,37 (allgemein zum Neidmotiv bei Pindar Bulman [1992]); bei Kallimachos im Apollonhymnos (105–113), im Aitienprolog (frg. 1,17 Pf.) und Epigr. 21,4 Pf.; in der lateinischen Dichtung vor Statius (als Rezeption des Kallimachos) bspw. bei Verg. Georg. 3,37–39 (dazu Wimmel [1960] 283–284 und Thomas [1999] 79–81), Hor. carm. 4,3,16 (dazu: Wimmel [1960] 267–268). Für invidia bei Ovid mit einem Blick auf die vorausgehende griechische und lateinische Tradition vgl. Shiaele (2010). Für Statius’ Kallimachos-Rezeption s. die folgende Anm. 43 Zu Recht bemerkt Rosati (2015) 65, dass die poetologische Apologetik der Silvae nicht literal ernst genommen werden will, sondern als Teil eines poetologischen Diskurssystems. Insgesamt ist, wie Thomas (1999) 211 bemerkt, für die lateinische Kallimachos-Rezeption konstitutiv, dass „allusion to, and adaption of, the Callimachean program really becomes a way of talking about one’s own changing tradition and one’s own place in that changing tradition“. Generell ist bei Statius ein paradoxes Verhältnis in der Rezeption kallimacheischer Motivik zu beobachten, wie bereits längst gesehen wurde: vgl. u.a. Wimmel (1960) 316–319; Dams (1970) 138–175; Rosati (2015) 54–65. Den epischen Werken wird kallimacheisch positiv Konnotiertes zugesprochen, die Thebais ist bissenos multum vigilata per annos (Theb. 12,812) und zugleich sowohl ingens opus (Silv. 4,7,3) als auch Produkt intensiver dichterischer Feile (multa cruciata lima, Silv. 4,7,26). Die Silvae hingegen sind laut eigener Aussage zwar kleine, aber nicht kallimacheisch ausgefeilte, sondern improvisierte Dichtung. Dies stellt, worauf Alexander Kirichenko mich hinweist, eine besondere Form der Kallimachos-Aemulatio dar: Gewissermaßen als ‚Super-Kallimachos‘ kann Statius sowohl große als auch kleine Dichtung bieten und dies sogar in umgekehrtem Qualitätsgrad, d.h. die große Dichtung ist gerade die ausgefeilte, außerdem könne er auch spontan dichten. Außerdem tragen die Silvae in ihren gelehrten Anspielungen, in ihrer Stilistik etc. alexandrinische Züge und zeigen damit implizit, dass sowohl Groß- wie auch Kleindichtung bei Statius gekonnt komponiert sind, ein zusätzlicher Aspekt der Kallimachos-Aemulatio.
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schen den unterschiedlichen Adressaten dadurch besonders deutlich aufgezeigt, ihn aber gerade nicht überbrückt, sondern als unüberbrückbar dargestellt.
5 Vergleich mit Martial Ein kurzer Seitenblick44 auf Martials Prosavorworte, die zusammen mit denen Statius’ die für uns ersten erhaltenen Beispiele in der lateinischen Dichtung für solche Prosavorworte darstellen, möge dazu dienen, die Eigenart der statianischen Praefationes deutlicher zu konturieren. Fünf seiner Epigrammbücher hat Martial mit einer Widmungsepistel begonnen (1; 2; 8; 9; 12).45 Nur die erste ist, im Unterschied zu den übrigen vier, an keinen namentlich genannten Adressaten gerichtet. Sie wird explizit als Brief bezeichnet (epistola, 1 pr. 13).46 Eine gesonderte Anrede erfolgt zwar nicht, aber in einigen Handschriften47 steht ein brieftypisches Präskript voran, wie es die anderen Praefationes haben:48 Valerius Martialis lectori suo salutem.49 Das einzige Du in dieser Praefatio richtet sich im scherzhaften Schlussepigramm an Cato als Inbegriff eines für die Epigrammlektüre nicht geeigneten Rezipienten. Inhaltlich bestimmt ist diese Praefatio von einer Selbstverteidigung der freizügigen Gattung, eine genauere Inhaltsangabe, was im Buch zu erwarten ist bzw. an wen die einzelnen Gedichte gerichtet sind, erfolgt nicht. Dies wäre auch bei 118 Epigrammen im Vergleich zu maximal neun Silven wenig sinnvoll. Die zweite Praefatio beginnt mit einem Zitat des Adressaten Decianus, der sich über den Brief am Anfang des Buches wundert und die allgemeine Praxis des Prosavorworts für ein Epigrammbuch für nicht passend hält (2 pr. 1–11). Martial gibt Decianus Recht und schließt scherzhaft die Epistel. Die Eignung eines Prosavorwortes für ein Buch mit Epigrammen, die Decianus hinterfragt, ist gewissermaßen zugleich die Folie für die Bestimmung der Gattung Epigramm gegenüber anderen Gattungen und dient dementsprechend wie die erste
|| 44 Für einen ausführlicheren Vergleich verweise ich auf Johannsen (2006) 371–381. Der Vergleich mit Martials Praxis ist nur im Rahmen der hier verhandelten These gezogen. 45 Ausführliche Untersuchungen zu diesen im dritten Kapitel von Johannsen (2006). 46 Textgrundlage und Referenzpunkt für die Zeilenzählung ist die OCT-Ausgabe von Lindsay. 47 Zu den Gründen für die Athetese vgl. Johannsen (2006) 59. 48 Allerdings weicht Buch 9 hier ab (9 pr. 1: Have, mi Torani, frater carissime), vgl. aber den Apparat bei Lindsay, der an einen möglichen Ausfall denkt und auf 1 pr. verweist. 49 Aber Epigr. 1,1,4 wird der lector studiosus angesprochen.
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Praefatio der poetologischen Standortbestimmung. Über diese Gattungsfrage hinaus erscheint die Praefatio recht separat vom folgenden Buch und leitet dieses weder thematisch noch in anderer Form ein.50 So reizvoll es wäre, die Ironisierung der Praxis der Praefatio, die Martial hier bietet, auf Statius zu beziehen, so unmöglich ist es allerdings aus chronologischen Gründen.51 Die Praefatio zum achten Buch ist an Domitian gerichtet, der in einer ganzen Reihe von Epigrammen, die über das ganze Buch verteilt sind, im Mittelpunkt steht.52 Martial verspricht mit Rücksicht auf den Widmungsträger ein weniger freizügiges Buch als gewöhnlich (8 pr. 13–18). Praefatio und Buch sind aufgrund des Adressaten hier enger verknüpft als dies in den übrigen Fällen zu konstatieren ist. Ähnlich wie die zweite Praefatio ironisiert auch diejenige zum neunten Buch die Funktion eines solchen Vorwortes. Während jedoch die Widmungsepistel zum zweiten Buch die Praefatio selbst zum Thema nimmt, findet das Spiel im neunten in weniger expliziter Form statt. Hier wird dem vertrauten Freund53 Toranius die Epistel als Ort für ein Epigramm angezeigt, das nicht in das Buchgefüge gehöre (extra ordinem paginarum, 9 pr. 2).54 Die Epistel leitet gerade nicht das Buch ein, sondern ist nur Medium55 für ein weiteres Epigramm, das darüber hinaus nicht einmal ins Buch gehört. Insgesamt hat die Praefatio sogar drei Adressaten: den in der Briefeinleitung angesprochenen Toranius, den Adressaten des Epigramms Avitus und den Leser, der innerhalb des Epigramms || 50 Zu dieser Besonderheit Johannsen (2006) 83–84. Wie Johannsen feststellt, nimmt immerhin das anschließende Epigramm das Motiv der Ermüdung des Lesers, mit dem die Praefatio schloss, wieder auf. 51 Johannsen (2006) 55–56. Umgekehrt sieht Johannsen (2006) 379 in Silv. 2 pr. 3–4 eine mögliche Reaktion auf Martials Praefatio zum zweiten Buch. 52 Mit einer Häufung am Anfang und Ende des Buches: 8,2; 4; 8; 11; 15; 21; 24; 36; 39; 49(50); 56(54); 65; 78; 80; 82. Zu den Domitiangedichten innerhalb der Buchstruktur von 8 vgl. Schöffel (2002) 24–26. Allerdings beinhaltet das neunte Buch als Höhepunkt einer klimaktischen Entwicklung von Buch 7 an (vgl. die Widmung an Domitian in Epigr. 7,1,3) die höchste Zahl an Domitianepigrammen: Henriksén (2012) xxxi. Es ist hier nicht der Ort für eine Auseinandersetzung mit Martials Domitianverhältnis; ich verweise darum e. gr. auf zwei ganz unterschiedliche Ansätze: Lorenz (2002) mit literarisch-fiktionaler Ausrichtung und Leberl (2004) mit einem historischen Schwerpunkt (mit Kritik an Lorenz auf S. 354–357). 53 9 pr. 1: frater carissime. 54 Zu diesem Ausdruck: Henriksén (2012) 5–6. 55 Implizit ist dies schon beim Schlussepigramm der ersten Praefatio der Fall: Vgl. zu dieser Fitzgerald (2007) 70: „The preface undermines its own prefatory status by debouching into a four-line epigram, the first poetry in the book, but still the end of the ‚epistle‘ rather than the beginning of the book of epigrams.“ Vgl. auch die Überleitung von Praefatio zu erstem Epigramm in Buch 8.
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in einem weiteren Epigramm für eine Martialbüste in Avitus’ Bibliothek angesprochen wird (lector, V. 6).56 Ganz anders hingegen zeigt sich die Epistel zum zwölften Buch: Sie stellt den Dichter fern von Rom in Spanien vor57 und bringt eine Entschuldigung für die Publikationspause.58 Die epistolare Facette der Freundschaftspflege auf Distanz ist hier relativ deutlich fassbar. Genaueres zum Buch erfährt der Leser allerdings nicht. Gemeinsam ist Statius und Martial gleichwohl die Praefatio als Ort autobiographischer Inszenierung inkl. Freundschaftspflege59 und poetologischer Reflexion. Darüber hinaus jedoch unterscheidet sich die Funktionalisierung der Praefatio bei Martial erheblich von derjenigen bei Statius. Von einigen motivischen Verknüpfungen zu den folgenden ersten Epigrammen abgesehen, führen keine Linien von der Praefatio zum Inhalt des Buches. Sofern die Praefatio namentlich adressiert ist, offenbart sie über den Adressaten nichts und zeigt, mit Ausnahme von Buch 8 in Bezug auf Domitian, auch keine Bezüge von Adressat zu Gedichten innerhalb des Buches.60 Überhaupt lässt Martial hinsichtlich der Adressaten seiner Prosa-Praefationes so gut wie nichts über deren Status erfahren.61 Allein schon aufgrund der wesentlich höheren Gedichtzahl gegenüber den Silvae können die Praefationes Martials die Inhaltsangabenfunktion nicht in einer vergleichbaren Form erfüllen.62 Allenfalls die annoncierte Einschränkung auf züchtigere Epigramme in Buch 8 bringt eine thematische Orientierung zumindest in Umrissen. Die Praefatio erscheint bei Martial demgegenüber als weitere Möglichkeit, den witzig-epigrammatischen Charakter auszuspielen, sei es in der Praefatio über Praefationes in 2 oder der Praefatio als Medium für ein zusätzliches Epigramm in 9 oder der Praefatio ohne expliziten Adressaten in 1.
|| 56 Zur besonderen Stellung dieser Praefatio vgl. Fitzgerald (2007) 151. 57 Zu Martials Rezeption von Ovids Exilpoesie vgl. Johannsen (2006) 111–120. 58 12 pr. 1–2: scio me patrocinium debere contumacissimae trienni desidiae. 59 Bei Martial gilt dies besonders für die Praefationes zu Buch 9 und in noch höherem Maße zu 12 (vgl. Anm. 64). Diese Inszenierung ist selbstverständlich, wie bei Statius, nicht auf die Praefationes beschränkt, vgl. bspw. 10,2 zur zweiten Edition des zehnten Buches. 60 Decianus erscheint neben der Praefatio nur in 2,5 als Adressat; Toranius nach 9 pr. nicht mehr; Priscus hingegen nach der Praefatio etwas häufiger: 12,1; 3; 14; 92. 61 Die wenigen Ausnahmen (vgl. die Titel Domitians im Präskript zu 8 pr. und die Anrede frater in 9 pr. 1) weichen kaum davon ab. 62 So schon Coleman (1998) 54.
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Statius’ Praefationes tragen dem Distinktionsbedürfnis der Adressaten seiner Silven auch in der exklusiven Ausrichtung der Vorworte Rechnung.63 Dafür eignet sich eine Praefatio zu einem Epigrammbuch mit seinen vielen Einzelgedichten und Adressaten nicht in gleicher Weise. Prägnante Ausnahme ist Martials achtes Buch mit seinem buchbestimmenden Adressaten Domitian, das sich auch in der Gestaltung der Praefatio näher auf Statius’ Praxis zubewegt als sonst.64
6 Schluss Fassen wir im Rückblick also zusammen: Dass die Silvenpraefationes nicht nur auf das im Adresskopf genannte Individuum hin gedacht sind, sondern ein weiteres Publikum immer mit im Blick ist, wurde immer wieder in der Silvenforschung betont.65 Besonders pointiert hat Carole Newlands dies zum Anlass genommen, die Funktion der Praefationes gerade in dieser Mittlerrolle zu sehen, und zwar konkret in dem Sinne, dass sie die Tür zu Statius’ Welt für einen weiteren Leserkreis eröffnen, der nicht Teil des engeren sozialen Netzwerkes ist.66 Sicher richtig ist, dass allein schon die Veröffentlichung zunächst für einen engeren Kreis gedachter Werke eine Tür zu eben genau dieser Welt zu eröffnen scheint. Aber gerade hier liegt das eigentliche Problem: Die Eröffnung selbst geschieht schon durch die Silven an sich. Nun werden diese aber mit einem Vorwort verbunden, das rein theoretisch durchaus die Möglichkeit böte, Details über den Anlass, den Adressaten, die Abfassung usw. zu präsentieren und zumindest virtuell den Anlass wieder erstehen zu lassen. Gerade das tun die Praefationes jedoch nicht. Es ist bei genauerer Betrachtung zu sehen, wie die Praefationes im Gegenteil sehr spärlich mit solchen Informationen ausgestattet sind und kaum mehr als das eigentliche Gedicht bieten. Der Leser, der sich anhand der Silve und der Angaben der Praefatio, den Anlass zu imaginieren versucht, wird immer mit dem hypothetischen Charakter
|| 63 Vgl. dazu die Untersuchung von Zeiner (2005), die die Steigerung des Sozialprestiges durch die Silvae herausarbeitet. 64 Vielleicht ließe sich noch die besonders intensiv ‚autobiographische‘ Praefatio zu 12 mit ihrer Freundschaftspflege als Parallelfall zu Statius heranziehen. Deren Adressat Priscus erscheint in immerhin fünf weiteren Epigrammen des Buches, in vier davon als Adressat (12,1; 3; 14; 92, außerdem in 12,62,5). 65 Vgl. u.a. Coleman (1988) 55, Rühl (2006) 127, zuletzt Parker (2014) 126. 66 Newlands (2008) 232 und 238 (s.o. 2).
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seiner Rekonstruktion leben müssen und daher den Abstand als umso deutlicher wahrnehmen. Stattdessen knüpfen die Praefationes ein enges Band zwischen Dichter und Widmungsträger67 und weisen in poetologischen Überlegungen die ceteri darauf hin, dass sie nicht im Besitz der ästhetischen Voraussetzungen für einen adäquaten Genuss der Silven sind; ja mehr noch, dass selbst wenn sie sich dieses Defizits bewusst sind, die Voraussetzungen für das adäquate Verständnis zum einen unwiederholbar in der Vergangenheit liegen und die Leser zum anderen sozial in der Gegenwart auch viel zu entfernt sind, um ein vergleichbares Erlebnis haben zu können. Darüber hinaus erweist sich der Einsatz des Briefmediums als Teil dieser Enttäuschungsstrategie: Ein Brief ist in Statius’ Zeit schon längst ein Medium mit semi-öffentlicher Nuance geworden. Seine Leser kennen ja bereits eine lange Tradition veröffentlichter Briefe bekannter Persönlichkeiten.68 Aber eben diese Erwartungen enttäuschen sie nicht weniger pointiert, als sie sie erzeugen. Für uns moderne Leser wie auch für den größeren Teil der antiken Leser, so darf man wohl annehmen, bleiben nicht wenige Verweise oder denkbare Bezüge wie die Identität der Polla in den Einleitungsbriefen unklar. Wir haben gerade kein Briefkorpus, vielleicht sogar mit Antwortbriefen, das eine wirkliche Korrespondenz darstellt. Vielmehr ist der Widmungsbrief isoliert und betont dadurch den Ausschnittcharakter. Der Leser darf in diese private Welt hineinschauen, ohne darauf zu hoffen, etwas Privates zu erfahren. Der Widmungsbrief verbindet Adressat und Dichter gegenüber dem Leser zu einer unzugänglichen Kommunikation. In diesem Sinne sorgen die Praefationes für Exklusivität, nicht für Inklusion. Die Praefationes sind nicht die Schwelle, über die der Leser Eintritt erlangt, sondern die Tür, die den Abstand augenfällig inszeniert. Unbedingt hinzufügen muss man hier jedoch, dass die Praefationes keine Form der Publikumsbeschimpfung avant la lettre sind. Sie entfalten auch für
|| 67 Vgl. die jeweils rahmenden Charakterisierungen des Verhältnisses zu Stella in 1 pr. 1–5/20– 23, zu Melior in 2 pr. 1–4/27–29, zu Pollius Felix in 3 pr. 1–6/23–25 und zu Marcellus in 4 pr. 1– 2/34–35. 68 Eine prägnante Übersicht bietet Trapp (2003) 12–31. Als Beispiele seien die Briefe Platons (gerade unabhängig von ihrer Echtheit!) und Epikurs oder auf lateinischer Seite diejenigen Ciceros genannt. Selbstherausgegebene Sammlungen (wie von Cicero, Att. 16,5,5, geplant und von Plinius nur wenige Jahre nach Statius verwirklicht) belegen die öffentlichkeitswirksame Bedeutung. An diese Funktionalisierung knüpft auch die Verwendung des Briefmediums in Senecas Epistulae Morales an (vgl. dort besonders die Zusicherung literarischen Nachruhms an den Empfänger Lucilius in epist. 21,3‒5; Epikur und Cicero dienen als historische Belege für dieses Versprechen).
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den weiteren Leserkreis einen eigenen ästhetischen Reiz, der mit den Lesegewohnheiten des antiken Publikums verbunden ist. Der biographisch orientierte Leser69 findet hier gewissermaßen Leerstellen70 für seine Deutung der Dichterpersona: Z.B. überredet Statius, wie gesagt, im dritten Buch seine Frau zum Umzug nach Neapel.71 In der vierten Praefatio erfährt der Leser, dass er sich nun in Neapel aufhält. Ob seine Frau ihm gefolgt ist, bleibt offen. Der Leser darf spekulieren, ob nur er umgezogen ist; ob die selbstverständliche Zustimmung der Ehefrau nicht weiter erwähnenswert ist – wir erinnern uns: securus ut cum uxore (3 pr. 22, s.o. 3.3). Dass solche Mechanismen tatsächlich funktionieren, können wir indirekt an einem Irrtum des Sidonius Apollinaris72 sehen: In einem Gedicht spricht er über die zwei Ehen der Polla und dem Kontext lässt sich entnehmen, dass mit dem zweiten Ehemann Statius gemeint sein müsste.73 Falls diese Identifikation stimmen sollte, so hat Sidonius dafür zwei separate Elemente kombiniert: 1) Statius’ Frau ist mit ihm laut Silvae 3,5,51–54 in zweiter Ehe verheiratet, ihr erster Mann war ebenfalls ein Dichter. 2) Polla war mit dem Dichter Lucan verheiratet, sie wird in der zweiten Praefatio als rarissima uxorum bezeichnet (2 pr. 23) – wessen Frau, das bleibt offen.74 Diese Kombination erschien dem Urheber dieser Verknüpfung, ob er nun Sidonius selbst ist oder nicht, so geistreich, dass ihm dabei allerdings entgangen ist, dass die dritte Praefatio den Namen von Statius’ Ehefrau explizit mit
|| 69 Einen prägnanten Überblick über die antike biographistische Lektüre bietet Korenjak (2003) 61–66. 70 Für das Konzept der Leerstelle und antike Vorläufer vgl. Bitto (2016). 71 S.o. Anm. 34 zu Silv. 3,5. 72 Zur Silvenrezeption des Sidonius Apollinaris vgl. Goldlust (2013) 201–210 und Consolino (2013). 73 Sidon. carm. 23,165–166: quid quos duplicibus iugata taedis / Argentaria Polla dat poetas? Da Sidonius in seinem umfangreichen Katalog lauter bekannte Dichter aufzählt, müssen die beiden hier genannten Ehemänner der Polla auch bekannte Dichter sein, es bleibt neben Lucan nur Statius. Eine Identifikation der Polla mit der Frau des Pollius Felix, wie von Nisbet (1978) vertreten (s.o. 3.2), ist innerhalb von Sidonius’ Katalog nicht denkbar, da Pollius trotz seiner literarischen Beschäftigungen (vgl. Silv. 2,2,112–115; 3 pr. 5–6) nicht in einer solchen Aufzählung hochrangiger Klassiker erscheinen könnte. Zu Sidonius’ Irrtum vgl. Vessey (1973/74), s. auch van Dam (1984) 454. 74 Von M1 sogar zu carissima ‚korrigiert‘, vgl. Vessey (1973/74) 38.
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Claudia benennt.75 Abgesehen von diesem Irrtum ist hier aber viel entscheidender genau dieses Kombinationsspiel mit Textdaten zu sehen, mit dem man dem historischen Dichter über den Text näherkommen möchte. Diesen ästhetischen Reiz können (und sollen) also die Praefationes dem weiteren Leserkreis bieten, der als Blind Carbon Copy eine Silvenausgabe mit Praefatio zur Hand nimmt.
Literaturverzeichnis 1. Ausgaben, Kommentare und Übersetzungen Coleman, Kathleen: Statius. Silvae IV, Oxford 1988. Courtney, Edward (Hg.): P. Papini Stati Silvae, Oxford 1990. van Dam, Harm-Jan: P. Papinius Statius, Silvae book II. A commentary, Leiden 1984 (Mnemosyne. Supplementum 82). Gibson, Bruce: Statius, Silvae 5, Oxford 2006. Henriksén, Christer: A Commentary on Martial, Epigrams Book 9, Oxford 2012. Lindsay, Wallace Martin (Hg.): M. Val. Martialis Epigrammata, Oxford ²1977. Schöffel, Christian: Martial, Buch 8, Stuttgart 2002 (Palingenesia 77). Vollmer, Friedrich: P. Papinii Statii Silvarum libri, Leipzig 1898.
2. Sekundärliteratur Bitto, Gregor: Properz 4,10 als Leerstelle, in: Gymnasium 123 (2016), 207–231. Bulman, Patricia: Phthonos in Pindar, Berkeley et al. 1992. Consolino, Franca Ela: Sidonio e le Silvae, in: Galand, Perrine; Laigneau-Fontaine, Sylvie (Hgg.): La Silve. Histoire d’une écriture libérée en Europe de l’antiquité au XVIIIe siècle, Turnhout 2013, 213–236. Dams, Peter: Dichtungskritik bei nachaugusteischen Dichtern, Diss. Marburg 1970. Fitzgerald, William: Martial. The World of the Epigram, Chicago/London 2007. Fögen, Thorsten: Statius’ Roman Penelope: Exemplarity, Praise and Gender in Silvae 3.5, in: Philologus 151 (2007), 256–272. Galand, Perrine; Laigneau-Fontaine, Sylvie (Hgg.): La Silve. Histoire d’une écriture libérée en Europe de l’antiquité au XVIIIe siècle, Turnhout 2013. Genette, Gérard: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt a.M. 1989 (urspr. Seuils, Paris 1987).
|| 75 3 pr. 21: Claudiam meam. Nach Vessey (1973/74) 38–39 ist nur ein Irrtum oder eine unbekannte Ursache als Erklärung denkbar; vgl. auch seine Anm. 8 (p. 39) über die zwei Senecae (carm. 23,161: quid celsos Senecas loquar).
202 | Gregor Bitto
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| V. Kommunikationsstrukturen und Rollenkonfigurationen bei Plinius d.J. und bei Lukian
Thorsten Fögen
Vom Epigramm zur Ekphrasis Zum Topos der brevitas in den Briefen des Jüngeren Plinius Ipse vitam iucundissimam, id est otiosissimam, vivo. Quo fit, ut scribere longiores epistulas nolim, velim legere, illud tamquam delicatus, hoc tamquam otiosus. Nihil est enim aut pigrius delicatis aut curiosius otiosis. (Plinius, Epist. 9,32) Mám nápad na velmi dobrý vánoční dárek, který bys mi mohla dát: že bys mi konečně zas napsala nějaký obsáhlejší dopis. (Václav Havel, Dopisy Olze, Praha 1999, 74)1
1 Einleitung Bei ihren Bezeichnungen für Briefe legen das Griechische und das Lateinische – und in deren Gefolge die meisten romanischen Sprachen und das Englische – in etymologischer Hinsicht den Akzent auf den geschriebenen Text als deren Hauptmerkmal (gr. γράμματα, lat. litterae) oder auf den Akt des Versendens (gr. ἐπιστολή, lat. epistula).2 Daneben existiert im Griechischen das feminine Substantiv δέλτος, das mit seiner Bedeutung ‚Schreibtafel‘ (aus Holz mit Wachsüberzug) auf die Materialität des Briefes verweist; mit seinem ursprünglichen Sinngehalt ‚Spaltholz‘ oder ‚glatt zugehauenes Holzbrett‘ ist es möglicherweise mit dem germanischen Wort ‚Zelt‘ (ahd. zelt, ags. teld) verwandt, das auch ‚Vorhang‘, ‚Decke‘ oder ‚Teppich‘ bedeuten kann.3 Demgegenüber signalisiert das || 1 Übersetzung: „Ich habe eine Idee für ein sehr gutes Weihnachtsgeschenk, das Du mir geben könntest: Du könntest mir endlich wieder einen umfangreicheren Brief schreiben“ (Briefe an Olga, 15. Brief vom 1. Dezember 1979). 2 Für eine genauere semantische Analyse der Substantive epistula und litterae siehe Gavoille (2000). Zur Herkunft von littera(e) siehe De Vaan (2008) 346: „WH [= Walde & Hofmann] reconstructs *lītes-ā, which would derive from an earlier adj. *lei-to- to the root of linō ‘to smear’: the semantics would be ‘smeared sign’ > ‘letter’. Yet morphologically, this scenario is completely unconvincing. The ppp. of linō is litus with a short vowel, and it is unlikely that from a ppp. *l(e)i-to- an s-stem *leit-e/os- would be derived without other cognate forms.“ 3 Siehe dazu Frisk (21973) 362. Auf das Schreibmaterial verweist auch das slawische Wort list (wörtl. ‚Blatt‘), das in dieser Form beispielsweise im Tschechischen, Slowakischen und Polnischen in der Bedeutung ‚Brief‘ auftritt. Siehe auch Machek (31971) 335: „Všeslov. Psl. listъ, pův.
https://doi.org/10.1515/9783110676303-009
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deutsche Wort ‚Brief‘ den üblichen oder prototypischen Umfang eines Sendschreibens. Freilich hat es ebenso wie das dänische, norwegische und schwedische brev, das isländische bréf und das niederländische brief seinen Ursprung im Lateinischen, wie ein Blick in ein etymologisches Wörterbuch zeigt: Mhd., ahd. brief, briaf gehen mit entsprechend asächs., afries., aisl. brēf zurück auf vlat. breve (scriptum) ‚kurzes (Schreiben), Urkunde‘, das für klass.-lat. breve – Neutrum von brevis ‚kurz‘ steht. Lange Zeit lebte das Wort vorwiegend in der Kanzleisprache und galt dort in der ursprünglichen Bedeutung von ‚Schreiben, offizielle schriftliche Mitteilung, Urkunde‘, wie sie noch heute erhalten ist in den Zusammensetzungen Schuldbrief, Freibrief, Frachtbrief, in dem Kompositum verbriefen ‚urkundlich garantieren‘ und in der Wendung ‚Brief und Siegel geben‘. Die heute übliche gemeinsprachliche Bedeutung entwickelte sich in mhd. Zeit, ausgehend von der schon älteren Zusammensetzung Sendbrief.4
Dass Kürze das zentrale Charakteristikum eines Briefes ist, wird also bereits durch den germanischen Begriff selbst nahegelegt. Dieser Umstand fügt sich zu Zeugnissen aus der griechisch-römischen Antike, die sich über die idealtypischen Eigenschaften von Sendschreiben äußern und dabei auch deren angemessenen Umfang thematisieren. Solche Reflexionen finden sich einerseits in rhetorischen Traktaten und Briefstellern (d.h. Handbüchern zur richtigen Abfassung von Briefen), andererseits in der Briefliteratur selbst, wie sie durch Autoren wie Cicero, Ovid, Seneca, den Jüngeren Plinius, Libanios, Gregor von Nazianz und viele andere repräsentiert wird.5 Das erste umfassendere Zeugnis stammt aus der Schrift Περὶ ἑρμηνείας des Demetrios, deren Datierung freilich umstritten ist.6 Im Rahmen einer viergliedrigen Lehre von den Stilen (χαρακτῆρες), die jeweils durch eine spezifische Wortwahl, die Anordnung der Wörter im Satz, den Satzrhythmus und bestimmte Themen gekennzeichnet sind, werden Briefe hier im Schlussteil des Ab-
|| jen o listu stromů a keřů“ [Übersetzung: „Allgemeinslaw. Urslaw. listъ, urspr. nur über das Blatt von Bäumen und Sträuchern“]. Im Tschechischen existiert außerdem der Begriff dopis, dessen wörtliche Bedeutung ‚Niederschrift‘ sich aus der Verbindung der als Präfix verwendeten Präposition do (‚bis [zu Ende]‘, hier im Sinne von ‚fertig‘) und des Verbums psát (‚schreiben‘) ergibt; betont wird also der Akt des Schreibens. 4 Drosdowski (21989) 98. 5 Zu antiken Reflexionen über die angemessene Abfassung von Briefen siehe ausführlicher Fögen (2018), mit weiterer Literatur. Die wichtigsten Zeugnisse sind im Original und mit englischer Übersetzung zusammengestellt bei Malherbe (1988); siehe auch Trapp (2003) 42‒46, 180‒193, 316‒326 und Klauck (1998) 148‒165. 6 Die Vorschläge zur Datierung reichen vom späten dritten oder frühen zweiten vorchristlichen Jahrhundert bis hin zum ersten nachchristlichen Jahrhundert. Siehe Fögen (2018) 45, Anm. 9.
Zum Topos der brevitas in den Briefen des Jüngeren Plinius | 209
schnitts zum ‚einfachen‘ oder ‚schlichten‘ Stil (ἰσχνός) diskutiert (§§ 223‒235 als Teil von §§ 190‒235). Dies signalisiert bereits, dass sie eine Textsorte darstellen, die nicht auf stilistische Erhabenheit abzielt. Zwar ähneln sie einem Dialog, dessen zweite Hälfte fehlt; aber im Gegensatz zu Konversationen sind sie schriftliche Erzeugnisse, deren Abfassung das Resultat eines genaueren Nachdenkens ist. Im Gegensatz zu mündlicher Kommunikation sollen daher in Briefen keine Satzbrüche (λύσεις) auftreten, weil sie das Verständnis beeinträchtigen (§ 226: ἀσαφὲς γὰρ ἐν γράφῃ ἡ λύσις). Exzessive Länge und stilistische Prätention sind in ihnen genauso fehl am Platz wie umfangreiche syntaktische Perioden (§ 228‒ 229). Damit grenzt Demetrios den Brief nicht nur vom mündlichen Dialog ab, sondern auch von epideiktischen Reden, Gerichtsreden, Dramen und komplexen Fachschriften wie naturwissenschaftlichen und philosophischen Traktaten. Die thematische und stilistische Begrenzung der Möglichkeiten verankert er in der Natur des Briefs (§ 231): Εἰ γάρ τις ἐν ἐπιστολῇ σοφίσματα γράφοι καὶ φυσιολογίας, γράφει μέν, οὐ μὴν ἐπιστολὴν γράφει. φιλοφρόνησις γάρ τις βούλεται εἶναι ἡ ἐπιστολὴ σύντομος, καὶ περὶ ἁπλοῦ πράγματος ἔκθεσις καὶ ἐν ὀνόμασιν ἁπλοῖς. Wenn jemand in einem Brief über logische Probleme und (Fragen der) Naturkunde schreibt, so schreibt er zwar, jedoch schreibt er keinen Brief. Der Brief will ein freundschaftliches Wohlwollen in kurzer Form zum Ausdruck bringen, und eine Ausführung über ein einfaches Thema in einfachen Worten sein.
Der Brief ist also als ein Freundschaftsdienst des Absenders gegenüber dem Empfänger definiert, dessen Umfang durchaus überschaubar bleibt. Selbst bei besonderen Adressaten wie Städten oder Königen, die einen gewissen stilistischen Aufschwung erforderten, dürfe man es mit der Elaboriertheit nicht zu weit treiben, weil sonst der Brief zum Traktat (σύγγραμμα) wird.7 Die Überlegungen des Demetrios zum Umfang von Sendschreiben finden sich in mehr oder weniger ähnlicher Form auch in späteren Zeugnissen. Ebenfalls in ein rhetorisches Traktat eingebettet sind die Gedanken des aus dem vierten nachchristlichen Jahrhundert stammenden Iulius Victor, der am Schluss seiner Schrift Rhetorica zwischen offiziellen (negotiales) und persönlichen (fa-
|| 7 Demetrios, De eloc. 234: Ἐπεὶ δὲ καὶ πόλεσίν ποτε καὶ βασιλεῦσιν γράφομεν, ἔστωσαν τοιαῦται αἱ ἐπιστολαὶ μικρὸν ἐξηρμέναι πως. στοχαστέον γὰρ καὶ τοῦ προσώπου ᾧ γράφεται· ἐξηρμένη μέντοι οὐχ ὥστε σύγγραμμα εἶναι ἀντ᾽ ἐπιστολῆς, ὥσπερ αἱ Ἀριστοτέλους πρὸς Ἀλέξανδρον καὶ πρὸς τοὺς Δίωνος οἰκείους ἡ Πλάτωνος.
210 | Thorsten Fögen
miliares) Briefen differenziert8 und für letztere das Gebot der Kürze als oberste Richtlinie postuliert.9 Freilich ist der Umfang eines Briefes letztlich abhängig von dessen Gegenstand: Bei einer Gratulation dürfe man weiter ausholen, um die Freude des Adressaten zu verstärken, während sich ein Kondolenzschreiben mit wenigen Worten begnügen solle, um den Schmerz des Empfängers nicht unnötig zu steigern.10 Dass es letztlich die Kommunikationssituation und das Thema sind, die idealerweise die Länge eines Briefes bestimmen sollten, wird auch in anderen Zeugnissen betont, so z.B. in den Ἐπιστολιμαῖοι χαρακτῆρες des spätantiken Pseudo-Libanios, der darauf aufmerksam macht, dass das Sinnverständnis und die Klarheit nicht durch übertriebene Kürze beeinträchtigt werden dürfen, sondern stattdessen ein gesundes Maß zwischen den Extremen einzuhalten ist. In manchen Fällen ist es also durchaus geboten, weiter auszuholen, um die Eingängigkeit der Ausführungen zu garantieren.11 In dieselbe Richtung weist auch Gregor von Nazianz, der Bischof von Konstantinopel (ca. 329‒390 n. Chr.) und Verfasser einer über 240 Einzeltexte umfassenden Briefsammlung, wenn er in seiner 51. Epistel an seinen Neffen Nikobulos eine kurze Theorie der Briefkunst umreißt und dabei συντομία nicht als ein absolutes Ideal für einen Brief ansetzt, sondern dessen Umfang durch dessen Thema determiniert wissen möchte.12 Wie wichtig Gregor dieser Grundsatz || 8 Siehe bereits Cicero, Pro Flacco 37: Haec quae est a nobis prolata laudatio obsignata erat creta illa Asiatica quae fere est omnibus nota nobis, qua utuntur omnes non modo in publicis sed etiam in privatis litteris quas cotidie videmus mitti a publicanis, saepe uni cuique nostrum. Ferner Pro Flacco 23: privatae litterae nullae proferuntur, publicae retentae sunt in accusatorum potestate. 9 Iulius Victor, Ars rhet. 27: In familiaribus litteris primo brevitas observanda: ipsarum quoque sententiarum ne diu circumferatur, quod Cato ait, ambitio, sed ita recidantur, ut numquam verbi aliquid deesse videatur. 10 Iulius Victor, Ars rhet. 27: Rem secundam prolixius gratulare, ut illius gaudium extollas: cum offendas dolentem, pauculis consolare, quod ulcus etiam, cum plana manu tangitur, cruentatur. 11 Pseudo-Libanios, Char. 49‒50: ὥσπερ γὰρ οὔτε τὸ πολὺ τὸν προκείμενον τοῖς τοξόταις σκοπὸν παρέρχεσθαι οὔτε τὸ ἐντὸς τοῦ σκοποῦ τοξεύειν καὶ πολὺ τοῦ προσήκοντος ἀποδεῖν ἀνδρός ἐστιν εὐφυοῦς τε καὶ στοχαστικοῦ, ἀλλὰ μόνου τοῦ συμμέτρως στοχαζομένου τοῦ σκοποῦ καὶ τοῦτον βάλλοντος, οὕτως οὔτε τὸ πέρα τοῦ προσήκοντος ληρεῖν οὔτε τὸ βραχυλογίαν ἀσπάζεσθαι δι᾽ ἀπορίαν καὶ τὸ σαφὲς ἐπικρύπτειν τῶν ἐπιστάλσεων ἀνδρός ἐστι λογίου, ἀλλὰ μόνου τοῦ μετ᾽ εὐφραδείας τῆς συμμετρίας στοχαζομένου καὶ τὸ λεγόμενον καλῶς σαφηνίζοντος. τὸ μὲν οὖν μέγεθος τῆς ἐπιστολῆς ὡς πρὸς τὰ πράγματα, καὶ οὐ πάντως τὸ πλῆθος καθάπερ κακίαν ἀτιμάζειν καλόν, ἀλλὰ δεῖ καί τινας ἐπιστολὰς ἀπομηκύνειν ἐν καιρῷ πρὸς τὴν ἀπαιτοῦσαν χρείαν [...]. 12 Zu Epist. 51 des Gregor von Nazianz siehe Guignet (1911) bes. 6‒14 und Grünbart (2007) 124‒ 130. Guignet (1911: 8) charakterisiert diesen Brief als „tout un petit traité épistolaire“ und ver-
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ist, zeigt sich auch daran, dass er für dessen Verdeutlichung die ersten drei von insgesamt acht Paragraphen, also beinahe die Hälfte dieser Epistel verwendet.13 Im Übrigen erstrecken sich die Gemeinsamkeiten mit Pseudo-Libanios sogar auf sprachliche Einzelheiten: Beide Autoren ziehen zum Vergleich das Bild der Bogenschützen heran, die sich mit mehr oder weniger Erfolg bemühen, ihr Ziel zu treffen. Die hier vorgestellten Gedanken des Iulius Victor, des Pseudo-Libanios und des Gregor von Nazianz belegen, dass in der späteren epistolographischen Theorie das Kriterium der Kürze für den Brief nicht unverrückbar ist, sondern je nach Umständen recht flexibel gehandhabt werden kann. Dass sich diese Auffassung in weiten Teilen mit der literarischen Briefpraxis vor allem der frühen Kaiserzeit deckt, soll nachfolgend am Beispiel der Episteln des Jüngeren Plinius (Bücher 1‒9) nachgewiesen werden.14
2 Plinius der Jüngere über den Umfang von Briefen Das epistolographische Werk des Jüngeren Plinius umfasst insgesamt 368 Briefe. Davon entfallen 247 auf die ersten neun, von ihm selbst herausgegebenen Bücher und 121 auf die als Buch 10 erhaltene Korrespondenz zwischen Plinius
|| weist auf dessen „ton entièrement didactique“ (1911: 9). Siehe bereits das Urteil von Christian Fürchtegott Gellert (1715‒1769) in seiner 1751 erschienenen Praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen (Gellert 1989: 127, Anm. 3): „Der kurze Brief des Gregorius von Nazianz an den Nicobulus, von der Kürze, der Deutlichkeit, und der Anmuth eines Briefs ist vielleicht mehr werth, als manche dicke Anweisung.“ 13 Gregor von Nazianz, Epist. 51,1‒3: Τῶν γραφόντων ἐπιστολὰς [...], οἱ μὲν μακρότερα γράφουσιν ἤπερ εἰκός, οἱ δὲ καὶ λίαν ἐνδεέστερα· καὶ ἀμφότεροι τοῦ μετρίου διαμαρτάνουσιν, ὥσπερ τῶν σκοπῶν οἱ τοξεύοντες, ἄν τε εἴσω πέμπωσιν, ἄν τε ὑπερπέμπωσι· τὸ γὰρ ἀποτυγχάνειν ἴσον, κἂν ἀπὸ τῶν ἐναντίων γίνηται. Ἔστι δὲ μέτρον τῶν ἐπιστολῶν, ἡ χρεία· καὶ οὔτε μακρότερα γραπτέον, οὗ μὴ πολλὰ τὰ πράγματα, οὔτε μικρολογητέον, ἔνθα πολλά. Τί γάρ; ῏Η τῇ περσικῇ σχοίνῳ μετρεῖσθαι δεῖ τὴν σοφίαν, ἢ παιδικοῖς πήχεσι, καὶ οὕτως ἀτελῆ γράφειν ὡς μηδὲ γράφειν, ἀλλὰ μιμεῖσθαι τῶν σκιῶν τὰς μεσημβρινὰς ἢ τῶν γραμμῶν τὰς κατὰ πρόσωπον ἀπαντώσας, ὧν συνιζάνει τὰ μήκη καὶ παραφαίνεται μᾶλλον ἢ φαίνεται τῶν ἄκρων τισὶ γνωριζόμενα, καὶ ἔστιν, ὡς ἂν εἴποιμι καιρίως, εἰκασμάτων εἰκάσματα; Δέον, ἀμφοτέρων φεύγοντα τὴν ἀμετρίαν, τοῦ μετρίου κατατυγχάνειν. 14 Der Briefwechsel zwischen Plinius und Kaiser Trajan in Buch 10 wurde aufgrund seines Sonderstatus bewusst aus der Untersuchung ausgeklammert.
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und dem Kaiser Trajan (regn. 98‒117 n. Chr.).15 Seine Sendschreiben erweisen ihn als einen Autor, der literarischen und kulturellen Fragen ein großes Interesse entgegenbringt und sich wiederholt als jemand präsentiert, der eine führende Rolle innerhalb eines Netzwerks Gleichgesinnter spielt. Dazu gehört es, dass er des Öfteren über sein vielfältiges schriftstellerisches Wirken Auskunft gibt und sich mit seinen Adressaten darüber austauscht; diese reagieren auf seine Ausarbeitungen mit freundschaftlicher Kritik, ebenso wie er umgekehrt auch deren Werke einer konstruktiven Beurteilung unterzieht. Es liegt also nahe, dass er nicht zuletzt über das Wesen seiner eigenen Briefe, aber auch der Sendschreiben anderer reflektiert. Seine Überlegungen erstrecken sich insbesondere auf den Umfang von Briefen. So beendet er beispielsweise sein Schreiben an Lupercus (Epist. 2,5), das er zusammen mit einem teilweise fertiggestellten Plädoyerentwurf an diesen schickt, mit dem Hinweis darauf, dass er sich in seinen Ausführungen schon zu weit habe fortreißen lassen und daher zum Schluss kommen müsse, um nicht das rechte Maß eines Briefes zu überschreiten.16 Interessant sind hier zwei weitere Dinge: Zum einen fällt der Vergleich des Briefes mit einer Rede (oratio) auf, bei dem Plinius davon ausgeht, dass es für beide Textsorten klar umrissene Vorstellungen von deren angemessenem Umfang gibt. Zum anderen ist seine Begründung dafür, dass sein Schreiben etwas länger ausgefallen ist, aufschlussreich: Er beruft sich nämlich auf das von ihm empfundene angenehme Gefühl, sich durch die Verwendung dieses Kommunikationsmediums mit seinem Adressaten gewissermaßen zu unterhalten (dulcedo quaedam tecum loquendi). Damit rekurriert er auf den verbreiteten Topos vom Brief als ‚Gespräch‘, als Gesprächsersatz oder als Teil eines Dialogs.17 Dafür, dass er die Konventionen der brevitas überschritten hat, entschuldigt er sich wiederholt bei seinen Empfängern – auch deshalb, weil er deren begrenzte Zeit nicht überstrapazieren möchte.18 Er fügt jedoch nicht selten gute
|| 15 Die Zahl der Studien zu Plinius dem Jüngeren ist in den letzten Jahren stark angewachsen. Zu den neuesten Monographien gehören Lefèvre (2009) und Gibson/Morello (2012). Sehr nützlich ist auch die Einführung von Wolff (2003). Noch immer lesenswert sind Bütler (1970) und Aubrion (1989). Weitere Hinweise auf Sekundärliteratur finden sich u.a. bei Häger (2015) und Fögen (2017). 16 Plinius, Epist. 2,5,13: Longius me provexit dulcedo quaedam tecum loquendi; sed iam finem faciam, ne modum, quem etiam orationi adhibendum puto, in epistula excedam. 17 Siehe dazu Fögen (2018) passim, mit weiterer Literatur, zu der Gavoille (2004) zu ergänzen ist. 18 So zum Beispiel in Epist. 7,9,15‒16: [...] et alioqui tam immodice epistulam extendi, ut dum tibi quemadmodum studere debeas suadeo, studendi tempus abstulerim.
Zum Topos der brevitas in den Briefen des Jüngeren Plinius | 213
Gründe für seine gelegentlich umfangreicheren Schreiben an. Es sei ausschließlich im Interesse seiner Adressaten geschehen – vor allem, wenn es sich um Themen handele, die eine ausführlichere Behandlung unumgänglich werden ließen. Dafür gibt es gleich mehrere Beispiele: Mit seiner umfassenden Auskunft über das intellektuelle und politische Wirken seines Onkels, des Älteren Plinius, möchte er Baebius Macer, den Empfänger von Epist. 3,5, nicht nur zur Lektüre von dessen Schriften anregen, sondern auch zu deren Nacheiferung ermuntern.19 Seine präzise Schilderung von komplexen, lange andauernden Gerichtsfällen wie dem Staatsprozess der Provinz Baetica, bei dem er zusammen mit Lucceius Albinus die Baeticer vertreten habe, dient einer Veranschaulichung der Einzelheiten und ist von ihm, wie er sagt, so knapp wie möglich gehalten.20 Auch die detaillierte Beschreibung seiner tuskischen Villa in Epist. 5,6 verfolgt einen konkreten Zweck: Plinius bietet damit seinem Adressaten Apollinaris nicht nur ein eingängiges plastisches Portrait der Örtlichkeiten (im Sinne einer möglichst großen ἐνάργεια), sondern führt ihn gewissermaßen durch die ganze Anlage. Das Lesen des Briefes vermag also die persönliche Anschauung zu ersetzen (Epist. 5,6,41):21 Vitassem iam dudum ne viderer argutior, nisi proposuissem omnes angulos tecum epistula circumire. Neque enim verebar, ne laboriosum esset legenti tibi, quod visenti non fuisset, praesertim cum interquiescere, si liberet, depositaque epistula quasi residere saepius posses.
|| 19 Plinius, Epist. 3,5,20: Extendi epistulam cum hoc solum quod requirebas scribere destinassem, quos libros reliquisset; confido tamen haec quoque tibi non minus grata quam ipsos libros futura, quae te non tantum ad legendos eos uerum etiam ad simile aliquid elaborandum possunt aemulationis stimulis excitare. 20 Plinius, Epist. 3,9,27: Non potui magis in rem praesentem te perducere. Dices: ‘Non fuit tanti; quid enim mihi cum tam longa epistula?’ Nolito ergo identidem quaerere, quid Romae geratur. Et tamen memento non esse epistulam longam, quae tot dies tot cognitiones tot denique reos causasque complexa sit. Quae omnia videor mihi non minus breviter quam diligenter persecutus. Siehe auch den Schlussteil (Epist. 3,9,36‒37), ferner Epist. 1,20, bes. 1,20,1‒3, 1,20,20‒21 und 1,20,24‒25; zu Epist. 1,20 siehe Schwerdtner (2015) 125‒133, 139‒147. Man vergleiche Epist. 4,17,11: quamquam non solum veniam me, verum etiam laudem apud istum ipsum, a quo (ut ais) nova lis fortasse ut feminae intenditur, arbitror consecuturum, si haec eadem in actione, latius scilicet et uberius quam epistularum angustiae sinunt, vel in excusationem vel etiam commendationem meam dixero. 21 Der lateinische Text wird in diesem Beitrag durchweg aus der OCT-Edition von Mynors (1966) zitiert (mit leicht veränderter Interpunktion), die Übersetzung aus der TusculumAusgabe von Kasten (71995), letztere zum Teil mit kleineren Modifikationen.
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Ich hätte schon längst innegehalten, um nicht allzu pedantisch zu erscheinen, wenn ich mir nicht vorgenommen hätte, brieflich mit Dir in jedem Winkel herumzukriechen. Ich brauche ja nicht zu befürchten, Dir könnte beim Lesen beschwerlich sein, was es beim Anschauen nicht gewesen wäre, zumal Du Dich doch, wenn Du Lust hast, ausruhen, den Brief aus der Hand legen und ab und zu gleichsam rasten kannst.
Hinzu komme, dass er in diesem Falle seinem Enthusiasmus für sein Landgut freien Lauf gelassen und mehr geschrieben habe als sonst. Mit diesem persönlichen, emotional motivierten Grund wirbt Plinius geschickt um Verständnis.22 Außerdem stellt er sich mit seiner Villenbeschreibung explizit in die Nachfolge der epischen Dichter und der von ihnen gepflegten Tradition der Ekphrasis.23 Dabei sei das Verweilen bei einem Gegenstand keineswegs langweilig, sondern durchaus gelungen und ansprechend, wenn man sich, wie er dies hier getan habe, tatsächlich darauf konzentriere und nicht auf Nebenschauplätze ausweiche. Als seine Vorbilder führt er Homers und Vergils Waffenbeschreibungen des Achill bzw. des Aeneas sowie Arats Aufzählungen der Himmelsgestirne an, die mit ihrem klaren Fokus ebenfalls keine überflüssigen Elemente enthielten.24 Dieser Vergleich mit epischen Vorläufern ist bemerkenswert, wenngleich Plinius direkt im folgenden Paragraphen mit einer Bescheidenheitsgeste seinem eigenen Text einen geringeren Status zuweist.25 Es tritt nichtsdestoweniger ein gewisser Stolz des Verfassers auf seine Leistung zutage, die durch den Rückgriff auf typische epische Elemente wie die Ekphrasis seinen Brief in die Nähe erhabener Gattungen rückt. Die flexible Natur dieser Textsorte gestattet ihm solche Techniken durchaus; denn sie ist hinreichend offen, um Elemente aus anderen
|| 22 Plinius, Epist. 5,6,41: Praeterea indulsi amori meo; amo enim, quae maxima ex parte ipse incohavi aut incohata percolui. 23 Für eine ausführlichere Betrachtung von Epist. 5,6 im Rahmen der ekphrastischen Tradition siehe beispielsweise Chinn (2007). Allgemeiner zu Plinius’ Villen-Briefen siehe zuletzt u.a. Wolff (2003) 62‒66, Lefèvre (2009) 223‒245 und Gibson/Morello (2012) 200‒233. 24 Plinius, Epist. 5,6,42‒43: In summa (cur enim non aperiam tibi vel iudicium meum vel errorem?) primum ego officium scriptoris existimo, titulum suum legat atque identidem interroget se, quid coeperit scribere, sciatque, si materiae immoratur, non esse longum, longissimum, si aliquid accersit atque attrahit. Vides, quot versibus Homerus, quot Vergilius arma, hic Aeneae, Achillis ille, describat; brevis tamen uterque est, quia facit, quod instituit. Vides, ut Aratus minutissima etiam sidera consectetur et colligat; modum tamen servat. Non enim excursus hic eius, sed opus ipsum est. 25 Plinius, Epist. 5,6,44: Similiter nos, ut parva magnis, cum totam villam oculis tuis subicere conamur, si nihil inductum et quasi devium loquimur, non epistula, quae describit, sed villa, quae describitur, magna est. Zu der Wendung ut parva magnis, die u.a. an eine Passage in Vergils Georgica (4,176‒178) und einen Vers in dessen Eklogen (1,23) erinnert, siehe zuletzt Schwerdtner (2015) 245‒249.
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Gattungen zu inkorporieren und damit zu einer Art ‚Super-Genre‘ zu werden, das gewissermaßen alle übrigen Genera überdacht.26 Darüber hinaus gibt es Situationen, in denen Plinius die ‚Schuld‘ für einen umfangreichen Brief dessen Empfänger zuweist, wenn auch in scherzhaftironischer Manier. So sei sein immerhin sechsundzwanzig Paragraphen umfassendes Schreiben an Ummidius Quadratus (Epist. 9,13) nur deshalb so lang geworden, weil dieser zusätzlich zur Lektüre der Schrift des Plinius zur Rechtfertigung des Helvidius Priscus (De Helvidi ultione) auch eine briefliche Schilderung der Affäre erbeten hatte, die Quadratus aus Altersgründen nicht persönlich verfolgen konnte. Daher habe dieser es sich nun selbst zuzuschreiben, wenn Plinius seiner Bitte nachgekommen sei und ihm einen Brief gesendet habe, der es an Länge mit seiner vorausgegangenen Schrift zu dem betreffenden Fall durchaus aufnehmen könne. Freilich bietet der Brief aus seiner Sicht den Vorteil, Dinge zu thematisieren, die in einer offiziellen Darstellung fehlen.27 Andererseits hat der Brief als Kommunikationsmedium gewisse Grenzen. Zwar fühlt sich Plinius durchaus kompetent genug, die unterschiedlichen Ansichten von Personen in seinen Schreiben wiederzugeben und diese dabei in ihren Meinungen sogar hinreichend lebendig werden zu lassen.28 Doch fehlen dem Brief, wie bereits Cicero erkannt hatte,29 letztlich non-verbale Elemente wie Gesichtsausdruck, Gesten und Stimme, was Fehlinterpretationen seiner Inhalte || 26 Siehe dazu ausführlicher Fögen (2017), der besonders auf Bestandteile der Komödie, der philosophisch-pädagogischen Lehrschrift und der exempla-Literatur in den Briefen des Plinius eingeht. Zu Elementen der Tragödie bei Plinius siehe Fögen (2015) 33‒35. 27 Plinius, Epist. 9,13,1: Quanto studiosius intentiusque legisti libros, quos de Helvidi ultione composui, tanto impensius postulas, ut perscribam tibi, quaeque extra libros quaeque circa libros, totum denique ordinem rei, cui per aetatem non interfuisti. Ferner Epist. 9,13,26: Habes epistulam, si modum epistulae cogites, libris quos legisti non minorem; sed imputabis tibi, qui contentus libris non fuisti. 28 Plinius, Epist. 2,18,3: Quod superest, cum omnes qui profitentur audiero, quid de quoque sentiam scribam, efficiamque quantum tamen epistula consequi potero, ut ipse omnes audisse videaris. 29 Cicero, Att. 14,13B: Quod mecum per litteras agis unam ob causam mallem coram egisses; non enim solum ex oratione, sed etiam ex vultu et oculis et fronte, ut aiunt, meum erga te amorem perspicere potuisses. Man vergleiche damit Goes (1949) 70‒71: „[...] der Brief ist nicht nur die ruhigere und bedachtere, sondern auch die kühlere und fremdere Form. Man kann dem geschriebenen Wort nicht mitgeben das Lächeln in den Augen, mit welchem man den Satz bei der Niederschrift begrüßt hat, nicht den herzlichen Klang der Stimme, nicht das versöhnliche Zögern der Gebärde.“ Siehe jedoch Altman (1982) 135: „The status of the letter as a written, tangible document, moreover, enables epistolary discourse to introduce its own extraverbal signs equivalent to tones and gestures in oral discourse. Tears, handwriting, punctuation, and even spelling may be part of the message.“
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nicht gänzlich ausschließt – vor allem in rechtlichen Fragen, die für gewöhnlich eine längere, detaillierte Darlegung erforderten. Was man also bei einer mündlichen Konversation aufgrund der automatisch dazugehörigen, deutlich wahrnehmbaren non-verbalen Zusatzinformationen vergleichsweise gerafft mitteilen könne, nehme in einem Brief zwangsläufig breiteren Raum ein.30 Ausführlichere Briefe wertet Plinius ferner als Zeichen von hoher Wertschätzung und Freundschaft. Sie seien deshalb sehr zu begrüßen. Im Hintergrund steht dabei die Idee, dass man mit seiner Antwort auf ein umfangreicheres Schreiben nach Möglichkeit nicht dahinter zurücksteht, sondern etwas mindestens Gleichwertiges entgegensetzt. Dies zeigt sich beispielsweise an dem folgenden Passus, der einen fünfundzwanzig Paragraphen langen Brief abschließt (Epist. 2,11,25): Habes res urbanas; invicem rusticas scribe. Quid arbusculae tuae, quid vineae, quid segetes agunt, quid oves delicatissimae? In summa, nisi aeque longam epistulam reddis, non est, quod postea nisi brevissimam exspectes. Da hast Du die Neuigkeiten aus der Stadt; schreib’ Du mir im Gegenzug, was auf dem Lande passiert ist. Wie steht es um Dein Zwergobst, Deine Weinstöcke, Deine Saaten, Deine allerliebsten Lämmer? Um es kurz zu machen: Antwortest Du nicht mit einem ebenso langen Brief, kannst Du hinfort auch nur einen ganz kurzen erwarten.
Die Stadt als Gegenstand des plinianischen Schreibens wird mit dem Land als zu erwartendem Inhalt der erbetenen Antwort des Arrianus Maturus kontrastiert, stilistisch abgebildet durch den Chiasmus der Prädikate (habes – scribe) und der Akkusativobjekte (res urbanas – rusticas) im ersten Satz. Zugleich suggeriert Plinius mit seiner sich daran anschließenden vierteiligen Frage, jeweils eingeleitet durch das Interrogativpronomen quid, die Themen, denen sich sein Korrespondenzpartner in seiner Erwiderung widmen könnte. Der Schlusssatz ist als eine scherzhafte Drohung formuliert und signalisiert den urbanen Humor des Plinius, wie er sich auch an anderer Stelle findet; so kündigt er am Ende von Epist. 4,11 seinem Adressaten Cornelius Minicianus gar an, nicht nur die Seiten, sondern auch die Zeilen und Silben von dessen Replik auf seinen Brief zu zäh-
|| 30 Plinius, Epist. 5,7,5‒6: Haec ego scribere publice supersedi, primum quod memineram pro necessitudine amicitiae nostrae, pro facultate prudentiae tuae et debere te et posse perinde meis ac tuis partibus fungi; deinde quia verebar, ne modum, quem tibi in sermone custodire facile est, tenuisse in epistula non viderer. Nam sermonem vultus gestus vox ipsa moderatur, epistula omnibus commendationibus destituta malignitati interpretantium exponitur.
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len.31 Trotz des heiter-ironischen Tones ist in solchen Fällen die nachdrücklich akzentuierte Symbolfunktion eines langen Briefes nicht von der Hand zu weisen. Das Bild von einem umfassenden Sendschreiben als einer adäquaten Gegengabe findet sich im Übrigen mehrfach im Korpus der Plinius-Briefe.32 Der Schluss von Epist. 2,12 ist dafür ein gutes Beispiel (Epist. 2,12,6‒7): Implevi promissum priorisque epistulae fidem exsolvi, quam ex spatio temporis iam recepisse te colligo; nam et festinanti et diligenti tabellario dedi, nisi quid impedimenti in via passus est. Tuae nunc partes, ut primum illam, deinde hanc remunereris litteris, quales istinc redire uberrimae possunt. Ich habe mein Versprechen erfüllt und das in meinem vorigen Brief gegebene Wort eingelöst; Du wirst ihn, wie ich aus der verstrichenen Zeit schließe, inzwischen erhalten haben, denn ich habe ihn einem flinken, zuverlässigen Kurier mitgegeben, es sei denn, unterwegs wäre ihm etwas in die Quere gekommen. Jetzt ist es an Dir, Dich zunächst für jenen, alsdann für diesen erkenntlich zu zeigen durch Briefe, so reichhaltig, wie sie nur irgend von dort kommen können.
Die Idee von der brieflichen Erwiderung als Gegengeschenk oder gar Belohnung wird hier explizit durch das Verbum remunerari hervorgehoben.33 Außerdem unterstreicht Plinius durch den Verweis auf einen eigens ausgesuchten gewissenhaften Briefboten (tabellarius) sein Bemühen um zügige Zustellung.34 Damit bedeutet er seinem Empfänger, dass ihm an einem reibungslosen Briefverkehr mit diesem gelegen ist – auch dies ein Zeichen der Freundschaft.
|| 31 Plinius, Epist. 4,11,15‒16: Vides, quam obsequenter paream tibi, qui non solum res urbanas, verum etiam peregrinas tam sedulo scribo, ut altius repetam. Et sane putabam te, quia tunc afuisti, nihil aliud de Liciniano audisse quam relegatum ob incestum. Summam enim rerum nuntiat fama non ordinem. Mereor, ut vicissim, quid in oppido tuo, quid in finitimis agatur (solent enim quaedam notabilia incidere), perscribas, denique, quidquid voles, dum modo non minus longa epistula, nuntia. Ego non paginas tantum, sed versus etiam syllabasque numerabo. 32 Zu brieflicher Korrespondenz als Austausch von ‚Geschenken‘ oder ‚Gaben‘ im Kontext von amicitia siehe die Ansätze bei Wilcox (2012), deren Untersuchung allerdings auf Cicero und Seneca beschränkt ist. 33 Siehe bereits Cicero, Att. 8,1,4: Ego si somnum capere possem, tam longis te epistulis non obtunderem. tu, si tibi eadem causa est, me remunerere sane velim. Ferner Att. 9,8,1: exspectabam omnino iam diu meque sustinebam ne ad te prius ipse quid scriberem quam aliquid accepissem, ut possem te remunerari quam simillimo munere. 34 Auch Cicero bezieht sich in seinen Briefen immer wieder auf die Modalitäten ihrer Zustellung und erwähnt dabei auch Briefboten. Siehe dazu vor allem Schröder (2004/05) 196‒198, 200‒201, Bernard (2013) 47‒52 und Schröder (2018).
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Vor allem wenn man längere Zeit nichts von jemandem gehört hat, ist ein ausführlicheres Sendschreiben überaus willkommen. Dies ist das Thema von Epist. 2,2, einem kurzen Text, in dem Plinius seinem Zorn darüber Ausdruck verleiht, dass er von Paulinus lange keinen Brief erhalten habe.35 Er leitet seine Ausführungen folgendermaßen ein (Epist. 2,2,1): Irascor, nec liquet mihi, an debeam, sed irascor. Scis, quam sit amor iniquus interdum, impotens saepe, μικραίτιος semper. Haec tamen causa magna est, nescio an iusta; sed ego, tamquam non minus iusta quam magna sit, graviter irascor, quod a te tam diu litterae nullae. Ich bin böse, nur weiß ich nicht recht, ob ich es darf, aber jedenfalls bin ich böse. Du weißt, wie ungerecht Liebe bisweilen ist, wie unbeherrscht oft und immer empfindlich. Bei mir ist es jedoch ein schwerwiegender, vielleicht auch triftiger Anlass; jedenfalls bin ich ernstlich böse, als wäre er nicht weniger triftig als schwerwiegend, weil ich von Dir so lange keinen Brief bekommen habe.
Durch die dreimalige Verwendung des Verbums irasci, im dritten Falle verstärkt durch das Adverb graviter, gibt er Paulinus seine Gemütslage besonders nachdrücklich zu verstehen. Zwar schwankt er ein wenig, ob seine Haltung wirklich angemessen ist. Doch ist er, wie er sagt, letztlich der Auffassung, dass seine Enttäuschung berechtigt ist – eine Erkenntnis, die durch die betonte Stellung von litterae nullae am Satzende wirkungsvoll gesteigert wird.36 Dass sein Zorn letztlich eine ironische Pose ist, zeigt der folgende Paragraph, in dem er Paulinus kategorisch darauf verpflichtet, seine Säumigkeit durch möglichst viele und noch dazu lange Briefe wiedergutzumachen und ihn dadurch zu besänftigen; das hier verwendete Verbum exorare steht dabei in direktem Kontrast zu irasci und ist in gleicher Weise direkt am Satzanfang positioniert. Auch dass Plinius keinerlei Entschuldigungen oder Ausreden akzeptieren werde, verleiht seinem Schreiben eine Rigorosität, die bewusst überzogen wirkt, aber zugleich sein starkes Bedürfnis nach Kontakt mit Paulinus bezeugt.37 Eine ähnliche Situation liegt Epist. 9,2 zugrunde; allerdings ist es hier Plinius, der aus verschiedenen Gründen gegenüber seinem Adressaten Sabinus || 35 Einige gute Beobachtungen zu Epist. 2,2 finden sich bei Whitton (2013) 83‒89. Siehe auch Marchesi (2008) 88‒96. 36 Dazu trägt im Übrigen auch die elliptische Konstruktion des Kausalsatzes bei. Ein Verbum fehlt hier, so dass alles auf die Wortgruppe litterae nullae hinausläuft. Zur Topik dieser Beschwerde siehe Whitton (2013) 86. 37 Plinius, Epist. 2,2,2: Exorare me potes uno modo, si nunc saltem plurimas et longissimas miseris. Haec mihi sola excusatio vera, ceterae falsae videbuntur. Non sum auditurus ‚non eram Romae‘ vel ‚occupatior eram‘; illud enim nec di sinant, ut ‚infirmior‘.
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säumig ist und von dem nun Sabinus möglichst viele, umfangreiche Briefe als Wiedergutmachung erwartet.38 Er äußert Verständnis dafür, dass Sabinus möglicherweise mit Plinius’ Entschuldigung für seine letzthin eher spärliche Korrespondenz nicht zufrieden ist, deutet es jedoch zugleich als ein Zeichen größter Zuneigung, wenn man seinen Freunden die Kürze ihrer Briefe nicht verzeiht.39 Nach dieser pointierten Formulierung widersprechen sich brevitas und amicitia also. Geradezu apologetisch wird Plinius in Epist. 5,2 an Calpurnius Flaccus, der ihm einige Drosseln geschickt hatte. Da er auf seinem Laurentiner Landsitz kein adäquates Gegengeschenk zur Verfügung hat, revanchiert er sich lediglich mit einem Brief, der sich als eine ebenso kurze wie einfache Dankesnote präsentiert. Dabei rechnet er mit Flaccus’ Bereitschaft, ihm eine solch karge Gabe deshalb zu verzeihen, weil sein Schreiben ohnehin nicht den Anspruch darauf erhebe, mit etwas sonderlich Beeindruckendem aufzuwarten.40 Das von ihm in diesem Zusammenhang verwendete Attribut sterilis hat die Bedeutung ‚unfruchtbar‘, ‚ertraglos‘ oder auch ‚leer‘ und ließe sich so interpretieren, dass der Brief ‚mit leerer Hand‘, also ohne ein Geschenk daherkommt; man könnte allerdings zugleich an stilistische Leere und fehlende Ausgefeiltheit denken. In der Tat ist dieser Brief sehr bündig gehalten, jedoch nicht völlig kunstlos, wie die Erwähnung der mythischen Figur des in der homerischen Ilias auftretenden Diomedes zeigt, mit der – passend zum Thema von Epist. 5,2, das schon durch die jeweils zu Beginn der beiden Paragraphen stehenden Prädikate accepi (Epist. 5,2,1) und recipies (Epist. 5,2,2) umrissen wird – auf die bei den Griechen etablierte Praxis des gegenseitigen Schenkens verwiesen wird. Angespielt wird konkret auf den Waffentausch zwischen dem Argiver Diomedes und dem Lykier Glaukos, mit dem die väterliche Gastfreundschaft besiegelt werden sollte.41 Die Gaben, die || 38 Plinius, Epist. 9,2,1: Facis iucunde, quod non solum plurimas epistulas meas, verum etiam longissimas flagitas; in quibus parcior fui, partim quia tuas occupationes verebar, partim quia ipse multum distringebar plerumque frigidis negotiis, quae simul et avocant animum et comminuunt. Praeterea nec materia plura scribendi dabatur. 39 Plinius, Epist. 9,2,5: Habes, ut puto, iustam excusationem, quam tamen dubito an tibi probari velim. Est enim summi amoris negare veniam brevibus epistulis amicorum, quamvis scias illis constare rationem. 40 Plinius, Epist. 5,2,2: Recipies ergo epistulas steriles et simpliciter ingratas, ac ne illam quidem sollertiam Diomedis in permutando munere imitantes. Sed, quae facilitas tua, hoc magis dabis veniam, quod se non mereri fatentur. 41 Die Szene findet sich bei Homer, Il. 6,215‒236, bes. 6,234‒236: ἔνθ᾽ αὖτε Γλαύκῳ Κρονίδης φρένας ἐξέλετο Ζεύς, | ὃς πρὸς Τυδεΐδην Διομήδεα τεύχε᾽ ἄμειβε | χρύσεα χαλκείων, ἑκατόμβοι᾽ ἐννεαβοίων. Eine ausführlichere Diskussion dieser Szene, einschließlich ihrer Einschätzung bei verschiedenen antiken Autoren, bietet Wagner-Hasel (2000) 91‒104, mit weiterer Literatur.
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die beiden homerischen Helden untereinander austauschen, sind jedoch nicht gleichwertig – ebenso wenig wie der Brief des Plinius in seinem Wert den prächtigen Drosseln des Flaccus entspricht. Bei aller Schlichtheit und Verknappung weist der Brief somit für den literaturbeflissenen Leser eine amüsante intertextuelle Referenz auf. Auch die Schlussbemerkung mit ihrem Verweis auf Flaccus’ Umgänglichkeit (facilitas) ist eine ansprechend formulierte, einnehmende Höflichkeitsbezeugung gegenüber dem Adressaten. Insgesamt wirkt das kleine Sendschreiben beinahe wie ein Epigramm in Prosaform und ist damit letztlich als ein Geschenk doch nicht völlig ungeeignet.
3 Plinius der Jüngere über Stil und Gehalt von Briefen Neben dem Aspekt des angemessenen Umfangs geht Plinius auch auf andere Eigenschaften wie den Stil und Gehalt von Briefen ein. Gleich zu Beginn seines ersten Buches verweist er darauf, dass seine durch das Zureden des Septicius Clarus motivierte Sammlung lediglich solche Briefe enthält, die einigermaßen sorgfältig stilisiert seien.42 Es handelt sich also nicht um gewöhnliche Schreiben, die rasch hingeworfen sind und einen rein pragmatischen, primär auf Informationsübermittlung bedachten Charakter haben, sondern – unabhängig von ihrer Länge – um Produkte einer durchdachten Komposition, die zudem nicht allein für die eigentlichen Adressaten bestimmt sind, sondern für eine breitere Leserschaft, wie es in der Natur einer eigens edierten Anthologie liegt. Welches Stilideal Plinius verfolgt, lässt sich anhand verschiedener Hinweise in seinen Briefen ermessen. Instruktiv ist dabei vor allem Epist. 7,13 an Ferox, dessen epistolographische Kunst Plinius als den Inbegriff einer scheinbar mühelosen, unaufdringlichen Eleganz sieht, die er mit eben diesem kleinen Brief aufzugreifen versucht. Seine eigene Epistel, die in Struktur und Gedankengang wie ein klassisches Epigramm angelegt ist, wird damit gleichsam zum Spiegel|| 42 Plinius, Epist. 1,1,1: Frequenter hortatus es ut epistulas, si quas paulo curatius scripsissem, colligerem publicaremque. Collegi non servato temporis ordine (neque enim historiam componebam), sed ut quaeque in manus venerat. Man vergleiche Seneca, Epist. 75,1: Minus tibi accuratas a me epistulas mitti quereris. Quis enim accurate loquitur nisi qui vult putide loqui? Qualis sermo meus esset si una desideremus aut ambularemus, inlaboratus et facilis, tales esse epistulas meas volo, quae nihil habent accersitum nec fictum. Ausgewählte Sekundärliteratur zu Plinius’ Epist. 1,1 ist versammelt bei Fögen (2017) 28, Anm. 16. Zu Senecas Reflexionen über das Briefeschreiben siehe Fögen (2018) 60‒63, mit Verweisen auf frühere Forschung.
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bild der von Ferox praktizierten „kunstvollen Kunstlosigkeit“.43 Auch wenn dieser Text lediglich zwei Paragraphen umfasst, ist er keineswegs anspruchslos, sondern sehr sorgfältig stilisiert, ohne dabei zu übertreiben. Solche kleinen Meisterstücke stehen im Gegensatz zu ‚schulmäßigen‘ Briefen, die an pedantische, wenig lebensnahe rhetorische Übungen erinnern; derartige Erzeugnisse, die gewissermaßen nach Studierstube riechen, möchte Plinius bewusst vermeiden.44 Kennzeichnend für gute Briefe sei eine knappe und natürliche Diktion (pressus sermo purusque), wie er in Epist. 7,9 ausführt.45 Er lobt daher die Briefe des Voconius Romanus für ihr ausgesprochen erlesenes Latein.46 Freilich räumt er ein, dass es in bestimmten Kontexten wie beispielsweise im Rahmen eines öffentlichen Amtes kaum möglich ist, stilistisch gefällige Schreiben aufzusetzen; daran werde man schon durch die ungeheure Menge an Korrespondenz gehindert, die man laufend zu bewältigen habe.47 Der anspruchslose, sachbezo-
|| 43 Für eine detailliertere Interpretation von Epist. 7,13, die auch sprachlich-stilistische Aspekte einbezieht, siehe Fögen (2017) 28‒31. Dass manche Plinius-Briefe in ihrer Anlage und Gedankenführung an Epigramme erinnern, hat man in der Forschung schon recht früh festgestellt. So charakterisiert Guillemin (1929: 150) einige seiner kurzen Episteln als „véritables épigrammes en prose“. Siehe auch Cugusi (1983) 222‒223, 225 und Wolff (2003) 85–86, 89, ferner die Ansätze bei Meister (1924: 29–33), der in Bezug auf Epist. 7,13 vermerkt (Meister 1924: 33): „Fassung des Gedankens und Formgebung dieses Briefes haben hier in der Tat epigrammatischen Charakter, wieder ein Beispiel für die Vermischung prosaischer und poetischer Formen in der Dichtung dieser Zeit.“ Freilich wäre die Nähe der kürzeren Briefe des Plinius zum Epigramm (vor allem denen seines Zeitgenossen Martial) genauer zu untersuchen, als dies bisher getan wurde. 44 Plinius, Epist. 9,2,3: nos quam angustis ter minis claudamur etiam tacente me perspicis, nisi forte volumus scholasticas tibi atque, ut ita dicam, umbraticas litteras mittere. Siehe Lausberg (1991) 92: „Die Worte des Plinius über die scholasticae litterae [...] werden in der Forschung meistens als kritische Bezugnahme auf Senecas Briefe verstanden. In der Tat enthalten Senecas Briefe weitaus weniger spezielle Lebensrealität als die des Plinius – oder gar als diejenigen Ciceros.“ Siehe auch Sherwin-White (1966) 3, 85–86, 483, Krenkel (1984) xxxiv‒xxxv und Gibson/Morello (2012) 101‒103. 45 Plinius, Epist. 7,9,8: Volo interdum aliquem ex historia locum adprendas, volo epistulam diligentius scribas. Nam saepe in oratione quoque non historica modo sed prope poetica descriptionum necessitas incidit, et pressus sermo purusque ex epistulis petitur. Siehe dazu Lilja (1970) 63‒65, Gamberini (1983) 171‒174 und Keeline (2013) 250‒252. 46 Plinius, Epist. 2,13,7 (bezogen auf Voconius Romanus): epistulas quidem scribit, ut Musas ipsas Latine loqui credas. Ferner Epist. 9,28,1 (adressiert an Voconius Romanus): Post longum tempus epistulas tuas, sed tres pariter recepi, omnes elegantissimas amantissimas, et quales a te venire praesertim desideratas oportebat. Zu Voconius Romanus siehe Gibson/Morello (2012) 149‒154. 47 Plinius, Epist. 1,10,9: Nam distringor officio ut maximo sic molestissimo: sedeo pro tribunali, subnoto libellos, conficio tabulas, scribo plurimas sed inlitteratissimas litteras.
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gene Geschäftsbrief steht damit auf einem anderen Niveau als der stärker ausgefeilte Privatbrief. Auch in thematischer Hinsicht hat er klare Vorstellungen davon, wozu ein Brief dienen kann: In Epist. 3,20 plädiert er dafür, sich in der Korrespondenz mit Freunden nicht auf den Gebrauch gewöhnlicher und letztlich inhaltsleerer Phrasen vom Typus „Wie geht es Dir?“ zu beschränken, wie sie so typisch für den herkömmlichen Briefverkehr seien. Stattdessen seien Sendschreiben durchaus auch dazu geeignet, politische Gegenstände und damit Themen von öffentlicher Relevanz zu behandeln.48 Dazu passt es in gewisser Weise, dass einige seiner Briefe den Charakter kurzgefasster Darstellungen aufweisen, die an die Historiographie und die damit verwandte Biographie erinnern. Zwar differenziert er in Epist. 6,16, dem berühmten Vesuv-Brief an Tacitus, zwischen Geschichtsschreibung und Epistolographie, wenn er erstere als eine für einen breiten Leserkreis bestimmte Gattung und letztere als eine für Freunde reservierte Textsorte definiert.49 In der Praxis ist jedoch gerade dieser Brief als der Bericht eines historisch relevanten Ereignisses angelegt, der überdies dem Adressaten deshalb präsentiert wird, weil dieser offenbar um Einzelheiten über den Tod des Älteren Plinius beim Vesuvausbruch gebeten hatte, die er dann seinerseits für eine eigene Darlegung der Geschehnisse verwenden konnte.50 Mit Recht hat daher Lillge (1918: 230) konstatiert: „[...] sein Brief ist [...] historia en miniature. [...] der Brief des Plinius ist ein Stück historia in taciteischem Stil.“ Eine solche Verfahrensweise ist deshalb problemlos möglich, weil der Brief eine elastische, wandlungsfähige
|| 48 Plinius, Epist. 3,20,10‒11: Haec tibi scripsi, primum ut aliquid novi scriberem, deinde ut non numquam de re publica loquerer, cuius materiae nobis quanto rarior quam veteribus occasio, tanto minus omittenda est. Et hercule quousque illa vulgaria? ‚Quid agis? ecquid commode vales?‘ Habeant nostrae quoque litterae aliquid non humile nec sordidum, nec privatis rebus inclusum. Zu dieser Passage siehe Lausberg (1991) 84‒85, Wolff (2003) 51, Lefèvre (2009) 96‒97, 303 und Gibson/Morello (2012) 253‒259. 49 Plinius, Epist. 6,16,22: Tu potissima excerpes; aliud est enim epistulam, aliud historiam, aliud amico, aliud omnibus scribere. Zu Epist. 6,16 siehe u.a. Lillge (1918), Bütler (1970) 25‒26, Ash (2003), Marchesi (2008) 171‒189, Lefèvre (2009) 126‒135 und Gibson/Morello (2012) 108‒115. 50 Plinius, Epist. 6,16,1‒2: Petis, ut tibi avunculi mei exitum scribam, quo verius tradere posteris possis. Gratias ago; nam video morti eius, si celebretur a te, immortalem gloriam esse propositam. Quamvis enim pulcherrimarum clade terrarum, ut populi ut urbes memorabili casu, quasi semper victurus occiderit, quamvis ipse plurima opera et mansura condiderit, multum tamen perpetuitati eius scriptorum tuorum aeternitas addet. Siehe auch Epist. 7,33, bes. 7,33,1‒3 und 7,33,10; cf. Cicero, fam. 5,12,1, zusammen mit Lefèvre (2009) 152‒156. Zu Plinius’ Behandlung geschichtlicher Ereignisse in brieflicher Form siehe vor allem Traub (1955); weitere Literatur bei Fögen (2017) 23, Anm. 5.
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Textsorte ist, die bis zu einem gewissen Grade die Züge etablierter literarischer Gattungen ‒ wie in diesem Falle der Geschichtsschreibung ‒ in sich aufnehmen kann, ohne dabei das Gewand eines Briefes vollends abzustreifen.51
4 Zusammenfassung Weder die Äußerungen des Plinius zum Umfang von Briefen noch seine Bemerkungen über den Stil und Gehalt epistolographischer Kommunikation haben den Status einer umfassenden oder gar systematisch-kohärenten Brieftheorie. Andererseits sind seine diesbezüglichen Reflexionen doch nicht so selten, wie dies wiederholt in der Forschung behauptet wurde.52 Man wird daher am ehesten der folgenden Einschätzung des französischen Gelehrten Étienne Wolff (2003: 47) zustimmen: Il n’y a chez Pline aucun discours théorique suivi sur la lettre, mais on parvient à le reconstituer plus ou moins à partir de quelques réflexions dispersées.
Insbesondere seine Gedanken zur Länge von Briefen decken sich in auffälliger Weise mit einigen Ansätzen der spätantiken epistolographischen Theorie, wie sie durch Iulius Victor, Pseudo-Libanios und Gregor von Nazianz repräsentiert wird. So ist sich Plinius dessen bewusst, dass allgemein Kürze als ein Hauptcharakteristikum von Briefen angesehen wird. Ebenso wie für die genannten spätantiken Autoren ist jedoch auch für ihn brevitas keine absolute Richtlinie, sondern eine Art generelle Empfehlung, mit der man vergleichsweise spielerisch umgehen kann. In bestimmten Situationen ist es aus seiner Sicht sogar möglich,
|| 51 Siehe auch Ash (2003) 221: „The versatile Pliny has […] found a way to inscribe the most valuable elements of ‘history’ within the Epistles without being hampered by the constraints of the genre. Instead of composing a historical narrative on a grand scale, it was much more attractive and practical for Pliny to write about particular historical events within a convenient epistolary framework. These he could then revise, polish, and perfect according to his own exacting standards.“ 52 Siehe bereits Peter (1901) 120: „Über sein Verhältnis zur Theorie des Briefes hat sich Plinius nirgends im Zusammenhang geäußert; nur hier und da finden sich leise Andeutungen darüber.“ Ferner Gamberini (1983) 170: „The text of the Letters does not contain many statements on the nature of epistolary style [...].“ Ähnlich Den Hengst (1991) 27: „Programmatische opmerkingen over zijn brieven maakt hij zelden.“ Siehe auch Thraede (1970) 74‒77 und Cugusi (1983) 218‒222.
224 | Thorsten Fögen
die herkömmliche Erwartung eines begrenzten Umfangs von Briefen zu unterlaufen, sofern sich dies entsprechend begründen lässt. Natürlich ist Plinius nicht der einzige Epistolograph, der sich diese Herangehensweise zu eigen macht. In den Briefkorpora Ciceros lassen sich durchaus vergleichbare Beispiele identifizieren. So argumentiert Cicero unter anderem, dass Briefe die räumliche Distanz zwischen Sender und Empfänger dann besonders gut zu überwinden vermögen, wenn sie ausreichend lang sind und in häufigen Abständen geschickt werden.53 Überhaupt lässt sich auch Cicero wiederholt über brevitas oder deren Fehlen in seinen Briefen aus.54 Der souveräne, undogmatische Umgang mit der Forderung nach Kürze passt im Übrigen zu Plinius’ Bemühung um thematische und stilistische Variation in seinen Episteln, die keine homogene Sammlung von Texten bilden, sondern ein in vielerlei Hinsicht buntes Panorama.55 In seinen kunstvoll gestalteten Briefen, die er in erster Linie für gleichgesinnte, gebildete Zeitgenossen geschrieben hat, experimentiert er mit einer traditionellen Textsorte und stellt diese auf eine neue Grundlage, indem er in seine Anthologie unterschiedliche Gattungen, eingekleidet in die Form der Epistel, einfließen lässt. Dieses Verfahren bringt es mit sich, dass seine Prosa-Briefe von sehr kurzen Texten, die an
|| 53 Siehe z.B. Cicero, fam. 15,21,1: meque tanto desiderio adficis ut unam mihi consolationem relinquas, fore ut utriusque nostrum absentis desiderium crebris et longis epistulis leniatur. Dieser Gedanke wird am Ende desselben Briefes aufgegriffen (fam. 15,21,5). Siehe auch Att. 16,11,2: Quod vereris ne ἀδόλεσχος mihi tu, quis minus? cui, ut Aristophani Archilochi iambus, sic epistula longissima quaeque optima videtur. Ausführlichere Betrachtungen zu Ciceros Reflexionen über das Briefeschreiben finden sich zuletzt bei Fögen (2018) 55‒60, der auch weitere Literatur zusammenstellt. Siehe auch Thraede (1970) 27‒47. 54 Siehe besonders Cicero, fam. 7,1,6: Haec ad te pluribus verbis scripsi quam soleo non oti abundantia sed amoris erga te, quod me quadam epistula subinvitaras, si memoria tenes, ut ad te aliquid eius modi scriberem quo minus te praetermisisse ludos paeniteret. Siehe auch fam. 7,3,6: Habes epistulam verbosiorem fortasse quam velles; quod tibi ita videri putabo nisi mihi longiorem remiseris. Außerdem fam. 7,33,2 und 15,18,1 sowie Att. 8,1,4 (zitiert oben in Anm. 33) und 10,4,1: Multas a te accepi epistulas eodem die, omnis diligenter scriptas, eam vero quae voluminis instar erat saepe legendam, sicuti facio. in qua non frustra laborem suscepisti; mihi quidem pergratum fecisti. qua re ut id, quoad licebit, id est quoad scies ubi simus, quam saepissime facias te vehementer rogo. Interessante Passagen zur Rechtfertigung von bewusster Kürze sind z.B. Att. 5,14,1 init., 5,14,3 fin., 5,16,1, 5,17,2, 9,6A, 9,13A, 10,6,1 und 11,17 init. (brevitas bedingt durch viel Arbeit oder Hektik), 5,6,2 und 5,7,1 (brevitas wegen Ungewissheit über das Eintreffen des Briefes) sowie 8,13,1 (brevitas aufgrund von Krankheit). 55 Zu varietas bei Plinius siehe Wolff (2003) 41‒45, Gibson/Morello (2012) 244‒248 und Fögen (2017) bes. 28‒29, ferner Goetzl (1952) und Fitzgerald (2016) 84‒100. Siehe auch Sherwin-White (1966) 42–50, Gamberini (1983) 136–143, 333–337 und Cugusi (1983) 219‒222 zu den unterschiedlichen Brieftypen in Plinius’ Sammlung.
Zum Topos der brevitas in den Briefen des Jüngeren Plinius | 225
Epigramme oder knappe, pointierte Gedichte erinnern, bis hin zu ausgedehnten Darstellungen reichen, die sich beispielsweise als epische Bauformen wie die Ekphrasis oder als Miniatur-Historiographie klassifizieren lassen. Plinius’ Episteln decken ein breites sprachlich-stilistisches, inhaltlich-thematisches und textuell-gattungsspezifisches Spektrum ab und konstituieren damit als Sammlung ein Musterbeispiel an varietas, wie sie für die frühe Kaiserzeit nicht untypisch ist. Sie sind in dieser Hinsicht vor allem vergleichbar mit zwei Werken aus der Zeit des Plinius, nämlich den Silvae des Statius und dem Epigramm-Korpus Martials, aber auch mit der späteren Miszellanschriftstellerei des Aulus Gellius (Noctes Atticae) oder des Claudius Aelianus (Περὶ ζῴων ἰδιότητος und Ποικίλη ἱστορία).56
|| 56 Vorarbeiten zu diesem Aufsatz konnte ich während eines längeren Forschungsaufenthaltes am Netherlands Institute for Advanced Study (Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen) in Wassenaar (September 2015 bis Juni 2016) durchführen. Ich bin für die in jeder Hinsicht großzügige Unterstützung, die ich am NIAS erfahren habe, außerordentlich dankbar. Meine besondere Verbundenheit gilt den beiden Bibliothekaren Dindy van Maanen und Erwin Nolet, deren Effizienz exemplarisch ist. Außerdem möchte ich Martin Stöckinger (Universität zu Köln) für hilfreiche Anregungen herzlich danken.
226 | Thorsten Fögen
Appendix: Statistischer Überblick zur Brieflänge für die Epistel-Bücher 1‒9 Der folgende Überblick zeigt, dass in den ersten neun Büchern des plinianischen Briefkorpus lediglich elf Briefe enthalten sind, die zwanzig oder mehr Paragraphen umfassen: Epist. 1,20; 2,11; 2,17; 3,5; 3,9; 4,9; 5,6; 6,16; 6,20; 8,14; 9,13 (in der nachfolgenden Tabelle durch Fettdruck hervorgehoben). In keinem der einzelnen Bücher treten jeweils mehr als zwei solcher längeren Schreiben auf. In Buch 7 enthalten die beiden längsten Briefe sogar nur jeweils sechzehn Paragraphen. Demgegenüber stehen zahlreiche kurze Briefe, auch solche mit lediglich einem einzigen (Epist. 9,14; 9,24; 9,32; 9,38) oder mit zwei Paragraphen (Epist. 1,1; 1,11; 1,21; 2,15; 4,18; 5,2; 5,15; 5,18; 6,1; 6,3; 6,9; 6,14; 6,32; 7,5; 7,13; 7,14; 7,23; 7,32; 8,7; 8,9; 8,13; 8,15; 8,19; 9,4; 9,8; 9,11; 9,12; 9,16; 9,18; 9,20; 9,27; 9,29; 9,31; 9,34; 9,35); die Anzahl sehr kurzer Briefe nimmt dabei freilich vom ersten zum neunten Buch mehr und mehr zu. Das Streben nach varietas ist jedenfalls schon anhand einer rein statistischen Erhebung offensichtlich. Buch 1
Buch 2
Buch 3
Buch 4
Buch 5
Epist.
§§
Epist.
§§
Epist.
§§
Epist.
§§
Epist.
§§
1,1
2
2,1
12
3,1
12
4,1
7
5,1
13
1,2
6
2,2
3
3,2
6
4,2
8
5,2
2
1,3
5
2,3
11
3,3
7
4,3
5
5,3
11
1,4
4
2,4
4
3,4
9
4,4
3
5,4
4
1,5
17
2,5
13
3,5
20
4,5
4
5,5
8
1,6
3
2,6
7
3,6
7
4,6
3
5,6
46
1,7
6
2,7
7
3,7
15
4,7
7
5,7
6
1,8
18
2,8
3
3,8
4
4,8
6
5,8
14
1,9
8
2,9
6
3,9
37
4,9
23
5,9
7
1,10
12
2,10
8
3,10
6
4,10
4
5,10
3
1,11
2
2,11
25
3,11
9
4,11
16
5,11
3
1,12
13
2,12
7
3,12
4
4,12
7
5,12
4
1,13
6
2,13
11
3,13
5
4,13
11
5,13
10
1,14
10
2,14
14
3,14
8
4,14
10
5,14
9
1,15
4
2,15
2
3,15
5
4,15
13
5,15
2
1,16
9
2,16
4
3,16
13
4,16
3
5,16
11
1,17
4
2,17
29
3,17
3
4,17
11
5,17
6
Zum Topos der brevitas in den Briefen des Jüngeren Plinius | 227
Buch 1
Buch 2
Buch 3
Buch 4
Buch 5
Epist.
§§
Epist.
§§
Epist.
§§
Epist.
§§
Epist.
§§
1,18
6
2,18
5
3,18
11
4,18
2
5,18
2
1,19
4
2,19
9
3,19
9
4,19
8
5,19
9
1,20
25
2,20
14
3,20
12
4,20
3
5,20
8
3,21
6
5,21
6
1,21
2
4,21
5
1,22
12
4,22
7
1,23
5
4,23
4
1,24
4
4,24
7
4,25
5
4,26
3
4,27
6
4,28
3
4,29
3
4,30
11
Gesamt: 187§§
Gesamt: 194§§
Buch 6
Gesamt: 208§§
Buch 7
Gesamt: 208§§
Buch 8
Gesamt: 184§§
Buch 9
§§
Epist.
§§
Epist.
§§
Epist.
§§
6,1
2
7,1
7
8,1
3
9,1
4
6,2
10
7,2
3
8,2
8
9,2
5
6,3
2
7,3
5
8,3
3
9,3
3
6,4
5
7,4
10
8,4
8
9,4
2
6,5
7
7,5
2
8,5
3
9,5
3
6,6
9
7,6
14
8,6
17
9,6
4
6,7
3
7,7
3
8,7
2
9,7
5
6,8
9
7,8
3
8,8
7
9,8
2
Epist.
6,9
2
7,9
16
8,9
2
9,9
3
6,10
6
7,10
3
8,10
3
9,10
3
6,11
4
7,11
8
8,11
3
9,11
2
6,12
5
7,12
6
8,12
5
9,12
2
6,13
6
7,13
2
8,13
2
9,13
26
6,14
2
7,14
2
8,14
26
9,14
1
6,15
4
7,15
3
8,15
2
9,15
3
6,16
22
7,16
5
8,16
5
9,16
2
228 | Thorsten Fögen
Buch 6
Buch 7
Buch 8
Buch 9
Epist.
§§
Epist.
§§
Epist.
§§
Epist.
§§
6,17
6
7,17
15
8,17
6
9,17
4
6,18
3
7,18
5
8,18
12
9,18
2
6,19
6
7,19
11
8,19
2
9,19
8
6,20
20
7,20
7
8,20
10
9,20
2
6,21
7
7,21
4
8,21
6
9,21
4
6,22
8
7,22
3
8,22
4
9,22
3
6,23
5
7,23
2
8,23
9
9,23
6
6,24
5
7,24
9
8,24
10
9,24
1
6,25
5
7,25
6
9,25
3
6,26
3
7,26
4
9,26
13
6,27
5
7,27
16
9,27
2
6,28
3
7,28
3
9,28
5
6,29
11
7,29
4
9,29
2
6,30
5
7,30
5
9,30
4
6,31
17
7,31
7
9,31
2
6,32
2
7,32
2
9,32
1
6,33
11
7,33
10
9,33
11
6,34
3
9,34
2
9,35
2
9,36
6
9,37
5
9,38
1
9,39
6
9,40
3
Gesamt: 223§§
Gesamt: 205§§
Gesamt: 158§§
Gesamt: 168§§
Zum Topos der brevitas in den Briefen des Jüngeren Plinius | 229
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230 | Thorsten Fögen
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Zum Topos der brevitas in den Briefen des Jüngeren Plinius | 231
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Margot Neger
Adressaten und epistularum personae in den Briefen des jüngeren Plinius Das Briefkorpus des jüngeren Plinius hat in den vergangenen Jahren vermehrt die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen, wobei insbesondere der Aspekt der Selbstdarstellung des Epistolographen sowie die Kompositionstechniken, mit denen er seine Briefsammlung arrangierte, in neueren Beiträgen eingehender beleuchtet wurden.1 So hat man inzwischen gezeigt, dass Plinius seine Briefbücher 1‒9 bewusst angeordnet hat und sich dabei literarischer Strategien bediente, die uns ansonsten aus der Dichtung bekannt sind. Es scheint zudem, als erfülle das Briefkorpus des Plinius auch die Funktion einer Art Autobiographie, freilich nicht im Sinne einer modernen Definition dieser Gattung:2 Zum einen sind die Briefe nicht chronologisch angeordnet und zum anderen decken sie nur eine relativ kurze Phase von Plinius’ Leben ab, da sie vor allem die Zeitspanne vom Regime Domitians bis zur Herrschaft Trajans thematisieren, wohingegen nur wenige Briefe von früheren Lebensabschnitten handeln, wie etwa die berühmten Vesuv-Briefe (6,16 und 6,20). Dennoch lassen sich die Einzelbriefe als Segmente lesen, die der Rezipient des Gesamtkorpus zu einer (freilich sehr selektiven) autobiographischen Narration zusammenfügen kann.3 Es wurde viel darüber spekuliert, ob die Plinius-Briefe tatsächlich einmal verschickt wurden bzw. inwiefern sie authentisch sind (viele der Adressaten lassen sich ja historisch identifizieren)4 und wie viel in ihnen literarisch stilisiert oder vielleicht sogar fingiert ist.5 Da die Ich-Konstruktion eine zentrale Rolle im Briefkorpus spielt, kann hier vielleicht der Begriff der Autofiktion weiterhelfen,
|| Für die Durchsicht des Manuskripts und wertvolle Hinweise bin ich Niklas Holzberg zu Dank verpflichtet. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern an der Tagung „Adressat und Adressant – Kommunikationsstrategien im antiken Brief“ in Eichstätt sei für eine anregende Diskussion des Vortrags gedankt. 1 Genannt seien etwa Ludolph (1997); Radicke (1997); Marchesi (2008); Gibson/Morello (2012); Marchesi (2015). 2 Zur Geschichte der Gattung vgl. Misch (1949); zur modernen Theorie Niggl (2005). 3 Vgl. Shelton (1987) 121; Gibson/Morello (2012) 13–19. 4 Vgl. Syme (1968) und (1985); Birley (2000). 5 Vgl. Kroll (1924) 238f.; Guillemin (1929) 124–127; Zucker (1929) 209–232; Zelzer (1964); Sherwin-White (1966) 11–20; Lilja (1969); Shelton (1987) 137 mit Anm. 48 und dies. (1990) 171: „The debate about whether Pliny’s letters are real or fictitious has no objective solution.“
https://doi.org/10.1515/9783110676303-010
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den der französische Literaturwissenschaftler Serge Doubrovsky prägte und der verschiedene „Mischzustände“ zwischen Fiktion und Autobiographie abdeckt.6 Der Leser schließt gleichzeitig einen autobiographischen und fiktionalen Pakt und wechselt bei der Lektüre ständig zwischen diesen beiden Pakten. Als Beispiel seien etwa die Vesuv-Briefe genannt (6,16; 6,20): In diesem Briefpaar beschreibt Plinius ein historisches Ereignis, das er jedoch auch stark literarisiert, indem er etwa die Beschreibung seiner Flucht mit der Mutter aus der Gefahrenzone mit Anspielungen auf Vergils Aeneis versieht,7 sodass man bei der Lektüre zwischen den Ereignissen am Golf vom Neapel und der fiktionalen Welt des Epos hin- und herschwankt. Wenngleich Plinius in seinen Briefen reale Geschehnisse thematisiert und historisch identifizierbare Figuren auftreten lässt, nützt er die kompositorischen Möglichkeiten seiner Briefsammlung dazu, ein bestimmtes Bild seiner eigenen Person zu entwerfen sowie sein soziales Umfeld zu konstruieren.8 Während in den meisten neueren Analysen der Plinius-Briefe vor allem die Person des Briefschreibers im Zentrum steht, wurde die Rolle der verschiedenen Adressaten bisher noch relativ wenig behandelt. Hier hat man sich bislang eher auf prosopographische Fragen beschränkt9 oder sich auf prominente Persönlichkeiten wie v.a. Tacitus konzentriert.10 In den Briefbüchern 1‒9 begegnen wir einer Vielzahl von Adressaten unterschiedlicher sozialer Stellung, die als Empfänger einzelner Briefe oder unterschiedlich langer Briefzyklen fungieren und darüber hinaus auch häufig als handelnde Figuren in Briefen auftreten, die Plinius an andere Adressaten richtet. Da von der Hypothese ausgegangen wird, dass Plinius seine Briefsammlung bewusst komponiert hat und ihre Lektüre gezielt steuert, liegt auch die Vermutung nahe, dass das Auftreten einzelner Adressaten im Korpus, sozusagen als dramatis personae, ebenfalls sorgfältig geplant ist. Manche Individuen tauchen bereits als handelnde Figuren auf, noch bevor wir ihnen als Briefempfängern begegnen. Andere wiederum erscheinen zuerst in der Rolle des Adressaten, bevor sie in einem späteren Brief als Protagonisten in einer Handlung auftreten. Im Folgenden soll daher untersucht werden, wie Plinius einzelne Adressatenfiguren in sein Werk einführt und charak|| 6 Doubrovsky (2008); vgl. Wagner-Egelhaaf (2013). 7 Vgl. Marchesi (2008) 171–189. 8 Zu Autofiktion und Epistolographie vgl. Hackl/Wiesmüller (2012) 187: „Spätestens seit dem Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller wird der Brief als Möglichkeit der literarischen Selbstdarstellung für Autorinnen und Autoren zu einem wichtigen Medium der Autofiktion bzw. der Ich-Konstruktion“; vgl. Anton (1995) 133. 9 Vgl. Syme (1968) und (1985). 10 Griffin (1999); Edwards (2008); Marchesi (2008) 97–206; Whitton (2012); Eisner (2014).
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terisiert und welches Bild er von seinen sozialen Interaktionen mit diesen Personen entwirft. Eine wichtige Funktion innerhalb der sogenannten „Paradebriefe“ – damit bezeichnet Matthias Ludolph (1997) in Anlehnung an Horazens „Paradeoden“ die Briefe 1‒8 im ersten Buch – hat die epist. 1,5:11 Hier wird zum ersten Mal der Tod des Kaisers Domitian explizit erwähnt (1: post Domitiani mortem) und mit Marcus Aquilius Regulus eine Kontrastfigur zu Plinius eingeführt, die auch in anderen Briefen (in einer Art „Regulus-Roman“) negativ dargestellt wird.12 Als Denunziant und Sympathisant des Domitian muss sich Regulus nach dem Tod dieses Kaisers nun angeblich vor Plinius’ Zorn fürchten (1: coepit vereri, ne sibi irascerer; nec fallebatur, irascebar).13 Das Motiv des Zornes, den Plinius gegen Domitians Handlanger hegt, umrahmt die Briefsammlung eindrücklich: Während in epist. 1,5 Regulus im Zentrum steht, handelt der Brief 9,13 von Plinius’ Attacke gegen Publicius Certus in seiner Rede de Helvidi ultione. Man gewinnt fast den Eindruck, dass Plinius das im Epos beheimatete Motiv des Götterzornes14 in einen epistolaren Kontext transferiert. Wie es in Brief 1,5 heißt, hatte Regulus nicht nur den Prozess gegen Arulenus Rusticus unterstützt, sich über dessen Tod gefreut und auch den hingerichteten Herennius Senecio verhöhnt (2–3), sondern sogar Plinius selbst in einem Prozess vor dem Zentumviralgericht während der Zeit Domitians in Gefahr gebracht;15 Regulus wollte Plinius damals dazu bringen, sich über den von Domitian verbannten Mettius Modestus zu äußern (5–7). Nach dieser narrativen Analepse kehrt Plinius in die Gegenwart des Briefes zurück (8: nunc ergo) und erzählt, dass Regulus nun nach dem Tod des Kaisers verschiedene Freunde des Plinius als Fürsprecher gewinnen wolle, um sich mit ihm zu versöhnen. Zu diesen Freunden gehören etwa Caecilius Celer, an den auch epist. 7,17 (zum Thema Rezitation) gerichtet ist, sowie Fabius Iustus, der die Briefe 1,11 und 7,2 (über das Verfassen von Briefen) erhält. Sowohl hinsichtlich des Status dieser Freunde als auch der narrativen Technik
|| 11 Der Brief wird von Sherwin-White (1966) 93 auf Anfang 97 datiert; vgl. die Analyse bei Ludolph (1997) 142–166. 12 Vgl. neben epist. 1,5 noch 1,20,14; 2,11,22; 2,20; 4,2; 4,7; 6,2: Ludolph (1997) 142; Hoffer (1999) 55–91; Lefèvre (2009) 50–60; als Adressat kommt Regulus hingegen nicht vor. 13 „Er war allmählich besorgt, dass ich ihm zürnte; und er täuschte sich nicht, ich zürnte ihm.“ Die Übersetzungen lateinischer Zitate stammen von der Verfasserin. Für eine deutsche Übersetzung der Plinius-Briefe vgl. außerdem Philips/Giebel (2010). 14 Zum Götterzorn im Epos vgl. Seibert (2014) 230f. 15 Durch die Assonanz der Verben lacerat (3) und lacessisset (4) wird klanglich eine Parallele zwischen dem Schicksal des Herennius und demjenigen des Plinius hergestellt.
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kommt es zu einer Klimax,16 als Regulus sich schließlich an Vestricius Spurinna wendet (8): Nec contentus pervenit ad Spurinnam; huic suppliciter, ut est, cum timet, abiectissimus: ‘Rogo mane videas Plinium domi, sed plane mane ‒ neque enim ferre diutius sollicitudinem possum ‒, et quoquo modo efficias, ne mihi irascatur.’17 Und damit nicht zufrieden ging er zu Spurinna; zu ihm sagte er demütig und kriecherisch, wie er ist, wenn er sich fürchtet: „Bitte suche Plinius morgen früh bei sich zuhause auf, aber ganz früh – ich kann die Anspannung nämlich nicht mehr länger ertragen – und bewerkstellige es irgendwie, dass er keinen Groll gegen mich hegt.“
Während Caecilius Celer und Fabius Iustus nur kurz im Rahmen einer Aufzählung genannt werden, nimmt die Charakterisierung Spurinnas mehr Raum ein, da Plinius nun unter Wiedergabe direkter Reden das Geschehen dramatisiert; auch das folgende Treffen des Spurinna mit Plinius wird als Dialog präsentiert (9‒10): Evigilaveram; nuntius a Spurinna: ‘Venio ad te.’ ‘Immo ego ad te.’ Coimus in porticum Liviae, cum alter ad alterum tenderemus. Exponit Reguli mandata, addit preces suas, ut decebat optimum virum pro dissimillimo, parce. Cui ego: ‘Dispicies ipse, quid renuntiandum Regulo putes. Te decipi a me non oportet. Exspecto Mauricum’ ‒ nondum ab exsilio venerat ‒: ‘ideo nihil alterutram in partem respondere tibi possum facturus, quidquid ille decreverit; illum enim esse huius consilii ducem, me comitem decet.’ Ich war aufgewacht; da kam die Botschaft von Spurinna: „Ich komme zu dir.“ „Nein, besser ich zu dir.“ Wir treffen uns in der Säulenhalle der Livia, als der eine zum anderen unterwegs war. Er schildert den Auftrag des Regulus, fügt seine Bitten hinzu, und zwar so, wie es sich gehört, wenn ein vortrefflicher Mann für einen ihm ganz unähnlichen bittet: sparsam. Daraufhin ich: „Du wirst dir selbst überlegen, welche Rückmeldung du für Regulus angemessen hältst. Ich brauche es vor dir ja nicht zu verheimlichen: ich warte auf Mauricus“ – er war noch nicht aus dem Exil zurückgekehrt –, „und daher kann ich dir noch keine konkrete Antwort geben, da ich tun werde, was jener entscheidet. Denn es gebührt ihm in dieser Sache die Führung, mir die Gefolgschaft.“
Mit Vestricius Spurinna wendet sich Regulus an einen der führenden Männer im Staat (insgesamt war er dreimal Konsul),18 und diese Szene soll offenbar unter anderem verdeutlichen, in welchen gesellschaftlichen Kreisen Plinius sich bewegt. Wenn Spurinna, der eigentlich älter und ranghöher ist, sich auf den Weg
|| 16 Vgl. Ludolph (1997) 157. 17 Der lateinische Text folgt der Ausgabe von Mynors (1963). 18 Vgl. Plin. paneg. 61,1; 62,2; Syme (1991b).
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zu Plinius nach Hause machen will, dieser ihn aber daran hindert, charakterisiert sich Plinius indirekt als jemand, der mit den führenden Männern bereits auf Augenhöhe ist, sich aber nicht über Konventionen hinwegsetzen möchte.19 Somit trifft man sich letztendlich in der porticus der Livia, einem öffentlichen Ort aus der Zeit des Augustus, der Hoffer zufolge auch an die Säulenhalle der Stoa erinnert und somit eine gewisse Symbolkraft besitzt.20 Auch Ovids Ars amatoria mag hier im Hintergrund stehen: Während Livias Säulenhalle dort als beliebter Treffpunkt für Liebende angepriesen wird (1,71‒72), macht Plinius sie zum Ort der Unterredung zweier Staatsmänner aus der Zeit Nervas. Dem Leser, der das Briefkorpus linear liest, dürfte diese lebhafte Szene noch in Erinnerung sein, wenn er auf epist. 2,7 an Macrinus21 trifft, in der davon berichtet wird, dass für Spurinna auf Vorschlag des Kaisers (vermutlich Nerva)22 und durch Senatsbeschluss zu Lebzeiten eine Triumphstatue an einem öffentlichen Ort (7: in celeberrimo loco) – vermutlich das Forum Romanum oder Augustus-Forum23 ‒ aufgestellt werden soll, ebenso wie seinem verstorbenen Sohn Cottius. Während dieser Brief von den militärischen Erfolgen Spurinnas in Germanien handelt (2,7,1‒2), befasst sich der Porträt-Brief 3,1 mit Spurinnas otium im Alter,24 das Plinius für sich selbst als vorbildhaft ansieht (1: ut neminem magis in senectute […] aemulari velim).25 Wohl nicht zufällig eröffnet Plinius jenes Buch, in dem er sich selbst als Konsul präsentieren wird (vgl. epist. 3,13 und 3,18 über den Panegyricus), mit dem Porträt eines nun in den Ruhestand getretenen älteren Konsulars. Plinius leitet diesen Brief mit dem Hinweis ein, dass er kürzlich bei Spurinna zu Gast gewesen sei (1: nescio, an ullum iucundius tempus exegerim, quam quo nuper apud Spurinnam fui).26 Wie sich zeigt, spielt die „Spu-
|| 19 Vgl. Ludolph (1997) 158f.; Hoffer (1999) 78. 20 Hoffer (1999) 79: „The meeting place is also a Latin translation of the Stoa (‘colonnade’), the symbol of the noble political philosophy embraced by Rusticus. These Roman ‘best men’ are putting Greek philosophy into action […]. The symbolic return to Augustan times signals a new beginning of imperial government under the new regime, a beginning marked by reconciliation rather than vengeance and civil strife by which the Julio-Claudian and Flavian dynasties were founded.“ 21 Zu seiner Person vgl. Whitton (2013a) 129. 22 Sherwin-White (1966) 153. 23 Sherwin-White (1966) 156; Whitton (2013a) 136. 24 Das dramatische Datum des Briefes 3,1 dürfte also nach Spurinnas drittem Konsulat 100 n. Chr. anzusetzen sein; vgl. Sherwin-White (1966) 206; vgl. Pausch (2004) 114‒129; Lefèvre (2009) 45f.; Gibson/Morello (2012) 115–123; Marchesi (2013) 115–117. 25 „[…] sodass ich niemanden im Alter lieber nachahmen will.“ 26 „Ich weiß nicht, ob ich je eine angenehmere Zeit verbracht habe, als vor kurzem bei Spurinna.“
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rinna-Handlung“ in Plinius’ Briefkorpus bislang an unterschiedlichen Schauplätzen: Nach öffentlichen Orten wie der porticus Liviae in epist. 1,5 und einem nicht näher genannten, vielbesuchten Platz in Rom in epist. 2,7 ist nun Spurinnas otium-Villa Ort der Handlung, wird aber nicht näher lokalisiert. Anstelle von räumlichen Angaben wird hier die zeitliche Dimension von Spurinnas Ruhestand geschildert, wenn Plinius den Tagesablauf des „Elder Statesman“ beschreibt.27 Nachdem der erste Auftritt Spurinnas in epist. 1,5 von einer mündlichen Unterredung mit Plinius geprägt war und der Leser auch in Buch 2 und 3 bereits einiges über Spurinna und Plinius erfahren hat, taucht er mit epist. 3,10 endlich in die Briefkorrespondenz zwischen den beiden ein. Das Schreiben an Spurinna und seine Frau Cottia (eine in den Briefen einmalige Adressaten-Konstellation) knüpft explizit an epist. 3,1 an und präsentiert sich somit als Fortsetzung der Narration in diesem Text (1): Composuisse me quaedam de filio vestro non dixi vobis, cum proxime apud vos fui.28 Plinius spricht in diesem Brief davon, eine Schrift auf Spurinnas und Cottias verstorbenen Sohn rezitiert zu haben und bittet seine Adressaten nun um die Lektüre dieser Schrift. Damit knüpft epist. 3,10 auch an epist. 2,7 an, wo nicht nur Spurinna (1–2) sondern auch, bzw. sogar noch ausführlicher, sein Sohn Cottius (3–6) gepriesen worden war.29 Den öffentlichen Ehrenstatuen für Spurinna und Cottius hat Plinius mit epist. 3,1 sowie der in 3,10 genannten Schrift literarische Ehrungen an die Seite gestellt, und am Ende des Briefes 3,10 vergleicht Plinius sein Werk sogar explizit mit der bildenden Kunst (6: ut scalptorem, ut pictorem […] admoneretis, quid exprimere quid emendare deberet, ita me quoque formate, regite).30 Nachdem epist. 1,5 und 2,7 den politisch bzw. militärisch aktiven Spurinna präsentiert haben und in epist. 3,1 an prominenter Position sein Alters-otium beschrieben worden ist, fällt auf, dass die restlichen Briefe, in denen Spurinna auftaucht, sich nur mehr mit literarischen Fragen befassen: Bereits in epist, 3,1 hat Plinius auf Spurinnas literarische Aktivitäten hingewiesen (7: scribit enim, et quidem utraque lingua, lyrica doctissima);31 epist. 4,27 ist an Pompeius Falco gerichtet und handelt vom talentierten Dichter Sentius Augurinus, für den Spu|| 27 Vgl. Neger (2016) 148f. 28 „Dass ich etwas über Euren Sohn geschrieben habe, habe ich Euch nicht gesagt, als ich vor kurzem bei Euch war.“ 29 Vgl. Sherwin-White (1966) 155f. 30 „Wie Ihr einen Bildhauer oder Maler […] ermahnen würdet, was er zum Ausdruck bringen, was er verbessern müsste, so unterweist auch mich und leitet mich an […]“; zum ParagoneMotiv vgl. Henderson (2002) 32f. und 129f. 31 „Er schreibt nämlich, und zwar in beiden Sprachen, äußerst gelehrte lyrische Gedichte.“
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rinna als Mentor fungiert (5: vivit cum Spurinna, vivit cum Antonino, quorum alteri adfinis, utrique contubernalis est).32 Der Brief 5,17 wiederum ist an Spurinna selbst adressiert und berichtet von einer Rezitation: Ein junger Adliger namens Calpurnius Piso hat ein elegisches Gedicht mit dem Titel καταστερισμοί („Versetzung unter die Sterne“)33 vorgetragen und wird von Plinius ausgiebig gelobt. Es dürfte kein Zufall sein, dass Plinius den Spurinna-Zyklus mit einem Brief zum Thema „Verstirnung“ enden lässt, nachdem er bereits das wohlgeordnete Leben Spurinnas in epist. 3,1 mit dem Lauf der Gestirne verglichen hat (2): me autem ut certus siderum cursus ita vita hominum disposita delectat, senum praesertim.34 Kehren wir nochmals zu epist. 1,5 zurück, in der gleich mehrere für die Briefsammlung bedeutende Figuren eingeführt werden. Wie wir gesehen haben, tritt Spurinna dort sowohl als Dialogpartner des Regulus als auch des Plinius in Erscheinung. Eine andere Persönlichkeit hingegen glänzt zunächst durch ihre physische und akustische Abwesenheit: Iunius Mauricus, der von Domitian verbannte Bruder des Arulenus Rusticus,35 begegnet uns in diesem Brief sozusagen als Figur „abseits der Bühne“. Am Ende seiner Unterredung mit Spurinna verkündet Plinius, auf die Rückkehr des Mauricus warten zu wollen, bevor er über ein Vorgehen gegen Regulus eine Entscheidung trifft (10). Diesen Plan hebt Plinius gegen Ende des Briefes noch zwei weitere Male hervor (15: ut mihi omina libera servarem, dum Mauricus venit; 16: verum, ut idem saepius dicam, exspecto Mauricum)36 und preist den Verbannten als vir […] gravis, prudens, multis experimentis eruditus et qui futura possit ex praeteritis providere (16).37 Wie Matthias Ludolph beobachtet hat, erfüllt die dreifache Erwähnung des Mauricus eine gliedernde Funktion, da jeweils ein inhaltlicher Abschnitt damit abgeschlossen wird (8–10: Regulus’ Versuche, Fürsprecher zu gewinnen; 11–14: Regulus’ Gespräch mit Plinius; 15: Überlegungen zum Einfluss des Regulus).38
|| 32 „Er lebt mit Spurinna, er lebt mit Antoninus, mit dem einen von ihnen ist er verwandt, mit beiden eng vertraut.“ 33 Der griechische Titel wurde von Aldus aus der rätselhaften Wortfolge TACTAE PIGMON konjiziert; Sherwin-White (1966) 349. 34 „Mich aber erfreut wie der sichere Lauf der Gestirne auch ein wohlgeordnetes Menschenleben, insbesondere bei alten Männern.“ 35 Vgl. epist. 3,11,3; zu seiner Person vgl. Sherwin-White (1966) 98. 36 „[…] damit ich mir alle Möglichkeiten freihalte, bis Mauricus kommt […]. Aber, um dasselbe öfters zu sagen, ich warte auf Mauricus.“ 37 „[…] ein charakterstarker, kluger und durch viele Erfahrungen gebildeter Mann, der die Zukunft aus der Vergangenheit voraussehen kann.“ 38 Ludolph (1997) 156f.
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Nach diesen nachdrücklichen Hinweisen auf die Rückkehr des Mauricus ist die Erwartung beim Leser nun geweckt, dass in weiteren Briefen mehr darüber berichtet wird, ob Plinius konkrete Schritte gegen Regulus unternommen hat oder nicht. Doch es folgen keine weiteren Informationen mehr zu dieser Angelegenheit;39 stattdessen lesen wir mehrere Briefe, in denen unterschiedliche negative Facetten von Regulus’ Charakter behandelt werden: In epist. 1,20 ist es sein rhetorischer Stil, in 2,11,22 seine unverlässliche Haltung, in 2,20 seine Erbschleicherei, in 4,2 und 4,7 seine unangemessene Art, den Tod des Sohnes zu betrauern, und in 6,2 ist dann in einer Art Nachruf von seinem eigenen Tod die Rede. Auch die weiteren Briefe an und über Mauricus schweigen darüber, wie die Causa Regulus’ verlaufen ist. Mauricus scheint offenbar andere Probleme gehabt zu haben: Er taucht nach epist. 1,5 wieder auf als Adressat der epist. 1,14 und hat Plinius angeblich darum gebeten, einen Ehemann für die Tochter seines Bruders zu finden. Plinius empfiehlt den Minicius Acilianus40 als Gatten, und hebt in diesem Zusammenhang sowohl sein eigenes Verhältnis zu diesem jungen Mann als auch zu Mauricus und Arulenus Rusticus hervor (4): nam ita formari a me et institui cupit, ut ego a vobis solebam.41 Die Kinder des Aurulenus Rusticus sind auch das Thema des Briefes 2,18, der ebenfalls an Mauricus adressiert ist; Plinius wurde, so lesen wir, nicht nur mit der Suche nach einem Ehemann beauftragt, sondern auch um die Empfehlung eines Lehrers für die Kinder gebeten. Diese Briefe suggerieren dem Rezipienten nicht nur, dass zwischen Plinius und der Opposition gegen Domitian auch nach dessen Tod eine enge Verbindung bestand, sondern auch, dass Mitglieder dieser Gruppe sogar bei wichtigen Entscheidungen, die ihre Familie betrafen, auf Plinius vertrauten.42 Eine kurze Erwähnung des Mauricus, die innerhalb des Zyklus eine narrative Analepse bildet, erinnert nochmal an sein Schicksal unter Domitian (3,11,3): atque haec feci, cum septem amicis meis aut occisis aut relegatis, occisis Senecione, Rustico, Helvidio, relegatis Maurico, Gratilla, Arria, Fannia, tot circa me iactis fulminibus quasi ambustus mihi quoque impendere idem exitium certis quibusdam notis augurarer. Und dies tat ich, als sieben meiner Freunde entweder getötet oder verbannt worden waren – getötet wurden Senecio, Rusticus und Helvidius, verbannt Mauricus, Gratilla, Arria und
|| 39 Beutel (2000) 229 vermutet, dass Mauricus von einem Vorgehen gegen Regulus abgeraten hatte. 40 Zu seiner Person vgl. Sherwin-White (1966) 117. 41 „Denn er will von mir so unterwiesen und gebildet werden, wie ich es von Euch gewohnt war.“ 42 Vgl. Beutel (2000) 229–231.
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Fannia – und rings um mich so viele Blitze einschlugen, dass ich, gleichsam angesengt, aus einigen sicheren Anzeichen vermutete, mir stehe dasselbe Ende bevor.
Plinius, der als Prätor zur Zeit der Philosophen-Ausweisung aus Rom im Jahre 93 n. Chr.43 den Stoiker Artemidor finanziell unterstützte, sah sich damals schon selbst als eines der nächsten Opfer des Kaisers. Während die bisherigen Briefe, in denen Mauricus auftauchte, von der räumlichen Distanz zwischen diesem und Plinius geprägt waren, begegnen wir den beiden in epist. 4,22 an Sempronius Rufus44 gemeinsam als Mitglieder des consilium Traiani.45 Als in diesem Gremium darüber beraten wird, ob ein Sportfest nach griechischem Modell (1: gymnicus agon)46 in Vienna in der Provinz Gallia Narbonensis abgeschafft werden sollte, spricht sich Mauricus folgendermaßen aus (3): Cum sententiae perrogarentur, dixit Iunius Mauricus, quo viro nihil firmius, nihil verius, non esse restituendum Viennensibus agona; adiecit: ‘vellem etiam Romae tolli posset!’ Als alle nach ihrer Meinung gefragt wurden, sagte Mauricus, der standhaft und aufrichtig ist wie kein anderer, dass die Bürger von Vienna den Wettkampf nicht wieder einführen dürften. Er fügte hinzu: „Wenn er doch auch in Rom abgeschafft werden könnte!“
Zum ersten Mal vernehmen wir die Stimme des Mauricus hier in direkter Rede: Er artikuliert einen in der römischen Senatsaristokratie verbreiteten Vorbehalt gegen griechische Agonistik und fordert sogar, derartige Veranstaltungen auch in Rom zu unterbinden.47 Insbesondere dürfte er damit auf den von Domitian begründeten Kapitolinischen Agon anspielen, der (anders als die Neronia) den Tod und die damnatio memoriae des letzten Flaviers noch bis in die Spätantike überdauerte.48 Dieser Ausspruch wird vom Interlokutor als constanter et fortiter (4) gelobt, was Plinius dazu veranlasst, eine weitere Anekdote über Mauricus zu erzählen, die in der Zeit Nervas anzusiedeln ist: Während eines Gastmahls bei Nerva sei einmal die Rede auf einen berüchtigten Denunzianten des DomitianRegimes49 gekommen (4–5):
|| 43 Vgl. Sherwin-White (1966) 239f.; zu epist. 3,11 vgl. außerdem Lefèvre (2009) 60–66. 44 Zu seiner Person vgl. Sherwin-White (1966) 298. 45 Zu diesem Gremium vgl. epist. 6,22; 6,31; der Brief dürfte in die Zeit nach Plinius’ Konsulat zu datieren sein, vgl. Sherwin-White (1966) 298f. 46 Vgl. Sherwin-White (1966) 299. 47 Vgl. Mann (2015) 38. 48 Vgl. Suet. Dom. 4,4; Decker (1999). 49 Vgl. Tac. Agr. 45; Iuv. 4,113‒22.
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Cenabat Nerva cum paucis; Veiento proximus atque etiam in sinu recumbebat: dixi omnia, cum hominem nominavi. incidit sermo de Catullo Messalino, qui luminibus orbatus ingenio saevo mala caecitatis addiderat: non verebatur, non erubescebat, non miserebatur; quo saepius a Domitiano non secus ac tela, quae et ipsa caeca et improvida feruntur, in optimum quemque contorquebatur. de huius nequitia sanguinariisque sententiis in commune omnes super cenam loquebantur, cum ipse imperator: ‘quid putamus passurum fuisse, si viveret?’ et Mauricus: ‘Nobiscum cenaret.’ Nerva speiste mit wenigen Gästen. Veiento saß neben ihm, sogar ganz dicht dran – ich habe alles gesagt, wenn ich den Menschen erwähne. Das Gespräch kam auf Catullus Messalinus, der nach Verlust des Augenlichtes seinem grausamen Wesen noch das Übel der Blindheit hinzugefügt hatte; er scheute sich vor nichts, schämte sich für nichts und empfand kein Mitleid. Umso öfter wurde er von Domitian nicht anders als ein Geschoss, das blind und unversehens geworfen wird, gerade gegen die Besten geschleudert. Über dessen Verdorbenheit und blutgierige Urteile sprachen alle zusammen beim Essen, als der Kaiser selbst fragte: „Was würde ihm wohl widerfahren, wenn er noch lebte?“ Daraufhin Mauricus: „Er würde mit uns speisen.“
Nach einer kurzen Exposition zu Zeit und Ort der Handlung (cena unter Nerva) rückt zunächst die Figur des Fabricius Veiento in den Fokus: Dieser sitzt unmittelbar neben dem Kaiser, was angesichts seiner Rolle unter Nervas Vorgänger Domitian überraschen mag – Juvenal nennt Veiento in der vierten Satire als einen der Berater des Kaisers neben dem hier im Anschluss erwähnten Catullus Messalinus (113: et cum mortifero prudens Veiento Catullo).50 Über Veiento will Plinius gar keine Worte verlieren, da die bloße Nennung seines Namens schon genug Information liefere. Anders verhält es sich mit Catullus Messalinus, dessen Grausamkeit Plinius eingehend und stilistisch ausgefeilt durch den Vergleich mit einem blindlings geschleuderten Geschoss schildert; die ausführliche Charakterisierung des Catullus dient dazu, die Pointe der Erzählung vorzubereiten und zu verstärken: Als man über diesen Mann allgemein herzieht und Nerva in die Runde fragt, was wohl mit ihm geschehen würde, wenn er noch lebte, antwortet Mauricus mit einem aprosdoketon: Er würde – wohl ähnlich wie Veiento – ebenfalls am Mahl teilnehmen.51 Aus dem Brief 4,22 geht nicht hervor, ob Plinius selbst bei diesem Gastmahl anwesend war oder ihm der Vorfall von anderen berichtet wurde. Liest man diesen Brief jedoch zusammen mit epist. 4,17, wo ebenfalls eine cena bei Nerva thematisiert wird, dann kann der Rezipient vermuten, dass es sich um densel-
|| 50 „[…] und mit dem tödlichen Catullus der schlaue Veiento“; zu Veiento und Catullus vgl. Sherwin-White (1966) 300f. 51 Unter den Senatoren herrschte also das Gefühl, dass der Bruch mit dem Domitian-Regime weniger deutlich erfolgt war, als man es sich gewünscht hätte; vgl. Roche (2011) 46.
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ben Anlass handelt und man die beiden Briefe als companion-pieces lesen soll. In epist. 4,17 geht es eigentlich um die Tochter des Corellius Rufus, der Brief beinhaltet aber eine längere Würdigung ihres von Plinius sehr bewunderten Vaters (4–9);52 bereits der Brief 1,12 liefert einen Nachruf auf Corellius, der von langer Krankheit gequält stoischen Selbstmord begeht und am Sterbebett verkündet, er habe seine quälenden Schmerzen nur deshalb so lange erduldet, um Domitian wenigstens um einen Tag zu überleben (1,12,8: ‘ut scilicet isti latroni vel uno die supersim’).53 In epist. 4,17 berichtet Plinius, wie er einmal mit Corellius zu Gast bei Nerva war; hier stellt sich nun heraus, dass die Tischgespräche beim Kaiser offenbar nicht nur von negativen Charakteren wie Catullus Messalinus handelten, sondern auch von boni iuvenes (4,17,8): Nam cum forte de bonis iuvenibus apud Nervam imperatorem sermo incidisset, et plerique me laudibus ferrent, paulisper se intra silentium tenuit, quod illi plurimum auctoritatis addebat; deinde gravitate quam noras: ‘Necesse est’ inquit ‘parcius laudem Secundum, quia nihil nisi ex consilio meo facit.’ Denn als das Gespräch bei Kaiser Nerva zufällig auf die tüchtigen jungen Männer kam und die meisten mich lobten, verharrte er ein wenig in Schweigen, was ihm sehr viel Gewicht verlieh. Dann sagte er mit der Würde, die Dir bekannt ist: „Ich muss Secundus sparsamer loben, weil er nichts ohne meinen Rat tut.“
Als Plinius von den meisten Teilnehmern als bonus iuvenis gepriesen wird, hält sich sein Mentor Corellius Rufus auffallend zurück; ein Lob auf Plinius würde nämlich wie Selbstlob wirken, da der junge Mann ja in allen Angelegenheiten seinen, d.h. des Corellius Rat befolge. Die Briefe 4,17 und 4,22 variieren das Thema symposialer Gespräche und sind auch verbal aufeinander bezogen (4,17,8: de […] sermo incidisset; 4,22,5: incidit sermo de): Während der eine Text von Lobreden auf die jungen Männer der Gegenwart handelt, geht es im anderen um Scheltreden auf einen Vertreter des vergangenen Regimes. Plinius stilisiert sich dadurch indirekt zu einer Kontrastfigur zu Charakteren wie Veiento und Catullus Messalinus, während die von ihm bewunderten Domitian-Gegner Corellius und Mauricus einander durch ihre Schlagfertigkeit entsprechen; zeichnet sich der eine durch seine Bedachtsamkeit bzw. gravitas aus, sticht der andere durch seine Freimütigkeit hervor. Nachdem der Mauricus-Zyklus bisher von politischen Themen geprägt war, schließt er mit einem Brief, der das Bild eines gemeinsamen otium entwirft: || 52 Vgl. epist. 1,12; 9,13,6. 53 „Damit ich diesen Räuber wenigstens um einen Tag überlebe“; eine Analyse dieses Briefes bietet Fögen (2015) 24–27.
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Mauricus hat Plinius in 6,1454 auf sein Formianum eingeladen (1: sollicitas me in Formianum),55 und Plinius sagt unter der Bedingung zu, dass Mauricus sich keine Umstände macht, denn (1): neque enim mare et litus, sed te, otium, libertatem sequor.56 Besonders die Wahl des letzten Gliedes in diesem Trikolon (te, otium, libertatem) ist vielsagend: Mit libertas ist hier die Freiheit von Pflichten und negotia gemeint, doch in einem Brief an ein ehemaliges Domitian-Opfer schwingen natürlich auch andere Konnotationen mit – libertas war immerhin ein politisches Schlagwort der Regierung Nervas (Tac. Agr. 3: et quamquam primo statim beatissimi saeculi ortu Nerva Caesar res olim dissociabilis miscuerit, principatum ac libertatem).57 Auch der nächste Satz ist doppeldeutig (2): oportet enim omnia aut ad alienum arbitrium aut ad suum facere.58 Die Antithese zwischen Zwang und eigenem Willen ist nun aus dem politischen Diskurs, der den Mauricus-Zyklus bisher prägte, in den otium-Diskurs verlagert worden.59 Betrachten wir Plinius’ Strategien der Lektüresteuerung noch anhand einer weiteren Figur: Nachdem in epist. 1,12 vom Tod des Corellius Rufus erzählt wurde, handelt epist. 3,3 an Corellius’ Tochter, Corellia Hispulla, von der Suche nach einem rhetor Latinus für ihren Sohn, den Enkel des Corellius. Ähnlich wie bei den Kindern des Arulenus Rusticus will Plinius auch hier diese Aufgabe übernehmen.60 Gesucht wird jemand, dessen Schule für severitas, pudor und castitas steht.61 Mit Iulius Genitor62 meint Plinius den richtigen Mann gefunden zu haben und charakterisiert ihn folgendermaßen (5–6): vir est emendatus et gravis, paulo etiam horridior et durior, ut in hac licentia temporum. quantum eloquentia valeat, pluribus credere potes, nam dicendi facultas aperta et exposita statim cernitur […] nihil ex hoc viro filius tuus audiet nisi profuturum, nihil discet, quod
|| 54 Sherwin-White (1966) 369 datiert den Brief auf etwa 106/7 n. Chr. 55 „Du lockst mich auf Dein Formianum […]“. 56 „Denn ich folge nicht dem Meer und dem Strand, sondern Dir, der Muße und der Freiheit.“ 57 „[…] und obwohl gleich zu Beginn des glücklichsten Zeitalters Nerva Caesar zwei ehemals unversöhnbare Dinge miteinander vereinte, die kaiserliche Regierung und die Freiheit.“ 58 „Man muss nämlich alles entweder nach fremdem oder eigenem Gutdünken tun.“ 59 Vgl. Gibson/Morello (2012) 64. 60 Während in epist. 2,18 darauf hingewiesen wird, dass Plinius auf die Bitte des Mauricus hin aktiv wird (1: quid a te mihi iucundius potuit inungi), scheint er in epist. 3,3 unaufgefordert zu handeln; möglicherweise war Corellia mit Neratius Priscus verheiratet, der zu dieser Zeit in Pannonien gewesen sein könnte; vgl. Carlon (2009) 74 und 80; Shelton (2013) 204f. 61 In epist. 9,17 an Genitor werden diese Charakterzüge nochmals betont: Genitor hatte sich über ein Gastmahl beschwert, bei dem freizügige Unterhaltung durch scurrae, cinaedi und moriones geboten worden war. 62 Er ist ansonsten unbekannt; vgl. Sherwin-White (1966) 213.
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nescisse rectius fuerit, nec minus saepe ab illo quam a te meque admonebitur, quibus imaginibus oneretur, quae nomina et quanta sustineat. Er ist ein tadelloser und charakterfester Mann, sogar ein wenig zu rau und streng, wie es in dieser gegenwärtigen Zügellosigkeit scheint. Wieviel er in der Beredsamkeit vermag, kannst du mehreren Leuten glauben, denn seine Redegewandtheit lässt sich offen und augenscheinlich sofort erkennen […] Nichts wird Dein Sohn von diesem Mann hören außer Nützliches, nichts wird er lernen, was nicht zu wissen besser wäre, und nicht weniger oft als von Dir und mir wird er von diesem daran erinnert werden, welche Ahnenreihe auf ihm lastet, welchen und wie großen Namen er gerecht werden muss.
Im selben Buch, in dem Plinius die Figur des Iulius Genitor einführt, findet sich auch der erste an ihn gerichtete Brief, die schon zuvor kurz betrachtete epist. 3,11:63 Plinius und Genitor haben als gemeinsamen Freund den stoischen Philosophen Artemidor, Schwiegersohn des C. Musonius Rufus.64 Dieser Artemidor hatte Plinius bei Genitor offenbar überschwänglich gelobt (8: quod me cum apud alios tum apud te tantis laudibus cumulat)65 und Plinius gibt nun vor, dieses Lob nicht zu verdienen und eine „Richtigstellung“ präsentieren zu wollen. In diesem Zusammenhang geht er nun auf den Grund für Artemidors Lob ein, nämlich dass Plinius ihn als Prätor66 während der Philosophenausweisung durch Domitian finanziell unterstützt habe – und das trotz persönlicher Gefährdung. Plinius kommentiert sein damaliges Verhalten mit den Worten (4): non ideo tamen eximiam gloriam meruisse me, ut ille praedicat, credo, sed tantum effugisse flagitium.67 Es liege an der Gutmütigkeit (benignitas) Artemidors, die Freunde höher einzuschätzen als sie es verdienen (9: errore versatur, quod pluris amicos suos, quam sunt, arbitratur).68 Trotz dieser Einwände, die Plinius gegen Artemidors Lob im Rahmen einer vordergründig privat ausgerichteten Korrespondenz mit Genitor vorbringt, präsentiert er sich durch ein iudicium alienum den Lesern als mutiger Freund der stoischen Opposition. Der zuvor in epist. 3,3 als strenger, weiser und aufrechter Mann charakterisierte Genitor hat als Adressat in epist. 3,11 nicht zuletzt die Funktion, der Selbstdarstellung des Plinius Raum zu geben, wenn sich dieser zum Freund und Förderer gelehrter Männer stilisiert.
|| 63 Vgl. die Analyse bei Shelton (1987). 64 Vgl. Sherwin-White (1966) 239 und 244. 65 „[…] dass er mich bei anderen und insbesondere bei Dir mit so großem Lob überhäuft.“ 66 Zur Datierung der Prätur des Plinius ins Jahr 93 n. Chr. vgl. Sherwin-White (1966) 75. 67 „Dennoch glaube ich nicht, deshalb besonderes Lob verdient zu haben, wie jener behauptet, sondern nur ehrloses Handeln vermieden zu haben.“ 68 „[…] er macht einen Fehler, wenn er seine Freunde höher einschätzt, als ihnen zukommt.“
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Auch der nächste Brief, den Plinius an Genitor richtet, scheint einem ähnlichen Zweck zu dienen. Nachdem Genitor in epist. 3,3 als überaus kompetenter rhetor Latinus gepriesen worden ist, erfahren wir in epist. 7,30, dass er Plinius’ Rede de Helvidi ultione gelesen und folgendermaßen bewertet hat (4–5): cum lego, ex comparatione sentio, quam male scribam, licet tu mihi bonum animum facias, qui libellos meos de ultione Helvidi orationi Demosthenis κατὰ Μειδίου confers. quam sane, cum componerem illos, habui in manibus, non ut aemularer (improbum enim ac paene furiosum), sed tamen imitarer et sequerer, quantum aut diversitas ingeniorum maximi et minimi, aut causae dissimilitudo pateretur. Wenn ich lese, merke ich aus dem Vergleich, wie schlecht ich schreibe, auch wenn Du mich ermutigst, der Du meine Bücher Über die Rache für Helvidius mit Demosthenesʼ Rede Gegen Meidias vergleichst. Die hatte ich freilich, als ich jene Bücher verfasste, in Händen, nicht um mit ihr zu wetteifern (das wäre unverschämt und nahezu wahnwitzig), aber um sie nachzuahmen und ihr zu folgen, insoweit es der Unterschied zwischen einem sehr großen und sehr kleinen Talent sowie die Verschiedenheit der Fälle zuließ.
Von seinen Versuchen, Demosthenes zu imitieren, hatte Plinius bereits in epist. 1,2 gesprochen (2: temptavi enim imitari Demosthenen),69 und nun wird er sogar von einer anderen Person mit dem griechischen Redner verglichen. Da Genitor dem Leser schon aus epist. 3,3 als rhetorische Koryphäe bekannt ist, denkt man in Brief 7,30 unweigerlich daran, dass das Lob auf Plinius’ Redekunst aus besonders berufenem Mund kommt. Nicht nur die Lektüre von epist. 7,30 wird so gesteuert, sondern auch von epist. 9,13, wo die Hintergründe zur oratio de Helvidi ultione ausführlich geschildert sind. Noch bevor der Rezipient Genaueres über die Umstände dieser oratio erfährt, wird ihm suggeriert, dass sie bei zeitgenössischen Experten großen Anklang fand. Die bislang betrachteten Beispiele dürften gezeigt haben, dass die Briefe an und über verschiedene Adressaten keineswegs willkürlich angeordnet sind und die einzelnen Figuren bestimmte Funktionen im Rahmen der epistolographischen Selbstdarstellung des Plinius erfüllen. Wie im Folgenden noch kurz ausgeführt werden soll, kann das Auftreten verschiedener Adressatenfiguren auch metaliterarischen Zwecken dienen. In manchen Fällen scheinen Adressaten nicht nur die Leser von einzelnen an sie gerichteten Briefen zu sein, sondern auch von ganzen Briefbüchern oder gar der gesamten Sammlung, wie etwa das folgende Briefpaar nahelegt: In epist. 2,2 wird wieder einmal das Zorn-Motiv variiert, allerdings anders als in der zuvor betrachteten epist. 1,5; Plinius zürnt
|| 69 „Ich versuchte nämlich, Demosthenes nachzuahmen“; zu Plinius und Demosthenes vgl. Tzounakas (2015).
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diesmal seinem Freund Paulinus,70 weil dieser so lange keine Briefe geschickt hat (1: graviter irascor, quod a te tam diu litterae nullae).71 Der Adressat habe nur eine Möglichkeit, Plinius zu besänftigen, und zwar durch sehr viele und lange Briefe (2): Exorare me potes uno modo, si nunc saltem plurimas et longissimas miseris. Haec mihi sola excusatio vera, ceterae falsae videbuntur.72 In epist. 9,2 wiederum rechtfertigt sich Plinius seinem Adressaten Sabinus73 gegenüber, warum er ihm nicht öfter und ausführlicher schreiben konnte, und leitet den Brief folgendermaßen ein (1): Facis iucunde, quod non solum plurimas epistulas meas, verum etiam longissimas flagitas.74 Nach einigen Begründungen für das Ausbleiben seiner Briefe (mangelnder Stoff und militärische Verpflichtungen des Adressaten) schließt Plinius mit den Worten (5): Habes, ut puto, iustam excusationem […]. Est enim summi amoris negare veniam brevibus epistulis amicorum, quamvis scias illis constare rationem.75 Die von Plinius in der Einleitung wiederholten Worte des Sabinus greifen das in epist. 2,2 Gesagte auf, sodass der Eindruck entsteht, Sabinus habe auf diesen Brief reagiert – wohl deshalb, weil er ihn in publizierter Form gelesen hat: Nachdem Plinius in epist. 2,2 plurimas et longissimas epistulas von Paulinus gefordert hatte, stellte Sabinus offenbar dieselbe Forderung in seinem Brief an Plinius, da er aus dem Fehler des Paulinus gelernt zu haben schien. Die Gründe, die Plinius in epist. 9,2 gegenüber Sabinus als Entschuldigung für ausbleibende Schreiben anführt, wollte er selbst in epist. 2,2 an Paulinus nicht akzeptieren, und so wird deutlich, dass die beiden Briefe dasselbe Thema einmal aus der Perspektive des Adressanten und dann des Adressaten variieren.76 Vermutlich ist es auch nicht unbeabsichtigt, dass auf dieses Beispiel einer (wenn auch indirekten) Leserreaktion in 9,2 wieder ein Brief an Paulinus folgt (9,3), in dem Plinius sich dazu bekennt, den Lohn
|| 70 Vermutlich C. Valerius Paulinus, Suffektkonsul des Jahres 107 n. Chr. vgl. Sherwin-White (1966) 146; Whitton (2013a) 84. 71 „Ich bin schwer verärgert, weil von Dir so lange keine Briefe kommen.“ 72 „Besänftigen kannst Du mich nur auf einem Weg, nämlich wenn Du wenigstens jetzt sehr viele und sehr lange Briefe schickst. Das allein wird mir als aufrichtige Entschuldigung erscheinen, alles andere als unaufrichtig.“ 73 Vermutlich Statius Sabinus aus Firmum, wie Sherwin-White (1966) 482f. argumentiert. 74 „Es ist lieb von Dir, dass Du nicht nur sehr viele, sondern auch sehr lange Briefe von mir forderst.“ 75 „Da hast Du, wie ich meine, eine begründete Entschuldigung […]. Es ist nämlich Zeichen größter Liebe, wenn man den kurzen Briefen von Freunden keine Nachsicht schenkt, obwohl man weiß, dass sie einen Grund dafür haben.“ 76 Marchesi (2008) 229–232 arbeitet heraus, wie sich die beiden Briefe in ihrer Struktur spiegeln.
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der Unsterblichkeit anzustreben (1: mihi […] praemium aeternitatis ante oculos).77 Leserreaktionen, wie wir sie am Briefpaar 2,2 und 9,2 erkennen können, werden an anderer Stelle sogar explizit thematisiert: In epist. 6,10 an Albinus78 berichtet Plinius von einem Besuch auf dem Landgut seiner Schwiegermutter in Alsium, das früher einmal Verginius Rufus gehört hatte.79 Der Besuch dieses Ortes ließ dabei, so heißt es, die Sehnsucht nach dem nunmehr seit einer Dekade verstorbenen Verginius wiederaufkeimen – die Junktur desiderium non sine dolore renovavit (1)80 erinnert an den Beginn des zweiten Aeneis-Buches (3: Infandum, regina, iubes renovare dolorem).81 Schmerzhaft ist für Plinius auch die Erkenntnis, dass das Grabmal des Verginius Rufus stark vernachlässigt wurde und zehn Jahre nach dessen Tod82 noch immer ohne Grabinschrift auf dem ehemaligen Landgut des Verstorbenen in Alsium liegt. Dabei hatte Verginius selbst zu Lebzeiten eine Grabinschrift entworfen, in der sein Sieg über Iulius Vindex und sein Verzicht auf die Kaiserwürde verewigt wurden;83 dieses SelbstEpitaph wird von Plinius zitiert: Hic situs est Rufus, pulso qui Vindice quondam imperium adsuerit non sibi, sed patriae. Hier ist Rufus begraben, der einst nach dem Sieg über Vindex die Herrschaft nicht für sich selbst beanspruchte, sondern für seine Heimat.
Durch die Integration dieses Grabepigramms in die publizierte Briefsammlung84 übernimmt Plinius sozusagen die Aufgabe des Erben, der eigentlich für die Anbringung der Inschrift verantwortlich wäre.85 Dass ein Brief ein Epitaph ersetzen kann, wird auch dadurch suggeriert, dass dieselben Verse in Buch 9 || 77 „Ich habe […] den Lohn der Unsterblichkeit vor Augen.“ 78 Vielleicht Lucceius Albinus, vgl. Sherwin-White (1966) 365. 79 Inzwischen gehört es Plinius’ Schwiegermutter Pompeia Celerina; vgl. epist. 1,4; SherwinWhite (1966) 365. 80 „[…] ließ die Sehnsucht nicht ohne Schmerz wieder aufleben.“ 81 „Einen unsäglichen Schmerz, oh Königin, lässt du mich wieder beleben.“ 82 Vgl. epist. 2,1; Verginius starb 97 n. Chr., im Jahr als Tacitus Konsul war; vgl. SherwinWhite (1966) 142; Whitton (2013a) 65–83. 83 Vgl. Sherwin-White (1966) 142f. und Whitton (2013a) 68–70 ad epist. 2,1,2. 84 Auch in andere Briefe sind Epigramme eingelegt: epist. 3,21,5 (Martial); 4,14,5 (Catull); 4,27,4 (Sentius Augurinus); 7,4,6 (Plinius/Cicero); 7,9,11 (Plinius); 9,19,1 (Epitaph auf Verginius Rufus). 85 Vgl. Sherwin-White (1966) 366: „The neglect was probably due to the fact that the heir sold the estate, though the sale did not cancel his obligation.“
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noch einmal zitiert werden. Hier ist jedoch nicht mehr Albinus der Adressat, sondern Ruso, an den epist. 9,19 gerichtet ist;86 wie der Anfang des Briefes suggeriert, hat Ruso offenbar epist. 6,10 an Albinus gelesen (1): Significas legisse te in quadam epistula mea iussisse Verginium Rufum inscribi sepulcro suo […]87 Es folgt erneut das Zitat der Inschrift und dann ein Hinweis darauf, dass Ruso an diesem Selbstepitaph Anstoß genommen (1: reprehendis, quod iusserit)88 und Verginius mit Iulius Frontinus verglichen habe, der überhaupt auf ein Denkmal verzichtete.89 Indem Plinius in epist. 9,19 die Worte des Ruso wiedergibt und ihn als Leser seiner Briefe charakterisiert, inszeniert er einen reader-response und wendet damit eine literarische bzw. poetologische Strategie an, wie wir sie vor allem aus den Dichtungen Catulls, Ovids und Martials90 kennen. Den hier diskutierten Beispielen ließen sich freilich noch zahlreiche hinzufügen, doch es dürfte deutlich geworden sein, wie Plinius seine Adressaten bewusst in das Briefkorpus einführt, indem er sie mal als handelnde Figuren, mal als Empfänger seiner Briefe auftreten lässt und dadurch seine soziale community konstruiert.91 So werden manche der Adressaten, wie etwa Spurinna, Mauricus und Genitor, in einigen Briefen schon „vor-charakterisiert“, bevor der Leser direkt in die Korrespondenz mit ihnen eintaucht. Im Falle Spurinnas ließ sich etwa zeigen, dass der ihn betreffende Brief-Zyklus in zwei Hälften geteilt ist, und zwar eine, die seine öffentlich-politische persona hervorhebt (1,5; 2,7), und eine, in der seine private und literarische Seite zum Vorschein kommt (3,10; 4,27; 5,17), wobei epist. 3,1 die Mitte bzw. den Übergang zwischen den beiden Teilen bildet. Bemerkenswert ist auch die Art und Weise, wie sich der Zyklus über Iunius Mauricus entfaltet: Der wiederholte Hinweis in epist. 1,5, dass Plinius auf die Rückkehr des Verbannten wartet, findet sich wohl kaum unbeabsichtigt am Beginn der Briefsammlung, während der letzte Brief über bzw. an Mauricus (6,14) vom otium handelt und somit ein passendes closure-Motiv liefert.92 Das Beispiel des Iulius Genitor zeigt ebenfalls eindrücklich, wie Plinius durch die Charakterisierung bestimmter Adressaten vor der eigentlichen Korrespondenz mit ihnen die Lektüre seiner Briefsammlung steuert. Schließlich haben wir gesehen, dass Plinius mitunter die kommunikativen Ebenen zwischen Adres|| 86 Zu diesem Briefpaar vgl. Klodt (2015); zur Person des Ruso vgl. Sherwin-White (1966) 502. 87 „Du gibst mir zu verstehen, dass Du in einem meiner Briefe gelesen hast, Verginius Rufus habe für sein Grab folgende Inschrift aufsetzen lassen […].“ 88 „Du tadelst, dass er das veranlasst hat […].“ 89 Zu C. Iulius Frontinus vgl. Sherwin-White (1966) 503; Plin. epist. 4,8,3; 5,1,5; paneg. 61. 90 Vgl. Holzberg (2006). 91 Zu Plinius und seiner community vgl. Riggsby (1998). 92 Zu closure bzw. false closure bei Plinius s. Whitton (2013b).
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sant und Adressat sowie Autor und Leser überlagert, sozusagen in Form einer narrativen Metalepse: So erscheinen Briefempfänger wie Sabinus in 9,2 oder Ruso in 9,19, d.h. am Ende des Korpus, nicht nur als Leser des jeweiligen Briefes, sondern auch als model readers und Rezipienten der publizierten Sammlung.
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Markus Hafner
Zur Konstruktion der ‚Lachgemeinschaft‘ in Lukians fiktiven Brief-Fassaden 1 Briefe bei Lukian? Es mag auf den ersten Blick abwegig erscheinen, Texte des syrischen Schriftstellers Lukian von Samosata, der in Antoninischer Zeit ein umfangreiches und thematisch heterogenes Textkorpus von rund 80 Schriften verfasste, mit Briefliteratur in Verbindung zu bringen. Denn von gelegentlich verwendetem epistolarem Präskript und ‚eingelegten Briefen‘1 – sowie den fälschlicherweise unter Lukians Namen firmierenden, pseudepigraphischen Briefen2 – abgesehen, ist kein Lukianischer Text in toto als realer oder literarischer Brief stilisiert. Dagegen offenbart eine Reihe von Texten3 auf der inhaltlichen Ebene epistolare || Mein besonderer Dank gilt Martin Hose für die Möglichkeit, das Thema des vorliegenden Beitrags in einem Münchner Kolloquium diskutieren zu können; ferner den Organisatorinnen, Teilnehmenden und Diskutierenden der Eichstätter Tagung, von deren Vorschlägen und Ideen ich sehr profitieren konnte. Wichtige Hinweise verdanke ich insbesondere Thorsten Fögen, Peter von Möllendorff, Jan Stenger sowie ferner Émeline Marquis. 1 Nur zwei Texte Lukians weisen ein epistolares Präskript auf, nämlich das dem Nigrinos vorangestellte und mit Πρὸς Νιγρῖνον ἐπιστολή betitelte ‚Begleitschreiben‘ (Nigr. pr.: Λουκιανὸς Νιγρίνῳ εὖ πράττειν) sowie die Schrift Peregrinos (Peregr. 1: Λουκιανὸς Κρονίῳ εὖ πράττειν). Ferner enthalten die Lukanischen Saturnalia (Τὰ πρὸς Κρόνον) eine Korrespondenz von zwei Briefpaaren zwischen dem Gott Kronos, einem unbestimmten ‚Ich‘ und den ‚Reichen‘: Hierzu Slater (2013) sowie Baumbach/von Möllendorff (2017) 124–127 (zum Brief als Darstellungsmedium in Nigr., Sat.). In größere Textzusammenhänge eingelegte Briefe finden sich VH 2.35 (Odysseus an Kalypso) – vgl. Bär (2013) – und Symp. 22–27 (Schreiben des Hetoimokles). 2 Die 42 pseudepigraphischen Briefe, die der Codex Laurentianus 57.51 (11. Jh.) bietet, wurden von späteren Lukian-Editoren nicht in das Textcorpus aufgenommen (vgl. Macleods OCT Bd. 4, praef. XVf.); bereits Hercher (1873) verneint deren Authentizität: Vgl. Baumbach/von Möllendorff (2017) 124. 3 Folgende Texte bilden die Grundlage der vorliegenden Untersuchung: lib. 36 De Mercede Conductis („Das traurige Los der Gelehrten“: Merc. Cond.), lib. 41 Rhetorum Praeceptor („Der Redelehrer“: Rhet. Praec.), lib. 42 Alexander sive Pseudomantis („Alexander oder Der Lügenprophet“: Alex.), lib. 55 De Morte Peregrini („Der Tod des Peregrinos“: Peregr.), lib. 59 Quomodo Historia Conscribenda Sit („Wie man Geschichte schreiben soll“: Hist. Cons.), lib. 65 Apologia („Apologie“: Apol.). Ambivalent ist die kommunikative Situation dagegen in lib. 31 Adversus Indoctum et Multos Libros Ementem („Gegen den eingebildeten Büchernarren“: Ind.), lib. 51
https://doi.org/10.1515/9783110676303-011
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Kommunikationsstrategien:4 Hierzu zählt v. a. die durchgängige Adressierung einer mit ‚Du‘ angesprochenen Figur in monologischer Rede5 sowie epistolare Topik wie die Thematisierung der Absenz des Adressaten (Apol. 1, Peregr. 2), die vorangegangene Anfrage des Adressaten, der Adressant solle ihm ein Buch übersenden, worauf der ‚Brief‘ Bezug nimmt (Alex. 1), oder schließlich die Bitte um Rat, die dem Adressaten mittels des entsprechenden Textes gewährt wird (Rhet. Praec. 1: Ἐρωτᾶς, ὦ μειράκιον, κτλ.).6 Ferner wird der Adressat über persönliche Worte in die Erzählung miteingebunden, wenn z.B. auf dem textexternen Leser unbekannte und allein den fiktiven Korrespondenten geläufige Begebenheiten oder Persönlichkeiten angespielt wird (vgl. u.a. Alex. 47, Apol. 15, Hist. Cons. 5, Merc. Cond. 26, 33, Peregr. 3, 43).7 In jedem der entsprechenden Texte Lukians wird ein fiktiver interner Adressat als Mittler- und Projektionsfigur etabliert: Seine Rolle schwankt zwischen einem ‚idealen Leser‘ oder Komplizen bis hin zum Ziel und Opfer maliziöser Invektive. Die fiktive Nähe des Adressanten oder Sprechers zu dieser Figur begründet den Vertrautheitscharakter und den hohen Grad an Emotionalisierung – sei es im Rahmen von Paränese oder Invektive – der schriftlichen Mitteilung. Der Privatbrief als narrative Form suggeriert zudem eine ehrliche, wahrheitsgetreue Darstellung und lässt die textexternen Rezipienten gewissermaßen durch das ‚Schlüsselloch‘ der (auf der Ebene der Brieffiktion) vertraulichen Korrespondenz schielen. Insgesamt macht Lukian von einem Vorteil der Briefform Gebrauch, den Janet G. Altman als formale Grundsignatur epistolaren Schreibens erkennt: von der Polarität zwischen artifiziell gestalteter Briefform und epistolarer persona einerseits, der freundschaftlichen Beziehung der Korrespondenten andererseits, von der Polarität also zwischen Nähe und Distanz, Intimität und Desillusionierung.8 Bei Lukian tritt diese Spannung durch die starke Emotionalisierung und die Bereitschaft zu || Pseudologista („Apophras gegen einen gewissen Timarchos“: Pseudol.) sowie lib. 64 Pro Lapsu inter Salutandum („Verteidigung für einen Fehler beim Grüßen“: Laps.), wo jeweils eine mündliche Mitteilung evoziert wird, ungeachtet dessen jedoch mit den ‚epistolaren‘ Texten vergleichbare Kommunikationsstrukturen und Rollen-Konfigurationen sichtbar werden: S.u. 3.2 und 3.3. 4 Hierzu vgl. übersichtlich Trapp (2003) 1 und 38–42, Gibson/Morrison (2007) 3. 5 Anklänge an Briefliteratur (z.B. die wiederholte Anrede des Empfängers) erkennt auch Zweimüller (2008) 13 mit Anm. 9 (bzgl. Rhet. Praec., Merc. Cond., Hist. Cons. sowie Alex. und Peregr.). Pilhofer et al. (2005) 48 bestätigen Jacob Bernays’ Diktum über Peregr. („Die Schrift „ist in Briefform abgefasst““). Vgl. ebd. 9. 6 Zweimüller (2008) 172 verweist auf Parallelen in den ‚Lehrbriefen‘ Epikurs sowie Senecas: Vgl. Epik. Pyth. 84 (ἐδέου […] ἀποστεῖλαι); Sen. epist. 1,7,1 (quaeris), 1,9,1 (desideras scire). 7 Vgl. Pilhofer et al. (2005) 7. 8 Hierzu Altman (1982) 13–46.
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vertraulicher Mitteilung auf der einen, durch die fiktiven Adressaten-Namen9 und insgesamt die fiktionale Anlage der kommunikativen Situation auf der anderen Seite hervor. Lukian verzichtet dagegen völlig auf die Thematisierung medial-materieller Aspekte eines Briefs (z.B. des Schreibvorgangs, des Überbringens und Erhaltens etc.) sowie i.d.R. auf epistolares Prä- oder Postskript: In dieser Hinsicht bleibt die Briefform bei ihm bloße Fassade.10 Jedoch macht er sich die kommunikativen Strategien literarischer Briefe zunutze: Epistolarität erscheint hierbei als ‚offene Form‘,11 mittels welcher gegenüber dem stereotypen kommunikativen ‚Du‘ in einem imaginären Gespräch i.S.d. sermo absentium vertrauliche Mitteilungen, besonders Ermahnung oder Vorwurf, geäußert werden: So kann der Adressat sich z.B. als fictus interlocutor fragend oder durch Zwischenrufe an den Sprecher wenden12 – oder imaginär seine Gedanken äußern.13 Gleichzeitig fungiert diese fiktive ‚2. Person‘, das ‚Du‘, als Mittlerfigur für die textexternen Rezipienten, die als erweiterter Empfängerkreis der Texte anvisiert sind:14 Dieser Duplizität der Adressaten entspricht die Spannung zwischen ‚Brief-Fiktion‘ und literarischem Werk mit breitem Empfängerradius. Die Einkleidung in eine Briefform erscheint bereits in Epikurs Briefen: So nennt Jan Erik Heßler den Menoikeus-Brief zwar aufgrund inhaltlicher Kriterien „eine paränetisch-symbouleutische literarische Epistel“ und einen „Lehrbrief“. Der Brief weise jedoch zugleich Kriterien auf, „die ihn nicht der Briefliteratur, sondern der paränetisch-protreptischen zugehörig“ erweisen.15 Mit anderen
|| 9 Vgl. nomina loquentia wie ‚Timokles‘ in Merc. Cond. oder den Gesundheitswünsche entgegennehmenden patronus ‚Asklepios‘ in Pro Lapsu. 10 Zu den üblichen Brief-Merkmalen vgl. Gibson/Morrison (2007) 3: 1) „a written message from one person (or set of people) to another“, 2) „requiring to be set down in a tangible medium“, 3) „which itself is to be physically conveyed from sender(s) to recipient(s)“, 4) „overtly addressed from sender(s) to recipient(s), by the use at beginning and end of one of a limited set of conventional formulae of salutation (or some allusive variation of them) which specify both parties to the transaction“, 5) „[usually involving] two parties [who] are physically distant (separated) from one another, and so are unable to communicate by unmediated voice or gesture“, 6) „normally expected to be of relatively limited length“. 11 So die Terminologie von Pilhofer et al. (2005) 5 mit Blick auf die Schrift Peregr. 12 Vgl. Alex. 21 (Τίνες οὖν αἱ ἐπίνοιαι, ἴσως γὰρ ἐρήσῃ με), Merc. Cond. 22 (ἴσως ἐρήσῃ με· “οὐχ ὁρῶ κτλ.”). 13 So etwa Apol. 1, Peregr. 2. 14 Repräsentativ hierfür ist Merc. Cond. 4, wo von einem über den individuellen Adressaten hinausgehenden Rezipientenkreis, den Gebildeten (πεπαιδευμένοι), die Rede ist. Dies wird in Apol. 3 bestätigt. 15 Die Zitate entstammen Heßler (2014) 39f.
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Worten sind auf den ersten Blick un-epistolare literarische Textformen in Epikurs Briefe integriert. Sie richten sich ebenfalls an ein über den individuellen Adressaten hinausgehendes Publikum. So thematisiert Epikur bisweilen ein Adressaten-Kollektiv, seine anonymen φίλοι, und damit eine allgemeine Leserschaft. Wie bei Epikur transportiert auch bei Lukian die Brief-Einkleidung eine Wahrnehmung der Nähe und Vertrautheit, was auch dem persuasiven Zweck des jeweiligen Textes geschuldet ist: So wirkt der Sprecher, wenn er sich vertraulich an einen guten Freund wendet, glaubwürdiger und sympathischer.16 Dabei destruiert auch der Umfang der Texte nicht die epistolare Fassade: Übersteigen doch bereits Epikurs Lehrbriefe ein für literarische Episteln übliches Maß.17 Die Vorteile der Briefform im Rahmen der literarischen Produktion der Zweiten Sophistik und allgemein der Kaiserzeit liegen auf der Hand:18 Bei dieser rhetorisch ausgefeilten Kunstform tritt die besondere Kompositionskunst und sprachlich-literarische Bildung als Signatur ihres Verfassers zutage. Mittels der literarischen Formung fiktiver Briefkorrespondenten konnten Autoren wie Lukian ihre rhetorischen Fähigkeiten der Charakterzeichnung (ἠθοποιία/Ethopoiie) zur Geltung bringen sowie ihre Bildung (παιδεία) demonstrieren: So ist im brieftheoretischen Ansatz von Pseudo-Libanios von der Vielfalt und dem Facettenreichtum der Briefform die Rede (De forma epistolari 1: ὁ μὲν ἐπιστολικὸς χαρακτὴρ ποικίλος τε καὶ πολυσχιδὴς ὑπάρχει),19 deren Komposition dem Schreibenden große Sorgfalt (ἀκρίβεια) und Kunstfertigkeit (τέχνη) abverlange.20
|| 16 Vgl. Hose (2015) 250 („This broad circle of addressees suggests that this was an ‚open‘ letter-form that aimed also to a general readership“) mit Verweisen auf Epikur frg. 106–109 Usener. 17 Beispielsweise wird auch in den Episteln des Horaz, v.a. im Bereich der Literaturkritik, die Briefform durch die Länge, den didaktischen Tonfall und die Lehrerrolle des Sprechers verunklart. 18 Hierzu vgl. Schmitz (2004), Hodkinson (2007) und König (2007). Mit seinen auf den Anlass abgestimmten, ‚sprechenden Namen‘ und den inkonsistenten Rollen von Adressanten und Adressaten ähneln Lukians epistolare Konstruktionen denjenigen anderer kaiserzeitlicher Autoren wie Alkiphron – zu dessen literarischer Zeichnung der Briefpartner s. Fögen (2007) – oder Aelian, jedoch mit dem Unterschied, dass bei diesen die fiktiven Briefe zu sequentiellen Sammlungen angeordnet und bisweilen mit Antwortbriefen versehen sind, während sie sich bei Lukian dispers über das vielschichtige Œuvre verteilen. 19 Zeugnis bei Trapp (2003) 188 (Text 76 §1). 20 τῶι γράφειν βουλομένωι προσήκει μὴ ἁπλῶς μηδʼ ὡς ἔτυχεν ἐπιστέλλειν, ἀλλὰ σὺν ἀκριβείαι πολλῆι καὶ τέχνηι.
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Darüber hinaus ist der Brief ein geeignetes Medium für die geheime Enthüllung intim-vertraulicher Dinge: Einem satirischen Autor wie Lukian konnte die Briefform als funktionales und zweckdienliches Medium erscheinen, um prekäre Wahrheiten über bisher verheimlichte Amoralität, falsche Prätentionen oder geistige Insuffizienzen nach außen zu kehren.21 Wie in Lukians Philopseudeis („Die Lügenfreunde“, lib. 34) oder Symposium („Das Gastmahl“, lib. 17), wo Dialoge mit einem – als solchem adressierten – Freund (Philokles bzw. Philon) die Erzählungen rahmen, könnte man sich den Bericht auch als mündlich wiedergegeben vorstellen. Doch scheint mir die Wahl des Briefmediums und einer epistolaren Atmosphäre gerade aufgrund der damit einhergehenden kommunikativen Konstellation einen besonderen Mehrwert mit sich zu bringen, wie ich im Folgenden nachweisen möchte.22 Da Lukians Texte nicht im engeren Sinne als Briefe etikettiert sind, spreche ich mit Blick auf die ausgewählten Texte von ‚Brieffassaden‘ und richte den Blick auf die epistolaren Kommunikationsstrukturen, insbesondere die Beziehungen der fiktiven Instanzen Adressant (Absender), Adressat (Empfänger) sowie weiterer, darüber hinaus angesprochener textexterner Rezipienten.23 Dies möchte ich an ausgewählten Schriften Lukians vorführen, in denen insgesamt
|| 21 Laut Pilhofer et al. (2005) 5 sei es nicht sinnvoll, „eine durch die Briefform gekennzeichnete Gruppe von Schriften [Lukians] gesondert zu betrachten“, da Lukian sich dieser „‚kommunikativen Alltagsgattung‘ als variatio zum gattungsverwandten Dialog [bediene], wobei sich in der satirisch-kritischen Ausrichtung der Schriften wie in ihren Themen keine Unterschiede feststellen lassen.“ Doch sollte m.E. gerade danach gefragt werden, warum Lukian in manchen Texten überhaupt den Brief als „offene Form“ (ebd.) wählt. Über die Einkleidung in die Briefform macht sich Lukian, so die Argumentation meines Beitrags, die dieser inhärente kommunikative Situation zunutze (s.u.). Schließlich besitzt ein epistolarer Text Vorteile im Vergleich mit geschlossenen Abhandlungen oder mimetisch-dramatischen Dialogen, als deren ‚Zwischenform‘ er sich präsentiert: als imaginäres Gespräch mit einem über weite Teile monologischen Sprecher-Einsatz. Kombiniert wird dabei monologische Rede (Möglichkeit elaborierter Erzählung bzw. protreptischer oder apotreptischer Argumentation; Angebot an die Rezipienten, sich mit der Sprechinstanz zu identifizieren bzw. sich von ihr zu distanzieren) und dialogisches Design (Interaktion meist zweier Sprechinstanzen; die Rezipienten bleiben in beobachtender Position), ganz i.S. der antiken Theorie, die den Brief als ‚halbes Gespräch‘ betrachtete. Zu entsprechenden literarischen Spielräumen in der römischen Satire vgl. Braund (1996) 53–58. 22 Vgl. dagegen Baumbach/von Möllendorff (2017) 125 bzgl. der Schrift Peregr., wo der Brieffiktion außer einer gewissen darstellerischen Variation keine besondere Wirkung zugesprochen wird. Dagegen sieht Marquis (2015) die epistolare Form als narrative Strategie im Dienste der Polemik. 23 Vgl. Whitmarsh (2004) 473 mit Anm. 23 und Textstellen bei Lukian, in denen auf einen weiteren impliziten Adressaten-Kreis verwiesen wird.
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drei Möglichkeiten kommunikativer Rollenverhältnisse und -konstruktionen durchgespielt werden.
2 Zur Pragmatik des Lachens Um die literarisch-kommunikativen Strategien, wie sie aus Lukians Texten rekonstruierbar sind, angemessen verstehen zu können, müssen sie zuvor in den zeitgeschichtlichen Horizont mit seinen sozialen Inklusions- wie Exklusionsmechanismen gestellt werden. Hierbei kommt der Pragmatik des Lachens eine tragende Rolle zu:24 Das Lachen von πεπαιδευμένοι, wie es anhand von internem Adressanten, Adressaten und darüber hinaus inkludierten Gebildeten in den Texten vorgeführt wird, dient, so Serena Zweimüller, „zur Selbstbestätigung und zur Identifikation einer Gruppe von Gebildeten gegenüber Ungebildeten“.25 Diese Mechanismen der Ein- und Ausgrenzung finden ihre Entsprechung im zeithistorischen Kontext, der Problematisierung von παιδεία in der kaiserzeitlichen sophistischen Kultur und der unaufhörlichen Selbst- und Fremdversicherung von Zugehörigkeit zu elitären Statusgemeinschaften, wie dies William A. Johnson in seinen Untersuchungen über kaiserzeitliche Lesezirkel nachweist.26 Hierbei stellt das überlegene Lachen von Seiten der Rivalen oder des Publikums sophistischer Darbietungen eine reale Bedrohung dar.27 So thematisieren viele Texte der Kaiserzeit – darunter auch das Corpus Lucianeum – die Angst der im Rahmen öffentlicher performances Auftretenden, vom Publikum verlacht zu werden und zu scheitern.28 Auch Lukian zeichnet solche Prozesse der Marginalisierung nach; im Zentrum stehen diejenigen, die παιδεία für
|| 24 Entsprechend widmet etwa auch Halliwell (2008) dem Lachen bei Lukian ein eigenes Kapitel (429–470). 25 Zweimüller (2008) 95. Zur „Agonalität des Bildungsvollzugs“ sowie zu παιδεία als „soziale[m] Ausscheidungskriterium“ im Corpus Lucianeum vgl. von Möllendorff (2011) 56f. 26 Vgl. Johnson (2010) und (2011). 27 Zur Bedeutung des Lachens im Publikum sophistischer Darbietungen vgl. Korenjak (2000) 85: „In einer Kultur, in der die wirkungsvolle Präsentation der eigenen Person eine so zentrale Rolle spielt wie in der antiken, stellt die Möglichkeit, sich lächerlich zu machen, für das einzelne Individuum eine ständige Bedrohung dar.“ 28 Vgl. Aristeid. or. 43,1 (Bittgebet an Zeus: τῷ τε λόγῳ ἐπάρκεσον καὶ παράπεμψον εἰς ὅσον ἀνθρώπου λόγον ἐξικέσθαι δυνατὸν ὡς πλεῖστον, ὡς μὴ τελέως καταγέλαστοι γενώμεθα, μηδὲ ἀπὸ τοῦ παντὸς πέσοιμεν). Zum Verlachen eines Redners vgl. Korenjak (2000) 86 mit Verweis auf Dion Chrys. 32,22; Aristeid. or. 34,47. Insgesamt hierzu auch Zweimüller (2008) 397f.
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sich in Anspruch nehmen, dabei jedoch scheitern und von der Gemeinschaft, in die sie integriert werden wollen, verlacht29 und verspottet30 werden. So kommt (neben dem Aspekt des Lachens als Ausdruck von Überlegenheit) auch der Sozialität des Lachens eine wichtige Rolle zu. Theoretische Versuche, Lachen soziologisch zu verstehen, finden sich bereits bei dem französischen Philosophen Henri Bergson (1859–1941), der in seinem Essay Le Rire. Essai sur la signification du comique (erschienen 1900; dt.: „Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen“)31 das Lachen als Form „sozialer Züchtigung“ („correction“ bzw. „une espèce de brimade sociale“) beschreibt.32 Laut Bergson ist „unser Lachen immer das Lachen einer Gruppe“ oder Gemeinschaft („Notre || 29 Schmitz (2008) zeigt anhand von Texten Lukians solche ‚performativen Krisen‘, d.h. das Scheitern angeblich Gebildeter im Rahmen des Nachweises von Bildung, auf. Bei der Thematisierung des ‚Lachens‘, ‚Verlachens‘ oder des ‚Lächerlichen‘ (bei Lukian durch Formen von γελᾶν, καταγελᾶν, γελοῖος, παγγέλοιος, καταγελαστός gekennzeichnet) lässt sich das zugrundeliegende Konzept der Erzeugung von Komik mittels einer ‚Überlegenheitstheorie‘ beschreiben: Zu Forschungspositionen über die Entstehung des Lächerlichen vgl. Hügli (2001) 1ff. Gemäß der Überlegenheitstheorie wird das ‚Lachen‘ als Akt der Aggression, als Verlachen, gedeutet, das einem plötzlich aufkommenden Überlegenheitsgefühl über Andere entspringt. Laut einer Definition des Philosophen Thomas Hobbes (1588–1679) – hierzu Hobbes (1839) 46 – ist „die Leidenschaft des Lachens […] nichts anders als ein plötzliches Glücksgefühl, das durch die plötzliche Erkenntnis von der eigenen Überlegenheit im Vergleich zur Schwäche anderer entsteht“ („the passion of laughter is nothing else but sudden glory arising from some sudden conception of some eminency in ourselves, by comparison with the infirmity of others“); Übers. Hügli (2001) 10. 30 Das Verspotten und Herabsetzen anderer (ψόγος) spricht Aristoteles in der Poetik den Iambographen zu (poet. 1448b25ff.). In deren Tradition stelle auch die Komödie Schlechtigkeit, jedoch in gewissen Grenzen, dar (οὐ μέντοι κατὰ πᾶσαν κακίαν). Vgl. Koster (1980) 8. In der Komödie erscheint das Lächerliche (γελοῖον) als ein „mit Häßlichkeit verbundener Fehler, der indes keinen Schmerz und kein Verderben verursacht“ (poet. 1449a31–33, Übers. Fuhrmann). Dabei ist das Lächerliche Teil des ‚Hässlichen/Schändlichen‘ (τοῦ αἰσχροῦ ἐστι τὸ γελοῖον μόριον) und mit ‚Schande‘ (αἶσχος) verbunden. Dies präfiguriert eine Haltung der Überlegenheit beim Lachenden (schließlich würden laut Aristoteles in der Komödie Menschen dargestellt, die schlechter seien als der Durchschnitt: ἡ δὲ κωμῳδία ἐστὶν […] μίμησις φαυλοτέρων μέν) und verweist auf die soziale Dimension des Lachens, da ja die Festlegung, was ‚Schande‘ (αἰσχρόν, αἶσχος) sei, bereits sozialen Normensetzungen folgt. 31 Der Essay wurde im Jahr 1900 in der Revue de Paris abgedruckt und bereits 1901 in Buchform publiziert. Die deutsche Erstübersetzung erfolgte 1914 durch Frankenberger und Fraenkel. Ich zitiere nach der Version von Plancherel-Walter 2011 (zuerst 1972). In einem anderen frühen Versuch einer soziologischen Bestimmung des Lachens über Komisches unterschied Eugène Dupréel zwischen „rire d’accueil“ und „rire d’exclusion“: einem „Lachen des Einverständnisses“ und einem „Lachen des Ausschlusses“: Dupréel (1928). 32 Bergson (2011) 98 (Demütigung vonseiten der überlegenen Gruppe, versinnbildlicht 17f. am Beispiel des Stolpernden, der von Passanten verlacht wird).
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rire est toujours le rire d’un groupe“).33 Gemeinsames Lachen folgt so einem Mechanismus sozialer Anpassung und richtet sich gegen sozial definierte Schwächen, Laster, Deformationen und Devianzen.34 Im Anschluss an Untersuchungen wie diejenige Bergsons gilt der neueren Kulturwissenschaft gemeinsames Lachen – hier nach Röcke/Velten (2005) XIX – als „performative Aktualisierung bzw. der Vollzug einer gemeinschaftlichen Verbundenheit, die auch nach außen hin kenntlich gemacht wird“.35 Von den Aspekten der Überlegenheit sowie der Sozialität des Lachens als Faktoren gesellschaftlicher In- und Exklusion ausgehend möchte ich drei typische kommunikative Konstellationen beleuchten, die Lukian in seinen epistolaren Texten konstruiert und mit denen er spielerisch im imaginären Raum der Literatur experimentiert. Das Lachen (oder besser: Verlachen) dient in den skizzierten Texten Lukians zum Ein- und Ausschluss Einzelner in und aus einer Gemeinschaft, der satirischen ‚Lachgemeinschaft‘.36 Satirische Bündnisse werden in Lukians Texten über die epistolaren Kommunikationsinstanzen ‚Adressant‘, ‚Adressat‘ und eine ‚3. Partei‘ wechselseitig gebildet. Als ‚3. Partei‘ fungieren interne und externe Rezipienten oder Personen, gegen die oder mit denen sich Adressat oder Adressant verbünden und somit ein Majoritätsverhältnis gegenüber der jeweils isolierten Partei bilden. Die zwischen diesen Parteien entstehenden Allianzen (‚Bündnisfälle‘) veranschaulicht die folgende Grafik (Abb. 1):
|| 33 Bergson (1900) 6 (aus dem 1. Kapitel „Du comique en général“) und Bergson (2011) 16, ferner 17 („Das Lachen muß eine soziale Bedeutung haben“). 34 Bergson (2011) 17ff. Isolde Stark untersucht die „fonction sociale“ des Komischen – Bergson (1900) 8 – mit Blick auf das ausgrenzende, bestrafende Lachen in der griechischen Komödie: Vgl. Stark (2004) 11 passim. 35 Vgl. die Übersicht bei Röcke/Velten (2005) XI–XIV. 36 Zum Terminus vgl. ebd., bes. XI–XIV zu sozialpsychologischen Grundlagen der Konzeption. Bereits Hügli (2001) 15 verwendet angesichts von Bergsons Bestimmung des Lachens den Begriff ‚Lachgemeinschaft‘. Die Anwendung der Fragestellung auf das Werk Lukians ist u.a. angeregt durch Whitmarsh (2004) 472f., der von einer „community-defining function of satire“ bei Lukian spricht: „When narratees laugh, they join with ‚Lucian‘ or his alter ego, united against a common target: the text thus effects a reincorporation of community through satirical mockery.“ Er sieht Parallelen dieser satirischen Kommunikationsstrategie in dialogischen Texten Lukians, etwa im Piscator, wo die vom Satiriker (mit dem sprechenden Namen Parrhesiades) Attackierten sich mit diesem gegen einen gemeinsamen Gegner verbünden.
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Abb. 1: Allianzen (‚Bündnisfälle‘)
Im Rahmen der Untersuchung ist ferner zu fragen, auf welchen Voraussetzungen die erwähnten Lach-Allianzen gründen und welche Formen von Stabilität oder Fragilität das Lachen als Akt sozialer Differenzierung erzeugt. Mit Hans Robert Jauß ist hier auch auf das Umschlagen des distanzierenden Lachens (über) in ein solidarisierendes Lachen (mit, z.B. dem komischen Helden) zu achten, wodurch aus Distanz ein lachendes Einverständnis mit einer zuvor verlachten Figur werden kann.37 So kann es in einem Text zur Neuverhandlung von Zugehörigkeit zu einer Allianz kommen. Die Festlegung auf ein Instrument sozialer Konstruktion und Distinktion reduziert gewiss das vieldeutige Phänomen des Lachens. Doch erscheint die Betonung der Sozialität des Lachens und seiner kommunikations- und interaktionsdynamischen Dimension für die Erschließung Lukianischer Texte als adäquater heuristischer Ausgangspunkt. Im Folgenden möchte ich die möglichen Lachgemeinschaften in Lukians fiktiven ‚Brieffassaden‘ anhand ausgewählter Textbeispiele beleuchten.
|| 37 Vgl. Jauß (1976) 109.
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3 Die Konstruktion von ‚Lachgemeinschaften‘ bei Lukian 3.1 Erster Bündnisfall: Adressant und Adressat vs. ‚3. Partei‘ Eine erste Möglichkeit für ein Bündnis findet sich in Lukians „Alexander oder Der Lügenprophet“ (Alexander sive Pseudomantis). In dieser an einen gewissen Kelsos adressierten polemischen Schrift schildert der Sprecher Leben und Karriere des auch historisch fassbaren Propheten Alexander von Abonouteichos und entlarvt ihn als Scharlatan, da er seinen Ruhm als angeblich vom Gott Asklepios abstammender Prophet und Orakelgründer des Schlangengottes Glykon seinen Betrügereien und seiner Raffinesse verdanke und alle potentiellen Gegner aus dem Weg zu räumen versucht habe.38 Die Schrift ist als Auftragsarbeit (Alex. 1: πρόσταγμα) und Freundschaftsdienst (Alex. 61: χαριζόμενος) jenem Kelsos gewidmet. Da sich der Adressant des Textes wiederholt an Kelsos richtet (Alex. 1: ὦ φίλτατε Κέλσε, ferner Alex. 17 und 21), zeigt er Eigenschaften eines Briefes an den Freund, verzichtet jedoch auf eine brieftypische Begrüßung: Die Wahl der Brieffassade legitimiert und motiviert jedenfalls die Kommunikation mit dem ‚Du‘. Im Epilog des Werkes lobt der Erzähler Kelsos für dessen „kenntnisreiche Klugheit und seine Liebe zur Wahrheit“ (Alex. 61) und stellt ihn damit als ‚idealen‘ Adressaten dar, mit dem er ein gemeinsames Wertfundament teile.39 Darüber hinaus werden in Alex. 61 auch weitere Adressaten angesprochen, denen die Lektüre des Werks nützen solle (οἶμαι δὲ ὅτι καὶ τοῖς ἐντυχοῦσι χρήσιμόν τι ἔχειν δόξει ἡ γραφή). Die Identität des textinternen Adressaten Kelsos hat der früheren Forschung Rätsel aufgegeben. So wurde er etwa mit dem Verfasser der „Wahren Lehre“ gleichgesetzt, gegen den sich Origenes in seiner Schrift Contra
|| 38 Zu den Gestaltungsformen der Polemik bei Lukian vgl. von Möllendorff (2011), zu Alex. v.a. 67ff. Allgemein zur Schrift Alex. sowie zu den historischen Zeugnissen des Glykon-Kults Victor (1997). 39 Der Sprecher bezeichnet sich als Rächer Epikurs, dieses „wahrhaft heiligen und göttlichen Mannes, der als einziger das Schöne in seiner engen Bindung an die Wahrheit erkannt und es anderen übermittelt hat“ (Übers. Victor). Im Kontext lautet Alex. 61: Ταῦτα, ὦ φιλότης, ὀλίγα ἐκ πολλῶν δείγματος ἕνεκα γράψαι ἠξίωσα, καὶ σοὶ μὲν χαριζόμενος, ἀνδρὶ ἑταίρῳ καὶ φίλῳ καὶ ὃν ἐγὼ πάντων μάλιστα θαυμάσας ἔχω ἐπί τε σοφίᾳ καὶ τῷ πρὸς ἀλήθειαν ἔρωτι καὶ τρόπου πραότητι καὶ ἐπιεικείᾳ καὶ γαλήνῃ βίου καὶ δεξιότητι πρὸς τοὺς συνόντας, τὸ πλέον δέ, ὅπερ καὶ σοὶ ἥδιον, Ἐπικούρῳ τιμωρῶν, ἀνδρὶ ὡς ἀληθῶς ἱερῷ καὶ θεσπεσίῳ τὴν φύσιν καὶ μόνῳ μετ' ἀληθείας τὰ καλὰ ἐγνωκότι καὶ παραδεδωκότι καὶ ἐλευθερωτῇ τῶν ὁμιλησάντων αὐτῷ γενομένῳ.
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Celsum richtet.40 Dabei entsteht jedoch der Widerspruch, dass der Gegner des Origenes Platoniker, der Freund des Lukianischen Sprechers Epikureer ist.41 In Schriften Κατὰ μάγων (Alex. 21) habe Kelsos die Tricks und Taschenspielereien falscher Propheten und Wahrsager anhand von Beispielen offengelegt.42 So erscheint Kelsos als Freund, Bündnispartner und alter ego des Sprechers, der ja ebenfalls eine Schrift κατὰ μάγου, gegen Alexander, verfasst.43 Beide sind als Epikureer gezeichnet, gegen die Alexander einen „unversöhnlichen und bedingungslosen Krieg“ führte (Alex. 25: ἄσπονδος καὶ ἀκήρυκτος αὐτῷ ὁ πόλεμος πρὸς Ἐπίκουρον ἦν), da sie, so die Darstellung, alle Dinge, auch den Götterglauben, nach ihrem Verstand und der Richtschnur der Wahrheit bemäßen und sich nicht von Alexander täuschen ließen.44 Mit Kelsos und dem weiteren Adressatenkreis werden auch die textexternen Rezipienten dazu eingeladen, über die in der Tadelschrift dargestellten Machenschaften Alexanders sowie über sein jämmerliches Ende (Alex. 59) zu lachen.45 Der βίος des angeblichen Propheten erscheint als ein δρᾶμα (Alex. 60), eine Schmierenkomödie, die Rezipienten in der Rolle der lachenden Zuschauer. Ob es sich bei Kelsos um eine historische Figur handelt, spielt für unseren Kontext keine Rolle. Fest steht: Der Adressat erscheint als Bündnispartner des Adressanten. Die textexternen Rezipienten werden eingeladen, der Lachgemeinschaft gegen den Sektenführer Alexander beizutreten. Der Bündniskonstellation ‚Adressant und Adressat vs. ‚3. Partei‘‘ gemäß sind zwei weitere epistolare Texte Lukians gestaltet: In De Morte Peregrini wer-
|| 40 Vgl. den Forschungsüberblick bei Victor (1997) 132 ad Lucian. Alex. 1. 41 Alex. 61 wird seine γαλήνη βίου sowie seine Nähe zu Epikur – καὶ σοὶ ἥδιον, Ἐπικούρῳ τιμωρῶν – betont. 42 ἔστι δὲ καὶ ἄλλα πολλὰ πρὸς τοῦτο ἐπινενοημένα, ὧν οὐκ ἀναγκαῖον μεμνῆσθαι ἁπάντων, ὡς μὴ ἀπειρόκαλοι εἶναι δοκοίημεν, καὶ μάλιστα σοῦ ἐν οἷς κατὰ μάγων συνέγραψας, καλλίστοις τε ἅμα καὶ ὠφελιμωτάτοις συγγράμμασιν καὶ δυναμένοις σωφρονίζειν τοὺς ἐντυγχάνοντας, ἱκανὰ παραθεμένου καὶ πολλῷ τούτων πλείονα. 43 Das satirische Bündnis erscheint im Lichte der Freundschaft (φιλία, vgl. Alex. 1). Hierzu Whitmarsh (2004) 472: „By interlinking all such figures through the motif of laughter, the boundaries of a satirical community are reinforced. Friendship, for Lucian, is dependent upon the identification of a common enemy.“ 44 So initiiert Alexander Alex. 38 eine Vertreibung von Epikureern und will einen kritischen Epikureer Alex. 44f. steinigen lassen, wovor dieser nur knapp bewahrt wird. Alex. 47 lässt Alexander im Rahmen eines Autodafé Epikurs Κύριαι δόξαι verbrennen, was der Sprecher mit einem Preis dieses „herrlichsten aller Bücher“ kontert. Alex. 53–57 berichtet der Sprecher von seinen eigenen Unternehmungen und Anschlägen auf Alexander. 45 Dies wird z.B. Alex. 47 suggeriert: „Eine Sache, diese freilich äußerst lustig, veranstaltete Alexander“ (Ἕν δ̍ οῦν καὶ γελοιότατον ἐποίησεν ὁ Ἀλέξανδρος).
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den die Geschehnisse um die Selbstverbrennung des angeblichen Philosophen Proteus Peregrinos in Olympia nach den Spielen 165 n. Chr. geschildert.46 Dass Peregrinos wie übrigens auch der Prophet Alexander in Alex. gemäß der Textfiktion zur Abfassungszeit des ‚Briefs‘ bereits verstorben ist, scheint kein Problem zu sein: Verlacht wird sein damaliges Fehlverhalten in aufeinander folgenden Situationen. Auch hier wird der Leser zusammen mit dem Adressaten Kronios dazu eingeladen, über den tragikomischen Karriereweg des Protagonisten ausgiebig zu lachen. Zu Beginn stellt sich der Sprecher vor, der in formellem epistolarem Präskript adressierte Kronios (Peregr. 1: Λουκιανὸς Κρονίῳ εὖ πράττειν: „Lukian wünscht Kronios Wohlergehen“) habe lachen, ja brüllen müssen über die Dummheit des greisen Peregrinos, womit zugleich die räumliche Distanz der imaginären Gesprächspartner Adressant und Adressat betont wird.47 Im Verlauf des ebenfalls in eine lose Briefform gekleideten Textes wird Kronios als lachender Zuschauer präsentiert,48 dessen Gelächter sich in Schüben steigert und für den als Vorbild der lachende Philosoph Demokritos ins Feld geführt wird (Peregr. 45).49 Sprecher und Kronios erscheinen als philosophisch Gebildete, die sich über die Dummheit des sich aus nichtigen Gründen opfernden Peregrinos vor Lachen die Bäuche halten.50
|| 46 Zur Schrift vgl. insgesamt Pilhofer et al. (2005). Zur Rolle des Lachens darin Halliwell (2008) 462–470. Vgl. ferner Marquis (2007) zur Rolle des Adressaten und Marquis (2015) zur Funktion der Briefform. 47 Peregr. 2 (Πολλὰ τοίνυν δοκῶ μοι ὁρᾶν σε γελῶντα ἐπὶ τῇ κορύζῃ τοῦ γέροντος, μᾶλλον δὲ καὶ ἀκούω βοῶντος […]· ἦσαν δέ τινες οἳ καὶ αὐτοὶ ἐγέλων ἐπ' αὐτῷ). Die Identifizierung des Kronios mit einem platonischen Philosophen dieses Namens ist als eher fraglich einzustufen, vgl. auch Pilhofer et al. (2005) 48. 48 Vgl. Peregr. 6 (Peregrinosʼ Weinen ist als lächerlich und zugleich lustig markiert: ἐδάκρυε μάλα γελοίως καὶ τὰς τρίχας ἐτίλλετο), 37 (Αὖθις ὁρῶ γελῶντά σε, ὦ καλὲ Κρόνιε, τὴν καταστροφὴν τοῦ δράματος […] οὐδὲ κατέχειν ἠδυνάμην τὸν γέλωτα), 43 (Ἓν ἔτι σοι προσδιηγησάμενος παύσομαι, ὡς ἔχῃς ἐπὶ πολὺ γελᾶν). 49 Auch Sacr. 15 wird der lachende Abderit als alter ego des satirischen Ichs ins Feld geführt. 50 Vgl. Marquis (2007), nach welcher der Empfänger von Lukians Peregr., Kronios, der als Komplize des Sprechers erscheint, ein idealer bzw. Modell-Leser ist, an dem sich der reale Leser orientieren könne. Laut Pilhofer et al. (2005) 9 „suggeriert die Wahl eines solchen Privatbriefs als Erzählform [dem Leser], dass es sich im Folgenden um eine ehrliche, wahrheitsgetreue Darstellung der Ereignisse handeln wird, und sie verpflichtet ihn als ‚heimlichen‘ Mitleser, Freund und Adressaten. Als solcher kann er auch Sätze wie „Ich glaube fast, dich jetzt über die Verbohrtheit des Alten lachen zu sehen […]“ (§ 2) auf sich beziehen und wird zugleich in seiner Rezeptionshaltung dem Peregrinos gegenüber von Lukian »geimpft«.“
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Auch in der Schrift „Wie man Geschichte schreiben soll“ (Hist. Cons.)51 gehen der Adressant, der textinterne Adressat sowie (über Inklusionsangebote eingeladen) die textexternen Rezipienten eine ‚Lachgemeinschaft‘ und damit ein satirisches Bündnis gegen eine ausgegrenzte 3. Partei ein. Der Text, an einen gewissen Philon („Freund“) adressiert, richtet sich gegen Schriftsteller von Zeitgeschichte (exemplifiziert am Partherfeldzug des Lucius Verus, des Mitregenten Marc Aurels) und hält den dilettantischen Historiographen in §§33ff. das Ideal des ‚wahren‘ Geschichtsschreibers und dasjenige ‚guter‘ Historiographie entgegen.52 Nacheinander werden einzelne namentlich genannte wie anonyme Historiker verspottet.53 Der Name des Adressaten, Φίλων, ist dabei als Chiffre für einen Freund und Gesinnungsgenossen des Sprechers lesbar.54 Es könnte sich hierbei auch um die ‚Fleisch gewordene‘ Anredeform ὦ φιλότης/ὦ φίλε („mein Lieber“) handeln,55 die sich häufig in Platons Dialogen findet. Durch solch einen metaliterarischen Marker würde Epistolarität i.S.d. ‚Dialogs zwischen Abwesenden‘ evident, zugleich aber als literarische Inszenierung durchschaubar. Jedenfalls bilden auch in diesem Text, wie im Alexander und im Peregrinus, Adressant und Adressat eine Lachgemeinschaft, wenn sie sich köstlich über die offenkundige Unbildung der selbsternannten Hof-Historiographen des Partherkriegs amüsieren.56
3.2 Zweiter Bündnisfall: Adressant und ‚3. Partei‘ vs. Adressat In einem zweiten Fall geht der Adressant zusammen mit einer explizit oder implizit genannten 3. Partei ein satirisches Bündnis gegen einen verlachten
|| 51 Vgl. die Einordnung der Schrift in die Geistesgeschichte und den zeitgenössischen Horizont bei Free (2015). 52 Dies besteht laut Hist. Cons. aus philosophisch gebildetem Ethos, Erfahrung, der Fähigkeit zum Durchschauen komplexer Zusammenhänge sowie, auf der Ebene der literarischen Darstellung, kenntnisreicher und innovativer Mimesis der Werke v.a. des Herodot und Thukydides: Hierzu vgl. Free (2015), bes. 56–68. 70ff. 107ff. 53 Namentlich angeführt werden Krepereios Kalpurnianos aus Pompeiopolis §15, ein Militärarzt Kallimorphos §16 sowie ein Antiochianos §30. Laut Free (2015) 189 ist nicht die Frage nach der Faktualität oder Fiktionalität dieser Namen entscheidend, sondern allein der plausible Nachvollzug ihrer historiographischen Entgleisungen. 54 Auch in Lukians Symposium besteht der Platons gleichnamigem Meisterwerk nachgestaltete Rahmendialog aus einem Gespräch zwischen Lykinos und Philon, was die beiden als ‚Freunde‘ und einander gewogen ausweist. 55 Hierzu vgl. Macleod (1994) 1378. 56 Vgl. z.B. Hist. Cons. 29: Ἄλλος, ὦ Φίλων, μάλα καὶ οὗτος γελοῖος κτλ.
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Adressaten (also eine mit ‚Du‘ angesprochene 2. Person) ein: Während in der vorigen Konstellation eine 3. Partei Opfer und Ziel der Invektive ist, gibt es hier den Versuch, am Maßstab eines bestimmten Wertekanons bzw. παιδείαKonzepts einen fiktiven Adressaten bloßzustellen.57 In Lukians Text „Das traurige Los der Gelehrten“ (d.h. derjenigen Gebildeten, die als Hauslehrer in römischen Aristokratenhäusern gegen Bezahlung griechische Bildung anbieten: De Mercede Conductis)58 versucht der Adressat mit dem sprechenden Namen Timokles („Der nach Ruhm und Ehre strebt“) sein Glück als Hauslehrer in aristokratischen Diensten: bei einem reichen patronus in Rom, der seine öffentlichen Auftritte gerne mit griechisch Gebildeten ‚verzieren‘ möchte (Merc. Cond. 25). Doch entpuppt sich der nach einer hohen sozialen Stellung als cliens/amicus strebende Adressat Timokles als „lächerliche Figur“ (Merc. Cond. 8), der es bei gesellschaftlichen Auftritten an Nonchalance mangelt, die zudem den Komment nicht kennt und so verrät, nicht zur Gruppe zu gehören, zu der sie zu gehören vorgibt: Dies ruft das Gelächter der umstehenden Zeugen hervor.59 In diesem Text oszilliert die kommunikative Situation zwischen mündlicher Belehrung (bzw. einer Fiktion von Mündlichkeit) und einer losen Einkleidung in die Briefform im Sinne literarischer Episteln.60 Zwei weitere invektivische Texte verdienen hier Beachtung: Obwohl dabei epistolare Schriftlichkeit prima facie hinter einer fiktiven Fassade der mündlichen Mitteilung zurücktritt, sind hier gleichwohl Elemente eines Briefs – v.a. die starke Einbindung des Adressaten als einer Mittlerfigur – und eine mit Merc. Cond. vergleichbare, zwischen mündlichem Gespräch und publizierter Abhandlung schwankende kommunikative Situation erkennbar.61 Zum einen die Schrift „Gegen den ungebildeten Büchernarren“62 (Adversus Indoctum et Multos Libros || 57 Eine genaue begriffliche Eingrenzung, ob die verbale Attacke als Invektive gegen eine zweite Person (‚Du‘) oder eine dritte Person zu verstehen sei, bietet auch die StandardBegriffsbestimmung der antiken Invektive nicht, vgl. Koster (1980) 39: „Die Invektive ist eine strukturierte literarische Form, deren Ziel es ist, mit allen geeigneten Mitteln eine namentlich genannte Person öffentlich vor dem Hintergrund der jeweils geltenden Werte und Normen als Persönlichkeit herabzusetzen.“ 58 Zur Schrift s. einleitend und kommentierend Hafner (2017a). 59 Vgl. Merc. Cond. 11 (γέλως τῶν παρόντων ἐπὶ τῇ ἀπορίᾳ), ferner 24 (ἄλλοις μὲν γέλωτα παρέχεις). 60 Vgl. bereits Wielands Betitelung „Sendschreiben“ (im Titel von Apol.); ferner Whitmarsh (2001) 279 („composed in the Plutarchan style of an advisory epistle addressed to a friend named Timocles“); Porod (2013) 33. 35. 39 erkennt in Hist. Cons. wie Merc. Cond. Elemente eines literarischen (genauer: paränetischen) Briefs. 61 Vgl. zu diesem Komplex Baumbach/von Möllendorff (2017) 219–222, bes. 220f. 62 Die Übersetzung des Titels folgt von Möllendorff (2006).
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Ementem), worin der Sprecher dem ‚Du‘, einem neureichen Syrer, vorwirft, durch teuer erstandene Buchtitel seine Bildung lediglich öffentlichkeitswirksam zur Schau zu stellen und kein seriöses Bildungsziel anzustreben. Seine „barbarischen“ Lese-Übungen (Ind. 7) würden von den tatsächlich Gebildeten verspottet.63 Diese πεπαιδευμένοι bilden mit dem Sprecher eine Status- und Lachgemeinschaft, die den Aufstieg des reichen Syrers in ihre Mitte nicht hinnehmen will und dessen Abweichen von einem normativen Bildungskonzept sanktioniert. Die Rezipienten werden eingeladen, sich zu dieser überlegenen Gruppe zu zählen und auf den hilflos um Bildung bemühten Neureichen lachend herabzusehen.64 Eine ähnlich strukturierte Allianz zwischen dem Sprecher und einer unbestimmten Menge von Gebildeten (πεπαιδευμένοι), die – auf textinterner sowie mittels Inklusion auf textexterner Ebene lokalisiert – zu Zeugen des Bildungsversagens des Adressaten werden, liegt in der Schrift Pseudologista („Der Lügenredner“) vor. Hier wird ein Gegner des Plagiats überführt, da er eine scheinbar extemporierte sophistische Übungsrede, die er sich von einem Komplizen im Publikum vorschlagen lässt, bereits auswendig gelernt hat. Dies wird von den Hörern bemerkt und mit höhnischem Gelächter quittiert.65 Zudem wird er aufgrund der falschen Verwendung von Attizismen als sprachinkompetent verunglimpft.66 Lachen und Tadel als soziale Sanktionierungsmaßnahmen erscheinen,67 so die Suggestion, als „norm- bzw. erwartungsgemäß“.68 Die Wendung ὡς τὸ εἰκός deutet dabei auf eine stillschweigend vorausgesetzte soziale
|| 63 Vgl. Ind. 7 (ὑπὸ μὲν τῶν πεπαιδευμένων καταγελώμενος), 28 (σὺ γὰρ […] καταγελασθήσῃ πρὸς τῶν πεπαιδευμένων). 64 Wird der Ungebildete Ind. 15 mit Dionysios von Syrakus verglichen, der miserable Tragödien verfasst habe, dürfen sich Sprecher und Rezipienten in die Rolle des Dichters Philoxenos von Kythera (ca. 435–380 v. Chr.) versetzen, der die literarischen Ergüsse des Tyrannen kritisierte und lachend in die Steinbrüche geschickt wurde. 65 Vgl. Pseudol. 7 (Ἐν δὲ τούτοις ἅπασι καὶ ὁ τὸν λόγον τόνδε συγγράψας ἦν ἐν τοῖς γελῶσι καὶ αὐτός. τί δ' οὐκ ἔμελλεν γελᾶν ἐφ' οὕτω περιφανεῖ καὶ ἀπιθάνῳ καὶ ἀναισχύντῳ τολμήματι;). 66 Vgl. Pseudol. 9 (τὸ ὕστατον τεκμήριον ἀπαιδευσίας ἐκφέρων). Vgl. Merc. Cond. 11 und 15. 67 Vgl. Pseudol. 11 (μεμπτὸν καὶ γέλωτος ἄξιον): Diese Junktur nimmt das Konzept des Verlachens als Form „sozialer Züchtigung“ („correction“ bzw. „une espèce de brimade sociale“) bei Bergson vorweg: S.o. Anm. 32. 68 Vgl. Pseudol. 29 (γελασάντων δέ, ὡς τὸ εἰκός, τῶν παρόντων).
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Norm,69 von der der Redner abweicht. Aus der Sicht des Gebildeten-Milieus, zu dem sich Sprecher und lachende Zeugenschaft bekennen, scheitert er.70
3.3 Dritter Bündnisfall: Adressat und ‚3. Partei‘ vs. Adressant Bei Lukian ist jedoch selbst der Adressant bzw. Sprecher nicht davor gefeit, als ungebildet und unmoralisch stigmatisiert und von einem Bündnis überlegen lachender πεπαιδευμένοι ausgegrenzt zu werden. Sooft diese Konstellation in den Texten auftritt, dominiert eine selbstironische Tendenz. Eine solche deutet sich schon am Beginn des Pseudologista an, wo dem Sprecher mangelnde attizistische Sprachkompetenz vorgeworfen wird (Pseudol. 1: πῶς γὰρ ἂν ᾐτιῶ βάρβαρον εἶναί με τὴν φωνὴν). Er kann jedoch die Vorwürfe zurückweisen und auf den Ankläger zurücklenken. Die hier angedeutete Konstellation einer Ausgrenzung und Marginalisierung des Adressanten/Sprechers durch eine bestimmte Gruppe, personifiziert durch den Adressaten, arbeitet Lukian in zwei apologetischen Schriften aus: Pro Lapsu inter Salutandum kreist um einen verbalen faux-pas: Bei der morgendlichen salutatio hat der Sprecher seinen patronus Asklepios, in Laps. 19 als Adressat genannt,71 falsch begrüßt (mit ὑγίαινε statt χαῖρε) und sich zum Gespött der Umstehenden gemacht, die an seinem Verstand und seiner Nüchternheit zweifelten (Laps. 1). Im Folgenden demonstriert der Sprecher jedoch seine Belesenheit und Bildung: Er bietet eine kurze Geschichte des von ihm gewählten Morgengrußes in der Literatur dar und erweist ihn aufgrund der Belege als gewählt klingend. Auch in der Schrift Apologia, bei der es sich um ein Schreiben an den befreundeten Sabinos handelt, verteidigt sich der Sprecher, der sich als Autor der Schrift De Mercede Conductis (s.o.) bezeichnet, gegen die Kritik eben jenes Sabinos an seiner Person: Der Adressat, ein Leser der satirischen Texte des Autors, wirft diesem Abweichung von den eigenen Idealen und somit Doppelmoral vor.72 Zuerst wird Sabinos so präsentiert, als habe der textinterne (mit Blick auf
|| 69 Laut Eco (1986) 269–278 (vgl. bes. 274 „the rule is not cited but assumed as implicit“) thematisiert Komik immer ein Geflecht von impliziten Regeln, die wiederum Weltanschauungen und soziales Verhalten bestimmen. 70 Wie bereits dem anonymen Syrer in Ind. und Timokles in Merc. Cond. wird auch diesem Adressaten nach einem typisch invektivischen Muster unmoralische Lebensführung vorgehalten. 71 Wie in Ind. und Pseudol. (s. 3.2.) überlappt sich dabei die Vortrags- mit einer Schriftlichkeits-(/Brief-)Fiktion. 72 Zu diesem vielschichtigen Text Lukians vgl. Hafner (2017).
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die vorangegangene Schrift Merc. Cond.: textexterne) Rezipient in das Gelächter über die Unbildung der in Merc. Cond. vorgeführten Gelehrten eingestimmt.73 Dann jedoch wird der satirische Autor selbst von Sabinos verspottet, der einen größeren Leserkreis auf seiner Seite verortet.74 Obwohl sich die Adressanten von Laps. und Apol. am Ende wortreich und gekonnt verteidigen können, zeigen beide Texte doch, dass selbst die Sprecher-Instanz (das ‚Ich‘) in Lukians ‚Brieffassaden‘ nicht davor gefeit ist, bei den Gebildeten, vertreten durch einen kritischen Adressaten (der Leser Sabinos in Apol., der patronus Asklepios in Laps.) in Ungnade zu fallen. Dabei wird die Vielschichtigkeit des Lachens offenbar: Das protestierende Lachen des Rezipienten über den sonst überlegenen Satiriker zerbricht kurzzeitig die Identifikation mit diesem und führt zu einer Destabilisierung der autoritativen satirischen Sprecher-persona. Indem sich diese jedoch im Rahmen ihrer Verteidigung behaupten kann, vermag sie es, die ursprüngliche ‚admirative Identifikation‘75 der Rezipienten mit ihr wiederherzustellen und die eigene, exzeptionelle Rolle durch erneuerte Solidarität und Wiedereingliederung in die Lachgemeinschaft zu stärken. Einen besonderen Fall stellt die Schrift Rhetorum Praeceptor (Rhet. Praec.) dar,76 wo ein anonymer Sprecher einem jungen Rhetorik-Adepten in der ironischen Variante eines Lehrbriefs77 aufzeigt, wie er in kurzer Zeit ein Star-Sophist werden könne. In Abgrenzung vom traditionellen, mühsamen Karriereweg verheißt die rhetorische Didaxe voller Ironie, der Aspirant solle sich gerade seiner Defizite rühmen. Mittels der Zurschaustellung seiner bloß oberflächlichen Bildung könne er schnell erfolgreich sein.78 Interessanterweise empfiehlt der ‚Redelehrer‘ dabei, man solle selbst die überlegene Rolle des Lachenden einnehmen und sich über andere Redner und Bildungsaspiranten mokieren.79 So wird ein wenngleich ironisches Licht auf die offenbar übliche soziale Praxis geworfen, durch stigmatisierendes Lachen Rivalen auszugrenzen und sich durch den
|| 73 Vgl. Apol. 1 (ὅτι μὲν γὰρ οὐκ ἀγελαστὶ διεξῄεις αὐτὸ καὶ πάνυ μοι πρόδηλον). 74 Vgl. Apol. 4 (ὅσῳ γοῦν πᾶσιν ἐπισημότερος εἶναι δοκεῖς, τοσούτῳ καταγελαστότερος ἂν δόξειας εἶναι ἀντιφωνοῦντος τοῦ νῦν βίου τῷ βιβλίῳ), ferner 6 (ἐῴκει ἡ Ἀδράστεια τότε κατόπιν ἐφεστῶσά σοι εὐδοκιμοῦντι ἐφ' οἷς κατηγόρεις τῶν ἄλλων, καταγελᾶν ὡς ἂν θεὸς εἰδυῖα τὴν μέλλουσάν σοι ἐς τὰ ὅμοια μεταβολὴν). 75 Hierzu vgl. Jauß (1976) 104 passim. 76 Allgemein zum Text s. Zweimüller (2008). 77 Vgl. ebd. 13. 78 Bei seinem Selbstlob, mit dem er sich schließlich diskreditiert, greift der Redner auf topische Elemente des Tadels (ψόγος) zurück, wie von Möllendorff (2011) 64 plausibel herausarbeitet. Er stellt diese als eigene Vorzüge dar, was seinen Redebeitrag ins Ironische abgleiten lässt. 79 Vgl. Rhet. Praec. 22 (ἁπάντων καταγέλα τῶν λεγόντων und später ὑπομειδία τὰ πολλὰ).
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Anschein von Überlegenheit in der rhetorischen Welt zu profilieren. Gleichzeitig wird die Widersprüchlichkeit sozialer Grenzziehungen angedeutet: Wenn nämlich nach dieser Empfehlung selbst unterlegene Redner zum Mittel des Verlachens greifen, obwohl sie sich durch ihre eigene skandalöse Unbildung ironisieren, dann deutet dies auf die Existenz einer Vielzahl konkurrierender Lachgemeinschaften hin. Nach Wolfgang Iser könnte man vom Komischen als ‚Kipp-Figur‘ sprechen, da sich die verschiedenen Positionen wechselseitig zu negieren und zu kippen versuchen und so ein Spiel von Integration und Desintegration in Gang setzen.80 In Rhet. Praec. wird Lukians Publikum das Verschwimmen sichtbarer Grenzen der Zugehörigkeit zu elitären Statusgemeinschaften innerhalb der agonistischen Bildungskultur der Hohen Kaiserzeit vorgeführt. Ob selbiges Publikum sich von dem diskreditierten ‚Rhetoriklehrer‘ hinters Licht führen ließ, bleibt allerdings fraglich. Schließlich vermochte eine real erlebte Ununterscheidbarkeit von Status-Kriterien einen Autor wie Lukian auf den Plan rufen, zumindest in den fiktiven Konfigurationen seiner Texte umso erkennbarere Grenzziehungen durchzuspielen.
4 Schlussgedanken In Lukians ‚Brieffassaden‘ lassen sich drei Arten von Bündnissen bzw. Antagonismen beobachten, in denen jeweils ein Majoritätsverhältnis gegen eine ausgegrenzte Minderheit in Stellung gebracht wird (s. o. Abb. 1).81 Allein die textexternen Rezipienten haben jeweils die Möglichkeit, an der überlegenen Position der Mitlachenden teilzuhaben und auf die Verlachten herabzusehen. Das suggestive Angebot, mitzulachen, formt so auch den Rezeptionsmodus der ‚idealen‘ Leser vor und kontrolliert diesen gewissermaßen. Das Lachen wird dabei verschiedentlich funktionalisiert: integrativ-stabilisierend und solidaritätserzeugend versus desintegrativ. Das überlegene Lachen über (oder: Verlachen) konstruiert in der Textfiktion exklusive soziale Verbundenheit. In manchen
|| 80 Vgl. Iser (1976) 399. 81 Eine solche kommunikative Dreier-Struktur legt Lukian auch in dem Traktat lib. 15 Calumniae non temere credendum („Man soll der Verleumdung nicht einfach Glauben schenken“: Cal.) zugrunde. Jede Verleumdung beruhe auf einer Konstellation aus verleumdender und verleumdeter Person, drittens solcher Leute, welche die Verleumdung bereitwillig entgegennehmen (besonders eignet sich hierfür z.B. das soziale System ‚Hof‘): τριῶν δ' ὄντων προσώπων, καθάπερ ἐν ταῖς κωμῳδίαις, τοῦ διαβάλλοντος καὶ τοῦ διαβαλλομένου καὶ τοῦ πρὸς ὃν ἡ διαβολὴ γίνεται, καθ' ἕκαστον αὐτῶν ἐπισκοπήσωμεν οἷα εἰκὸς εἶναι τὰ γινόμενα (Cal. 6).
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Texten richtet sich ein Bündnis von Adressant und Adressat gegen Personen, die verspottet und marginalisiert werden (3.1.: Alex., Peregr., Hist. Cons.). Alternativ richtet sich der Spott des Adressanten gegen das ‚Du‘ selbst (3.2.: Merc. Cond.; vgl. Ind., Pseudol.). In beiden Fällen wird den textexternen Rezipienten angeboten, sich zur überlegenen Gruppe Gebildeter zu zählen und über den Ausgegrenzten zu lachen. In einem dritten Fall wird der Adressant selbst zum Opfer satirischer Attacken (3.3.: Apol., Laps.), über das gelacht wird. Dies führt zu einer zeitweiligen Destabilisierung der sonst autoritativen satirischen Stimme. Indem diese die Kritik von sich ablenken kann, vollzieht sich jedoch ein Umschlag hin zum Angebot solidarisierenden, distanzabbauenden Lachens sowie zur Identifikation mit dem sich behauptenden satirischen Helden. Allein im Rhetorum Praeceptor offenbart der rhetorische ‚Ratgeber‘ bis zuletzt seine Unzulänglichkeit im Feld der παιδεία: Der Fall zeigt, wie ein vermeintlich Unterlegener selbst zum Mittel des Verspottens greift, um Gegner zu verunglimpfen, wodurch prima facie die Kriterien von Gruppenzugehörigkeit verschwimmen. Die polaren Rollenverhältnisse und Antagonismen werden dabei durch die besondere Charakterzeichnung der involvierten Figuren verschärft, wie drei Beispiele, repräsentativ für je einen Bündnisfall, zeigen: Im Alexander (s.o. 3.1.) wird der βίος des gleichnamigen Scharlatans und Sektenführers polemisch attackiert. Adressant und Adressat der Schrift sind als überzeugte Epikureer gezeichnet, die den von Alexander inszenierten Spuk aufgrund ihrer Grundüberzeugungen von Beginn an ablehnen. Damit wird ihre Gegnerschaft noch besser begründet und schärfer konturiert.82 In De Mercede Conductis (s.o. 3.2.) wird der Adressat als ebenso ambitionierter wie hedonistischer Emporkömmling charakterisiert (worauf das nomen loquens Timokles deutet), während der Adressant den autark lebenden, kynischen Philosophen mimt.83 Schließlich wird in der Schrift Apologia (s.o. 3.3.) der als reicher Star-Sophist gezeichnete
|| 82 Die Komplizenschaft zwischen Adressant und Adressat ist selbst Teil einer satirischen Strategie, wird doch der Epikureismus an anderer Stelle im Werk Lukians unernst bis ironisch dargestellt, v.a. in Lukians Symposium. 83 Vgl. z.B. die Selbstcharakterisierung des Sprechers Merc. Cond. 19: Im Anschluss an die Beschreibung eines Mahles mit überbordender Völlerei und Zecherei, der sich der angebliche Philosoph Timokles nicht enthält, kommt er auf die eigene Genügsamkeit (gemäß dem Horazischen vivitur parvo bene) zu sprechen: Τοῦτο μὲν δή σοι τὸ πρῶτον, ὦ ἑταῖρε, καὶ ἥδιστον ἐκεῖνο δεῖπνον, οὐκ ἔμοιγε τοῦ θύμου καὶ τῶν λευκῶν ἁλῶν ἥδιον ὁπηνίκα βούλομαι καὶ ὁπόσον ἐλευθέρως ἐσθιομένων. Vgl. ähnlich Merc. Cond. 24 (οὕτως ἀπορία μέν σε θέρμων ἔσχεν ἢ τῶν ἀγρίων λαχάνων, ἐπέλιπον δὲ καὶ αἱ κρῆναι ῥέουσαι τοῦ ψυχροῦ ὕδατος, ὡς ἐπὶ ταῦτά σε ὑπ' ἀμηχανίας ἐλθεῖν;), ebenfalls in größtmöglichem Kontrast zur ‚Fresssucht‘ des Adressaten.
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Adressant mit dem moralisch anklagenden Philosophen Sabinos in der Adressaten-Rolle konfrontiert. In jedem Beispiel wird durch die Konstruktion einer polaren Figurenkonstellation der zentrale Konflikt zwischen den Gegnern noch verschärft.84 Lukians Brieffassaden erscheinen als Experimentierfelder des Literarischen, in denen soziale Konfliktsituationen spielerisch ausgelotet werden. In den exklusiven Bündnissen fiktiver Korrespondenten erscheint überlegenes Lachen als performative Aktualisierung von Gemeinschaft. Die variablen RollenKonfigurationen und Adressaten-Einbindungen zielen auf die Konstitution einer ‚Lachgemeinschaft‘, die als Mehrheit eine ausgegrenzte Partei verlacht.85 Die Briefform bietet hierfür ein adäquates Vehikel: So sind die Texte als Reflexionen über das Brief-Medium und seine Möglichkeiten zu verstehen. Statt die epistolaren Instanzen des ‚Ich‘, ‚Du‘ und des tatsächlich anvisierten, breiteren Rezipientenkreises bloß statisch zu reproduzieren, bindet sie Lukian für seine Zwecke in literarische Allianzen ein, die mitunter innerhalb eines Textes umschlagen und neu konfiguriert werden. Dieses Spiel mit den kommunikativen Instanzen ist zugleich ein Spiel mit den Möglichkeiten und Grenzen der Briefform.
Literaturverzeichnis 1. Editionen, Übersetzungen und Kommentare Hafner, Markus: Lukians Apologie. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Markus Hafner, Tübingen 2017 (Classica Monacensia 50) [zitiert als Hafner (2017)]. Hafner, Markus: Lukians Schrift „Das traurige Los der Gelehrten“ (De Mercede Conductis Potentium Familiaribus, lib. 36): Einführung und Kommentar, Stuttgart 2017 (Hermes Einzelschriften 110) [zitiert als Hafner (2017a)]. Hercher, Rudolf: Epistolographi Graeci, Paris 1873. Heßler, Jan E.: Epikur. Brief an Menoikeus. Edition, Übersetzung, Einleitung und Kommentar, Basel 2014 (Schwabe Epicurea 4). || 84 Laut Marquis (2015) 106 dient die Briefform in Peregr. als ein effektvolles „outil de combat“. 85 Vergleichbare kommunikative Strategien weist Braund (1996) 52ff. in der römischen Satire nach, vgl. 52: „Satire most simply and most obviously operates by attacking individuals or groups marked out as different and deviant. Attacks on such groups tend to create solidarity between active and passive participants in the performance of satire, that is, between the voice and his (assumed) audience, which may be an assumed internal audience […]. Sometimes the object of attack is the addressee within the poem, sometimes it is the audience listening to the performance of the satire and sometimes it is even the voice himself who is the victim.“
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| VI. Biblische Verwendungsweisen des Briefs
Andrea Taschl-Erber
Identitätspolitische Rhetorik Der Brief „an die Heiligen in Kolossä“ In der rhetorischen Auseinandersetzung mit oppositionellen Stimmen, gegen deren Einflussnahmen die Adressaten gewappnet werden sollen (vgl. bes. 2,4.8.16–23), spiegelt der ‚deuteropaulinische‘ Brief an die Gemeinde in Kolossä identitätspolitische Abgrenzungsprozesse wider. Dabei wird die literarische Präsenz des Paulus als Briefverfasser pseudepigraphisch inszeniert, welcher trotz physischer Abwesenheit (2,5), gleichsam aus der Ferne, in einer solchen Orientierungskrise und Konfliktsituation seine Stimme erhebt und dabei zum universal wirkenden Lehrer (1,28) und Offenbarer des „Mysteriums Christi“ (4,3f.) stilisiert wird. Herausgefordert durch eine konkurrierende φιλοσοφία (2,8), deren Heilskonzepte die in paulinischer Tradition formulierte Erlösungslehre offenbar infrage stellen, wendet sich die Sprecherinstanz mit der Autorität des göttlich legitimierten Apostels (vgl. 1,1.25) an die Adressierten, um den eigenen Standpunkt im Ringen um die Definitionsmacht in Fragen der göttlichen kosmischen Ordnung und der daraus resultierenden Existenz- und Handlungsorientierung als ‚orthodox‘ zu konstruieren. In der folgenden Analyse richtet sich der Fokus zum einen darauf, wie die Figur des Paulus als Adressant gleichsam erzählerisch realisiert wird, zum anderen wird erhoben, auf welche Weise gemeinschaftsbildende Identität für die Adressaten in einem geradezu kosmischen Horizont entworfen wird. Der Beitrag geht dabei insbesondere auch den kommunikativen Strategien nach, mit denen sich die auktoriale Stimme, teils unter Aufnahme stereotyper antiker Topoi, von der gegnerischen Lehre polemisierend abgrenzt und unter Entfaltung einer kosmischen Christologie bzw. christologischen Kosmologie zu Fragen der kultisch-rituellen Praxis Stellung bezieht. In den Grenzziehungen gegenüber anderen jüdischen oder ‚jüdisch-christlichen‘1 Richtungen und Gruppierungen wer|| 1 Im Blick auf die Entstehungszeit des Kol (ca. um 70 n. Chr.; so z.B. Gnilka [1980] 23; Pokorný [1987] 15; Wolter [1993] 31; Maisch [2003] 21) lassen sich zwischen ‚jüdisch‘ und ‚christlich‘ keine strikten Grenzen ziehen, etwa im Sinne eines – von einem gleichsam monolithisch gesehenen Judentum unterschiedenen – nichtjüdischen Christentums; die Grenzlinie verläuft vielmehr innerhalb sich jüdisch definierender Identität (zu den wechselseitigen Abgrenzungsdiskursen in der jeweiligen Produktion von ‚Orthodoxie‘ in Relation zum konstruierten Anderen in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung siehe grundlegend Boyarin [2009]). Solche Grenzziehungen werden in der Auslegungsgeschichte retrospektiv in die Texte einge-
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den dabei die Kriterien für Inklusion und Exklusion in Bezug auf die „in Christus“ versammelte ‚Körperschaft‘2 neu definiert bzw. in ihrer soteriologischen Relevanz unterschiedlich gewichtet.
1 Präskript und Postskript: Primäre Adressanten und Adressaten sowie erweiterte Konstellationen Für die Frage nach den primären Adressanten und Adressaten bietet sich zunächst ein Blick auf das Präskript des Briefes an: (1,1) Παῦλος ἀπόστολος Χριστοῦ Ἰησοῦ διὰ θελήματος θεοῦ καὶ Τιμόθεος ὁ ἀδελφός (1,2) τοῖς ἐν Κολοσσαῖς ἁγίοις καὶ πιστοῖς ἀδελφοῖς ἐν Χριστῷ· χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη ἀπὸ θεοῦ πατρὸς ἡμῶν. (1,1) Paulus, Apostel Christi Jesu (oder: des Messias Jesus)3 durch Gottes Willen, und Timotheus, der Bruder, (1,2) an die in Kolossä heiligen/Heiligen und gläubige(n)4 Geschwister in Christus: Gnade (werde) euch (zuteil) und Friede von Gott, unserem Vater.
Es besteht – zumindest in der deutschsprachigen Forschungslandschaft – breiter Konsens, dass es sich beim Kol entgegen der superscriptio in 1,1 um eine
|| tragen. Für die im Kol adressierte ἐκκλησία soll hingegen die Grenze zwischen περιτομὴ καὶ ἀκροβυστία („Beschneidung und Unbeschnittenheit“, 3,11) keine fundamentale Rolle spielen. Die Herausforderung in dieser Phase ist die Entwicklung einer tragfähigen gemeinsamen Identität für Jüdinnen und Juden, die (auch) der Jesusbewegung zugehörig sind, und nichtjüdischen Anhängerinnen und Anhängern (die aus der paulinischen Mission hervorgegangen sind) – in Abgrenzung zu oppositionell erlebten Synagogen und dem ‚paganen‘ Umfeld. Aufgrund dieser Heterogenität treten – bereits ‚intern‘ – Konflikte zu Tage im Ringen um das jüdische Erbe, inwieweit es als konstitutiver Teil des neuen „Weges“ (siehe die Bezeichnung ἡ ὁδός in Apg 19,9) und damit für alle ‚Mitglieder‘ der ‚Körperschaft‘ gleich unabdingbar gilt. 2 Vgl. die paulinische „Leib Christi“-Ekklesiologie (dazu unten). Eine juridisch-institutionelle Bedeutung haftet der ‚Körperschaft‘ hier nicht an. 3 Als Hoheitstitel ist χριστός („Gesalbter“) griechisches Äquivalent zum Messiastitel (so z.B. explizit Joh 4,25), freilich zeichnet sich bereits der Übergang zur Exklusivbezeichnung als Christus ab. 4 Zu den unterschiedlichen Lesarten s.u.
Identitätspolitische Rhetorik. Der Brief „an die Heiligen in Kolossä“ | 281
‚deuteropaulinische‘ Pseudepigraphie handelt.5 Gerade etwa die im Briefverlauf inszenierte Autorität des von Gott berufenen Christusapostels,6 die spezifische Stilisierung der Figur des Paulus, aber auch eine Relektüre christologischer, eschatologischer und ekklesiologischer Konzepte sprechen gegen die paulinische Authentizität des Kol.7 Die intertextuellen Bezüge zu den unumstrittenen Paulusbriefen zeigen dabei eine aktualisierende Fortschreibung paulinischer Tradition unter dem literarischen Patronat des Apostels,8 dessen Verkündigungskonzept der Kommunikation mittels Briefmedium weitergeführt wird.
|| 5 Anders etwa im englischsprachigen Bereich (so gehen z.B. Arnold [1995] 6f. und Smith [2006] 6–16 von paulinischer Verfasserschaft aus); desgleichen Baumert/Seewann (2016). Es gibt auch vermittelnde Positionen: Luz (1998) schließt sich beispielsweise der Hypothese an, ein Mitarbeiter des Paulus habe den Brief zu dessen Lebzeiten und in dessen Auftrag geschrieben, „am ehesten“ (190) der in 1,1 als Mitverfasser genannte Timotheus (ähnlich Schweizer [31989/1976] 26f.; Gnilka [1980] 22; Dunn [1996] 38; Geréb [2009] 35; 37f.). M.E. scheinen die textinternen Hinweise dann jedoch eher die Spur zu Epaphras zu legen (schon von Lähnemann [1971] 181f. Anm. 82 diskutiert; vgl. z.B. auch Trainor [2008] 3f.), dessen Erwähnungen den Brief rahmen (1,7f.; 4,12f.) und mit welchem die paulinische Überlieferungskette konstruiert wird (zu Tychikus siehe etwa Leppä [2003] 263f.). Freilich eignet sich der Blick auf das Personeninventar des – pseudepigraphen – Briefes schwerlich für die Rekonstruktion der textexternen Kategorie (in geschichtlichem Dunkel bleibender) realer Autorschaft. Zur Diskussion einer (verschieden konnotierten) „Paulus-Schule“ siehe z.B. Standhartinger (1999) 3–10; 277–289; Müller (2009). Ein tragfähiges Lösungsmodell könnte das Konzept einer bewusst gestalteten, für die AdressatInnen aufgrund des gemeinsamen Wissens um den Tod des Paulus durchschaubaren Autorfiktion (Standhartinger [1999] 2f.) im Rahmen fiktionaler Literatur darstellen (vgl. Hübenthal [2011]). Zur Verfasserfiktion in frühchristlichen Briefen siehe den von Frey et al. herausgegebenen Band zu Pseudepigraphie (2009). 6 Die Titulierung in Kol 1,1 ist an die Präskripte als authentisch geltender Paulusbriefe angelehnt: siehe Röm 1,1; 1 Kor 1,1 (jeweils κλητὸς ἀπόστολος); 2 Kor 1,1 (identischer Wortlaut); Gal 1,1; außerdem Eph 1,1; 2 Tim 1,1. 7 Zu den stilistischen Differenzen (locker-assoziative Gedankenführung, lange Satzketten in parataktischem Stil, mit vielen Relativsätzen, plerophore Ausdrucksweise mit einer Vorliebe für z.B. Appositionen und Genitivattribute etc.) siehe die grundlegende Arbeit von Bujard (1973); zudem begegnen viele ἅπαξ λεγόμενα. 8 Siehe dazu z.B. die Studie von Frank (2009), für die der Kol eine frühe Sammlung der Protopaulinen voraussetzt (351–353). Skeptisch gegenüber einer möglichen Benutzung von Paulusbriefen (außer Phlm) ist Standhartinger (1999), die auf die Aufnahme mündlicher Paulustradition rekurriert (61–89; 91–152; 278–281). In der folgenden Analyse zeigt sich einerseits eine oft frappante Nähe zu den Paulinen, andererseits fehlen wiederum wichtige Konzepte und Begriffe (z.B. νόμος, δικαιοσύνη oder ἁμαρτία im Sg.). Im Unterschied zur eindeutigen literarischen Abhängigkeit des Eph vom Kol könnte die Vertrautheit mit paulinischer Verkündigungstradition auch subliterarisch vermittelt sein (vgl. Wolter [1993] 33, der aber eine Abhängigkeit von Phlm und Röm annimmt; Bormann [2012] 43–45; Foster [2016] 81–85).
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Gleichzeitig stiftet die bekannte Terminologie eine gewisse Vertrautheit bezüglich der auf Akzeptanz zielenden Lehre. Paulus tritt als Sprecher eines kollektiven Wir9 auf, in das zunächst natürlich Timotheus als Mitverfasser10 (der im weiteren Schreiben im Hintergrund bleibt) eingeschlossen ist, eventuell aber auch die im Postskript genannten Mitarbeiter (συνεργοί, 4,11), die er als Gesandte vorstellt oder von denen er Grüße bestellt (4,7–14), sodass durchaus ein erweiterter Adressantenkreis in den Blick rückt. Das in 4,7–17 erwähnte, großteils aus dem Brief an Philemon bekannte Personenkollegium11 dient freilich auch dazu, einen authentischen Eindruck der paulinischen Verfasserschaft unter Anknüpfung an vertraute Namen herzustellen. Wenn Paulus als Mittelpunkt eines aktiven missionarischen Netzwerks präsentiert wird, erweist er sich zudem als über die Gemeindesituation aus erster Hand informiert. Insbesondere Epaphras kommt hier eine wichtige Rolle zu, der bereits im Proömium als Lehrer (und Gründer?) der Gemeinde sowie als Garant der Überlieferungskette mit stellvertretender Kompetenz beschrieben wird (1,7: „wie ihr es gelernt habt von Epaphras, unserem geliebten ‚Mitsklaven‘, der an unserer Stelle ein treuer ‚Diener‘/διάκονος Christi ist“)12 und auch im Postskript eine vermittelnde Funktion als Bindeglied zwischen Paulus und den Adressaten innehat (4,12: „es grüßt euch Epaphras, der [einer] von
|| 9 Dieses Wir geht über einen bloßen pluralis maiestatis hinaus. 10 Ebenso in 2 Kor 1,1; Phil 1,1; 1 Thess 1,1; 2 Thess 1,1; Phlm 1. 11 Folgende Namen tauchen im Brief an Philemon auf: Onesimus (Kol 4,9 / Phlm 10ff.), Aristarch und Markus (Kol 4,10 / Phlm 24; zu Aristarch vgl. außerdem Apg 19,29; 20,4; 27,2; zu Markus 2 Tim 4,11; 1 Petr 5,13; als ἀνεψιός des Barnabas: Apg 12,12.25; 13,13; 15,37‒39), Epaphras (Kol 1,7f.; 4,12f. / Phlm 23), Lukas (ὁ ἰατρὸς ὁ ἀγαπητός) und Demas (Kol 4,14 / Phlm 24; d.h. alle in Phlm 23f. Grüßenden tun dies ebenso in der Grußliste des Kol; vgl. darüber hinaus wiederum 2 Tim 4,10f.) sowie Archippus (Kol 4,17 / Phlm 2). Ferner werden Tychikus (Kol 4,7‒9; vgl. Eph 6,21; auch in Apg 20,4; 2 Tim 4,12; Tit 3,12 als Mitarbeiter und Bote des Paulus erwähnt) und Jesus Justus (Kol 4,11: wie Aristarch und Markus ἐκ περιτομῆς, „aus der Beschneidung“; in Phlm 23f. nach ἐν Χριστῷ [statt Ἰησοῦ konjizierte Theodor Zahn Ἰησοῦς] verloren gegangen? dazu z.B. Huttner [2013] 92) genannt. Explizit werden auch Grüße an eine Frau bestellt: Nympha mit „ihrer“ (αὐτῆς [B]) Hausgemeinde (was ‒ analog zu Junia in Röm 16,7, die zu einem Junias wurde ‒ textliche Korrekturen in Kol 4,15 herausforderte). In Phlm 2 wird Aphia als Adressatin angeführt. 12 καθὼς ἐμάθετε ἀπὸ Ἐπαφρᾶ τοῦ ἀγαπητοῦ συνδούλου ἡμῶν, ὅς ἐστιν πιστὸς ὑπὲρ ἡμῶν (P46, B) διάκονος τοῦ Χριστοῦ. Die Bezeichnung σύνδουλος („Mitsklave“, wie in den Gleichnissen in Mt 18,28f.31.33; 24,49; siehe Paulus als δοῦλος Χριστοῦ Ἰησοῦ in Röm 1,1 u. Ä.; allerdings nicht im Kol) impliziert ein nicht-hierarchisches Amtsverständnis – es gibt nur einen κύριος. Nach Sen. epist. 47,1 (Rosenbach [1974] 3,360) sind Sklaven conserui vor dem Schicksal.
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euch [ist], Sklave Christi [Jesu], immer kämpfend für euch ...“13, in V. 13 darüber hinaus auch „für die in Laodizea und die in Hierapolis“).14 Ähnlich wie Epaphras in 1,7 wird Tychikus in 4,7 mit den typischen Bezeichnungen für Mitarbeiter des Paulus als „geliebter Bruder“ (ὁ ἀγαπητὸς ἀδελφὸς; vgl. Timotheus in 1,1), „treuer ‚Diener‘“ (καὶ πιστὸς διάκονος)15 sowie „‚Mitsklave‘ im Herrn“ (καὶ σύνδουλος ἐν κυρίῳ) tituliert, welcher mit „dem treuen und geliebten Bruder“ Onesimus (nach 4,9 wie Epaphras aus Kolossä)16 als Überbringer des Briefs vorgestellt wird (4,7–9). Die Boten repräsentieren und vermitteln den Adressaten mit ihrer Botschaft von Paulus dessen Gegenwart17 und werden zugleich über ihre Relation zu ihm autorisiert. – Gegenüber einer solchen WirKonstruktion18 finden sich Ich-Aussagen des Paulus (außer im Schlusskapitel)19 insbesondere vor der Auseinandersetzung mit anonymen Gegenstimmen der konkurrierenden φιλοσοφία, um hier seine Autorität in Erinnerung zu rufen bzw. ins Spiel zu bringen (1,23–25.29; 2,1.4f.) Adressiert ist der Brief gemäß der adscriptio in Kol 1,2 „an die heiligen (eventuell substantiviert wie in unumstrittenen Paulusbriefen sowie an anderen Stellen des Kol: Heiligen)20 und gläubigen/treuen21 Geschwister in Christus in
|| 13 ἀσπάζεται ὑμᾶς Ἐπαφρᾶς ὁ ἐξ ὑμῶν, δοῦλος Χριστοῦ [Ἰησοῦ , A, B etc.], πάντοτε ἀγωνιζόμενος ὑπὲρ ὑμῶν. Die Hervorhebungen zeigen, dass Epaphras eine Vermittlerrolle zwischen dem Wir und dem Ihr zukommt. 14 Trainor (2011) 244f. bezeichnet ihn daher als „a key figure in the social cohesion of the Jesus households of the Lycus Valley“. 15 Vgl. auch die διακονία, die Archippus „erfüllen“ soll (4,17) – wie Paulus das „Wort Gottes“ (1,25). 16 Siehe die Charakterisierung ἐξ ὑμῶν. 17 Vgl. 4,7: Τὰ κατ’ ἐμὲ πάντα γνωρίσει ὑμῖν Τυχικὸς [...]. 18 Röhser (2009) 145 sieht in diesem Mitarbeiterkreis den „Sitz im Leben“ für „die pseudepistolographische Fiktion des Kol“. 19 Siehe 4,3f.7f.10f.13.18. 20 Sollte entsprechend Röm 1,7; 1 Kor 1,2; 2 Kor 1,1; Phil 1,1 (aber auch etwa Kol 1,4.12.26) eine substantivierte Verwendung von ἁγίοις impliziert sein („an die Heiligen in Kolossä“; für die Verwendung als adjektivisches Attribut siehe hingegen Eph 6,5: τοῖς ἁγίοις ἀποστόλοις αὐτοῦ), scheint das parallele Element πιστοῖς ἀδελφοῖς (vgl. die Charakterisierung des Onesimus in 4,9; in Eph 1,1 fehlt ἀδελφοῖς) nachzuklappen (zumal ohne eigenen Artikel, der allerdings den Bezug zum attributiven ἐν Κολοσσαῖς aufbrechen würde), sodass mit Schweizer (31989/1976) wohl „nachlässiger Sprachgebrauch anzunehmen“ (33) wäre. 21 Gegenüber einer wertenden Qualifizierung als treu (vgl. die im Brief so beschriebenen Mitarbeiter des Paulus) sieht Maisch (2003) in der Bezeichnung der Adressaten als gläubige Geschwister (zur inklusiven Übersetzung siehe die direkte Anrede von Frauen in 3,18 oder die inklusiven Bezeichnungen „Kinder“ und „Eltern“ in 3,20) „eine Ermutigung, am übernommenen Glauben festzuhalten“ (50); diese sollen mit den ehrenden Attributen „in ihrem (religiö-
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Kolossä“ – oder (mit einer Öffnung der Adressatenschaft, vgl. 2,1): „an die Heiligen in Kolossä und (generell?)22 gläubige Geschwister in Christus“ (etwa jene in Laodizea; vgl. 4,15). An eine örtliche ἐκκλησία ist das Schreiben nicht gerichtet. Während der ekklesiologische Titel ἅγιοι in der Tradition des AT und der Literatur der Zweiten Tempel-Periode23 auf die Gottesbeziehung der Adressierten abhebt (mit dem Konzept der Erwählung und „Aussonderung“ aber auch Identität in Abgrenzung nach außen konstruiert), bringt die Bezeichnung als „Geschwister“24 ihre (nun gemeinschaftliche Identität stiftende) horizontale Verbindung sowie ihr Verhältnis zu Paulus zum Ausdruck – in der gemeinsamen Relation zu Gott als „unserem Vater“ (siehe die formelhafte salutatio:25 χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη ἀπὸ θεοῦ πατρὸς ἡμῶν).26 Hinsichtlich der vom Kol figurierten Kommunikationssituation betrifft das Thema der Fiktionalität neben der Verfasserangabe auch die Frage der Adressaten.27 Freilich ist nicht gänzlich von der Hand zu weisen, dass bestimmte Entwicklungen in den Gemeinden des Städtedreiecks Kolossä – Laodizea – Hie|| sen) Selbstbewusstsein gestärkt [...] werden“. – Durch erläuterndes καί angefügt, könnten mit den christusgläubigen (vgl. V. 4) Geschwistern aber auch die (von Gott erwählten) ἅγιοι näher spezifiziert werden. 22 In einem solch universalisierenden Sinn würde aber vermutlich das gerade im Kol häufig gesetzte plerophore πᾶς nicht fehlen (vgl. den Einschluss von „allen“ in 1 Kor 1,2; 2 Kor 1,1). 23 Vgl. in der apokalyptischen Tradition Dan 7,18.21f.25.27; 8,24; außerdem etwa Ps 15,3 LXX; 33,10 LXX; Tob 12,15 (parallel zu den Engeln); 1 Makk 1,46; Weish 18,9. Zur Bezeichnung ὡς ἐκλεκτοὶ τοῦ θεοῦ, ἅγιοι καὶ ἠγαπημένοι in Kol 3,12 vgl. klassisch Dtn 7,6–8 (V. 6 LXX: ὅτι λαὸς ἅγιος εἶ κυρίῳ τῷ θεῷ σου, καὶ σὲ προείλατο κύριος ὁ θεός σου εἶναί σε αὐτῷ λαὸν περιούσιον παρὰ πάντα τὰ ἔθνη [...] 7 [...] καὶ ἐξελέξατο ὑμᾶς [...] 8 [...] παρὰ τὸ ἀγαπᾶν κύριον ὑμᾶς [...]); in Bar 3,37 begegnet ἠγαπημένῳ für Israel; vgl. auch Ps 47,5; Jes 41,8f.; 44,2 LXX; Jer 12,7; 31,3. Die das gemeindliche Selbstverständnis verdeutlichenden Prädikationen „Auserwählte“ und „Heilige“ finden sich ebenso in Qumrantexten (z.B. 1QM VI,6: „die Heiligen seines Volkes“; vgl. III,5; 1QSb III,2; „Erwählte“: 1QS VIII,6; XI,7.16; 1QM XII,1f.; 1QpHab X,13); siehe ferner „die Gemeinde der Auserwählten und Heiligen“ in 1 Hen 62,8 (ähnlich 50,1; Textzitate aus der Ausgabe von Uhlig [1984]). Vgl. auch Röm 1,7 oder 1 Petr 2,9. Zur Übertragung des Ehrentitels ἅγιοι auf die kolossischen AdressatInnen siehe die in Kol 1,12 betonte „Teilhabe am Erbe der Heiligen“. 24 Die Anrede findet sich – anders als in unumstrittenen Paulinen – nur hier im Kol. 25 Ähnlich in Röm 1,7; 1 Kor 1,3; 2 Kor 1,2; Gal 1,3; Phil 1,2; Phlm 3 (bezüglich des konstanten Wortlauts weist Standhartinger [1999] 74 Anm. 49; 81 auf eine Vereinheitlichung in der Textgeschichte hin); in 1 Thess 1,1 nur χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη (vgl. dazu Offb 1,4; syrBar 78,2). 26 Vgl. Wolter (1993) 49; Maisch (2003) 50. Zur paulinischen Verwendung von Verwandtschaftsterminologie zur Konstruktion sozialer Identität siehe die Studie von Mengestu (2013). 27 Von einer doppelten Fiktion gehen z.B. explizit Wolter (1993) 35f.; Standhartinger (1999) 16; 153; 281; Frank (2009) 412–414; Theobald (22013) 442 aus; für die aktuelle Diskussion siehe Hübenthal (2011). Anders etwa Röhser (2009) 150; Huttner (2013) 114–117.
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rapolis im kleinasiatischen Lykostal eine extratextuale Ausgangsbasis für die Brieffiktion geliefert haben könnten28 (zumindest scheint die im Kol skizzierte Situation zum dort für die zweite Hälfte des 1. Jh. rekonstruierten Milieu29 zu passen). Die größere Nachbarstadt Laodizea wird in Kol 2,1; 4,13.15f. explizit genannt, in 4,16 ist sogar von einer dortigen Verlesung des Briefs bzw. von einem gegenseitigen Austausch der jeweils erhaltenen Korrespondenz die Rede.30 Hierapolis wiederum wird in Kol 4,13 zusätzlich erwähnt. Damit ist also bereits textintern eine erweiterte Adressatenschaft im Blick. Zunächst sind jedoch Paulus wie die kolossischen AdressatInnen als literarische Figuren in der präsentierten Textwelt zu sehen. Die Beleuchtung der Kommunikationsstruktur des Kol fokussiert die diskursiven Strategien, mit denen der Brieftext in einem literarischen Spiel mit der räumlichen Trennung bzw. Abwesenheit des fiktiven (Haupt-)Verfassers die autoritative Stimme des Paulus (postum) in einer modellhaften Situation intervenieren lässt, um in Abgrenzung zu einflussreichen konkurrierenden Positionen eine identitätsstiften-
|| 28 Vgl. Bormann (2012) 50f. Über bestimmte Christologumena etwa ergeben sich auch Verbindungslinien zur Offb (vgl. z.B. den Titel πρωτότοκος [ἐκ] τῶν νεκρῶν in Kol 1,18 / Offb 1,5; zu ἀρχὴ τῆς κτίσεως in Offb 3,14 außerdem Kol 1,15), wo Laodizea als eine der sieben kleinasiatischen Gemeinden adressiert ist (Offb 1,11; 3,14ff.: in unmittelbarer Nähe finden sich die aufgezeigten intertextuellen Bezüge). In Offb 2,6f.14–17.20–24 wird „die Lehre der Nikolaiten“ als zu laxe Haltung bei den Speisetabus (φαγεῖν εἰδωλόθυτα) verurteilt: Lässt sich ein Konnex zum Konfliktthema in Kol 2,16.20–23 herstellen? Trebilco (2011) versucht, ausgehend vom Befund zu Ephesos, das Nebeneinander verschiedener Gruppen und Traditionen (z.B. paulinisch, johanneisch, nikolaitisch) im Lykostal zu rekonstruieren. Royalty (2002) sieht im apokalyptischen Zirkel hinter der Offb die im Kol ins Visier genommenen Gegner. 29 Siehe z.B. den Befund bei Bormann (2012) 12–28. Dass Kolossä möglicherweise ebenfalls von dem Erdbeben Anfang der 60er-Jahre des 1. Jh. betroffen war, welches nach Tac. ann. 14,27 das benachbarte (ca. 15 km entfernte) Laodizea zerstörte (so explizit die Chronik des Eusebius in der Übersetzung des Hieronymus, 210. Olympiade [GCS 47,183,21f.]: In Asia tres urbes terrae motu conciderunt, Laodicia Hierapolis Colossae), würde die (Weiter-)Existenz einer Gemeinde nicht ausschließen (so aber z.B. Lindemann [1999/1981] 203–205; Pokorný [1987] 17; Maisch [2003] 22; Theobald [22013] 442). Wie bei Laodizea wäre von einem baldigen Wiederaufbau auszugehen, da aufgrund der epigraphischen Zeugnisse „eine nennenswerte Unterbrechung in der Geschichte [...] äußerst unwahrscheinlich [ist]“ (Bormann [2012] 28; vgl. Cadwallader [2011] 174). Zu Bedeutung und Profil der antiken Stadt siehe den von Cadwallader und Trainor herausgegebenen Band Colossae in Space and Time (2011); außerdem die Studie von Huttner (2013) zum Frühchristentum im Lykostal. 30 Nach Lindemann (1999/1981) 194ff. fungiert Kolossä als Scheinadresse für das tatsächlich anvisierte Laodizea; kritisch dazu Cadwallader (2011) 158f. – In Kol 4,16 könnte sich freilich ein Weg für die Promulgation des Pseudepigraphons andeuten, wenn es anderswo als in Kolossä auftaucht und gelesen werden soll.
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de christozentrische Perspektive zu vermitteln.31 Die in der Rolle der Gegner konstruierten Interaktionspartner fungieren dabei im Kommunikationssystem des Kol als ‚dritte Partei‘, deren hintergründige Präsenz die gesamte Argumentation prägt. Wie insbesondere 2,1 suggeriert, wo Paulus seinen Kampf führt „für euch (ὑπὲρ ὑμῶν) und die in Laodizea (καὶ τῶν ἐν Λαοδικείᾳ) und alle, die nicht mein Angesicht ‚im Fleisch‘ (d.h. physisch) gesehen haben (καὶ ὅσοι οὐχ ἑόρακαν τὸ πρόσωπόν μου ἐν σαρκί)“, ihm also persönlich nicht begegnet sind (oder begegnen),32 reicht die Adressatenschaft über die primäre im Präskript explizit genannte sowie die aus den textinternen Hinweisen auf Laodizea und Hierapolis eruierbare erweiterte Adressatenschaft hinaus auf ein größeres (potentiell unbegrenztes)33 Publikum als ‚Adressaten zweiter Ebene‘, für welche die im Brief anhand einer Modellgemeinde dargestellte typische Situation paradigmatisch anzuwenden ist.
2 Die Stimme des Paulus aus der Ferne – geliehene Autorität ‚des‘ Apostels Das an das Präskript anschließende Proömium, welches der Stärkung der Beziehung von Adressanten und Adressaten dient, gewährt bei aller Formelhaftigkeit erste Einsichten in die Kommunikationssituation. Mittels des Briefmediums wird die bisher auf dem Hören (1,4.9)34 basierende Beziehung der Kommunikationspartner (im Unterschied dazu knüpfen ‚authentische‘ Paulinen oft an persönliche Erinnerungen an)35 vertieft. Wie die meisten unumstrittenen Paulus-
|| 31 Vgl. auch Maisch (2003) 27: „Wenn ‚Paulus‘ die ‚Kolosser‘ ermahnt, warnt oder bestärkt, dienen diese brieflichen Aktivitäten dem Autor dazu, die tatsächlichen Adressaten im Glauben zu stabilisieren und gegen Anfechtungen zu immunisieren.“ Zur sauberen Trennung der Kommunikationsebenen siehe weiter Hübenthal (2011) 65–72. 32 V. 2 setzt fort: „damit ihre (nicht: eure) Herzen getröstet werden (ἵνα παρακληθῶσιν αἱ καρδίαι αὐτῶν)“. 33 Vgl. das dreifache πάντα ἄνθρωπον als Adressat der Christusverkündigung in 1,28. 34 In V. 5f.23 bezieht sich das Leitwort auf die Adressaten, die von der Hoffnung, der Gnade und dem Evangelium gehört haben (ohne dass dabei direkt genannt wird, von wem), sodass ‚Paulus‘ daran anknüpfen kann. Siehe auch die Entsprechung in V. 6/9: ἀφ’ ἧς ἡμέρας ἠκούσατε/ἠκούσαμεν. 35 Siehe etwa 1 Thess 2,17–20 oder Phil 1,7f.; vgl. aber auch die Sehnsucht nach persönlichem Kontakt in Röm 1,10–13.
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briefe36 wird der Kol, den Konventionen des jüdisch-hellenistischen Briefformulars entsprechend, mit einem Dank (Εὐχαριστοῦμεν) an Gott eingeleitet, der hier als „Vater unseres Herrn/κύριος Jesus Christus“37 bezeichnet wird (1,3); der Kyriostitel (in Anknüpfung an die Gottesbezeichnung der Septuaginta,38 aber auch in Abgrenzung zu Göttern und Herrschern im hellenistischkaiserzeitlichen Kontext) ist religiös-politisch programmatisch. Die Begründung des Danks erfolgt in V. 4 im Rahmen einer captatio benevolentiae mit Hinweis auf den Glauben der AdressatInnen „an39 den Christus/Messias Jesus“ (vgl. V. 2) und ihre „Liebe [...] zu allen Heiligen“ (zu ihrer ἀγάπη vgl. auch die Information durch Epaphras in V. 8 sowie appellativ 2,2; 3,14 als Band des Zusammenhalts).40 Offenbar sind damit am Beginn des Proömiums bereits die Punkte um-
|| 36 Zur Briefeinleitung mit einem Dankgebet vgl. etwa Röm 1,8–10; 1 Kor 1,4; Phil 1,3f.; 1 Thess 1,2; Phlm 4. – Hingegen kommt Paulus etwa im Galaterbrief direkt nach dem Präskript sogleich auf den Briefanlass zu sprechen, um sein Apostolat zu verteidigen und zur Frage des „Gesetzes“, der Stellung der Tora, Position zu beziehen. 37 Diese Bestimmung findet sich sonst in den paulinischen Einleitungsgrüßen, während in den Danksagungen die Gottesanrede nicht christologisch erweitert ist. – Das Konzept der Gottessohnschaft (vgl. 1,13) wurzelt in der messianisch-königlichen Tradition (vgl. 2 Sam 7,14; Ps 2,7; 89,27f.), die von der altorientalischen Königsideologie geprägt ist (siehe etwa den ägyptischen König als „Sohn“ und „Bild“ Gottes; dazu vgl. Kol 1,15). Zur Aufnahme und Transformation zeitgenössischer kaiserzeitlicher Motivik siehe Maier (2011). 38 Auf „den Sohn“ als „zur Rechten Gottes sitzenden“ (Kol 3,1 in Aufnahme von Ps 110,1; vgl. Röm 8,34; Eph 1,20) Erhöhten werden Attribute Gottes wie der göttliche Name übertragen (vgl. Phil 2,9–11); in der Septuaginta, der griechischen Übersetzung der Hebräischen Bibel, steht κύριος für das Tetragramm JHWH. Entsprechend verschiebt sich im NT die Bezeichnung Gottes vom „Kyrios“ stärker zum „Vater“ hin (mit dieser Anrede ebenso an zeitgenössische jüdische Tradition anknüpfend). 39 So im Corpus Paulinum nur noch in Eph 1,15 (πίστιν ἐν τῷ κυρίῳ Ἰησοῦ). Vgl. Kol 2,5 (τὸ στερέωμα τῆς εἰς Χριστὸν πίστεως ὑμῶν); dazu die verbale Formulierung in Gal 2,16 (εἰς Χριστὸν Ἰησοῦν ἐπιστεύσαμεν). 40 Die Formulierung weist eine sprachliche Nähe zu Phlm 5 auf. Die traditionelle Trias Glaube – Liebe – Hoffnung (vgl. 1 Thess 1,3; außerdem 5,8; 1 Kor 13,13) wird in Kol 1,5 komplettiert mit dem Ausblick auf „die in den Himmeln bereitliegende Hoffnung“ (vgl. 1 Petr 1,3f.) als Grund und Ziel, welche gegenüber einem Glaubensakt (vgl. z.B. Röm 4,18) als eschatologisches Hoffnungsgut (Dibelius [31953] 5) konzipiert ist (zur räumlichen Metaphorik siehe auch Kol 1,23: μὴ μετακινούμενοι ἀπὸ τῆς ἐλπίδος τοῦ εὐαγγελίου). Standhartinger (2009) arbeitet vor dem Hintergrund imperialer Heilsbotschaften deren politische Dimension heraus (siehe z.B. die Inschrift von Priene, die Augustus auch als Friedensbringer propagiert; vgl. dazu Kol 1,2.20; 3,15).
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rissen, um die es im Folgenden geht: die Treue im Christusglauben sowie die darin gründende kollektive Identität und Solidarität.41 Das mit dem Dank verknüpfte Gebet für die AdressatInnen (πάντοτε περὶ ὑμῶν προσευχόμενοι, V. 3) wird in der Wiederaufnahme von V. 9 explizit zu einer unaufhörlichen Fürbitte42 (οὐ παυόμεθα ὑπὲρ ὑμῶν προσευχόμενοι καὶ αἰτούμενοι) – mit paränetischem Beiklang –, dass sie von der Erkenntnis des (schon in V. 1 erwähnten) Willens Gottes – über dessen konkreten Inhalt offenbar Uneinigkeit herrscht – „durch alle Weisheit und geistgewirkte Einsicht“ erfüllt werden.43 In diesem weisheitlich geprägten Begriffsfeld klingt bereits ein kontinuierliches Briefthema an.44 Mit der theologischen Erkenntnis korreliert die entsprechende Praxis (V. 10f.), wie später im Briefcorpus bis zur abschließenden Paränese entfaltet wird: Zunächst wird diese grundsätzlich charakterisiert als ein „des Herrn würdiger“ Lebenswandel (vgl. die Aufforderungen in 2,6; 4,5) „zu jeglichem Wohlgefallen“,45 der in guten Werken fruchten46 soll und
|| 41 Vgl. auch 2,2: συμβιβασθέντες ἐν ἀγάπῃ καὶ εἰς πᾶν πλοῦτος τῆς πληροφορίας τῆς συνέσεως, εἰς ἐπίγνωσιν τοῦ μυστηρίου τοῦ θεοῦ, Χριστοῦ. Zur πίστις siehe die inclusio von 1,4 mit 1,23 sowie – am Beginn der Auseinandersetzung mit der φιλοσοφία – 2,5.7.12. 42 Zum Element der Fürbitte siehe Röm 1,9–12; Phil 1,4.9–11; außerdem 2 Thess 1,11f.; Eph 1,16ff.; zur Formulierung der Wiederaufnahme 1 Thess 2,13 (διὰ τοῦτο καὶ ἡμεῖς). Die teilweise formelhaften Konventionen begegnen z.B. auch in 2 Makk 1,6 (προσευχόμενοι περὶ ὑμῶν); 1,11 (εὐχαριστοῦμεν αὐτῷ [i.e. τῷ θεῷ]). 43 Analog ist das Land in Jes 11,9 von der Erkenntnis JHWHs erfüllt, in V. 2f. sowie in Ex 31,3; 35,31 erfolgt eine besondere Geistbegabung durch πνεῦμα σοφίας καὶ συνέσεως (LXX). Zur Erkenntnis des Willens Gottes (τί ἀρεστὸν ἐν ὀφθαλμοῖς σου, τί εὐάρεστόν ἐστιν παρὰ σοί, τί θέλει ὁ κύριος, τὰ ἀρεστά σου) durch die σοφία vgl. ferner Weish 9,9–18. – Siehe auch die Zielangabe für die Gebete des Epaphras in 4,12: πάντοτε ἀγωνιζόμενος ὑπὲρ ὑμῶν ἐν ταῖς προσευχαῖς, ἵνα σταθῆτε τέλειοι καὶ πεπληροφορημένοι ἐν παντὶ θελήματι τοῦ θεοῦ. 44 Zum Motiv der Erkenntnis vgl. 1,6.10; 2,2 (hier findet sich ebenfalls die σύνεσις); 3,10; zur σοφία (in der Septuaginta häufig parallel zu σύνεσις) vgl. 1,28; 2,3.8.23; 3,16; 4,5. 45 Die Infinitivkonstruktion in Kol 1,10 ähnelt 1 Thess 2,12: περιπατῆσαι/περιπατεῖν (dazu vgl. z.B. Spr 8,20 LXX) ἀξίως τοῦ κυρίου/θεοῦ. Siehe außerdem 1 Thess 4,1: περιπατεῖν καὶ ἀρέσκειν θεῷ, womit wohl auch für das plerophore εἰς πᾶσαν ἀρεσκείαν in Kol 1,10 der Adressat des Gefallens angegeben ist (freilich bleibt der κύριος doppeldeutig). Das Substantiv ἀρεσκεία ist im NT ein ἅπαξ λεγόμενον, in der Septuaginta siehe Spr 31,30; häufiger ist hier das Verb ἀρέσκω oder das Adjektiv ἀρεστός belegt (vgl. Kol 3,20 in der „Haustafel“: τοῦτο γὰρ („Wohlgefalεὐάρεστόν ἐστιν ἐν κυρίῳ): ἀρεστόν kann neben θέλημα das hebräische len, Wille“) wiedergeben. 46 Die (chiastisch aufgebaute) Metaphorik des Fruchtbringens und Wachsens (vgl. den Auftrag in Gen 1,28; aber auch das agrarische Bildfeld in Mk 4,8 par.) verweist zurück auf das wirkmächtige Evangelium in V. 6: καθὼς καὶ ἐν παντὶ τῷ κόσμῳ ἐστὶν καρποφορούμενον καὶ αὐξανόμενον καθὼς καὶ ἐν ὑμῖν.
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sich neben wachsender Erkenntnis etwa durch beharrliche Ausdauer und langmütige Geduld,47 durch Gott gestärkt, auszeichnet. Die partizipiale Reihe48 mündet in die Aufforderung zum freudigen Dank49 an den „Vater“, in den nun die Adressierten aufgrund der Befähigung zur „Teilhabe am Erbe (μερίδα τοῦ κλήρου)50 der Heiligen im Licht“ (V. 12) und der Rettung51 „aus der Macht(sphäre) der Finsternis“52 in die βασιλεία „seines geliebten Sohnes“ (V. 13; jetzt und im Rekurs auf die Erlösung und Sündenvergebung im folgenden Vers ist von einem gemeinsamen Wir die Rede) einstimmen sollen. Die identitätspolitische Erbschaftsterminologie spielt wie die kontrastive LichtFinsternis-Metaphorik eine wichtige Rolle in der jüdischen Literatur des Zweiten Tempels,53 an deren Vorstellungshorizont der Kol anknüpft. Über eine Kette relativischer Anschlüsse geht der Dank schließlich in den aus dem Wir-IhrDiskurs heraustretenden Christushymnus54 (V. 15–20) über,55 der in kosmischer
|| 47 Das Begriffspaar ὑπομονή – μακροθυμία (diese wird ebenso im ‚Tugendkatalog‘ in Kol 3,12 aufgezählt) begegnet z.B. auch in 2 Kor 6,4.6; 2 Tim 3,10; Jak 5,7–11. 48 Siehe in V. 10–12 καρποφοροῦντες – αὐξανόμενοι – δυναμούμενοι – εὐχαριστοῦντες (weniger wahrscheinlich ist hier ein Rückbezug auf οὐ παυόμεθα [...] προσευχόμενοι καὶ αἰτούμενοι in V. 9; so aber Maisch [2003] 64). 49 Vgl. auch 2,7; 3,17; 4,2. 50 Der Terminus κλῆρος erhält in der Septuaginta sein semantisches Profil insbesondere im Kontext der Landverteilung, indem er das den Stämmen Israels durch das Los zugeteilte Land als Erbbesitz bezeichnet. Wird der Erbteil (auch synonym zu μερίς) oder das Erbe in den Blick genommen, lässt sich auch eine Übertragung auf andere Heilsgüter und Kontexte vollziehen. In Kol 3,24 wird die κληρονομία gerade SklavInnen zugesprochen. 51 Zur Kombination der Vater-Anrede mit dem Rettungs- bzw. Erlösungsmotiv (V. 13: ὃς ἐρρύσατο ἡμᾶς [...]; siehe dieselbe Verbalform z.B. in der Septuaginta-Version von Ex 12,27; 14,30; 2 Sam [= 2 Kön LXX] 22,18; Ps 17,1 LXX; 33,5.18 LXX u.ö.; Jes 48,20; 52,9) vgl. Jes 63,16 LXX: [...] κύριε, πατὴρ ἡμῶν· ῥῦσαι ἡμᾶς [...] (in V. 17 taucht der Begriff κληρονομία auf). 52 Dasselbe Syntagma findet sich in Lk 22,53: ἡ ἐξουσία τοῦ σκότους. Siehe auch 1 Petr 2,9. Zum Licht-Finsternis-Dualismus, kombiniert mit den Herrschaftssphären eines Lichtfürsten/Finsternisengels, vgl. etwa 1QS III,13–IV,16. 53 Vgl. z.B. 1QS XI,7f. (Gott hat den erleuchteten Auserwählten „Anteil am Los der Heiligen gegeben und ihre Versammlung mit den Söhnen des Himmels verbunden“) oder 1 Hen 58 (Erbteil der Gerechten und Auserwählten, im Licht). In Weish 5 erkennen die Frevler angesichts der unerwarteten Rettung des verhöhnten Gerechten: ἐν ἁγίοις ὁ κλῆρος αὐτοῦ ἐστιν (V. 5; zum Licht siehe V. 6; vgl. Jes 53,11f.). Vgl. auch Gal 4 oder die Konversionsterminologie von Apg 26,18 (Sendungsauftrag des Paulus), wo eine ähnliche Konzentration geprägter Begriffe wie in Kol 1,12–14 begegnet (dazu etwa Hoppe [1994] 186–188). 54 Zur Gattung (Hymnus, Enkomion oder Psalm?) siehe die Diskussion bei Vollenweider (2010). Maisch (2003) 78 votiert für ein „(christologisches) Lehrgedicht“. 55 Wie die überladene Satzstruktur mit ihren assoziativen Weiterführungen und Wiederaufnahmen sind fließende Übergänge, die sich eindeutigen Abgrenzungen widersetzen, charakte-
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Perspektive (vgl. V. 5f.23) die exklusive Mittlerschaft des „Sohnes“ (als Erbe und Repräsentant der personifizierten Weisheit) in Schöpfung wie Erlösung entfaltet.56 Mit einem betonten Καὶ ὑμᾶς („Auch ihr“) wechselt die Perspektive in V. 21 in Applikation der hymnisch formulierten christologischen Reflexion wieder zu den AdressatInnen, die νυνί (siehe das ‚Einst-Jetzt-Schema‘ in V. 21f.) an der durch dessen Kreuzestod gewirkten „Versöhnung“ (vgl. ἀποκαταλλάσσω in V. 20.22) partizipieren – unter der Bedingung, fest und unerschütterlich im Glauben zu verharren (εἴ γε ἐπιμένετε τῇ πίστει τεθεμελιωμένοι καὶ ἑδραῖοι [...], V. 23; vgl. 2,5–7).57 Dabei wird das Thema der weltweiten Evangeliumsverkündigung von V. 5f. wieder aufgenommen. Wird in jener Retrospektive Epaphras in seiner stellvertretenden Funktion als πιστὸς ὑπὲρ ἡμῶν διάκονος τοῦ Χριστοῦ bezeichnet (V. 7, siehe oben in 1.), richtet sich der Fokus in V. 23 auf Paulus selbst als διάκονος58 des Evangeliums (vgl. Eph 3,6f.) bzw. – entsprechend der parallelen Formulierung von V. 25 – der ebenso universalen ἐκκλησία59 gemäß der ihm anvertrauten οἰκονομία Gottes60 (zu diesem „Amt“61 nach der Heilsordnung62 Gottes vgl. die bereits in 1,1 herausgestellte göttliche Legitimation).
|| ristisch für den Kol, ebenso, dass „Belehrung und Paränese in ihm sich mischen“ (Gnilka [1980] 7). 56 Siehe dazu ausführlicher meinen dem „Erstgeborenen der ganzen Schöpfung“ gewidmeten Beitrag in dem mit Irmtraud Fischer herausgegebenen Band Vermittelte Gegenwart (2016), mit bibliographischen Referenzen. 57 Vgl. die ähnlichen Stichwörter in 1 Kor 15,58: [...] ἑδραῖοι γίνεσθε, ἀμετακίνητοι, περισσεύοντες ἐν τῷ ἔργῳ τοῦ κυρίου [...] (siehe Kol 1,10.23; 2,7). 58 Zum Bedeutungsgehalt der Beauftragung siehe die semantische Studie von Hentschel (2007); zur zentralen Rolle des διάκονος-Titels in der paulinischen Verteidigung seines Verkündigungsauftrags in 2 Kor ebd., 91–138. Hier präsentiert sich Paulus auch – gerade durch die erlittenen Peristasen – als philosophischer διάκονος stoischen Zuschnitts, wie Ebner (1991) 155–160 darlegt, welcher auf die Diatriben Epiktets rekurriert. 59 Vgl. V. 23/24f.: [...] τοῦ εὐαγγελίου [...] οὗ ἐγενόμην ἐγὼ Παῦλος διάκονος [...] ἡ ἐκκλησία, ἧς ἐγενόμην ἐγὼ διάκονος [...]. Statt in der Briefadresse in 1,2 taucht der Begriff der „Kirche“ zum ersten Mal im kosmischen Horizont von V. 18 auf. Demgegenüber wird der Terminus in 4,15f. für die sich im Haus der Nympha versammelnde ἐκκλησία oder jene der LaodizeerInnen verwendet. Während Paulus in Röm 16,1 Phöbe als διάκονον τῆς ἐκκλησίας τῆς ἐν Κεγχρεαῖς bezeichnet, ist er διάκονος der Kirche schlechthin. 60 Ähnlich formuliert in 1 Kor 3,10: τὴν χάριν τοῦ θεοῦ τὴν δοθεῖσάν μοι (vgl. Röm 12,3; 15,15; Gal 2,9 sowie Eph 3,2.7f.). Siehe außerdem 1 Kor 9,17 (οἰκονομίαν πεπίστευμαι); in 4,1 beschreibt sich Paulus als „Verwalter von Geheimnissen Gottes“. 61 So Gnilka (1980) 98f.; Wolter (1993) 102f.; Kremer (2005/2001) 218; 226; Maisch (2003) 138; Heininger (2009) 63; nach Hübner (1997) 69 „Auftrag“. 62 Vgl. Standhartinger (1999) 169f.
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Die mit prononciertem ἐγὼ Παῦλος63 einsetzende Selbstvorstellung des Apostels erinnert weiter an seinen Einsatz (1,24.29–2,1), welcher rhetorisch untermauert, aber im Unterschied zu unumstrittenen Paulusbriefen nicht konkret veranschaulicht wird.64 Mit seinen in Analogie zu jenen Jesu beschriebenen „Leiden für euch“ (ἐν τοῖς παθήμασιν ὑπὲρ ὑμῶν)65 füllt er „das noch Ausstehende der Bedrängnisse Christi“66 auf (καὶ ἀνταναπληρῶ τὰ ὑστερήματα τῶν θλίψεων τοῦ Χριστοῦ): Die komplementäre67 Funktion in der „Passionsgemeinschaft“68 konkretisiert sich in der Erläuterung „an meinem Fleisch für seinen Leib“ (ἐν τῇ σαρκί μου ὑπὲρ τοῦ σώματος αὐτοῦ), „welcher die Kirche ist“ (1,24). Der mit oszillierender Semantik leitmotivisch verwendete Begriff σῶμα69 wird hier metaphorisch gebraucht, während der Terminus σάρξ die körperlichen
|| 63 Vgl. 2 Kor 10,1; Gal 5,2; 1 Thess 2,8; Phlm 19 sowie Eph 3,1. 64 Zum formelhaften Θέλω γὰρ ὑμᾶς εἰδέναι in 2,1 – fast identisch in 1 Kor 11,3 (in 10,1; 12,1; Röm 1,13; 11,25; 2 Kor 1,8 mit doppelter Verneinung) – vgl. dagegen die näheren Situationsschilderungen, mit Ortsangaben, etwa in 2 Kor 1,8ff.; Phil 1,12ff.; 1 Thess 2,1f. 65 Die Begriffe παθήματα / θλῖψις sind in den unumstrittenen Paulinen umgekehrt zugeordnet. Für einen christologischen Gebrauch der präpositionalen Wendung ὑπὲρ ὑμῶν siehe etwa 1 Kor 1,13; 11,24; Lk 22,19f.; 1 Petr 2,21. – Zu den Leiden des Apostels um Christi willen vgl. z.B. 2 Kor 4,8‒12; 6,4‒10; 11,23‒28; 12,10. 66 Für eine ausführlichere Diskussion der kontroversen Auslegungsgeschichte der irritierenden Stelle siehe aktuell Foster (2016) 216–219. – Geht es um die Leiden Jesu? Oder die im Namen Christi erlittenen Bedrängnisse? In der Septuaginta bezeichnet der Terminus θλῖψις große Notsituationen Israels (Ex 4,31; 1 Makk 9,27), „die Leiden der Gerechten“ (Ps 33,20 LXX) sowie die endzeitliche „Bedrängnis“ (Dan 12,1; Hab 3,16). Der apokalyptische Topos prägt entsprechend die ntl. Diktion (siehe Kremer [1981]). So sind „die Bedrängnisse Christi“ auch im Blick auf Jesus nicht auf das ‚Sühneleiden‘ hin engzuführen; für die (definitive) Erlösung durch Christus (siehe 1,14) rekurriert ‚Paulus‘ auf das „Kreuz“ (1,20; 2,14). In 2 Kor 1,5 verbinden sich τὰ παθήματα τοῦ Χριστοῦ andererseits mit dem Gedanken der Teilhabe und imitatio. 67 In 1 Kor 16,17; Phil 2,30 bezieht sich die Wendung τὸ ὑστέρημα ἀναπληροῦν auf Mitarbeiter des Paulus, welche die Abwesenheit der Adressaten für Paulus ausgleichen („ausfüllen“). Zu ἀνταναπληρῶ vgl. im nächsten Vers πληρῶσαι τὸν λόγον τοῦ θεοῦ, wo erneut eine „voll(ständig) machende“ Funktion des universalen Evangeliumverkünders in Gottes Heilsplan profiliert wird, der „in seinen durch den apostolischen Einsatz bedingten Leiden das in dieser Welt mit Bedrängnis verbundene Werk Christi zu Vollendung führt“ (Kremer [1981] 379; in ders. [2005/2001] 222–229 rekurriert er auf die apokalyptische Vorstellung von einem Vollmaß eschatologischer Bedrängnisse). Gnilka (1980) 98 erklärt: „Die universale Versöhnungstat Christi (1,20) bedurfte der universalen Proklamation, die Paulus aufgetragen war.“ Eine komplementäre Rolle des Paulus tritt auch in Röm 15,8–21 zu Tage: als Völkerapostel in Relation zu Χριστὸν διάκονον ... περιτομῆς (V. 8). 68 Vgl. Phil 3,10 (κοινωνίαν [τῶν] παθημάτων αὐτοῦ); Röm 8,17 (συμπάσχομεν); außerdem 2 Kor 4,10 (Teilhabe am Todesleiden Jesu). 69 Siehe 1,18.22.24; 2,11.17.19; 3,15; vgl. in 2,9 das Adverb σωματικῶς.
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Leiden des Paulus ‒ wie Jesu70 – zum Ausdruck bringt, welche bei Paulus aber eine ekklesiologische, nicht soteriologische Bedeutung haben.71 Entsprechend verweist auch das Verb κοπιάω in V. 29 als terminus technicus für Verkündigungs- und Gemeindearbeit72 auf die damit verbundenen „Mühen“; dies wird verstärkt durch das Bild des Kampfes (ἀγωνιζόμενος bzw. in 2,1 ἀγών,73 ebenso „für euch“; analog von Epaphras in 4,12:74 πάντοτε ἀγωνιζόμενος ὑπὲρ ὑμῶν; vgl. auch seine „viele Mühe“ in 4,13). Inhaltlich wird der Agon des Apostels mit offenbarungstheologischem Vokabular profiliert. Sein „Dienst“ erfüllt sich am „Wort Gottes“ (V. 25; in V. 5 als „Wort der Wahrheit75 des Evangeliums“, in 3,16 als ὁ λόγος τοῦ Χριστοῦ76 charakterisiert),77 das – seit Urzeiten verborgenes Geheimnis (V. 26; vgl. 1 Kor 2,7 in Bezug auf die Weisheit)78 – „jetzt aber seinen Heiligen offenbart“ wurde (νῦν δὲ ἐφανερώθη τοῖς ἁγίοις αὐτοῦ; vgl. Röm 16,25f.79), „denen Gott kundtun wollte“
|| 70 In der Formulierung von 1,22 (ἐν τῷ σώματι τῆς σαρκὸς αὐτοῦ) determiniert erst das Genitivattribut τῆς σαρκός den Begriff σῶμα wie auch in 2,11 als physischen Körper (vgl. auch 2,1.5.13.18.23). – Pointiert formuliert Gnilka (1980) 98 das Paulusbild des Kol: „An die Stelle des nicht mehr leidensfähigen erhöhten Christus ist der leidende Apostel getreten.“ 71 Im aktuellen Kontext ist hier nach Standhartinger (1999) 175; 192 eine theologische Deutung seines Todes zu sehen (welche Paulus in seinem testamentarischen „Himmelsbrief“ vorlegt); vgl. auch Maisch (2003) 138; Dübbers (2005) 162f.; Betz (1995) 513. 72 Vgl. Röm 16,6.12 (auf Maria, Tryphäna, Tryphosa und Persis bezogen); 1 Kor 4,12 (κοπιῶμεν); 15,10 (περισσότερον αὐτῶν πάντων ἐκοπίασα; hier mit Verweis auf ἡ χάρις τοῦ θεοῦ ‒ in Kol 1,29 wirkt Christi ἐνέργεια in ihm); 16,16 (παντὶ [...] κοπιῶντι); 1 Thess 5,12 (τοὺς κοπιῶντας) sowie 1 Tim 4,10 (εἰς τοῦτο γὰρ κοπιῶμεν καὶ ἀγωνιζόμεθα; hier als geprägte Kombination wieder aufgenommen); 5,17 (οἱ κοπιῶντες). 73 Vgl. 1 Kor 9,25 (πᾶς ὁ ἀγωνιζόμενος; in V. 24–27 wird die Wettkampfmetaphorik expliziert); zum apostolischen ἀγών (Kol 2,1) ferner 1 Thess 2,2; Phil 1,30; außerdem 1 Tim 4,10; 6,12 (ἀγωνίζου τὸν καλὸν ἀγῶνα); 2 Tim 4,7 (τὸν καλὸν ἀγῶνα ἠγώνισμαι). Eine ausführliche motivgeschichtliche Studie zur in fast allen genuinen Paulusbriefen auftretenden Wettkampfmetaphorik im Kontext kaiserzeitlicher Stoa bietet Poplutz (2004). 74 Zu seinen Gebeten (ἐν ταῖς προσευχαῖς, 4,12) vgl. 1,3.9 (προσευχόμενοι), sodass Epaphras im Wir inkludiert scheint. 75 Vgl. die Qualifizierung des schöpferischen Wortes JHWHs in Ps 33,4; zum Wortlaut: Ps 118,43 LXX. 76 Als Genitivus subiectivus/obiectivus lesbar. 77 Zur Formulierung πληρῶσαι τὸν λόγον τοῦ θεοῦ vgl. in Röm 15,19 πεπληρωκέναι τὸ εὐαγγέλιον τοῦ Χριστοῦ in breitem geographischen Horizont. 78 Vgl. die übereinstimmenden Stichwörter in Kol 1,26: τὸ μυστήριον τὸ ἀποκεκρυμμένον ἀπὸ τῶν αἰώνων καὶ ἀπὸ τῶν γενεῶν / 1 Kor 2,7: ἀλλὰ λαλοῦμεν θεοῦ σοφίαν ἐν μυστηρίῳ τὴν ἀποκεκρυμμένην, ἣν προώρισεν ὁ θεὸς πρὸ τῶν αἰώνων εἰς δόξαν ἡμῶν [...]. 79 [...] κατὰ ἀποκάλυψιν μυστηρίου χρόνοις αἰωνίοις σεσιγημένου, φανερωθέντος δὲ νῦν [...] Vgl. auch 1 Kor 2,10 (ἡμῖν δὲ ἀπεκάλυψεν ὁ θεὸς [...]).
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(V. 27: οἷς ἠθέλησεν ὁ θεὸς γνωρίσαι) – und Gottes Willen sollen die Adressaten nach 1,9 erkennen –, „was der Reichtum80 (vgl. 2,2; 3,16) der Herrlichkeit dieses Geheimnisses (nämlich der verkündigte Logos) bei den Völkern ist“ (τί τὸ πλοῦτος81 τῆς δόξης τοῦ μυστηρίου τούτου ἐν τοῖς ἔθνεσιν; vgl. Röm 9,23f.82). Bei diesem μυστήριον – auch in Abhebung gegenüber zeitgenössischen Mysterienkulten – handelt es sich um Christus (vgl. das Ziel der Erkenntnis in 2,2: εἰς ἐπίγνωσιν τοῦ μυστηρίου τοῦ θεοῦ, [i.e.] Χριστοῦ:83 Christus als „das Geheimnis Gottes“), wie der anschließende Relativsatz verdeutlicht: ὅ84 ἐστιν Χριστὸς ἐν ὑμῖν. Aufgrund der parallelen Satzglieder zeigt sich, dass hier im Ihr (ἐν ὑμῖν, „bei euch“) also „die Völker“ angesprochen sind, die nichtjüdischen AdressatInnen, denen der Reichtum der δόξα85 – infolge des ihnen von Gott geschenkten Anteils am Heil (1,12; 2,13) nun ebenfalls – zugute kommt (wie den Erben vor und neben ihnen, vgl. das doppelt berufene Wir ἐξ Ἰουδαίων [...] καὶ ἐξ ἐθνῶν in Röm 9,24)86:
|| 80 Das Motiv des Reichtums (bzw. von Schätzen) ist als fester Topos mit der Weisheit verknüpft; siehe z.B. Ijob 28,15–19; Spr 2,4; 3,14–16; 8,18–21; 15,16; 21,20; 22,4; 24,4; Sir 1,25; 24,17; Bar 3f.; Weish 7,8–14; Röm 11,33. 81 Zur Neutrumform siehe BDR § 51.2. 82 Begriffliche Übereinstimmungen weist zunächst Röm 9,23 auf: καὶ ἵνα γνωρίσῃ τὸν πλοῦτον τῆς δόξης αὐτοῦ ἐπὶ σκεύη ἐλέους, ἃ προητοίμασεν εἰς δόξαν. In V. 24 werden neben den Berufenen ἐξ Ἰουδαίων auch jene ἐξ ἐθνῶν genannt. Vgl. wiederum 16,25f.: [...] κατὰ ἀποκάλυψιν μυστηρίου [...] εἰς πάντα τὰ ἔθνη γνωρισθέντος. 83 So P46 und B. Die variantenreiche Überlieferung der Stelle zeigt, dass der unklare Bezug des Genitivs Χριστοῦ innerhalb einer ganzen Reihe von Genitiven, insbesondere auch in seinem Verhältnis zum unmittelbar vorhergehenden Genitiv τοῦ θεοῦ, Textkorrekturen hervorrief. Auf der Linie von 1,25–28 (Paulus verkündet τὸν λόγον τοῦ θεοῦ = τὸ μυστήριον = Christus) dürfte es sich jedoch um eine Apposition zu τοῦ μυστηρίου (als Gegenstand der Erkenntnis) handeln (entsprechend ist auch D* zu interpretieren: ο εστιν Χριστος). Am Briefende rekurriert 4,3 darauf kurz mit τὸ μυστήριον τοῦ Χριστοῦ, wobei der Genitiv hier den Inhalt des Mysteriums angibt, das Paulus „offenbaren“ soll (4,4: φανερώσω; vgl. 1,26; 3,4; außerdem Röm 16,26; 2 Kor 2,14). 84 Nach P46 und B. 85 Vgl. im Anschluss die Apposition zu Χριστὸς ἐν ὑμῖν: „die Hoffnung (zur ἐλπίς vgl. bereits V. 5.23.27) auf Herrlichkeit“ (zur δόξα vgl. wiederum 1,11; 3,4). 86 Ähnlich in 1 Kor 1,24: τοῖς κλητοῖς, Ἰουδαίοις τε καὶ Ἕλλησιν. Vgl. dazu Apg 18,4; ferner die Situation in Ephesos in Apg 19,10. In Röm 1,16 gilt die rettende Macht des Evangeliums explizit Ἰουδαίῳ τε πρῶτον καὶ Ἕλληνι. Mit Blick auf Kol 3,11 (analog wird in Röm 10,12 eine διαστολὴ Ἰουδαίου τε καὶ Ἕλληνος negiert; vgl. insbesondere Gal 3,28; 1 Kor 12,13) kann von einem Ausschluss Israels aus dem Kirchenbild des Kol – so Maisch (2003) 47 (siehe aber 69) – keine Rede sein; freilich tritt eine christozentrische Vereinnahmung zu Tage, eine Reflexion bezüglich der nicht an Jesus als Χριστός glaubenden Ἰουδαῖοι wie in Röm 9–11 (dazu siehe die diffe-
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τί τὸ πλοῦτος τῆς δόξης τοῦ μυστηρίου τούτου ὅ ἐστιν Χριστὸς
ἐν τοῖς ἔθνεσιν, ἐν ὑμῖν ...
In Aufnahme des apokalyptischen Schemas der verborgenen, göttlich autorisierter Offenbarung harrenden Weisheit87 wird damit die Rolle des Paulus entfaltet – und in 4,4 gegenüber dem passivum divinum in 1,26 noch deutlicher konturiert (ἵνα φανερώσω αὐτό, i.e. τὸ μυστήριον τοῦ Χριστοῦ [4,3]).88 Wird im vorangegangenen Hymnus Christus funktional mit der himmlischen Weisheit identifiziert (vgl. die präexistente, personifizierte Figur in Spr 8; Sir 24 oder in der Sapientia Salomonis),89 übernimmt Paulus in Relation zum verkündeten Christus (1,28: ὃν ἡμεῖς καταγγέλλομεν), „in welchem alle Schätze der σοφία und der γνῶσις verborgen sind“90 (2,3; in 1 Kor 1,24 wird Christus als Gottes Weisheit91 verkündigt), die Rolle des – auf Erden universal wirkenden, „jeden Menschen“ (wie in 1,28 dreifach betont wird) adressierenden – Offenbarers und Weisheitslehrers (νουθετοῦντες92 πάντα ἄνθρωπον καὶ διδάσκοντες93 πάντα ἄνθρωπον ἐν πάσῃ σοφίᾳ)94. Entsprechend richtet sich der Blick in 2,1f. (s.o.) über das Ihr in Kolossä hinaus. || renzierte Analyse von Theobald [2001]) findet in der kosmischen Ekklesiologie des Kol keinen Platz. 87 Siehe z.B. Dan 2,19–23.28; Weish 7,7–21; 1 Hen 63,3; 1QS XI,5‒7; CD III,13–16; 1QH XV,26f.; 1QpHab VII,4f.; 4QInstruction (dazu Cavin [2013]). 88 Die Motivkombination „verborgen sein“ – „offenbar werden“ findet sich noch einmal in 3,3f., wo bezüglich der Teilhabe am Leben und der Gemeinschaft mit Christus (vgl. auch σύν/συν- in 2,12f.20; 3,1) ein „eschatologischer Vorbehalt“ artikuliert wird. 89 Siehe dazu Taschl-Erber (2016) 254–261. 90 Hingegen wird nach 1 Hen 46,3 der Menschensohn (gegen Ende der Bilderreden mit dem entrückten Henoch identifiziert: siehe 71,14‒17) „alle Schätze des Verborgenen“, nach 51,3 „alle Geheimnisse der Weisheit“ offenbaren. Nach syrBar 44,14 sind die Schätze der Weisheit wiederum bei den Gesetzestreuen zu finden (als Erben der verheißenen Zeit bzw. kommenden Welt: 44,13.15). Vgl. Jes 45,3. 91 Χριστὸν [...] θεοῦ σοφίαν. Vgl. auch 1 Kor 1,30: ὃς ἐγενήθη σοφία ἡμῖν ἀπὸ θεοῦ. 92 Zur „ermahnenden“ Rolle vgl. 1 Kor 4,14; 1 Thess 5,12.14; Apg 20,31. In der Septuaginta finden sich das Verb und seine Derivate in der Weisheitsliteratur (vgl. etwa Spr 2,2: νουθέτησις; auch in den folgenden Versen tauchen gemeinsame Stichwörter mit Kol 1,28; 2,2f. auf: σοφία, καρδία, σύνεσις, θησαυρός, ἐπίγνωσις, γνῶσις). 93 Das unbestimmte Passiv in Kol 2,7 (καθὼς ἐδιδάχθητε; vgl. dazu 1,7: καθὼς ἐμάθετε ἀπὸ Ἐπαφρᾶ) weist dagegen nicht direkt auf Paulus als Lehrer hin. Analog deuten die pluralischen Partizipien auf ein Kollektiv, das „jeden Menschen“ ermahnt und „in aller Weisheit“ belehrt. 94 Zum dritten πάντα ἄνθρωπον (ἵνα παραστήσωμεν πάντα ἄνθρωπον τέλειον ἐν Χριστῷ) mit forensischer Motivik (ähnlich zu 1,22; vgl. z.B. 1QH XV,30f.) im Finalsatz vgl. wiederum die Gebete des Epaphras in 4,12: ἵνα σταθῆτε τέλειοι καὶ πεπληροφορημένοι ἐν παντὶ θελήματι τοῦ θεοῦ (dazu 1,9).
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In diesem Zusammenhang wird in 2,5 – nach einer ersten Warnung vor täuschender Rhetorik (siehe den betonten Neueinsatz in V. 4: Τοῦτο λέγω ἵνα μηδεὶς ὑμᾶς παραλογίζηται ἐν πιθανολογίᾳ, dazu unten in 3.) – die physische Abwesenheit des Paulus thematisiert und gleichzeitig seine spirituelle Präsenz betont: „Denn wenn ich auch ‚im Fleisch‘ fern bin, bin ich doch ‚im Geist‘ mit euch“ (εἰ γὰρ καὶ τῇ σαρκὶ ἄπειμι, ἀλλὰ τῷ πνεύματι σὺν ὑμῖν εἰμι).95 Im Anschluss wird bei den AdressatInnen noch einmal „die Festigkeit des Glaubens an Christus“ gelobt (2,5; vgl. 1,3f.) bzw. in Erinnerung an die überlieferte Tradition96 als stabiles Fundament97 eingemahnt (2,6f.; vgl. 1,23), bevor in 2,8 und V. 16–23 (Μὴ οὖν [...]) auf Gegenpositionen rekurriert wird (in 2,9–15 ist eine christologisch-ekklesiologische Vertiefung unter Rückgriff auf Stichworte aus 1,15– 20 eingeschoben, deren Akzentsetzungen im Kontext dieser Auseinandersetzung die auktoriale Perspektive profilieren).98 Die eindringlichen Warnungen vor πιθανολογία (2,4), „Überredung“, und später ἀπάτη (V. 8), „Betrug“, durch eine konträre φιλοσοφία artikuliert die Sprecherinstanz mit der geliehenen (und zugleich konstruierten) Autorität des Apostels schlechthin, um mit dessen autoritativer Stimme, quasi aus der Ferne, Verunsicherungen entgegenzutreten. Am Briefende wird im Rahmen biographischer Notizen, welche die imaginierte Abfassungssituation beleuchten, seine Abwesenheit mit seiner Gefangen|| 95 Zum ἀπών/παρών-Schema vgl. bes. 1 Kor 5,3 (ἀπὼν τῷ σώματι παρὼν δὲ τῷ πνεύματι); ferner 2 Kor 10,1.11; 13,10; im Phil beschwört Paulus in der Situation der Gefangenschaft die Adressaten, εἴτε [...] ἰδὼν ὑμᾶς εἴτε ἀπών, dass sie einmütig für den Glauben an das Evangelium kämpfen (1,27), bzw. für ihr Heil, μὴ ὡς ἐν τῇ παρουσίᾳ μου μόνον ἀλλὰ νῦν πολλῷ μᾶλλον ἐν τῇ ἀπουσίᾳ μου (2,12). Standhartinger (1999) 119f. verweist bezüglich Kol 2,1.4f. auf die Übereinstimmungen mit antiker Briefphraseologie. Vgl. auch Betz (1995) 514 (er zitiert Sen. epist. 55,9–11): „the formula of 2:5 turns out to be an epistolary device for creating a ‚second presence‘ for Paul. The literary topos of ‚presence in absence‘ allows the author of Colossians to create what a letter should be, a conversation between friends when separated, a being together (2:2–7) on a higher level (‚in the spirit‘) and despite distances.“ 96 2,6f. setzt auf die Autorität der Tradition durch die zweifache Rückbindung an die empfangene Glaubenslehre: Ὡς οὖν παρελάβετε [...] καθὼς ἐδιδάχθητε [...]. 97 Siehe die Metaphorik in 1,23 (τεθεμελιωμένοι καὶ ἑδραῖοι) und 2,7 (ἐρριζωμένοι καὶ ἐποικοδομούμενοι ἐν αὐτῷ καὶ βεβαιούμενοι τῇ πίστει). Die Verbindung von pflanzlichagrarischer (vgl. die „Verwurzelung“ in 2,7) und architektonischer Bildlichkeit begegnet auch in 1 Kor 3,6‒17. 98 Theobald (22013) 432 gliedert die Auseinandersetzung mit der gegnerischen φιλοσοφία (als ersten Hauptteil des Briefcorpus) entsprechend antiker Rhetorik in propositio (2,6f.), probatio (2,8–15) und refutatio (2,16–23); ähnlich Wolter (1993) 115ff.: partitio (2,6–8), probatio (2,9–15), refutatio (2,16–23), danach peroratio (3,1–4) und exhortatio (3,5–4,6). – In 2,4f. zeigt sich die ‚Überblendungstechnik‘ des Kol, insofern in V. 4 bereits das Thema der Konfrontation mit konkurrierender Rhetorik aufscheint, während V. 5 die auktorialen Selbstaussagen abschließt.
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schaft99 erklärt. In der Schlussparänese sollen die Adressaten, gleichsam in einem Rollenwechsel (vgl. bereits 3,16, wo sie aufgefordert werden, einander zu belehren und zu ermahnen100), Paulus und seine MitarbeiterInnen im Dienst der Verkündigung (siehe neben dem Mitverfasser Timotheus etwa die namentlich Erwähnten in 4,7‒17; Aristarch wird in V. 10 als ὁ συναιχμάλωτός μου, als sein Mitgefangener, vorgestellt) in ihr beharrliches Gebet einbeziehen,101 sodass sich der Kreis zum Proömium mit dem Gebet für sie (1,3.9) schließt: „betet zugleich auch für uns,102 dass Gott uns öffne eine Tür für das Wort,103 um das Geheimnis Christi zu verkünden, wegen welchem ich auch gefesselt bin“ ([...] δι’ ὃ καὶ δέδεμαι, 4,3; vgl. im Eschatokoll:104 μνημονεύετέ μου τῶν δεσμῶν, „gedenkt meiner Fesseln“, V. 18). – So inszeniert der Brief seine literarisch vermittelte Präsenz in seiner Abwesenheit τῇ σαρκί, sei es aufgrund der Haft – oder nach seinem Tod.105 Die Konstruktion und Modellierung der Figur des Paulus, in dessen Rolle (Maske) der Briefverfasser spricht, als entscheidende autoritative Instanz in christologischen und identitätspolitischen Fragen prägt die (auch weitere) Rezeption.
|| 99 Ist an Ephesos gedacht (vgl. die Gefangenschaftsbriefe Phlm und Phil, an die der Kol anknüpft)? Kolossä lag unter 200 km davon entfernt an der wichtigen West-Ost-Route nach Apamea. Oder Rom (sodass der Brief eventuell knapp vor seinem Tod verfasst wäre und aus dieser Gefangenschaft, aus der er nicht mehr zurückkehrt, bleibende Abwesenheit resultiert)? 100 Dazu vgl. Röm 15,14 sowie 2 Thess 3,15. 101 Vgl. Röm 15,30; 1 Thess 5,25; 2 Thess 3,1; Hebr 3,18. 102 Die partizipiale Konstruktion προσευχόμενοι ἅμα καὶ περὶ ἡμῶν knüpft an die Aufforderung zum unablässigen Gebet (τῇ προσευχῇ προσκαρτερεῖτε) im vorhergehenden Vers an. 103 Die Bitte ἵνα ὁ θεὸς ἀνοίξῃ ἡμῖν θύραν τοῦ λόγου (vgl. 1 Kor 16,9; 2 Kor 2,12; ferner Apg 14,27; aber auch Apg 5,19; 16,26f.) ist mehrfach codiert (vgl. Bormann [2012] 185–187). 104 Zum „eigenhändigen“ Schlussgruß des Paulus, mit welchem die Autorfiktion spezifisch konstruiert wird, vgl. 1 Kor 16,21 (identisch); Gal 6,11; Phlm 19. 105 Vgl. Bormann (2012) 46f.; Betz (1995) 513. Standhartinger (1999) erklärt „Entstehungsgeschichte und Absicht des Schreibens [...] aus der Problematik, die durch den Tod des Paulus in den von ihm beeinflußten Gemeinden hervorgerufen wurde“ (3), insofern dieser eine Krise analog zum Tod Jesu bewirkte – Auflösungstendenzen durch innere Verunsicherung sowie äußere Gefährdung (vgl. 175; 181; 192–194; 282–289). Vgl. dazu auch Apg 20,29f. Ein solch ursächlicher Zusammenhang hängt freilich von der Frage der Datierung des Briefs ab.
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3 Abgrenzungsprozesse Nach dem stärkenden, erinnernden und belehrenden Zuspruch (zu παρακαλέω in 2,2 vgl. die Aufgabe des gesandten Tychikus in 4,8)106 folgt in 2,8 die Mahnung: Schaut (βλέπετε)107, dass niemand (μή τις) euch ‚einfängt‘ (ὑμᾶς ἔσται ὁ συλαγωγῶν)108 durch die ‚Philosophie‘ (διὰ τῆς φιλοσοφίας) und leere Täuschung (καὶ κενῆς ἀπάτης) gemäß der Überlieferung der Menschen (κατὰ τὴν παράδοσιν τῶν ἀνθρώπων), gemäß den Elementen der Welt (κατὰ τὰ στοιχεῖα τοῦ κόσμου) und nicht gemäß Christus (καὶ οὐ κατὰ Χριστόν)!
Die Warnung vor der durch dreifaches κατά erläuterten „Philosophie“109, die in der pejorativen Zusammenstellung mit κενὴ ἀπάτη sogleich als „leerer Trug“110 (im Unterschied etwa zum „Wort der Wahrheit des Evangeliums“111, 1,5) und als bloß menschliche Überlieferung (gegenüber göttlicher Offenbarung) disqualifiziert sowie für ihre Orientierung an den elementaren Prinzipien der Welt kriti-
|| 106 ὃν ἔπεμψα πρὸς ὑμᾶς εἰς αὐτὸ τοῦτο, ἵνα γνῶτε τὰ περὶ ἡμῶν καὶ παρακαλέσῃ τὰς καρδίας ὑμῶν. 107 Ähnlich pointiert in 1 Kor 1,26; 8,9; 10,18; Phil 3,2; Eph 5,15; Hebr 3,12; 12,25; 2 Joh 1,8; Apg 13,40 an der Satzspitze. Vgl. auch Mk 13,5 par. 108 Das selten belegte Verb συλαγωγέω (ein ἅπαξ λεγόμενον in der griechischen Bibel) ist ein Kompositum aus σύλη/σῦλον (Beschlagnahme, Kaperei, Raub, Beute) und ἄγω (führen); vgl. Liddell/Scott/Jones (1996/91940) 1671 zur Stelle: „carry off as booty, lead captive“. Vermutlich kommt eine Warnung zum Ausdruck, nicht zu leichter Beute raffinierter RhetorikerInnen zu werden. Zum Futur statt des Konjunktivs siehe BDR § 369.2; zur Wortstellung § 474.5. Eine Parallele findet sich im 2. Jh. bei Tatian im Rahmen seiner Polemik gegen die hellenistische Kultur, hier im Blick auf Schauspieler: ὑμεῖς δὲ ὑπὸ τούτων συλαγωγεῖσθε [...] (Oratio ad Graecos 22 [25,4]; zitiert aus der auf dem Text von Schwartz basierenden Ausgabe von Whittaker [1982]). 109 Der Terminus ist nicht absolut zu verstehen, sondern wird syntaktisch durch die anschließenden präpositionalen Phrasen – polemisierende, das Selbstverständnis der Gegner vermutlich konterkarierende Etikettierungen – näher bestimmt als φιλοσοφία (zugleich κενὴ ἀπάτη) κατὰ τὴν παράδοσιν τῶν ἀνθρώπων bzw. κατὰ τὰ στοιχεῖα τοῦ κόσμου, in negativer Weise: οὐ κατὰ Χριστόν. 110 Ähnlich etwa Sib. Or. 3,586 (ἀπάτῃσι κεναῖς; Gauger [1998] 100) in Bezug auf Idolatrie. Die Wertung als κενή (vgl. z.B. Ps 30,7 LXX; Sir 34,1; Weish 3,11) kontrastiert im unmittelbaren Textumfeld auch mit der „Fülle (πληροφορία) der Einsicht“ in Kol 2,2 (vgl. das „Vollwerden“ mit Erkenntnis in 1,9: πληρωθῆτε) sowie mit der göttlichen „Fülle“ (πλήρωμα), die in Christus „wohnt“, in dem auch die AdressatInnen „erfüllt“ (πεπληρωμένοι) sind, in 2,9f. 111 Vgl. 2 Kor 6,7 (ἐν λόγῳ ἀληθείας; vgl. 2 Tim 2,15; Jak 1,18); Gal 2,5 (ἡ ἀλήθεια τοῦ εὐαγγελίου; vgl. 2,14) sowie Eph 1,13 (τὸν λόγον τῆς ἀληθείας, τὸ εὐαγγέλιον).
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siert wird,112 erfolgt dabei nicht in sachlich-inhaltlicher Auseinandersetzung mit konkreten „philosophischen“ oder „religiösen“113 Konzepten, Positionen oder Richtungen, sondern bedient sich der stereotypen Topoi antiker Sophisten- und Philosophenpolemik114 sowie zunächst unspezifisch erscheinender Schlagworte eines zeitgenössischen Abgrenzungsdiskurses. Bereits in 2,4 wurde in Anlehnung an die breit rezipierte platonische Diskreditierung sophistischer Rhetorik, welche statt auf die Wahrheit auf den bloßen Schein setze, vor πιθανολογία gewarnt (ein ἅπαξ λεγόμενον im NT; vgl. bei Plat. Tht. 162e die sophistische Methode der „Überredung“),115 um sich nicht durch überzeugend klingende Reden in die Irre führen zu lassen (ἵνα μηδεὶς ὑμᾶς παραλογίζηται116 ἐν πιθανολογίᾳ). Angesichts der mit Artikel bezeichneten φιλοσοφία erhebt sich zunächst einmal die Frage, ob es um eine bestimmte Lehre geht (die etwa durch die Bezugnahme auf τὰ στοιχεῖα τοῦ κόσμου spezifisch oder verallgemeinernd charakterisiert wird), eventuell auch esoterischer Provenienz (z.B. als Mysterienkult),117 oder ob es sich möglicherweise um einen generalisierenden Sammelbegriff für
|| 112 Vgl. die Argumentation in 1 Kor 1f., wo der „Weisheit der Welt“ (1,20: τὴν σοφίαν τοῦ κόσμου) bzw. „der Menschen“ (2,5: σοφίᾳ ἀνθρώπων; vgl. auch V. 13) die „Weisheit Gottes“ (1,21.24 [hier auf Christus bezogen]; 2,7) gegenübergestellt wird, die „nicht von dieser Welt“ (2,6) sei. Unter Aufnahme von Jes 29,14 artikulieren auch Mt 11,25 par. Lk 10,21 einen Bruch mit den herrschenden Konzepten von „Weisheit“. 113 Dass es sich hier eigentlich um – von gegenwärtigen Vorstellungen geprägte – anachronistische Kategorien handelt, belegt gerade der polyvalente Begriff φιλοσοφία, der diese Differenzierung unterläuft. 114 In hellenistisch-römischer Zeit bezeichnet ‚sophistisch‘ nicht mehr eine bestimmte Schule oder Richtung, sondern wird zur Diffamierung gegnerischer Positionen verwendet; vgl. Standhartinger (1999) 182. 115 Vgl. ἡ πεισμονή in Gal 5,8; außerdem 1 Kor 2,4. 116 Vgl. Jak 1,22; in der Septuaginta etwa Gen 29,25; 31,41; Jos 9,22; Ri 16,10.13.15; 1 Sam (= 1 Kön LXX) 19,17; 28,12; 2 Sam (= 2 Kön LXX) 19,27; 21,5. Für Aristoteles handelt es sich bei den sophistischen Scheinbeweisen um Trugschlüsse bzw. Täuschungen (παραλογισμοί); siehe die Einleitung zu den Sophistischen Widerlegungen 164a20ff. Das Verb παραλογίζομαι (zunächst für eine betrügerische Abrechnung: siehe Liddell/Scott/Jones [1996/91940] 1317), welches in Kol 2,4 begegnet, verwendet er in pol. 1307b35 für die Täuschung der διάνοια – wie es bei sophistischer Argumentation (ὁ σοφιστικὸς λόγος) der Fall sei. 117 Unter Aufnahme von Mysterienterminologie beschreibt Theon von Smyrna (ca. 70‒135) in Expositio rerum mathematicarum ad legendum Platonem utilium die Philosophie als „Einweihung“ (Vergleichsbasis sind die Initiationsriten der eleusinischen Mysterien): καὶ γὰρ αὖ τὴν φιλοσοφίαν μύησιν φαίη τις ἂν ἀληθοῦς τελετῆς καὶ τῶν ὄντων ὡς ἀληθῶς μυστηρίων παράδοσιν (Hiller [1878] 14,18–20). – Dibelius postulierte in seinem einflussreichen Aufsatz von 1917 einen Kult der Elemente in Kolossä (einen jüdischen Bezugsrahmen blendete er aus).
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philosophische Schulen, vielleicht im Sinne einer synkretistischen hellenistischen Popularphilosophie des 1. Jh. (mit konkurrierender Kosmologie), handeln könnte; freilich erweist sich die Autorinstanz selbst durchweg in popularphilosophischen Anschauungen verortet.118 Wenn bei Philon und Josephus119 sowie in 4 Makk120 (Ende 1. Jh. n. Chr.) der – in der griechischen Bibel sonst nicht vorkommende – Terminus φιλοσοφία als Bezeich-nung jüdischer Glaubensüberzeugung(en), Lehrtraditionen und Richtungen belegt ist (vgl. aber auch Iust. dial. 8,1 für die christliche Lehre)121, impliziert dies zudem einen breiteren Gebrauch.122 Angesichts des fiktionalen Charakters des pseudepigraphen Schreibens, welches sich – noch mehr als bei anderen Brieftexten – gegen eine direkte Übertragung der dargestellten Situation auf die extratextuale Historie sperrt, erhebt sich die grundsätzliche Frage, inwiefern in Kol 2 tatsächlich eine spezifische, ‚reale‘, fest umrissene Gruppe von OpponentInnen beschrieben wird.123 Der Text || 118 Vgl. z.B. die Rede vom „unsichtbaren Gott“ (1,15), die „Metaphysik der Präpositionen“ (dazu Vollenweider [2000/1993] 45f.) im Hymnus, die Körpermetaphorik (dazu unten in 4.) etc. 119 Vgl. etwa Phil. Gai. 156 bzw. 245 (τῆς Ἰουδαϊκῆς φιλοσοφίας); Mos. 2,216; contempl. 26; mut. 223 (τοῖς κατὰ Μωυσῆν φιλοσοφοῦσιν; Textzitate stammen aus der von Cohn und Wendland herausgegebenen Edition). Josephus bezeichnet in ant. Iud. 18,1,2 § 11 Essener, Sadduzäer und Pharisäer als φιλοσοφίαι (LCL 433,8), gleichsam als philosophische Schulen bzw. Lehrtraditionen; vgl. auch § 9 und 18,1,6 § 23 sowie bell. Iud. 2,8,2 § 119. 120 In der Septuaginta findet sich das Substantiv (neben verbalen Belegen) erst in 4 Makk, so etwa gleich in 1,1. In 5,11 nötigt Antiochus Eleazar zum Verzehr von Schweinefleisch: „Willst du nicht aus eurer albernen Philosophie aufwachen (οὐκ ἐξυπνώσεις ἀπὸ τῆς φλυάρου φιλοσοφίας ὑμῶν) [...]?“ Jener antwortet in V. 22: χλευάζεις δὲ ἡμῶν τὴν φιλοσοφίαν ὥσπερ οὐ μετὰ εὐλογιστίας ἐν αὐτῇ βιούντων [...]. In 7,9 wird darauf rekurriert: [...] καὶ διὰ τῶν ἔργων ἐπιστοποίησας τοὺς τῆς θείας φιλοσοφίας σου λόγους. V. 21 spricht vom „ganzen Kanon der Philosophie“. 121 [...] ταύτην μόνην εὕρισκον φιλοσοφίαν ἀσφαλῆ τε καὶ σύμφορον (Marcovich [1997] 84). 122 Eine gewisse semantische Bandbreite wird außerdem etwa durch einen Vergleich der verschiedenen griechischen Versionen von Dan 1,20 deutlich: Während sich Daniel und seine Gefährten am babylonischen Hof in der Septuaginta als überlegen ὑπὲρ τοὺς σοφιστὰς καὶ τοὺς φιλοσόφους im ganzen Reich erweisen, findet sich bei Theodotion: παρὰ πάντας τοὺς ἐπαοιδοὺς καὶ τοὺς μάγους (wie auch in 2,2 LXX; vgl. ferner 2,10 LXX: πάντα σοφὸν καὶ μάγον καὶ Χαλδαῖον). „Philosophie“ und „Weisheit“ inkludieren demnach auch Phänomene der Mantik wie Traumdeutung oder Astrologie. (Ansonsten kommt das Begriffsfeld φιλόσοφος, φιλοσοφία, φιλοσοφεῖν in der Septuaginta nur in 4 Makk vor.) – Liegt im Kol unter Aufnahme solcher Bedeutungsnuancen bereits eine Abwertung vor (vgl. κενῆς ἀπάτης)? 123 Skeptisch ist etwa Standhartinger (1999) 153; vgl. auch 181: „Der Brief will durch typische Beschreibung einer Situation und durch typische Beschreibung einer fiktiven Gemeinde über eine konkrete Situation hinaus in vielen ähnlichen Situationen wirken.“ Diesen Paradigmenwechsel reflektiert auch Hübenthal (2011) 62–78. Frank (2009) 415 sieht in Kol 2,16–23 eine
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lässt das gegnerische Feld, auf das bloß durch die Indefinit-pronomina μηδείς (V. 4.18) und (μή) τις (V. 8.16) abwehrend Bezug genommen wird, jedenfalls unbestimmt. So eröffnet der Singular des Indefinitpronomens einen Interpretationsspielraum: Er könnte sich auf einen typischen Vertreter eines als oppositionell erlebten Kollektivs beziehen (und dabei vielleicht sogar auf einen oder mehrere bestimmte, ungenannt bleibende Lehrer anspielen), desgleichen aber eine bloß hypothetische oder generelle Situation der Gefährdung der adressierten Gruppe (eventuell auch von mehreren Seiten) vor Augen führen. Die Irritationen, die durch die literarisch konstruierten ‚Anderen‘ hervorgerufen werden, lassen die mit Grenzziehungen verbundenen Identitäts-diskurse transparent werden. Die – stark variierende – Identifizierung der sogenannten ‚kolossischen Häresie‘ nimmt in der Forschungsgeschichte124 breiten Raum ein (dabei erweist sich die Qualifizierung als „Irrlehre“ oder „Häresie“ für das 1. Jh. als anachronistisch, da sie einen konsensualen ‚orthodoxen‘ Standpunkt voraussetzt – und dieser befindet sich erst in statu nascendi). Dennoch liegt bisher keine konsensfähige Darstellung oder religionsgeschichtliche Einordnung vor (auch ob es sich um kontroversielle Positionen innerhalb der Gemeinde oder um von außen125 kommende Anfechtungen handelt). Die Palette diskutierter Vorschläge reicht etwa von jüdischen Synagogen, Gruppierungen oder Strömungen (Qumran/Essenismus, Apokalyptik, [Merkaba-]Mystik) sowie tora-observanten „Judenchristen“ einerseits und verschiedenen Richtungen griechischer Philosophie (Mittelplatonismus, Stoa, Neupythagoreismus, Kynismus) andererseits über „(proto)gnostische“ oder „synkretistische“ Tendenzen eines „heterodoxen“ Juden(christen)tums bis zu hellenistischen Mysterien- oder phrygischen Lokalkulten mit magischen Praktiken (inklusive variierender Kombinationen). Dabei wirft die jeweilige Etikettierung bereits erste Fragen und Probleme auf.126
|| „allgemeine Handreichung für den Umgang mit abweichenden Lehren und Praktiken“ (vgl. 412). 124 Siehe z.B. jeweils den Überblick bei DeMaris (1994) 18–40; Smith (2006) 19–38. 125 Die Bezugnahme auf τοὺς ἔξω in 4,5 steht dagegen im Kontext externer Bedrohung (siehe auch die intertextuelle Folie zu τὸν καιρὸν ἐξαγοραζόμενοι in Dan 2,8) – wie sie sich etwa in der Gefangenschaft des Paulus (4,3) äußert. 126 So bemerkten schon Francis/Meeks (1973) 216 im Epilog des von ihnen herausgegebenen Bandes: „To a degree, the evolution of interpretation of Colossians across the years is a result of the changing understanding of Gnosticism and Judaism.“ Für eine kritische Bewertung von ‚Apokalyptik‘ im Sinne separatistischer Konventikel an den Rändern eines imaginierten ‚Mainstream‘-Judentums siehe Boyarin (2016).
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Jeglicher Versuch, aus den spärlichen Andeutungen in Kol 2,4–23 direkte Angaben oder explizite Beschreibungen herauszufiltern und bestimmte Stichwörter der desavouierten Lehre oder gar Zitate zu identifizieren, stößt auf erhebliche Schwierigkeiten, da sich die einzelnen Stimmen – der GegnerInnen wie der AdressantInnen – in der teilweise auch syntaktisch unklaren Passage nicht klar differenzieren lassen (inwieweit werden Diskurspositionen geteilt, modifiziert, kritisiert, verurteilt?) und natürlich mit Verzerrungen zu rechnen ist, sodass Zuschreibungen polemisch gefärbt sein können.127 Die in der brieflichen Kommunikation unausgesprochenen Voraussetzungen sind aus fragmentarischen und nun kryptisch wirkenden Anspielungen zu erheben. Unter Berücksichtigung der Fiktionalität des Briefs stellt sich dennoch die bleibende Herausforderung, den von der auktorialen Instanz aufgeworfenen Problemen der intendierten LeserInnen in einer Lektüre des Gesamtwerkes128 auf die Spur zu kommen sowie – mit aller Vorsicht – einen möglichen Situationsbezug anhand der pragmatischen Dimension des Textes, seiner literarischen Strategien sowie der in ihm zu Tage tretenden Inter- und Kontexte zu rekonstruieren. – Was erfahren wir also über die konkurrierende φιλοσοφία, welche Hinweise gibt der Text? Einen ersten materialen Referenzpunkt stellen τὰ στοιχεῖα τοῦ κόσμου dar (siehe die inclusio von 2,8 mit V. 20ff.) – ein Stichwort antiker Kosmologie, mit dem ein größerer, nicht näher explizierter Diskussionskontext aufgerufen wird. Auf den vier Elementen beruht in der griechischen Philosophie die kohärente kosmische Struktur (ἡ τοῦ κόσμου σύστασις in Plat. Tim. 32c;129 demgegenüber hat in Kol 1,17 alles/das All in Christus Bestand: καὶ τὰ πάντα ἐν αὐτῷ συνέστηκεν130). Im jüdisch-hellenistischen Kontext wird deren Vergöttlichung im Rahmen von Götzendienstpolemik kritisiert (vgl. Weish 13,2: auch astrale Mächte – die gerade etwa für den Kultkalender zuständig sind – werden unter die στοιχεῖα subsumiert;131 außerdem Phil. decal. 53; contempl. 3f.; spec. 2,255).132
|| 127 Die fiktiven GegnerInnen kommen dabei nur über – in die Figurenrede des Paulus eingebettete – erzählte Sprachhandlungen ‚zu Wort‘. 128 Isolierte Analysen von 2,4.8.16–23 vernachlässigen oft die im rhetorischen Gesamtzusammenhang und insbesondere durch den unmittelbaren umgebenden Kontext gewährten Hinweise. 129 Textzitate aus der Ausgabe von Zekl (1992). – Vgl. beispielsweise in Bezug auf Chrysipp SVF 2,555 = Achilles, Isagoge 4; ferner die Rezeption stoischer und platonischer Anschauungen in jüdischen Schriften der Zeitenwende, wie Weish 7,17; Phil. her. 281; det. 154. 130 Vgl. die Funktion des göttlichen Logos in Sir 43,26; 2 Petr 3,5. 131 Dazu Arnold (1995) 162–183.
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Paulus wirft in Gal 4 den Adressaten, die vom damaligen Götzendienst (siehe V. 8: τότε) in neuer Weise bedroht zu sein scheinen, vor, zu den „schwachen und armseligen“ στοιχεῖα zurückzukehren, um sich „wiederum“ (dreifach betont in V. 9) versklaven zu lassen (in der Retrospektive von V. 3 bezieht er sich in einem „Wir“ ein: ὑπὸ τὰ στοιχεῖα τοῦ κόσμου ἤμεθα δεδουλωμένοι). Auf das hier anvisierte „Gesetz“133 (der Finalsatz von V. 5 erklärt als Ziel den Loskauf derer ὑπὸ νόμον zur Gotteskindschaft) wird im Kol nicht explizit Bezug genommen. Allerdings wird in einem ähnlichen Rekurs auf die στοιχεῖα τοῦ κόσμου in Kol 2,20 in paulinischer Tradition die Freiheit gegenüber weltlichen Vorschriften hervorgehoben – im größeren Briefkontext der Befreiung „aus dem Herrschaftsbereich134 der Finsternis“ (1,13) bzw. von den personifizierten kosmischen Mächten (1,16; 2,10) aufgrund des Primates des „Erstgeborenen aller Schöpfung“ (1,15; als „Haupt“: 1,18; 2,10.19) und seines Versöhnung stiftenden Kreuzestodes (1,20; 2,13f.). Die Teilhabe am (bereits endgültig errungenen) Triumph135 über alle Gewalten (2,15) erfolgt durch das Ablegen der „sarkischen“ Existenz (2,11: ἐν τῇ ἀπεκδύσει136 τοῦ σώματος τῆς σαρκός137) in der Taufe: (20) Wenn ihr gestorben seid mit Christus (Εἰ ἀπεθάνετε σὺν Χριστῷ), (und also frei) von den Elementen der Welt (ἀπὸ τῶν στοιχείων τοῦ κόσμου),138 was lasst ihr euch (dann) Vor-
|| 132 In Cher. 127 differenziert Philon betont zwischen den vier Elementen als materieller Grundlage des Kosmos (ὕλην [...] ἐξ ὧν συνεκράθη) und Gott als Urheber (αἴτιον [...] ὑφ᾿ οὗ γέγονεν) bzw. dem Logos als seinem Werkzeug (ὄργανον [...] θεοῦ δι᾿ οὗ κατεσκευάσθη). 133 Zur Relativierung ‚der Tora‘ im Gal siehe z.B. Heil (2016). In der Linie von Gal 3,19, wo das Gesetz auf die Vermittlung von Engeln zurückgeführt wird (διαταγεὶς δι’ ἀγγέλων), könnte Tora-Observanz in Kol 2,18 polemisch als bloßer „Engeldienst“ karikiert werden. Zu beachten ist auch der gemeinsame Fokus auf die Beachtung bestimmter – nach gemeinantikem Verständnis von himmlischen Mächten kontrollierter – Zeitstrukturen (Gal 4,10 / Kol 2,16), gegen die der jeweilige Briefverfasser anschreibt. 134 Zur räumlichen Konnotation von ἐξουσία als Macht- und Herrschaftsgebiet vgl. in der Septuaginta z.B. 4 Kön (= 2 Kön) 20,13; Ps 113 (= 114),2; Sir 24,11. 135 Vgl. 2 Kor 2,14. Entsprechungen zu römisch-imperialer Ikonographie untersucht Maier (2011) 214–225. 136 Das Bikompositum ἀπεκδύομαι sowie das korrelierende Substantiv ἀπέκδυσις treten im NT nur in Kol 2,11.15; 3,9 zutage. In 2 Kor 5,3f. taucht das Medium ἐκδύομαι auf – als Metapher für den Tod. 137 Zum „Fleischesleib“ vgl. 1,22 (für den physischen Tod Jesu); Sir 23,17; grHen 102,5; 1QpHab IX,2. 138 Zu ἀποθνῄσκω und dem Präpositionalgefüge mit ἀπό siehe ‒ zumal die Protasis ja stark an Röm 6,8 erinnert ‒ die Gedankenlinie in Röm 6,7 (mit differierender Konstruktion): ὁ γὰρ ἀποθανὼν δεδικαίωται ἀπὸ τῆς ἁμαρτίας (in V. 2.10 ist ἀπεθάνομεν/ἀπεθάνεν direkt mit dem Dativobjekt τῇ ἁμαρτίᾳ verbunden) sowie 7,6: νυνὶ δὲ κατηργήθημεν ἀπὸ τοῦ νόμου
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schriften machen, als ob ihr in der Welt lebtet (τί ὡς ζῶντες ἐν κόσμῳ δογματίζεσθε):139 (21) iss nicht, koste nicht, rühr nicht an (Μὴ ἅψῃ μηδὲ γεύσῃ μηδὲ θίγῃς),140 (22) was alles zum Verderben führt durch die Konsumation141 (ἅ ἐστιν πάντα εἰς φθορὰν τῇ ἀποχρήσει), gemäß den Geboten und Lehren der Menschen (κατὰ τὰ ἐντάλματα καὶ διδασκαλίας τῶν
|| ἀποθανόντες ἐν ᾧ κατειχόμεθα (vgl. dagegen den Dativ in V. 4: ἐθανατώθητε τῷ νόμῳ; dazu Gal 2,19: νόμῳ ἀπέθανον). In variierender Aufnahme paulinischer Terminologie (zumal ohne die Leitkonzepte δικαιόω, ἁμαρτία, νόμος) scheint demnach Kol 2,20 in elliptischer Formulierung mit ἀπό eine Trennung zum Ausdruck zu bringen, die mit dem „Mit-Sterben“ in der Taufe vollzogen wird (vgl. BDR § 211.2 mit Anm. 2 sowie etwa Wolter [1993] 139; 150f.; Maisch [2003] 182; 203; Bormann [2012] 147f.). Anders gelesen, könnte die präpositionale Phrase den Ursprung angeben, in dem die Vorschriften gründen: „Was lasst ihr euch von den Elementen der Welt her Vorschriften machen?“ Durch deren Mittelstellung sind freilich womöglich beide Gedanken impliziert. 139 Eine ähnliche rhetorische Frage, jedoch mit Akzent auf der „Sünde“, begegnet in Röm 6,2: οἵτινες ἀπεθάνομεν τῇ ἁμαρτίᾳ, πῶς ἔτι ζήσομεν ἐν αὐτῇ; – Zu δογματίζω (ἅπαξ λεγόμενον) vgl. in Kol 2,14 die (in umständlicher juristischer Terminologie erläuterte) „gegen uns lautende Rechtsurkunde (χειρόγραφον) mit den (die Schuld aufweisenden) δόγμασιν“, die jedoch gelöscht (vgl. z.B. Ps 50,3 LXX; Jes 44,22 LXX; Apg 3,19) und schließlich ans Kreuz genagelt wird. Im Bild korreliert das öffentliche Anschlagen mit der öffentlichen Hinrichtungsart der Kreuzigung (vgl. den Kreuzestitulus); dazu Bormann (2012) 138f. In der achmimischen Version der ApkZef bezeichnet χειρόγραφον (in Tob 5,3; 9,2 [ ].5 ein Schuldschein) als griechisches Lehnwort eine Schriftrolle, auf der Engel die guten Werke (3,5) oder Sünden (4,2; 11f.) verzeichnen. Zum Vorstellungskomplex vgl. Dan 7,10; 2 Hen 19,5; Offb 20,12. Zum forensischen Kontext siehe näherhin Röm 8,1‒3. Nach Dübbers (2005) 258 kommt der Rechtsurkunde mit den δόγμασιν „dieselbe verklagende Funktion zu wie dem νόμος bei Paulus“. Zum Begriff δόγματα vgl. etwa Ios. Ap. 1,42 (θεοῦ δόγματα; LCL 186,180) oder Phil. leg. 1,55 (διατήρησις τῶν ἁγίων δογμάτων); ähnlich gig. 52. 140 Da alle drei Verben „essen“ bedeuten können (siehe Bauer/Aland/Aland [61988] 207), handelt es sich wahrscheinlich um Speisegebote (vgl. 2,16), die hier zitiert werden; die verbale Reihe umschließt dabei vermutlich das Verbot, etwas zu verzehren, bis zur Tabuisierung des bloßen Kontakts. ἅπτομαι könnte zwar auch die Forderung sexueller Askese andeuten (vgl. 1 Kor 7,1; siehe die Kombination mit Speisevorschriften in 1 Tim 4,3), doch findet sich dafür im Kontext kein konkreter Anknüpfungspunkt, abgesehen vom traditionellen ‚Lasterkatalog‘ in 3,5. 141 Vom Kompositum ἀπο-χράομαι, „verbrauchen“ (zu χράομαι, „gebrauchen“), abgeleitet, ergibt sich für ἀπόχρησις (erneut ein ἅπαξ λεγόμενον) die Bedeutung „Verbrauch“. In Anlehnung an 1 Kor 6,13 könnte der Relativsatz auch die Vergänglichkeit des Tabuisierten kommentieren, allerdings fügt sich diese Deutung weniger in die syntaktische Folge ein, insofern sich dann etwa das polemisierende κατὰ τὰ ἐντάλματα καὶ διδασκαλίας τῶν ἀνθρώπων nicht, wie es dem parataktischen Stil des Kol entspricht, an das unmittelbar Vorhergehende anschließen kann.
304 | Andrea Taschl-Erber ἀνθρώπων) – (23) was (ἅτινά142 ἐστιν), obgleich es den Ruf von Weisheit hat (λόγον μὲν ἔχοντα σοφίας),143 in selbst auferlegtem Gottesdienst (ἐν ἐθελοθρησκίᾳ),144 Demut (καὶ ταπεινοφροσύνῃ) und Schonungslosigkeit gegenüber dem Körper ([καὶ]145 ἀφειδίᾳ σώματος), ohne jegliche Ehre zur Befriedigung des Fleisches (οὐκ ἐν τιμῇ τινι πρὸς πλησμονὴν τῆς σαρκός) dient.146
Dass es wesentlich um Speisevorschriften geht, zeigt auch Kol 2,16: Μὴ οὖν τις ὑμᾶς κρινέτω ἐν147 βρώσει καὶ ἐν πόσει [...] („Niemand soll euch also richten, was Essen und Trinken betrifft [...]“) – in Röm 14 etwa eine gemeindeinterne Konfliktquelle (vgl. auch 1 Kor 8ff.).148 Wie in 2,8 die φιλοσοφία charakterisiert wird als κατὰ τὴν παράδοσιν τῶν ἀνθρώπων (vgl. wörtlich übereinstimmend Mk 7,8), findet sich in 2,22 ein ähnlicher Hinweis: κατὰ τὰ ἐντάλματα καὶ διδασκαλίας τῶν ἀνθρώπων verweist dabei auf Jes 29,13 (LXX: ἐντάλματα ἀνθρώπων καὶ διδασκαλίας), wo eine bestimmte Form der Gottesverehrung kritisiert wird, die bloß auf „Geboten und Lehren von Menschen“ basiere. Mk 7,6f. || 142 Während der erste Relativsatz mit ἅ ἐστιν πάντα das Objekt zu den Speiseverboten angibt, bezieht sich das verallgemeinernde Relativpronomen ἅτινα unspezifisch auf die Beachtung solcher Tabus. 143 Zum parenthetischen Charakter dieser Partizipialkonstruktion siehe BDR § 353 Anm. 7 sowie § 465 Anm. 2. 144 Die in der griechischen Bibel nur hier vorkommende ἐθελοθρησκία bezeichnet eine vom eigenen Wollen ([ἐ]θέλω) bestimmte Gottesverehrung. In der Zusammenstellung mit Demut und Askese könnte sie als selbstgewollte, freiwillige Frömmigkeitsübung zu verstehen sein, die man sich selbst auferlegt (vgl. ἐθελοδουλεία), im polemischen Kontext auch abwertend als Gottesdienst, an dem man selbst Gefallen hat – oder den man gerne hätte (vgl. θέλων ἐν [...] θρησκείᾳ in 2,18; analog etwa zu ἐθελοφιλόσοφος als „Möchtegern-Philosoph“, vgl. Francis [1973/1962] 181). 145 Die Konjunktion fehlt hier in P46 und B: Dann kommt „durch die Askese“ (ἀφειδία, zu φείδομαι, „schonen“, taucht ebenfalls nur an dieser Stelle im NT auf und deutet mit dem Genitiv σώματος auf asketische Praktiken) in ἐθελοθρησκίᾳ und ταπεινοφροσύνῃ der Ruf von Weisheit zustande. 146 Zur Konstruktion vgl. ἔστιν πρός in Joh 11,4. – Mit der Grundbedeutung „Fülle“, „Sättigung“ steht πλησμονή (noch ein ἅπαξ λεγόμενον) in ironischem Kontrast zur davor erwähnten Askese; vgl. die ähnliche Spitze bezüglich τῆς σαρκός in Kol 2,18. Der vorgeblichen Demut und Askese stellt die auktoriale Stimme die bloße Befriedigung irdischer Eitelkeit gegenüber. 147 Zur präpositionalen Verbindung mit ἐν vgl. Röm 2,1 (ἐν ᾧ γὰρ κρίνεις τὸν ἕτερον). 148 In Bezug auf gegenseitige Verurteilungen (z.B. Röm 14,3: [...] ὁ δὲ μὴ ἐσθίων τὸν ἐσθίοντα μὴ κρινέτω) mahnt Paulus zu Geschwisterlichkeit (V. 10: σὺ τί κρίνεις/ἐξουθενεῖς τὸν ἀδελφόν σου; analog bereits in V. 4: σὺ τίς εἶ ὁ κρίνων ἀλλότριον οἰκέτην;) und wechselseitiger Toleranz (V. 13: Μηκέτι οὖν ἀλλήλους κρίνωμεν [...]), wobei er das Thema Essen und Trinken relativiert: οὐ γάρ ἐστιν ἡ βασιλεία τοῦ θεοῦ βρῶσις καὶ πόσις (V. 17). Die in diesem Prätext stärkere Reziprozität stellt Frank (2009) 420–422 heraus. Hat der Kol demgegenüber die andere Seite als Kommunikationspartner aus dem Blick verloren?
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zitiert die Jes-Stelle im Rahmen der Diskussion um Speisegebote und Reinheitsfragen. Die Bezugnahme auf τὴν παράδοσιν τῶν ἀνθρώπων in Mk 7,8, pejorativ für „die Überlieferung der Alten“ (V. 3.5),149 im Gegensatz zum „Gebot“ (ἐντολή, V. 8f.) bzw. „Wort“ (λόγος, V. 13) Gottes,150 deutet in ihrer Analogie zu Kol 2,8151 auf ein geprägtes Schlagwort in einem übergreifenden identitätspolitischen Diskurs. Möglicherweise liegt eine bereits stereotypisierte Abgrenzungsrhetorik in der Auseinandersetzung um den Stellenwert (bestimmter, aber doch wesentlicher) jüdischer Traditionen zugrunde, wie die intertextuellen Bezüge in Gal 4 und Mk 7 suggerieren (vgl. später die explizite Polemik in Tit 1,14f.)152. Dafür spricht auch der Rekurs auf die Kritik „puncto Festfeier, Neumond oder Sabbat“ (ἐν μέρει ἑορτῆς ἢ νεομηνίας ἢ σαββάτων153) in Kol 2,16; um die Beachtung bestimmter Zeiten geht es auch in Gal 4,10 und Röm 14,5f.154 Diese in der Septu-
|| 149 Vgl. in 3 Makk 1,3 τῶν πατρίων δογμάτων (dazu Kol 2,14.20). 150 Vgl. die Unterscheidung jüdischer Rechtstheorie zwischen Halachot mit Tora-Status (deoraita) und solchen, die Rechtsgelehrten zugeordnet werden (de-rabbanan). 151 Vgl. auch die teils analogen ‚Lasterkataloge‘ in Mk 7,21f. / Kol 3,5.8. Die beiden Schriften sind annähernd zeitgleich anzusetzen. 152 In Tit 1,14 begegnet die Zusammenstellung von Ἰουδαϊκοῖς μύθοις καὶ ἐντολαῖς ἀνθρώπων ἀποστρεφομένων τὴν ἀλήθειαν; nach V. 15 geht es explizit um das Thema der (Un-)Reinheit (das eine prominente Rolle für jüdische Identität spielt: siehe z.B. 1 Makk 1,62f.; Dan 1,3–16; Tob 1,10–12; Jdt 12,1–19; Aristeas 142; JosAs 7,1; 8,5; Apg 10,14; 11,2f.; Gal 2,11–14; zu den Essenern: Ios. bell. Iud. 2,8,5 § 129–131; 2,8,10 § 152). erinnert an einen griechischen Pl. n.) wird auch 153 Der Plural (die aramäische Form in Singularbedeutung verwendet (siehe BDR § 141.3 bezüglich Feste). 154 In Gal 4,10 kritisiert Paulus: ἡμέρας παρατηρεῖσθε καὶ μῆνας καὶ καιροὺς καὶ ἐνιαυτούς. Die Beachtung bestimmter „Tage“ wird – neben dem Konfliktpunkt βρῶσις καὶ πόσις (V. 17) – auch in Röm 14,5f. thematisiert. Für eine umgekehrte Prominenz von Sabbat (siehe Gen 2,2f.; Ex 31,13–17; Dtn 5,12–15; Jes 56,6) und Kalenderfragen vgl. z.B. Jub 2,9.17–33 (Sabbat als Zeichen der Erwählung und Heiligung); 4,17f.; 50,6–13; 1 Hen 78–80 (Kalender); 2 Hen 19,4 (über Zeiten eingesetzte Engel); 1QS I,14f.; X,1–8 (festgesetzte Festzeiten); CD III,14 (Offenbarung von Sabbaten und Festzeiten); VI,18f. (Sabbat, Festzeiten, Fasten); X,14–XI,18 (Sabbatvorschriften); XVI,2–4 (festgelegte Zeiten); Ios. bell. Iud. 2,8,9 § 147 (besondere Sabbatobservanz bei Essenern); außerdem die Sabbatdiskussion in Mk 2,23–3,6 par. Der Terminus νεομηνία findet sich im NT nur in Kol 2,16; anders als beim Rekurs auf den Sabbat könnte u.U. ein breiterer Hintergrund mitschwingen. Doch erscheint ein jüdischer Diskussionshorizont bezüglich kalendarischer Fragen gegenüber der These einer synkretistischen Transformation der übernommenen atl. Begrifflichkeit durch die „Philosophie“ (so z.B. Arnold [1995] 215.226.232; für νεομηνία verweist er u.a. auf die populären kleinasiatischen Mondgottheiten Μήν und Σελήνη) naheliegender. Theobald (22013) 440 bemerkt: „Es gibt deutliche Signale jüdischer Frömmigkeit, wohingegen die pagan deutbaren Elemente eher unspezifisch sind.“ In diesem Zusammenhang ist auch die Bezugnahme auf die Beschneidung in Kol 2,11 zu berücksichtigen.
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aginta formelhafte Trias155 wird zusammen mit den Speisegeboten (zusammengefasst in ἅ) in V. 17 als „Schatten des Zukünftigen“ (σκιὰ τῶν μελλόντων; vgl. Hebr 10,1 in Bezug auf „das Gesetz“) relativiert, welchem die Wirklichkeit Christi gegenübergestellt wird (τὸ δὲ σῶμα156 τοῦ Χριστοῦ). Insgesamt sollen die Angesprochenen sich nicht am Irdischen (3,2.5: τὰ ἐπὶ τῆς γῆς) orientieren,157 sondern τὰ ἄνω suchen,158 „wo der Christus zur Rechten Gottes sitzt“ (3,1; vgl. Ps 110,1). Gegenüber dem „Mitsterben mit Christus“ (2,20) bleibt jegliche Askese (vgl. „die Schonungslosigkeit gegenüber dem Körper“, in ironischem Kontrast zur „Befriedigung des Fleisches“, in 2,23, außerdem die häufig mit Enthaltsamkeit und Fasten konnotierte ταπεινοφροσύνη,159 insbesondere als Vorbereitung für Visionen, Offenbarungen und Himmelsreisen, in V. 18 und 23) defizitär, da sie sich bloß auf den – in der Taufe abgelegten – „fleischlichen Leib“ (V. 11) bezieht. Wenngleich die einzelnen Stichworte teils über konventionelle ToraObservanz hinausweisen, passen sie durchaus etwa auf das exklusive Selbst|| 155 Vgl. Hos 2,13 (ἑορτὰς αὐτῆς καὶ τὰς νουμηνίας αὐτῆς καὶ τὰ σάββατα αὐτῆς καὶ πάσας τὰς πανηγύρεις αὐτῆς) und Ez 45,17 (ἐν ταῖς ἑορταῖς καὶ ἐν ταῖς νουμηνίαις καὶ ἐν τοῖς σαββάτοις καὶ ἐν πάσαις ταῖς ἑορταῖς οἴκου Ισραηλ); in umgekehrter Reihenfolge in 1 Chr 23,31 und 2 Chr 2,3 (ἐν τοῖς σαββάτοις καὶ ἐν ταῖς νεο-/νουμηνίαις καὶ ἐν ταῖς ἑορταῖς); 31,3 (εἰς σάββατα καὶ εἰς τὰς νουμηνίας καὶ εἰς τὰς ἑορτὰς τὰς γεγραμμένας ἐν τῷ νόμῳ κυρίου); 1 Esdr 5,51 (σαββάτων καὶ νουμηνιῶν καὶ ἑορτῶν πασῶν ἡγιασμένων). Vgl. außerdem 1 Makk 10,34 (καὶ πᾶσαι αἱ ἑορταὶ καὶ τὰ σάββατα καὶ νουμηνίαι καὶ ἡμέραι ἀποδεδειγμέναι [...]); Jdt 8,6; Jes 1,13f. (V. 13 LXX in der Zusammenstellung mit νηστεία, „Fasten“); Jub 1,14; 1QM II,4; Iust. dial. 8,4. 156 Zum Metaphernpaar σκιά – σῶμα (nach Bauer/Aland/Aland [61988] 1595 „v. Körper, der den Schatten wirft, im Ggs. zur σκιά [...] die Sache selbst“) vgl. etwa Phil. conf. 190 oder Ios. bell. Iud. 2,2,5 § 28 (σκιὰν αἰτησόμενος βασιλείας, ἧς ἥρπασεν ἑαυτῷ τὸ σῶμα; Michel/Bauernfeind [2013/1959] 186). 157 Vgl. dazu die polemisierende Beschreibung der Gegner in Phil 3,19: οἱ τὰ ἐπίγεια φρονοῦντες. 158 In der Überleitung zum paränetischen Teil ab 3,5ff. werden in V. 1f. Imperative der grundlegenden existentiellen Orientierung gesetzt. 159 Vgl. in der Septuaginta ταπεινόω (z.B. Lev 16,29.31; 23,27.29.32 [analog 11Q19 (Tempelrolle) XXV,11f.; XXVII,7: Fasten am Versöhnungstag]; Esra 8,21; Jdt 4,9; Ps 34,13 LXX; PsSal 3,8; Jes 58,3.5; in Dan 10,12 vor einer Vision; vgl. V. 2f.; 9,3.21); außerdem 1 Hen 108,7–9; JosAs 10,17; 11,2.6.12.17; 13,1.9; 15,3 sowie Enthaltsamkeit vor Offenbarungen in 4 Esra 5,13.20; 6,31.35; ähnlich 9,23–25; 12,51–13,1 (nur pflanzliche Nahrung); ferner syrBar 5,6ff.; 9,2ff.; 12,5ff.; 21,1ff.; 43,3; 47,2ff.; AkpAbr 9,7–10; 12,1f.; Phil. Mos. 2,67–70. Einen technischen Gebrauch von ταπεινοφροσύνη postuliert daher Francis (1973/1962) 168‒171 und bietet Belege in jüdischer und frühchristlicher Literatur (so findet sich auch bei Tertullian, De ieiunio 12,2; 13,4 der griechische Begriff ταπεινοφρόνησις innerhalb des lateinischen Textes; vgl. ferner Herm. vis. 3,10,6; sim. 5,3,7). – Dass Askese in zeitgenössischen jüdischen Milieus ein Thema war, zeigt etwa auch die Beschreibung des Täufers in Mk 1,6; Mt 11,18.
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verständnis des Jahad von Qumran160 beispielsweise und so in den Rahmen zeitgenössischer ‚Judaismen‘. Im multikulturellen Milieu des kleinasiatischen Lykostals161 könnten die nicht näher erläuterten Esstabus und asketischen Praktiken wie auch die Festvorschriften darüber hinaus die bisherige religiöse Praxis nichtjüdischer KonvertitInnen einbeziehen. Allerdings scheint auf dem Konfliktfeld eines solchen ‚Synkretismus‘ nicht der primäre Fokus des/der Adressanten zu liegen,162 sondern auf der „Teilhabe am Erbe“ (1,12) der Gotteskindschaft163 durch περιτομὴ καὶ ἀκροβυστία (3,11) – wofür die Taufe genügt, in der die entscheidende Wende zum Leben bereits vollzogen ist;164 zusätzliche Bedingungen sind angesichts der „Fülle“ des Heils in Christus (2,9f.) nicht nötig.165
|| 160 Schon Lightfoot (1973/31879) rekurrierte auf „Essenism“ (19 et passim; definiert als „Gnostic Judaism“: z.B. 24; 27), ohne dabei eine strikte Festlegung vorzunehmen: „when I speak of the Judaism in the Colossian Church as Essene, I do not assume a precise identity of origin, but only an essential affinity of type“ (25). Auch Lyonnet (1973/1956) 150‒153 verwies auf Material aus Qumran, um gegen die These eines hellenistischen Synkretismus zu zeigen, dass sich das in Kol gebotene Bild aus einem jüdischen Hintergrund erklären lässt. 161 Vgl. etwa Bormann (2012) 19–28; 54. So könnte beispielsweise die bei Cadwallader (2011) 170 erwähnte Inschrift (um 100 n. Chr.), gewidmet Μάρκωι Μάρκου Κολοσσηνῶν ἀρχερμηνεῖ καὶ ἐξηγητηῖ, wenn seine Deutung zutrifft, die Notwendigkeit eines „leitenden Übersetzers“ in Kolossä bezeugen. Eine ausführliche Untersuchung lokaler kleinasiatischer Kulte und Traditionen bietet Arnold (1995), dessen breit dokumentiertes Panorama des religiösen Milieus in Phrygien sich insbesondere auf die Volksfrömmigkeit mit ihren „magischen“ Praktiken konzentriert; hierin sieht er die eigentliche Konfliktquelle. Zu den Götter- und Herrscherkulten im Lykostal siehe außerdem Huttner (2013) 42–66. – Die jüdische Präsenz in Phrygien beleuchten Bruce (1984) 8–13; Dunn (1995) 154–158; Bormann (2012) 19–21; Huttner (2013) 67–79; Foster (2016) 10–16; siehe neben jüdischen Grabinschriften in Hierapolis etwa Cic. Flacc. 28,68f. (Konfiszierung von mehr als 20 Pfund Gold Tempelsteuer in Laodizea); Ios. ant. Iud. 12,3,4 § 148–153 (seleukidische Siedlungspolitik in Lydien und Phrygien); 14,10,20 § 241–243 (Gewährung der Sabbatobservanz und anderer ritueller Sonderrechte „nach den väterlichen Gesetzen“ in Laodizea). 162 Darauf beziehen sich keine konkreten Vorwürfe des ‚Paulus‘, vielmehr kommen diese von gegnerischer Seite (siehe 2,16.18) – die sich womöglich umgekehrt an ‚heidnischem Synkretismus‘ stößt. 163 Vgl. Röm 8,17 oder Offb 21,7; außerdem Weish 5,5; Jub 1,24f.28. 164 Vgl. das definitive συνηγέρθητε (2,12; wieder aufgenommen in 3,1) innerhalb einer ganzen Reihe von Aoristen (das passivum divinum in 2,11f. wechselt in V. 13–15 zu aktiven Aussagen mit Gott als Subjekt), die auf ‚realized eschatology‘ verweisen. 165 Während Dunn (1995) etwa von einer Abgrenzung zu den Synagogen in Kolossä ausgeht (vgl. ders. [1996] 29–33), ortet beispielsweise Smith (2006) die konkurrierende φιλοσοφία eher innerhalb der Gemeinde; wie Dunn (1995) 154 denkt er an „Jewish mysticism“ (siehe das Resümee 143–145; womöglich eine frühe Form von Merkaba-Mystik: vgl. Bruce [1984] 23–26). Siehe außerdem z.B. Luz (1998) 218f. („asketische Judenchristen“), dem sich Theobald (22013) 441
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Die ἐθελοθρησκία in 2,23 könnte an die partizipiale Wendung θέλων ἐν [...] θρησκείᾳ (als Septuagintismus gedeutet: Gefallen habend an166 einer bestimmten Kultpraxis167) in V. 18 anknüpfen, dessen unklare Syntax jedoch hier wie bei anderen Satzgliedern verschiedene Bezugs- und Interpretationsmöglichkeiten zur Diskussion stellt. So lässt sich θέλων, von einem absoluten Gebrauch ausgehend, auch adverbiell übersetzen: „Niemand soll euch mutwillig/absichtlich disqualifizieren,168 was ‚Demut‘ und ‚Kult der Engel‘ betrifft“ (μηδεὶς ὑμᾶς καταβραβευέτω θέλων ἐν ταπεινοφροσύνῃ καὶ θρησκείᾳ τῶν ἀγγέλων).169 Damit herrscht Unklarheit, ob die kultisch-rituelle Praxis der Adressaten anhand eines weiteren expliziten Punktes (vgl. die parallele Konstruktion in V. 16: Μὴ οὖν τις ὑμᾶς κρινέτω ἐν [...]) kritisiert wird, von außen oder gemeindeintern (dann von der auktorialen Stimme allerdings aus dem angesprochenen „Ihr“ ausgeschlossen), oder ob der sich in der auktorialen Perspektive arrogant als Richter aufspielende Gegner charakterisiert wird, der gleich darauf – wieder in Aufnahme antiker Philosophenpolemik170 – als „grundlos aufgeblasen171 vom Verstand
|| anschließt; Stettler (2000) 58–74 („mystisches und gesetzestreues Judentum“ [72]); Huttner (2013) 124–131; 148. 166 Vgl. in der Septuaginta etwa 1 Kön (= 1 Sam) 18,22; 2 Kön (= 2 Sam) 15,26; 3 Kön (= 1 Kön) 10,9; 1 Chr 28,4; Ps 111 (= 112),1; 146 (= 147),10. Siehe auch Bauer/Aland/Aland (61988) 722; Liddell/Scott/Jones (1996/91940) 479 („delight in“); BDR § 148 Anm. 3. 167 In Jak 1,26f. bezeichnet θρησκεία den wahren Gottesdienst, in Apg 26,5 (im Munde des Paulus) die jüdische Kultgemeinschaft (τῆς ἡμετέρας θρησκείας). In der Septuaginta taucht der Terminus erst in den Spätschriften auf: siehe 4 Makk 5,7 (φιλοσοφεῖν τῇ Ιουδαίων χρώμενος θρησκείᾳ).13; Weish 14,18.27 (im Kontext von Idolatrie). Vgl. außerdem Phil. det. 21; fug. 41; spec. 1,315; Gai. 232; 298. Von den häufigen Belegen bei Josephus sei ant. Iud. 13,6,3 § 199 genannt (mit doppeltem Genitiv: τὸ τελευτᾶν ὑπὲρ τῶν νόμων καὶ τῆς τοῦ θεοῦ θρησκείας ὑμῶν; LCL 365,324). 168 Siehe die Übersetzung von Angela Standhartinger in der Bibel in gerechter Sprache sowie BDR § 418.5 (Anm. 7); Dibelius (1956/1917) 34f. – καταβραβεύω τινά (im NT nur hier; vgl. das Simplex in 3,15, ebenfalls ein ἅπαξ λεγόμενον) bedeutet „als (Schieds-)Richter (βραβεύς) gegen (κατα-) jemanden entscheiden, ein negatives Urteil über jemanden fällen“ und so auch „jemandem den Kampfpreis (βραβεῖον; vgl. 1 Kor 9,24; Phil 3,14) aberkennen, jemanden um sein Recht bringen“ (vgl. Bauer/Aland/Aland [61988] 831; Liddell/Scott/Jones [1996/91940] 885). 169 Alternativ könnte θέλων auch ἐμβατεύων in der Versmitte modal erläutern: „[...] gerne (vgl. Liddell/Scott/Jones [1996/91940] 479 [3.]: „willingly, gladly“) in (ἐν steht in der Koine auch für εἰς mit dem Akkusativ) ‚Demut‘ und ‚Kult‘ der Engel (Genitivus subiectivus), was er/sie gesehen hat, eintretend“; dann würde sich der Genitiv τῶν ἀγγέλων freilich auch auf ταπεινοφροσύνῃ beziehen. 170 Vgl. Standhartinger (1999) 188. 171 Vgl. z.B. Phil. somn. 2,115 (φυσώμενος ὑπ᾿ ἀνοίας); aber auch 1 Kor 8,1 (ἡ γνῶσις φυσιοῖ), wo die Liebe gegenübergestellt wird (hier geht es um die Frage des Götzenopferfleisches).
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seines Fleisches172 (εἰκῇ φυσιούμενος ὑπὸ τοῦ νοὸς τῆς σαρκὸς αὐτοῦ; vgl. V. 23)“ karikiert wird und sich noch dazu „nicht an das Haupt (der gesamten Schöpfung: vgl. 1,18; 2,10) hält“173 (2,19). Dieser Hochmut steht in ironischem Kontrast zur propagierten „Demut“, welche freilich ebenso im Tugendkatalog in 3,12 – positiv den Gemeindemitgliedern anempfohlen – auftaucht. Entweder wird also die (für die Kultfähigkeit nötige) ταπεινοφροσύνη auf Seiten der Adressaten von einer oppositionellen Stimme als defizitär beanstandet – oder deren gegnerische Betonung (vgl. 2,23) polemisch überzeichnet (wobei wohl in der gegenseitigen Auseinandersetzung ein Zuviel auf der einen Seite mit einem Zuwenig auf der anderen Seite korreliert). Jedenfalls zeigt sich eine gewisse Ambivalenz: Nicht diametrale Differenzen, sondern spezifische Modifikationen auf der Basis einer gemeinsamen Vorstellungswelt (vgl. die Bezugnahme auf das im „Ruf von Weisheit“ Stehende) liegen dem Diskurs offenbar zugrunde, dessen Positionen sich nicht klar trennen lassen. Dies betrifft auch den mit der θρησκείᾳ τῶν ἀγγέλων schlagwortartig umrissenen Kult, ob nun die von den Engeln vollzogene θρησκεία (Genitivus subiectivus) und somit die Teilnahme am himmlischen Gottesdienst174 im Fokus steht oder eine polemische Etikettierung175 als – in biblischer Tradition untersagter176 – „Engelkult“ (Genitivus obiectivus) vorgenommen wird.177 || 172 Vgl. dazu Röm 8,5‒7 (τὸ φρόνημα τῆς σαρκός). 173 Zu κρατέω vgl. Mk 7,3f.8; 2 Thess 2,15. 174 Vgl. dazu etwa Ps 29,1f.; 103,20–22; 148,1f.; Jes 6,2f.; Dan 3,59; 7,10; Jub 2,21 (Sabbatgemeinschaft); 1 Hen 39f.; 61,10–12; 2 Hen 20,1–21,1; Lk 2,13f.; Offb 4f.; 7,11f.; 8,2–5; ApkAbr 17f.; TestIob 48–50; TestLev 3,5–8; AscIs 7–9 und insbesondere Texte aus Qumran: zur Gemeinschaft mit den Engeln (vgl. 1 Kor 11,10) siehe 1QH III,22; 1QM VII,6; 1QS XI,8; 1QSa II,8f.; 1QSb IV,25f. sowie 4[bzw. 11]QShirShab. 175 Gerade bei der an der Septuaginta orientierten Lesart könnte eine polemisierende Zuschreibung vorliegen und das in Texten der Zweiten Tempel-Periode und darüber hinaus zu Tage tretende angelologische Interesse, das sich in breiten Ausführungen zu Namen, hierarchisch geordneten Gruppen und Funktionen von Engeln spiegelt (vgl. z.B. Jub 2,2: im Schöpfungskontext wie in Kol 1,16), als „Engelverehrung“ – im Unterschied zu einfacher Ehrerbietung gegenüber Engeln – karikiert werden (auch wenn für die Selbstbeschreibung der gegnerischen Position der Genitivus subiectivus zuträfe). Dies gilt insbesondere auch für den Konnex von himmlischen Mächten mit Kalenderfragen. – Später findet sich entsprechende antijüdische Polemik im Kerygma Petri (Clem. strom. 6,5,41) oder in der Apologie des Aristides 14,4 (explizit aufgrund der Beachtung von Sabbaten, Neumond- und anderen Festen, Fasten, Beschneidung und Reinheit der Speisen) sowie bei Orig. Cels. 1,26 (wogegen Origenes toraobservante Juden verteidigt; vgl. auch 5,6). 176 Vgl. Dtn 4,19; 17,3; Jer 8,2; 19,13; Zef 1,5; Offb 19,10; 22,8f.; ApkZef 10,3; AscIs 7,21; im rabbinischen Judentum yBer 13a (nicht Michael oder Gabriel, sondern Gott um Hilfe anrufen); ShemR 32 (keine Vertauschung des Engels mit Gott) sowie bḤag 15a; bSan 38b bezüglich Me-
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Einen Interpretationsspielraum eröffnet weiter der mit unbestimmtem ἃ ἑόρακεν („was er/sie gesehen hat“) anschließende Relativsatz178 mit dem meist absolut (ohne nähere Angabe des Ortes oder Bereiches des „Eintretens“) verstandenen Partizip ἐμβατεύων.179 Zum einen könnte er von gegnerischer Seite || tatron (vgl. 3 Hen § 20). Philon referiert, dass die Engel von denen, „die noch in Mühen und Knechtschaften (δουλείαις) sind“, für θεοί gehalten werden (fug. 212; vgl. somn. 1,232.238). Das Verbot ἀγγέλους ὀνομάζειν in Kanon 35 des Konzils von Laodizea (griechischer Text: http://www.documentacatholicaomnia.eu/04z/z_0363-0364_Synodus_Laodiciae_Documenta_ Omnia_GR.pdf.html; c. 29 wendet sich gegen Sabbatobservanz: οὐ δεῖ Χριστιανοὺς ἰουδαΐζειν καὶ ἐν τῷ σαββάτῳ σχολάζειν; c. 37f. gegen die Übernahme und Mitfeier jüdischer Feste) dürfte die (nachbiblische) kolossische Legendentradition zum Erzengel Michael voraussetzen (ein Scholion auf einem Manuskript der Konzilsentscheidungen notiert Kolossä am Rand zu c. 35). Theodoret verweist in seinem Kommentar zu Kol 2,18, wo er in Bezug auf das von ihm so gedeutete τοὺς ἀγγέλους σέβειν auf die Tradition der Vermittlung der Tora durch Engel rekurriert (vgl. Gal 3,19; Hebr 2,2; Apg 7,53), explizit auf den Konzilskanon – sowie auf den zeitgenössischen Schrein Michaels in Kolossä (PG 82,613a–b.620d–621a). Siehe dazu Cadwallader (2011) 290 Anm. 34 samt dem Appendix zur Chronologie von Kolossä, 303; Huttner (2013) 128f; 301– 303; 372–377; 381. – Zur populären Anrufung von Engeln in paganen, jüdischen und christlichen Kontexten siehe ausführlich Arnold (1995); der Begriff ἄγγελοι inkludiert dabei untergeordnete Gottheiten (z.B. Hekate), Geister und Dämonen sowie astrale Mächte und personifizierte Naturgewalten. Während Dibelius (1917) hier direkt an die στοιχεῖα als „kosmische Gottheiten“ (63; vgl. 56) dachte, riefen nach Arnold die AnhängerInnen der „Philosophie“ gerade gegen den feindlichen Einfluss dieser Mächte Engel um Schutz an; bezüglich Kol 2,18 wendet er sich gegen eine kultische Bedeutung im engeren Sinn (vgl. 93–95). In apokalyptischen Texten kontrollieren Engel Elemente und Sterne (siehe z.B. Jub 2,2; 1 Hen 75,1; 2 Hen 4,1; TestAbr [A] 13,11; vgl. auch die Zusammenstellung „Elemente und Engel“ in 2 Hen 16,7). 177 Stuckenbruck (1995) 19 kombiniert beide Lesarten. 178 Auf Verständnisprobleme in der Auslegungsgeschichte weisen bereits die Textvarianten (eingefügte Negationen) und diverse Konjekturen hin. Ist ἃ ἑόρακεν in Analogie zu 2,17.22 auf das Vorhergehende zu beziehen (entsprechend dem parataktischen Stil des Kol)? Möglich wäre aber auch: „Niemand soll euch disqualifizieren [...] in Bezug auf das, was er/sie beim Eintreten gesehen hat“. 179 Da es sich bei Kol 2,18 um das einzige Vorkommen des Verbs handelt, gewährt das NT keine weiteren Aufschlüsse über spezifische Bedeutungsmöglichkeiten. In der Septuaginta finden sich Belege in Jos 19,49.51 (Inbesitznahme des Landes als Erbantritt); 1 Makk 12,25; 13,20; 14,31; 15,40 (feindliches Eindringen) sowie 2 Makk 2,30 (metaphorisch für die Aufgabe des Historikers: ἐμβατεύειν καὶ περίπατον ποιεῖσθαι λόγων); ähnlich Phil. plant. 80 (oἱ προσωτέρω χωροῦντες τῶν ἐπιστημῶν καὶ ἐπὶ πλέον ἐμβαθύνοντες αὐταῖς). Aus den beiden letzteren Stellen, wo auch beim jeweils parallelen Verb die lokale Grundbedeutung der metaphorischen Aussage zugrunde liegt, lässt sich jedoch keine spezifische Bedeutung „erforschen“ oder etwas Ähnliches ableiten, das dann ohne Angabe des konkreten Kontextes evident wäre (so DeMaris [1994] 64–66; 115). Eher ist die auch mit absolutem Gebrauch von ἐμβατεύω belegte Bedeutung „in das Erbe eintreten, das Erbe antreten“ interessant. In TestLev 2,10.12; 5,1f. ist Levis Erbteil mit „heavenly entrance“ verknüpft; vgl. Francis (1973) 199.
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wahrgenommene Defizite im Kontakt mit der Gemeinde („was er/sie eintretend180 gesehen hat“) umschreiben, zum anderen auf einen visionär-mystischen Kontext anspielen, zumal für ἐμβατεύω eine entsprechende technische Bedeutung diskutiert wird (vgl. die epigraphischen Belege aus dem 2. Jh. vom ApolloTempel von Klaros, ca. 30 km nördlich von Ephesos):181 „hinsichtlich dessen (hier als Accusativus Graecus auf die nachfolgende Partizipialkonstruktion bezogen), was er/sie ‚eintretend‘182 geschaut hat, grundlos aufgeblasen“183, d.h. hochmütig aufgrund besonderer Visionen, etwa beim Eintritt in Himmelssphären (vgl. 2 Kor 12,1–7) bzw. ins himmlische Heiligtum – möglicherweise der Liturgie der Engel vor dem Thron Gottes. Das in apokalyptischen Texten, z.B. der Henoch-Literatur und anderen etwa in Qumran kursierenden Schriften, bezeugte Interesse an Himmelsreisen, Visionen und Engeln (vgl. aber auch die Thronsaalvision in Offb 4f.)184 bietet sich dabei gegenüber einer Bezugnahme auf pagane oder ‚synkretistische‘ kleinasiatische (Mysterien-)Kulte eher als primäre Hintergrundfolie an, zumal im Kol auch anderswo Berührungen mit der apokalyptischen Vorstellungswelt sichtbar werden (siehe z.B. die in manchen Bildern durchscheinende Gerichtsmotivik und den endzeitlichen Triumph über die Mächte oder die Offenbarung verborgener Geheimnisse).
|| 180 Vgl. den Bedeutungsaspekt „besuchen“ (Bauer/Aland/Aland [61988] 513 [1.]) bzw. „frequent“ (Liddell/Scott/Jones [1996/91940] 539). Bei einer Deutung der Gegner auf konkurrierende christliche Gruppen könnte man vielleicht auch an herumwandernde Lehrer denken. 181 Zu ἐμβατεύω als terminus technicus für die Initiation in einen Mysterienkult (vgl. Liddell/Scott/Jones [1996/91940] 539: „to be initiated into the mysteries“; diskutiert in Bauer/Aland/Aland [61988] 513 [4.]) siehe bes. Dibelius (1956/1917) 57–63. Kritisch Francis (1973/1962) 172–176; ders. (1973) 199–204: er verweist auf das „Eintreten“ (in griechischen Quellen freilich εἰσέρχεσθαι) im Zuge von Himmelsreisen; siehe z.B. grHen 14,9f.13 (vgl. aber auch Ez 41,3 LXX: ins Innere des eschatologischen Tempels; die Prominenz des Themas der Eingangstore von Ez 40f. spiegelt sich etwa in 4Q405 fr. 23 I,7–10). Siehe außerdem die Diskussion bei Dunn [1995] 177f.; Arnold [1995] 104–157, bes. 109–125.) – Vielleicht bezeichnet das formelhaft verwendete Verb in den Inschriften von Klaros bloß das ritualisierte Betreten des Orakels vor dessen Konsultation? Siehe z.B. die Inschrift bezüglich der Gesandtschaft von Hadrianeia Neokaisareia (als μητρόπολις von Pontos bezeichnet; belegt sind auch Gesandtschaften von Laodizea, u.a. links auf derselben Tafel): [...] μυηθέντες καὶ ἐνβατεύσαντες ἐχρήσαντο [...] (Macridy [1905] 164f., Z. 10f.). Im Umfeld von Klaros ließe sich allerdings eine Vertrautheit mit dem formelhaften Gebrauch von ἐμβατεύειν für das Eintreten ins Heiligtum voraussetzen. 182 Zu ergänzen wäre etwa „in das (Innerste des) Heiligtum(s)“ oder „das Erbe“ etc. 183 Vgl. BDR § 154 Anm. 3: „auf das, was er bei seiner Einweihung geschaut hat, grundlos eingebildet“. 184 Entsprechend bezieht Royalty (2002) die Polemik des Kol auf den apokalyptischprophetischen Kreis um den Seher der Offb.
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Die exkludierenden Urteile der oppositionellen Stimmen (vgl. „richten“ und „disqualifizieren“ in 2,16.18) deuten auf Ausgrenzungen bezüglich der Teilhabe am Heil sowie auf einen Prozess gegenseitiger Grenzziehungen mit jeweils polemisierender Rhetorik.185 Demgegenüber (und angesichts externer Bedrohungen) entwirft die Sprecherinstanz die optimistische Vision eines gottgewirkten186 kosmischen Wachstumsprozesses187 (2,19) des σῶμα τοῦ Χριστοῦ mit umfassender Partizipation entsprechend der universalen Evangeliums- bzw. Christusverkündigung (vgl. 1,28).
4 Die neue Identität im kosmischen σῶμα τοῦ Χριστοῦ Die den Brief durchziehende Körpermetaphorik (vgl. 1,18.24; 2,17.19; 3,15; außerdem 2,9) der in paulinischer Tradition188 verbildlichten σῶμα ΧριστοῦEkklesiologie kann an antiken Vorbildern anknüpfen, auch in ihrer kosmischen Dimension (welche das Konzept der ἐκκλησία als konkrete Ortsgemeinde überlagert) und bezüglich der Funktion des „Hauptes“ (mit politischen Untertönen gegen die Kaiserideologie?).189 Durch die – hier in universalen Kategorien buch|| 185 Siehe die auf diskursive Auseinandersetzungen verweisenden Verben in 2,4 (παραλογίζομαι); 2,8 (συλαγωγέω in metaphorischem Kontext); 2,16 (κρίνω); 2,18 (καταβραβεύω); 2,20 (δογματίζω). 186 Vgl. 1 Kor 3,6f.; 2 Kor 9,10. 187 Wie das Evangelium (1,6) und die Gläubigen in der Erkenntnis (1,10). Vgl. auch Eph 2,21; 4,15f. 188 Siehe 1 Kor 6,15; 10,17; 12,12–27; Röm 12,4f. Gegenüber den unumstrittenen Paulusbriefen ist freilich eine mit dem „Haupt“ (1,18; 2,10.19) implizierte Hierarchisierung im Körpermodell festzustellen, die in Eph 1,22; 4,15; 5,23 (vgl. 1,10: ἀνακεφαλαιόω) fortgeführt wird. Zur Vorrangstellung der κεφαλή vgl. z.B. Plat. Tim. 44d: [...] τοῦτο ὃ νῦν κεφαλὴν ἐπονομάζομεν, ὃ θείοτατόν τέ ἐστιν καὶ τῶν ἐν ἡμῖν πάντων δεσποτοῦν [...]. 189 Bereits für die Bildlichkeit in 1 Kor 12 (dazu im Kontext antiker Analogien z.B. Lindemann [1999/1995]) lässt sich etwa das auf soziale Kohäsion zielende Gleichnis des Menenius Agrippa in Liv. 2,32,9‒12 anführen (vgl. auch Dion. Hal. ant. 6,86; Plut. Gaius Marcius 6). In ähnlicher Funktion begegnet die Körpermetaphorik bei Cic. off. 3,5,22f.; Sen. ira 2,31,7 (Rosenbach [1969] 1,206f.). Platon vergleicht einerseits den Staat mit dem menschlichen Organismus (rep. 5,462c‒e; 8,556e; analog Aristot. pol. 5,1302b34–40), in der Kosmogonie des Timaios entwirft er andererseits das Bild des (im Unterschied zu der ihn durchwaltenden Seele sichtbaren) „Allkörpers“ (Tim. 31b.32a.32c: τὸ τοῦ παντὸς/κόσμου σῶμα). Entsprechend bezeichnet Philon den Kosmos als τὸ μέγιστον σωμάτων (plant. 7), wobei der Logos als feste Stütze bzw. unzerreißbares Band des Alls fungiert (plant. 8f.; vgl. conf. 136; fug. 112). In migr. 220 beschreibt er den
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stabierte – ‚Körperschaft‘, die als sein σῶμα, gleichsam als leibhaftig-sichtbares Medium, Christus repräsentiert,190 wird gemeinschaftsbildende Identität konstruiert und vermittelt. Die in Christi „Leib“ Inkorporierten partizipieren an der „Einwohnung“191 des ganzen göttlichen πλήρωμα „in ihm“ (2,9f.; zu 1,19 vgl. die parallele, auf den Zion192 bezogene Formulierung in Ps 67,17 LXX).193 Gegenüber dieser in Christus bzw. seinem σῶμα vermittelten Teilhabe an der göttlichen „Fülle“ bedarf es keiner weiteren Vermittlungsinstanzen: Die im Kol präsentierte Kosmologie stellt die Vor- und Überordnung des alleinigen Schöpfungs- und Erlösungsmittlers als „Haupt“ über die geschaffene Welt inklusive die kosmischen || Kosmos als τὸν μέγιστον καὶ τελεώτατον ἄνθρωπον. Als „Haupt des Alls“ (caput universorum) wird der Logos in Quaest. Ex. 2,117 (Terian [1992] 262) tituliert (der Text wird allerdings als christliche Interpolation verdächtigt). Hingegen bezieht sich die Leibmetapher in spec. 3,131 auf das Volk (dazu noch unten). Auch Seneca kann auf das All rekurrieren, siehe die panentheistische Diktion in epist. 14,92,30: Totum hoc quo continemur, et unum est et deus: et socii sumus eius et membra; epist. 15,95,52: omne hoc quod uides, quo diuina atque humana conclusa sunt, unum est: membra sumus corpori magni (Rosenbach [1984] 4,404–406; 492–494; Hervorhebungen hier und im Folgenden durch die Verf.). In einem u.a. bei Eus. Pr. Ev. 3,9 (GCS 43,126f.) überlieferten orphischen Hymnus wird von Zeus ausgesagt (Orph. fr. 168 [Kern]; der Beginn entspricht fr. 21a): Ζεὺς πρῶτος γένετο, Ζεὺς ὕστατος ἀργικέραυνος, Ζεὺς κεφαλή, Ζεὺς μέσσα, Διὸς δ᾿ ἐκ πάντα τέτυκται. [...] πάντα γὰρ ἐν μεγάλῳ Ζηνὸς τάδε σώματι κεῖται. [...] In der Kaiserzeit wird die politische Metaphorik an die geänderte Situation adaptiert. Curt. 10,9,2.4 überträgt das Bild des Körpers auf das Reich, das eines Hauptes bedarf (eine Anspielung auf das Vierkaiserjahr?). Ähnlich Sen. clem. 3,2,3, der in 3,3,1 den Imperator (Nero) als animus rei publicae bezeichnet (in 3,2,1 als uinculum) und den Staat als corpus tuum (Rosenbach [21995] 5,32; 34); bereits in 1,2,1 spricht er vom „riesigen Reichskörper“ (immane imperii corpus [14; Hervorhebung im Original]), dessen Wohl „vom Haupt ausgeht“. In dieser Linie schlägt Heininger (2009) 77–80 eine herrschaftskritische Zielrichtung des Kol gegen die römische imperiale Ideologie vor. – Diese tritt mit ähnlich universalistischem Anspruch auf. 190 Der Kol spielt mit verschiedenen Varianten von Sichtbarkeit und Repräsentanz. So ist der „Sohn“ wiederum „Bild des unsichtbaren Gottes“ (1,15). 191 Zur mit dem Konzept der „Einwohnung“ verknüpften Schekina-Theologie siehe z.B. den Beitrag von Janowski in dem von ihm und Popkes herausgegebenen Sammelband (2014). 192 Auf die Zionstheologie verweist auch der Terminus πλήρωμα: vgl. die den Tempel „(er)füllende“ Herrlichkeit Gottes in Ez 10,4; 43,5; 44,4; Jes 6,1 LXX; 1 Kön 8,10f.; 2 Chr 5,13f. etc. Die Vorstellung von der τὰ πάντα erfüllenden göttlichen Präsenz begegnet aber auch, von philosophischen Konzepten beeinflusst, in der griechisch verfassten Weisheitsliteratur (siehe z.B. Weish 1,7; Phil. conf. 136; gig. 27). 193 Vgl. dazu die Rezeption in Eph 1,23; 3,19.
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Mächte heraus (1,16–18; 2,10; in 2,15 als endzeitlicher Triumph in apokalyptischer Motivik194). Mit der radikalen Orientierung κατὰ Χριστόν (2,8) vollzieht sich eine fundamentale195 Neuausrichtung der Existenz, wie die wechselnden Sprachbilder in 2,11–13 zum Ausdruck bringen. Im real-symbolischen Mitvollzug seines Todes wie seiner Auferstehung in der Taufe (2,12: συνταφέντες αὐτῷ ἐν τῷ βαπτισμῷ, ἐν ᾧ καὶ συνηγέρθητε; vgl. Röm 6196) wird die weltlichsarkische Existenzweise wie alte Kleidung „abgelegt“ (2,11), um in den neuen Lebensvollzug einzutauchen. In der Begründung einer neuen Identität mit der Beschneidung verglichen,197 sind in der περιτομῇ τοῦ Χριστοῦ (zur περιτομῇ ἀχειροποιήτῳ, der „nicht handgemachten Beschneidung“ in 2,11,198 siehe die gottgewirkte Herzensbeschneidung in Dtn 30,6199) auch jene inkludiert200, die aufgrund der „Unbeschnittenheit“201 als „tot“ galten202 (was offenbar insbesondere für das angesprochene Ihr zutrifft: ὑμᾶς νεκροὺς ὄντας τοῖς παραπτώμασιν καὶ τῇ ἀκροβυστίᾳ τῆς σαρκὸς ὑμῶν, während die Vergebung der „Übertretungen“203 gleich anschließend einem inklusiven Wir zugesprochen wird: || 194 Vgl. 1 Kor 15,24ff. in Rezeption von Dan 7,27; Ps 8,7; 110,1 (Anspielung in Kol 3,1). 195 Vgl. die zweifache Metaphorik in 2,7: ἐρριζωμένοι καὶ ἐποικοδομούμενοι ἐν αὐτῷ. 196 In Röm 6,4f.8 ist die Teilhabe an der Auferstehung futurisch formuliert; hier wird außerdem τὸ σῶμα τῆς ἁμαρτίας vernichtet (6,6; vgl. auch 7,24: τίς με ῥύσεται ἐκ τοῦ σώματος τοῦ θανάτου τούτου;). 197 In der Entwicklungsphase des Initiationsritus wird auf bekannte Symbolwelten zurückgegriffen. 198 Vgl. demgegenüber die umgekehrte Kontrastierung in Eph 2,11. Zur Beschneidung als Bundeszeichen siehe Gen 17,10–27. 199 Vgl. außerdem die Metaphorik in Lev 26,41; Dtn 10,16; Jer 4,4; Jub 1,23; 1QS V,5; 1QpHab XI,13; Phil. spec. 1,304f. Zur Argumentationslinie vgl. Röm 2,28f.; ferner Phil 3,3. 200 Aus der Inklusion wurde in der Rezeptionsgeschichte freilich eine Substitution. 201 Der Begriff ἀκροβυστία (eigentlich „Vorhaut“) findet sich – neben der programmatischen Erklärung in 3,11 – im Rahmen ähnlicher Diskurse, welche die Schranke der περιτομὴ ἐν σαρκί relativieren, in Röm 2,25–27 (siehe bes. auch V. 28f.); 3,30; 4,9–12; 1 Kor 7,18f.; Gal 2,7; 5,6; 6,15; Eph 2,11 (außerdem Apg 11,3). 202 Vgl. das ‚Einst-Jetzt-Schema‘ in 1,21f.; 3,7f. 203 Der Terminus spielt insbesondere im Röm eine wichtige Rolle: vgl. 4,25 (formelhaft: ὃς παρεδόθη διὰ τὰ παραπτώματα ἡμῶν καὶ ἠγέρθη διὰ τὴν δικαίωσιν ἡμῶν); 5,15 [zweimal].16.17.18.20 (im Gegenüber zu χάρισμα und χάρις in einer Adam-Christus-Typologie); 11,11f. (τῷ αὐτῶν παραπτώματι ἡ σωτηρία τοῖς ἔθνεσιν [...]). In 4,15 setzt die „Übertretung“ (hier παράβασις) das „Gesetz“ voraus (οὗ δὲ οὐκ ἔστιν νόμος, οὐδὲ παράβασις); vgl. auch 5,13.20 zum Gesetz als richtendem Maßstab (sowie 2,12–29; Gal 3,19; Hebr 2,2). Vollenweider (2002/1988) 154 beschreibt die paulinische Sicht: „Auf der Ebene des Nomos definieren sich Gesetz und Sünde gegenseitig und etablieren ein in sich perfekt geschlossenes System mit maximaler Rückkoppelung [...]“. Zu den παραπτώματα vgl. außerdem 2 Kor 5,19; Mk 11,25; Mt 6,14f. (in Gal 6,1 im Sg.). Von Kol 2,12f. beeinflusst: Eph 2,1.5; zu 1,7 vgl. Kol 1,14.
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χαρισάμενος ἡμῖν πάντα τὰ παραπτώματα; vgl. 1,14). Wie Gottes schöpferische ἐνέργεια in Jesu Auferweckung „aus den Toten“ (vgl. 1,18) wirkte (2,12), eröffnete das gnadenhafte Geschenk der durch den Kreuzestod gestifteten Vergebung (2,13f.; vgl. 1,14.20.22) auch den Adressierten (betont: καὶ ὑμᾶς) ein neues Leben σὺν αὐτῷ.204 Die Dialektik von Tod und Auferstehung (vgl. auch die Argumentationsstruktur in 2,20/3,1: Εἰ ἀπεθάνετε/συνηγέρθητε [...]) bzw. alt / neu spiegelt sich in Kol 3 in der chiastischen Korrespondenz der wiederaufgenommenen Gewandmetaphorik205 (welche reflektiert, dass durch Kleidung soziale, kulturelle und politische Identität konstruiert wird)206: V. 8: ἀπόθεσθε („legt ab“) – mit anschließendem ‚Lasterkatalog‘207 V. 9: Ausziehen des alten Menschen (ἀπεκδυσάμενοι τὸν παλαιὸν ἄνθρωπον208, vgl. 2,11) mit seiner Praxis V. 10: Anziehen des neuen Menschen (καὶ ἐνδυσάμενοι τὸν νέον [...]) V. 12: ἐνδύσασθε („zieht an“) – mit ebenso fünfgliedrigem ‚Tugendkatalog‘
Mit der indikativischen Heilszusage verbinden sich (wenngleich in konventionellem Rahmen verbleibende) paränetische Imperative.209 Das in der Taufe geschenkte neue Leben soll sich im alltagsweltlichen Bezug jetzt schon realisie-
|| 204 Vgl. Röm 6,11 (νεκροὺς μὲν τῇ ἁμαρτίᾳ ζῶντας δὲ τῷ θεῷ ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ); 8,11 (ὁ ἐγείρας [τὸν] Χριστὸν ἐκ νεκρῶν ζῳοποιήσει καὶ τὰ θνητὰ σώματα ὑμῶν); 1 Kor 6,14 (καὶ ἡμᾶς ἐξεγερεῖ διὰ τῆς δυνάμεως αὐτοῦ); 2 Kor 4,14 (ὁ ἐγείρας τὸν κύριον Ἰησοῦν καὶ ἡμᾶς σὺν Ἰησοῦ ἐγερεῖ); 13,4 (ζήσομεν σὺν αὐτῷ). Zu den Themen Vergebung – Transformation zu neuem Leben – Auferweckung vgl. auch Ez 36f. 205 Vgl. dazu Röm 13,12.14; 1 Kor 15,53f.; 2 Kor 5,2–4; Gal 3,27; 1 Thess 5,8. Analog zu Kol 3,10 ist Eph 4,24. 206 Die diesbezügliche Studie von Canavan (2012) untersucht die Interaktion des Textes mit der zeitgenössischen materiellen Kultur der römischen Imperialmacht. 207 In 3,5 mit νεκρώσατε eingeleitet (vgl. dazu Röm 8,13). Die „Werke des Fleisches“ in Gal 5,19–21 beginnen mit denselben zwei Elementen (πορνεία, ἀκαθαρσία) und weisen auch noch andere Überschneidungen auf (z.B. εἰδωλολατρία); vgl. außerdem Röm 1,29–31 (siehe auch V. 18 zur Gerichtsvorstellungen evozierenden ὀργὴ τοῦ θεοῦ in Kol 3,6); 1 Kor 5,10f.; 6,9f.; 2 Kor 12,21; 1 Thess 4,3–7 sowie Mk 7,21f.; Offb 9,20f.; 21,8; 22,15; 1QS IV,9–11. Die allgemein bleibenden Hinweise zielen nach Bormann (2012) 156 „auf ethisch fragwürdiges Verhalten, das aus jüdischer Perspektive mit dem Verhalten von Nichtjuden verbunden wird“ (bes. 3,5); er verweist auf die „Paränese der Synagogengemeinde“ (zu 3,12 vgl. ebd. 168). 208 Vgl. Röm 6,6 (ὁ παλαιὸς ἡμῶν ἄνθρωπος συνεσταυρώθη). 209 Die Begründung des ethischen Imperativs in 3,12 („Als Gottes Auserwählte, Heilige und Geliebte sollt ihr [...]“) erinnert dabei auch an die theologische Motivierung zum Halten der Gebote in Dtn 7,6–8; 14,2.
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ren, die hier wurzelnde neue Identität im sozialen Kontext erfahrbar werden.210 Mit den plastischen Gegensatzpaaren alt/neu, einst/jetzt, Tod/Leben, Finsternis/Licht, assoziiert mit den Raumkoordinaten (und Machtsphären) oben/unten (bzw. „irdisch“)211, zielt die traditionelle Konversionsterminologie, die auf eine radikal neue Existenz abhebt, ebenso auch auf eine Identifikation mit der Gruppe oder Bewegung ἐν Χριστῷ (1,2.28),212 die sich in der Raumkonfiguration des Kol geradezu als kosmische, über ihr „Haupt“ in den Himmel reichende Größe situiert. Der „neue Mensch“, „der erneuert wird (τὸν ἀνακαινούμενον)213 zur Erkenntnis (εἰς ἐπίγνωσιν; in 1,9f. [des Willens] Gottes, in 2,2 des Mysteriums Christi) nach dem Bild (κατ’ εἰκόνα)214 dessen, der ihn erschaffen hat“ (3,10), wird in einem Rekurs auf die Schöpfungserzählung mit ihrem universalen Horizont (zur imago Dei siehe Gen 1,26f.; zur „Erkenntnis“ insbesondere 3,22) inklusiv bestimmt, ohne ethnisch-kulturelle und soziale Differenzierungen. Wie in der Taufformel von Gal 3,28 wird deren Aufhebung christologisch fundiert:
|| 210 Vgl. Wolter (1993) 41. 211 In 3,1f. werden eigentlich τὰ ἐπὶ τῆς γῆς und τὰ ἄνω entgegengesetzt (vgl. dazu Phil 3,19f.: τὰ ἐπίγεια – ἐν οὐρανοῖς; V. 14: τῆς ἄνω κλήσεως; Joh 8,23 formuliert: ἐκ τῶν κάτω – ἐκ τῶν ἄνω): Der göttliche Thronbereich ist hier eventuell noch über (vgl. Eph 1,21: ὑπεράνω) den von Engelmächten bevölkerten „Himmeln“ imaginiert, die in 1,16.20 zusammen mit der „Erde“ (γῆ) Ort des Schöpfungs- und Erlösungswirkens sind. In 1,23 tritt der οὐρανός (im Sg.) allerdings „der ganzen Schöpfung“ (πάσῃ κτίσει) gegenüber, wie auch in 1,5 und 4,1 himmlische und göttliche Sphäre identisch sind. Zum Himmel als Gottes Thron vgl. Jes 66,1 (zitiert in Mt 5,34f.). 212 Siehe in 3,11 das auf kollektive Identität deutende lokale ὅπου. 213 In der Spannung zwischen dem schon Erreichten (siehe auch den Aorist ἐνδυσάμενοι) und dem doch noch Ausstehenden artikuliert sich der mit dem Präsenspartizip verknüpfte ethische Imperativ als normativer Anspruch, der „neuen Schöpfung“ auch im alltäglichen Handeln kontinuierlich zu entsprechen. 214 Die Differenzierung zwischen der Gottesbildlichkeit des „Sohnes“ als εἰκὼν τοῦ θεοῦ τοῦ ἀοράτου (Kol 1,15) und jener des Menschen κατ’ εἰκόνα (in Anknüpfung an Gen 1,26f. LXX) erinnert an die gestufte imago Dei in Philons platonisierender Genesis-Interpretation (siehe z.B. opif. 25; 69; 139).
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Gal 3,28
Kol 3,11
οὐκ ἔνι Ἰουδαῖος οὐδὲ Ἕλλην,
ὅπου οὐκ ἔνι Ἕλλην καὶ Ἰουδαῖος, περιτομὴ καὶ ἀκροβυστία, βάρβαρος, Σκύθης, δοῦλος, ἐλεύθερος,
οὐκ ἔνι δοῦλος οὐδὲ ἐλεύθερος, οὐκ ἔνι ἄρσεν καὶ θῆλυ· πάντες γὰρ ὑμεῖς εἷς ἐστε ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ.
ἀλλὰ [τὰ] πάντα καὶ ἐν πᾶσιν Χριστός.215
Im Vergleich zu Gal 3,28 liegt im Kol ein besonderer Fokus auf der Unterscheidung περιτομή („Beschneidung“) vs. ἀκροβυστία („Unbeschnittenheit“), welche – wie in 1 Kor 7,19; Gal 5,6; 6,15 (außerdem Eph 2,11ff.) – in der nunmehrigen Heilsgemeinschaft nivelliert wird (siehe bereits 2,11).216 Ferner hebt die Hinzufügung der vermutlich geographischen Opposition von „Barbar“ und „Skythe“ noch stärker auf eine ethnisch-kulturelle Vielfalt ab (über „Grieche“ vs. „Jude“ hinaus).217 Hier klingen die Spannungsfelder innerhalb einer heterogen zusammengesetzten Gemeinde an. Anders als in Gal 3,28 wird die geschlechtliche Differenz jedoch nicht aufgehoben (was im unmittelbaren Anschluss an die Anspielung auf Gen 1,26f., wo mit der imago Dei die Schöpfung des Menschen als „männlich“ und „weiblich“ verknüpft ist, vielleicht auch schwierig gewesen wäre).218 Dies scheint sich allerdings in der „Haustafel“ zu spiegeln, die in 3,18– 4,1 als gruppenbezogene Unterweisung in der Tradition weisheitlicher Paränese
|| 215 Während in Gal 3,28 die Einheit aller (πάντες) Angesprochenen in Christus hervorgehoben wird, nimmt der Kol erneut die alles (πάντα) durchdringende Präsenz Christi in den Blick, der „alles und in allen“ ist (vgl. demgegenüber die theozentrische Allprädikation in 1 Kor 15,28: ἵνα ᾖ ὁ θεὸς [τὰ] πάντα ἐν πᾶσιν; ähnlich in 12,6). 216 Dunn (1996) 223 erläutert dazu: „it is not so much that the individual categories [...] are discounted as no longer meaningful; rather, it is that the way of categorizing humankind into two classes [...] is no longer appropriate.“ Nicht die ethnische Differenz als solche (κατὰ σάρκα) wird aufgehoben, sondern deren Heilsrelevanz. Mit Fokus auf den Gal vgl. auch Weidemann (2016) 165–167. 217 Wie bei der geänderten Reihenfolge von Ἕλλην / Ἰουδαῖος (chiastisch zu περιτομὴ καὶ ἀκροβυστία) scheint auch bei den Barbaren (= Bewohner von Βαρβαρία an der Ostküste Afrikas) und Skythen, die „für die kulturell und ethnisch ausgeschlossenen Nichtgriechen des Nordens und des Südens [stehen]“ (Bormann [2012] 167), eine „griechische“ Perspektive durch. Indem sie „die Ränder der bekannten Welt [bezeichnen]“ (ders. [2009] 97), lässt sich „eine Internationalisierung und Universalisierung erkennen“ (100). 218 In D* und einigen mittelalterlichen Handschriften sowie der altlateinischen Überlieferung und der sixtinischen Vulgata findet sich αρσεν και θηλυ / masculus et femina ergänzt. – Dieses Element fehlt allerdings auch in 1 Kor 12,13, wo die Aufhebung der Kategorisierungen unmittelbar mit der Leibmetapher verknüpft ist.
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(unter Aufnahme hellenistischer, insbesondere stoischer, Ethik) eingeschoben ist,219 welche die Genderschranken deutlich betont (siehe gleich eingangs die Aufforderung an die Frauen, sich den Männern unterzuordnen, „wie es sich ἐν κυρίῳ [eigentlich] ziemte“220). Auch das hierarchische Verhältnis zwischen SklavInnen und HerrInnen bleibt hier gegenüber der in 3,11 aufgehobenen Differenzierung von δοῦλος („Sklave“) / ἐλεύθερος („frei“) auf der Ebene κατὰ σάρκα, d.h. im sozial-rechtlichen Bereich, bestehen (siehe 3,22ff.). Das hierarchische Körpermodell (mit der gegenüber der Ekklesiologie der unumstrittenen Paulusbriefe differierenden Rolle des „Hauptes“) wird offenbar in die konkrete Sozialordnung eingeschrieben. Mit Verweis auf den „Herrn“ werden die Unterordnung der Frauen gegenüber ihren Männern (3,18), der Gehorsam der Kinder gegenüber ihren Eltern (V. 20) sowie der SklavInnen gegenüber ihren HerrInnen κατὰ σάρκα (V. 22–25) jeweils religiös motiviert; umgekehrt werden die irdischen κύριοι an den gemeinsamen „Herrn im Himmel“ erinnert (4,1). Im Blick auf die grundlegende Orientierung in Richtung τὰ ἄνω gegenüber der irdischen Sphäre (3,1f.) und die damit verbundene Absage an weltlich-menschliche Vorschriften im Zuge der Gegnerpolemik bleibt freilich mit der Einforderung der Einhaltung hierarchischer sozialer Regeln, wenn sich der diskursive Fokus nun auf das Gemeindeleben verschiebt, eine gewisse Spannung bestehen.221 || 219 Die drei sozialen Beziehungskonstellationen γυναῖκες – ἄνδρες, τέκνα – γονεῖς/πατέρες, δοῦλοι – κύριοι, die nach aristotelischer Auffassung den antiken Haushalt konstituieren (pol. 1253b1–11.1259a36–1260b19), sind beispielsweise auch in Sir 7,19–28 thematisiert, jedoch richten sich die Anordnungen hier im Unterschied zu den jeweils wechselseitig formulierten Imperativen im Kol bloß an die Adresse des pater familias als Ehemann, Sklavenhalter, Vater und Sohn; in Sir 33,20–33 wird ein ähnlicher Fokus auf die SklavInnen gelenkt. Die exakte Trilogie Ehemann – Ehefrau, Vater – Kinder, Herr – SklavInnen findet sich auch bei Sen. epist. 94,1 (Rosenbach [1984] 4,416); Phil. hypoth. 7,14. Cavin (2013) 193 verweist auf 4Q415 fr. 2 II, wo Frauen adressiert werden. Zu Parallelen in der römisch-hellenistischen und jüdischen Literatur siehe auch Standhartinger (1999) 249ff.; ausführlich Crouch (1972) 37–119 (inklusive rabbinische Texte). Antikes Hintergrundmaterial bietet außerdem Hellholm (2009); für ihn geht die „Haustafel als Gattung [...] möglicherweise auf die hellenistische Gnomik zurück“ und wurde „am wahrscheinlichsten durch das hellenistische Judentum etwa in einem Text wie PsPhokylides vermittelt“ (127). 220 Zum Imperfekt ἀνῆκεν siehe BDR § 358 mit Anm. 3. – Vgl. dazu 1 Kor 14,34: αἱ γυναῖκες [...] ὑποτασσέσθωσαν, καθὼς καὶ ὁ νόμος λέγει (siehe Gen 3,16 – hier freilich als Verkehrung der ursprünglichen gottgewollten Ordnung); außerdem die paraphrasierende Ausgestaltung in Eph 5,22–24 sowie die parallelen an Frauen adressierten Haustafeltexte in 1 Tim 2,9–15; Tit 2,3– 5; 1 Petr 3,1–6. 221 Vgl. dazu Frank (2009) 362. Lincoln (1999) 104 verweist auf Kol 4,5: „This reference to wise conduct towards outsiders can be seen to be picking up on the instructions provided in the household code which, already as part of its tradition in Judaism, was formulated with an eye
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Im paränetischen Abschnitt von 3,5ff. wird insbesondere zur Einheit gemahnt (vgl. 3,15: ἐκλήθητε ἐν ἑνὶ σώματι, „ihr wurdet berufen in einem Leib“222). Wie die in 3,8f. aufgezählten negativen Verhaltensweisen gemeind-liche Konflikte andeuten (z.B. Schmäh- und Lästerrede,223 Lüge), zielen auch die positiven Handlungsnormierungen in V. 12 (Erbarmen, Güte, Demut, Milde, Langmut)224 auf das Gemeinschaftsleben, insbesondere den „Ausgleich von Differenzen und Ansprüchen“.225 Ebenso sollen die anschließenden ethischen Weisungen, beispielsweise Vergebung nach göttlichem Vorbild226 (V. 13; vgl. χαρισάμενος in 2,13), den gemeindlichen Zusammenhalt und die soziale Bin-dung stärken. Die in 3,14 erwähnte Liebe227 (siehe im Hinblick auf die Gemeinde schon 1,4.8; 2,2)228 erinnert in ihrer Charakterisierung als „Band (σύνδεσμος) der Vollkommenheit“229 an das Bild des Leibes in 2,19, der vom Haupt230 aus durch Bänder (συνδέσμων)231 zusammengehalten (zu συμβιβαζόμενον vgl. in 2,2 συμ-
|| to outsiders’ accusations about the religion’s potential social threat.“ Vgl. die Bedachtnahme auf die Außenwirkung in 1 Thess 4,12: ἵνα περιπατῆτε εὐσχημόνως πρὸς τοὺς ἔξω. 222 Dieselbe präpositionale Phrase ἐν ἑνὶ σώματι findet sich auch in Röm 12,4 (sowie in Eph 2,16); vgl. außerdem 1 Kor 10,17; 12,12f.20. Philon lässt in spec. 3,131 den Hohepriester beten: ἵνα πᾶσα ἡλικία καὶ πάντα μέρη τοῦ ἔθνους ὡς ἑνὸς σώματος εἰς μίαν καὶ τὴν αὐτὴν ἁρμόζηται κοινωνίαν εἰρήνης καὶ εὐνομίας ἐφιέμενα. 223 αἰσχρολογία kommt in der gesamten griechischen Bibel nur hier vor. 224 σπλάγχνα οἰκτιρμοῦ, χρηστότης, ταπεινοφροσύνη, πραΰτης, μακροθυμία (dazu siehe bereits 1,11); diese stehen nach Bormann (2012) 169 in der „Tradition der Armenfrömmigkeit des Psalters“ bzw. kennzeichnen nach Wolter (1993) 185 „von der atl.-jüdischen Weisheit her [...] Eigenschaften, die für den jüdischen Frommen und Weisen charakteristisch sind“. Weitgehende Übereinstimmungen zeigen sich in 1QS IV,3. In der Theophanie von Ex 34,6 LXX werden als göttliche Eigenschaften genannt: Κύριος ὁ θεὸς οἰκτίρμων καὶ ἐλεήμων, μακρόθυμος καὶ πολυέλεος καὶ ἀληθινὸς [...]. Vgl. auch Röm 2,4 (χρηστότης, μακροθυμία). 225 Wolter (1993) 185. 226 Im Unterschied dazu bleibt die ὀργή Gott vorbehalten: siehe 3,6.8. Vgl. auch Eph 4,32 sowie Mt 18,23–35. 227 In Gal 5,22f. rangiert die ἀγάπη an erster Stelle; hier werden ebenfalls μακροθυμία, χρηστότης und πραΰτης (sowie εἰρήνη) aufgelistet. Siehe auch Phil 2,1‒3 (ἀγάπη, σπλάγχνα καὶ οἰκτιρμοί, ταπεινοφροσύνη); 2 Kor 6,6 (μακροθυμία, χρηστότης, ἀγάπη; vgl. dazu 1 Kor 13,4). 228 Außerdem in 1,13 für die Beziehung des „Vaters“ zum „Sohn“ verwendet; in 3,19 konkret von den Männern gegenüber ihren Ehefrauen gefordert. 229 Vgl. die φιλία bei Plat. Tim. 32c. 230 Einige Textzeugen (z.B. D* oder die Harklensis) ergänzen erläuternd „Christus“ (vgl. Eph 4,15f.); ἐξ οὗ, auf τὴν κεφαλήν bezogen, ist constructio ad sensum. 231 Die bei Platon begegnende Vorstellung des von einem „Band“ bzw. „Bändern“ zusammengehaltenen Körpers (Tim. 31b‒32c: in Bezug auf den „Allkörper“; 38e: die Himmelskörper als δεσμοῖς ἐμψύχοις σώματα δεθέντα; 41b und 43a: hinsichtlich der traditionellen Gottheiten; 73b.81d: vom menschlichen Körper und der Seele) wird in Mittelplatonismus und Stoa rezipiert
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βιβασθέντες ἐν ἀγάπῃ) in göttlichem Wachstum wächst (vgl. 1,6.10). Entsprechend der Verbundenheit ἐν ἑνὶ σώματι soll in der Gemeinde „der Friede Christi“232 (3,15; vgl. 1,20) regieren233 – die kosmische Versöhnung sich also in der sozialen Realität konkret vergegenwärtigen (insbesondere auch im mikrokosmischen Bereich des – patriarchal strukturierten – antiken Haushalts).
5 Schlussbemerkungen In der Untersuchung der kommunikativen Strukturen des Briefes, die mit der Frage nach den Adressanten und Adressaten verknüpft ist, richtete sich ein besonderes Augenmerk auf den Wir-Ihr-Diskurs im Kol.234 Dieser erscheint auch insofern als erhellend, als er die Einbeziehung eines nichtjüdischen Ihr in ein von jüdischen Traditionen geprägtes Wir beleuchtet – samt der Konfliktfelder, die sich im Gegenüber zu einer oppositionellen Gruppe ergeben. Als Sprecherinstanz für das kollektive Wir fungiert dabei die als autoritative Stimme in einer solchen grundlegenden Orientierungssituation inszenierte Figur des Paulus, in dessen persona das Vermächtnis des ‚Völkerapostels‘ im Disput mit konkurrierenden Positionen bezüglich der soteriologischen Relevanz jüdischer identity marker fortgeschrieben wird. Die in der Brieffiktion ‚erzählte‘ Gefährdung einer Modellgemeinde wirft mit ihrer Gegnerkonstruktion Licht auf Identitätsdiskurse, in denen in Anknüpfung an paulinische Verkündigung die Kriterien für || (dazu van Kooten [2003] 31‒52); das Verb συνδέω, „zusammenbinden“, beschreibt im Timaios das schöpferische Handeln (siehe z.B. das Hendiadyoin in 32b: συνέδησεν καὶ συνεστήσατο; zu Letzterem vgl. Kol 1,17). Für die hinter Kol 2,19 stehende antike Anatomie siehe Tim. 73b–75d. Bei Philon fungiert der Logos als δεσμὸς [...] τῶν ἁπάντων (fug. 112; vgl. plant. 9; außerdem conf. 136). Seneca bezeichnet in clem. 3,2,1 wiederum den Imperator als „Band, durch dessen Macht die Kräfte des Staates zusammenhalten (uinculum cuius ope uires publicae cohaerent)“ (Rosenbach [21995] 5,32/33; Hervorhebungen im Original); siehe auch 1,2,1: A capite bona ualetudo in omnes corporis partes exit; omnia uegeta sunt atque erecta aut languore demissa, prout animus eorum uiuit aut marcet (14). 232 Sonst im NT mit Gott verbunden (siehe bes. Phil 4,7: ἡ εἰρήνη τοῦ θεοῦ) – wie in Kol 1,2; manchmal ist Christus neben dem „Vater“ genannt (z.B. 1 Tim 1,2). Zur Berufung zum Frieden vgl. 1 Kor 7,15. – Vor der Hintergrundfolie der pax Romana (bzw. Augusta) ergeben sich auch Bezüge zur imperialen Ideologie und ihrem ethischen Programm (vgl. dazu Maier [2011]). 233 Das Bild des Schiedsrichters in βραβευέτω, dessen Stelle der personifizierte „Friede Christi“ einnimmt (in Weish 10,12 die σοφία), lässt sich der vorhergehenden Auseinandersetzung mit gegnerischen Richtern (siehe κατα-βραβευέτω in 2,18) entgegensetzen. 234 Freilich ist hier einer letzten Unsicherheit aufgrund des Schwankens zwischen den Pronomina in der Textüberlieferung Rechnung zu tragen.
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Inklusion und Exklusion im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Pluralismus einer hellenistisch-römisch geprägten multikulturellen Welt anders bestimmt werden. Nicht mehr Beschneidung (vgl. 2,11; 3,11) oder Sabbat (2,16) markieren Identität und Differenz der sich mit Rekurs auf den „Willen Gottes“ (1,1.9.27; 4,12) „den Völkern“ (1,27) öffnenden Gruppe, ebensowenig „menschliche“ Vorschriften (2,8.22), was Speisetabus und Kultkalender betrifft (wesentliche Kriterien für jüdische Identität gerade in der Diaspora),235 sondern allein die Verwurzelung (2,7) in Christus.236 Die in der Taufe vermittelte Teilhabe an Jesu Tod und Auferstehung führt zur korporativen Identität als „Leib Christi“, in dem ethnisch-kulturelle und soziale Gegensätze überwunden sind (3,11) – zumindest in der himmlischen „Utopie“ der βασιλεία „des Sohnes“ (1,13)237 bzw. Gottes (4,11)238, die allerdings ethisch-praktische Konsequenzen in der gemeindlichen „Heterotopie“239 (gegenüber der dominierenden Ordnung der „Welt“) als kon-
|| 235 So empfiehlt Tryphon bei Justin klassisch die Beschneidung, die Beobachtung von Sabbat, Festen und Neumonden (vgl. Kol 2,16) sowie generell Gesetzesobservanz: πρῶτον μὲν περιτεμοῦ, εἶτα φύλαξον, ὡς νενόμισται, τὸ σάββατον καὶ τὰς ἑορτὰς καὶ τὰς νουμηνίας τοῦ θεοῦ, καὶ ἁπλῶς τὰ ἐν τῷ νόμῳ γεγραμμένα πάντα ποίει (dial. 8,4). Demgegenüber hatte sein Dialogpartner geraten: πάρεστιν ἐπιγνόντι σοὶ τὸν Χριστὸν τοῦ θεοῦ καὶ τελείῳ γενομένῳ εὐδαιμονεῖν (8,2; Marcovich [1997] 84f.). In dial. 46f. wird verhandelt, inwieweit an Jesus Glaubende „das durch Mose Angeordnete“ halten können (εἰ ἔνεστιν [...] φυλάσσειν τὰ διὰ Μωϋσέως διαταχθέντα ἅπαντα νῦν; 46,2; Marcovich [1997] 144); Tryphon rekurriert konkret auf Sabbat, Beschneidung, die Beobachtung der Monate und Reinheitsvorschriften. In paulinischer Tradition lautet die Bedingung, „die von den Völkern“ nicht dazu zu überreden und exklusivistische Ansprüche aufzugeben: λέγω ὅτι σωθήσεται ὁ τοιοῦτος, ἐὰν μὴ τοὺς ἄλλους ἀνθρώπους, λέγω δὲ τοὺς ἀπὸ τῶν ἐθνῶν [...], ἐκ παντὸς πείθειν ἀγωνίζηται ταὐτὰ αὐτῷ φυλάσσειν, λέγων οὐ σωθήσεσθαι αὐτοὺς ἐὰν μὴ ταῦτα φυλάξωσιν [...] (47,1; Marcovich [1997] 146). Der Dialog spiegelt entsprechende Diskurse des 2. Jh. Für Ignatius, Magn. 10,3 wiederum stellen Christusbekenntnis und jüdische Praxis (ἰουδαΐζειν) unvereinbare Gegensätze dar. 236 Gleichwohl regt das zunächst kultisch-rituelle ‚Vakuum‘ des sich neu konstituierenden ‚Weges‘ dazu an, gefüllt zu werden – und etablierte religiöse, oder eher ethnisch-kulturelle, Traditionen aus dem Umfeld zu übernehmen bzw. beizubehalten. 237 In der futurisch formulierten Eschatologie von 1 Kor 15,24–28 ist demgegenüber Christus die Herrschaft bis zur Unterwerfung der feindlichen Mächte befristet übertragen. 238 Hier verbindet sich die Phrase mit „diesen einzigen Mitarbeitern aus der Beschneidung“ (οἱ ὄντες ἐκ περιτομῆς οὗτοι μόνοι συνεργοὶ εἰς τὴν βασιλείαν τοῦ θεοῦ). 239 Zu den soziologischen Raumkonzepten siehe grundlegend Foucault (2015/1967) 320ff. – Im Unterschied zur temporalen Perspektive in den unumstrittenen Paulusbriefen wird die (vorweggenommene) Zukunftshoffnung auf das neue Leben in der präsentischen Eschatologie des Kol räumlich konzipiert als im Himmel (angesichts der konkreten Erfahrungen einer gottfernen Welt) noch verborgene Wirklichkeit (vgl. 1,5; 2,3; 3,3f.) – die gleichwohl schon in den Kosmos hineinwirkt (siehe 1,6). Zum Bereitliegen (1,5) der Heilsgüter vgl. z.B. 1 Hen 11,1; 25,7; syrBar 4,3.7; 52,7.
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kret erfahrbarem Heilsraum zeitigen soll. Einheit und Zusammenhalt gründen in einer Neuakzentuierung der ekklesiologischen Leibmetapher in Christus als „Haupt“ (siehe bes. 2,19), auch gegenüber entsprechenden Ansprüchen seitens der hellenistisch-römischen Welt.240 In der Konstruktion kollektiver Identität rekurriert der Autor in paulinischer Tradition auf die Kraft oszillierender Bilder, insbesondere auch topologischer und sozial-politischer Metaphern (siehe ebenso die οἶκος-Metaphorik mit Gott als pater familias – und dem Erstgeborenen als κύριος, sowie Paulus als „Verwalter“)241. Abschließend sei im Zusammenhang der Stiftung von Identität und Kohäsion eine spezifische Rolle des Briefes erwähnt. Nachdem das Postskript auf die Verlesung in der Gemeinde zielt (4,16: καὶ ὅταν ἀναγνωσθῇ παρ’ ὑμῖν ἡ ἐπιστολή [...]), kommt ihm gerade hier seine aktuelle gemeinschaftsbildende Funktion zu.242 Ebenso wird auch die im Briefmedium vermittelte Anwesenheit des Adressanten – als spirituelle Präsenz des Paulus (2,5) – durch diesen Akt vergegenwärtigt. Im Kontext der gemeindlichen Versammlung hören die Adressaten von den Gebeten, Lehren und Ermahnungen des Paulus.243 Die Aufforderung zur Weitergabe des Briefs an die Gemeinde in Laodizea sowie zum gegenseitigen Austausch der jeweils erhaltenen Schreiben (4,16)244 visiert darüber hinaus eine diesbezügliche Vernetzung ‚paulinischer‘ Gemeinden an. So wird die paulinische Traditions- und Rezeptionsgemeinschaft gewissermaßen als reading community konstituiert.245 Die Korrespondenz fungiert als Kommunikationsmedium, welches die Bindung der adressierten Gemeinden mit dem im Namen des Paulus firmierenden Adressantenkreis aufrecht erhält und so korporative Identität vermittelt.
|| 240 Dabei birgt die kosmische Christozentrik ebenso die Tendenz universalistischer Vereinnahmung. Schließlich soll „alles“, ob Wort oder Werk, die Signatur des Namens κυρίου Ἰησοῦ tragen (3,17). 241 Zum Bildfeld von „Haus“ und „Familie“ im Kol siehe Heininger (2009) 57–64. 242 Vgl. 1 Thess 5,27. – Auf diese Weise kann auch ὁ λόγος τοῦ Χριστοῦ in der Gemeinde „einwohnen“, wie Kol 3,16 formuliert, wo neben Belehrung und Ermahnung „in aller Weisheit“ auch zum Singen von Psalmen, Hymnen und geistinspirierten Liedern (wie in 1,12‒20?) aufgefordert wird. 243 Vgl. Betz (1995) 515; 517. 244 [...] ποιήσατε ἵνα καὶ ἐν τῇ Λαοδικέων ἐκκλησίᾳ ἀναγνωσθῇ, καὶ τὴν ἐκ Λαοδικείας ἵνα καὶ ὑμεῖς ἀναγνῶτε. 245 Dabei handelt es sich zunächst um ein von der Textwelt entworfenes Konstrukt. Ob dieses Bild einer nach dem Tod des Apostels auf (Brief-)Texten, die das paulinische Erbe bewahren, basierenden gemeinsamen Identität historischen Gegebenheiten entspricht, bleibt angesichts der Fragen um deren Verbreitung und Verfügbarkeit in dieser Phase auch weiterhin zu diskutieren. Gleichwohl reflektiert und propagiert der Kol paulinische Traditionsbildung.
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324 | Andrea Taschl-Erber
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Identitätspolitische Rhetorik. Der Brief „an die Heiligen in Kolossä“ | 325
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328 | Andrea Taschl-Erber
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Stephan Witetschek
Offenbarung im Brief Zur Medialität der Johannesapokalypse im Kontext neutestamentlicher Epistolographie
1 Allgemeines zur neutestamentlichen Briefliteratur Von den 27 Schriften des neutestamentlichen Kanons werden 21 gewöhnlich als Briefe bezeichnet.1 Dieses Schlaglicht zeigt bereits, welche Bedeutung briefliche Kommunikation in der Anfangszeit des Christentums besaß.2 Am Anfang dieses Trends steht – chronologisch wie sachlich – Paulus. Sein Briefverkehr3 war für die christliche Epistolographie stilbildend. In der neutestamentlichen Briefliteratur nimmt das Corpus Paulinum4 mit 13 bzw. 14 Schriften den meisten Raum ein.
1.1 Paulus als Briefautor Die Innovationsleistung des Paulus zeigt sich bereits in den Präskripten seiner Briefe. Paulus hat das konventionelle Formular nach dem Muster ὁ δεῖνα τῷ δεῖνι χαίρειν jeweils zu einem theologisch aussagekräftigen Statement umge-
|| 1 Ob der Hebräerbrief und der 1. Johannesbrief – unbeschadet ihrer traditionellen Bezeichnungen – formal wirklich als Briefe gelten können, ist zumindest eine diskussionswürdige Frage. Andererseits weist die Johannesapokalypse zumindest einige briefliche Formmerkmale auf, die weiter unten (2.) zu besprechen sind. 2 Vgl. in diesem Sinne auch März (2007) 107. Für einen Überblick bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr. vgl. z.B. Bauer (2011) 71–76. 3 Zur chronologischen Reihenfolge der Paulusbriefe, wie sie in den Tabellen 1 und 2 vorausgesetzt wird, vgl. Witetschek (2008) 174–207. 4 Dieser Begriff umfasst alle Briefe, die unter dem Namen des Paulus im neutestamentlichen Kanon stehen. Manchmal wird auch der Hebräerbrief dazugezählt. Der Begriff Corpus Paulinum beschreibt den kanonischen Befund und vermeidet so eine literarkritische Positionierung in der Frage nach Pseudepigraphie oder sekundären Kompilationen einzelner Briefe.
https://doi.org/10.1515/9783110676303-013
330 | Stephan Witetschek
formt (die Übersicht in Tabelle 1 erfasst diejenigen Briefe, die in der Forschung gemeinhin als von Paulus selbst verfasst gelten5).6 Tabelle 1 superscriptio
adscriptio
1 Thess 1,1
Παῦλος καὶ Σιλουάνος καὶ Τιμόθεος
τῇ ἐκκλησίᾳ χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη. Θεσσαλονικέων ἐν θεῷ πατρὶ καὶ κυρίῳ Ἰησοῦ Χριστῷ,
Phil 1,1f.
1
Παῦλος καὶ Τιμόθεος δοῦλοι Χριστοῦ Ἰησοῦ
2 πᾶσιν τοῖς ἁγίοις ἐν χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη Χριστῷ Ἰησοῦ τοῖς οὖσιν ἐν ἀπὸ θεοῦ πατρὸς καὶ Φιλίπποις σὺν ἐπισκόποις κυρίου Ἰησοῦ Χριστοῦ. καὶ διακόνοις,
Phlm 1–3
1
Φιλήμονι τῷ ἀγαπητῷ καὶ συνεργῷ ἡμῶν 2 καὶ Ἀπφίᾳ τῇ ἀδελφῇ καὶ Ἀρχίππῳ τῷ συστρατιώτῃ ἡμῶν καὶ τῇ κατ᾿ οἶκόν σου ἐκκλησίᾳ,
1 Kor 1,1–3
1
2 Kor 1,1f.
1
Παῦλος ἀπόστολος Χριστοῦ Ἰησοῦ διὰ θελήματος θεοῦ καὶ Τιμόθεος ὁ ἀδελφὸς
2 τῇ ἐκκλησίᾳ τοῦ θεοῦ χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη τῇ οὔσῃ ἐν Κορίνθῷ σὺν ἀπὸ θεοῦ πατρὸς ἡμῶν τοῖς ἁγίοις πᾶσιν τοῖς οὖσιν καὶ κυρίου Ἰησοῦ ἐν ὅλῃ τῇ Ἀχαΐᾳ, Χριστοῦ.
Gal 1,1–5
1
ταῖς ἐκκλησίαις τῆς Γαλατίας,
Παῦλος δέσμιος Χριστοῦ Ἰησοῦ καὶ Τιμόθεος ὁ ἀδελφός
salutatio
3
χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη ἀπὸ θεοῦ πατρὸς ἡμῶν καὶ κυρίου Ἰησοῦ Χριστοῦ.
Παῦλος κλητὸς ἀπόστολος 2 τῇ ἐκκλησίᾳ τοῦ θεοῦ τῇ 3 χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη Χριστοῦ Ἰησοῦ διὰ οὐσῃ ἐν Κορίνθῳ, ἀπὸ θεοῦ πατρὸς ἡμῶν θελήματος θεοῦ καὶ ἡγιασμένοις ἐν Χριστῷ καὶ κυρίου Ἰησοῦ Σωσθένης ὁ ἀδελφὸς Ἰησοῦ, κλητοῖς ἁγίοις, σὺν Χριστοῦ. πᾶσιν τοῖς ἐπικαλουμένοις τὸ ὄνομα τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ ἐν πάντι τόπῷ, αὐτῶν καὶ ἡμῶν·
Παῦλος ἀπόστολος οὐκ ἀπ᾿ ἀνθρώπων οὐδὲ δι᾿ ἀνθρώπου ἀλλὰ διὰ Ἰησοῦ Χριστοῦ καὶ θεοῦ πατρὸς τοῦ ἐγείραντος αὐτὸν ἐκ
3
χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη ἀπὸ θεοῦ πατρὸς ἡμῶν καὶ κυρίου Ἰησου Χριστοῦ 4 τοῦ δόντος ἑαυτὸν ὑπὲρ τῶν
|| 5 Zum Problem der Paulus-Pseudepigraphie s.u. 6 Mit Bauer (2011) 79–81 wird man davon Abstand nehmen dürfen, die spezifischen Abweichungen bei Paulus mit dem Einfluss eines ‚semitischen‘ Briefformulars zu erklären.
Offenbarung im Brief | 331
superscriptio
adscriptio
2
Röm 1,1–7
salutatio
νεκρῶν, καὶ οἱ σὺν ἐμοὶ πάντες ἀδελφοὶ
ἁμαρτιῶν ἡμῶν, ὅπως ἐξέληται ἡμᾶς ἐκ τοῦ αἰῶνος τοῦ ἐνεστῶτος πονηροῦ κατὰ τὸ θέλημα τοῦ θεοῦ καὶ πατρὸς ἡμῶν, 5 ᾧ ἡ δόξα εἰς τοὺς αἰῶνας τῶν αἰώνων, ἀμήν.
1
χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη ἀπὸ θεοῦ πατρὸς ἡμῶν καὶ κυρίου Ἰησοῦ Χριστοῦ.
7 Παῦλος δοῦλος Χριστοῦ πᾶσιν τοῖς οὖσιν ἐν Ῥώμῃ Ἱησοῦ, κλητὸς ἀπόστολος ἀγαπητοῖς θεοῦ, κλητοῖς ἀφωρισμένος εἰς ἁγίοις, εὐαγγέλιον θεοῦ, 2 ὃ προεπηγγείλατο διὰ τῶν προφητῶν αὐτοῦ ἐν γραφαῖς ἁγίαις 3 περὶ τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ τοῦ γενομένου ἐκ σπέρματος Δαυὶδ κατὰ σάρκα, 4 τοῦ ὁρισθέντος υἱοῦ θεοῦ ἐν δυνάμει κατὰ πνεύμα ἁγιωσύνης ἐξ ἀναστάσεως νεκρῶν, Ἰησοῡ Χριστοῦ τοῦ κυρίου ἡμῶν, 5 δι᾿ οὗ ἐλάβομεν χάριν καὶ ἀποστολὴν εἰς ὑπακοὴν πίστεως ἐν πάσιν τοῖς ἔθνεσιν ὑπὲρ τοῦ ὀνόματος αὐτοῦ, 6 ἐν οἷς ἐστε καὶ ὑμεῖς κλητοὶ Ἰησοῦ Χριστοῦ,
Besonders auffällig ist, dass Paulus die konventionelle salutatio χαίρειν durch den stereotypen Segenswunsch χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη ersetzt hat.7 Die phonetische und etymologische Nähe von χαίρω und χάρις hat diese Umgestaltung sicher erleichtert. Die so entstandene Formel, gewissermaßen ein Markenzeichen des Briefautors Paulus, könnte nun darauf hindeuten, dass diese Briefe nicht ‚nur‘ ‚profane‘ Kommunikationsmittel waren, sondern gezielt für die Ver-
|| 7 Im Laufe seines Wirkens hat Paulus die Formel weiterentwickelt: Im Präskript zum 1. Thessalonicherbrief schrieb er nur χάρις ὑμῖν καί εἰρήνη, später ging er dazu über, auch die Quelle von Gnade und Friede zu nennen: χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη ἀπὸ θεοῦ πατρὸς (ἡμῶν) καί κυρίου Ἰησοῦ Χριστοῦ.
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lesung im Gottesdienst gedacht.8 Immerhin richten sich die meisten der erhaltenen Briefe mit diesem Präskript an Gemeinden oder Gemeindeverbände. Der Philemonbrief ist dabei ein interessanter Sonderfall. Im Briefcorpus wendet sich Paulus zwar an Philemon als Einzelperson, aber das Präskript richtet sich dennoch an eine Gruppe:9 Neben Apphia und Archippos ist die ganze Gemeinde in Philemons Haus angesprochen (Phlm 2: καὶ τῇ κατ᾿ οἶκόν σου ἐκκλησίᾳ). Damit sind alle erhaltenen Paulusbriefe formal an Gruppen adressiert, und auch die allem Anschein nach verlorenen Briefe, die Paulus in seiner Korrespondenz mit der Gemeinde in Korinth erwähnt, waren wohl Schreiben an Gruppen.10 Auf der anderen Seite ist aber auch der Briefautor Paulus nicht als einsames Genie vorzustellen. Die Präskripte seiner Briefe nennen meistens Mitabsender bzw. Mitautoren:11 In 1 Thess 1,1 schreibt das Trio Paulus, Silvanus und Timotheos, in Phil 1,1, Phlm 1 und 2 Kor 1,1 firmieren Paulus und Timotheos als Absender, in 1 Kor 1,1 schreiben Paulus und Sosthenes, in Gal 1,1f. verantwortet nicht nur Paulus den Brief, sondern auch „alle Schwestern und Brüder bei mir“.12 Nur im anderweitig sehr umfangreichen Präskript des Römerbriefes tritt
|| 8 Vgl. Bauer (2011) 94. Noch pointierter Ebner (2017) 29–36: Die eigentümliche salutatio erkläre sich aus der Performanz der Paulusbriefe. Mit ihr beginne der Sprechpart des Paulus, vermittelt durch die Stimme des Vorlesers. 9 Vgl. dazu Bauer (2011) 123–125. 10 In 1 Kor 5,9 behauptet Paulus, er habe den korinthischen Christen (ὑμῖν) „im Brief“ geschrieben, sie sollten sich nicht mit πόρνοι gemein machen. Hier kann das Verb ἔγραψα kein Briefaorist sein, weil Paulus im unmittelbaren Kontext diese kategorische Aussage etwas modifiziert. Demnach spricht er in 1 Kor 5,9 von einem Brief an die Christen in Korinth, der heute nicht mehr erhalten ist. Etwas komplizierter ist die Lage im Blick auf den so genannten ‚Tränenbrief‘, von dem Paulus in 2 Kor 2,3f.; 7,8.12 spricht (2,4: ἐκ γὰρ πολλῆς θλίψεως καὶ συνοχῆς καρδίας ἔγραψα ὑμῖν διὰ πολλῶν δακρύων, ... – ebenfalls schwerlich ein Briefaorist). Manche Ausleger nehmen an, dass dieser Brief in 2 Kor 10–13 erhalten sei – so etwa Conzelmann/Lindemann (142004) 272. Dagegen spricht jedoch, dass Paulus sich in 2 Kor 10–13 mit einer Gruppe von Gegnern (den „Überaposteln“) auseinandersetzt, während der ‚Tränenbrief‘ allem Anschein nach den Konflikt mit einem Einzelnen (2 Kor 2,7; 7,8) zum Gegenstand hat. M.E. ist daher auch dieser ‚Tränenbrief‘ nicht im Corpus Paulinum erhalten, sondern ist heute verloren – die Korinther dürften ihre Gründe gehabt haben, ihn nicht aufzubewahren und schon gar nicht zu überliefern. 11 Vgl. dazu auch Bauer (2011) 79f.; 123. 12 Das mag seinen Grund in der konfliktbeladenen Situation des Galaterbriefes haben: Paulus, dessen Stellung gegenüber den Gemeinden und Rang als Apostel in Frage stand (vgl. schon Gal 1,1 – für eine etwas andere Auslegung vgl. Bauer [2011] 201f.; 214f.) tat wohl gut daran, seinen Adressaten in Galatien zumindest zu suggerieren, dass er andernorts volle Unterstützung hatte. Zur Diskussion vgl. auch Bauer (2011) 216f.
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Paulus als Einzelperson ohne Mitabsender auf.13 Freilich ist damit noch nicht gesagt, welche Rolle die Mitabsender jeweils spielten. Denkbar wäre freilich, dass Paulus – zumindest manchmal – den Inhalt seiner Briefe mit ihnen diskutierte. Früher wurde auch erwogen, dass zumindest manche Passagen der Paulusbriefe aus Diskussionen innerhalb einer ‚Paulusschule‘ hervorgegangen sein könnten.14 Unabhängig von der Frage nach einer ‚Paulusschule‘ ist aber der Befund, dass Paulus seine Briefe in der Regel diktierte. Am Schluss des Römerbriefes (Röm 16,22) meldet sich ein gewisser Tertius zu Wort, „der den Brief geschrieben hat“. In den anderen Briefen findet sich zwar kein so direkter Hinweis auf einen Schreiber, doch Paulus hebt gelegentlich hervor, dass er etwa den Briefschluss eigenhändig geschrieben hat (1 Kor 16,21; Gal 6,1115), auch die verbindliche Zusage, (entstandenen Schaden) zurückzuzahlen (Phlm 19), schreibt Paulus betont eigenhändig.16 Demnach war es für Paulus etwas Besonderes, Erwähnenswertes, wenn er mit eigener Hand Tinte auf Papyrus brachte. Der Regelfall war anscheinend das Diktat an einen versiert(er)en Schreiber. Am Schluss seiner Briefe weicht Paulus ebenfalls vom konventionellen Briefformular ab. Die Schlussformulierungen seiner (erhaltenen) Briefe beziehen sich nicht auf Gesundheit und Wohlergehen der Adressaten (so z.B. das konventionelle ἔρρωσο bzw. ἔρρωσθε),17 sondern er wünscht den Adressaten || 13 Auch das hat sicher seine pragmatischen Gründe: Abgesehen davon, dass eventuelle Mitarbeiter den Christen in Rom kaum bekannt gewesen sein dürften, wollte Paulus anscheinend als Einzelperson nach Rom kommen. Seine Reisepläne in Röm 15,22–29 formuliert er jedenfalls in der 1. Person Singular. 14 Vgl. dazu etwa Conzelmann (1966) v.a. 240f. Conzelmann wollte den wenig zielführenden Gedankengang in 1 Kor 11,2–16 damit erklären, dass hier erst einzelne Mitglieder der ‚Paulusschule‘ ihre Voten abgegeben hätten, bevor Paulus selbst in 11,13–16 autoritativ die Diskussion beendet hätte. Diese Vorstellung stützte sich jedoch nicht auf klare Textsignale, sondern war wohl vor allem von dem Wunsch bestimmt, Paulus von der etwas verwirrenden Gedankenführung in 11,2–16 zu entlasten. Zur Kritik an der Vorstellung einer ‚Paulusschule‘ vgl. etwa Witetschek (2017) 269–279. 15 Gal 6,11: „Seht, mit wie großen Buchstaben ich euch geschrieben habe mit meiner Hand.“ Vgl. dazu z.B. Bauer (2011) 241‒245. 372f. Der Verweis auf das grobschlächtige Schriftbild weist wohl darauf hin, dass Paulus, so geübt er im Formulieren war, wenig Praxis darin hatte, eigenhändig zu schreiben (Anders Bauer [2011] 245: Die Größe der Buchstaben solle dem Geschriebenen Nachdruck verleihen). 16 Vgl. Bauer (2011) 127f. Skeptisch – mit Verweis auf erhaltene Briefe, in denen eine ähnliche Wendung nicht mit einem Schreiberwechsel einhergeht – Arzt-Grabner (2003) 242f. 17 Diesen Briefschluss finden wir im neutestamentlichen Kanon nur in Apg 15,29, wo innerhalb der Erzählung das ‚Aposteldekret‘ in einem Brief der Apostel und Ältesten in Jerusalem an die Christen in Antiocheia, Syrien und Kilikien (Apg 15,23–29) wiedergegeben wird.
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durchweg die Gnade (χάρις) des Herrn Jesus Christus (siehe die Übersicht in Tabelle 2). Tabelle 2 1 Thess 5,28
ἡ χάρις τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ
Phil 4,23
ἡ χάρις τοῦ κυρίου Ἰησοῦ μετὰ τοῦ πνεύματος Χριστοῦ ὑμῶν.
Phlm 25
ἡ χάρις τοῦ κυρίου Ἰησοῦ μετὰ τοῦ πνεύματος Χριστοῦ ὑμῶν.
1 Kor 16,23f.
23
2 Kor 13,13
ἡ χάρις τοῦ κυρίου Ἰησοῦ μετὰ πάντων ὑμῶν. Χριστοῦ καὶ ἡ ἀγάπη τοῦ θεοῦ καὶ ἡ κοινωνία τοῦ ἁγίου πνεύματος
Gal 6,18
ἡ χάρις τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ
μετὰ τοῦ πνεύματος ὑμῶν, ἀδελφοί·
Röm 16,20
ἡ χάρις τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ
μεθ᾿ ὑμῶν.
ἡ χάρις τοῦ κυρίου Ἰησοῦ
μεθ᾿ ὑμῶν.
μεθ᾿ ὑμῶν.
24
ἡ ἀγάπη μου μετὰ πάντων ὑμῶν ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ.
ἀμήν.
1.2 Rezipienten und Rezeption Am Schluss der Paulusbriefe finden sich in der Regel Grußlisten. Einerseits lässt Paulus Christinnen und Christen am Zielort grüßen (1 Thess 5,26;18 Phil 4,21; Röm 16,3–16;19 ähnlich 1 Kor 16,15–18), andererseits – und wesentlich häufiger – übermittelt er Grüße aus seinem Umfeld, sei es global von „allen“ (Phil 4,22; 1 Kor 16,20; 2 Kor 13,12), sei es von namentlich genannten Dritten (Phlm 23f.; 1 Kor 16,19; Röm 16,21–23). Das ist keineswegs eine Eigenheit des Briefautors Paulus20 und angesichts der Unwägbarkeiten, denen briefliche Kommunikation in der Antike ausgesetzt war, nur zu verständlich. Zugleich zeigen die Grußlisten aber || 18 Ähnlich wie bei 1 Kor 16,20; 2 Kor 13,12, kann man fragen, ob es sich hier wirklich um einen Gruß an Dritte („alle Schwestern und Brüder“) handelt, oder nicht vielmehr um die Aufforderung zu einer bestimmten liturgischen Praxis („heiliger Kuss“). 19 Diese Grußliste ist die wichtigste Quelle für die Frühgeschichte des Christentums in Rom. 20 Vgl. etwa Deißmann (41923) 148 Anm. 15; Klauck (1998) 39f.; Klauck (2006) 24f.
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auch, wie Paulus in seiner Korrespondenz ein über-örtliches Netzwerk pflegte.21 Diese überörtliche Vernetzung beschränkte sich allerdings nicht auf Paulus allein als Bezugspunkt mehrerer Gemeinden. Auch die Christen in den von Paulus angeschriebenen Gemeinden scheinen sich als Angehörige eines größeren Netzwerkes verstanden zu haben. Schon die Briefadressen zeigen, dass Paulus über die einzelnen Orte und Gemeindeversammlungen hinaus dachte: Der Galaterbrief richtet sich von vornherein an mehrere Gemeinden in einem größeren Gebiet (Γαλατία),22 und den zweiten Korintherbrief schrieb Paulus ausweislich des Präskripts nicht nur an Christen in Korinth, sondern an „alle Heiligen, die in ganz Achaia sind“ (2 Kor 1,1). Gerade in seiner Korinther-Korrespondenz konnte Paulus auch die Praxis aller (ihm bekannten) Gemeinden als Argument gegen korinthische Sonderwege ins Feld führen (1 Kor 11,16; 14,33b[?]) oder das Forum aller Gemeinden zur Unterstützung seiner Autorität heranziehen (2 Kor 8,18f.23f; 11,28). Besonders aufschlussreich für die Erstrezeption der Paulusbriefe ist jedoch 1 Thess 5,27: „Ich beschwöre euch beim Herrn, dass der Brief (vor)gelesen werde allen Schwestern und Brüdern.“23 Diese Aufforderung im vorletzten Satz des Ersten Thessalonicherbriefes setzt selbstverständlich voraus, dass der Brief, an eine Gruppe adressiert (1 Thess 1,1), auch der ganzen versammelten Gruppe vorgelesen wird. Die Rede von „allen Schwestern und Brüdern“24 deutet freilich noch eine weitere Rezeptionsrichtung an. Gewiss kann man die Formulierung so verstehen, dass alle Mitglieder der angeschriebenen Gemeinde bei der Verlesung anwesend sein sollen. Zugleich lässt die Formulierung aber auch schon an eine Verbreitung des Briefes über seinen ursprünglichen Rezeptionskontext in Thessalonike hinaus denken – und damit an einen Austausch von Briefen.25 || 21 Für den Röm 16,3–16 spricht man wohl besser davon, dass Paulus ein Netzwerk aufzubauen bzw. zu aktivieren trachtete, um für seine geplante Reise nach Spanien (vgl. Röm 15,22–29) Unterstützung zu gewinnen. 22 In der Forschung wird diskutiert, ob sich diese geographische Bezeichnung auf die kaiserzeitliche (Groß-)Provinz Galatia beziehe (diese würde auch Gebiete einschließen, in denen Paulus nach Apg 13f auf seiner „ersten Missionsreise“ Gemeinden gegründet hat), oder auf die Landschaft Galatien als Siedlungsgebiet keltischer Stämme (dann würde die Invektive Ὦ ἀνόητοι Γαλάται in Gal 3,1 besser funktionieren). Zur Diskussion vgl. z.B. Conzelmann/Lindemann (142004) 241f.; Theobald (22013) 356–361. 23 1 Thess 5,27: Ἐνορκίζω ὑμᾶς τὸν κύριον ἀναγνωσθῆναι τὴν ἐπιστολὴν πᾶσιν τοῖς ἀδελφοῖς. 24 πᾶσιν τοῖς ἀδελφοῖς: Der maskuline Plural ἀδελφοί schließt auch Schwestern (ἀδελφαί) ein. 25 Vgl. dazu z.B. auch Bauer (2011) 77f. 394–396. Dass Paulus großen Wert auf briefliche Kommunikation legte, scheint unter zeitgenössischen Christen weithin bekannt gewesen zu sein; der Spott seiner Gegner, den Paulus in 2 Kor 10,10 wiedergibt, basiert auf diesem Gemein-
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Explizit wird dies allerdings erst26 im Kolosserbrief, an dessen Ende ein Austausch von Paulusbriefen zwischen den Gemeinden in Kolossai und in Laodikeia angemahnt wird: „[…] und wenn der Brief bei euch gelesen wird, sorgt dafür, dass er auch in der Gemeinde der Laodizener gelesen wird, und dass auch ihr den aus Laodikeia lest“ (Kol 4,16).27 Hier begegnen wir einer Praxis, die im frühen Christentum ‚Schule machte‘28 und die unter anderem zur Sammlung der Paulusbriefe und zur Entstehung des Corpus Paulinum führte, wie wir es heute im Neuen Testament vorfinden.
1.3 Neutestamentliche Epistolographie nach und neben Paulus Der Hinweis auf die mögliche Rezeption über die explizit angeschriebenen Adressaten hinaus berührt einen weiteren Fragenkomplex, der für das Verständnis der Paulusbriefe von großer Bedeutung ist: Insofern die Paulusbriefe Teil des neutestamentlichen Kanons sind – also Teil des Textcorpus, dem christliche Kirchen als ‚Heiliger Schrift‘ normative und formative Bedeutung zuschreiben – , sollen sie Leserinnen und Lesern zu allen Zeiten ‚etwas zu sagen haben‘. Andererseits erscheinen sie aber als kontingente Gelegenheitsschriften, mit denen Paulus in sehr konkreten Situationen und – meistens – Konflikten Stellung bezieht. Zuweilen erscheinen die Gedankengänge gar als work in progress, so etwa 1 Kor 1,14–16 oder 1 Kor 11,2–16 – der Gedankengang mitsamt seinen Verwicklungen scheint unmittelbar niedergeschrieben zu sein.29 Die Kontingenz dieser Briefe mag für ihre Rezeption als Teil der Heiligen Schrift eine Herausforderung darstellen.30 Gleichwohl ist aber zu würdigen, dass es Paulus in den || platz. 2 Thess 2,2 setzt schon voraus, dass – echte und gefälschte – Paulusbriefe kursierten; vgl. auch 2 Petr 3,15f. 26 Der Kolosserbrief gilt in der Forschung weithin als deuteropaulinisches Schreiben, also als ein Brief, den ein späterer Autor unter dem Namen des Paulus verfasst hat. 27 Kol 4,16: καὶ ὅταν ἀναγνωσθῇ παρ᾿ ὑμῖν ἡ ἐπιστολή, ποιήσατε ἵνα καὶ ἐν τῇ Λαοδικέων ἐκκλησίᾳ ἀναγηωσθῇ, καὶ τὴν ἐκ Λαοδικείας ἵνα καὶ ὑμεῖς ἀναγνῶτε. 28 Vgl. dazu auch z.B. Bauer (2011) 78. 29 Anders März (2007) 110, der aus der Mitwirkung eines Sekretärs deduziert, dass die Briefe gründlich elaboriert seien. Auch nach Bauer (2011) 372–378 ist anzunehmen, dass Paulus z.B. den Galaterbrief nicht in einem Zug diktiert und abgeschickt, sondern seine Argumentation überlegt entwickelt hat. Der Situationsgebundenheit der Paulusbriefe tut dies aber keinen Abbruch. 30 Adolf Deißmann (41923) 193–206 betonte mit größtem Nachdruck den Charakter der Paulusbriefe als „echte Briefe“, also unliterarische Gelegenheitsschriften, im Unterschied zu „Epis-
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erhaltenen Briefen gelungen ist, auch über die konkrete Situation hinaus Gültiges und Wegweisendes zu sagen,31 sodass es auch inhaltlich gute Gründe gab, seine Briefe aufzubewahren, abzuschreiben, vielleicht zu kompilieren32 und zu verbreiten. Die Sammlung und Weiterverbreitung der Paulusbriefe war also ein sehr wesentliches Element der Erinnerung an Paulus, den Briefschreiber. Die frühchristliche Erinnerung an Paulus beschränkte sich aber keineswegs darauf. Innerhalb des neutestamentlichen Corpus Paulinum finden sich auch Briefe, die zwar unter dem Namen des Paulus firmieren, deren Form und Inhalt aber in der Forschung weithin Anlass zu der Annahme geben, dass Paulus nicht ihr Verfasser ist.33 Nach verbreiteter Ansicht handelt es sich um den Epheserbrief, den Kolosserbrief, den 2. Thessalonicherbrief und die Pastoralbriefe (erster und zweiter Timotheusbrief und Titusbrief); der Hebräerbrief hat im Corpus Paulinum ohnehin eine Sonderstellung.34 In Tabelle 3 ist zu sehen, wie in diesen Briefen das geradezu standardisierte Briefpräskript des Paulus weitgehend übernommen, aber zuweilen auch charakteristisch abgewandelt wird; als Vergleichsgröße mögen die Präskripte des 2. Korintherbriefes (2 Kor 1,1–2)35 und des Philemonbriefes (Phlm 1–3)36 dienen:
|| teln“ also literarischen Kunstschriften. Zu letzteren zählte er im Neuen Testament nur den Hebräerbrief, den Jakobusbrief, die beiden Petrusbriefe, den 1. Johannesbrief, den Judasbrief und die Johannesapokalypse (vgl. ebd., 206–208). Es muss indes als fraglich gelten, ob die Paulusbriefe mit ihrer doch meistens relativ elaborierten Sprache und Argumentation mit den von Deißmann (ebd., 119–193) besprochenen dokumentarischen Briefen bzw. Briefchen auf Papyrus in eine Reihe zu stellen sind. Zur Kritik daran vgl. etwa Bauer (2011) v.a. 396–418. 31 Das beste Beispiel ist wohl 2 Kor 1–7. 32 Speziell für den Philipperbrief und den zweiten Korintherbrief wird in der Forschung zuweilen angenommen, dass sie in ihrer jetzigen Gestalt Kompilationen von mehreren ursprünglich selbständigen Schreiben an die fraglichen Gemeinden seien; vgl. dazu Klauck (2003); Schmeller (2004). 33 Zum Folgenden vgl. auch Conzelmann/Lindemann (142004) 289f.; Klauck (1998) 301–306; Klauck (2006) 399–406; Schreiber (22013) 264–267. 34 Vgl. dazu die Beiträge in Ebner/Schreiber (Hgg.) (22013) 414–501. Der Hebräerbrief erhebt selbst gar nicht den Anspruch, von Paulus verfasst zu sein. Nur die Schlussnotiz mit Verweis auf den Paulus-Mitarbeiter Timotheos (Hebr 13,23) suggeriert eine Beziehung zum paulinischen Traditionsbereich. 35 Das Präskript des zweiten Korintherbriefes zeigt die Form, die Paulus im Laufe seines epistolographischen Wirkens gefunden hat, es ist aber nicht so situationsbedingt erweitert wie das des Galaterbriefes und des Römerbriefes. 36 Da die Pastoralbriefe (1 Tim, 2 Tim, Tit) sich nicht an Gemeinden, sondern an Einzelpersonen richten, ist der Philemonbrief die nächstliegende Vergleichsgröße unter den unstrittig echten Paulusbriefen.
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Tabelle 3 superscriptio
adscriptio
salutatio
Briefe an Gemeinden 2 Kor 1,1f.
1
Παῦλος ἀπόστολος Χριστοῦ Ἰησοῦ διὰ θελήματος θεοῦ καὶ Τιμόθεος ὁ ἀδελφὸς
τῇ ἐκκλησίᾳ τοῦ θεοῦ τῇ οὔσῃ ἐν Κορίνθῷ σὺν τοῖς ἁγίοις πᾶσιν τοῖς οὖσιν ἐν ὅλῃ τῇ Ἀχαΐᾳ,
2
Eph 1,1f.
1
Παῦλος ἀπόστολος Χριστοῦ Ἰησοῦ διὰ θελήματος θεοῦ
τοῖς ἁγίοις τοῖς οὖσιν [ἐν Ἔφέσῳ] καὶ πιστοῖς ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ,
2
Kol 1,1f.
1
Παῦλος ἀπόστολος Χριστοῦ Ἰησοῦ διὰ θελήματος θεοῦ καὶ Τιμόθεος ὁ ἀδελφὸς
2
χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη ἀπὸ θεοῦ πατρὸς ἠμῶν.
2 Thess 1,1f.
1
2 τῇ ἐκκλησίᾳ χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη Θεσσαλονικέων ἐν θεῷ ἀπὸ θεοῦ πατρὸς [ἡμῶν] πατρὶ ἡμῶν καὶ κυρίῳ Ἰησοῦ καὶ κυρίου Ἰησοῦ Χριστῷ, Χριστοῦ.
Παῦλος καὶ Σιλουανὸς καὶ Τιμόθεος
τοῖς ἐν Κολοσσαῖς ἁγίοις καὶ πιστοῖς ἀδελφοῖς ἐν Χριστῷ,
χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη ἀπὸ θεοῦ πατρὸς ἡμῶν καὶ κυρίου Ἰησοῦ Χριστοῦ. χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη ἀπὸ θεοῦ πατρὸς ἡμῶν καὶ κυρίου Ἰησοῦ Χριστοῦ.
Briefe an Einzelpersonen Phlm 1–3
1
3 Παῦλος δέσμιος Χριστοῦ Φιλήμονι τῷ ἀγαπητῷ καὶ χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη Ἰησοῦ καὶ Τιμόθεος ὁ συνεργῷ ἡμῶν 2 καὶ Ἀπφίᾳ ἀπὸ θεοῦ πατρὸς ἡμῶν ἀδελφός τῇ ἀδελφῇ καὶ Ἀρχίππῳ τῷ καὶ κυρίου Ἰησοῦ συστρατιώτῃ ἡμῶν καὶ Χριστοῦ. τῇ κατ᾿ οἶκόν σου ἐκκλησίᾳ,
1 Tim 1,1f.
1
Παῦλος ἀπόστολος Χριστοῦ Ἰησοῦ κατ᾿ ἐπιταγὴν θεοῦ σωτῆρος ἡμῶν καὶ Χριστοῦ Ἰησοῦ τῆς ἐλπίδος ἡμῶν
Τιμοθέῳ γηνσίῳ τέκνῳ ἐν πίστει,
2
2 Tim 1,1f.
1
2
χάρις ἔλεος εἰρήνη ἀπὸ θεοῦ πατρὸς καὶ Χριστοῦ Ἰησοῦ τοῦ κυρίου ἡμῶν.
Tit 1,1–4
1
Παῦλος ἀπόστολος Χριστοῦ Ἰησοῦ διὰ θελήματος θεοῦ κατ᾿ ἐπαγγελίαν ζωῆς τῆς ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ
Τιμοθέῳ ἀγαπητῷ τέκνῳ
4 Παῦλος δοῦλος θεοῦ, Τίτῳ γηνσίῳ τέκνῳ κατὰ ἀπόστολος δὲ Ἰησοῦ κοινὴν πίστιν, Χριστοῦ κατὰ πίστιν ἐκλεκτῶν θεοῦ καὶ ἐπίγνωσιν ἀληθείας τῆς κατ᾿ εὐσέβειαν 2 ἐπ᾿ ἐλπίδι ζωῆς αἰωνίου, ἣν
χάρις ἔλεος εἰρήνη ἀπὸ θεοῦ πατρὸς καὶ Χριστοῦ Ἰησοῦ τοῦ κυρίου ἡμῶν.
χάρις καὶ εἰρήνη ἀπὸ θεοῦ πατρὸς καὶ Χριστοῦ Ἰησοῦ τοῦ σωτήρος ἡμῶν.
Offenbarung im Brief | 339
superscriptio
adscriptio
salutatio
ἐπηγγείλατο ὁ ἀψευδὴς θεὸς πρὸ χρόνων αἰωνίων, 3 ἐφανέρωσεν δὲ καιροῖς ἰδίοις τὸν λόγον αὐτοῦ ἐν κηρύγματι, ὃ ἐπιστεύθην ἐγὼ κατ᾿ ἐπιταγὴν τοῦ σωτήρος ἡμῶν θεοῦ,
Die Präskripte des Epheser- und Kolosserbriefes lehnen sich sehr stark an das paulinische Standardformular an, wie es im zweiten Korintherbrief begegnet. Das Präskript des 2. Thessalonicherbriefes ist hingegen maßgeblich von dem des ersten Thessalonicherbriefes bestimmt; die Unterschiede zum Präskript des zweiten Korintherbriefes lassen sich damit gut erklären. In den Pastoralbriefen fällt hingegen auf, dass die Adressierung an eine Einzelperson (Timotheos bzw. Titus) konsequenter durchgeführt ist als im Philemonbrief.37 Das wird vor allem in der salutatio deutlich: Das stereotype χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη der Paulusbriefe passt hier nicht; andererseits wollte sich der Verfasser anscheinend auch nicht für ein exklusiv singularisches χάρις σοι καὶ εἰρήνη entscheiden. So bleibt im Präskript des Titusbriefes ein relativ dürres χάρις καὶ εἰρήνη, in dem der beiden Timotheusbriefe das etwas gefälligere Trikolon χάρις ἔλεος εἰρήνη. Die relative Konstanz des Briefformulars im paulinischen Traditionsbereich zeigt sich vor allem dann, wenn man zum Vergleich einige andere frühchristliche Briefe heranzieht, die im neutestamentlichen Kanon unter dem Titel ‚Katholische Briefe‘ vereinigt sind: Den Jakobusbrief, die beiden Petrusbriefe, die Johannesbriefe und den Judasbrief. Auch hier handelt es sich nach weit verbreiteter Forschungsposition um Pseudepigrapha.38
|| 37 Nur in den Briefschlüssen der Pastoralbriefe bricht eine pluralische Ausrichtung durch: Ἡ χάρις μεθ᾿ ὑμῶν (1 Tim 6,21; 2 Tim 4,22) bzw. ἡ χάρις μετὰ πάντων ὑμῶν (Tit 3,15). 38 Diese Einschätzung stützt sich vor allem auf die Überlegung, dass Sprache und Stil dieser Schreiben ein beachtliches Bildungsniveau voraussetzen, das man für die ersten Anhänger Jesu, unter deren Namen die Briefe geschrieben sind, nicht leicht annehmen wird. – Die ‚Johannesbriefe‘ nehmen hinsichtlich der Pseudepigraphie-Frage eine Sonderstellung ein. Sie werden zwar in Kanonlisten und Bibelhandschriften unter dem Namen eines Johannes geführt, doch tragen sie selbst keine Autorennamen. Der erste Johannesbrief hat überhaupt kein Briefpräskript (insofern ist seine Klassifizierung als Brief nicht ganz unproblematisch), und im zweiten und dritten Johannesbrief nennt sich der Autor lediglich ὁ πρεσβύτερος. Nachdem diese Schreiben also keinen Autorennamen für sich in Anspruch nehmen, kann man ihnen eigentlich auch keine Pseudepigraphie unterstellen.
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Tabelle 4 superscriptio
adscriptio
salutatio
Jak 1,1
Ἰάκωβος θεοῦ καὶ κυρίου Ἰησοῦ Χριστοῦ δοῦλος
ταῖς δώδεκα φυλαῖς ταῖς ἐν τῇ διασπορᾷ
χαίρειν.
1 Petr 1,1f.
1
2 Petr 1,1f.
1
Συμεὼν Πέτρος δοῦλος καὶ ἀπόστολος Ἰησοῦ Χριστοῦ
2 τοῖς ἰσότιμον ἡμῖν χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη λαχοῦσιν πίστιν ἐν πληθυνθείη ἐν ἐπιγνώσει δικαιοσύνῃ τοῦ θεοῦ ἡμῶν τοῦ θεοῦ καὶ Ἰησοῦ τοῦ καί σωτῆρος Ἰησοῦ κυρίου ἡμῶν. Χριστοῦ,
2 Joh 1–3
1
ἐκλεκτῇ κυρίᾳ καὶ τοῖς τέκνοις αὐτῆς, οὓς ἐγὼ ἀγαπῶ ἐν ἀληθείᾳ, καὶ οὐκ ἐγὼ μόνος ἀλλὰ καὶ πάντες οἱ ἐγνωκότες τὴν ἀλήθειαν, 2 διὰ τὴν ἀλήθειαν τὴν μένουσαν ἐν ἡμῖν καὶ μεθ᾿ ἡμῶν ἔσται εἰς τὸν αἰῶνα.
3 Joh 1
Ὁ πρεσβύτερος
Γαΐῳ τῷ ἀγαπητῷ, ὃν ἐγὼ ἀγαπῷ ἐν ἀληθείᾳ.
Jud 1f.
1
τοῖς ἐν θεῷ πατρὶ ἡγιασμένοις καὶ Ἰησοῦ Χριστῷ τετηρημένοις κλητοῖς·
Πέτρος ἀπόστολος Ἰησοῦ ἐκλεκτοῖς παρεπιδήμοις χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη Χριστοῦ διασπορᾶς Πόντου, πληθυνθείη. Γαλατίας, Καππαδοκίας, Ἀσίας καὶ Βιθυνίας 2 κατὰ πρόγνωσιν θεοῦ πατρὸς ἐν ἁγιασμῷ πνεύματος εἰς ὑπακοὴν καὶ ῥαντισμὸν αἵματος Ἰησοῦ Χριστοῦ,
Ὁ πρεσβύτερος
Ἰούδας Ἰησοῦ Χριστοῦ δοῦλος, ἀδελφὸς δὲ Ἰακώβου,
3
ἔσται μεθ᾿ ἡμῶν χάρις ἔλεος εἰρήνη παρὰ θεοῦ πατρὸς καὶ παρὰ Ἰησοῦ Χριστοῦ τοῦ υἱοῦ τοῦ πατρὸς ἐν ἀληθείᾳ καὶ ἀγάπῃ.
2
ἔλεος ὑμῖν καὶ εἰρήνη καὶ ἀγάπη πληθυνθείη.
Hier hat nur der Jakobusbrief ein relativ ‚normales‘ Präskript, in dem die salutatio schlicht χαίρειν lautet. Im Unterschied dazu führt der 1. Petrusbrief bereits im Präskript sein Hauptthema der Erwählung als Gegengewicht zur Fremdheitserfahrung ein; der zweite Petrusbrief baut auf diesem Präskript auf. Beide Petrusbriefe scheinen sich an das paulinische Briefpräskript anzulehnen, doch im Unterschied zu letzterem nennen sie in der salutatio nicht die Quelle von Gnade und Friede, sondern formulieren den Gnaden- und Friedenwunsch mit der Verbform (im – im Neuen Testament sehr seltenen – Optativ) πληθυνθείη.
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In den Präskripten des zweiten und dritten Johannesbriefes39 trifft man einige charakteristische Eigenheiten an. Der Autor tritt hier nicht unter einem – echten oder vorgeblichen – Namen auf, sondern als „der Ältere/Älteste“ (ὁ πρεσβύτερος). Damit könnte auf sein hohes Lebensalter Bezug genommen sein, auf seine Würde als Traditionsträger40 oder – weniger wahrscheinlich – auf sein Amt als Ältester (Presbyter). Noch auffälliger sind jedoch die salutationes der beiden Briefe. Im zweiten Johannesbrief erinnert die salutatio mit der Trias χάρις ἔλεος εἰρήνη an die beiden Timotheusbriefe (s.o.), doch statt des adressatenbezogenen ὑμῖν oder μεθ᾿ ὑμῶν findet man ein solidarisierendes, aber auch nach außen abgrenzendes μεθ᾿ ἡμῶν.41 Im dritten Johannesbrief steht überhaupt keine salutatio – ein auffälliges Charakteristikum dieses Briefes.42 Dieser Durchgang hat sich vor allem mit den Präskripten neutestamentlicher Briefe beschäftigt. Im Blick auf diesen kleinen Ausschnitt hat sich aber schon gezeigt, dass das briefliche Œuvre des Paulus der urchristlichen Theologie eine weithin adaptierbare Form gab und dass diese Form es auch erlaubte, die autoritativen Namen von anerkannten Aposteln für eigene Werke zu verwenden. Pointiert gesagt: Der Brief als Artikulationsmodus urchristlicher Theologie lud zur Pseudepigraphie ein.43 Als Problem stellt sich die Pseudepigraphie im Neuen Testament vor allem dann dar, wenn man die theologische und moralische Integrität des Neuen Testaments als Heiliger Schrift durch die Existenz von literarischen Fälschungen beeinträchtigt sieht.44 Um die neutestamentliche Pseudepigraphie in ihrem Kontext zu begreifen, lohnt sich ein Blick auf die Ethopoiie als Element der rhetorischen Schulung: Man lernte, sich so auszudrücken, wie es eine berühmte Gestalt der Vergangenheit in einer bestimmten Situation tun würde.45 Allerdings kommt im Falle neu|| 39 Bei Klauck (1998) 41–53; Klauck (2006) 27–41 werden diese beiden ‚Presbyterbriefe‘ als Musterbeispiele für die christliche Adaption des kaiserzeitlichen Briefformulars besprochen. 40 In diesem Sinne sprach etwa Papias von Hierapolis (apud Eus. HE 3,39,3–4) von πρεσβύτεροι, von denen oder deren Hörern er maßgebliches Überlieferungsgut in Erfahrung zu bringen trachtete. 41 Das Personalpronomen in der 1. Person Plural ist in den Handschriften nicht einhellig überliefert. Einige wenige Minuskeln und Teile des byzantinischen Textes lesen ἔσται μεθ᾿ ὑμῶν. 42 Vgl. dazu Klauck (1998) 44; Klauck (2006) 30f. 43 Nach Becker (2009) 378–381 ist es sogar eine bemerkenswerte Ausnahme im Feld der frühjüdischen und frühchristlichen Literatur, dass Paulus seine Werke unter eigenem Namen schrieb – Pseudepigraphie scheint dann eher die Konvention gewesen zu sein. 44 Zur Problematik vgl. etwa Gamble (2009) v.a. 356–362. 45 Vgl. dazu z.B. Bauer (2011) 26–29. Für einen umfassenden Überblick vgl. Janßen (2009).
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testamentlicher Pseudepigrapha mindestens eine weitere Dimension hinzu. Diese Schriften sind nicht als reine rhetorische oder theologische ‚Fingerübungen‘ zu verstehen, sondern die meisten von ihnen nutzen die Gestalt des Paulus (oder anderer apostolischer Gestalten), um ihre Stellungnahmen zu aktuellen Problemen46 und ihre theologischen Positionen zu legitimieren und mit Autorität zu versehen.47
2 Die Johannesapokalypse als Brief Die oben angestellten Überlegungen zur frühchristlichen (v.a. paulinischen) Epistolographie umreißen zugleich das Feld, in dem im Folgenden eine Spezialfrage verhandelt werden soll: die Brieflichkeit der Johannesapokalypse. Diese Fragestellung mag zunächst befremden, denn die Johannesapokalypse gehört keinem der beiden großen Briefcorpora des Neuen Testaments (Corpus Paulinum und Katholische Briefe) an. Dennoch gibt es Ansatzpunkte dafür, sie als brieflichen Text bzw. unter epistolographischen Gesichtspunkten zu betrachten.
2.1 Briefformular Anders als die Briefe des Corpus Paulinum (und die meisten der Katholischen Briefe) beginnt die Johannesapokalypse nicht mit einem Briefpräskript, sondern mit einer Überschrift, die im Stil alttestamentlicher Prophetenbücher das Offenbarungsgeschehen, aber auch die Übermittlung der Offenbarung thematisiert (Offb 1,1–3).48 Unmittelbar im Anschluss an diese Überschrift stoßen wir jedoch
|| 46 Der eher allgemein gehaltene Epheserbrief passt nicht so gut in dieses Bild, aber für die anderen Paulus-Pseudepigrapha lassen sich Problemstellungen benennen: im Kolosserbrief eine „Philosophie“ (Kol 2,8), im zweiten Thessalonicherbrief scheint das Problem in einer zu angespannten Erwartung der nahen Wiederkunft Christi zu liegen, in den Pastoralbriefen hingegen in einer alternativen theologischen Position (möglicherweise mit asketischen und weltverneinenden Tendenzen, 1 Tim 4,3–5) und in (empfundenen) Unzulänglichkeiten in der Organisation und Leitung christlicher Gemeinden (v.a. 1 Tim 3.5). 47 Vgl. dazu z.B. Becker (2009). 48 Am Rande sei angemerkt, dass der Makarismus (Seligpreisung) in Offb 1,3 („Selig der Lesende und die Hörenden die Worte der Prophetie, und die Haltenden das in ihr Geschriebene; der Zeitpunkt ist nämlich nah“) einen kulturgeschichtlichen Einblick in die intendierten Rezeptionsbedingungen der Johannesapokalypse erlaubt: Das Buch war dazu gedacht, vor einer Gruppe (den „Hörenden“) laut vorgelesen zu werden.
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in Offb 1,4f. auf ein Briefpräskript, das sich sehr eng an die paulinische Form anlehnt. In Tab. 5 wird es zum Vergleich dem Präskript des Galaterbriefes gegenübergestellt, zur Gegenprobe wird auch das Präskript des ersten Petrusbriefes mit in die Übersicht einbezogen.49 Vergleicht man diese drei Briefpräskripte, so fällt auf, dass die Johannesapokalypse und der Galaterbrief gegen den ersten Petrusbrief in einigen Merkmalen übereinstimmen: Tabelle 5 superscriptio
adscriptio
salutatio
Offb 1,4f.
4
ταῖς ἐπτὰ ἐκκλησίαις ταῖς ἐν τῇ Ἀσίᾳ·
χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη ἀπὸ ὁ ὣν καὶ ὁ ἦν καὶ ὁ ἐρχόμενος καὶ ἀπὸ τῶν ἑπτὰ πνευμάτων ἃ ἐνώπιον τοῦ θρόνου αὐτοῦ 5 καὶ ἀπὸ Ἰησοῦ Χριστοῦ ὁ μάρτυς, ὁ πιστός, ὁ πρωτότοκος τῶν νεκρῶν καὶ ὁ ἄρχων τῶν βασιλέων τῆς γῆς.
Gal 1,1–5
1
Παῦλος ἀπόστολος οὐκ ταῖς ἐκκλησίαις τῆς ἀπ᾿ ἀνθρώπων οὐδὲ δι᾿ Γαλατίας, ἀνθρώπου ἀλλὰ διὰ Ἰησοῦ Χριστοῦ καὶ θεοῦ πατρὸς τοῦ ἐγείραντος αὐτὸν ἐκ νεκρῶν, 2 καὶ οἱ σὺν ἐμοὶ πάντες ἀδελφοὶ
1 Petr 1,1f.
1
Ἰωάννης
3
χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη ἀπὸ θεοῦ πατρὸς ἡμῶν καὶ κυρίου Ἰησου Χριστοῦ 4 τοῦ δόντος ἑαυτὸν ὑπὲρ τῶν ἁμαρτιῶν ἡμῶν, ὅπως ἐξέληται ἡμᾶς ἐκ τοῦ αἰῶνος τοῦ ἐνεστῶτος πονηροῦ κατὰ τὸ θέλημα τοῦ θεοῦ καὶ πατρὸς ἡμῶν, 5 ᾧ ἡ δόξα εἰς τοὺς αἰῶνας τῶν αἰώνων, ἀμήν.
Πέτρος ἀπόστολος Ἰησοῦ ἐκλεκτοῖς παρεπιδήμοις χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη Χριστοῦ διασπορᾶς Πόντου, πληθυνθείη. Γαλατίας, Καππαδοκίας, Ἀσίας καὶ Βιθυνίας 2 κατὰ πρόγνωσιν θεοῦ πατρὸς ἐν
|| 49 Der Vergleich dieser drei Präskripte liegt insofern nahe, als alle drei sich an Adressaten in einem größeren, aber dennoch definierten Gebiet (nicht nur an eine Gemeinde in einer Stadt) richten.
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superscriptio
adscriptio
salutatio
ἁγιασμῷ πνεύματος εἰς ὑπακοὴν καὶ ῥαντισμὸν αἵματος Ἰησου Χριστοῦ,
Vor allem hat die Johannesapokalypse die typisch paulinische salutatio (s.o. 1.1) χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη ἀπό ..., in der Gott und Christus als Quelle von Gnade und Friede benannt werden. Im ersten Petrusbrief finden wir dagegen die Formel χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη πληθυνθείη. Diese ist auch an das paulinische Formular angelehnt, geht jedoch insofern eigene Wege, als sie die Form eines regulären Verbalsatzes hat, aber die Quelle von Gnade und Friede ungenannt lässt. Ebenso ist der Johannesapokalypse und dem Galaterbrief gemeinsam, dass sie sich ausweislich ihrer Präskripte an Gemeinden (ἐκκλησίαι) richten, der erste Petrusbrief hingegen an eine nicht näher strukturierte Menge von Menschen, die als „erwählte Fremdlinge in der Zerstreuung“ eine theologische Qualifikation erhalten.50 Freilich gab es im frühen Christentum auch noch ganz andere Möglichkeiten, Briefpräskripte zu formulieren (s.o. Tabelle 4).51 Insofern ist die Nähe zwischen den Briefpräskripten der Johannesapokalypse und der Paulusbriefe, namentlich des Galaterbriefes, signifikant. Nun kann man aus diesem Befund nicht kurzerhand folgern, dass der Seher Johannes speziell den Galaterbrief gekannt und als Vorlage benutzt habe; dafür sind die Parallelen außerhalb des Briefpräskripts zu schwach.52 Dennoch erlaubt der Befund den Schluss, dass der Seher Johannes bei der Abfassung seines Werkes auf die paulinische Epistolographie Bezug nahm.53 Ob aber dieses Briefformular aufgrund des nachhaltigen paulinischen Einflusses in Kleinasien gewissermaßen der alternativlose Standard christliche Epistolographie war, wie man manchmal liest,54 ist eine andere Frage. || 50 In der Selbsteinschätzung von Christen als Fremdlinge in der sie umgebenden Lebenswelt stimmt der erste Petrusbrief grundsätzlich mit der Johannesapokalypse überein (vgl. v.a. Offb 18,4), doch die Johannesapokalypse enthält sich im Briefpräskript einer entsprechenden Qualifikation. 51 Vgl. dazu auch Lieu (1985/86) 171. 52 Vgl. Karrer (2017) 65. 206. 53 Vgl. z.B. Lieu (1985/86) 172f.; Karrer (1986) 69–73; Aune (1997) 26f.; Holtz (2008) 21; Gradl (2014) 216f.; Müller (2014) 192; Karrer (2017) 206; anders z.B. Trebilco (2004) 616f.; Boxall (2006) 30. 54 Vgl. zuletzt Karrer (2017) 208: Da die Johannesapokalypse außerhalb des Briefpräskripts nirgends auf Paulus Bezug nehme, bezeuge das paulinische Briefpräskript „keine Neigung zu
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Nach diesen Vorklärungen ist es möglich, die spezifischen Eigenheiten von Offb 1,4f. gegenüber dem paulinischen Briefpräskript zu würdigen. Zunächst fällt gegenüber den paulinischen Präskripten (s.o. Tabelle 1) und auch den Präskripten der Katholischen Briefe (s.o. Tabelle 4) auf, dass Johannes nur seinen Namen55 nennt, aber keinen legitimierenden Titel. Im Unterschied dazu verband Paulus in den superscriptiones seiner Briefe (mit Ausnahme von 1 Thess 1,1) seinen Namen durchweg mit einem Titel: „Sklave Christi Jesu“ (Phil 1,1; Röm 1,1), „Gefangener Christi Jesu“ (Phlm 1), vor allem aber „Apostel Christi Jesu“ (1 Kor 1,1; 2 Kor 1,1; Gal 1,1; auch Eph 1,1; Kol 1,1; 1 Tim 1,1; 2 Tim 1,1; Tit 1,1). Anscheinend konnte der Seher Johannes voraussetzen, dass er bei den Adressaten seines Werkes nicht nur bekannt, sondern auch in seiner Autorität unumstritten war.56 Auch in der salutatio seines Briefpräskripts weicht Johannes deutlich vom paulinischen Briefformular ab. Was in Offb 1,4 auf die Präposition ἀπό folgt, ist ohne Parallele im Corpus Paulinum. Gnade und Friede, die Johannes den Gemeinden wünscht, werden näher bestimmt als ἀπὸ ὁ ὢν καὶ ὁ ἦν καὶ ὁ ἐρχόμενος. Die Unregelmäßigkeit, dass hier auf die Präposition ἀπό der Nominativ folgt, wurde in der Forschung bisweilen mit grammatikalischer Unkenntnis seitens des (aus Palästina immigrierten?) Verfassers erklärt. Allerdings zeigt
|| Paulus, sondern die Unmöglichkeit, in Kleinasien dem paulinischen Einfluss zu entgehen“. Es ist freilich schwer, positiv zu behaupten, dass ein anderes Briefformular für Johannes unmöglich gewesen sei. Auf der anderen Seite behandelt Johannes auf seine Weise Themen, die auch für Paulus bedeutsam waren, etwa die Frage nach dem Umgang mit Opferfleisch oder die Ermöglichung von Sündenvergebung durch den Tod Jesu. 55 Die Verfasser apokalyptischer Schriften verwendeten häufig Pseudonyme von Gestalten aus der biblischen Vergangenheit wie Henoch, Abraham, Mose, Daniel, Esra; in der frühchristlichen Apokalyptik entstanden im 2./3. Jahrhundert auch Apokalypsen unter den Namen von Petrus und Paulus. In all diesen Texten hat das Autorenpseudonym aber eine Funktion im fiktionalen Szenario des Textes. Die Johannesapokalypse entwickelt hingegen überhaupt keine erkennbare Autorenfiktion; sie arbeitet nicht mit dem Namen „Johannes“. Auf anderweitig bekannte Gestalten dieses Namens (z.B. Johannes den Täufer oder den Jünger Jesu aus dem Zwölferkreis, der später mit dem Geliebten Jünger aus dem Johannesevangelium identifiziert wurde) finden sich keine Hinweise. Daher ist anzunehmen, dass der Verfasser der Johannesapokalypse einfach Johannes hieß. 56 Vgl. dazu auch Giesen (1997) 73; Boxall (2006) 29. Nach Gradl (2014) 166f. nimmt Johannes damit sich selbst zurück und lässt Christus zu Wort kommen; das ist wohl eine Überinterpretation. – Paulus nennt nur im Präskript des ersten Thessalonicherbriefes seinen Namen ohne Titel. In diesem Brief schreibt er denn auch nicht in eigener Sache, sondern reagiert auf Probleme der Adressatengemeinde.
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der Blick auf das dreigliedrige Gesamtgefüge der salutatio, dass dies den Befund nicht befriedigend erklären kann:57 4
[...] χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη ἀπὸ ὁ ὢν καὶ ὁ ἦν καὶ ὁ ἐρχόμενος καὶ ἀπὸ τῶν ἑπτὰ πνευμάτων ἃ ἐνώπιον τοῦ θρόνου αὐτοῦ 5 καὶ ἀπὸ Ἰησοῦ Χριστοῦ, ὁ μαρτύς, ὁ πιστός, ὁ πρωτότοκος τῶν νεκρῶν καὶ ὁ ἄρχων τῶν βασιλέων τῆς γῆς.
4
[…] Gnade euch und Friede von der Seiende und der „er war“ und der Kommende und von den sieben Geistern, die vor seinem Thron 5 und von Jesus Christus, der Zeuge, der Treue, der Erstgeborene der Toten und der Herrscher der Könige der Erde.
Johannes weiß durchaus, dass die Präposition ἀπό eigentlich den Genitiv verlangt, im zweiten und dritten Glied konstruiert er ja ‚korrekt‘ (ἀπὸ τῶν ἑπτὰ πνευμάτων, ἀπὸ Ἰησοῦ Χριστοῦ). Das lässt mit gutem Grund vermuten, dass er in der von ἀπό regierten Konstruktion die Nominative mit Bedacht gesetzt hat. Es handelt sich ja jeweils um titulare Formulierungen, die wohl als solche etabliert waren und nicht dekliniert wurden.58 Das gilt besonders für das erste Glied, die ihrerseits dreigliedrige Gottesprädikation im Anschluss an Ex 3,14 (dort nach der Septuaginta: ἐγώ εἰμι ὁ ὤν). Johannes lässt sie erratisch stehen und macht sie damit für die Adressaten leichter erkennbar, möglicherweise auch liturgisch leichter rezipierbar. Die adscriptio des Briefpräskripts bietet augenscheinlich eine präzise Adressatenangabe: die sieben Gemeinden in der (Provinz) Asia. Ähnlich wie Paulus erfasst Johannes seine Lebenswelt in den Kategorien der römischen Verwaltung. In Offb 1,11 wird sogar genau aufgezählt, in welchen sieben Städten sich diese sieben Gemeinden befinden: Ephesos, Smyrna, Pergamon, Thyateira, Sardeis, Philadelpheia, Laodikeia. Die präzise Angabe „die sieben Gemeinden“ hat der Forschung allerdings Probleme bereitet. Wenn man provisorisch an-
|| 57 Zur philologischen Betrachtung von Offb 1,4–6 vgl. auch Paulsen (2015) 21–24. 58 Vgl. auch z.B. Holtz (2008) 22; Karrer (2017) 211f. Als Analogie im modernen Sprachgebrauch könnte man die Titel von Büchern und Filmen nennen, die in aller Regel nicht dekliniert werden. – Auch im Gespräch mit Peter von Möllendorff während der Tagung in Eichstätt wurde deutlich, dass Johannes die Gottesprädikation mit Partizipialkonstruktionen schwerlich anders in die Konstruktion seines Briefpräskripts hätte einbauen können. – Etwas Ähnliches findet man bei Paulus in Gal 1,3f., wo ein christologisches Kompendium in eine Partizipialkonstruktion im Genitiv gefasst ist.
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nimmt, die Johannesapokalypse sei um 100 n. Chr. entstanden,59 kann man sich schwerlich dem Befund verschließen, dass es zu dieser Zeit in der Provinz Asia schon mehr als sieben christliche Gemeinden gab. Das in der Nähe von Laodikeia gelegene Kolossai, wohin der Kolosserbrief adressiert ist, kommt in Offb 1,11 nicht vor. Das Gleiche gilt für das in der gleichen Gegend gelegene Hierapolis, die Heimat des Papias. Wenn man das Briefcorpus der Ignatianen schon zu Beginn des 2. Jahrhunderts entstanden sein lassen will, kommen christliche Gemeinden in Magnesia am Maiandros und in Tralleis (zwischen Laodikeia und Ephesos) hinzu. Daher nimmt man häufig an, dass die Siebenzahl der Gemeinden eine Symbolzahl sei,60 die für die Christenheit in der ganzen Provinz Asia61 oder für die ganze Christenheit überhaupt stehe.62 Dagegen spricht allerdings, dass diese sieben Gemeinden mit dem Artikel als eine bekannte und fest definierte Größe eingeführt werden und dass sie in Offb 1,11 namentlich aufgelistet werden, wobei die Ortsnamen theologisch unverdächtig sind. Johannes liebt zwar die Siebenzahl,63 aber das erzwingt nicht automatisch in jedem Fall eine symbolische Deutung. Die Johannesapokalypse richtet sich demnach an einen Verband von sieben Gemeinden, der im Spektrum des Christentums im Gebiet der Provinz Asia eine distinkte Gruppe darstellt. In den sieben „Sendschreiben“ (s.u. 2.3) sind durchaus Spuren von Spannungen zwischen Christen unterschiedlicher Couleur erkennbar (vgl. z.B. Offb 2,2.14f.20– 25). Es empfiehlt sich, die Johannesapokalypse als eine Stimme im Konzert durchaus unterschiedlicher theologischer Positionierungen zu sehen.64
2.2 Zur Diskussion um die Brieflichkeit der Johannesapokalypse Die oben angestellten Überlegungen setzen voraus, dass die Johannesapokalypse ausweislich ihres paulinisch anmutenden Briefpräskripts als ein briefliches Schreiben zu betrachten ist. Diese Annahme ist jedoch keineswegs selbstver-
|| 59 Zur Diskussion um die Datierung der Johannesapokalypse vgl. Witetschek (2012). 60 So auch Karrer (2017) 212f., der die Siebenzahl allerdings nicht als Symbol der Fülle, sondern als Ausdruck der „Hervorhebung durch Gott“ (213) verstanden wissen will. 61 Vgl. z.B. Boxall (2006) 30. 62 Vgl. z.B. Giesen (1997) 73; Holtz (2008) 21. 63 Die Visionen im Hauptteil der Johannesapokalypse sind weitestgehend in Siebenergruppen arrangiert. 64 Für einen Überblick zur Pluralität des frühen Christentums in Ephesos vgl. z.B. Witetschek (2008) 400–418.
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ständlich, und die 2014 erschienene Habilitationsschrift von Hans-Georg Gradl65 bringt einige Argumente gegen die Brieflichkeit der Johannesapokalypse vor, um dagegen die Johannesapokalypse gattungskritisch als ‚Buch‘ zu bestimmen. Ein naheliegendes Gegenargument ist, dass die Johannesapokalypse für einen Brief schlichtweg zu lang sei.66 In der Tat soll sich ein Brief etwa nach Ps.Demetrios (De eloc. 228) durch Kürze auszeichnen67 – wobei freilich kein exaktes Maß gegeben wird. Die Johannesapokalypse ist mit ihren 22 Kapiteln deutlich länger als der längste Brief des Corpus Paulinum, der Römerbrief. Man wird das Argument freilich dadurch etwas abschwächen müssen, dass der Römerbrief und der etwa gleich lange erste Korintherbrief (beide 16 Kapitel) sich ihrerseits auch nicht gerade durch Kürze auszeichnen. Für beide würde man zur Niederschrift eine veritable Schriftrolle benötigen, und doch werden sie unstrittig als Briefe behandelt. Pointiert gesagt: Was Länge oder Kürze betrifft, ist der Unterschied zwischen dem Philemonbrief (der als kürzester Paulusbrief auf einem Papyrusblatt Platz finden kann) und dem Römerbrief größer als der Unterschied zwischen dem Römerbrief und der Johannesapokalypse. Am Rande sei bemerkt, dass der erste Clemensbrief, der konventionell in 65 Kapitel gegliedert wird, noch einmal deutlich länger ist als die Johannesapokalypse. Länge ist mithin relativ, aber der Umfang der Johannesapokalypse mag einen Anstoß geben, die Gattungsbestimmung zu modifizieren. Von der Länge abgesehen, fällt auch auf, dass in der Johannesapokalypse das Briefpräskript nicht, wie man erwarten würde, am Anfang steht, sondern erst nach einer orientierenden Überschrift (Offb 1,1–3).68 Daraus lässt sich folgern, dass das Briefpräskript nicht die Gattung der Johannesapokalypse bestimmt, sondern bereits in einen umfassenderen hermeneutischen Rahmen eingebettet ist.69 Es gibt auch keinen ersichtlichen Grund, Offb 1,1–3 text- oder literarkritisch für sekundär zu halten. Dennoch leiten diese Verse nicht einfach
|| 65 Gradl (2014). 66 Vgl. Gradl (2014) 53–57. 67 Vgl. dazu auch Bauer (2011) 38: „Der echte Brief ist also kurz im Gegensatz zum entarteten Brief, d.h. dem philosophischen Lehrbrief und dem wissenschaftlichen Briefessay.“ 68 Traugott Holtz sprach von Offb 1,1–3 als der „Summe des ganzen Buches“ (Holtz [2009] 15); ähnlich Boxall (2006) 22. Vielleicht könnte man diese Verse auch in Analogie zu modernen Klappentexten sehen. Zur formgeschichtlichen Einordnung vgl. Karrer (1986) 86–96. Besonders aufschlussreich ist hier der Vergleich mit dem Incipit der Epistula Apostolorum. 69 Vgl. Gradl (2014) 160: „Allein die Tatsache dieser Nachordnung des Briefformulars spricht für die Überordnung des Großmediums Buch und lässt nach dem Inhalt, der besonderen Aussage und der spezifischen medialen Funktion der darin zu verortenden brieflichen Elemente fragen.“
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in die Schrift ein, wie das mustergültig in Mk 1,1 der Fall ist. Briefpräskript und Doxologie legen sich zwischen die Überschrift und den Beginn der Visionsschilderung in Offb 1,9 und stören so das unkomplizierte Verständnis der Johannesapokalypse als Prophetenbuch. Ein weiteres Gegenargument könnte in der Feststellung liegen, dass die Johannesapokalypse, von ihren brieflichen Formelementen abgesehen, doch wenig Interesse an Kommunikation zeigt. Sie teilt einfach Geschautes mit und erwartet Zustimmung.70 Gradl zufolge dient sie gerade nicht dazu, den abwesenden Johannes in seinen Gemeinden gegenwärtig zu machen, sondern Christus.71 In der Tat enthält die Johannesapokalypse wenige Anreden in der 2. Person. Eine Ausnahme sind die „Sendschreiben“ (Offb 2f.), aber auch diese sind ja nicht als Briefe, sondern eher als Prophetenorakel zu verstehen. Schließlich wird als Argument gegen eine epistolographische Betrachtung der Johannesapokalypse ins Feld geführt, dass sie sich nicht an eine bestimmte Adressatengruppe an einem bestimmten Ort richtet, sondern gleich an Gemeinden in sieben Städten, wobei Gradl diese gewissermaßen als Symbol für ein universales Lesepublikum verstehen möchte.72 Dazu ist auf die oben unter 2.1 angestellten Überlegungen zu verweisen: Das Briefformular und die unverdächtigen Ortsnamen stellen die Johannesapokalypse – unbeschadet der Rezeptionsmöglichkeit für Leserinnen und Hörer an anderen Orten zu anderen Zeiten – zunächst einmal in einen kontingenten Kommunikationszusammenhang. Gewiss ist die Johannesapokalypse – anders als die Paulusbriefe – nicht durchgehend und auf Schritt und Tritt auf Kommunikation ausgelegt. Das hat sicher auch damit zu tun, dass Johannes, wie Gradl zutreffend beobachtet, sich als Autor der Schrift weitgehend zurücknimmt73 und seine eigenen Seheindrücke an seine Hörerinnen und Leser weitergeben, sie zu Mit-Sehenden machen will.74 An den wenigen selbstreferenziellen Stellen der Offb (v.a. Offb 1,9–11) wird jedoch deutlich, dass Johannes sein Werk auch außerhalb des Briefpräskripts durchaus als ein Stück Kommunikation versteht. Er stellt sich den Leserinnen und Hörern ja in Offb 1,9 als „euer Bruder“ vor, und in Offb 1,11 schildert
|| 70 Vgl. Gradl (2014) 34. 42f. 71 Vgl. Gradl (2014) 35. 43. 45. 72 Vgl. Gradl (2014) 138f. 428f. 73 Vgl. etwa Gradl (2014) 501. 74 Vgl. z.B. jüngst Karrer (2017) 400. 408. Hier wäre auf den häufigen Seh-Aufruf ἰδού (Offb 4,1f.; 6,2.5.8; 7,9; 12,3; 14,1.14; 19,11) zu verweisen. Dennoch verschwindet Johannes nicht aus seiner Schrift; die Mittelbarkeit bleibt bestehen.
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er den Auftrag, das Gesehene in ein Buch75 zu schreiben und an die sieben Gemeinden zu schicken.76 Die Niederschrift ist also in ihrer Materialität von vornherein dazu gedacht, an (mindestens) einen anderen Ort transportiert zu werden.77 Etwas, das man schreibt und dann an einen anderen Ort schickt, hat aber gute Chancen, als Brief zu gelten. Dass die Johannesapokalypse den Rahmen des epistolographisch Üblichen extrem ausreizt, sei dabei durchaus zugestanden. Im Ergebnis ist festzuhalten, dass es zwar nicht angeht, die Johannesapokalypse uneingeschränkt als Brief zu verstehen, dass es aber ebenso wenig möglich ist, von ihrer Brieflichkeit einfach abzusehen. Es bedarf einer Kategorie, um aus der strikten Dichotomie von Brief und Nicht-Brief herauszukommen. In diesem Sinne plädiert Thomas Johann Bauer für ein weiteres Verständnis als das des Ps.-Demetrios und schlägt vor, innerhalb der weit gefassten Großgattung ‚Brief‘ „zwischen eigentlichen Briefen und Texten in Briefform [zu] differenzieren“.78 Zur Präzisierung dieses weiten Verständnisses von ‚Brief‘ fügt er hinzu: „Es bedarf dann zumindest der Einschränkung, dass ein Text auch dann der Gattung ‚Brief‘ zugerechnet werden muss, wenn er formal und inhaltlich den echten Briefen vergleichbar ist und deshalb theoretisch verschickt worden sein könnte.“79 In diesem Sinne ist auch die Johannesapokalypse als ein briefliches Schreiben bzw. „brieflich gestaltetes Werk der Offenbarungsliteratur“80 zu würdigen. Die Briefelemente der Johannesapokalypse leisten dabei zwei Dinge: (1) Sie erlauben es Johannes, die räumliche Trennung von den Adressaten zu thematisieren. (2) Sie stellen zwischen den sieben einzelnen Gemeinden eine Vernetzung her, die ein bloßes Prophetenbuch ohne brieflichen Anspruch nicht leisten könnte: In jeder der sieben Gemeinden konnte man annehmen, dass die brieflich gerahmte Apokalypse auch in den anderen sechs Gemeinden des Verban-
|| 75 Βιβλίον ist hier – ausweislich der Präposition εἰς – schlicht die Buchrolle, die als Medium für einen Text dieser Länge erforderlich ist. 76 Offb 1,11: [...] ὃ βλέπεις γράψον εἰς βιβλίον καὶ πέμψον ταῖς ἑπτὰ ἐκκλησίαις, [...]. 77 Dagegen scheint Gradl (2014) 420 die Schriftlichkeit (und damit Materialität) des Briefes im Gegensatz zum Buch als etwas Ephemeres zu verstehen, da der Brief nach einmaligem Lesen seinen Zweck erfüllt habe. 78 Bauer (2011) 52 (Hervorhebungen im Original). 79 Bauer (2011) 55. 80 Karrer (2017) 210.
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des schon bekannt war.81 Die Johannesapokalypse trägt kaum philophronetische Züge (wenn man von Offb 1,9 absieht); sie ist kein klassischer Freundschaftsbrief. Johannes gestaltet aber die Erzählung von seinen Visionen in einer Weise aus, die es den ersten Leserinnen und Hörern in ihren Gemeinden erlaubt, sich als Teil eines größeren Komplexes zu verstehen; vielleicht konstruierte die brieflich gestaltete Johannesapokalypse sogar erst die ‚sieben Gemeinden‘ als überörtlichen Verband.
2.3 Die Rolle der Sendschreiben (Offb 2f.) Oben war schon von ‚Sendschreiben‘ die Rede. Es handelt sich um kleine Stücke in Offb 2f, mit deren Niederschrift Johannes in der ersten großen Vision der Apokalypse beauftragt wird. Sie richten sich jeweils an den „Engel“ einer der angeschriebenen Gemeinden (Offb 2,1.8.12.18; 3,1.7.14); über den Engel wird den Gemeinden Lob und Tadel für ihre aktuelle Situation zugemessen. Diese kleinen Einheiten werden häufig als ‚Briefe‘ bezeichnet,82 doch ihnen fehlen jegliche Briefformalia, und in ihrer christologischen Metaphorik sind sie so eng mit dem Gesamtgefüge der Johannesapokalypse (v.a. mit der eröffnenden Christusvision Offb 1,12–16) verknüpft, dass man sie nicht literarkritisch als ursprünglich eigenständige Briefe isolieren kann. Wenn nach einer positiven Einordnung zu fragen ist, wird oft vorgeschlagen, dass die ‚Sendschreiben‘ der Johannesapokalypse in Analogie zu kaiserlichen Edikten zu verstehen seien.83 Das würde sich gut in eine romkritische Lesart der Johannesapokalypse einfügen. Deutlicher ist jedoch die Anlehnung an alttestamentliche Prophetensprüche und griechische Götterorakel; wie diese beginnen die ‚Sendschreiben‘ mit dem stereotypen τάδε λέγει.84
|| 81 Mit Gradl (2014) 217; Karrer (2017) 208f. ist zu erwägen, ob die briefliche Ausgestaltung der Johannesapokalypse nicht von vornherein im Blick auf die Weiterverbreitung (in Analogie zu 1 Thess 5,27; Kol 4,16) gewählt war. 82 Vgl. etwa Giesen (1997) 93; Holtz (2008) 33. 83 Vgl. z.B. Aune (1997) 126–129; Holtz (2008) 34; Gradl (2014) 202–204. Vgl. ferner Cornthwaite (2018), der die nächste formale Parallele (mit der Einleitung τάδε λέγει) zu den Sendschreiben in einem Edikt des persischen Großkönigs sieht, das in einer kaiserzeitlichen Inschrift (I.Magnesia 115) erhalten ist. Diese Inschrift mag zwar für die örtliche Elite von hoher Relevanz gewesen sein, doch es stellt sich die Frage, ob sie das auch für das angenommene Lese- und Hörpublikum der Johannesapokalypse war. 84 Vgl. z.B. Karrer (1986) 162f.; Boxall (2006) 45; Müller (2014) 176.
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Die ‚Sendschreiben‘ in Offb 2f. lassen sich also nicht gut als Briefe bezeichnen, aber sie unterstützen auf ihre Weise das kommunikative Anliegen des brieflich gerahmten Gesamtwerks.
3 Ergebnis und Ausblick Was uns von der ältesten christlichen Literatur (1. bis frühes 2. Jahrhundert) erhalten ist, steht zum allergrößten Teil in Kommunikationszusammenhängen. Die Paulusbriefe als die ältesten aufbewahrungswürdigen christlichen Texte waren stilbildend, und der Brief (sei es als echter Brief, sei es als brieflich gerahmte Abhandlung) wurde ein Hauptmedium, mit dem kaiserzeitliche christliche Theologen sich artikulierten. Von der realen Vernetzung verschiedener christlicher Zentren abgesehen, ließ sich durch (pseudepigraphische) Briefe überörtliche Verbundenheit inszenieren. Auch im 2. Jahrhundert blieb der Brief ein bevorzugtes Medium, um die eigene theologische Position zu artikulieren, sei es im Sinne der Bekämpfung anderer (gnostischer) Positionen, wie etwa in der Epistula Apostolorum, sei es zur Übermittlung neuen Offenbarungswissens, wie etwa im apokryphen Jakobusbrief (NHC I,2).85 Gerade letzterer ist eine interessante Parallele zur Johannesapokalypse. In beiden Fällen wird eine an den Autor ergangene Offenbarung im Medium der Brieflichkeit weitergegeben und tritt so in die Kontingenz der sprachlichen und schriftlichen Übermittlung in Raum und Zeit ein. Unbeschadet aller Versuche, die Adressaten in die Offenbarung einzubinden (s.o. 2.2), schafft das Medium des Briefes zugleich Mittelbarkeit: Leser des Briefes erhalten die Offenbarung nur aus zweiter Hand – wenn man Offb 1,3 ernst nimmt, erhalten die Hörer sie sogar aus dritter Hand. Aber sie erhalten sie! Der Brief erscheint so im frühen Christentum als das Mittel der Wahl, um unbedingt Maßgebliches in der Kontingenz von Raum und Zeit zur Sprache zu bringen.
|| 85 Dieser Text ist nur in einer koptischen Übersetzung erhalten, die in Codex I aus dem Textfund von Nag Hammadi (NHC = Nag Hammadi Codex) enthalten ist. Eine deutsche Übersetzung nebst Einleitung und Bibliographie findet man bei Hartenstein/Plisch (2001).
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Offenbarung im Brief | 355
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| VII. Ziele brieflicher Kommunikation im Frühen Christentum und bei den Kirchenvätern
Eva Baumkamp
Zur Funktion von Briefen in innergemeindlichen Auseinandersetzungen Ein Hilfsgesuch spanischer Bischöfe an die nordafrikanische Kirche Mitte des dritten Jahrhunderts
1 Einleitung In der Mitte des dritten Jahrhunderts kam es erstmals systematisch zu Christenverfolgungen im Imperium Romanum – so jedenfalls in der Wahrnehmung der Christen. Der Kaiser Decius hatte einen reichsweiten Opferbefehl publizieren lassen, der sich jedoch nicht nur an Mitglieder christlicher Gemeinden richtete.1 Da der Befehl unterschiedlich schnell und konsequent in den einzelnen Regionen des Reiches umgesetzt worden war, gestaltete sich auch die Situation in den Gemeinden unterschiedlich. Manche Christen waren aus ihrer Heimat geflohen, andere hatten sich geweigert zu opfern, hatten ihren Glauben bekannt, waren inhaftiert, angeklagt und hingerichtet worden. Viele Christen, Kleriker wie Laien, befolgten jedoch auch den Opferbefehl des Kaisers. Sie wurden zu lapsi, zu vom Glauben abgefallenen Christen, die sich aber häufig noch den Gemeinden zugehörig fühlten.2 Es gab innerhalb der Gemeinden daher verschiedene Gruppen, die sich nach eigenem Verständnis alle weiterhin als Christen verstanden. Eine der zentralen Fragen nach Ende der Verfolgungssituation im Jahr 251 war daher der Umgang mit vom Glauben abgefallenen Christen. Da sich überall im Imperium Romanum Christen dem Opferbefehl nicht entzogen hatten, war dies ein reichsweites Problem für die Gemeinden.3 Besondere Brisanz bekam diese Frage zusätzlich, wenn es sich um Bischöfe, Presbyter oder Diakone handelte, die sich den Besitz eines libellus erschlichen oder sogar das pagane Opfer vollzogen hatten. || 1 Zum decischen Befehl und den Konsequenzen allgemein Brent (2010) 117–249; Selinger (1994); Rives (1999); Bleckmann (2006). Zu den Folgen: Baumkamp (2014) 207–314. 2 Cyprians Schrift de lapsis gibt hierüber Auskunft sowie mehrere seiner Briefe (5–43 aus der Zeit der decischen Verfolgung sowie die Korrespondenz mit Cornelius von Rom, v.a. Cypr. epist. 44). Baumkamp (2014), Brent (2010), Ciccolini (2010), Dunn (2007) haben sich intensiv mit der Frage der Wiederaufnahme der lapsi auseinandergesetzt. 3 Vgl. Martin (1986).
https://doi.org/10.1515/9783110676303-014
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Nach dem Ende der akuten Bedrohungssituation der christlichen Gemeinden im Jahr 251 kam es in einigen Gemeinden des Imperium Romanum zu einem Wechsel an der Gemeindespitze. Dieser war zum einen durch den Tod von Bischöfen in den Jahren 250/251 bedingt, zum anderen durch den Amtsverzicht von Bischöfen, die sich dem kaiserlichen Befehl gebeugt hatten. In Nordafrika und Italien versetzte man diese Bischöfe wieder in den Laienstatus und bestätigte sich gegenseitig dieses Vorgehen durch Synoden.4 Die christlichen Gemeinden standen also in regem Austausch miteinander, um ihr Vorgehen zu legitimieren und zu koordinieren. Der Austausch von Briefen spielte dabei eine herausragende Rolle in der Interaktion der Gemeinden. Die Gemeinden bildeten eine weltumspannende Gemeinschaft im Imperium Romanum, die untereinander in wechselseitigen Beziehungen stand. Der Spannungsbogen zwischen der Autonomie der Ortskirche und dem Streben nach Oikumene blieb dabei jedoch ungelöst. Seit Paulus wurde der Vereinzelung der Gemeinden über das Versenden von Briefen und ihre Verlesung in den Gemeinden begegnet.5 Schon dem Apostel gelang es, mit seinen Briefen Normen, Werte und Regeln festzulegen, die die einzelnen Gemeinden trotz der räumlichen Trennung in ihrem ChristSein bestätigten. Durch die sich etablierende Kirchenorganisation wurden Apostel, Propheten und Lehrer abgelöst und der Bischof zum Mittelpunkt der Gemeinde.6 Bischöfe beanspruchten früh, Sprachrohr ihrer Gemeinden zu sein. Sie konkurrierten aber unter Umständen mit Klerikern um den Einfluss in den Ortsgemeinden und mit Amtsgenossen um die Durchsetzung ihrer theologischen und kirchenpolitischen Auffassungen. Als Leitfiguren ihrer Gemeinden konnten sie auf bestimmte Ressourcen rekurrieren, die ihnen zumeist auch durch das Amt zugesprochen wurden.7 Diese sind finanzielle Mittel, Kontakte zu anderen Bischöfen, theologische bzw. biblische Kenntnisse und ein ihnen durch die Weihe verliehenes – mit Bourdieu gesprochen – religiöses Kapital. Nur die Akzeptanz und Anerkennung in der Gemeinde und von benachbarten Bischöfen
|| 4 Vgl. Cypr. epist. 55 an den Bischof Antonianus; Cypr. epist. 65 an den Bischof Epictetus von Assuras; Cypr. epist. 64 an den Bischof Fidus und Cypr. epist. 44 an Cornelius von Rom. 5 Zu Paulus und der neutestamentlichen Briefpraxis: Bauer (2011); Suhl (2007); Eckstein (2004); Klauck (1998). 6 Einführend in die Geschichte des Christentums: Markschies (32016); Pietri (2005); Chadwick (2001); Decret (1996); Lane Fox (1986). Zu den Ämtern: Schöllgen (1998). Besonders zum Bischof: Thier (2011); Schöllgen (2006); Rapp (2005). 7 Entgegen den Vorbehalten von Leppin (2016) 50 spreche ich bewusst von Amt, gerade um die sich etablierenden Kirchenstrukturen deutlich fassen zu können.
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mithilfe dieser Ressourcen machte einen Bischof zu einem erfolgreichen Gemeindeleiter. Einen Einblick in das Agieren von Bischöfen bieten als exzeptionelles Zeugnis die Briefe des karthagischen Bischofs Cyprian (248/49–258).8 Die Briefe stammen aus der Mitte des dritten Jahrhunderts und beinhalten Teile der bischöflichen Korrespondenz. Die Briefpartner Cyprians stammten aus Karthago, Nordafrika, Rom, Gallien, Spanien sowie Kappadokien. Es sind 81 Briefe von und an Cyprian tradiert, und eine große Zahl kann aus den vorhandenen Briefen erschlossen werden. Ein wiederkehrendes Thema im Briefcorpus des karthagischen Bischofs Cyprian sind Aufgaben und Befugnisse von erfolgreich agierenden Bischöfen. Dass sich mehrere Briefe des Corpus über den ganzen Episkopat von Cyprian verteilt diesem Themenfeld widmen, zeigt einerseits die Wichtigkeit des Themas, weist andererseits aber auch auf die Schwierigkeiten hin, die Bischöfe noch in der Mitte des dritten Jahrhunderts mit ihren Befugnissen über Gemeinde und Klerus zu haben schienen. Wer rechtmäßiger Bischof einer Gemeinde war, wie sich ein Bischof idealiter verhalten sollte und welche Amtsbefugnisse er besaß, musste wiederholt schriftlich, d.h. über Briefe, in Erinnerung gerufen, diskutiert und nach Möglichkeit durchgesetzt werden. Der Brief 67 des cyprianischen Corpus gibt Einblick in Voraussetzungen und Wahlverfahren von Bischöfen und weist exemplarisch auf das Themenfeld der bischöflichen auctoritas (cathedrae auctoritas). Es lassen sich durch diesen Brief Strategien von Bischöfen offenlegen, um ihre jeweiligen Anliegen und Auffassungen in Bezug auf Rollen und Aufgaben von Funktionsträgern durchzusetzen und so Einfluss auf Gemeinden zu nehmen. Dies soll Gegenstand der folgenden Überlegungen sein. Die Bedeutung, die der brieflichen Kommunikation zugeschrieben werden kann, wird auf diese Weise offensichtlich.
2 Brief 67 In Spanien waren Schismen in den Gemeinden Legio et Asturica sowie in Augusta Emerita entstanden, in die vier Bischöfe involviert waren. Das spanische Christentum wird durch diesen Brief erstmals genauer fassbar.9 Sotomayor geht || 8 Baumkamp (2014) 50–57. 9 Frühere Hinweise auf spanische Gemeinden finden sich zwar bei Iren. adv. haer. 1,10,2 und bei Tert. adv. Iud. 7. Diese sind jedoch sehr allgemein gehalten und bieten keine konkreten Anhaltspunkte für die Christianisierung der spanischen Provinzen. Für die Mitte des dritten Jahrhunderts darf man wohl keine hohe Dichte an Bischofssitzen vermuten, denn es werden in
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davon aus, dass die spanischen Gemeinden sich sowohl unter römischem als auch unter nordafrikanischem Einfluss gründeten.10 So lässt sich erklären, warum sich die spanischen Bischöfe teils an Rom und teils an Karthago wandten. Wie groß die genannten Gemeinden gewesen sind, lässt sich nicht bestimmen, doch gab es in der Mitte des dritten Jahrhunderts zumindest Bischöfe, zum Teil auch Presbyter und Diakone in Spanien. Die Gemeindespaltungen wurden durch das Verhalten der zwei nach dem Ende der decischen Verfolgung abgesetzten Ortsbischöfe, Basilides und Martialis, ausgelöst. Die neugewählten Bischöfe hießen Felix und Sabinus. Die beiden Vorgänger von Felix und Sabinus, Basilides und Martialis, waren während der decischen Verfolgung in den Besitz von libelli gekommen, hatten aber wohl nicht persönlich an Opfern teilgenommen.11 Sie akzeptierten nach Ende der Verfolgung 251 ihre Absetzung als Bischöfe und wurden wieder zu Laien. Bevor es zu den Absetzungen kam, müssen sich die Amtsträger der spanischen Kirche untereinander sowie mit den betroffenen Gemeinden verständigt haben, um die Absetzungen und Neuwahlen zu organisieren. In Spanien reagierte man wie in Nordafrika und Italien auf ‚gestrauchelte‘ Bischöfe. Es ist daher anzunehmen, dass die Synodalbeschlüsse der Bischofsversammlungen aus Karthago und Rom bekannt waren.12 In den Jahren 251 bis spätestens 253 kam es vermutlich zu einem intensiven Austausch in Spanien über den Umgang mit Basilides und Martialis. Nach einiger Zeit forderten beide jedoch ihre Wiedereinsetzung als Bischöfe.13 In der Zwischenzeit hatten die Gemeinden aber, um einer Sedisvakanz zu entgehen, mit Zustimmung benachbarter Bischöfe neue Bischöfe bestimmt. Das Neuwahlprozedere wird mit Sicherheit einige Zeit in Anspruch genommen haben, da man sich in den jeweiligen Gemeinden || dem Schreiben nur drei Bischofssitze genannt. Zu Beginn des vierten Jahrhunderts hat sich die Zahl der Bischofssitze auf 19 gesteigert, wie aus den Canones von Elvira deutlich wird. Dazu Reichert (1990). 10 Sotomayor (1989) 277; 287. 11 Cypr. epist. 67,6,2: praeter libelli maculam. 12 Cypr. epist. 67,6,3: frustra tales episcopatum sibi usurpare conantur, cum manifestius sit eiusmodi homines nec ecclesiae Christi posse praeesse nec deo sacrificia offerre debere, maxime cum iam pridem nobis cum et cum omnibus omnino episcopis in toto mundo constitutis etiam Cornelius collega noster, sacerdos pacificus ac iustus et martyrio quoque dignatione domini honoratus, decreuerit eiusmodi homines ad paenitentiam quidem agendam posse admitti, ab ordinatione autem cleri atque sacerdotali honore prohiberi. 13 Dunn (2007) 234 geht davon aus, dass Basilides von der Aufnahme des italischen Bischofs Trofimus, der während der Verfolgung ein Weihrauchopfer vollzogen hatte, durch Cornelius gehört hatte und ihn dies motivierte, ebenfalls seine Wiedereinsetzung zu fordern. Cypr. epist. 55,2.11.
Zur Funktion von Briefen in innergemeindlichen Auseinandersetzungen | 363
auf geeignete Kandidaten verständigen und benachbarte Bischöfe einladen musste.14 In den Gemeinden selbst hatten die abgesetzten Bischöfe aber weiterhin Fürsprecher, die die neugewählten Bischöfe nicht anerkannten und das Fehlverhalten von Basilides und Martialis als minder schwer bewerteten.15 Da im gesamten Imperium Romanum lapsi in großer Zahl anzunehmen sind, ist dies auch für Spanien wahrscheinlich. Attraktiv war die erneute Einsetzung von beiden nun vor allem für diejenigen Christen, die sich selbst während der Verfolgung nicht standhaft zum Christentum bekannt hatten. Doch nicht nur die abgesetzten Bischöfe hatten Fürsprecher, auch Felix und Sabinus unterstützten sich ungeachtet der räumlichen Distanz gegenseitig in ihrer Auseinandersetzung um die Anerkennung in der Gemeinde. Sie suchten gemeinsam ferner weiteren Zuspruch in Spanien und fanden ihn in Bischof Felix von Caesaraugusta.16 Ein Brief ist Ausweis dieser Fürsprache. Sieht man sich die innerspanische Kommunikation der Bischöfe an, so sticht ins Auge, dass alle erwähnten Städte bedingt durch ihre Lage im Imperium Romanum von einem gut ausgebauten Verkehrswegenetz in Spanien profitierten. Dies begünstigte den Kontakt der Bischöfe untereinander immens. Informationsknotenpunkt war dabei Augusta Emerita als Provinzhauptstadt der Lusitania. Dort trafen wichtige Verkehrsverbindungen zusammen.17 Legio et Asturica war aufgrund des nordwestlichen Bergbaus wie Caesaraugusta an Verkehrsverbindungen angeschlossen. Über die Grenzen Spaniens hinaus wurden die Schismen bekannt, als der ehemals abgesetzte Bischof Basilides nach seiner erneuten Wahl durch Teile der Gemeinde nach Rom reiste.18 Ob spanische Bischofskollegen die abermalige Wahl zum Bischof von Legio et Asturica unterstützten, ist nicht bekannt.19 In
|| 14 Zum bischöflichen Wahlverfahren: Cypr. epist. 67,5,1f.; Evers (2010). Allgemein: Norton (2007); MacMullen (2006); Granfield (1976). 15 Darauf deutet Cypr. epist. 67,9,1 hin. Über die Zahl der Fürsprecher lassen sich allerdings keine Aussagen machen. 16 Vgl. Cypr. epist. 67,6,1. 17 Vgl. Panzram (2002) 227f. 18 Dunn (2007) 233 nimmt an, dass Basilides vor seiner Wahl nach Rom ging, ohne seine Aktion und den Wunsch, wieder in das Amt eingesetzt zu werden, zu offenbaren. Die Reise nach Rom war aufwendig und dauerte mit Sicherheit mehrere Monate. 19 Diese Annahme setzt jedoch weitere Bischofssitze in Spanien voraus, die aber nicht belegbar sind.
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Rom ließ Basilides sich von Stephanus von Rom im Amt bestätigen.20 Der römische Bischof erkannte ihn also an – dies gegen die Beschlüsse, die sein römischer Vorvorgänger Cornelius getroffen hatte!21 Dieses Vorgehen verfestigte das Schisma in Legio et Asturica. Die Anerkennung des Basilides durch Stephanus wird in Form eines Briefes des römischen Bischofs den Gemeinden vermittelt worden sein.22 Der römische Bischof besaß – und dies ist wichtig hervorzuheben – außer einem ideellen Vorrang als cathedra Petri keinerlei legitime Gerichtsbarkeit über andere Bischofssitze,23 schon gar nicht außerhalb Italiens. Basilides wandte sich möglicherweise genau deswegen nach Rom. Er konnte von dem ideellen Vorrang, von der großen räumlichen Distanz zum Geschehen sowie von der Verbundenheit von Rom und Spanien profitieren, schrieb man doch die Gründung der spanischen Gemeinden auch römischen Einflüssen zu. Was der andere in seiner Gemeinde umstrittene Bischof Martialis für seine Anerkennung tat, ist nicht bekannt. Felix und Sabinus brachen nun ihrerseits nach Karthago auf, um Hilfe und Unterstützung der afrikanischen Kirche zu erlangen.24 Während ihrer mehrmonatigen Abwesenheit wurden ihre Gemeinden von Presbytern und Diakonen, die die Aufgaben der Bischöfe übernahmen und daher auch als Ansprechpartner für das Schreiben der afrikanischen Bischöfe fungierten, geführt. Eine differenzierte Amtshierarchie wird somit fassbar, doch besaß nach Aussage des Briefes nur die Gemeinde in Legio et Asturica mit Felix einen Presbyter.25 Da es sich bei dieser Gemeinde um eine räumlich getrennte Doppelgemeinde handelte, hat der genannte Presbyter vielleicht auch während der Anwesenheit des
|| 20 Dunn (2007) 234 argumentiert überzeugend, dass Basilides den römischen Bischof aufsuchen wollte und er möglicherweise Cornelius von Rom (241–253) oder Lucius (253–254) treffen wollte. 21 Briefe aus dem Umfeld der Wiederaufnahme- und Bußbestimmungen sind Cypr. epist. 44; 55; 64; 65. 22 Die Dauer der Reise lässt sich heute nur noch schätzen. Um den immensen Aufwand zu vergegenwärtigen, den der spanische Bischof bei seiner Romreise erbrachte, ist das Stanforder Orbis Projekt von W. Scheidel und E. Meeks besonders hilfreich und anschaulich (http://orbis.stanford.edu/). Dort können geschätzte Reisegeschwindigkeiten von verschiedenen Personengruppen annähernd erfasst werden. Die zeitliche Dimension antiken Reisens wird so mehr als deutlich. 23 Dunn (2007) 240 spricht vom „greater prestige“ des römischen Bischofs. Zur Bedeutung der cathedra in Bezug auf das Amt des Bischofs jetzt Kritzinger (2016) 127–130. 24 Vgl. Cypr. epist. 67,1,1–2. 25 Teja (1990) 122f. geht davon aus, dass mit dem in der Nähe von Legio gelegenen Gemeindeteil die canabae legionis gemeint seien.
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Bischofs weitergehende Aufgaben wahrgenommen. Ein Diakon mit Namen Aelius war in der Gemeinde von Augusta Emerita tätig. Felix und Sabinus waren persönlich nach Karthago gekommen, um im Namen ihrer Gemeinden Hilfe (auxilium) und gegebenenfalls Trost (solacium)26 in der Auseinandersetzung mit den (vormals ehemaligen) Bischöfen Basilides und Martialis zu erhalten. Sie trafen dort im Herbst 254 auf 37 versammelte Amtskollegen.27 Dies war nur möglich, da die nordafrikanischen Bischöfe sich zu einer Herbstsynode in Karthago versammelt hatten. In Karthago kamen seit dem dritten Jahrhundert Bischöfe zur Klärung umstrittener Fragen sowie zum Austausch untereinander zusammen.28 Der direkte und persönliche Kontakt zwischen den Bischöfen war wesentlicher Bestandteil einer Synode. Eine Datierung auf den Herbst des Jahres ist durch den durch die Witterungsbedingungen beschränkten Mittelmeerhandel angebracht.29 Die lange Reise von mindestens 30 Tagen Dauer, die die beiden spanischen Bischöfe unternahmen, weist per se schon auf
|| 26 Cypr. epist. 67,1,1. 27 Die Datierung des Briefes ist umstritten, da sowohl 254 als auch wiederholt 256 vorgeschlagen wurde. Die ausführliche Diskussion findet sich bei Dunn (2007) 230–237. Er kommt zu dem Schluss, dass der Brief wohl spät in das Jahr 254 datiert werden sollte: 1. Es ist zeitlich für Basilides möglich, Stephanus ab Mai aufzusuchen und nach Spanien zurückzukehren. 2. Cyprians Ton in dem Schreiben kritisiert nicht Stephanus als Bischof, sondern betont seine geringe Erfahrung als Bischof. 3. Dass die genannten nordafrikanischen Bischöfe alle auch in den Sententiae Episcoporum genannt werden, sollte kein Argument für die Datierung 256 sein. In anderen Synodallisten erscheinen z.T. ebenfalls die aufgeführten Bischöfe. 28 In der Kirchengeschichte des Eusebius von Caesarea werden wiederholt frühere Synoden im Osten des Imperium Romanum erwähnt. So beispielsweise in Ikonium und Synada, um die Frage des Montanismus zu klären. Eus. h.e. 7,1. Dazu Cypr. epist. 75,7,5. Schon die Vorgänger Cyprians hatten Bischöfe in großer Zahl – zum Teil waren neunzig Bischöfe anwesend – in Karthago versammelt, um Fragen wie den Umgang mit Häretikern zu klären. Siehe dazu die Belege in Cypr. epist. 71,3 unter Agrippinus um 220 und 59,10,1 unter Donatus in den 230er Jahren. 29 Der Mittelmeerhandel war nicht das ganze Jahr über nutzbar, da er in den Monaten November bis März/April weitgehend eingestellt wurde. Duval (2000) 171 betont „la rigueur de cette fermeture de la navigation en hiver“. Einzelne Schiffspassagen gab es trotz der Gefahren in den Wintermonaten. Es gibt in den antiken Quellen oft Hinweise auf einen eingeschränkten Nachrichtenaustausch und Reisehemmnisse aufgrund widriger Witterungsbedingungen bei Fernreisen, z.B. in Cypr. epist. 75,5,1: Firmilian beklagt sich darüber, dass er von dem von Cyprian gesandten Boten, dem Diakon Rogatianus, zur Eile beim Schreiben gemahnt wurde, da der Winter unmittelbar bevorstünde, was eine Rückkehr aus Kappadokien noch komplizierter gemacht hätte.
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ihre problematische Stellung in den Gemeinden hin.30 Unter antiken Mobilitätsbedingungen waren Fernreisen mit immensen Gefahren verbunden.31 Die beiden spanischen Bischöfe brachten Briefe ihrer Gemeinden und des Felix von Caesaraugusta mit, in denen um ein Urteil der afrikanischen Bischöfe (sententia) in der Angelegenheit der konkurrierenden Bischöfe gebeten wurde. Ob die beiden spanischen Bischöfe stellvertretend für ihre Gemeinden oder die im Brief genannten Kleriker diese Briefe verfasst haben, lässt sich nur vermuten. Felix und Sabinus wurden von den anwesenden afrikanischen Bischöfen als rechtmäßige Bischöfe ihrer Gemeinden anerkannt, da sie vor den versammelten Bischöfen sprachen und die mitgebrachten Briefe verlesen wurden. Die afrikanischen Bischöfe sandten zudem ein gemeinsames Schreiben an die spanischen Gemeinden, mit dem sie Felix und Sabinus unterstützten. Cyprian hat diesen Brief geschrieben. Er nennt sich selbst in der ersten Person Singular in der Abschlussformel des Briefes: „Ich wünsche Euch, werteste Brüder, immerwährendes Wohlergehen.“32 Es wird deutlich, welche Bedeutung Briefe und Reisen für die Gemeinden in einer innergemeindlichen Konfliktsituation besaßen. Dass die beiden spanischen Bischöfe hier gleichsam als Briefboten ihrer Gemeinden und Augenzeugen des Geschehens fungierten, weist auf ihr hohes Eigeninteresse hin. Bischöflichen Briefboten wurde in der Regel ein größeres Gewicht zugeschrieben als einfachen Presbytern und Diakonen.33 Im gesamten Corpus Cypriani lässt sich beobachten, dass in innergemeindlichen Krisensituationen Bischöfe durch Mobilität den Kontakt zu anderen Sitzen suchten und sich dadurch eine größere Legitimation zu verschaffen versuchten.34 Dieses Bewusstsein für eine größere Legitimation durch die namentliche Nennung aller in Karthago anwesenden Bischöfe zeigt auch der Synodalbrief. Synoden dienten immer der Entscheidungs- bzw. Konsensfindung, damit also der Vergewisserung der eigenen christlichen Identität. Ihre Ergebnisse wurden
|| 30 Diese Zahl ist ebenfalls ein Schätzwert, um den Aufwand zu vergegenwärtigen, den die beiden spanischen Bischöfe erbrachten, um nach Karthago zu kommen. Vgl. wiederum das Standforder Orbis Projekt von W. Scheidel und E. Meeks (http://orbis.stanford.edu/). 31 Allgemein zum Reisen Giebel (1999); Chevallier (1988); Casson (1976). 32 Cypr. epist. 67,9,3: Opto vos, fratres carissimi, semper bene ualere. 33 Dies lässt sich auch in den Diskussionen um die Anerkennung des Cornelius von Rom 251 verfolgen. Aus Nordafrika waren Bischöfe, nicht Presbyter oder Diakone, zur Überprüfung der Wahl nach Rom geschickt worden. Cypr. epist. 45. 34 So auch Cypr. epist. 48. Cyprian war selbst zusammen mit dem senior episcopus Liberalis nach Hadrumetum gereist, um die umstrittene Anerkennung des römischen Bischofs 251 zu klären, vgl. Baumkamp (2014) 210–216.
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in der Regel bekannt gemacht.35 Inwieweit diese Beschlüsse jedoch auf Akzeptanz außerhalb des eigenen geographischen Raums stießen, lässt sich durch fehlende Briefzeugnisse kaum bestimmen. Vielmehr sind teils abweichende Entscheidungen fassbar, die auf das Spannungsverhältnis von Ortskirchen eines geographischen Raumes zur christlichen Oikumene weisen.36 Das Kirchenrecht entwickelte sich noch und daher waren unterschiedliche (regionale) Regelungen möglich. Ein rechtlich fixierter Entscheidungsprimat zugunsten einzelner Bischofssitze wird erst nach der Anerkennung des Christentums durch Konstantin fassbar.37 Die Entscheidungen der Bischöfe wurden durch den – so begründet es Cyprian an anderer Stelle – spiritus sanctus und uisiones legitimiert.38 Damit beanspruchten die Bischöfe auch die Gültigkeit ihrer getroffenen Entscheidungen. Um die Ergebnisse bekannt zu machen, verschickten die Synodalteilnehmer Briefe. Diese Briefe sind grundsätzlich als ‚offene‘ Briefe zu bezeichnen, da sie über den eigentlich genannten Adressaten in der Regel hinausgehen.39 Sie zeigen, welche Bischöfe sich der – jeweils – ‚rechtmäßigen‘ Kirche anschlossen und mit wem Kirchengemeinschaft gehalten werden sollte. Bei der Herbstsynode von 254 waren 37 Bischöfe anwesend. Es handelt sich im Vergleich zu anderen Synoden, die aus dem Corpus Cypriani bekannt sind, um eine eher geringe Teilnehmerzahl.40 Die Teilnahme an einer Synode konnte durch die Bedeutung der zu klärenden Fragen, durch die Entfernung zum Ort
|| 35 Allgemein zur Idee der Synoden vgl. Sieben (2005); Fischer/Lumpe (1997). 36 Dazu Sieben (2005) 26: „Für die erste [Phase] ist ein rechtlich nicht näher geordnetes Nebeneinander [kennzeichnend].“ Der so genannte Ketzertaufstreit macht dies noch für das dritte Jahrhundert sichtbar. In Nordafrika und (zumindest) in Kappadokien gab es andere Vorstellungen als in Rom von dem Aufnahmeverfahren von ehemaligen Häretikern in die (katholische) Kirche. Während der römische Bischof eine erneute Taufe ablehnte, befürworteten die Bischöfe der genannten Regionen eine zweite Taufe. Zum Ketzertaufstreit: Emmenegger (2010); Sebastian (1997); Kirchner (1970); Müller (1924); Von Soden (1909). 37 Can. 6 von Nicaea. 38 Cypr. epist. 57,5,1: placuit nobis sancto spiritu suggerente et domino per uisiones multas et manifestas admonente. 39 Für das Christentum war der ‚offene‘ Brief entscheidend, denn durch die Verlesung von Schreiben erweiterte sich der Hörerkreis beträchtlich. Dazu Eckstein (2004) 342: „Wie wenig sich die Briefe schon von Anfang an auf eine ausschließlich bilaterale Beziehung zwischen Autor und Empfänger beschränkten, zeigt eine genaue Betrachtung ihrer Schlussgrüße: So lassen neben Paulus eine Reihe weiterer namentlich genannter Brüder, die im Präskript nicht als Mitverfasser erscheinen […], Grüße ausrichten.“ 40 Im Corpus gibt es wiederholt Hinweise auf Synoden. Siehe Cypr. epist. 55; 57; 61; 67; 70; 72 und 73.
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und durch widrige Verkehrsverhältnisse beeinflusst werden. 254 trafen sich hauptsächlich Bischöfe der Africa Proconsularis bzw. der näheren Umgebung der Hauptstadt Karthago.41 Durch die Ankunft der spanischen Bischöfe wurde der Kontakt der Bischöfe über Nordafrika hinaus ausgedehnt. Die oben erwähnte bloße Aufzählung von Teilnehmern in einem Brief und überhaupt der Besitz eines Briefes als Beleg, zur Gemeinschaft von vielen Bischöfen zu gehören, konnten schon zum Argument in einem Konflikt werden. Im vorliegenden Fall wurde so für die Adressaten offensichtlich, dass Felix und Sabinus Teil der communio der Bischöfe waren. Der Brief ist an die Gemeinde von Legio et Asturica, einen Diakon sowie an die Gemeinde in Augusta Emerita gerichtet. Ein über die genannten Gemeinden hinausgehender Adressatenkreis ist jedoch anzunehmen. Neben den Besitz von Briefen als Argument trat die inhaltliche Argumentation in dem einzelnen Brief, um die jeweiligen Anliegen zu unterstützen.42 Cyprians Argumentation diente dazu, die Hörer des Briefes von der Rechtmäßigkeit der Absetzung von Basilides und Martialis sowie der Amtseinsetzung von Sabinus und Felix zu überzeugen. Die Adressaten werden von Cyprian zu Beginn als fratres carissimi und zum Ende des Briefes als fratres dilectissimi angesprochen.43 Durch die Anrede fratres schließt Cyprian zwar alle getauften Christen, Kleriker wie Laien, in seinen Brief ein, v.a. scheint es sich jedoch im vorliegenden Brief um die Laien gehandelt zu haben, die ja überzeugt werden
|| 41 Dies wird durch einen Vergleich mit den Sententiae episcoporum von 256 deutlich, da dort die Amtssitze angegeben sind. Dazu auch Maier (1973). 42 Harrison (2013) 47 betont die Kultur des Hörens in der Antike allgemein und insbesondere in den christlichen Gemeinden. Die Predigten – und wohl auch vorgelesene Briefe – mussten, um zu überzeugen, den rhetorischen Standards für Reden genügen. Auch wenn über das Leben Cyprians vor seinem Amtsantritt nichts bekannt ist, ist seine Zugehörigkeit zur Elite Karthagos anzunehmen. Sein vorhandenes Vermögen (Cypr. epist. 66,4; Pont. vita Cypr. 2,15,1), Hinweise in der Vita des Pontius zu Kontakten zur karthagischen Oberschicht (Pont. vita Cypr. 14,3) sowie die Art und Weise seiner Hinrichtung (Pont. vita Cypr. 18) weisen darauf hin. Dazu Rilinger (1988) 45. Als Mitglied der karthagischen Oberschicht war Cyprian rhetorisch geschult. Dies wird in seinen Werken deutlich, die – auch wenn es keine direkten Zitate paganer Autoren gibt – seinen Bildungshintergrund durch Stil, Ausdrucksfähigkeit und Argumentation deutlich machen. Dazu tritt die genaue Kenntnis der biblischen Schriften, die in seinen Werken deutlich wird: Ad Donatum, testimoniorum libri tres ad Quirinium, ad Fortunatum, ad Demetrianum, de ecclesiae catholicae unitate, de lapsis, de habitu uirginum, de domenica oratione, de bono patientiae, de zelo et liuore, de mortalitate und de opera et eleemosynis. Vgl. allgemein von Albrecht (32012) 1348–1357. 43 Cypr. epist. 67,1,1 und 67,9,1.
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sollten.44 Schon der erste Satz des Schreibens skizziert die ganze Angelegenheit für die angeschriebenen Gemeinden nochmals deutlich: Als man in Karthago zu einer Synode zusammengekommen war, hätte man die Briefe der spanischen Gemeinden gelesen. Cyprian wiederholt dann die Anklage gegen die ehemaligen Bischöfe, die sich durch den Besitz von libelli befleckt hätten, zudem in ruchlose Verbrechen verstrickt wären und aus diesen Gründen das Bischofsamt keinesfalls mehr ausüben dürften.45 Nach cyprianischem Verständnis kommt dem Bischof die zentrale Rolle in der Gemeinde zu. Er schreibt an den Laien Florentius Puppianus programmatisch, dass „der Bischof in der Kirche ist und die Kirche im Bischof“46. Mit der Wahl zum Bischof, die auf göttlichen Willen zurückgeführt wurde, trat der Bischof als Träger des Heiligen Geistes in eine besondere Nahbeziehung zu Gott.47 Damit rückte die Person des Bischofs noch stärker in den Mittelpunkt – und auch die Frage seiner Würdigkeit, wie sich im vorliegenden Brief zeigt. Der Bischof ist derjenige, der neben der praktischen Organisation des Gemeindelebens durch seine Beschäftigung mit dem Alten und Neuen Testament Normen und Werte für die Gemeinde auslegt und idealiter auch durchsetzt. Insgesamt hat für Cyprian „das kirchliche Amt […] die Aufgabe, die Botschaft Christi weiterzutragen, die Existenz der Kirche zu sichern und die von Gott beziehungsweise Christus gegebene Ordnung des individuellen wie kirchlichen Lebens durchzusetzen“48. Ein unangemessen agierender Bischof, der außerhalb der bischöflichen Gemeinschaft steht, bedroht für Cyprian zwangsläufig das christliche Wohlergehen respektive Heil der gesamten Gemeinde. Neben Bezügen
|| 44 Vgl. Duval (2005) 152. Spricht Cyprian über Bischöfe, nennt er sie und ihr Amt episcopus bzw. episcopatus oder sacerdos bzw. sacerdotium. Beide Begriffe werden von ihm nur verwendet, um Amtskollegen zu bezeichnen. Vgl. dazu Bévenot (1979). 45 Cypr. epist. 67,1,1: Cum in unum conuenissemus, legimus litteras uestras, fratres carissimi, quas ad nos per Felicem et Sabinum coepiscopos nostros pro fidei uestrae integritate et pro dei timore fecistis, significantes Basilidem et Martialem libellis idolatriae conmaculatos et nefandorum facinorum conscientia uinctos episcopatum gerere et sacerdotium dei administrare non oportere: et desiderastis rescribi ad haec uobis et iustam pariter ac necessariam sollicitudinem uestram uel solacio uel auxilio nostrae sententiae subleuari. 46 Cypr. epist. 66,8,3: Unde scire debes episcopum in ecclesia esse et ecclesiam in episcopo et si qui cum episcopo non sit in ecclesia non esse. Schöllgen (1986) 150 lehnt es ab, Cyprians Bischofsverständnis als monarchisches Episkopat zu bezeichnen. 47 Vgl. trad. apost. 3 (Beschreibung einer Bischofswahl). 48 Hoffmann (2004) 365.
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zum Alten Testament über die Stellung des Priesters ist vor allem die Vorstellung des Bischofs als Nachfolger der Apostel für Cyprian entscheidend.49 Macht man sich dieses Verständnis bewusst, wird klar, warum Cyprian die Rolle des Bischofs im Brief an die spanischen Gemeinden definiert. Im vorliegenden Brief leitet Cyprian aus den ausgewählten biblischen Passagen nun angemessenes bischöfliches Verhalten ab. Die persönliche Reinheit und unbefleckte Schuldlosigkeit des Bischofs als Vorsteher der Gemeinde seien unerlässlich. Diese beiden Motive werden in diesem Schreiben mehrfach wiederholt, da sie den Hauptkritikpunkt am Verhalten von Basilides und Martialis darstellen. Mit Verweis auf Tit 1,7 bemerkt Cyprian: „Der Bischof muss ohne Schuld ein Verwalter Gottes sein!“50 Einige der Vergehen der Bischöfe während ihrer Amtsführung werden im Brief aber nur exemplarisch angeführt: So habe Martialis seine Söhne nach paganem Ritus bestatten lassen.51 Beide hätten das ChristSein öffentlich verleugnet.52 Auf die Nennung weiterer Anschuldigungen verzichtet Cyprian, so überlässt er es dem Hörer, sich ein Bild von den „anderen und schwerwiegenden Verbrechen“53 zu machen. Ähnlich unklare Vorwürfe hatte Cyprian auch schon gegen einen nordafrikanischen Häretiker erhoben.54 Zwei Erklärungen bieten sich hier an, warum Cyprian auf die ausführliche Nennung der delicta verzichtet – obwohl sie zur Verstärkung des negativen Urteils beigetragen haben dürften –: Zum einen kannten die spanischen Gemeinden die Verbrechen, so dass ihre Aufzählung überflüssig wäre und die Phantasie der Hörer anregen konnte. Cyprian steigert also seine Aufzählung vom Besonderen zum Allgemeinen in Form einer Klimax; zum anderen mag ebenfalls die Zusammenstellung der Briefe eine Rolle gespielt haben. Die delicta werden nur exemplarisch genannt, da zu detaillierte und individualisierte Darstellungen vom Kernthema des gesamten Briefcorpus ‚Der gute Bischof‘ ablenken. Seine Argumentation fußt hier auf autoritativen Stellen des Alten und Neuen Testa-
|| 49 Zur Nachfolge als Apostel vgl. Mt 16,18f. Allgemein zum Kirchenverständnis Cyprians: Hoffmann (2004) 378; Mattei (2004) 19. 50 Cypr. epist. 67,5,4: episcopum oportet esse sine crimine dei dispensatorem. 51 Cypr. epist. 67,6,2. Mit Verweis auf diese Aussage nimmt Kritzinger (2016) 189, an, dass es „eine Vorschrift oder jedenfalls einen Konsens […]“ gegeben habe, „sodass es für den Gläubigen Christen unschicklich wurde, sich auf einem heidnischen Friedhof begraben zu lassen“. Mir scheint allerdings, dass Cyprian vor allem das Verhalten eines Bischofs kritisiert, der als Vorbild für seine Gemeinde fungieren sollte und damit elementare bischöfliche Pflichten in seinen Augen nicht erfüllt. 52 Cypr. epist. 67,6,2–3. 53 Cypr. epist. 67,6,2: alia et multa grauia delicta. 54 Cypr. epist. 59,10,1.
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ments, die sich mit der Reinheit der Priester befassen.55 Die Reinheit des Priesters wird dabei zweiseitig begriffen: Reinheit bei kultisch rituellen Handlungen und Reinheit durch moralisch angemessenes Verhalten.56 Wie Fahey herausgearbeitet hat, benutzt Cyprian gerade alttestamentarische Belege, die sich mit der Reinheit von Priestern auseinandersetzen, mehrfach im Kontext der Auseinandersetzung mit häretischen bzw. schismatischen Bischöfen.57 Da es Cyprian vor allem um das ethische und moralische angemessene Verhalten des Bischofs geht, dominieren diese Bibelpassagen.58 Allgemein sind Verweise auf die biblischen Schriften für Cyprian dahingehend von immenser Bedeutung, da er in ihnen mandata59 sieht. Diese göttlichen Anweisungen und Gebote sollten für alle Christen, Kleriker wie Laien, handlungsleitend sein. Cyprian leitet die ausgewählten Zitate oft mit konkreten Hinweisen auf den Herkunftsort, seien es die Bücher Mose, die Propheten oder die Evangelien, ein.60 Auch wenn die biblischen Texte vielen Hörern des Briefes bekannt und ihnen die Zitate geläufig gewesen sein dürften, sichert er auf diese Weise seine Argumentation. Das nächste wichtige Argument neben dem korrekten Verhalten eines Bischofs ist ebenso das richtige Verhalten und die Rolle der Gemeinde bei der Wahl eines Bischofs, die ebenfalls schon durch die traditio diuina (vor-) bestimmt sei. Deshalb muss sorgsam aufgrund der göttlichen Überlieferung und der apostolischen Regeln beachtet und eingehalten werden, was bei uns und auch in fast allen Provinzen eingehalten wird, dass bei richtig zu feiernden Ordinationen zur Gemeinde, für die ein Vorsteher ernannt wird, die Nachbarbischöfe der gleichen Provinz dazukommen und der Bischof in Gegenwart der Gemeinde ausgewählt wird, die das Leben des Einzelnen am vollständigsten kennt und den Charakter eines jeden im Umgang mit ihm durchschaut hat.61
|| 55 Ex 19,22; Ex 28,43; Lev 21,17 sowie Mt 15,8f.; Mk 7,6; Mk 7,9.13; Ioh 9,3,1. 56 Paganini/Repschinski (2012) 452 betonen, dass „die beiden Vorstellungen oft miteinander kombiniert worden zu sein [scheinen] und nicht ohne weiteres voneinander trennbar“ sind. 57 Vgl. Fahey (1971) 75; 82. 58 Vgl. Fahey (1971) 40 und Vos (2010) 67. 59 Cypr. epist. 67,2,1: praedicta et mandata mit Verweis auf Mk 7,9 und 7,13. 60 Dass Cyprian auch in anderen Werken gezielt biblische Zitate einsetzt, um seine Argumentation zu stützen, zeigt Diefenbach (2007) am Beispiel der apologetischen Schrift Ad Demetrianum. Cyprian habe „eine konsequente Fundierung auf die biblischen Schriften und exempla“ (94). 61 Cypr. epist. 67,5,1: Propter quod diligenter de traditione diuina et apostolica obseruatione seruandum est et tenendum quod apud nos quoque et fere per prouincias uniuersas tenetur, ut ad ordinationes rite celebrandas ad eam plebem cui praepositus ordinatur episcopi eiusdem prouin-
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Die anwesende Gemeinde habe bei der Einsetzung eines Bischofs also sehr wohl Einfluss auf die Wahl bzw. im vorliegenden Fall auf die Ablehnung. Da bei einer Wahl Verhalten und Charakter des Kandidaten von der Gemeinde geprüft und gebilligt werden müssen,62 weist Cyprian in diesem Brief besonders auf die Bedeutung des skizzierten bischöflichen Verhaltens hin. Er berichtet vom Wahlverfahren in Nordafrika, das eben auch in weiteren Regionen des Reiches praktiziert werden würde, und referiert die Amtseinsetzung des Sabinus.63 Dieser hatte den afrikanischen Bischöfen von seiner Wahl mit Sicherheit berichtet und den Adressaten war sie bekannt.64 Der Akt des Handauflegens symbolisierte dabei sowohl Wahl wie Weihe zum Bischof der Gemeinde.65 Zwei Grundvoraussetzungen sind für die gesamte Argumentation bezüglich des Wahlverfahrens maßgeblich: die traditio diuina und die apostolica obseruatio. Der Hinweis auf den (vermeintlich) apostolischen Ursprung des Verfahrens und die (Amts-) Nachfolge der Apostel durch Bischöfe betont die Bedeutung des bischöflichen Amtes.66 Da die Apostel diejenigen sind, die die christliche Tradition wahren, dient der zweifache Verweis auf Tradition und Apostolizität der stärkeren Emphase. Die traditio diuina war auch in den Bemerkungen zur rituellen Reinheit
|| ciae proximi quique conueniant et episcopus deligatur plebe praesente, quae singulorum uitam plenissime nouit et uniuscuiusque actum de eius conuersatione perspexit, Übersetzung der Autorin. 62 Cypr. epist. 67,4,1f: sacerdos plebe praesente sub omnium oculis deligatur et dignus atque idoneus publico iudicio ac testimonio conprobetur. Coram omni synagoga iubet deus constitui sacerdotem, id est instruit et ostendit ordinationes sacerdotales non nisi sub populi adsistentis conscientia fieri oportere, ut plebe praesente uel detegantur malorum crimina uel bonorum merita praedicentur et sit ordinatio iusta et legitima quae omnium suffragio et iudicio fuerit examinata. Thier (2011) 546 spricht daher mit Recht von „examining and evaluating“. 63 Ley (2016) 316 betont die „Wichtigkeit eines geregelten Verfahrens“ bei einem Konflikt und bezeichnet das Wahlverfahren als „hoch integrativ“. 64 Cypr. epist. 67,5,1f. 65 Cypr. epist. 67,5,2: episcopatus ei deferretur et manus ei in locum Basilidis inponeretur. Leppin (2016) 74 nennt das Verfahren eine „Kooptation“ durch andere Bischöfe. 66 Schon Irenaeus hatte durch die ungebrochene Nachfolge der Apostel am Beispiel der römischen Kirche den Wahrheitsanspruch der christlichen (apostolischen) Lehre in Abgrenzung zu gnostischen und häretischen Strömungen deutlich gemacht (Iren. adv. haer. 4,33,8). Beinert (2004) 200 beschäftigt sich mit den unterschiedlichen Vorstellungen, die mit dem Begriff ‚apostolisch‘ verbunden werden. So betont er, dass häufig erst in Spannungssituationen, v.a. in Abgrenzung zu Gnostikern, der Begriff verwendet wird und sich eine Vorstellung von apostolischer Sukzession entwickelt. Merkt (2004) 269 bietet allgemein einen knappen Überblick in Quellen und Forschung zur Apostolizität. Er macht deutlich, dass der Gedanke der Sukzession auf das Engste mit dem kirchlichen Amt verbunden ist. Die apostolische Sukzession ist dabei immer nur ein zusätzliches Argument, das nicht allein verwendet wird (288).
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der Bischöfe zentrales Argument. Sollte eine Gemeinde bewusst gegen diese Bestimmungen handeln und einen unangemessenen Bischof wählen, sei sie ebenso schuldig, da göttliche Normen verletzt seien.67 Ein weiteres Argument liegt in den sich entwickelnden kirchenrechtlichen Bestimmungen begründet, die in Abgrenzung zu traditio diuina von mir hier als traditio catholica bezeichnet wird. Da es schon zwischen 251 und 253 auf Synoden von mehreren Kirchen (Nordafrika und Rom) Beschlüsse bezüglich eines gestuften Wiederaufnahmeverfahrens gab, konnten und sollten diese publizierten Synodalbriefe in den Augen Cyprians handlungsleitend sein.68 Schon längst hat mit uns und überhaupt mit allen Bischöfen auf der ganzen weiten Welt besonders auch unser Amtskollege Cornelius […] beschlossen, solche Menschen [d.h. die, die geopfert haben bzw. libelli besitzen] könne man zwar zur Erfüllung ihrer Bußpflicht zulassen, von der Weihe in den Klerus jedoch und vom bischöflichen Amt müsse man sie ausschließen.69
Durch die Anwendung existierender Verfahren konnten die spanischen Gemeinden ihr Einvernehmen mit der christlichen communio zeigen. Dieses Argument setzte jedoch voraus, dass die Briefe der Synoden von 251 bis 253 zumindest im Westen des Imperiums kursierten und Anerkennung fanden. Cyprian forderte diese offensichtlich ein, konnte er sich doch so – zusammen mit seinen Amtskollegen in Nordafrika – als ein herausragender Bischof präsentieren, dessen Auffassungen und Haltungen bezüglich der Wiederaufnahme Anerkennung fanden. Indem Cyprian die Anerkennung der getroffenen Synodalentscheidungen forderte, rügte er gleichzeitig den Amtsnachfolger des Cornelius, Stephanus, der sich an diesen Entscheidungen nicht orientierte. Obwohl Rom der herausragende Knotenpunkt für die Vermittlung von Briefen, v.a. von Synodalentscheidungen, in die westlichen (und östlichen) Teile des Reiches war, behauptet Cyprian ironisch, dass Stephanus nicht richtig über die Vorgänge in Spanien informiert sei.
|| 67 Cypr. epist. 67,3,2: Propter quod plebs obsequens praeceptis dominicis et deum metuens a peccatore praeposito separare se debet, nec se ad sacrilegi sacerdotis sacrificia miscere, quando ipsa maxime habeat potestatem uel eligendi dignos sacerdotes uel indignos recusandi. 68 Ähnlich auch Ley (2016) 409f. 69 Cypr. epist. 67,6,3: […] iam pridem nobis cum et cum omnibus omnino episcopis in toto mundo constitutis etiam Cornelius collega noster, decreuerit eiusmodi homines ad paenitentiam quidem agendam posse admitti, ab ordinatione autem cleri atque sacerdotali honore prohiberi, Übersetzung der Autorin.
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Der Brief schließt mit der eindringlichen Ermahnung an die Gemeinden, den rechtmäßig ordinierten Bischöfen Felix und Sabinus zu folgen und Basilides und Martialis vehement als Bischöfe abzulehnen. Da der Bischof aufgrund seiner Weihe zum Heilsträger seiner Gemeinde wurde, bemerkt Cyprian in einem späteren Brief plakativ: „außerhalb der Kirche gibt es kein Heil“.70 Im Verständnis Cyprians stehen diejenigen Gemeindemitglieder außerhalb der Kirche, die sich den unrechtmäßig eingesetzten Bischöfen anschließen. Hier weist Cyprian nochmals auf das zu Beginn des Briefes ausführlich dargelegte Fehlverhalten der abgesetzten Bischöfe hin. Durch seine Argumentation werden die in dem Brief der spanischen Gemeinden eingeforderten Ratschläge (consilia) und das Urteil (sententia) zu schon vorherbestimmten diuina praecepta, denen in jedem Fall zu gehorchen sei (obsequium). Die diuina praecepta sind kaum widerlegbar und fordern ihre Gültigkeit. In den ausgewählten biblischen Passagen offenbaren sich zudem mandata. Alle weiteren inhaltlichen Ausführungen (Reinheit des Bischofs, kirchenrechtliche Bestimmungen) sind von den diuina praecepta abhängig. Cyprians gesamte Argumentation in diesem Brief fußt auf dieser Annahme, die er gleich zu Beginn des Briefes nennt. Doch ob die Bemühungen und der Einfluss der afrikanischen Synode in Spanien fruchteten, bleibt unklar. In den noch vorhandenen Briefen spielt die Situation in Spanien keine Rolle mehr.
3 Schluss Der besprochene Brief macht abschließend die unten angeführten Strategien im kommunikativen Austausch der Gemeinden deutlich und lässt Rückschlüsse auf thematische Schwerpunkte bei der Gesamtkonzeption des cyprianischen Corpus zu. Es ist folglich zwischen dem mit Händen greifbaren Brief als eigenes Argument, der Argumentationsstrategie des einzelnen Briefes und letztlich der Zusammenstellung der Briefe im Corpus als Argument zu unterscheiden. 1. Der Brief als Argument: Der Besitz von Briefen, der die begonnene Kommunikation bezeugt, wird zum Argument in der Auseinandersetzung. Ihr Verlesen spielt daher eine nicht zu unterschätzende Rolle. Die Wahl des Ansprechpartners war grundlegend für eine erfolgreiche Durchsetzung des Anliegens. Wer bzw. welche Bischöfe als Ansprechpartner gewählt wurden und mit wel-
|| 70 Cypr. epist. 73,21,2: salus extra ecclesiam non est.
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chen Argumenten sie andere Gemeinden zu beeinflussen versuchten, konnte in Auseinandersetzungen entscheidend sein. Der abgesetzte Bischof Basilides konnte ja durch ein Schreiben des römischen Bischofs seine Bestätigung bei einigen Gruppen in der Gemeinde erwirken; die neuordinierten Bischöfe Felix und Sabinus suchten den persönlichen Kontakt mit Cyprian und dessen Amtskollegen. Cyprian selbst nahm aufgrund seines Sitzes in der Provinzhauptstadt der Africa Proconsularis eine herausgehobene Stellung ein. Die Mobilität der konkurrierenden Bischöfe über große Distanzen zeigt, welche Bedeutung man neben Briefen in außergewöhnlichen innergemeindlichen Krisensituationen dem persönlichen Kontakt beimaß. So konstituierte und festigte sich zugleich eine christliche communio. Durch den Ausweis von sozialen Beziehungen zu anderen Gemeinden konnte ein Bischof seine Akzeptanz in der eigenen Gemeinde vergrößern. Synodalschreiben besaßen durch ihre Publikation innerhalb der christlichen Welt ein über den primären Adressatenkreis hinausgehendes Publikum und erhoben in den Augen der Adressanten einen autoritativen Anspruch auf Gültigkeit. Die Verfasser, die im Namen einer Synode schrieben, konnten in diesen Briefen ihren Einfluss auf formal gleichrangige Personen zeigen. 2. Argumentationsstrategien in den Briefen: Cyprians Argumentation baute auf der Voraussetzung der durch die Bibel vermittelten diuina praecepta auf. Diese wurden nun in dem besprochenen Brief vom karthagischen Bischof als oberstem Repräsentanten der Gemeinden Nordafrikas ausgelegt. Die Unanfechtbarkeit seiner Argumentation nutzt Cyprian geschickt, um (a) das Verhalten und die Person eines Bischofs zu definieren (Forderung nach kultischer und moralischer Reinheit des Bischofs). Dann berief sich Cyprian auf zwei Formen der traditio, die ebenfalls kaum zu kritisieren war, zum einen auf (b) die traditio diuina und zum anderen auf (c) die traditio catholica, also auf längst existierende und gebilligte Synodalbeschlüsse seiner Vorgänger sowie gewohnheitsrechtliche Bestimmungen durch den Bischof der Gemeinde, mithin also auf das sich entwickelnde Kirchenrecht. 3. Zusammenstellung der Briefe im Corpus als Argument: Zu guter Letzt lässt sich festhalten, dass dieser Brief neben anderen in das Corpus aufgenommen worden zu sein scheint, da Cyprian sich allein und zusammen mit seinen Amtskollegen als gelehrter Theologe präsentieren kann: Er definiert angemessenes bischöfliches Verhalten, zeigt Sanktionsmöglichkeiten auf, betont die cathedrae auctoritas und verweist – nach paganem Verständnis – auf die schon ausgebildeten Traditionen der Kirche, an denen er jedoch aktiv mitwirkte. Das gesamte Briefcorpus bietet auf diese Weise das Gesamtbild eines ‚guten‘ Bi-
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schofs – hiermit ist das Amt und nicht die einzelne Person gemeint –, ohne den die katholische Kirche nach cyprianischem Verständnis nicht existieren kann. Auch wenn das Corpus nur einen kleinen detaillierten Einblick in die Entwicklung des frühen Christentums im dritten Jahrhundert bietet, ist die Strahlkraft des cyprianischen Bischofsverständnis für die spätere katholische Kirche kaum zu unterschätzen.
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Marie Revellio
Das Zusammenspiel von Adressatencharakteristiken und Literaturzitaten Eine Analyse identitätsstiftender Kommunikationsstrategien in den Briefen des Hieronymus Der vorliegende Beitrag nimmt am Beispiel des Kirchenlehrers Hieronymus die Charakteristiken der PrimäradressatInnen seiner Briefsammlung in den Blick und analysiert deren Zusammenwirken mit dem für die literarische Gattung topischen Merkmal des Literaturzitats. Das Erkenntnisinteresse ist zweigeteilt: Indessen die Funktion von Zitaten für Verhandlungsstrategien spätantiker Identitätsbildung erörtert wird, wird methodisch eine quantitativ-numerische Herangehensweise an den Forschungsgegenstand erprobt.
1 Hieronymus und seine Briefsammlung Eusebius Hieronymus wurde um 347 als Sohn durchaus begüterter Christen in Stridon, einer kleinen Stadt im heutigen Kroatien, geboren.1 Mit dem Ziel einer Verwaltungskarriere in der Kaiseradministration schlug er zunächst den traditionellen heidnischen Bildungsweg ein und ging für eine ihn nachhaltig prägende Ausbildung nach Rom.2 An der Kaiserresidenz in Trier kam er mit mönchisch-
|| 1 Hieronymus stellt sich selbst zu Beginn seines Schriftstellerkataloges De viris illustribus wie folgt vor: „Hieronymus natus patre Eusebio oppido Stridonis, quod a Gothis eversum Dalmatiae quondam Pannoniaeque confinium fuit“ (Hier. vir. ill. 135,1), vgl. für den Gentilnamen auch Hier. chron. praef. Einschlägige biographische Arbeiten zu Hieronymus’ Leben und Werk haben Grützmacher (1901–1908, Neudruck 1969), Cavallera (1922), Antin (1970), Kelly (1975), Rebenich (1992; 2002), Eigler (2006) und Fürst (2016) vorgelegt. Die Beiträge in Antin (1968a) und Cain und Lössl (2009) ergänzen ausgewählte Facetten, wie auch die Einzeluntersuchungen von Feichtinger (1995) zu Frauen und Askese im Umfeld des Hieronymus, von Williams (2006) über die Autorität christlichen Schreibens bei Hieronymus und von Cain (2009) über die Selbststilisierung in Hieronymus’ Briefen. 2 In Rom nahm er bei dem damals führenden Grammatiklehrer Aelius Donatus, einem ausgewiesenen Kenner Vergils, Unterricht, wie er selbst bezeugt: „Donatus grammaticus, praeceptor meus, Romae“ (chron. zum Jahr 354).
https://doi.org/10.1515/9783110676303-015
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asketischen Lebensformen in Kontakt und nahm fortan Abstand von der bis dahin angestrebten weltlichen Karriere zugunsten eines christlich-asketischen Lebensentwurfs.3 Die unmittelbar darauffolgenden christlich-asketisch motivierten Reisen führten ihn zunächst über Aquileia nach Antiochien, wo er sich auch als Einsiedler in der dort angrenzenden Wüste in Chalkis aufhielt.4 Im weiteren Verlauf reiste er zum Konzil in Konstantinopel (381), wurde dort Schüler von Gregor von Nazianz und kehrte nochmals nach Rom zurück, wo er Kontakt zu asketisch orientierten Aristokratenkreisen aufbaute und sich gar als Sekretär des Papstes Damasus empfehlen konnte.5 Da Hieronymus, durch seine Reisen vertraut mit den östlichen Askeseformen, ein für die stadtrömische Senatsaristokratie verhältnismäßig rigoroses Askeseideal verfocht, kam es nach dem Tod seines Patrons Damasus zu Friktionen und er musste Rom überstürzt wieder verlassen. Eine Pilgerreise führte ihn abermals in den Osten und über Jerusalem und Alexandria schließlich nach Bethlehem. Hier gründete er mit tatkräftiger Unterstützung Paulas, einer der aristokratischen Witwen, mit denen er in Rom Kontakt geknüpft hatte, eine Klostergemeinschaft, in der er bis zu seinem Lebensende im Jahr 420 als überzeugter Asket, philologisch versierter Wissenschaftler und Theologe wirkte. Als Radikalasket und Origenesanhänger in sämtliche religiöse Konflikte der Zeit involviert – und als Person seinerzeit alles andere als unumstritten –, blieb er zeitlebens theologisch eher marginalisiert. Doch der lateinische Muttersprachler Hieronymus war mit einer für seine Zeit exzeptionellen Sprachkompetenz ausgestattet und so erlernte er nicht nur die griechische, sondern auch die
|| 3 Über diese Abwendung von der bis dahin beabsichtigten weltlichen Karriere liegt uns von Hieronymus selbst kein Zeugnis vor. Anstelle einer dezidierten Konversionserzählung setzt Hieronymus seine berühmte Traumerzählung im 22. Brief. Doch berichtet Augustinus von eben einer solchen Abwendung eines einstigen Aspiranten der Verwaltung hin zum mönchischasketischen Leben, die gerade auch in Trier stattgefunden habe, vgl. Aug. conf. 8,6,15. Die Forschung stellt sich daher Hieronymus’ Lebenswendung so oder vergleichbar vor, vgl. Rebenich (2002) 7. 4 Dass der eremitenhafte Eindruck der Schilderungen seines Aufenthalts in der Einöde weniger eine tatsächliche radikale Zurückgezogenheit spiegelt, sondern vielmehr gekonnte Stilisierung derselben ist, konnte Rebenich (1992) 95f. aufzeigen. 5 Hieronymus’ Stellung als Sekretär des Papstes ist in der Forschung umstritten, vgl. hierzu einerseits die Selbstaussage in epist. 123,9,1 und andererseits die Zweifel etwa von Nautin, der die Position vertritt, dass es sich bei der durch die Briefe 19–21 und 35–36 stilisierten Korrespondenz zwischen Hieronymus und dem Bischof von Rom lediglich um eine fiktive Kommunikation handele, vgl. Nautin (1986) 305.
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syrische, aramäische und hebräische Sprache.6 Weiterhin verfügte er trotz des Status als Emporkömmling aus der Provinz durch seine Reisen und sein wissenschaftliches Interesse über ein großes Bekanntennetzwerk, das das gesamte Römische Reich umspannte. Hieronymus hinterließ ein breites Œuvre, das Bibelkommentare und Übersetzungen, asketische Traktate, Streitschriften, Mönchsromane und schließlich eine Briefsammlung umfasst, deren 121 dezidiert von Hieronymus verfasste, an insgesamt 67 unterschiedliche PrimäradressatInnen adressierte Briefe Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sind.7 Unter ihnen finden sich exegetische, asketische, didaktische, verteidigende Traktate, aber auch eher familiär-
|| 6 Hieronymus berichtet durchaus mit Stolz als vir trilinguis bezeichnet zu werden, vgl. Hier. c. Rufin. 2,22. Bezüglich seiner tatsächlichen Fremdsprachenkenntnis herrscht in der Forschung jedoch ein etwas verhalteneres Bild, vgl. zu seinen wohl spärlichen Syrischkenntnissen, die er sich bei seinem Aufenthalt in Chalkis angeeignet hatte, King (2009), zu seinen rudimentären aramäischen beziehungsweise chaldäischen Kompetenzen vgl. auch Vulg. Dan. prol. (Weber [1994] 1341), zu den vergleichsweise wohl recht ordentlichen Hebräischkenntnissen – Hieronymus nennt in epist. 84,3 einen Hebräischlehrer gar namentlich – vgl. Newman (2009). Nichtsdestotrotz zeichnete ihn seine hervorragende Sprachfähigkeit vor den meisten christlichen Autoren des Westens aus – wie aus einer Anfrage Augustinus’ an Hieronymus nach Übersetzungen aus dem Griechischen geschlussfolgert werden kann, konnte dieser selbst kein Griechisch, vgl. Fürst (2016) 83 – und so war Hieronymus wohl als einer der wenigen Gelehrten seiner Zeit überhaupt imstande, nicht-lateinische, christliche Texte (annähernd) in ihrem Original zu studieren. Diese Fähigkeit legte sodann auch die Grundlage für seine wegweisende Übersetzungstätigkeit. 7 In diese Zählung sind die beiden Briefe 18* an den norditalienischen Diakon Praesidius und 27* an den Bischof Aurelius von Karthago wie in der Standardedition von Hilberg (1910; 1912; 1918 sowie in der Wiederauflage von 1996) nicht hinzugezogen. Weiterhin muss konzediert werden, dass diese Sammlung von 121 Briefen bei weitem nicht alle jemals von Hieronymus verfassten Briefe enthält. Hierfür sind freilich zum einen die üblichen Verluste aufgrund der spezifischen Überlieferungssituation antiker Texte verantwortlich, zum anderen jedoch – und vielleicht in viel größerem Maße – der jeweilige Veröffentlichungsgrad, den der Brief erlangt hat. Auf die Wichtigkeit einer expliziten Veröffentlichung für eine länger währende Existenz oder gar Überlieferung weist folgende Einschränkung des Hieronymus hin: epistularum autem ad Paulam et Eustochium, quia cotidie scribuntur, incertus est numerus (vir. ill. 135,5). Von diesen Briefen sind uns lediglich je drei Briefe an Paula (epist. 30; 33; 39) und an Eustochium (epist. 22; 31; 108) erhalten, sodass somit von der regen Kommunikation innerhalb des Klosters in Bethlehem, das Epitaphium Sanctae Paulae (epist. 108) einmal ausgenommen, keine Briefe mehr erhalten sind. Freilich stehen auch die ganz praktischen Schwierigkeiten des Briefversendens einer Tradierung im Wege – hier sind, wie etwa in der Korrespondenz mit Augustinus deutlich wird, einmal das Fehlen eines öffentlichen Postwesens mit allen Risiken des Verlusts durch private Boten sowie die zeitliche Dauer der Überstellung als Hindernisse zu nennen, vgl. hierfür Fürst (1999) 90–92.
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private Schreiben sowie Nekrologe und Danksagungen.8 Die Textgestalt der Briefe variiert darüber hinaus nicht nur hinsichtlich der Länge und der Formalia wie Briefpräskript und -postskript, sondern auch der literarischen Ausarbeitung ganz erheblich. Entsprechend bezeichnet Hieronymus selbst seine Texte mit sehr verschiedenen Termini, wie etwa epistula, commentarius, libellus, volumen und sermo.9 Im Ganzen ist hier demnach ein relativ breites Feld an hieronymianischen Texten unter dem literarischen Vektorraum der Briefgattung zusammengefasst, sodass die Gattungsdefinition skalierend aufgefasst werden muss. Des Weiteren wohnt (wenn auch nur teilweise) intentional komponierten Briefsammlungen wie der hier vorliegenden aufgrund ihrer Vielstimmigkeit nochmals eine ganz eigene Dynamik inne, da sie ein ganzes Feld an AdressatInnen aufspannen, worin der soziale Einfluss und Geltungsbereich des Adressanten gezielt komponiert werden kann. Auch diejenigen Personen, an die die Briefe primär adressiert oder denen sie gewidmet sind, erfahren aus dieser Gemengelage heraus eine besondere Perspektivierung, indem sie als vor allen anderen hervorgehobene AdressatInnen beinahe vorbildhaften Charakter erhalten.
2 Spätantike Identitätsverhandlung über Literaturreferenzen – die Versuchsanordnung Das Vorliegen einer schriftlichen und veröffentlichten Kommunikation, zudem geballt in Form einer Briefsammlung, eröffnet sodann auch besondere Möglichkeiten der Verhandlung von Identität. Dies geschieht neben anderen Verhandlungsstrategien auch über das Bezugnehmen auf einen gemeinsamen, den kul|| 8 Gerade in den familiär-privaten Briefen kommt die eigentliche, distanzüberwindende Qualität des Briefmediums teils deutlich hervor, wenn sich etwa nach dem Wohlsein des Briefpartners und seiner Begleiter erkundigt wird, Informationen über historische Ereignisse und gemeinsam bekannte Personen ausgetauscht oder Grüße Dritter übermittelt werden. Nach Cains Klassifikation entfallen die Themen wie folgt auf die Briefe: exegetischer Inhalt (27 Briefe), auffordernd (18), apologetisch/ rühmend (14), Trost spendend (12), Vorhaltungen machend (8), verurteilend (7), berichtend (4), bittend (3), spottend/ nachweisend/ beratend/ empfehlend/ dankend/ drohend (2), beglückwünschend/ versöhnlich (1); vgl. für diese Einteilung Cain (2009) 209–219. 9 Durch seine fundierte Schulbildung ist dem Christen Hieronymus die literarische und rhetorische Tradition der Briefgattung und ihre recht flexible Form also wohlbekannt. Hiervon zeugt auch ein reflexiv-spielerischer Umgang mit den Grenzen der Gattung innerhalb seiner Texte, wie das Ende der exegetischen Abhandlung über Priesterkleidung an die adlige Römerin Fabiola zeigt: „ego iam mensuram epistulae excedere me intellego“ (epist. 64,21,1).
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turellen und religiösen Horizont markierenden Literaturkanon. Aus dem hieronymianischen Briefkorpus erlangte eine erzählerisch sehr ausgefeilte Passage des 22. Briefes große Bekanntheit.10 Bei dieser Episode handelt es sich um eine (autobiographische) Traumerzählung, in der Hieronymus’ literarisches Ego – von der Fastenzeit völlig verzehrt und mit dem Tode ringend – vor ein Tribunal gezerrt wird: cum subito raptus in spiritu ad tribunal iudicis pertrahor, ubi tantum luminis et tantum erat ex circumstantium claritate fulgoris, ut proiectus in terram sursum aspicere non auderem. interrogatus condicionem Christianum me esse respondi. et ille, qui residebat: ‚mentiris‘, ait, ‚Ciceronianus es, non Christianus.‘ Plötzlich wurde ich im Geist hinweggerafft und vor ein Gerichtstribunal geschleppt, wo mich so viel Licht und so viel leuchtender Glanz der Umstehenden umstrahlte, dass ich auf die Erde fiel und nicht aufzublicken wagte. Befragt nach meiner persönlichen Lage antwortete ich, ich sei Christ. Doch der Vorsitzende entgegnete: ‚Du lügst ‒ ein Ciceronianer bist du, kein Christ!‘11
Diese Bezichtigung einer Lüge als Reaktion auf eine nichtzutreffende Selbstbezeichnung, benennt zwei differente Identitätsangebote: Ciceronianer oder Christ zu sein. Bemerkenswert ist, dass die Bekenntnisdichotomie nicht zwischen Christentum und traditionell-antikem Polytheismus gesetzt wird, da ja ein innerchristlicher Vorgang, vom falschem zum wahren Christsein beschrieben wird. Stattdessen werden die klassisch-antike Bildungstradition und der christliche Glauben gegenübergestellt. Die eigentlich religiöse Identität wird anhand literarisch-kultureller Maßstäbe verhandelt und eine Identitätszuschreibung auf Grundlage der Lektüre vorgenommen.
|| 10 Dieser ausführliche Libellus de virginitate servanda, im Jahr 384 in Rom an die vornehme römische Asketin Iulia Eustochium gerichtet, aber für einen größeren Adressatenkreis verfasst, zählt zu den berühmtesten und meistgelesenen Texten des Kirchenlehrers. Der Traumbericht rekurriert auf vielfältige literarische Traditionen: Formulierungen wie Christianus sum („ich bin Christ“) sowie militare (hier: „als Soldat Christi kämpfen“) verweisen auf Berichte von Christenverfolgungen. Die Tatsache, dass das literarische Ego des Hieronymus bereit ist, zum Äußersten zu greifen und sein Liebstes, seine (heidnische) seit Studientagen bestehende Bibliothek, für den Glauben zu opfern sowie die gleichzeitige Konversion der Umstehenden, zeigt Anlehnungen an christliche Märtyrerlegenden. Schließlich greift die Erzählung eines einschneidenden Erlebnisses durch die Konstituenten von Krankheit und Todesnähe sowie folgender völliger Hingabe zu Gott deutlich die Topik von Konversionsnarrativen auf; vgl. hierfür auch Feichtinger (1991) 56; ead. (1997) 57 sowie Vessey (2002) 53. Der genaue Ort und die Zeit des Traumbildes sind ungeklärt, vgl. Rebenich (1992) 37f. 11 Epist. 22,30,3–4, es handelt sich hier und im Weiteren stets um eigene Übersetzungen.
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Gegen Ende des Traumgesichts leistet Hieronymus’ literarisches Ego unter Folter gezwungen den Eid, nie wieder heidnische Schriften (codices saeculares) zu besitzen oder gar zu lesen: ego, qui tanto constrictus articulo uellem etiam maiora promittere, deiurare coepi et nomen eius obtestans dicere: ‚domine, si umquam habuero codices saeculares, si legero, te negaui‘. – „Ich hätte in meiner tiefen Not noch viel mehr versprochen, ich begann zu schwören und bei seinem Namen zu bezeugen: ‚Herr, wenn ich je wieder weltliche Bücher besitze, wenn ich sie lese, habe ich dich verleugnet‘.“12 Ob Hieronymus diesen Eid tatsächlich gehalten hat,13 ist umstritten und so polarisierte der Vorwurf des Eidbruchs nicht nur seine Zeitgenossen,14 sondern erregt bis heute das Interesse der Forschung. In der eingehenden Literatur zu Zitaten in Hieronymus’ Briefen kann zwischen a) einem Zitat beziehungsweise quellenzentrierten und b) einem biographisch orientierten Interesse sowie c) einem Fokus auf die hieronymianische Kompositionstechnik unterschieden werden. Neben der Pionierleistung von Luebeck, der darauf aufbauenden und bis heute einschlägigen Untersuchung von Hagendahl sowie der kritischen Standardausgabe von Hilberg im CSEL (vol. 54–56), die umfassend Zitate paganer und christlicher Autoren aufführt,15 existieren für den erstgenannten Forschungsstrang diverse Einzeluntersuchungen zu spezifischen Autoren.16 Hagendahls und Cains Arbeiten sind gleichermaßen auch biographisch an der Frage des Eidbruchs orientiert, wobei sich beide Autoren der Eidbruchsthese, in der modernen Forschung erstmals von Pease vertreten, anschließen.17 Die entgegengesetzte Position der Eideinhaltung vertreten Luebeck, Eiswirth, Cain und Adkin, obwohl letztgenannter zunächst noch der Eidbruchsthese zustimmte.18 Stärkere narratologische Fokussierungen auf die hieronymianische Zitattechnik finden sich in den Arbeiten von Hagendahl und || 12 Epist. 22,30,5. 13 Nicht nur im 22. Brief selbst, sondern auch in den im Anschluss verfassten Werken finden sich weiterhin Zitate heidnischer Autoren. Zudem gibt es keinerlei Hinweise, dass Hieronymus die klassischen Autoren aus seiner inkriminierten Bibliothek tatsächlich entfernte. 14 Mit dem Argument des Eidbruchs stellten Hieronymus’ Gegner seine Glaubwürdigkeit generell in Frage, nicht zuletzt sein Intimfeind Rufin von Aquileia, vgl. hierzu die Streitschrift Rufin. apol. adv. Hier. 2,7. 15 Vgl. Luebeck (1872), Hagendahl (1958; 1974), Hilberg (1996). 16 Auszughaft sind hier die Arbeiten von Gilliam (1953) für Ciceros Pro Caelio, von Godel (1964) für klassische Dichter allgemein (dem Cameron [1965] widerspricht), von Burzacchini (1975) für Persius, von Cain (2008; 2013) für Plinius und Terenz und unzählige Artikel von Adkin, zuletzt (2013), zu nennen. 17 Vgl. Pease (1919). 18 Vgl. Eiswirth (1955) und Cain (2008), für den Eidbruch argumentiert Adkin bis (2003).
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Antin sowie stellenweise in den Artikeln von Adkin.19 Eine dezidiert adressatenabhängige Untersuchung der Zitierpraxis, die das Zusammenspiel mit den Charakteristiken der AdressatInnen näher ausleuchtet, fehlt für Hieronymus. Gleichsam als ‚Probebohrung‘ wird dies anhand der Zitate aus Vergils Aeneis, ein Klassiker auch der spätantiken Schulbildung,20 der hier paradigmatisch für die römische Literatur steht,21 erprobt. Da die breitere Leserschaft der Briefe des Hieronymus nur unspezifisch und extrem lückenhaft zu rekonstruieren ist, wird im Folgenden auf die PrimäradressatInnen, an die der Brief in erster Linie adressiert und denen er damit gewidmet ist, fokussiert. Ziel des Beitrages ist es, diese PrimäradressatInnen des hieronymianischen Briefkorpus zunächst hinsichtlich vierer Merkmale näher auszuleuchten (vgl. Kap. 3). Anhand der hierdurch entstehenden Folie der Adressatencharakteristiken wird dann das Zusammenspiel dieser Merkmale mit der Verwendung von Literaturzitaten betrachtet (Kap. 4). Wenn davon ausgegangen wird, dass einerseits die Zitate von den PrimäradressatInnen erkannt werden (sollen) und diese Tatsache andererseits auch als Signal für sekundäre Adressatenkreise bestimmt ist,22 hat
|| 19 Vgl. Hagendahl (1958), hier insbesondere 269–328 und Antin (1960). 20 So berichtet etwa Augustinus in seinen Confessiones von der Berührung mit Vergil in seinen Schultagen, vgl. Aug. conf. 1,13f.,20–23 und 1,17,27. 21 Einen hohen Stellenwert Vergils gleichsam als Nationaldichter misst Hieronymus dem Dichter selbst bei, wenn er ihn in Abwandlung eines Horazzitates mit Homer, dem Stammvater der griechischen Literatur, vergleicht, wie in seinem Brief an Algasia, eine gebildete Christin aus Gallien: cum Vergilius, alter Homerus apud nos, epist. 121,10,5. Und so resümiert Rees bezüglich der Vergilrezeption im vierten Jahrhundert: Vergil „enjoyed canonical status as a defining characteristic of Roman culture“, Rees (2004) 6. 22 Dass die Briefe nicht ausschließlich als Privatkommunikation an die PrimäradressatInnen gerichtet sind, sondern von Anfang an an einen weiteren Rezipientenkreis adressiert sind, kann einmal an der teilweise planvoll veröffentlichten Zusammenstellung als Briefsammlung durch Hieronymus und an internen Texthinweisen festgestellt werden: In seinem Schriftstellerkatalog gibt Hieronymus an, ein Buch Briefe an verschiedene AdressatInnen verfasst zu haben (Epistularum ad diversos librum unum, vir. ill. 135,2). Diese editorische Entscheidung zeigt sein Bewusstsein für die Tradition lateinischer Prosabriefe, in der die Wirkung des rhetorischen Effekts von Briefsammlungen gezielt als Eigenwerbung unter Zeitgenossen wie auch der Nachwelt eingesetzt wurde, vgl. Cain (2009) 17f., vgl. ferner auch die Angabe in vir. ill. 135,3 zu einem Briefbuch an Marcella, vgl. Cain (2009) 68ff. Weiterhin lassen sich Texthinweise finden, die konkret auf einen über die PrimäradressatInnen hinausgehenden Rezipientenkreis verweisen, so beispielsweise im 130. Brief an die vornehme Asketin Demetrias, wenn es heißt: Dubito an loquar, sed — uelim, nolim —, quia crebro fit, dicendum est, non quo haec in te timere debeam, quae ista forsitan nescias nec umquam audieris, sed quo per occasionem tui ceterae praemonendae sint, epist. 130,19,1. Ein weiterer Hinweis für die Auflösung einer allzu strikten Trennung zwischen Primär- und SekundäradressatInnen findet sich in epist. 32: Dem Brief, der
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dies nicht nur Auswirkungen auf die (vermeintlich) persönliche Briefkommunikation, sondern auch auf Strategien der Identitätsverhandlung innerhalb eines öffentlichen Diskurses. Die These ist, dass innerhalb des spätantiken Rezipientenkreises des Hieronymus Literaturzitate aus klassischen, das heißt nichtchristlichen paganen Autoren auch und gerade in christlichen Zirkeln den Kommunikationsstil des öffentlichen Diskurses prägten. Das Lesen und Wiedererkennen paganer Klassiker gehörte damit zur Zeit des Hieronymus zum Bildungshorizont spätantiker Christen und das Einflechten solcher Zitate war Teil eines gemeinsamen, das Römische Reich umspannenden, literarisch geprägten Sprachregisters.
3 Adressatencharakteristiken Die Merkmale, nach denen der Empfängerkreis der PrimäradressatInnen näher charakterisiert wird, sind die geographische Verteilung, die Geschlechterzusammensetzung und die religiöse Zugehörigkeit, beziehungsweise im Falle von Christen eine weitere Ausdifferenzierung in Kleruszugehörigkeit und Laienschaft. Diese Merkmale ergeben sich teilweise aus den Texten selbst. Dort, wo uns aufgrund der Überlieferungssituation diese Informationen nicht ausnahmslos bekannt sind, wurde auf zusammengetragene und rekonstruierte Informationen aus der Sekundärliteratur zurückgegriffen. War auch dies nicht möglich, wurde ostentativ eine Leerstelle gelassen: PrimäradressatInnen, zu denen nicht
|| an die asketische Witwe Marcella adressiert ist, liegen die epist. 30 und 31 an ihre Freundin Paula und deren Tochter Eustochium als Anhang zur Weitergabe nach (!) der Lektüre durch Marcella bei. Selbige Marcella wird weiterhin dazu aufgerufen, die Lobreden auf die streng asketisch lebende Asella ihren jungen Schülerinnen laut vorzulesen, um sie dadurch zu belehren, vgl. epist. 24,1. Gleiche indirekte Belehrungsfunktion eines weiteren Adressatenkreises ist auch in epist. 52,4 an den Neffen Heliodors, Nepotian, angedacht. Zudem finden sich in Hieronymus’ Briefen Querverweise für die eingehendere Lektüre eines jeweiligen Themas in anderen seiner Schreiben, so etwa in epist. 130,19,3f., welche nur eingelöst werden können, wenn von einer allgemeinen Zirkulation der Schriften ausgegangen wird. Dass ein solches Vervielfältigungs- und Verbreitungsnetzwerk angenommen werden muss, bezeugt das Ende des 47. Briefes an den wissbegierigen Christen Desiderius, in dem Hieronymus genau diesen Verteilungsprozess seiner Schriften kontrolliert auch aus der Ferne zu steuern versucht. Inwiefern die Briefe jedoch zunächst nur an die PrimäradressatInnen geschickt oder ob sie auch sogleich in Vervielfältigung an weitere Personenzirkel versandt wurden, bleibt ungeklärt. Vgl. für Fragen der Rezipienten und des Adressatenkreises auch: Antin (1968b), Fürst (1999) insb. 169–171, Conring (2001) insb. 120–122, Williams (2006) hier 241–251.
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ausreichend Informationen vorliegen, sind in der zweiten, personalisierten Abbildung oben seitlich aufgeführt. Aufgrund der besseren Darstellbarkeit geographischer Distanzen in Karten verglichen mit einer tabellarischen Auflistung ist hier eine solche Visualisierungsform gewählt.23
|| 23 Auch Fürst (2016) hat in seinem Vorsatzblatt eine solche Darstellungsform gewählt, indem er den Korrespondenzorten des Hieronymus die jeweiligen Personennamen zuordnet. Doch Fürsts Karte ist lückenhaft, da sie nicht alle Korrespondenzpartner aufweist, so fehlen beispielsweise der greise Paulus aus Concordia (Adressat von epist. 10), Hieronymus’ Tante Castorina (Adressatin von epist. 13) und der Diakon Julian aus Aquileia (Adressat von epist. 6). Von Fürst ist die hier gewählte Visualisierung inspiriert, die mit der Anwendung Antiquity À-lacarte Karten des Projekts Ancient World Mapping Center verwendet, [12.11.2018].
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Abb. 1: Chronologisch-geographische Ausbreitung des Briefnetzes
Das erste Kriterium der geographischen Verteilung dokumentiert den gesicherten oder rekonstruierten Aufenthaltsort der AdressatInnen zu der Zeit, als das Schreiben an sie gerichtet wurde, da angenommen wird, dass der jeweilige Brief
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zumindest in einer Ausfertigung an sie ausgehändigt und von ihnen an diesem Aufenthaltsort gelesen wurde.24 Um die Briefcharakteristik der Texte noch deutlicher herauszustreichen, wird eine diachrone Perspektive mit in den Blick genommen. Die Darstellung in Abb. 1 ist daher zusätzlich nach den vier Phasen der Aufenthaltsorte des Hieronymus zur Zeit der Briefsendung aufgefächert, um die räumliche Distanz, die zwischen Adressant und PrimäradressatInnen durch das Medium Brief überbrückt werden muss, noch weiter zu verdeutlichen.25 Aus der ersten Phase, in der sich Hieronymus in Antiochien beziehungsweise der Wüste aufhielt, sind insgesamt 17 Briefe erhalten, welche an PrimäradressatInnen gerichtet sind, die sich in Norditalien und Rom wie auch im östlichen Teil des Reiches in Syrien vor Ort sowie in Jerusalem und Ägypten aufhalten. Von Hieronymus’ nächster Station – dem Konzilsbesuch in Konstantinopel – sind nur zwei Briefe erhalten, beide gehen an den Bischof Damasus nach Rom.26 Von Hieronymus’ zweitem Romaufenthalt sind 25 Briefe überliefert. Sie alle sind an PrimäradressatInnen in Rom selbst gerichtet. Von der Zeit nach Hieronymus’ Niederlassung in Bethlehem schließlich sind 77 Briefe überliefert, deren geographische Streuung am weitesten ausgedehnt ist. Als gänzlich neue Korrespondenzorte kommen in dieser Zeit Südgallien und Spanien sowie Nordafrika hinzu. Die chronologisch-geographische Aufspaltung gibt Aufschluss über die phasenbedingte Verbreitung und Verdichtung des Kommunikationsnetzes des Hieronymus. Bemerkenswert ist, dass sich die Korrespondenzorte in den Phasen 1 bis 3 noch beinahe vollständig mit den Lebensstationen des Hieronymus und den daraus resultierenden persönlichen Bekanntschaften decken, in Phase 4 jedoch scheinen diese Kontakte vermehrt abgebrochen zu sein, da er nur noch eingeschränkt brieflichen Kontakt zu AdressatInnen aus dieser Zeit hatte,27 || 24 Methodisch einschränkend ist darauf hinzuweisen, dass die Aufenthaltsorte der PrimäradressatInnen nicht notgedrungen mit den Rezeptionsorten der PrimäradressatInnen zusammenfallen: So ist beispielsweise epist. 81 an Rufin in Rom stecken geblieben, da Pammachius und Oceanus die Nachsendung an den kurz zuvor aus Rom abgereisten Adressaten einstellten. 25 Die Phasenbestimmungen entstammen Fürst (2016), die Briefdatierung folgt ebenfalls Fürst (2016) sowie Kelly (1975). 26 Die genaue Datierung dieser beiden Briefe, die nachträglich als Beilage zum Traktat De Seraphim dem Bischof von Rom posthum gewidmet sind, ist allerdings unsicher. Möglicherweise sind sie fiktiv und daher etwas später in das Jahr 387 zu datieren, vgl. Fürst (2016) 123, siehe zur Problematik der Korrespondenz mit Damasus generell auch Anm. 5. 27 Von den PrimäradressatInnen aus Phase 1 bis 3 trat Hieronymus später lediglich noch mit Rufin und Heliodor, seinen beiden Bekanntschaften aus der Studienzeit in Rom, in brieflichen Kontakt, für Damasus vgl. Anm. 5. Auf seine Korrespondenzpartner in Rom trifft dieser Kommunikationsabbruch gleichfalls zu, jedoch mit den beiden Ausnahmen von Eustochium, der er
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dafür jedoch seine Kontakte vermehrt in den gallischen Westen und nach Nordafrika ausgeweitet hat. Insgesamt ist die Briefkommunikation eher Richtung Westen orientiert, insbesondere nach Rom; über die Zeit hinweg ist jedoch eine deutliche Verschiebung bis nach Südgallien und Spanien erkennbar. Um den primären Adressatenkreis hinsichtlich des Geschlechts und der religiösen Zugehörigkeit weiter charakterisieren zu können, werden in Abb. 2 die PrimäradressatInnen mit ihren Namen an den jeweiligen Empfangsorten personalisiert.28
|| in Bethlehem noch das Epitaphium Sanctae Paulae (epist. 108) widmet, und Marcella, an die gemeinsam mit dem asketisch lebenden Senator Pammachius die epist. 97 adressiert ist. Dieser späte Brief fällt aus dem zeitlichen Rahmen der Briefkorrespondenz mit Marcella deutlich heraus und mag auch daraus resultieren, dass die Briefkommunikation mit Pammachius generell erst nach Hieronymus’ Abreise aus Rom beginnt. 28 Durch diese Vorgehensweise kann es sein, dass in der personalisierten Karte ein und dieselbe Person an unterschiedlichen Orten und damit mehrfach aufgeführt ist, wie etwa im Falle von Rufin I (v. Aquileia) und Eustochium. Sollte ferner ein Brief an zwei Primäradressat-Innen unterschiedlichen Geschlechts gerichtet sein, so ist das feminine Merkmal dominant und der Brief gleich einem Brief an eine Primäradressatin operationalisiert, so geschehen für den Brief 97 an Pammachius und Marcella. In Bezug auf epist. 126 an Anapsychia(s) und Marcellinus wurde gleichfalls ein gemischtes Adressatenpaar angenommen, in Übereinstimmung mit Cavallera (1922) 1; 320 und Fürst (2016) 163, jedoch im Unterschied zu Grützmacher (1969) 3; 261. Im Fall von epist. 128, einer Handreichung zur Mädchenerziehung, wurde Gaudentius, der Vater der kleinen Pacatula, als Primäradressat angesehen, vgl. die direkte Anrede im Vokativ Gaudenti frater in 128,5,4b. Ob epist. 106 an Sunnia und Fretela gänzlich fiktiv ist, ist umstritten, vgl. Kelly (1975) 285 und 286, insb. Anm. 13. Kelly nimmt an, es handele sich bei den sonst unbekannten Adressaten um zwei gotische Kleriker, so auch Fürst (2016) 246. Die Korrespondenzpaare Pammachius und Oceanus (epist. 84) sowie Pammachius und Marcella (epist. 97) sind wie auch Augustinus und Alypius (epist. 143) in dieser Darstellung nicht einzeln aufgeführt, müssen aber bei der Summierung auf 121 Briefe mitbedacht werden.
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Abb. 2: Personalisiertes Briefnetz
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Adressatinnen (kursiv) finden sich schwerpunktmäßig im westlichen Teil des Kommunikationsnetzwerkes. Von dieser Tendenz weichen lediglich zwei Briefe ab. Bei diesen beiden Briefen handelt es sich um zwei Konsolationsschriften, von denen die eine an Salvina in Konstantinopel zum Tod ihres Ehemannes Nebridius (epist. 79), die andere an Eustochium in Bethlehem zum Tod ihrer Mutter Paula (epist. 108) adressiert sind. Die erstgenannte Trostschrift an die Hieronymus persönlich nicht bekannte Tochter des afrikanischen Machthabers Gildo und (spätere) Schülerin des Johannes Chrysostomos dient wohl dem Versuch einer Kontaktaufnahme mit dem kaiserlichen Hof in Konstantinopel. Die zweite Trostschrift wiederum dient der Stilisierung eines öffentlichen Kultes um die Heilige Paula in Bethlehem, wodurch nicht nur Hieronymus’ Qualität als spiritueller Lehrer, sondern gleichzeitig auch Bethlehem als Pilgerzentrum beworben werden.29 Um merkmalbasierte Beobachtungen treffen zu können, müssen die unterschiedlichen Typen der PrimäradressatInnen zueinander in ein Verhältnis gesetzt werden. Hierfür muss jeweils zwischen ihrem Anteil an den PrimäradressatInnen und ihrem Anteil an der Gesamtheit aller Briefe unterschieden werden. Zur besseren Einordnung der Geschlechtsverhältnisse im PrimäradressatInnenkreis sei mit dieser Trennung hinzugefügt, dass der Frauenanteil an den Briefen der Sammlung insgesamt etwas höher liegt als ihr Anteil an der Gesamtheit aller AdressatInnen.30 Dies bedeutet, dass Hieronymus mit Primäradressatinnen eine eingehendere Briefkommunikationen pflegte als mit Primäradressaten. Mit einer auffallend intensiven Korrespondenz sticht hier die christlich-asketische Witwe Marcella mit 17 ausschließlich an sie gerichteten Briefen überwiegend theologisch-exegetischen Inhalts besonders hervor.31 Diese intensive Korrespondenzphase mit Marcella fällt zu einem überwiegenden Teil in Hieronymus’
|| 29 Vgl. hierfür Cain (2010) 137f. 30 Der Frauenanteil an der Gesamtheit der AdressatInnen beträgt ca. 27 Prozent (18 von 67 PrimäradressatInnen sind Frauen), ihr Anteil an den Briefen der Sammlung insgesamt liegt jedoch bei ca. 34 Prozent (41 der 121 Briefe sind Frauen gewidmet). 31 Marcella stellt zudem mit ihrer von Hieronymus besonders herausgestellten intellektuellen Qualität eine Besonderheit innerhalb der weiblichen Primäradressatinnen dar, vgl. zu ihrer (gerade auch posthumen) Vereinnahmung durch Hieronymus als ‚seine‘ Schülerin Cain (2009) 90–93, zu Marcella allgemein siehe auch Letsch-Brunner (1998), insb. 237ff. Zu den 17 Briefen könnte gar noch Brief 97 hinzugefügt werden, der jedoch zugleich auch an Pammachius gerichtet ist und hier daher getrennt geführt wird. Des Weiteren ist Brief 46, in Absetzung von Cain (2009) 68, ebenfalls nicht hinzugezählt, da eine eigens durchgeführte Autorschaftsattribution mit dem R-Paket stylo, vgl. Eder et al. (2016), diesen Brief nicht als eindeutig hieronymianisch klassifizieren konnte.
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zweiten Aufenthalt in Rom. Gerade in dieser Zeit verschiebt Hieronymus sein Augenmerk merklich auf einen weiblichen Adressatenkreis (aus der Phase vor Rom ist nur ein Brief an eine Frau, und zwar an seine Tante Castorina, dokumentiert, epist. 13), sodass in den Jahren 382–385 sodann auch das einzige Mal die Briefe an Frauen zahlenmäßig diejenigen an Männer übertreffen. Dieser frauenzentrierten Briefphase werden karrieretechnisch relevante Funktionen für Hieronymus zugeschrieben, da ihm gerade der Kontakt zu einflussreichen Frauen der stadtrömischen Aristokratie den Weg in höhere Kreise der Kirche ebnete beziehungsweise sie seinen monetären Spielraum enorm erweiterten, sollte er sie als patrona gewonnen haben.32 Ferner kann dieser Frauenzentrierung eine propagandistische Funktion zugeschrieben werden, insofern Hieronymus von sich durch diese Fülle an Korrespondenzpartnerinnen im öffentlichen Diskurs das Bild als ein vertrauensvoller spiritueller Lehrer prägte, wodurch er seinen durchaus strittigen Standpunkten einer rigoristischen Askese den Anschein zusätzlicher Kredibilität zu verleihen vermochte.33 Da sich unter den PrimäradressatInnen mit dem Rhetor Magnus (epist. 70) nur ein Heide befindet, ist die Empfängergruppe hinsichtlich des Kriteriums der religiösen Zugehörigkeit sehr homogen christlich. Durch das Kriterium der Kleruszugehörigkeit kann zumindest die Gruppe männlicher Christen – Frauen stand der Zugang zu solchen Ämtern freilich nicht offen – noch etwas feiner spezifiziert werden. Zum Klerus werden die nachrichtlich fassbaren klerikalen Ämter ab der Stufe des Subdiakons gerechnet. Knapp die Hälfte der männlichen Adressaten sind dieser Annahme nach der Klerikerschaft zuzurechnen, wobei diese Adressatencharakteristik vergleichsweise stärker auf Adressaten im östlichen Reich zutrifft. Hinzu kommt, dass an männliche Adressaten, die dem Klerikerstand zuzurechnen sind, wiederum verhältnismäßig mehr Briefe als an solche ohne geistliches Amt adressiert sind.34 Durch diese Schwerpunktsetzung
|| 32 Vgl. Feichtinger (1995) 284f., so lernte Hieronymus durch Marcella auch die Witwe Paula, seine spätere Begleiterin, kennen, die die gemeinsam errichtete Klosteranlage in Bethlehem maßgeblich durch ihr Vermögen und ihre ausgezeichneten Verbindungen erst ermöglichte. Zur Christianisierung der Frauen der Stadtaristokratien, vgl. Letsch-Brunner (1998) 69. 33 Vgl. hierfür Cain (2009) 88ff., der diese Funktion gerade dem Briefbuch an Marcella zuschreibt. 34 Von den männlichen Primäradressaten hatten nachrichtlich ca. 48 Prozent ein Amt ab dem Amt des Subdiakons inne. Hinsichtlich der Adressaten im Osten machen diese Amtsträger einen Anteil von 57 Prozent beziehungsweise sogar 67 Prozent aus, wenn Rufin ausschließlich in Rom und nicht noch zusätzlich in Ägypten (beziehungsweise der nitrischen Wüste, vgl. epist. 3) lokalisiert wird. An diese Klerikerschaft adressierte Hieronymus ca. 61 Prozent seiner Briefe an männliche Adressaten. Methodisch ist hierbei jedoch einschränkend anzumerken,
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auf Mitglieder des Klerikerstandes zeigt sich wieder die Tendenz einer strategischen Auswahl und Präsentation der Briefpartner eines durchaus ehrgeizigen, wenn auch hinsichtlich der klassischen kirchlichen Ämterlaufbahn selbst weniger erfolgreichen,35 doch dafür umso gelehrteren Christen. Es kann konstatiert werden, dass Hieronymus im Laufe der Zeit ein reichsüberspannendes Kommunikationsnetz aufbaute, das überwiegend aus Mitgliedern der lokalen Oberschicht bestand. Diese Fokussierung auf die Oberschicht unterscheidet Hieronymus etwa von Augustinus, der seine Kommunikation auch auf breitere Gesellschaftsschichten ausrichtete.36 Im Osten war Hieronymus’ Netzwerk vergleichsweise verstärkt auf (männliche) Klerusangehörige, im Westen vermehrt auf Adressatinnen ausgerichtet. Strategisch konnte Hieronymus hiermit zugleich seine Autorität im Bereich des Bibelwissens mit seiner einzigartigen Sprach- und Textkenntnis weiter untermauern sowie seine Position als exegetisch-asketischer Mentor und geistlicher patronus schriftlich behaupten.
4 Das Zusammenspiel der Adressatencharakteristiken mit Aeneis-Zitaten Als Grundlage für die folgende Untersuchung des Zusammenspiels der Adressatencharakteristiken mit Literaturzitaten dienen die Zusammenstellungen der Aeneis-Zitate in Hieronymus’ Briefen in der durch Kamptner überarbeiteten CSEL-Ausgabe von Hilberg sowie der einschlägigen Untersuchung Hagendahls.37 Bei den dort aufgeführten Zitatfunden handelt es sich um ganze Verse oder gar Versgruppen beziehungsweise um Bruchstücke von Versen.
|| dass sich die Kleruszugehörigkeit der Adressaten mit der Briefebene teils nur schwer verknüpfen lässt, da sich die Standeszugehörigkeit erst im Laufe des Lebens einstellt. Für eine akkurate Aufnahme müsste also genau bestimmt werden können, wann der jeweilige Adressat die geistlichen Weihen empfing und dieser Zeitpunkt müsste dann auf der Briefebene mit der Datierung verknüpft werden. Gelungen ist eine solche Differenzierung für Rufin von Aquileia, daher ist er in der nitrischen Wüste in Ägypten noch nicht als Kleriker, in Rom dann sehr wohl als ein solcher gekennzeichnet. Auf den gesamten Adressatenkreis hin gesehen ist die Informationslage hier jedoch vergleichsweise brüchig. 35 Hieronymus ließ sich 378/9 in Antiochien vom dortigen Bischof Paulinus zum Priester ohne Amtspflichten weihen. 36 Vgl. Cameron (1991) 186. 37 Vgl. Hilberg (1996); Hagendahl (1958).
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Diese relativ klar umrissene Zitatform steht somit in deutlicher Abgrenzung zu weiter skalierten Formen des Intertextualitätsphänomens, wie sie etwa motivische oder thematische Anspielungen sowie strukturelle Anlehnungen im Werksaufbau darstellen. Diese punktuellen Textwiederholungen der Aeneis werden im Folgenden jedoch nicht als isolierte Einschließungen in ein neues Textgewebe betrachtet, sondern mit der Traumsequenz des 22. Briefes des Hieronymus als Referenzen, in denen Kultur diskursiviert und konstituiert wird. In ihnen ist also der Ort der Identitätsverhandlung lokalisiert, sodass anhand von ihnen die Kommunikations- und Verhandlungsstrategie der Identitätsbildung untersucht werden kann. Hieronymus zitiert nach dem hier zugrunde gelegten Quellenbefund in seinem gesamten Briefwerk aus jedem der zwölf Bücher der Aeneis. Insgesamt liegen 81 (sichere, das heißt bedeutungstragende) Aeneis-Zitatstellen in 35 Briefen vor. Flicht er in einen Brief einen Aeneisvers oder -halbvers ein, so ist die Wahrscheinlichkeit für ein weiteres Aeneis-Zitat in diesem Brief sehr hoch. Hierbei kann kein kumulierendes Schema, sodass etwa ein Brief mit einem Aeneisbuch im Besonderen gespickt ist, erkannt werden, vielmehr befinden sich meist Zitate aus verschiedenen Büchern gemeinsam in einem Brief.38 Bezüglich der Anzahl zitierter Verse oder Halbverse liegt die erste Hälfte des Epos vorn, hier stechen insbesondere die Bücher 1 bis 4 hervor. In chronologischer Perspektive lässt sich entgegen des abgelegten Eides seines literarischen Egos kein Abbruch des Einflechtens von Aeneis-Zitaten erkennen, vielmehr scheint Hieronymus durchweg auf Versmaterial der Aeneis zurückgegriffen zu haben. Dennoch lassen sich drei zeitliche Schwerpunkte ausmachen. Die erste Hochphase fällt mit seinem Aufenthalt in der Einöde in Maronia zusammen, die zweite und dritte Phase lassen sich mit zwei Abschnitten in Bethlehem zusammenbringen, wovon die erste Phase in die Jahre 394–399 und die zweite in die Jahre 409–414 fällt, wobei aus letzterer Phase der Brief 130 an die enthaltsam lebende Jungfrau Demetrias, eine Anleitung zum asketischen Leben, mit insgesamt 9 Zitaten aus dem gesamten Briefkorpus deutlich hervorsticht. Umgelegt auf die Folie der Adressatencharakteristiken zeigt sich folgendes Bild: Hinsichtlich der geographischen Verteilung lässt sich zwischen dem Osten und Westen des Reiches ein in etwa gleiches Verhältnis an PrimäradressatInnen erkennen, in deren Briefschreiben Aeneis-Zitate eingearbeitet sind (Name in
|| 38 Im Anschluss an diesen Befund stellt sich die Frage nach der konkreten Arbeitstechnik des Hieronymus. So kann etwa vermutet werden, dass er mithilfe einer Zitatsammlung oder eines Zettelkastensystems arbeitete.
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Abb. 2 fett hervorgehoben). Hieronymus unterscheidet demzufolge nicht zwischen AdressatInnen in Syrien, Italien oder Gallien. Von den gesicherten Zitaten gehen 33 Zitate in 13 Briefen an Primäradressatinnen. Hiermit ist der Adressatinnen-Anteil an Briefen mit Aeneis-Zitaten nur geringfügig höher als der Adressatinnen-Anteil an den Briefen insgesamt.39 Die Zitatdichte ist auf die einzelnen Briefe hin gesehen bei Adressatinnen jedoch etwas höher als bei männlichen Kommunikationspartnern. Es kann demnach konstatiert werden, dass Hieronymus die Primäradressatinnen nicht mittels Zurückhaltung an Aeneis-Zitaten gesondert behandelte, oder gar hinsichtlich ihrer Bildungs- und damit Literaturaffinität zurückstufte,40 ja eher im Gegenteil: Hieronymus adelt sie vielmehr als mindestens ebenbürtig gebildete Kommunikationspartnerinnen, was natürlich für die Beobachter dieser Briefkommunikation auch auf das Bildungsniveau des homo novus aus der Provinz zurückstrahlt. Innerhalb der Adressatinnen haben gerade Frauen in Rom eine etwas höhere Wahrscheinlichkeit, Aeneis-Zitate zugesendet zu bekommen. Dies bestätigt die These, Hieronymus’ Verdienst liege insbesondere auch darin, die römisch-lateinische Bildung der Antike in die christliche und insbesondere asketische Bewegung eingeführt zu haben, wodurch der christlich-asketische Lebensstil auch für die stadtrömische Oberschicht gesellschaftsfähig wurde.41 Bemerkenswert ist ferner der Befund einer hohen Zitatwahrscheinlichkeit bei Klerikern insgesamt. Eine vergleichsweise höhere Wahrscheinlichkeit für Aeneis-Zitate haben hier gerade Anhänger der Klerikerschaft im Osten, was wiederum aus der höheren Wahrscheinlichkeit der männlichen Adressaten im Osten im Allgemeinen bedingt ist.42 Dies kann gleichsam als Hinweis dafür gelesen werden, dass zu Hieronymus’ Zeit der Klerikerstand mit der Oberschicht hoch konfundiert war,43 sodass das Zitieren eines klassischen, paganen Dichters untrennbar zum sprachlichen Register dieses Standes gehörte. Der Brief an den einzigen Heiden trägt kein Aeneis-Zitat, doch ist anzumerken, dass eben dieser als Antwort verfasste Brief – an dessen insinuierter Anfrage das kritische Potential ersichtlich wird, das die Verwendung paganer Zitate bei den zeitgenössischen Rezipienten immer noch hervorrief – eine Rechtferti|| 39 Der Anteil der Primäradressatinnen an Aeneis-Zitaten liegt bei 37 Prozent, wohingegen ihr Anteil an den Briefen wie oben ausgewiesen bei 34 Prozent liegt. 40 Dieser Befund stimmt mit Letsch-Brunner (1998) 241 überein. 41 Vgl. Feichtinger (1997) und Fürst (2016) 45f. 42 Von dieser Tendenz weicht einzig der dem asketischen Leben zugewandte Senator Pammachius in Rom ab, für den in drei seiner vier ausschließlich an ihn adressierten Briefe AeneisZitate eingeflochten sind. 43 Vgl. hierfür auch Rebenich (1992) 13 und Feichtinger (1997) 212f.
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gung der Verwendung paganer Autoren enthält.44 Die bei dieser Verteidigung aufgeführten Literaturzitate werden argumentativ nur als Ausweis des Gebrauchs durch andere Autoren genannt,45 wobei Hieronymus sich durch das bloße Zurschaustellen seines Bemerkens dieser Zitate selbst umgekehrt freilich als Literaturkenner ausweist. Um eindeutig feststellen zu können, ob die Zitierpraxis tatsächlich abhängig von den Adressatenmerkmalen ist, kann als zusätzliches Untersuchungskriterium ein etwaiger Zusammenhang der Zitatwahrscheinlichkeit mit den Themen der Briefe betrachtet werden. So lassen sich drei Gruppen mit einer hohen (spottende, tröstende, auffordernde Themen), einer geringeren (apologetische, berichtende, nachweisende, rühmende, exegetische, Vorhaltungen machende Themen) und eine Gruppe mit keiner durchschnittlichen Zitatwahrscheinlichkeit (bestehend aus den übrigen Themen) differenzieren.46 Ferner muss untersucht werden, inwiefern diese Themen wiederum geschlechtsabhängig beziehungsweise abhängig vom Klerikerstatus der AdressatInnen sind, um damit eine Konfundierung der themenabhängigen Zitatwahrscheinlichkeit auszuschließen. Trost zu spenden etwa ist für Hieronymus kein typisch weibliches Briefthema, vielmehr gehen ebenso viele Trostschriften an männliche wie weibliche Primäradressaten. Ebenso verhält es sich bei Schriften spottenden und nachweisenden sowie annähernd bei solchen auffordernder Inhalte. Die Themen exegetisch, berichtend, Vorhaltungen machend, apologetisch und rühmend sind deutlich männlich besetzte Themen; beratend, empfehlend, beglückwünschend, bittend, versöhnlich und drohend gänzlich männlich, dankend hingegen ist ausschließlich weiblich besetzt. Unter den männlichen Themen wiederum finden empfehlende, beglückwünschende, versöhnliche und drohende Schriften ausschließlich klerikale Adressaten. Der Vergleich mit der oben angeführten Zitatwahrscheinlichkeit der Themen zeigt, dass die Themengruppe mit einer hohen Zitatwahrscheinlichkeit zu gleichen Teilen an weibliche wie männliche PrimäradressatInnen gerichtet ist. Hieraus kann der Unterschied
|| 44 Vgl. epist. 70,2: Quod autem quaeris in calce epistulae, cur in opusculis nostris saecularium litterarum interdum ponamus exempla et candorem ecclesiae ethnicorum sordibus polluamus, breuiter responsum habeto. 45 So wird etwa eine Auflistung heidnischer Zitate beim Apostel Paulus gegeben, Zitate aus der Aeneis beziehungsweise von Vergil aber fehlen in diesem Text. 46 Die Themennennung nach Cain, vgl. Anm. 8, folgt nach abnehmender Zitatintensität nach Brieftyp. Betrachtet nach dem Durchschnitt auf Briefebene weisen insbesondere die Briefe rühmenden Inhalts eine hohe themeninhärente Differenz aus, da in dieser Themengruppe nur ein Brief der insgesamt 14 Briefe mit Zitaten versehen ist und dieser Brief somit aus der Themengruppe herausfällt, hierbei handelt es sich um die epist. 1 an den Presbyter Innocentius.
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in der Zitatwahrscheinlichkeit also nicht entstehen. Wird die zweite Themengruppe mit geringerer Zitatwahrscheinlichkeit betrachtet, so zeigt sich, dass diese deutlich männlich geprägt ist, wohingegen die Themen ohne eine Zitatwahrscheinlichkeit stark durch weibliche und klerikale Adressaten geprägt sind. Dass die beiden letztgenannten Adressatengruppen dennoch in der bisherigen Analyse hinsichtlich der Zitatwahrscheinlichkeit besonders hervorstachen, zeugt also davon, dass das Einflechten von Zitaten aus der Aeneis nicht themenbedingt, sondern vielmehr tatsächlich von den Merkmalen der AdressatInnen abhängig ist. Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass sich in den Briefen des Hieronymus vielfältige Zitate aller Aeneisbücher geographisch auf die PrimäradressatInnen im östlichen und westlichen Reich sowie chronologisch verhältnismäßig gleichmäßig verteilen, wobei eine vergleichsweise leicht erhöhte Wahrscheinlichkeit von Zitaten in Briefen an Frauen im Westen und an Kleriker im Osten des Reiches ausgemacht werden kann. Mit diesem Befund unterscheidet sich Hieronymus zumindest insofern nicht von Augustinus, da dieser gleichfalls ohne zeitlichen Unterschied verschiedenste Vergil-Zitate in seine Briefe in adressatenabhängiger Intensität einflicht.47 Beim Vergleich der Zitierpraxis mit anderen christlichen Autoren fällt jedoch auf, dass sich etwa Tertullian, Cyprian und Arnobius der Zitation vergilischer Verse noch gänzlich enthalten, wohingegen sich die Zitierpraxis des Ambrosius von der des Hieronymus nur insofern absetzt, als Ambrosius nicht so sehr wörtliche Zitate einflicht, sondern vielmehr vergilische Färbung und dessen Duktus übernimmt.48 Im Verhältnis zum jeweiligen Werkumfang gesehen übertrifft Laktanz jedoch Hieronymus und dieser wiederum Augustinus hinsichtlich der Zitatanzahl.49 Hieronymus sticht im Umgang mit Vergils Dichtung, neben Laktanz und Augustinus, hiermit besonders hervor.
|| 47 Vgl. Müller (2003) 303. Die spätantike Vergilrezeption steht im Zentrum vergleichbarer Zitatanalysen von Müller für Augustinus und von Freund (2000) für spätantike Autoren allgemein, die Hieronymus allerdings beide aussparen. Freund untersucht an rund 200 Vergilzitaten beziehungsweise Reminiszenzen die Ansätze der Aneignung vergilischen Gedankenmaterials bei frühchristlichen Autoren der vorkonstantinischen Zeit, vgl. Freund (2000); Müller hingegen konzentriert sich auf Vergilzitate bei Augustinus, Müller (2003). 48 Vgl. hierfür auch Davidson (2004). 49 Vgl. Hagendahl (1967) 387; zum Verhältnis Augustinus und Hieronymus vgl. auch Müller (2003) 332ff. und 433f.
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5 Schlussbemerkungen Das nach den Aufenthaltsorten der PrimäradressatInnen weit aufgespannte Briefnetz des Hieronymus zeigt, dass der provinzielle Aufsteiger mit seinen Briefen nicht nur die bei seiner Reisetätigkeit geknüpften Bekanntschaften pflegte, sondern gerade in seiner Zeit in Bethlehem als höchst aktiver Netzwerker in Kontakt mit dem gesamten römischen Reich trat, wobei sein Fokus insbesondere und stets auf Rom lag. Freilich fallen die hier betrachteten Aufenthaltsorte der PrimäradressatInnen nicht mit allen tatsächlichen Rezeptionsorten der Texte zusammen, doch über das Vehikel der PrimäradressatInnen wurde ein Eindruck davon vermittelt, wie Hieronymus eine – zumindest textuelle – christliche Gemeinschaft konstruiert, innerhalb derer er sich als reichsweit gefragter Gesprächspartner inszeniert. Da die Briefe verstärkt in horizontaler Perspektive an Christen der Oberschicht gerichtet sind und sich weniger vertikale Beziehungen finden,50 geben sie so Einblicke in eine für damalige Verhältnisse beinahe global agierende christliche Elite. Diese globale Elite nun nutzt Hieronymus geschickt als Bühne, um sich einerseits als geistlich-asketischer Mentor gerade der weiblichen Stadtaristokratie sowie andererseits als sprachlich und textuell versierter Gesprächspartner des Klerikerstandes zu empfehlen. Diese beiden Adressatengruppen verweisen sodann auch maßgeblich auf sein Profil als Asket und Bibelexeget. Da gezeigt werden konnte, dass das Rekurrieren auf einen reichsweit gültigen, gemeinsamen Literaturkanon nicht themen-, sondern adressatenabhängig ist, wird deutlich, dass die untersuchte rhetorische Strategie nicht nur anhand eines stilistischen Codes eine reichsweite Elite verbindet, sondern dieser Befund gibt auch Hinweis darauf, dass Ciceronianer oder Christ zu sein sich im öffentlichen Diskurs zu dieser Zeit nicht (mehr) ausschließen. Dass die Kenntnis paganer Klassiker der lateinisch-römischen Literatur nicht nur Ausweis der weltlichen, sondern auch der geistlichen Führungselite ist, konnte gerade die Untersuchung des Zusammenhangs von geistlichem Amt und Zitaten aus der Aeneis zeigen. Mit Sicherheit ist gerade bei dieser Untersuchung Vergils Status als Schulautor mit zu berücksichtigen und daher für ein noch aussagekräftigeres Ergebnis eine Ausweitung auf zusätzliche Adressatenmerkmale wie auch auf weitere Quellen-Autoren (darunter auch christliche) nötig. Methodisch sind für eine
|| 50 So finden sich etwa keine Briefe an eine Gemeinde, was freilich auch damit zusammenhängt, dass er zwar zum Priester, doch ohne Gemeindepflichten geweiht wurde.
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solche paradigmatische Untersuchung der Zitierpraxis mit der Erprobung quantitativ-numerischer Verfahren die Weichen gestellt. Freilich sind Zahlen (auch) nur ein Mittel zur Abstraktion von Wirklichkeit. Mit ihnen kann ein Modell aufgestellt werden, das wie jedes andere Zusammenhänge aufdecken oder den Blick auf sie verstellen kann. Doch werden quantitativ-numerische Herangehensweisen mit qualitativ-hermeneutisch erlangten Ergebnissen kombiniert, ist diese Verbindung in der Lage, neue Perspektiven auf einen Forschungsgegenstand zu eröffnen.51 Dabei muss jedoch die Spannung von ‚Erzählen und Zählen‘ ins Produktive gewendet werden, denn die Generierbarkeit von Datensätzen aus a) einem literarischen Material, das zudem b) überlieferungsbedingt auch noch höchst lückenhaft, fragmentarisch und in verschiedenen Textzeugen vorliegt, ist mitunter äußerst schwierig und teils schlicht nicht sinnvoll möglich.52 Auf der anderen Seite vermag der Versuch einer Rehabilitierung quantifizierender Erkenntnispraktiken innerhalb des literaturwissenschaftlichen Methodenrepertoires eine Brücke zu schlagen für die Hinzuziehung computergestützter Textanalysemethoden, deren Einsatz sich zunehmend anbietet.53 Eingebunden etwa in die Zitatforschung vermag diese digitale Methode neue Perspektiven zu eröffnen, indem etwa Zitate, die vermittels manueller Methoden bisher unerkannt geblieben sind, erstmals aufgefunden werden können, die dann ein ganz neues Licht auf die Mechanismen der Sinnproduktion durch den Rezipienten werfen. Werden Zitate als Spuren von Lektüre und deren Kenntnis wiederum als Identitätskonstituens spätantiken Christseins in den Blick genommen, könnten gerade solche neuen Zitatfunde Einblicke jenseits der Ergebnisse bisheriger manuell-traditioneller Forschungs-
|| 51 Die Literaturwissenschaft vermittelt und pflegt als Geisteswissenschaft Kompetenzen, die nach Meinung der Autorin in den Diskurs um den Missbrauch von Zahlen zur Suggestion von Evidenz durchaus fruchtbringend eingebracht werden können. 52 Eine solche Grenze der Methode wurde vorliegend an der Feststellung der Kleruszugehörigkeit sowie der Verbindung von Aufenthalts- und Rezeptionsort sichtbar. Weiterhin ist freilich diskutabel, inwiefern quantifizierende Methodenansätze gewinnbringend eingesetzt werden können, um zum Beispiel Aspekte wie weibliche Korrespondenz akkurat und möglichst entsprechend der historischen Realität abzubilden, wenn die Quellentexte überwiegend aus männlicher Perspektive verfasst sind. Doch auch in diesem Fall kann eine Erweiterung des Methodenrepertoires durchaus das Potential für eine kritische Evaluation beider Herangehensweisen, numerischer wie hermeneutischer, bergen. 53 Dass ein numerisch-statistischer Ansatz in literaturwissenschaftlichen Arbeitsweisen bereits vor dem Aufdämmern digitaler Analysemöglichkeiten im Methodenrepertoire der Geisteswissenschaften allgemein präsent und zugleich schon immer umstritten war, konnte Twellmann (2016) 411ff. zeigen.
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arbeit ermöglichen und damit den Weg zu einem noch akkurateren Bild des Selbstverständnisses spätantiker Identität freigeben.
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| VIII. Aspekte des spätantiken Briefs zwischen Bildungsdiskursen und Vergangenheitsbezug
Christian Fron
Der Schüler als Spiegelbild und Kommunikationsgegenstand Kommunikationsstrategien bei der Korrespondenz von Libanios mit Eltern, Familienangehörigen und Fürsprechern in Entwicklungsberichten hinsichtlich seiner μαθηταί
1 Einleitung „Sein [Libanios’, C.F.] Redestil war, wenigstens was die Redeübungen angeht, ganz schwach, ja ihm fehlte jegliches Leben und die nötige Durchschlagskraft, was deutlich erkennen lässt, dass er keinen Lehrer gehabt hat. Denn er hatte keine Ahnung von dem, was jeder und sogar ein Kind weiß, wenn es um Deklamationen geht. In seinen Briefen aber und den übrigen mündlichen Vorträgen erreicht er durch eigenen Ansporn das hohe vorbildliche Stilniveau der Alten. Seine Texte sind voller Anmut und komödiantischer Ergötzlichkeit, und eine feinfühlige Eleganz durchdringt alles und steht im Dienst der Beredsamkeit. Auch der Charme und das Liebenswürdige im Umgang, das alle Syrophönizier an sich haben, kann man ihm entnehmen, freilich in Verbindung mit Bildung.“1
Mit diesen Worten beginnt Eunapios von Sardeis die Darstellung über die rhetorischen und schriftstellerischen Qualitäten des grob eine Generation vor dem Autor selbst geborenen, allerdings noch zu dessen Lebzeiten wirkenden Sophisten Libanios von Antiochia.2 Während Eunapios die Redeübungen (μελέται) von Libanios nicht sonderlich schätzte, werden vor allem seine Briefe, eine weitere Domäne der Tätigkeit von Sophisten, mit einem besonderen Lob für ihre Mustergültigkeit bedacht. Dieser Umstand belegt, dass die Briefe des Libanios hinsichtlich ihrer Gestaltung von einem Zeitgenossen wie Eunapios sehr geschätzt || 1 Ὁ δὲ λόγος αὐτῷ, περὶ μὲν τὰς μελέτας, παντελῶς ἀσθενὴς καὶ τεθνηκὼς καὶ ἄπνους, καὶ διαφαίνεταί γε οὗτος μὴ τετυχηκέναι διδασκάλου· καὶ γὰρ τὰ πλεῖστα τῶν κοινῶν καὶ παιδὶ γνωρίμων περὶ τὰς μελέτας ἠγνόει· περὶ δὲ ἐπιστολὰς καὶ συνουσίας ἑτέρας, ἱκανῶς ἐπὶ τὸν ἀρχαῖον ἀναφέρει καὶ διεγείρεται τύπον, καὶ χάριτός γε αὐτῷ καὶ κωμικῆς βωμολοχίας καταπέπλησται τὰ συγγράμματα, καὶ ἡ κομψότης περιτρέχει πανταχοῦ διακονουμένη τοῖς λόγοις, καὶ ὃ πάντες οἱ Συροφοίνικες ἔχουσιν κατὰ τὴν κοινὴν ἔν τευξιν ἡδὺ καὶ κεχαρισμένον, τοῦτο παρ' ἐκείνου λαβεῖν μετὰ παιδείας ἔξεστιν· (Eun. Vit. 16,2,1f. Übers. Matthias Becker). 2 Zum Oeuvre des Eunapios und der besonderen Bedeutung der παιδεία siehe Hartmann (2014). Zur Datierung der Schrift in den Zeitraum zwischen 396 und 399 sowie somit kurz nach dem Tod von Libanios siehe wiederum Civiletti (2007) 13.
https://doi.org/10.1515/9783110676303-016
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und als mustergültig anerkannt wurden. Wesentliche Kriterien bei der Bewertung der Briefe sind die für die Kultur der Zweiten Sophistik3 generell stets bedeutsame stilistische und sprachliche Orientierung an klassischen Mustern4 sowie darüber hinaus auch ganz individuelle Qualitätsmerkmale des Mediums Brief.5 Von entscheidender Bedeutung ist dabei selbstverständlich die den Briefen immanente παιδεία als entscheidendes Merkmal für die Zugehörigkeit zum illustren Kreis der πεπαιδευμένοι. Durch eine glückliche Fügung des Schicksals sind über 1500 dieser Briefe aus Libanios’ Kopialbüchern der Jahre zwischen 355 und 365 sowie aus der Zeit zwischen 388 und 393 erhalten geblieben, die der heutigen Forschung zur Analyse zur Verfügung stehen.6 Diese Briefe gewähren einen ersten Einblick in die Vielzahl und Bandbreite der von einem als Lehrer tätigen Sophisten aus Antiochia unterhaltenen und gepflegten Korrespondenzen, die in alle Teile des östlichen Imperium Romanum verschickt wurden. Adressaten sind etwa Freunde, Schüler und ihre Eltern sowie einige Größen seiner Zeit. Zugleich erweist sich hier die Vielgestaltigkeit und Wandlungsfähigkeit jenes Gebildes, das unter der Bezeichnung Brief subsumiert wird. Dazu gehören Geschäftsbriefe, amtliche Korrespondenzen, Lehrschriften und andere Sonderformen; dazu eine Vielzahl
|| 3 Wesentliche Einführungen in die Kultur der Zweiten Sophistik bieten weiterhin Bowersock (1969), Schmitz (1997) und Whitmarsh (2005). Entgegen derzeitigen Versuchen der Etablierung einer sogenannten Dritten Sophistik maßgeblich durch Amato (2006) plädiere ich auch weiterhin mit van Hoof (2010) für eine Fortsetzung der Kultur der Zweiten Sophistik bis ins vierte nachchristliche Jahrhundert. 4 Auch hier musste man jedoch Maß halten, vgl. Philostr. epist. 2,1 sowie Ps.-Liban. ἐπιστολιμαῖοι χαρατῆρες, 46f. (gemäß Malherbe [1988] 72). 5 In der Tat wurde der Brief in der Antike als Dialog über weite Distanzen hinweg verstanden, wobei die verschriftlichte Form des Briefes dem Brief gegenüber dem Dialog eine gesteigerte Aufmerksamkeit und Sorgfalt abverlangte; siehe etwa Demetr. eloc. 223f.; Cic. fam. 2,4,1; Sen. epist. 75,1f.; Ps.-Liban. ἐπιστολιμαῖοι χαρατῆρες, 2 (gemäß Malherbe [1988] 66) sowie Koskenniemi (1956) 42–47. Die größeren Anstrengungen der Kommunikation über den Briefverkehr sowie deren Eigenheiten gegenüber dem klassischen Dialog betonen auch neuere Untersuchungen des Briefes als Kommunikationsmittels; siehe Ebert (2001) 21. Zugleich offenbarte sich durch den persönlichen Dialog miteinander über den Brief im gesteigerten Maße auch der Charakter (ἠθικός) des Adressanten (Demetr. eloc. 227). Entsprechend war es, wie in einem Dialog, ein Hauptanliegen des Briefes, einen gewissen, gewinnenden Charme oder auch Grazie (χάρις) auszustrahlen, der Rückschlüsse auf das Wesen des Verfassers ermöglichte (Greg. Naz. epist. 51,5); siehe hierzu Cabouret (2014) 152 mit Anm. 36 sowie Ebert (2001) 28. Zugleich sollte der Brief sowohl dem Gelehrten als auch dem Ungelehrten ein Genuss sein (Greg. Naz. epist. 51,4). Weiterführende Verweise zu der konkreten Beschreibung des Stils von Libanios bei Eunapios finden sich bei Eunapios aus Sardes (2013) 508f. 6 Siehe hierzu etwa Wintjes (2005) 24‒28 sowie Cabouret (2014).
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an Briefen privater Natur.7 Das Medium ‚Brief‘ selbst besaß für Libanios eine immense Bedeutung. Nach Schätzungen von Fatouros und Krischer schrieb Libanios durchschnittlich jeden dritten oder vierten Tag einen Brief.8 Briefe erlaubten es dem Sophisten, den Kontakt zu weit entfernt wohnenden Bekanntschaften aufrecht zu erhalten, die er größtenteils während seiner Studienreisen in seinen Jugendjahren sowie der darauf folgenden, zunächst sehr aufstrebenden Karriere in Konstantinopel, Nikaia und Nikomedia gemacht hatte.9 Da er in späteren Jahren (nach 354) als ein etablierter Sophist in seiner Heimatstadt kaum noch reiste, bildeten die zahlreichen Briefe ein legitimes, wenn auch für einen Redekünstler häufig unzureichendes Mittel, um mit der Welt verbunden zu bleiben.10 Entsprechend wurde das Ausbleiben eines persönlichen Briefes bei ihm generell als Verweigerung der direkten Kommunikation betrachtet und führte unweigerlich zu einer Rüge gegenüber dem säumigen Gesprächspartner.11 Sofern möglich, bevorzugte er dennoch den direkten Umgang mit dem jeweiligen Gegenüber, wodurch sich ihm vor allem durch die Stimme sowie durch die Gestik und Mimik sicherlich mehr Möglichkeiten zur Bewährung als wahrer Sophist und zur Untermauerung seiner Argumente boten.12 Demgegenüber blieben die Briefe lediglich ein unzureichender Ersatz, in denen sich zwar der Geist und die Ausbildung eines πεπαιδευμένος offenbarten, das wichtigste aber, die direkte Präsenz und der unmittelbare Auftritt, die ὑπόκρισις oder actio, fehlte. Die Briefe kompensierten somit für die Gegenwart zunächst seine man-
|| 7 Siehe hierzu Libanios (1980) 221–238, insbes. 222. 8 Libanios (1980) 221–238, insbes. 221. 9 Über seine Studienreise und seine späteren Wirkstätten gibt Libanios in seiner Autobiographie (or. 1,14–93) nähere Auskünfte. Wahrlich sind die Eigenangaben von Libanios in seiner Autobiographie selbst stets kritisch und mit einer entsprechenden Vorsicht zu bewerten, worauf zuletzt noch einmal van Hoof (2014) 7–38 ausdrücklich hingewiesen hat. Dennoch werden die groben Stationen im Leben des Libanios stimmen, da sie von den Zeitgenossen und ersten Adressaten seiner Schrift leicht überprüft werden konnten. Zudem finden sich auch bei Eunapios (vit. 16,1,6–8; 495) nähere Auskünfte. Siehe ebenfalls Wintjes (2005) 63–99. 10 Völlig zu Recht betont Bernadette Cabouret (2014) 153 daher: „the collection starts (or starts again) at the very moment when Libanius definitively establishes himself at Antioch, and therefore needs to keep in touch with his friends and aquaintances.“ Zum Ausbleiben von Mobilität aufgrund der Anstellung als Sophist in Antiochia siehe etwa Lib. epist. 311F sowie Lib. or. 1,90f. Zum Netzwerk der Adressaten des Libanios siehe etwa Bradbury (2014). 11 Siehe etwa Lib. epist. 32F; 139F; 542F; 719F; 768F; 1268F; 1408,4F sowie zur eigenen Verpflichtung des Verfassens von Briefen 43F. 12 Entsprechend heißt es bei Lib. epist. 812F: τίμησον δέ μοι τὴν ἐπιστολὴν δείξας ὡς ἠδυνήθη τοσοῦτον ὅσον ἂν ἐγὼ τὸν χρηστὸν Ὑπερέχιον εἰς τὴν σὴν φιλίαν εισάγων τῇ δεξιᾷ.
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gelnde Mobilität, waren andererseits allerdings auch ein beständigeres Zeugnis seiner rhetorischen Fertigkeiten, vor allem für die Nachwelt.13 Entsprechend kommt der Zurschaustellung von παιδεία sowohl in den Schreiben des Libanios selbst als auch in deren Würdigung durch Eunapios als besonderes Qualitätsmerkmal seiner Briefe eine zentrale Bedeutung zu. Wenn es bei Libanios’ Briefen und innerhalb der Korrespondenz mit seinen diversen Adressaten verpflichtende Regeln und eine aus ihnen erwachsende, identitätsstiftende Gruppenzugehörigkeit gibt, so sind diese sprachlicher Natur: Die Beherrschung der attischen Sprache als Sinnbild eines urtypisch griechischen Charakters ist das entscheidende Auswahlkriterium für die Zugehörigkeit zum illustren Kreis der πεπαιδευμένοι.14 Entsprechend pflegte Libanios in seinen Schreiben nicht nur einen hohen attischen Schreibstil, sondern flocht darüber hinaus vielfältige Verweise und Zitate von diversen, für den rhetorischen Unterricht bedeutsamen griechischen Autoren der klassischen Zeit sowie von Homer in seine Schreiben ein.15 Sowohl in seiner ‚Privatkorrespondenz‘ wie in seinem sonstigen, stets öffentlichen Alltag blieb Libanios somit Sophist und hatte diesen Ansprüchen gerecht zu werden. Schließlich bestimmt der Besitz oder das Fehlen einer solchen παιδεία in großem Maße sogar den Umgang von Libanios mit den jeweiligen Adressaten.16 Für das richtige Verständnis des Briefes als Kommunikationsmedium ist es abschließend äußerst wichtig, dass es sich bei dieser ‚Privatkorrespondenz‘ keineswegs um einen exklusiven Dialog zwischen
|| 13 Eine entsprechende Reflexion der Rede als Werkzeug des Ruhms für die Gegenwart sowie des eigenen Schrifttums als Instrument für den Nachruhm findet sich bereits bei Libanios’ großem Idol Aelius Aristides (or. 51; 52; 56). 14 Siehe Libanios (1980) 223. Entsprechend wird eine γλῶττα ἑλλάς von Libanios selbst als Qualitätsmerkmal eines Briefes benannt (epist. 1237,1). 15 Siehe etwa Lib. epist. 26,2F; 44,4F; 63,4F; 93,1F; 121F; 131,2F; 231,3F; 239,3.7F; 248,3F; 249,1F; 371F; 465F; 666,5F; 704,2F; 743,2F; 833,1F; 834,5F; 837,1F; 857,2F; 911,6F; 1098; 1165F; 1188,4F; 1238,1F; 1240,3F; 1242,2F; 1408F; 1416F; 1470,1F; 1538F. Zur Bedeutung von Homer im Unterrichtsalltag des Libanios am Beispiel der Progymnasmata siehe etwa Webb (2010). 16 Zur Würdigung als πεπαιδευμένος gehörte etwa die Aufnahme in den oder Zugehörigkeitsbestätigung zum „Chor der Musen“ (ἐν τοῖς Μουσικοῖς χοροῖς) als besondere Würdigung des Adressaten (Lib. epist. 172F). Siehe zudem etwa epist. 820,1F; 231,3F; 426,2F; 1261,4F; 782,2F; 844,1F; 1408,2. 4; 1541,2. Die enge Bindung der Kultur der Zweiten Sophistik an die Musen offenbart sich ebenfalls bereits bei Philostratos (soph. 1,21,3; 516). Andererseits konnte der Vater bei mangelnder Bildung als Vorbild für den Jungen im Sinne der παιδεία übergangen werden; siehe Lib. epist. 467,1, in welcher der Großvater und der Onkel aufgrund ihrer Verdienste um die παιδεία als anzustrebendes Erziehungsideal für den Jungen benannt werden. Siehe ebenfalls Lib. epist. 728F. Zu diesem Spiel mit der Zugehörigkeit zum Chor der Musen siehe Lib. epist. 172 mit der Kommentierung von Cribiore (2007) 131 Anm. 76.
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Adressat und Adressant handelt. Vielmehr bezieht ein Brief automatisch auch das direkte sowie manchmal sogar das erweiterte Umfeld des Adressaten mit ein.17 Allerdings möchte ich mich im Folgenden weniger den Briefen des Libanios im Sinne des sehr inspirierenden Beitrages von Katarina Luchner „in ihrer Funktion […] als Vermittlungsinstanz bestimmter aufeinander bezogener intellektueller und ethischer Werte“18 zuwenden, sondern vielmehr die bei einer ausgewählten Gruppe an epistulae zu beobachtenden Kommunikationsstrategien des Libanios eingehender untersuchen. Beschränken werde ich mich dabei auf die Antwortschreiben des Libanios an die Eltern, Verwandten und sonstigen Bezugspersonen im Kontext der Aufnahme seiner Schüler.19 In einem zweiten Schritt möchte ich mich dann mittels eines kurzen Ausblicks den sonstigen Entwicklungsberichten des Libanios an die bereits benannten Adressaten im Rahmen der Ausbildung des Schützlings widmen. Der besondere Anreiz für die Studie liegt dabei in der für das Thema dieses Sammelbandes besonderen Konstellation des Dialoges, in der Libanios und seine Adressaten mit einer jeweils eigenen Perspektive über einen beiden Parteien bekannten Dritten, nämlich den Schüler, sprechen. Dabei erscheint es mir wichtig und von Interesse, welche Gewichtung einzelnen wiederkehrenden Themenbereichen abhängig von der jeweiligen Gesprächssituation und ihrem Kontext zukommt, sowie welcher Intention des Verfassers die Auswahl folgt. Gemäß der Überlieferungssituation liegt der Fokus selbstredend auf der Perspektive von Libanios. Dennoch erlaubt die dem Medium Brief eigene Dialogstruktur gelegentlich durchaus auch gewisse Rückschlüsse auf die ursprüngliche Perspektive des jeweiligen Adressaten. Dabei gilt es bei der Bewertung der Schüler sowie den sonstigen Inhalten der Briefe vor allem die feinen Nuancen und Details innerhalb der Briefe zu beobachten, da Kritik innerhalb der Schreiben selten offen geäußert wird. Dieses sicherlich nicht nur antike Phänomen bringt Rafaella Cribiore treffend zum Ausdruck: „It is likely that Libanius followed these criteria [omitting negative remarks, Anm. C.F.] in writing letters to families. Parents could trust favourable comments but had to pay attention to
|| 17 Zur Öffentlichkeit des Briefes siehe etwa Lib. epist. 547F; 895F; 1009F. 18 Luchner (2008) 223f. 19 Diese finden sich im Wesentlichen bereits bei Cribiore (2007) gesammelt. Insgesamt handelt es sich hierbei um ein Corpus von ca. 200 Briefen. Allerdings gilt die folgende Aussage von Bernadette Cabouret (2014) 155: „Libanius’ letters, so we can conclude, cannot easily be classified according to well-determined typologies: they often belong to more than one genre, and explicitly or implicitly pursue various goals.“
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omissions and nuances, and had to pause and agonize over every word, as Cicero had done centuries before.“20 Innerhalb der Entwicklungsbriefe möchte ich παιδεία nicht nur als erwünschtes Ziel eines solchen Studiums, sondern vielmehr auch als sukzessive erfolgenden Beitrag und Anteil des Libanios an der Erziehung seines Schülers verstanden wissen.
2 Die Ankunft des Schülers und die dazugehörigen Korrespondenzen Am Anfang eines jeden Unterrichts stand zunächst die Wahl und Aufnahme eines geeigneten Lehrers.21 Das Studium begann meist nach den Ferien im Spätsommer und somit kurz vor der Zeit, zu der das Mittelmeer in der allgemeinen Meinung nicht mehr schiffbar war.22 Da es auch in der Spätantike kein staatlich organisiertes, allerdings in gewissen Bereichen immerhin schon reglementiertes Schulwesen gab, stand in einer größeren Stadt eine Vielzahl potentieller und zudem gänzlich unabhängiger Lehrer zur Verfügung, die ihre Dienste zu gewissen Konditionen anboten.23 Daher bestand die Aufgabe eines angehenden Schülers sowie seiner ganzen Familie üblicherweise zunächst darin, einen geeigneten und vom Vater oder Vormund abgesegneten Lehrer für den Jungen zu finden, der sich wiederum selbst dazu bereit zu erklären hatte, den Schüler zu unterrichten. Bestand eine größere räumliche Distanz zwischen der eigenen Heimat und dem Ausbildungsort, so begleitete den Sohn oder die Söhne im Regelfall ein Pädagoge, der vor Ort und in Abwesenheit des Vaters oder Vor|| 20 Cribiore (2007) 135. 21 Zur großen Bedeutung des Aufbaus und der Pflege eines entsprechenden Netzwerks um eine große Schülerschaft zu gewährleisten, siehe für das Exempel Libanios nun Bradbury (2014) 220–249, hier 222–226. Von immenser Bedeutung sind auch weiterhin die grundlegenden Studien von Paul Petit (insbesondere [1956] sowie [1994]) sowie nun ebenfalls diejenigen von Cribiore (2007). 22 Zu den Sommerferien siehe etwa Demandt (22007) 478 sowie Walden (1909) 279f. mit Anm. 7. 23 Gewisse Ansätze einer Reglementierung zeigen sich vor allem in den Gesetzestexten, insbesondere Dig. 27,1,6,2; 4; 7–10. Dieses Reglement bezog sich freilich nur auf den Status und die Privilegierung eines in der Öffentlichkeit tätigen Lehrers und nicht auf den Inhalt des Unterrichtsstoffes. Zudem schrieb ein Gesetz des Valentinian im Jahre 370 n. Chr. eine obere Schranke von 20 Jahren für das Rhetorikstudium und von 25 Jahren für das Studium des Rechts vor (Cod. Theod. 14,9,1), doch es gab Ausnahmen, siehe Petit (1956) 139.
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munds einen entsprechenden Arbeitseifer des Schülers zu gewährleisten hatte und in gewisser Weise als verlängerter Arm der elterlichen Autorität und Entscheidungsgewalt fungieren sollte. Da sich der Vater oder Vormund zur Überprüfung der Fortschritte seines Sohnes häufig nicht selbst auf den langen Weg nach Antiochia machte,24 kam dem Austausch mit dem Lehrer und dessen Kontrolle durch weitere Gewährsmänner, wie etwa durch den Pädagogen, über den gemeinsamen Briefverkehr vom Beginn bis zum Ende der Studien des Schützlings eine große Bedeutung zu. Der briefliche Austausch ersetzte dabei die direkte Kommunikation von Angesicht zu Angesicht. Hatte der Vater respektive Vormund bereits einen besonderen Lehrer für den Unterricht seines Sohnes auserkoren, so schickte er diesem einige Empfehlungsschreiben sowie gelegentlich auch zusätzliche Fürsprecher zugunsten des jungen Anwärters mit. Den Erhalt einiger solcher Briefe sowie die Ankunft der Schüler quittiert Libanios in entsprechenden Antwortschreiben.25 Der Eröffnung oder Erneuerung des Gesprächsverhältnisses zwischen Libanios und den familiären Bezugspersonen des Schülers bei dessen Ankunft kam in jedem Fall als Grundlage für die zu erwartende weitere Kommunikation eine große Bedeutung zu. Sie diente der Vergewisserung der generellen gegenseitigen Freundschaft und Wertschätzung zwischen Adressat und Adressant.26 Entsprechend kommentiert Libanios das Ausbleiben zu erwartender Begleitschreiben äußerst negativ.27 Aus einer Analyse der erhaltenen Antwortschreiben ergeben sich die beiden maßgeblichen Motive hinter den Schreiben des Vaters respektive des Vormundes und seiner Fürsprecher an den Lehrer. Zum einen sollten die Briefe dem Lehrer schmeicheln sowie die gesellschaftliche Stellung des Jungen hervorhe-
|| 24 Siehe hierzu etwa Cribiore (2007) 119f. Dennoch gab es Ausnahmen, siehe Lib. or. 55,28F mit epist. 767,2F. Allerdings wird dieser Extremfall elterlicher Fürsorge kontrovers diskutiert. Während Festugière (1959) 439 den Vater als Archillios von Ankyra zu identifizieren glaubt, hält Raffaella Cribiore (2015) 93 Anm. 81 die Passage für ein womöglich nur fiktives Muster. Siehe zudem Lib. epist. 285F sowie 355,2F und 781,2. Zudem konnte der regelmäßige Besuch durch den Vater ebenfalls als Wunsch für die Zukunft formuliert werden, siehe Lib. epist. 1250,3F. 25 Lib. epist. 144F; 248–250F; 254F; 270; 355F; 728F; 768F (allerdings in Ermangelung eines Begleitschreibens); 781–782F; 1012F; 1014F; 1240–1242F; 1268F (allerdings in Ermangelung eines Begleitschreibens); 1500F; 1501F. Zum Typus dieser Briefe, der von einem Lehrer wohl zu erwartenden Anzahl und ihrem Charakter siehe Cribiore (2007) 112–117. 26 Siehe etwa Cabouret (2014) hier 151f. sowie zudem Koskenniemi (1956) 35–37. Zum Konnex zwischen dem Medium Brief und Freundschaft siehe etwa Sen. epist. 40,1 und Demetr. eloc. 225 sowie 229. 27 Lib. epist. 719F; 768F sowie 1268F.
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ben und so die Aufnahme des Schülers gewährleisten.28 Des Weiteren ging es jedoch ebenso darum, dass sich die Familie des besonderen Arbeitseifers und der Fürsorge des Libanios bei dessen Unterweisung ihres Sohnes in der παιδεία sowie in Stellvertretung des Vaters vergewisserte.29 Dabei lag diesen Schreiben zugleich die Kernfrage zugrunde, in welcher Weise der Adressant des Briefes sicherstellen konnte, dass ein im schlimmsten Fall fremder, im besten Fall näher vertrauter Adressat sich in der Fremde und ohne die direkte Aufsicht der Eltern in angemessener Weise um den oder die Schüler kümmerte. Diese tiefliegende Sorge seitens der Familie offenbart sich ebenfalls in den häufigen Ermahnungen hinsichtlich des Umgangs mit den ihm nun anvertrauten Schülern, die in die anfänglichen Begleitschreiben an den Lehrer eingefügt waren.30 Im Folgenden möchte ich die aus den Antwortbriefen herauszulesenden Kommunikationsstrategien von Libanios zur Beruhigung der von den Eltern und der Familie zum Ausdruck gebrachten Sorge um ihre Kinder exemplarisch vorstellen. Dabei trenne ich die beiden Fälle, ob eine nähere Vertrautheit zwischen Libanios und der Familie des Schülers vorab bestand oder nicht.
2.1 Fall 1: Kommunikationsstrategien in den Antwortbriefen des Libanios bei vorheriger Bekanntschaft Aus einigen Schreiben geht hervor, dass bereits zuvor engere Beziehungen zwischen der Familie des künftigen Schülers und Libanios bestanden.31 Entsprechend der heutigen Natur des ‚Privatbriefes‘ war somit der gegenseitige Beziehungsaspekt und weit weniger der eigentlich verfolgte Sachzweck in den Schreiben selbst konstitutiv.32 Auf Grundlage dieser Bekanntschaft zu den jeweiligen Vätern und deren Familie betont Libanios gelegentlich auch einen besonderen Anspruch auf die Schüler. Eine musterhafte Formel, die gleichzeitig die
|| 28 Siehe hierzu Rafaella Cribiore (2007) 114–117, die sich hier allerdings kursorisch vornehmlich dem Zweck der Selbstdarstellung der Familie sowie der Einschmeichelung gegenüber Libanios widmet. 29 Libanios beschäftigte zur Betreuung der Schüler einige Hilfslehrer, dennoch lag der Familie sicherlich vornehmlich auch an der direkten Betreuung durch Libanios selbst; siehe zu den Hilfslehrern etwa Wolf (1952) 61–74. 30 Lib. epist. 355F; 584,2F; 1241,4F. 31 Bei den im Folgenden näher zu untersuchenden Briefen handelt es sich um Lib. epist. 89F; 199F; 270F; 355F; 1020F; 1500F; 1240F; 144F; 1261F; 1309F. 32 Siehe Ebert (2001) 21–33, hier 22. Der ganze Beitrag liefert zudem eine äußerst inspirierende und anregende Fallstudie der Analyse eines Privatbriefes.
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große Bedeutung persönlicher Beziehungen zwischen Lehrer und Vater zum Ausdruck bringt, birgt etwa die Eröffnung mit den Worten: Ὃ πάλαι εὐχόμην, ἔχω παὶδα σόν, βραδέως μέν, ἀλλ‘ ἔχω […].33 Ein wichtiger Wegbereiter bei der Fortsetzung oder Erneuerung eines bereits bestehenden Bekanntschaftsverhältnisses zum erhofften Lehrer waren die gemeinsame Reflexion vergangener Begegnungen und Erlebnisse beider Gesprächspartner mittels entsprechender Vergangenheitsbezüge sowie die ebenfalls von den Adressanten zum Ausdruck gebrachte generell enge Bindung von Libanios an die erweiterte eigene Familie, die das Gefühl einer Verbindlichkeit des Lehrers gegenüber der Familie als Gesamtheit und dem Schüler als deren unmittelbaren Repräsentanten zusätzlich bestärken sollte.34 Gemäß dem eigentlichen Zweck des Schreibens sowie der Profession von Libanios als Sophist spielte vor allem das gemeinsame Wirken im Kontext der παιδεία eine zentrale Rolle. Die Gültigkeit dieser engen Verbundenheit zueinander sollte durch die Zusendung des eigenen Sohnes und des hierdurch Libanios ausgesprochenen Vertrauens durch den Vater auf der einen Seite sowie die nun zu erfolgende, implizierte, eingehendere Betreuung dieses Schülers durch Libanios auf der anderen Seite auf die Zukunft ausgedehnt werden. Entsprechende Rückbezüge auf gemeinsame Schulerlebnisse des Vaters und Libanios’ sowie weitere vorherige Begegnungen als zentraler Bestandteil eines Begleitschreibens finden sich in Reaktion zum vorangehenden Begleitschreiben vor allem in Libanios’ Antwortschreiben an Parnasios aus Ankyra zur Aufnahme seines Sohnes Archillios.35 Der Brief beginnt zunächst mit der Bestätigung der Ankunft des Jungen sowie der erfolgreichen Überprüfung seiner Eignung für das Studium, wobei dem Jungen großes Potential für die Zukunft (sic!) unter Aussparung jetziger besonderer Qualifikationen bescheinigt wird (§1). Zugleich wird mit Archillios von Ankyra ein weiterer ankyrenischer Gewährsmann dafür benannt, dass nach Meinung des Libanios aus dem Jungen dank seines Zutuns ein großer Redner (zugunsten auch der Heimatstadt Ankyra)36 werden wird (§2). Erst hierauf (§3) erfolgt der Rückgriff auf die gemeinsame
|| 33 Lib. epist. 199,1F. Ähnliche Formulierungen finden sich in epist. 355,1. Entsprechende Anmerkungen seiner Bestrebungen, auch die Söhne einstmaliger Schüler zu unterrichten, liefert Libanios wiederum in epist. 892,2F. 34 Zwar kam besonders illustren Fürsprechern gelegentlich ebenfalls eine bedeutendere Rolle zu, siehe etwa Lib. epist. 1309,2F sowie 1261. Dennoch halte ich das im Folgenden von Libanios selbst ins Zentrum gerückte Thema der vorherigen engen Bindung zwischen Libanios und den Familien seiner Schüler für das an dieser Stelle bedeutendere Kriterium. 35 Lib. epist. 355F. Zum Vater siehe Seeck (1906) 232 s.v. Parnasius II. 36 Ankyra im Besonderen sowie Galatia im Allgemeinen erfahren in den Briefen des Libanios eine besondere Wertschätzung; siehe etwa epist. 239,3. 6; 355,4F; 728,2F; 763,2F; F1241,2. 3F.
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Vergangenheit, die ausdrücklich bereits als wesentliches Element des Begleitschreibens von Parnasios benannt wird. Deren Thematisierung bildet den ersten Gesprächsgegenstand zwischen dem Lehrer und seinem neuen Schützling, wobei beide sich der hierdurch herbeigeführten Verbundenheit zwischen der Familie des Jungen und dessen neuem Lehrer bereits vorab bewusst sind.37 Auf dieser Grundlage sowie durch einen weiteren Verweis auf Libanios’ Wohlwollen gegenüber ganz Galatia erfolgt dann die Zusicherung, dass der Junge gleichsam von einem Heim ins nächste gekommen sei, samt der damit verbundenen Fürsorge und Aufsicht durch Libanios. Die aus einer solchen gemeinsamen Vergangenheit entstandene Bindung wird nebst der gegenwärtigen Bekanntheit der Familie (woran Libanios als ehemaliger Lehrer der beiden Adressaten zumindest einen gewissen Anteil für sich erhebt) zusätzlich in dem Antwortschreiben an die beiden Onkel Strategios und Albanios zur Grundlage für das Versprechen, dass sich der Bienenvater (μελλιττουργός) Libanios auch um diese neue Biene (μέλιττα) liebevoll kümmern wird (Lib. epist. 1240). In einem anderen Kontext wird die enge Bindung an dessen Familie ebenfalls durch das vorherige, gemeinsame Studium mit den Onkeln sowie die enge Beziehung zu deren Großvater als maßgebliches Motiv für seine Fürsorge zugunsten der Söhne des Hestiaios benannt, während die Schüler selbst wohl nicht mit der Tugend des bescheidenen Benehmens gesegnet waren (Lib. epist. 144F). In anderen Situationen symbolisierte die Anteilnahme am Schicksal der Familie die besondere Bindung des Libanios (Lib. epist. 1020F).38 Diese so geschätzte Familienzugehörigkeit und damit verbundene Bindung wurde von Libanios auch bei den Schülern im Kontext eines ersten Eignungstests (πεῖρα) sowie im Rahmen von Beschreibungen des sonstigen ersten Umgangs zwischen ihm und den Anwärtern gesucht und gefunden. Entsprechend werden ähnliche Charaktereigenschaften sowie physiognomische Parallelen
|| Dies liegt mit Sicherheit daran, dass eine vergleichsweise große räumliche Distanz zwischen Galatia und Antiochia bestand und Libanios sich dieser Kontakte und Beziehungen zugunsten seiner Heimatstadt besonders rühmen konnte (Lib. or. 62,27f.). 37 Eine solche Kontaktaufnahme zwischen zwei an sich einander fremden Individuen über einen gemeinsamen Bezugspunkt ist andererseits nur natürlich und findet sich auch in anderen literarischen Szenen der Antike, wie etwa Apuleius’ Metamorphosen, wo das Gespräch zwischen dem Ich-Erzähler und dem ihn bewirtenden Milo folgende Fragen über einen gemeinsamen Bekannten beinhalten: Demeas noster? quid uxor? quid liberi? quid vernaculi? (Apul. met. 1,26,3). Dennoch ist es für Libanios wichtig, dass auch Achillios sich der Bekanntschaft zwischen Vater und Lehrer bereits vorher bewusst war. 38 §3 deutet an, dass diese Themenfokussierung als Respons auf das ursprüngliche Schreiben zu sehen ist.
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zwischen dem Sohn und seiner Familie in einigen Antwortbriefen des Libanios lobend erwähnt. Vor allem die Gesichtsmerkmale und das körperliche Erscheinungsbild im Allgemeinen wurden gerne mit demjenigen des Vaters oder anderer Verwandter verglichen.39 Die Imitation des Vaters und die Aufgabe des Kindes, im Sinne der παιδεία in dessen Fußstapfen zu treten oder diesen auch zu überbieten, werden von Libanios an verschiedenen Stellen zentral thematisiert.40 Häufig ergibt sich dabei ebenfalls ein konkreter Bezug zur Rhetorik.41 So werden die Gestalt (μορφή), Schicklichkeit (ἐπιείκεια), der Gang (βάδισις) mit den entsprechenden Eigenschaften des Vaters verglichen (Lib. epist. 199F). Auch über die Stimme ergaben sich Bezüge zum Vater (Lib. epist. 1020,2F). Ebenso ließen sich über die intellektuellen Fertigkeiten und Kenntnisse Gleichnisse zum Vater aufbauen (Lib. epist. 1261,2F). Im Allgemeinen wollte Libanios mit derartigen Erwähnungen schmeicheln und entsprechende Analogien zwischen Vater und Sohn aufführen. Jedoch konnten manche physiognomischen Gleichnisse gelegentlich auch das Missfallen des Vaters nach sich ziehen (Lib. epist. 93,2). Jenseits der Betonung familiärer Kontinuitäten dienten die lobenden Erwähnungen des Körperbaus und der Stimme, des Auftretens sowie des Intellekts des Jungen zugleich als Hinweis auf eine besondere natürliche Begabung des Jungen, zumal wenn derartige Erwähnungen Parallelen zu bekannten Rhetoren innerhalb von dessen Familie erlaubten. Derartige körperliche Merkmale des Jungen wurden von Libanios als vom Vater mitgegebene Voraussetzungen betrachtet, die es von ihm selbst zugunsten der Rhetorik und durch hartes Training auszugestalten und zu verfeinern galt.42 Schließlich betrachtete es Libanios als seine Aufgabe, aus Jungen Griechen zu machen.43
|| 39 Lib. epist. 249,3F; 1020,2F; 1240,2F. Zum Vergleich des Körperbaus (σῶμα) siehe epist. 1309,1F. 40 Lib. epist. 239,4F; 542,4F. Die Nachfolge des Großvaters unter Auslassung des Vaters findet sich wiederum bei Lib. epist. 467. Zur Bildung als unabdingbarem Erbe siehe Lib. epist. 728F. Siehe hingegen epist. 44,2–3F, wobei dieses Lob direkt an den Adressaten des Briefes gerichtet ist. 41 Dass es sich bei der entsprechenden natürlichen Veranlagung um eine unerlässliche Voraussetzung für die spätere Bewährung als Redner handelt, belegt etwa Lib. epist. 737,4F. 42 Für eine erfolgreiche Erziehung des Sohnes bedurfte es nach dem Verfasser der Schrift Περὶ παίδων ἀγωγής zunächst einer entsprechenden Naturanlage des Kindes (ἡ φύσις), weiter auch eines hinreichend qualifizierten Lehrers (ὁ παιδεύων) und schließlich mündlicher Ratschläge sowie Richtlinien (αἱ τῶν λόγων ὑποθῆκαι καὶ τὰ παραγγέλματα), welche selbstverständlich ebenfalls vom Lehrer auszugehen hatten (Plut. mor. 2B). Während die letzten beiden Aspekte der Erziehung im Aufgabenbereich des Lehrers lagen und eine imitatio des Lehrers voraussetzten (Lib. epist. 895,4F; 768,3F sowie 1095F), wurden die körperlichen Voraussetzungen (also
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Im Falle von vorherigen Streitigkeiten konnte das einstmals bestehende enge Verhältnis zueinander trotz der bereits bestehenden Bekanntschaft verständlicherweise als Garant für die angemessene Erziehung des Sohnes nicht ausreichen. Im Falle des Eumathios44 erfahren wir von vorherigen Streitigkeiten mit Libanios im Jahre 356/57 n. Chr., denen Eumathios durch die Verweigerung einer Aufrechterhaltung der Korrespondenz mit Libanios Ausdruck verliehen zu haben scheint (Lib. epist. 542,1F). Bereits hier erscheint der Hinweis auf die Söhne des Eumathios, die in der Nachfolge ihres Vaters als wahrscheinliche Studenten der Rhetorik und somit als potentielle Schüler des Libanios benannt werden (Lib. epist. 542,4). Dieses Argument wird zugunsten einer Aufrechterhaltung des Freundschaftsverhältnisses zwischen Adressat und Adressant in Briefen von Libanios eigens aufgeführt.45 Demgemäß wird die Streitigkeit als potentielle unmittelbare Belastung für das Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen den Söhnen des Eumathios und Libanios verstanden. Nichtsdestoweniger deutet das Antwortschreiben auf das Empfehlungsschreiben bei der Ankunft der Söhne des Eumathios im Jahre 365 n. Chr. an, dass dieser Zwist vorab nicht beigelegt worden war (Lib. epist. 1500F). Die Verweise des Libanios auf die vorherigen Auseinandersetzungen dominieren den Inhalt des Briefes. Anstatt als Opfer dieses Zwistes erscheinen die Schüler diesmal jedoch als Garanten einer erneuten Freundschaft. Dennoch offenbart das Ende des Briefes, dass Eumathios seine Söhne aus Furcht vor ebendieser Belastung des Lehrer-SchülerVerhältnisses nur zögerlich und verspätet zu Libanios gesandt hatte (Lib. epist. 1500,4F). Der darauffolgende Brief (epist. 1501F) offenbart wiederum, dass anstelle der direkten Bindung zwischen Vater und Lehrer nun ein gemeinsamer Bekannter als Garant, Fürsprecher und Vermittler ebendiese angemessene Erziehung der Söhne gewährleisten sollte. Diesem Garanten gegenüber wurde ebenfalls ein beschwichtigender Ton angeschlagen sowie die Beteuerungen eines neuerlichen Friedens zwischen Vater und Lehrer wiederholt.46 Ein sehr
|| Intellekt und Physis) des Kindes als Mitgift des Vaters verstanden; siehe ebenfalls Cribiore (2007) 131f. 43 Siehe vor allem Lib. epist. 285,2F: αὐτὸν εἰς Ἕλληνας τελέσαι. Zur Formung des Kindes als Gemeinschaftsleistung von Vater und Lehrer siehe etwa Lib. epist. 310,2F. 44 Seeck (1906) 135 s.v. Eumathius I. 45 Immerhin bestand die generelle Möglichkeit einer Ablehnung durch Libanios, siehe Lib. epist. 248,2F. 46 Dabei kann davon ausgegangen werden, dass auch der Fürsprecher und der Vater in engem brieflichen sowie persönlichen Austausch zueinander standen, siehe etwa Lib. epist. 1471,3F.
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ähnliches Verfahren wird auch im Falle der Söhne des Philagrios47 angewandt. Nach einer brieflichen Ermahnung durch Libanios (epist. 43F) verließen die Söhne den für sie ursprünglich vorgesehenen Lehrer und machten sich nun auf den Weg nach Antiochia. Erneut enthält der Antwortbrief (epist. 89) zahlreiche Beteuerungen der nun wieder ungehindert fortgesetzten Freundschaft zwischen Vater und Lehrer, wobei die Söhne erneut als Garanten erscheinen (§4). Und abermals wird am Schluss des Briefes (§5f.) ein beiden Seiten bekannter Fürsprecher benannt, der sich diesmal sogar eigens auf den Weg zu Libanios machte, um die angemessene Erziehung der Söhne des Philagrios sowie auch die seines eigenen Bruders zu gewährleisten. Reminiszenzen vorheriger Streitigkeiten könnten eventuell in einem Antwortbrief an Olympios48 zu finden sein (epist. 270, besonders §1). In diesem Antwortschreiben wird besonderer Wert auf die beiden Fürsprecher gelegt, die die Aufnahme der Söhne forciert zu haben scheinen (§3 sowie epist. 269,5F). Letztlich bleibt es jedoch unklar, ob sich Olympios und Libanios zuvor kannten oder nicht, da Zwistigkeiten und Streit eine ähnliche Kommunikationsstrategie erforderlich machten, wie es im Folgenden bei Libanios’ zuvor unbekannten Elternteilen zu beobachten sein wird.49
2.2 Fall 2: Kommunikationsstrategien in den Antwortbriefen des Libanios ohne vorherige Bekanntschaft In einigen Fällen trafen auch potentielle Schüler bei Libanios ein, deren Väter zuvor nicht näher mit dem erhofften Lehrer ihrer Söhne bekannt waren.50 Entsprechend hatten gemeinsam bekannte Fürsprecher die Aufnahme der Kinder sowie deren angemessene Unterrichtung und Fürsorge durch den Lehrer zu gewährleisten.51 Gelegentlich wurden auch die Heimatgemeinden der Väter selbst52 zu Garanten und Paten einer intensiven väterlichen Fürsorge und Be-
|| 47 Vgl. Seeck (1906) 237 s.v. Philagrius III. 48 Vgl. Seeck (1906) 225 s.v. Olympios IX. 49 Als Vergleichsmöglichkeit kann etwa ebenfalls epist. 262F dienen. 50 Lib. epist. 172F; 728F; 248–250F; 254F; 745F; 781. 782F; 1012,4F; 1014F. Ein Sonderfall ist wiederum epist. 1098F, wobei es sich hierbei auch nicht um einen Antwortbrief auf ein vorheriges Empfehlungsschreiben handeln dürfte, da der Sohn eigenmächtig weggelaufen und zu Libanios gezogen war. 51 Lib. epist. 172,2F. 52 Siehe etwa 728,2F; 768,3F; 1241,2–3F.
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treuung von Seiten des Lehrers für seine Schüler.53 Darüber hinaus betont Libanios in einem seiner Briefe den nun starken Konnex zwischen der anfänglichen Zuneigung für den neuen Schüler und der Zuneigung, die er (eventuell auch nur dank entsprechender Fürsprecher und ohne eigene Kenntnis der Person) für den Vater hegt (Lib. epist. 254,3F). In einigen dieser Fälle, in denen sich der Vater und der Lehrer zuvor einander nicht bekannt waren, reflektiert Libanios in dem Antwortschreiben an den Vater offen über die Gründe für seine Aufnahme des Schülers, wobei er die Argumente selbst gelegentlich hierarchisiert und die Garanten benennt sowie häufig auch deren Bezüge zur und Wertschätzung für die Rhetorik gesondert hervorhebt.54 Durch derlei Aufzählungen werden sowohl die vielfältigen Leistungen des Vaters zur Gewährleistung der Aufnahme des Sohnes respektive der Söhne durch entsprechende Fürsprecher noch einmal gesondert gewürdigt als auch die Schuld des Vaters gegenüber diesen Personen aufgezeigt und zudem die durch die Empfehlungsschreiben sowie sonstigen Leistungen unter Beweis gestellte Ehrenstellung des Lehrers (des Adressaten all dieser Mühen) noch einmal besonders hervorgehoben. Zugleich bietet sich Libanios die Gelegenheit für eine detailliertere Selbstdarstellung in seiner Funktion als Lehrer. An erster Stelle steht stets die Person des Schülers und dessen Eignung für den Unterricht, der in der brieflichen Selbstdarstellung immer wieder ein größerer Wert als dessen Herkunft beigemessen wird. Demgegenüber vermeintlich zweitrangig, realiter allerdings ebenso bedeutsam waren die Person des Vaters und seine Familie.55 Zur Beruhigung der Väter wird gelegentlich die unmittelbar hervortretende Eignung sowie der besondere Arbeitseifer der Schüler oder manchmal auch nur ein Versprechen einer solchen Eignung eigens hervorgehoben.56 Somit konnte bei Libanios ein von der Familie und seiner eigenen persönlichen Bindung an diese unabhängiges Eigeninteresse an der Förderung der Schüler vermutet werden, was die Hoffnung auf die ange-
|| 53 Siehe etwa Lib. epist. 92; 781. Die Stadt als Garant ist deshalb von Bedeutung, da der Erfolg eines Schülers aus einer Stadt automatisch weitere Schüler aus dessen Heimatgemeinde anlockte, siehe etwa Lib. epist. 1013F. 54 Siehe etwa Lib. epist. 1014F sowie 728,2F. Siehe ebenfalls Lib. epist. 781–782F, mit besonderen Bezügen zur παιδεία bei 782,2F. Größte Bedeutung erlangen dabei neben anderen Autoritätspersonen vor allem die direkt vor Ort anwesenden Überbringer und Begleiter des Jungen: Einmal etwa ein aktiver Rhetor (epist. 270,1F), der eigens aus Armenien anreist, ein anderes Mal ein aktiver, aber schon ein wenig fortgeschrittener Schüler, der die Neulinge aus Tyana in Kappadokien mitbringt (epist. 1014F). 55 Zur Bedeutung der εὐγένεια für Libanios siehe Cribiore (2007) 116. Siehe zur manchmal doch umgekehrten Reihenfolge etwa Lib. epist. 745,1F. 56 Siehe Lib. epist 249,1–2F; 254F; 728,2–3F; 745,3F.
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messene Förderung des Kindes weiter verstärkte. Darüber hinaus wird von Libanios gelegentlich auch das eigene Selbstverständnis als nun zweiter Vater des Jungen samt der damit einhergehenden Fürsorgepflicht zum Ausdruck gebracht.57 Dieser Rolle als Vater im Sinne der παιδεία kam in den weiteren Entwicklungsbriefen, neben der stets wiederholten Hervorhebung der natürlichen Begabung der Schüler eine stets steigende Bedeutung zu.58 Dennoch werden auch die anderweitig bestehenden persönlichen Bindungen zur Familie sowie weitere Fürsprecher genannt, deren besonderer Einsatz für den Schüler gegebenenfalls gesondert hervorgehoben wird.59 Im Gegensatz zum zunächst behandelten ersten Fall werden die vorher so bedeutsamen, nun aber lockereren Bande an die Familie als in der internen Hierarchie geradezu nebensächlich dargestellt, um die Familie des Jungen zusätzlich zu beruhigen.60 Mangelte es am besonderen Talent des Schülers oder an dem besonderen Wohlwollen gegenüber dem Vater, so wurde die Aufnahme des Jungen als besonderer Gefallen gegenüber seinen Fürsprechern und Garanten bewertet.61
3 Ausblick: Die weiteren Entwicklungsberichte an die Väter und Verwandten Doch in welcher Weise nahm Libanios in der weiteren Darstellung der Briefe diese Fürsorgepflicht gegenüber den Schülern wahr? In welcher Weise gestaltete sich das weitere Verhältnis zwischen Lehrer und Vater respektive Vormund? Wie wurde über die Erziehung des nun ‚gemeinsamen Sohnes‘ reflektiert? Diesen sich an die Vorüberlegungen unmittelbar anschließenden Fragen möchte ich zum Abschluss dieses Beitrages in Form eines kurzen Ausblicks in der gebotenen Kürze nachgehen: Wie die zeitlich nachfolgenden Entwicklungsbriefe des Lehrers62 anschaulich demonstrieren, nahm Libanios seine Schüler auch im Folgenden als seine || 57 Siehe etwa Lib. epist. 781,3F sowie 782F. 58 Siehe etwa epist. 32F; 239,1. 7F; 634,2F; 806F; 1141,1F; 1471F. 59 Neben den bereits genannten Beispielen siehe ebenfalls Lib. epist. 745,1. 3F. 60 Siehe etwa Lib. epist. 249,3F sowie 1014,3F. 61 Siehe etwa Lib. epist. 270,1. 3F; 781,1–2; 782,2–3F, 250,1–2F oder auch 1012,4F. Entsprechend wird bei Lib. epist. 728,2–3F der Sohn in der Aufzählung auch als letztes genannt und sein besonderes Potential für die Zukunft hervorgehoben. 62 Näher zu untersuchen wären hier die Briefe 25f; 32F; 44F; 59F; 121F; 139F; 148F; 259F; 262F; 305F; 371F; 419F; 465F; 467F; 472F; 474F; eventuell 475F; 547F; 569F; 579F; 600F; 601F; 737F;
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Söhne wahr.63 Dabei blieb die φύσις des Schülers in der weiteren Reflexion der Erfolge und Tugenden des Schülers auch weiterhin der entscheidende Beitrag des Vaters und der Familie, womit der Schüler in seiner Bewährung des rhetorischen Alltages als Spiegelbild und Vertreter der gesamten Familie erscheinen konnte.64 Die übrigen Fortschritte durch den Unterricht rechnete sich entsprechend seiner Rolle als Lehrer und Mentor Libanios selbst an.65 Angestrebt wurden zum einen eine Formung des Charakters, wobei der Einfluss des Unterrichts zugunsten des Impetus des Vaters und der Familie hier etwas geringer eingestuft wurde, zum anderen aber auch eine stetig voranschreitende Bewährung auf dem Gebiet der Rhetorik. Der optimale Schüler besaß somit beide Eigenschaften: Charakter (τρόπος) und die Gabe der Rhetorik.66 Zudem hatte er eifrig, ehrgeizig sowie anerkannt und angesehen sowohl bei seinen Mitschülern wie auch bei seinen Lehrern zu sein.67 Im Laufe der Erziehung des Kindes veränderten sich gegenüber den ersten Schreiben bei der Ankunft der Schützlinge auch die Inhalte der Korrespondenzen zwischen Libanios und den leiblichen Eltern sowie Verwandten. Die gemeinsame Bindung und Vergangenheit zwischen Adressant und Adressaten trat in der gemeinsamen Kommunikation zugunsten einer vornehmlichen Beschränkung auf die Entwicklung des Kindes zurück. Es handelte sich somit um eine stete miteinander geführte Kommunikation zweier Väter zum Wohle der Entwicklung des gemeinsamen Sohnes auf dem Feld der Rhetorik.68 So wurde bei schlechten Leistungen des Schülers gelegentlich auch die direkte Anwesen-
|| 766F; 1090F; 1101F; 1034F; 1164F; 1165F; 1250F; 1345F; 1403F; 1416F; 1471F; 1539F. Eine erneute Detailstudie würde allerdings den vorgegebenen Rahmen des Beitrages sprengen, weshalb ich mich auf einen Ausblick beschränke. 63 Zu dem diesem Verhältnis zugrundeliegenden Gedankenkonstrukt siehe Cribiore (2007) 141–147. 64 Siehe insbesondere Lib. epist. 1101F sowie 121F. 65 Im Briefwechsel von Lib. epist. 547F zu epist. 579F erweist sich Libanios als Bezwinger auch des vermeintlich widerspenstigsten Schülers. Siehe zudem Lib. epist. 1005F; 355,2F; 715,4F. 66 Lib. epist. 600F. Zur Hierarchisierung siehe ebenfalls Lib. epist. 87,1F; 310,2F; 1222,1F; 875F; 646,4F. 67 Lib. epist. 1165; 601F; 766F sowie 666F. Siehe zudem epist. 475F, wobei hier durchaus eine leichte Kritik herauszulesen ist. Zum besonderen Eifer der Schüler, der gelegentlich vom Vater auch zusätzlich geschürt wurde, siehe ebenfalls Lib. epist. 1403F. 68 Zum Wesen der Kommunikation siehe Lib. epist. 467F. Nichtsdestoweniger konnten die Entwicklungsberichte gelegentlich auch in die sonstige Korrespondenz miteinander eingeflochten sein, siehe Lib. epist. 737,4F.
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heit des Vaters erbeten.69 Andere Gründe, wie etwa eine allzu große Strenge des Vaters werden von Libanios in den Briefen wieder aufgegriffen.70 Jenseits des eigentlichen Unterrichts besaß gelegentlich auch die Thematisierung säumiger Zahlungen an Libanios ein größeres Gewicht innerhalb der gegenseitigen Korrespondenz und führte zu Spannungen.71 Innerhalb der Korrespondenz musste stets abgestimmt und feinjustiert werden, welcher Aufgabe bei der Erziehung des Sohnes der Vater und welche der Lehrer zu übernehmen hatte.72 Dies führte ebenfalls zu gelegentlichen Kompetenzrangeleien, die häufig etwa die Länge der noch verbliebenen Studienzeit des Schülers betrafen.73 Trotz dieses generellen Bemühens um Einvernehmen zwischen Lehrer und Vater vertraute letzterer Libanios keineswegs bedingungslos: Als Kontrollinstanz des Vaters vor Ort und Vermittler fungierten zumeist der Pädagoge, der sowohl die Briefe an den Vater überbrachte als auch vor Ort einen mündlichen Bericht ablieferte und somit die Informationen der Briefe zusätzlich ergänzte (F 41; 465F),74 sowie weitere vorbeireisende Freunde und Bekannte des Vaters (1471,2F; 187F). Generell konnte natürlich der Überbringer der Briefe gegebenenfalls weitere, über das Schreiben hinausgehende Informationen liefern (Lib. epist. 419F). Andererseits hatte wiederum Libanios selbst gelegentlich einen knappen Bericht über die Bemühungen des Pädagogen gegenüber seinem Schützling zu verfassen (eine doppelte Absicherung für den Vater).75 Die Entwicklungsberichte selbst wurden entweder vom Vater angefordert, im Rahmen der Sommerferien mitgeschickt76 oder man nutzte auch die zufällige Reise des Pädagogen, um sich Nachrichten zu schicken. Das Bestreben nach guten Neuigkeiten in den Entwicklungsbriefen zum Zwecke der öffentlichen Zurschaustel-
|| 69 Siehe etwa Lib. epist. 547F sowie 600F. 70 Lib. epist. F1403F. 71 Siehe etwa Lib. epist. 261F sowie 273F. Siehe hierzu ebenfalls Lib. or. 43. 72 Siehe etwa Lib. epist. 600F; 1403F; 472F; 1250F; 1345F. 73 Siehe etwa Lib. epist. 1394F; 1416F; 59F. 74 Zur Bedeutung des Pädagogen bei der Ausbildung des Jungen siehe epist. 139,2F sowie 201,1F. Siehe ebenfalls Cribiore (2001) 47–50. Diese Kontrollfunktion konnte jedoch gelegentlich auch zu Spannungen und Verleumdungen zwischen Lehrer und Pädagoge führen, siehe Lib. epist. 475F. Zu Pädagogen als Überbringern von Nachrichten siehe etwa Lib. epist. 104F; 233F. Zur Kritik an Pädagogen siehe Lib. epist. 1475F. 75 Ein Bericht findet sich etwa bei Lib. epist. 44F. Siehe ebenfalls epist. 456F. 76 Einige dieser Briefe scheinen als kurze Entwicklungsberichte im Rahmen der Sommerferien verschickt worden zu sein, da sie in ihrer Struktur keine Reaktion auf einen vorherigen Brief des Vaters erkennen lassen. Siehe etwa Lib. epist. 148F; 419F; 465F; 600F.
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lung der Leistungen des eigenen Sohnes war entsprechend hoch.77 Im Falle einer negativen Beurteilung konnten den Sohn bei der Heimkehr größere Strafen bis hin zum Essensentzug erwarten.78 Bei unerwartet großen Erfolgen wurde der Vater hingegen wiederum zur eigenen Autopsie der Leistungen des Sohnes aufgefordert (Lib. epist. 579F). Sofern irgend möglich, schickte Libanios den Schüler erst dann mit einem Abschiedsbrief nach Hause zurück, wenn er der Meinung war, dass sein Schüler alle notwendigen Fertigkeiten erlernt hatte (Lib. epist. 1394F). Von da an konnte der Schüler wiederum beim Verlassen der Schule neben einem Vertreter seiner Familie auch ein würdiges Abbild und Spiegelbild seines Lehrers darstellen.79
4 Fazit Die Briefe des Libanios erweisen sich nicht nur in ihrer Stilisierung, sondern vielmehr auch in den in ihnen zutage tretenden Kommunikationsstrategien als hochkomplexe Zeugnisse eines Meisters des Wortes, wodurch sich die epistulae auf diese Weise der besonderen Wertschätzung von Zeitgenossen und Nachwelt zusätzlich als würdig erweisen. Sie belegen zum einen die große Fürsorge der Erziehungsberechtigten und der gesamten Familie für die Zukunft sowie die Erziehung ihrer Nachkommenschaft und demonstrieren andererseits das dadurch erforderliche Feingefühl, das einem Sophisten zur Bewährung als erfolgreicher Lehrer im Schulalltag nicht nur gegenüber seinen Schützlingen, sondern vor allem gegenüber deren Familien abverlangt wurde. Der Schlüssel zum Erfolg lag damals wie heute nicht in einer Isolierung der einzelnen Parteien, sondern vielmehr in einer engen Kooperation und einer hinreichenden Kommunikation zwischen dem Lehrer und der Familie zugunsten des Schülers.
|| 77 Siehe etwa Lib. epist. 547F. Wahrlich gute Neuigkeiten im Hinblick auf den Arbeitseifer des Schülers kann Libanios im Falle von epist. 1164 vermelden. 78 Siehe Cribiore (2001) 110. 79 Siehe Lib. epist. 1009F.
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Tabea L. Meurer
In scribendo formam vetustatis amplector Vergangenheitsbezüge als Strategie kommunikativer In- und Exklusion in der Korrespondenz des Q. Aurelius Symmachus
1 Problemstellung und Perspektive In seiner Korrespondenz mit Virius Nicomachus Flavianus entwarf Q. Aurelius Symmachus, ehemaliger senatorischer Stadtpräfekt Roms,1 um 390 n. Chr. ein düsteres Bild für Gegenwart und Zukunft epistolographischer Tätigkeit: Ego quoque in scribendo formam vetustatis amplector nimisque miror, quod mihi librarii error obrepserit, qui solitus epistulis meis nomina sola praeponere, usum simplicem novella adiectione mutavit. […]. Et tamen utcumque ista res accidit, gratulor novi aliquid oblatum […]. Quousque enim dandae ac reddendae salutationis verba blaterabimus, cum alia stilo materia non suppetat? At olim parentes etiam patriae negotia, quae nunc angusta vel nulla sunt, in familiares paginas conferebant. Id quia versis ad otium rebus omisimus, captanda sunt nobis plerumque intemptata scribendi semina.2
|| Die folgenden Analysen beruhen z. T. auf Untersuchungsergebnissen meiner im Januar 2018 an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster verteidigten Dissertation. Diese wird, leicht überarbeitet, voraussichtlich im Laufe des Jahres 2019 in der Reihe Millennium-Studien erscheinen (Arbeitstitel: „Vergangenes verhandeln in spätrömischen Statusdiskursen“). Mein Dank gilt Johannes Hahn für die Beratung bei der Erarbeitung und Publikation dieses Beitrages. Ebenso danke ich den Herausgebern dieses Bandes, Gernot Michael Müller, Sabine Retsch und Johanna Schenk, für die sorgfältige redaktionelle Arbeit und hilfreiche Hinweise. Schließlich gebührt mein Dank den Rednern und Mitdiskutanten der Tagung, allen voran Jan Stenger, für Nachfragen und Anmerkungen. 1 Übersichtliche Zusammenfassungen der Biographie und Karriere des Praefectus urbi, der einem erweiterten Publikum vor allem aufgrund des sogenannten Streites um den Victoriaaltar (Symm. rel. 3) bekannt ist, lassen sich u.a. Barrow (1973) sowie Sogno (2006) entnehmen. 2 Symm. epist. 2,35,1f.; ein Teil des Zitates ist auch im Titel zum vorliegenden Beitrag verarbeitet; vgl. Brown (2012) 100f. zum affirmativen ebenso wie autoritativen Charakter der hervorgehobenen Aussage. Die Übersetzungen und Hervorhebungen von Quellenzitaten im Fließtext stammen hier und im Folgenden, wenn nicht anders angegeben, von der Autorin selbst. Für eine Gesamtübersetzung und -kommentierung des Briefes vgl. Callu (1972) 175f. sowie Cecconi (2002) 293f. Eine Übersetzung einzelner Passagen bieten ebenfalls Matthews (1974) 62 sowie Sogno (2014) 207; der letztgenannte Aufsatz zeigt zudem intertextuelle Parallelen zu Plin. epist.
https://doi.org/10.1515/9783110676303-017
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Ich begrüße auch beim Schreiben die althergebrachte Form und wundere mich ziemlich, dass sich mir ein Fehler seitens des Sekretärs eingeschlichen hat, der sonst meinen Briefen nur die Namen voranstellt, jetzt aber die schlichte Verfahrensweise durch eine neumodische Ergänzung ersetzte. […]. Und doch freue ich mich, wiewohl dieses Missgeschick passierte, denn es bringt eine Neuigkeit. Wie lange werden wir nämlich noch im wechselseitigen Austausch Grußworte brabbelnd von uns geben, weil sich für den Stift kein anderer Gegenstand bietet? Einst verhandelten aber die Vorfahren politische Geschäfte, die nunmehr eng begrenzt oder gar nicht mehr vorliegen, in ihren Familienkorrespondenzen. Da wir uns der Muße zugewandt und deshalb dieses Thema ausgelassen haben, müssen wir aber Gelegenheiten zum Schreiben ergreifen, die meistens unberührt blieben.
Anders als ihre Vorväter hätten sich Symmachus und seine Zeitgenossen demnach nur noch über belanglosen Stoff ausgetauscht; diesen Mangel an adäquater Materie sah Symmachus u.a. in einem veränderten politischen Rahmen begründet. Beinahe ‚nostalgisch‘ scheinen sich Adressat und Adressant zugleich nach den kommunikativen Möglichkeiten der Ahnen zu sehnen, die in ihren Briefen zeithistorische Ereignisse hätten verarbeiten können. Stattdessen bliebe es ihnen nur übrig, sich beim Schreiben an der Vorbildlichkeit der Vergangenheit zu orientieren. Generationen von Altertumswissenschaftlern folgten seit dem 19. Jahrhundert in ihrer Beurteilung Symmachusʼ vermeintlich pessimistischer Selbsteinschätzung.3 Nur allzu gut ließ sich jene kontrapräsentische Klage in das Narrativ von einem spätrömischen politischen und kulturellen Verfall einfügen, welcher auf Seiten der Senatoren wiederum zunehmend Geschichtsschwärmerei und Vergangenheitssehnsucht provoziert habe.4 Während Philologen insbesondere den dunklen Stil spätrömischer senatorischer Briefkorpora u.a. des Symmachus monierten, zeigten sich Historiker enttäuscht über den Mangel an dokumentarischen Informationen, die aus seiner Korrespondenz geschöpft werden können.5 Erst in den 1970er Jahren formulierte John Matthews
|| 3,20,10f. an Maesius Maximus sowie Plin. epist. 9,2,2 an Sabinus auf; siehe auch zum möglichen epistolaren Modell des Plinius unten Anm. 16. 3 Zum Zusammenhang zwischen der Beurteilung von Symmachusʼ epistolographischer Produktion und dem Eingeständnis fehlender literarischer Gegenstände gegenüber Virius Nicomachus Flavianus vgl. erst jüngst Sogno (2017) 175; 183. 4 Eine knappe Dekonstruktion dieses Narrativs sowie seiner Voraussetzungen haben erst kürzlich Dusil et al. (2017) 3–6 aus philologischer Perspektive vorgelegt. 5 Ältere philologische Werturteile bezüglich der Dunkelheit spätlateinischer Epistolographie wendet Schwitter (2015) 10–31 erkenntnisleitend. Exemplarisch zur Enttäuschung der älteren historischen Forschung über einen scheinbaren Informationsmangel in senatorischen Korrespondenzen der Spätantike, speziell der Symmachus-Briefe, vgl. Boissier (1891) 183 sowie Dill
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ein verändertes althistorisches Erkenntnisinteresse und schätzte folglich auch den Quellenwert divergierend ein: Statt ereignisgeschichtlichen stellte Matthews primär sozial- bzw. kulturhistorische Fragen an spätlateinische Briefsammlungen im Allgemeinen, die Symmachus-Briefe im Besonderen.6 Künftigen Lesern empfahl sein Kompendiumsartikel, vor allem Briefetikette, Reziprozitätsideale, kurzum Normen und Praktiken epistolographischen Austauschs zu studieren, da die Korrespondenzen ein reichhaltiges „Museum spätrömischer amicitia“7 entfalteten. Dass sich seit der Veröffentlichung von Matthewsʼ Beitrag die Perspektiven auf lateinisch- wie griechischsprachige Korrespondenzen der Spätantike grundlegend gewandelt haben, belegen nicht zuletzt zahlreiche Sammelbände und Zeitschriftenpublikationen der vergangenen eineinhalb Dekaden.8 Jener sozial- bzw. kulturhistorische Zugang zu spätantiken Briefsammlungen legt nahe, Ahnen- und Altertumsreferenzen, wie sie Symm. epist. 2,35 mit der Forderung nach einer forma vetustatis paradigmatisch enthält, gleichfalls als habitusgemäße Kommunikationsweisen aufzufassen. Eine solche Untersuchung verspricht zuvorderst Aufschluss über gemeinsame oder divergierende Wertvorstellungen, Selbstverortungen und Distinktionsmittel der beteiligten Briefpartner. Doch ungeachtet der analytischen Leistungen der jüngeren Forschung zum Thema sind Analysen diesbezüglich rar gesät.9 Bislang liegt weder eine prägnante Zusammenstellung von unterschiedlichen Modi und Motivatio-
|| (1899) 153. Zur Bezeichnung jener Gruppe von Texten vgl. ferner Sogno (2014) 202f. und passim. Jetzt auch: White (2014) 14f. und passim. 6 Vgl. Matthews (1974) 58–64 über den Vorzug sozial- und kulturgeschichtlicher Fragestellungen bei der Interpretation der Symmachus-Briefe. Auch forschungshistorisch betrachtet fällt Matthewsʼ Beitrag in eine Zeit fachinterner Paradigmenwechsel bezüglich des Verständnisses und der Einordnung der Epoche der Spätantike. 7 Matthews (1974) 62 in deutscher Übersetzung. Mit der Aussage ist allerdings keine Positionierung in der Musealisierungsdebatte verbunden; vgl. Cameron (2000) 1, Diefenbach (2007b) 23 mit Anm. 69 sowie Behrwald (2009) 35–38 zur Kritik an jenem Paradigma. 8 Reflexionen zur veränderten Perspektive enthalten so u.a. Sogno et al. (2017) 1–7, Sogno (2017) 174–177, Schwitter (2015) 29, Sogno (2014) 201 mit Anm. 14 sowie Salzman (2011) xiii–xx. 9 Zwar behandeln Bruggisser (1993) 414–417, Näf (1995) 132f. und Salzman (2011) liv–lvii die modellhafte Bedeutung von vetustas bzw. einer forma vetustatis allgemein für Symmachusʼ Freundschaftsideal und weisen auf den normativen Charakter hin, beschränken sich in ihrer Einschätzung allerdings, wie unter Abschnitt 3 dargelegt, vor allem auf das erste Briefbuch. Dagegen widmet sich Sogno (2014) lediglich Schnittmengen von Historiographie und Epistolographie. Mratschek-Halfmann (2008) und Mratschek-Halfmann (2013) gehen wiederum explizit auf die oben skizzierte Leitfrage ein; allerdings sind beide Beiträge vor allem auf Problemstellungen und Perspektiven der Sidonius-Forschung bezogen.
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nen, vergangenheitsbezogene Identitätsentwürfe im Medium der (Symmachus-) Briefe zu evozieren, vor, noch ist eine umfassende Analyse, inwieweit Rekurse auf Altertümer adressatenspezifisch ausfielen, vorgenommen worden. Beides erscheint jedoch, einerseits allgemein, anderseits speziell für die Korrespondenz des Stadtpräfekten von 384/385 n. Chr. als ein Desiderat, um die obig skizzierten Meistererzählungen zu überwinden und spätrömische senatorische Briefe in ihren kommunikativen Idiosynkrasien unvoreingenommen zu würdigen. Daher versucht der vorliegende Beitrag im Folgenden, jene Leerstelle anhand ausgewählter Beispiele aus der Korrespondenz des Q. Aurelius Symmachus graduell zu schließen. Ausgehend von Paradigmen der Assmannschen Erinnerungsforschung und deren altertumswissenschaftlichen Operationalisierungen nehme ich dabei einen Doppelcharakter geschichtlicher Bezugnahmen für die spätantike Bildungskultur an:10 Indem christliche wie pagane spätrömische Akteure und Autoren auf konkrete Leitfiguren aus der Vergangenheit oder allgemein die Autorität der Alten verwiesen, stellten sie zum einen ostentativ ihre historische Paideia unter Beweis (= historisches Bildungswissen). Zum anderen zeigten sie, dass sie für ihre jeweilige Interpretation von exempla, maiores oder vetustas normative Allgemeingültigkeit beanspruchten (= historisches Orientierungswissen).11 Folglich überlappten sich Modell- und Distinktionscharakter spätantiker Vergangenheitsbezüge im literarischen Diskurs, wobei ihre Reichweite situativ verhandelt, Referenzpunkte bzw. -inhalte unterschiedlich ausgedeutet wurden.12 Auf Basis dieser methodischen Vorüberlegungen formuliere ich die Hypothese, dass spätrömische Adressanten wie z.B. Q. Aurelius Symmachus Ahnenund Altertumsrekurse im Austausch mit ihren Adressaten als kommunikative Strategien einsetzten, mit deren Hilfe sie sich ihrem jeweiligen Gegenüber an-
|| 10 Methodisch-theoretische Grundlagen der kulturwissenschaftlichen Erinnerungsforschung entwickelt Assmann (1997) 29–34; 45–48; zur Differenzierung zwischen einem historischen Bildungs- und Orientierungswissen vgl. Assmann (1997) 66–86. Eine Operationalisierung jener Überlegungen bieten mit Blick auf die lateinische Literatur der Spätantike Eigler (2003) 29–50 sowie, verdichtet, Dusil et al. (2017) 11–14. 11 Zur Frage, inwieweit christliche Autoren sowohl Bildungs- als auch Orientierungswissen aus profanhistorischen exempla oder allgemeinen antiquitas-Rekursen schöpften, vgl. Hagendahl (1958) 225, Eigler (2003) 130f. sowie Diefenbach (2007a) 99f. Die Beiträge gehen ebenfalls auf die Ambiguität jener geschichtlichen Bezugnahmen ein. 12 In Anlehnung an Foucault (2012) 7–12 verstehe ich unter Diskurs kommunikative Aussagen, die wiederum in historischen wie gegenwärtigen Gesellschaften Wirklichkeit schaffen.
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nähern und kollektive Konsensfiktionen herstellen konnten.13 Vice versa boten Vergangenheitsbezüge im Medium des Briefes zugleich vielfältige Möglichkeiten zur soziokulturellen Ein- und Ausgrenzung sowie zur Distinktion und Normierung senatorischer Identitätsentwürfe. Weshalb zuvorderst Q. Aurelius Symmachusʼ Korrespondenz Fallbeispiele par excellence für diesen Problemkomplex bietet, verdeutlicht eine knappe Bestandsaufnahme seiner überlieferten Briefe.
2 Text und Kontext: Zum Briefcorpus und den Adressaten des Symmachus Mit über 900 erhaltenen Epistulae gehört Symmachusʼ Korrespondenz zu den umfangreichsten Briefsammlungen der (Spät-)Antike.14 Das Corpus umfasst Briefe, die zeitlich etwa von seinem ersten öffentlichen Auftreten – einer Gesandtschaft an den Trierer Hof Kaiser Valentinians I. 369 n. Chr. – bis zu seinem Tod um 402/403 n. Chr. reichten. Moderne Editionen unterteilen die Korrespondenz in der Tradition mittelalterlicher Manuskripte in insgesamt zehn Bücher, die vorwiegend nach Adressaten geordnet sind.15 Aufgrund formaler Aspekte, z.B. der Anzahl und Aufteilung der Bücher, galt Symmachus lange Zeit als ‚Plinius der Spätantike‘.16 Ob Symmachus seine Brief-
|| 13 Von kollektiven Konsensfiktionen sprechen mit Bezug auf panegyrische Kommunikationsstrategien Paris (1999) 272–276 sowie Ronning (2007) 17f. 14 Als umfangreichste Briefsammlung der Spätantike ist Libaniosʼ vielfältige Korrespondenz anzusehen, die ebenfalls im vorliegenden Sammelband vorgestellt wird. Doch nicht nur in rein quantitativer Hinsicht können Symmachusʼ Epistulae als Pendant zu Libaniosʼ Briefen gelten; zum Teil überlappten sich auch Kommunikationsstrategien und soziale Netzwerke. Siehe hierzu auch unten Anm. 62 und 63. 15 Einen guten Überblick über formale Charakteristika der Briefsammlung bietet Sogno (2006) 60–63 im Rekurs auf Matthews (1974) 65–68. Zur Überlieferungsproblematik und der Frage nach einer Eigenpublikation oder einer Vorbereitung zur Publikation siehe unten Anm. 17. 16 Zur Orientierung an Plinius vgl. Marcone (1987) 143–154 und Salzman (2002) 67; zur Kritik an der älteren Symmachus-Forschung, z.B. Seeck (1883) xlvi, vgl. Cameron (2011) 360–363. Neben der bloßen Anzahl der Briefbücher bei Symmachus, je nach Edition neun oder zehn wie auch bei Plinius, argumentieren die Befürworter mit der Aufteilung in einen privaten Briefwechsel und Relationes an den Kaiserhof. Anders als z.B. Sidonius legte aber Symmachus nirgends eine programmatische Orientierung an Plinius direkt dar; siehe unten Anm. 18. Gleichwohl lassen sich durchaus intertextuelle Verweise, wie im Fall von Symm. epist. 2,35, feststellen, siehe auch oben Anm. 2.
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sammlung wie Plinius selbstständig publiziert bzw. vor seinem Tod zur Publikation vorbereitet hat, ist indes noch immer umstritten; allenfalls über die Sonderstellung des ersten Briefbuches herrscht Konsens.17 Daher bleibt jedoch unklar, inwiefern die Buchaufteilung und -anzahl auf spätere Editoren zurückgeht, die sich wiederum an Pliniusʼ Werk orientierten.18 Auch inhaltlich unterscheiden sich Symmachusʼ Briefe von Pliniusʼ epistolographischem Œuvre: Hier lässt sich zwischen kurzen Grußnotizen, Dankesadressen und Gratulationsschreiben, den sogenannten litterae salutatoriae, bzw. etwas umfangreicheren Empfehlungsschreiben, den litterae commendaticiae, differenzieren.19 Grundsätzlich richtete Symmachus an sämtliche Korrespondenten sowohl litterae salutatoriae als auch commendaticiae, auch wenn sich Präferenzen im Falle einzelner Adressaten durchaus erkennen lassen. Gerade die Adressatenkreise und Kommunikationsradien machen wiederum die Symmachus-Korrespondenz für den Historiker so interessant: Bereits bei der Durchsicht der ersten Briefbücher fällt unmittelbar auf, dass sich Symmachusʼ Korrespondentenliste gleichsam wie ein ‚Who’s Who‘ der gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Führungsschicht seiner Zeit liest.20 Einerseits finden sich darunter Vertreter der provinzialen, umfangreich gebildeten senatorischen Funktionseliten, die wie z.B. D. Magnus Ausonius im Umfeld des Kaiserhofes (comitatus) zu reichsweitem Einfluss aufgestiegen waren.21 Andererseits schrieb Symmachus ebenso häufig an Angehörige der administra|| 17 Mindestens zwei mögliche Modelle in der Debatte, wie Symmachus’ Briefe in der Antike publiziert wurden, finden in der aktuellen Forschung Akzeptanz. Als opinio communis gilt, dass Symmachus selbst Buch 1 der Sammlung zur Publikation vorbereitet hat, das Buch als Monobiblion vermutlich noch zu Lebzeiten erschienen ist und somit eine Sonderstellung besitzt; vgl. Bruggisser (1993) 25–30 und zur Akzeptanz in der Forschung vgl. Salzman (2011) xliv; l. In der Frage, ob Symmachusʼ Sohn Memmius nur die Bücher 2 bis 7 herausgegeben habe und später Anonyme das übrige Material als Bücher 8 bis 9 bzw. 10 ediert hätten, wie Sogno (2011) 61f. im Rekurs auf Roda (1986) 179 vermutet, herrscht jedoch Uneinigkeit. Matthews (1974) 66ff. dagegen schlägt vor, eine Gesamtedition der Bücher 2 bis 9 bzw. 10 durch Memmius anzunehmen. 18 Anders als z.B. Sidonius Apollinarisʼ Briefsammlung (Sidon. epist. 1,1) enthält Symmachusʼ Korrespondenz keine programmatische Orientierung an Pliniusʼ Œuvre. Vgl. u.a. Marcone (1987) 149ff. und Matthews (1974) 63. 19 Vgl. Roda (1986) 177f. und Sogno (2006) 63. 20 Wie augenfällig diese Zusammenstellung ist, geht auch aus dem Kommentar in Brown (2012) 101 hervor, der Symmachus gleichsam als Spinne innerhalb eines Kommunikationsnetzes charakterisiert. Zur Bedeutung der Adressatenkreise vgl. ebenfalls jüngst Sogno (2017) 175f. 21 Zum comitatus als einer spätantiken Funktionselite insbesondere im lateinischen Westen vgl. Löhken (1982), Schlinkert (1996) sowie Winterling (1998). Das Konzept geht auf die systemtheoretisch begründete Elitesoziologie von Keller (1968) zurück.
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tiv tätigen, stadtrömischen nobilitas wie seinen eigenen Vater, L. Aurelius Avianius Symmachus, oder den eingangs erwähnten Virius Nicomachus Flavianus. Bemerkenswert ist ebenfalls, wie prominent kaisernahe, militärische Funktionseliten wie beispielsweise Fl. Stilicho innerhalb der SymmachusKorrespondenz vertreten sind.22 Hierin spiegelt sich zugleich die Vielgestaltigkeit und Vieldeutigkeit der spätrömischen senatorischen Eliten insgesamt wider. Seit dem Beginn bzw. der Mitte des vierten Jahrhunderts gehörte nicht mehr nur der alte ‚Senatsadel‘ dazu, sondern zahlreiche Aufsteiger diverser Provenienz, die nach und nach ebenfalls in neu geschaffene Hofämter, aber auch in den bekannten cursus honorum drängten.23 Wer sich infolge der Ämterlaufbahn vir clarissimus, spectabilis oder illustris nennen durfte, gehörte, juristisch-formal betrachtet, zum Kreis dieser spätestens durch die valentinianische Ranggesetzgebung etablierten, neuen senatorischen Funktionseliten. Doch ein Ehrentitel allein sicherte noch nicht die Akzeptanz durch die Standesgenossen.24 Im Gegenteil wurde offenbar auf unterschiedlichen Ebenen verhandelt, wer aufgrund welcher Ressourcen dazugehörte und was nobilitas überhaupt ausmachte.25
3 Ein „Museum spätrömischer amicitia“ im Spiegel der Symmachus-Briefe Durch die Korrespondenz mit den genannten unterschiedlichen Adressaten beteiligte sich Symmachus aktiv an jenem dynamischen Aushandlungsprozess.26 Insbesondere in den knappen Grußbillets, Gratulationsschreiben und Danksagungen offenbaren sich dabei Symmachusʼ vielfältige Kommunikations-
|| 22 Eine knappe Analyse der Korrespondenz des Symmachus mit jenen Heermeistern bietet Salzman (2006). 23 Einen Überblick über diese Entwicklung bieten vor allem Jones (1964) 104–107; 126–130; 142–146 und Löhken (1982) 112–118 und passim. Beide unterstreichen die Bedeutung der sogenannten valentinianischen Ranggesetzgebung für diesen Konstitutionsprozess. 24 Dieses Problem diskutieren ausführlich Salzman (2000) bzw. Salzman (2002). Die letztgenannte Monographie schlägt im Gegenzug das Konzept einer „Statuskultur“ (Salzman [2002] 4; 20) vor. 25 Auf die Problematik gehe ich auch im Rahmen meiner Dissertation ein und schlage ein diskursives Modell spätrömischer Elitenkonstitution vor, in dem der Wert unterschiedlicher, materieller wie immaterieller Güter zur Statusbegründung ausgehandelt wurde. Zum Begriffsverständnis siehe auch oben Anm. 12. 26 Das Zitat stammt aus Matthews (1974) 62. Siehe auch oben Anm. 7.
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strategien sowie Positionierungstechniken. Dass Vergangenheitsbezüge einen nicht unerheblichen Anteil daran hatten, führt eine kursorische Lektüre allein des ersten Buches, welches Briefwechsel aus den Jugendjahren des Symmachus umfasst, vor Augen. Mit Fokus darauf haben bereits Philippe Bruggisser und Michele R. Salzman sowohl den verbindenden als auch den verbindlichen Charakter von veteres und vetustas skizziert:27 Geschichtliche Bezugnahmen nutzte der italische Senator in erster Linie, um Konventionen sozialer Beziehungen zu modellieren und dadurch zugleich Nähe oder Distanz zu den jeweiligen Adressaten auszudrücken.28 Je stärker ihre Kommunikation diesen selbstkonstruierten Idealvorstellungen entsprach, desto emphatischer affirmierte Symmachus eine gemeinsame senatorische Standeszugehörigkeit. Allerdings ließ sich auch ein soziokulturelles Gefälle in der Rolle des „Freundschaftsrichters“29 feststellen, sobald Referenzpunkte und Rahmenbedingungen der Briefwechsel von jener historisch begründeten amicitia-Norm abwichen. Ebenso wie Symmachus regelmäßigen und konformen Austausch lobte, reagierte er auf Verspätungen, Versäumnisse und Nichtwissen merklich brüskiert. Auf die Ansprache mit offiziellen Rangprädikaten oder Ehrentitulaturen verzichtete er dagegen unter Verweis auf epistolographische Traditionen nahezu durchweg.30 Mit solchen Annäherungsversuchen einerseits, Belehrungen und Beschwerden andererseits wurden zuvorderst der obengenannte Virius Nicomachus Flavianus sowie die Heermeister Fl. Stilicho, Fl. Richomeres, Fl. Bauto und Fl. Promotus konfrontiert. Inwieweit unterschiedliche Inklusions-, Exklusionsoder Distinktionsstrategien die jeweilige Briefkommunikation prägten, gilt es im Folgenden zu erörtern.
|| 27 Ihre Analyseergebnisse fasst oben Anm. 9 konzise zusammen. 28 Inwiefern Ahnen- und Altertumsrekurse die Kommunikation zwischen Symmachus und seinem Vater (Symm. epist. 1,1–12), den Briefwechsel mit Vettius Agorius Praetextatus (Symm. epist. 1,44–55) sowie mit Sex. Petronius Probus (Symm. epist. 1,56–61) prägten, erläutert en passant Salzman (2010) 247–272. Zu (literatur-)geschichtlichen Rekursen in der Briefkommunikation mit Ausonius vgl. auch Bruggisser (1993) 159–170. 29 Salzman (2006) 353. 30 Deren Auslassung rechtfertigte Symmachus gerade im eingangs zitierten Brief an den älteren Flavianus (Symm. epist. 2,35) unter Verweis auf die Autorität der Vorfahren, ebenjene im Titel genannte forma vetustatis. Zu den Konsequenzen vgl. Salzman (2006) 352f. sowie Brown (2012) 101.
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3.1 Gemeinsame Geschichte im Austausch mit Virius Nicomachus Flavianus Die Korrespondenz mit Virius Nicomachus Flavianus umfasst das gesamte zweite Buch der Briefsammlung.31 Alles in allem wurden 91 Briefe, die gänzlich von Symmachus selbst stammen, tradiert. Anders als im Falle des Ausonius haben jedoch Flavianusʼ Antworten die Zeiten nicht überdauert. Aufgrund der adressatenspezifischen Anordnung und fehlender Parallelüberlieferung lässt sich lediglich eine intrinsische Chronologie für den Briefwechsel ermitteln: Von ca. 365 n. Chr bis zu Flavianusʼ Suizid im Jahr 394 n. Chr standen beide italischen Senatoren nahezu kontinuierlich in Kontakt.32 Zugehörigkeit zu einer angesehenen, wohl paganen Familie, Güter in Kampanien und Nordafrika sowie eine administrative Karriere charakterisieren Adressat wie Adressant als Vertreter der italisch-stadtrömischen Senatorenschaft.33 Geographisch, gesellschaftlich und kulturell teilten sich Flavianus und Symmachus folglich eine senatorische Lebenswelt, deren Mittelpunkt zunächst Rom war.34 Spätestens durch die Vermählung von Symmachusʼ Tochter Galla mit Nicomachus Flavianus iunior waren beide Familien auch verwandtschaftlich eng miteinander verbunden. In diese Zeit könnte auch das sogenannte NICO|| 31 In Buch 9 bzw. 10 werden weitere, ohne Grußformel tradierte Briefe dem älteren Flavianus als Adressaten zugeschrieben, vgl. Sogno (2006) 117 mit Anm. 16. Sowohl die Publikation in einem eigenständigen Buch als auch die Netzwerkposition messen Flavianus in der Symmachus-Korrespondenz eine ähnliche Bedeutung wie Atticus im Briefwechsel Ciceros zu. 32 Nach der Niederlage von Eugenius und Arbogast gegen Theodosius im Jahr 394 beging Flavianus Selbstmord. Zu den Hintergründen und deren kontroverser Interpretation vgl. Cameron (2011) 90; 93; 101–107. Da Flavianus aufgrund eines Zirkelschlusses somit als zentrale Figur eines sogenannten ‚pagan revival‘ galt (Cameron [2011] 93–131), ist die Korrespondenz mit Flavianus bislang lediglich aus diesem Blickwinkel untersucht worden, während eine sozialbzw. kulturhistorische Gesamtinterpretation nach wie vor ein Desiderat darstellt. Zu Ansätzen vgl. Cecconi (2002) 29–77, Brown (2012) 96–103; 110–119 und Sogno (2006) 64ff.; 72 im Rekurs auf Matthews (1974) 80 und passim. Da Salzman (2010) 247–272 nur das erste Buch der Korrespondenz untersucht, bietet sie keine Analyse des Briefwechsels. 33 Wie Jones et al. (1971) 374ff. aufgrund von CIL VI 1783 = ILS 2948 darlegt, war Virius Nicomachus Flavianus insgesamt zweimal Prätorianerpräfekt (PPO) für Italien und Illyricum in den Jahren 390 und 392, einmal Quaestor sacri palatii 389 n. Chr. sowie im Jahr 393 Konsul unter dem Gegenkaiser Eugenius. Zur Bedeutung des PPO innerhalb des senatorischen cursus im vierten und fünften Jahrhundert vgl. Kuhoff (1983) 237f. Zur damnatio memoriae und der späteren inschriftlich dokumentierten Rehabilitierung des Flavianus vgl. Hedrick (2002) 94–98; 102f.; 113. 34 Zur Bedeutung der Stadt Rom für Senatoren im späten vierten und frühen fünften Jahrhundert vgl. u.a. Matthews (1975) 1–32, Cameron (2011) 11ff. sowie Chenault (2012) 103–132.
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MACHORVM-SYMMACHORVM-Diptychon mit kultisch inspirierter Motivik datieren.35 Unter den zahlreichen Interpretationen seines Entstehungskontextes findet sich ebenso die Hypothese, das Diptychon kommemoriere jene eheliche Verbindung zwischen den Nicomachi und den Symmachi.36
Abb. 1: Rechte Hälfte des NICOMACHORVM-SYMMACHORVM-Diptychon (©Victoria and Albert Museum, London)
|| 35 Zur Eheverbindung zwischen Nicomachi und Symmachi vgl. Cameron (2011) 712–719. 36 Eine kunsthistorische Beschreibung und Kontextualisierung bietet Delbrueck (1929) unter Nr. 64. Die Hypothese, das Diptychon kommemoriere die Eheschließung von Galla und Flavianus iunior, entwickelt Simon (1992) 56–65. Einen funerären Kontext vermuten indes Cameron (1998) 385f. und Cameron (2011) 730–742.
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Flavianusʼ Einbindung an den Kaiserhof in Mailand trennte hingegen beide Senatoren örtlich und erforderte über längere Zeit einen epistolographischen Austausch. Indes bot Symmachus die Stellung seines Freundes als Prätorianerpräfekt (PPO) und später Quaestor sacri palatii einen Zugang zum Herrscher und den damit verbundenen Ressourcen, die ihm selbst häufig verwehrt blieben.37 Seitdem Symmachus in den späten 380er Jahren einen Panegyrikus auf den ‚Usurpator‘ Magnus Maximus, der Theodosius militärisch unterlag, gehalten hatte, herrschte nämlich Distanz zum Kaiserhaus.38 Briefformen und -themen spiegeln diese Konstellation. Zwar bedauerte Symmachus häufig die amtsbedingte Abwesenheit des Freundes, richtete aber auch Empfehlungsschreiben für junge nobiles in großer Zahl an den PPO. Der größte Anteil des Briefwechsels mit Flavianus entfiel dementsprechend auf litterae salutatoriae. Neben einfachen Grußschreiben umfasste diese Kategorie auch Danksagungen, Einladungen und Reiseberichte. Gleich dahinter rangieren quantitativ die litterae commendaticiae.39 Sowohl die thematische Auswahl der Briefe als auch deren literarische Gestaltung demonstrieren Symmachusʼ Bemühen, Parallelen zwischen dem Briefpartner und sich selbst elaboriert zu entfalten und literarisch eine gemeinsame senatorische Lebenswelt zu inszenieren.40 Hierfür bediente sich der Epistolograph einerseits der topischen otiumnegotium-Dichotomie.41 Andererseits hinterfragte er, wie im eingangs zitierten Brief (Symm. epist. 2,35), der vermutlich in die Quästur des Flavianus (389 n. Chr.) zu datieren ist, soziokulturelle Konventionen und die Etikette brieflicher amicitia.42 So reflektierte Symmachus gegenüber seinem Kommunikationspartner gerade die Pflicht, einander immer wieder zu grüßen, wenn er bezweifelte, dass die Vorväter derart exzessiv vom officium salutationis hätten Ge-
|| 37 Zu Flavianus’ Karriere am Hof in Mailand siehe oben Anm. 32. 38 Zur nicht erhaltenen Lobrede vgl. Symm. epist. 2,13,1f. und epist. 2,30 ebenfalls an Flavianus. Eine Interpretation bietet Sogno (2006) 68–71. 39 Nach dieser erweiterten Definition enthalten Symm. epist. 2,3–8; 11–13; 17; 19; 22–28; 32; 34–37; 47–62; 69; 75–77; 86; 90 allesamt salutationes. Zu den Besonderheiten der Empfehlungsschreiben vgl. hingegen Roda (1986). 40 Ähnliche Beobachtungen legt auch Salzman (2010) 251–272 für Symmachusʼ Korrespondenz mit Vettius Agorius Praetextatus und Sextus Petronius Probus dar, allerdings ohne die Eigenarten der Themenauswahl und Stilistik als Strategien zu analysieren. 41 Zur otium-negotium-Dichotomie bzw. dem Stadt-Land-Kontrast als traditionellem Topos der lateinischen Briefliteratur vgl. Thraede (1970) 77. Den distinktiven Charakter des literarischen otium bei Symmachus hat nachdrücklich Cracco Ruggini (1986) 97–118 aufgezeigt. 42 Cecconi (2002) 53 gibt mit dem Todesdatum des älteren Flavianus allerdings nur einen terminus ante quem an.
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brauch machen müssen.43 Die Briefpraxis republikanischer Senatoren, allen voran Ciceros Ad Familiares, fungierte dabei als autoritative Kontrastfolie.44 Weitere historische Tiefenschärfe erfuhr das Sinnieren über tradierte Normen durch das initiale quousque, welches sicher auch die Zeitgenossen an den Beginn der ersten Catilinaria erinnerte.45 Jene intertextuell wie normativ aufgeladenen Überlegungen beanspruchten sogar in doppelter Hinsicht ein symmetrisches Verhältnis zwischen Adressat und Adressant: Zum einen setzte die vergangenheitsbezogene Kritik an den zeitgenössischen Praktiken und Konventionen voraus, dass die beiden Briefpartner jene nicht nur kannten, sondern auch vollständig internalisiert hatten. Zum anderen beruhten die Anspielungen in erster Linie darauf, dass die italischen Senatoren über einen annähernd gleichen Grad an (literatur-)geschichtlicher Paideia verfügten.46 In der Reflexion überlappten sich somit ihr historisches Bildungs- und Orientierungswissen. Um es mithilfe sozialtheoretischer Termini zu pointieren: Für das Gelingen der Kommunikation mussten beide Seiten annähernd über das gleiche kulturelle Kapital verfügen.47 Dass sich ihre Ehrenämter, Herrschernähe und die jeweiligen politischen Ressourcen – d.h. ihr soziales und symbolisches Kapital – durchaus unterschieden, überblendete der Adressat hingegen geschickt. Doch kommunikativ kodierte Vergangenheitsbezüge trugen nicht nur im Medium des Briefs zwischen den Symmachi und Nicomachi zur Inklusion und
|| 43 Die Relevanz des officium salutationis erläutert Bruggisser (1993) 9 allgemein sowie am Beispiel des Briefwechsels mit Ausonius; vgl. auch Bruggisser (1993) 147–159. 44 Zum Angangszitat und möglichen Interpretationen siehe oben Anm. 2. 45 Vgl. Cic. Catil. 1,1: Quousque tandem abutere, Catilina, patientia nostra? Diese intertextuelle Anspielung wird allerdings von Sogno (2014) nicht weiter thematisiert. 46 Eine besonders adressatenspezifische Ausrichtung der Briefkommunikation legt der Umstand nahe, dass Nicomachus Flavianus in seinem literarischen otium eine annalistische römische Geschichte verfasste, die nicht überliefert ist. Seine Interessen spiegelt die Rehabilitationsinschrift in CIL VI 1783 = ILS 2948 aus dem fünften Jahrhundert. Zu Flavianusʼ Geschichtsschreibung vgl. Schlumberger (1985) 301–329. 47 Meine Interpretation basiert auf den Grundzügen der praxeologischen Elitesoziologie Pierre Bourdieus, der neben ökonomischen auch noch kulturelle und soziale Güter als wesentliche, gesellschaftlich wirksame Kapitalformen einstufte; vgl. pointiert Bourdieu (2011) 131f. und passim. Im Laufe der Zeit nahm der französische Soziologe weitere Differenzierungen vor, ging u.a. noch von einer vierten, symbolischen Kapitalausprägung aus und differenzierte zwischen dem Wissen und Besitzen von kulturellem Kapital. Vgl. zusammenfassend Bourdieu (2005) 49– 70. Dass sich Bourdieus theoretische Überlegungen auch bei der Interpretation spätantiker Korrespondenzen und kommunikativer Netzwerke heuristisch verwenden lassen, hat überzeugend Howard (2013) 39–44 und passim aufgezeigt.
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Distinktion bei. Gemeinsame geschichtlich begründete Wertvorstellungen dokumentiert ebenso das Elfenbeindiptychon, dessen rechte Hälfte die Abbildung oben zeigt. Unter einem Textfeld mit dem Titel SYMMACHORVM ist darauf im Bildzentrum eine stehende Frauenfigur zu erkennen. Auf der linken, hier nicht abgebildeten Diptychonseite fand die weibliche Gestalt unter der Überschrift NICOMACHORVM ihr Pendant.48 Beide Frauenfiguren, die innerhalb des Forschungsdiskurses divergierend als Priesterinnen, Göttinnen oder als Familienpersonifikationen gedeutet werden, weisen merklich eine klassizistisch anmutende Ikonographie auf. Wie Alan Cameron nachdrücklich dargelegt hat, folgte die Formsprache des Diptychons vermutlich augusteischen Vorlagen.49 Jene künstlerische forma vetustatis spiegelte daher die Vorbildlichkeit früherer Zeiten für die Gegenwart von Adressat wie Adressant insgesamt wider. Unabhängig von hierarchischen Strukturen und jenseits zeitgenössischer Herrschaftsrealitäten einte sie ein kollektivierter, historisierender senatorischer Lebensentwurf.
3.2 Das Wechselspiel von Annähern, Belehren und Distanzieren gegenüber Heermeistern Kommunikative Schwierigkeiten und normative Divergenzen dominierten dagegen Symmachusʼ epistolographischen Austausch mit Fl. Stilicho, Fl. Richomeres, Fl. Bauto und Fl. Promotus. Historische Kommentare zu den Symmachus-Briefen fassen diese Adressaten als eine Gruppe zusammen, welche bisweilen, ein wenig irreführend, auch als ‚spätrömischer Militäradel‘ bezeichnet wird.50 Anders als Nicomachus Flavianus oder Symmachus selbst hatten die genannten Magistri militum nämlich keine zivile, sondern eine militärische Karriere absolviert, entstammten also nicht der etablierten italischen Senato-
|| 48 Wie Delbrueck (1929) 213 zu Nr. 64 erläutert, werden die beiden Hälften des Diptychons in unterschiedlichen Museen separat aufbewahrt, nachdem das Diptychon vermutlich im frühen 19. Jahrhundert auseinandergebrochen worden war. Aus bildrechtlichen Gründen kann hier leider nur ein Foto der rechten SYMMACHORVM-Seite abgedruckt werden. Diese Hälfte des Diptychons ist im Victoria and Albert Museum in London archiviert. 49 Zu Camerons Interpretation des Elfenbeindiptychons siehe oben Anm. 36. 50 Als Gruppe behandelt die Adressaten u.a. Salzman (2006). Das Konzept des Militäradels prägt an prominenter Stelle Demandt (1980) 608–619. Die Bezeichnung Militäradel übertragt Salzman (2006) gedanklich ins Englische, vgl. Salzman (2006) 356. Ebd. Anm. 6 betont allerdings im Rekurs auf Demandt (1989) stark eine ‚barbarische‘ Herkunft der Aufsteigergeneräle. Zu den Heermeistern im comitatus des Kaisers als einer spezifischen spätrömischen Funktionselite vgl. Winterling (1998) 11 und passim.
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renschaft. Schon allein der Namenszusatz Flavius, abgeleitet von der konstantinischen Dynastie, wies indes ihre besondere Nähe zur kaiserlichen Verwaltung bzw. dem Herrscherhaus insgesamt aus.51 Infolge ihrer Verdienste waren die Heermeister bis zur höchsten senatorischen Rangstufe eines vir illustris aufgestiegen, wiewohl mindestens drei von ihnen – Stilicho, Richomeres und Bauto – ursprünglich germanischen foederati-Verbänden angehört hatten bzw. von Offizieren dieser Kontingente abstammten.52 Allen herkunftsbezogenen Differenzen zum Trotz musste Symmachus die Magistri militum jedoch in sein kommunikatives Netzwerk einbinden, wollte er für seine sozialen und politischen Interessen, z.B. die stadtrömische Getreideversorgung, von ihrem exklusiven Kanal zum Kaiserhof profitieren.53 Um die Generäle gelegentlich in eigener Sache kontaktieren zu können, galt es eine briefliche amicitia zu ihnen aufzubauen und dauerhaft zu pflegen. Nach dem Tod des Theodosius erfuhr der Austausch mit Fl. Stilicho sogar noch eine zusätzliche Aufwertung, da der Heermeister nun aufgrund seiner verwandtschaftlichen Verbindungen zur Kaiserfamilie de facto anstelle des minderjährigen Honorius regierte.54 Vor 395 n. Chr. dokumentieren Symmachusʼ Briefe indes nahezu durchweg, dass er sämtliche Vertreter der skizzierten Adressatengruppe keineswegs als vollwertige, nicht nur juristisch gleichgestellte Standesgenossen einstufte. Zwar spiegelt die ausgesuchte epistolographische Etikette sein Bestreben, sich den Magistri militum anzunähern und jene Beziehung durch wechselseitige Gaben
|| 51 Zum Namenszusatz Flavius als Marker für Herrschernähe bzw. Verwaltungsverantwortung vgl. Niquet (2000) 127–130. Ein wesentliches Signum der Akteure, die auf diese Weise ihre Dienste für das Kaiserhaus promulgierten, scheint ein Fokus in der Selbstdarstellung auf persönliches Engagement und Leistungen gewesen zu sein. Im Rekurs auf epigraphische Zeugnisse lässt sich in diesem Zusammenhang auch von einer spätrömischen ‚Verdienstethik‘ sprechen; vgl. zum Konzept Heinzelmann (1976) 186 sowie unlängst Diefenbach (2013) 113 mit Anm. 91. Inwieweit kaiserliche Reskripte diese Norm spiegelten, geht aus Schlinkert (1996) 103–116 hervor. 52 Hintergründe zu den einzelnen Korrespondenzpartnern erläutern Jones et al. (1971) 159f. (Fl. Bauto Magister militum v. 380–385); 750f. (Fl. Promotus Magister militum v. 386–391); 765f. (Fl. Richomeres Magister militum v. 383; 388–393) sowie Jones et al. (1971) 853–858 (Fl. Stilicho Magister miltium 394–398). 53 Die Bedeutung der cura annonae für Symmachus auch unabhängig von der Stadtpräfektur im Jahr 384/385 n. Chr. behandelt exemplarisch Sogno (2006) 5; 35; 53; 64; 81. 54 Welche Veränderungen in der Kommunikation mit Stilicho nach 395 n. Chr. zu konstatieren sind, legt Marcone (1986) 146f. dar. Im Rekurs darauf vgl. auch Salzman (2006) 354, deren Beitrag aber ebenfalls vor allem den Zeitraum vor dem Tod des Theodosius in den Blick nimmt.
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und Gefälligkeiten aufrechtzuerhalten.55 Gleichwohl bezeugen die Korrespondenzen deutlich, welch starkes soziokulturelles Gefälle der Adressat zu überwinden meinte: Angesichts ausbleibender Briefe häuften sich einerseits Beschwerden, andererseits Aufforderungen, akzeptierten und tradierten Konventionen wie dem officium salutationis nachzukommen.56 Gegenüber den Generälen ungewisser Herkunft schlüpfte Symmachus vollends in die Rolle eines Freundschaftsrichters (arbiter amicitiae57). Dadurch stilisierte er sich gleichsam zum Bewahrer einer tradierten senatorischen Leitkultur gegenüber gesellschaftlichen Aufsteigern. Indem er seine Adressaten ausführlich über die Notwendigkeit, regelmäßig und dem Anlass angemessen zu schreiben, belehrte, bezweifelte er zugleich ihr historisches Bildungs- ebenso wie Orientierungswissen. Stilicho unterrichtete er beispielsweise über den mos veterum, d.h. den althergebrachten Brauch, Freunden rasch und unmittelbar auf ihre Briefe zu antworten.58 Merklicher rügte er Normabweichungen seitens des Richomeres, nachdem dieser erst ein Jahr nach Antritt seines Konsulates (384 n. Chr.) auf Danksagungen reagiert und die entsprechenden Amtsgeschenke – Diptycha aus Elfenbein, wie sie exemplarisch die Abbildung oben zeigt – versandt hatte. Obgleich Symmachus mögliche Kritik in epist. 3,59 einem fiktiven Verfechter tradierter Reziprozitätsideale in den Mund legte, ließ sich sein konsterniertes Kopfschütteln kaum verbergen. Fast ironisch-schneidend wirken daher die Lobesworte für das Selbstvertrauen und die freundschaftliche Loyalität des Adressaten:
|| 55 Die Bedeutung von Reziprozitätsnormen in spätantiken Briefsammlungen erarbeitet Bruggisser (1993) 6f. mit Blick auf den Quellenbegriff der vicissitudo. Wie eng Briefeschreiben in der Antike gedanklich mit Gabentausch verbunden wurde, geht bereits aus einer Passage des Traktates De elocutione (Περὶ ἑρμηνείας) des Pseudo-Demetrios hervor. Dort wird der epistolare Austausch selbst als eine Gabe definiert, vgl. Demetr. eloc. 4, 224: ἡ (sc. ἐπιστολή) δὲ γράφεται καὶ δῶρον πέμπεται τρόπον τινά. Zur Frage, inwiefern jene Norm die antike epistolographische Praxis bestimmte, vgl. auch Wilcox (2012) 3. Eine Einordnung solcher antiker Briefsteller in Form rhetorischer Regularien erfolgt ebenfalls im vorliegenden Sammelband. 56 Zur Verpflichtung zum Austausch von Grußadressen siehe auch den vorherigen Abschnitt des Beitrags. Der repetitive Charakter jener Aufforderungen und Beschwerden ergibt sich sicherlich auch aus der Überlieferungslage der Briefe, da es sich bei der Mehrzahl der tradierten Texte um litterae salutatoriae handelt; vgl. Symm. epist. 3,54–56; 59f.; 62–66; 68–71; 74f.; 78ff. sowie Symm. epist. 4,1; 5; 10f.; 13–16. 57 Angaben zum Zitat enthält oben Anm. 29. 58 Zu Symmachusʼ Belehrung gegenüber Fl. Stilicho, was Regelmäßigkeit und Frequenz des epistolaren Austausches anbelangt, vgl. Symm. epist. 4,11: Saepe ad te litteras dedi, quas credo suppressas. Quando enim vir servantissimus amicitiae multisque animi boni tui denegasses? Fuerit hoc eorum, quibus in reddendis paginis defuit fides. Nunc eventus optabilis veterum morem sequesterem scriptis meis praestitit.
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Alius fortassis existimet serum esse munus, quod anni superioris consul exolvit; at ego sentio me atque alios, qui procul degimus, amicitiae fiducia ad hoc locorum esse dilatos, illis vero continuo satisfactum, quorum tamdiu memor esse non posses.59 Ein anderer mag vielleicht meinen, ein Geschenk sei spät, welches ein Konsul des vergangenen Jahres leistet. Aber Du hast, denke ich, mich und andere, die weiter weg wohnen, im Vertrauen auf die Freundschaft bis dato aufgeschoben. Denjenigen hast Du es sofort geschickt, an die Du Dich nicht so lange erinnern kannst.
Dass Symmachus nahezu vollständig auf literaturgeschichtliche Anspielungen, mythische Bonmots oder konkrete historische exempla verzichtete, verstärkt ferner den Eindruck asymmetrischer Kommunikationsbeziehungen. Einzig gegenüber Fl. Promotus findet sich ein indirektes Homerzitat; dieses begründet aber ausgerechnet eine recusatio panegyrischer Produktionen für den Aufsteigergeneral.60 Im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen Claudius Claudianus beabsichtigte Symmachus offenbar nicht, Magistri militum mittels Vergangenheitsbezügen in epische Dimensionen zu überhöhen, obgleich er als Lobredner, möglicherweise auch -dichter, durchaus erfahren war.61 Seine Haltung gegenüber den Heermeis-
|| 59 Symm. epist. 3,59,1. Bislang liegen eine umfangreiche Kommentierung und Übersetzung dieses Briefes lediglich in französischer und italienischer Sprache vor, vgl. Callu (1982) 61f. sowie Pellizzari (1998) 293f. 60 Zur recusatio mithilfe eines indirekten Homerzitates vgl. Symm. epist. 3,74,3: […] mihi falsis laudibus blandiaris, cum ais aliquid te ex nostris oris desiderare promptario, quod tibi inter raucos curorum cornuum strepitus blandiatur. Est quidem familiare virtuti delenimenta exercitii sensibus movere. Nam et Achillen vatum maximus refert aegrum animi curas fidibus resoluisse. Sed nos et musicae facundiae inopiam confitemur, et nutrimentum loquendi eorum litteris aucupamur. Im Rahmen ihrer Untersuchung geht Salzman (2006) 352–267 allerdings nicht ausführlich auf diesen Brief ein. Daher arbeitet die Historikerin auch nicht heraus, inwieweit Symmachusʼ Zurückweisung künftiger panegyrischer Literatur an Claudians Lobpreis des Stilicho erinnert, vgl. Claud. 23,1–6 und 14f. Auf die Forschungskontroverse hinsichtlich der Frage nach ‚Propaganda‘ in Claudians politischen bzw. zeitgeschichtlichen Gedichten kann ich allerdings im Rahmen des vorliegenden Beitrags nicht gesondert eingehen. Vertiefend sei in diesem Zusammenhang lediglich auf die Gegenargumente von Müller (2011) 23–26 sowie Schindler (2009) 7f. gegenüber der Gesamteinschätzung von Cameron (1970) verwiesen. 61 Dass Symmachus bis in die 380er Jahre als panegyrischer Redner aktiv war, verdeutlichte bereits die Diskussion seines verunglückten Herrscherlobes gegenüber dem Usurpator Magnus Maximus, siehe oben Anm. 38. Mögliche verspanegyrische Ambitionen gehen indes aus seiner Lobrede für Kaiser Gratian hervor, vgl. Symm. orat. 3,9f.: Si mihi nunc altius evagari poetico liceret eloquio, totum de novo saeculo Maronis excursum vati similis in tuum nomen exscriberem. Zur Kontextualisierung der panegyrischen Aussage vgl. auch Pabst (1989) 156f.
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tern ähnelte eher dem griechischsprachigen Rhetor Libanios.62 Genau wie der italische Senator versuchte auch der Antiochener, sich politische und soziale Ressourcen durch kommunikative Kontakte mit militärischen Machthabern zu sichern. An prominenter Stelle fungierte daher auch für Libanios der General Fl. Richomeres als persönlicher Vermittler zum Kaiserhof.63 Doch auch in diesem Fall sah sich der Adressant Bildungs- und Normdiskrepanzen ausgesetzt. Um sich den Adressaten geneigt zu machen, verglich er ihn zwar mit den griechischen Heroen der mythischen Vergangenheit. Zur Verständniserleichterung lieferte er indes zugleich eine briefimmanente Erklärung, weshalb man eigentlich an jenen Agamemnon noch heute erinnere.64 Symmachusʼ Schweigen hinsichtlich konkreter historischer Leitbilder erweist sich demnach als genauso beredt wie elaborierte Belehrungen über die allgemeingültige Autorität der Ahnen: Durch beide kommunikative Techniken gab der spätrömische Epistolograph seinen Adressaten zu verstehen, dass sie nur bedingt gleichrangige Peers seien.
4 Ergebnis Alles in allem konnte folglich eine detaillierte Analyse ausgewählter Korrespondenzen die Ausgangshypothese mit Bezug auf die Symmachus-Briefe bestätigen. Im Fall des Virius Nicomachus Flavianus fanden sich einerseits mannigfache Beispiele dafür, wie Q. Aurelius Symmachus Vergangenheitsbezüge einsetzte, um eine gemeinsame senatorische Lebenswelt zu konstruieren und Distinktion unabhängig von politischen Realitäten zu beanspruchen. Andererseits zeigten die Briefwechsel mit den Magistri militum, dass sich jene forma vetustatis, d.h. der Modellcharakter früherer Zeiten, im Medium des Briefes ebenfalls latent ausgrenzend gebrauchen ließ. Zusätzlich nivellierte der histo-
|| 62 Für diesen wesentlichen, weiterführenden Diskussionsimpuls möchte ich an dieser Stelle Jan Stenger herzlich danken. Weitere Parallelen zwischen dem lateinisch- und dem griechischsprachigen Literaten legen Howard (2013) 37–59 sowie zuletzt Cameron (2016) 66f. nahe. 63 Vgl. Lib. orat. 1,219f.; epist. 866; 972; 1007; 1024. Anders als Symmachus verweigerte sich der Antiochener also nicht als Lobredner für Militärs. Zur Relevanz des Magister militum für das soziale Netzwerk des Libanios vgl. auch Sandwell (2007) 154f. Ihre Untersuchung operationalisiert in diesem Zusammenhang ebenfalls soziologische Gedankenfiguren Pierre Bourdieus. 64 Vgl. Lib. epist. 972,2f.: […] ταυτὶ μὲν οὖν λόγων τῶν μὲν τετύχηκε, τῶν δὲ τυγχάνει, τῶν δὲ τεύξεται. καὶ μισθὸς τοῖς. κατωρθωκόσιν οὗτος ὥσπερ τοῖς μετ᾿ Ἀγαμέμνονος ἃ τοῖς ἔργοις προσέθηκεν Ὅμηρος.
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risch begründete Verzicht auf Rangprädikate und Ämtertitulaturen ansonsten gängige gesellschaftliche Hierarchieebenen. Im Spannungsfeld von Annähern, Distanzieren und Belehren entfalteten Altertumsrekurse hier wie dort ein vielschichtiges kommunikatives Potential, konstituierten Identitäts-, aber auch Alteritätsentwürfe. Die historische Normierung und Idealisierung epistolographischen Austauschs gestalteten auf diese Weise einen flexiblen Rahmen zur sozialen Positionierung von Adressat und Adressant jenseits rechtlich geregelter Ordnungssysteme. Dabei reichte das Spektrum von vollständiger Akzeptanz über Teilanerkennung bis hin zur wenig subtilen Skepsis. Inwieweit Symmachusʼ Korrespondenzpartner auf seine Inklusions- bzw. Exklusionsversuche reagierten und ob sie selbst in ihrer Briefkommunikation historisch begründete Wertvorstellungen verhandelten, bleibt jedoch aufgrund der Überlieferungslage in den hier dargelegten Fällen sowie in der Mehrzahl aller spätantiker senatorischer Korrespondenzen ungewiss.65 Der Seitenblick auf archäologische Zeugnisse und die epistolographische Sammlung des Libanios erlaubt an dieser Stelle allerdings eine vorsichtige Abschlusseinschätzung: Anders als es die forschungsgeschichtlich tradierten Narrative zur Nostalgie des Symmachus bzw. seiner Zeit- und Standesgenossen suggerieren, scheinen Senatoren im literarischen Diskurs der Spätantike argumentativ sehr bedacht auf Vorväter und die Vergangenheit insgesamt verwiesen zu haben. Historisches Bildungs- und Orientierungswissen diente den Akteuren und Autoren offenbar in der Gegenwart als relevante, vieldeutig einsetz- und verhandelbare kommunikative Ressource. Vor diesem Hintergrund wirkt Symmachusʼ vermeintlich bloß antiquarisches Museum spätrömischer amicitia äußerst lebendig.66
Literaturverzeichnis 1. Editionen, Kommentare und Übersetzungen Barrow, Reginald (Hg.): Prefect and Emperor: The Relationes of Symmachus AD 384, Oxford 1973.
|| 65 Mit der Ausnahme von Avianius, Symmachusʼ Vater (Symm. epist. 1,2), und D. Magnus Ausonius (Symm. epist. 1,31 = Auson. epist. 2) sind keinerlei direkte Antwortschreiben an Symmachus innerhalb des Briefcorpus erhalten. Auf die Besonderheiten der Antwort des Ausonius gehe ich ausführlich im Rahmen meiner Dissertation ein. 66 Zu Matthewsʼ Bonmot in Reaktion auf forschungshistorisch tradierte Narrative siehe oben Anm. 7 und 26.
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| IX. Formen und Funktionen von Briefkommunikation im poströmischen Gallien
Gernot Michael Müller
Faustus von Riez im Gespräch mit Ruricius von Limoges Zur epistolaren Modellierung einer asketischen Lehrer-Schüler-Beziehung im poströmischen Gallien
I Entgegen seiner signifikanten Bedeutung für das geistliche Leben im Süden Galliens in der zweiten Hälfte des 5. Jh.s n. Chr. ist von Faustus von Riez nur eine äußerst geringe Anzahl von Briefen überliefert.1 Von den insgesamt zehn
|| 1 Dies ist vor allem wegen der ansonsten recht dichten Briefüberlieferung aus dem spätantiken und poströmischen Gallien auffällig. Zur dortigen Briefüberlieferung s. Chadwick (1955) und Mathisen (1981) unter besonderer Berücksichtigung der familiären Beziehungen der überlieferten Epistolographen untereinander; allgemein zur Literaturgeschichte Galliens im 5. und 6. Jh. s. Eigler (2013); für einen Überblick über die Geschichte des südlichen Gallien in der betreffenden Zeit s. Hårleman (1978) 157f., Mathisen (1999) 1–18 sowie mit Blick auf die gesamte Spätantike unter Einschluss der sozial- und kulturgeschichtlichen Entwicklung Klein (1991). Einen Überblick über die Epistolographie der Spätantike insgesamt mit konzisen Einführungen in Entstehung, Aufbau, Inhalt und Überlieferung der einzelnen Korpora gewährt der handbuchartige Sammelband von Sogno/Storin/Watts (2017); erwartungsgemäß fehlt dort ein Eintrag zu Faustus von Riez; allgemein zur lateinischen Epistolographie der Antike s. Cugusi (1983), freilich unter Ausschluss der Spätantike, Corbinelli (2008) v.a. mit Bezug auf Cicero, Seneca und Plinius d. J. sowie die ältere Monographie von Peter (1901), die ihrerseits nur knapp auf die Spätantike eingeht. – Zur Vita des Faustus von Riez, der wohl aus dem römischen Britannien stammte, sich in den 420er Jahren ins Inselkloster Lérins zurückzog, dessen Abt er in den frühen 430er Jahren wurde, und schließlich um 460 das Amt des Bischofs von Riez übernahm, s. ausführlich und unter Berücksichtigung der zeitgeschichtlichen Umstände sowie seiner schriftstellerischen Tätigkeit Weigel (1938) und Barcellona (2006), dort S. 35–101 auch ausführlich zu seiner Bedeutung als Theologe im Süden Galliens in der zweiten Hälfte des 5. Jh.s – sowie die konzisen Ausführungen in Hårleman (1978) 160f., Nürnberg (1988) 22–26, Mathisen (1999) 87 und Neri (2011) 11–14 mit Auswertung der älteren biographischen Literatur und Quellen; zu Faustus’ Œuvre einschließlich seiner erhaltenen Briefe auf der Basis der Lebens- und Werkbeschreibung in Gennad. vir. ill. 86 s. ebd., 14–18. Hervorzuheben sind die theologischen Schriften De spiritu sancto und De gratia, die beide in die frühen 470er Jahre datieren. Letztere Schrift distanziert sich von der Prädestinationslehre des Augustinus und plädiert vor diesem Hintergrund entschieden für den freien Willen des Menschen, weswegen Faustus in der Rezeption in die Nähe der pelagianischen Augustinus-Kritik gestellt wurde; vgl.
https://doi.org/10.1515/9783110676303-018
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Schreiben aus seiner Feder2 haben fünf und damit die Hälfte Ruricius von Limoges zum Adressaten.3 Erhalten sind diese im Codex Sangallensis 190, einer Handschrift, die unter anderem auch den einzigen Überlieferungsträger für die Korrespondenz jenes dominierenden Empfängers innerhalb seines schmalen Briefœuvres darstellt.4 Dass dessen offensichtlich nur bruchstückhafte Überlieferung eine so auffällige Fokussierung auf Ruricius von Limoges zeigt, scheint somit in Zusammenhang mit der Aufbewahrung des epistolographischen Nachlasses des letzteren zu stehen.5 Erhärtet wird dieser Eindruck dadurch, dass in diesem ebenfalls zwei Korrespondenzstücke zwischen den beiden aus der Feder des Ruricius erhalten sind.6 Der handschriftliche Befund legt folglich nahe, dass || hierzu Tibiletti (1981) für eine ausführliche Nachzeichnung der theologischen Kritik an Faustus bis in die Neuzeit. Womöglich hat Claudianus Mamertus seine Schrift De anima als Reaktion auf Faustus’ Vorstellung von der Körperlichkeit der Seele verfasst. Jedenfalls wird in der Forschung erwogen, den Autor des anonymen Briefs Quaeris a me, den Claudianus Mamertus seinem Werk voranstellt und auf den er mit diesem reagieren will, mit Faustus von Riez zu identifizieren (vgl. etwa Hårleman [1978] 161–163) sowie ausführlich zum Inhalt des einleitenden Briefs Quaeris a me und seiner Zuschreibung an Faustus von Riez Di Marco (1995) 11–102. Einen konzisen Überblick über Faustus’ Theologie v. a. auf der Grundlage von De gratia bietet Tibiletti (1990) 45–59. Für eine inhaltliche und theologische Charakterisierung der Schrift De spiritu sancto sowie den Aufweis ihrer Quellen sei hingegen auf Micaelli (1997) 13–37 verwiesen. Für eine Zuschreibung der anonym überlieferten Schrift De ratione fidei an Faustus von Riez s. Barcellona (1996). 2 Diese Zählung schließt den anonymen Brief Quaeris a me (s. Anm. 1), der in der Forschung in der Regel Faustus zugewiesen wird, mit ein. Für eine ausführliche Interpretation der erhaltenen Briefe des Faustus s. Neri (2011) 23–146; zu ihrer Datierung s. ebd., 16–18. 3 Zu Vita und Familie des Ruricius von Limoges, dessen Lebensdaten zwischen den 440er Jahren und 507 liegen dürften, s. Hagendahl (1952) 5–7, Demeulenaere (1985) 305f., die ausführliche prosopographische Studie von Settepani (1991), Mathisen (1999) 19–31 mit Aufarbeitung der älteren Literatur sowie Neri (2009) 7–10. 4 Zu dem im späten 8. oder frühen 9. Jh. im südwestdeutschen Raum geschriebenen, spätestens seit 1461 in Sankt Gallen nachweisbaren Codex, insbesondere als einzigem Überlieferungsträger der Briefe des Ruricius von Limoges, s. Demeulenaere (1985) 308f., die umfängliche Analyse in Mathisen (1998) sowie Mathisen (1999), Mathisen (2018) 70f. und Alciati (2008) 66, 70–75; ein Digitalisat des Codex ist online abrufbar unter www.e-codices.unifr.ch; zur Frage der Überlieferung des Ruricius-Briefwechsels vor seiner Aufzeichnung im Codex Sangallensis 190 sowie zum auffällig differierenden Umfang der zwei Bücher mit einmal 18 und einmal 65 Nummern s. Mathisen (1999) 71–74, Mathisen (2001) 104–105 und Alciati (2008) 76–84; für eine konzise inhaltliche Charakterisierung des Ruricius-Briefwechsels s. Mathisen (1999) 51–61, Neri (2009) 11–16 sowie Schwitter (2015) 288–293; zur Überlieferung der erhaltenen Briefe des Faustus von Riez im Codex Sangallensis 190 s. Mathisen (1998) 172 und 177–181, Mathisen (1999) 69, Neri (2011) 147 und Mathisen (2018) 73f. 5 Vgl. Mathisen (1998) 172f. und Mathisen (2018) 74. 6 Ruric. epist. 1,1 und 1,2.
Faustus von Riez im Gespräch mit Ruricius von Limoges | 455
der Grund für den Erhalt der fünf Briefe des Faustus an Ruricius im Anliegen zu suchen ist, den Austausch der beiden im Horizont einer Weitertradierung der Ruricius-Korrespondenz nicht nur über zwei Schreiben von diesem, sondern durch exemplarischen Einblick in beide Seiten für die Nachwelt festzuhalten.7 In diesem Zusammenhang fällt die Anzahl der erhaltenen Faustus-Briefe an Ruricius von Limoges erneut auf: zum einen, weil deren fünf nur zwei Stücke von diesem gegenüberstehen, zum anderen und insbesondere, weil kein weiterer Korrespondenzpartner des Ruricius, von dem im Codex Sangallensis 190 Briefe an diesen aufgenommen worden sind, dort vergleichbar häufig vertreten ist wie Faustus von Riez.8 Die Überlieferung hat dem Austausch zwischen den beiden offensichtlich besondere Prominenz zuweisen wollen.9 Verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, dass Ruricius’ zwei Briefe an Faustus von Riez den Beginn des ersten Buches seiner erhaltenen Korrespondenz bilden und damit prominent in dieser positioniert wurden. Allerdings scheint für die damit verbundene Zielsetzung die Aufnahme einer mehr als doppelt so hohen Anzahl von Briefen der Gegenrichtung als wesentlich erachtet worden zu sein: Um Inhalt und Charakter der für Ruricius von Limoges offensichtlich als von zentraler Bedeutung erachteten Korrespondenzbeziehung zu Faustus von Riez adäquat zu porträtieren, bedarf es, so die implizite Aussage des Überlieferungsbefundes, besonderer Aufmerksamkeit für die Seite des letzteren.
|| 7 Dies legt auch der handschriftliche Befund bzw. die Anordnung der Briefe des Faustus von Riez an Ruricius im Codex Sangallensis 190 nahe (vgl. auch die folgende Anm.); s. hierzu Mathisen (1998) 167–173 und Mathisen (1999) 69; grundsätzlich zu Bedingungen und Charakter von Briefsammlungen des 5. bis 7. Jh.s s. Wood (2018). 8 Neben den fünf an Ruricius adressierten Briefen des Faustus von Riez sind im Codex Sangallensis 190 acht weitere an Ruricius gerichtete Briefe überliefert, die wie jene vor den zwei Büchern seiner Korrespondenz angeordnet sind. Von diesen sind drei von Sedatus und die restlichen fünf von verschiedenen Autoren verfasst (Edition in Demeulenaere [1985] 397–404). Daneben sind noch drei Briefe von Sidonius Apollinaris an Ruricius überliefert (Sidon. epist. 1,16; 5,15 und 8,10). Im Index des Codex Sangallensis 190 erscheinen zwei von diesen in einer Liste von insgesamt 27 Sidonius-Briefen, die in der Handschrift selbst aber nicht mehr enthalten sind; vgl. hierzu erneut Mathisen (1998) 172f. mit den Abbildungen ebd., 168–170, Mathisen (1999) 63–71 und Alciati (2008) 74f.; generell zu Ruricius’ epistolographischem Netzwerk s. Mathisen (1999) 31–33 und Neri (2009) 11–16; für eine allgemeine Charakterisierung seiner Briefsammlung s. Mathisen (2001) sowie Moussy (2002) mit Lektüren ausgewählter Briefe und besonderer Aufmerksamkeit für deren Stil. 9 Demgegenüber stehen die fünf Briefe des Faustus in der modernen Forschung im Schatten seiner restlichen Briefüberlieferung, die theologisch ergiebiger ist; vgl. etwa die Prioritäten im Überblick über die erhaltene Faustus-Korrespondenz bei Neri (2011) 23–146, wo den an Ruricius gerichteten Schreiben lediglich zwei Seiten gewidmet sind.
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Vor diesem Hintergrund soll die Korrespondenz zwischen Faustus von Riez und Ruricius von Limoges im Folgenden einer Interpretation unterzogen und dabei neben deren Gegenstand vor allem herausgearbeitet werden, welches Verhältnis die erhaltenen Briefe zwischen den beiden Korrespondenzpartnern zeichnen. Hierzu wird das Augenmerk zunächst auf die beiden Schreiben des Ruricius von Limoges an Faustus von Riez gelegt werden, um sodann der Frage nachzugehen, welche wesentlichen Aspekte die Briefe des letzteren zur weiteren Bestimmung ihrer Kommunikationsbeziehung beisteuern.10 Ausgehend von den dabei erzielten Ergebnissen wird in einem abschließenden Kapitel auszuloten sein, welche Bedeutung dem Briefwechsel mit Faustus von Riez für die memoria-Funktion der Ruricius-Korrespondenz zukommt. Dabei wird sich zeigen lassen, dass die Vermittlung wesentlicher dafür relevanter Aspekte über die fünf Briefe des Faustus an Ruricius Freiräume eröffnet hat, diese in seinem Briefwechsel sinnfällig und in komplementärer Weise zu ergänzen. Vor dem Hintergrund, dass das kleine Korpus der Faustus-Briefe an Ruricius und dessen Briefsammlung somit aufeinander abgestimmte Bilder des Bischofs von Limoges und seines Briefpartners aus Riez entwerfen, wird sich deren gemeinsame Überlieferung einmal mehr als Ergebnis planvoller Zusammenstellung bestätigen lassen, wobei vor dem Hintergrund jüngerer Überlegungen zur Archivierung spätantiker Epistolographie nahegelegt werden kann, dass diese bereits auf Ruricius’ Briefarchiv zurückgehen dürfte.11
II Gegenstand seines ersten Briefs an Faustus von Riez12 ist Ruricius’ Bekenntnis, in der Sünde verhaftet zu sein, an die er die Bitte anschließt, sein Adressat möge
|| 10 Für einen knappen Überblick über den Inhalt der fünf Briefe des Faustus an Ruricius s. Barcellona (2006) 148–151 und Neri (2011) 145f.; für eine Lektüre der Faustus-Briefe 1, 2, 3 und 5 als Quellen für zentrale Aspekte seiner Theologie s. Barcellona (1998); zu deren Überlieferung vgl. Mathisen (1998) 177–181. 11 Vgl. Mathisen (1998) 172f. sowie allgemein zur Bedeutung von Archiven für die Überlieferung von Briefsammlungen aus dem spätantiken und poströmischen Gallien Mathisen (2018) und Wood (2018); grundsätzlich zur Überlieferung antiker Briefe ohne Einbezug der Spätantike s. Cugusi (1989) 380–383. 12 Die nachfolgenden Verweise und Zitate sind der Edition der Ruricius-Korrespondenz von Demeulenaere (1985) entnommen. Die deutschen Übersetzungen stammen vom Autor dieses Aufsatzes. Er ist seinem Kollegen Bardo M. Gauly für deren kritische Durchsicht sehr dankbar. Englische und italienische Übersetzungen von Ruricius’ Briefen liegen vor von Mathisen (1999)
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ihn bei seinem Bestreben, von diesem Zustand loszukommen und sich einem gottgefälligen Leben zuzuwenden, unterstützen, weil er begriffen habe, dass er noch zu schwach sei, um den von ihm erstrebten Konversionsprozess allein zu bewältigen.13 Seine Zuversicht, dass er sich mit Faustus, den er bis dahin noch nicht persönlich kennengelernt zu haben scheint,14 hierfür an die richtige Instanz wendet, speise sich aus der Lektüre seiner Schriften, die in ihm ein Verlangen nach jener göttlichen Quelle erweckten, in der er auch deren Ursprung erkennen will.15 Entsprechend hofft er bis zu einem persönlichen Zusammentref-
|| und Neri (2009), letztere mit Edition und ausführlichem Kommentar; Mathisen (1999) stellt jedem Brief eine Einleitung voran, die Inhalt und Kontext des jeweiligen Schreibens erläutert. 13 Vgl. Ruric. epist. 1,1,17–26: Me autem adiuuent orationes tuae, ut possim terrenis actibus spretis caelestibus inhiare, quia corpus, quod corrumpitur, adgrauat animam, ut inclinare aurem suam ad oracula diuina non possit, ut domum patris obliuiscens oboediensque uocantis imperio de terra sua et cognatione discedat atque illam, quae ei demonstratur, potius concupiscat. Non enim adhuc ualet pusillitas nostra metum obnoxiae conditionis expellere et caritati perfectae purgata corda reserare, ut relinquentes praesentia petamus aeterna eiectoque ancillae hereditatem paternam liberi possimus adipisci („Mich aber mögen deine Gebete ermutigen, dass es mir gelinge, die irdischen Werke zu verachten und nach den himmlischen zu trachten, weil ein Körper, der sich verderben lässt, die Seele belastet, sodass sie ihr Ohr dem göttlichen Wort nicht zuneigen kann, um sich, indem sie das väterliche Haus vergisst und dem Geheiß des Rufenden gehorcht, von ihrem Heimatland und ihrer Familie zu trennen und vielmehr nach jenem Land zu verlangen, das ihr gezeigt wird. Denn unsere Schwachheit ist noch nicht in der Lage, die Angst eines Lebens in Schuld zu verscheuchen und das Herz nach seiner Reinigung für die vollendete Liebe zu öffnen, damit wir die irdischen Dinge zurücklassen und den ewigen zustreben und als freie Menschen den Erben der Sklaverei in uns vertreiben, um das Erbe des Vaters zu erlangen“). 14 S. Ruric. epist. 1,1,3–5 (Zitat unten in Anm. 19) sowie Neri (2009) 162 ad loc. Mathisen (1999) 87 vermutet, dass Ruricius durch Sidonius Apollinaris mit Faustus von Riez in Kontakt gekommen ist. Von der Beziehung zwischen Sidonius und Faustus zeugen zwei Briefe des ersteren (Sidon. epist. 9,3 und 9,9) sowie ein von ihm verfasstes Eucharisticon auf den Bischof von Riez (Sidon. carm. 16); vgl. Barcellona (2006) 15–18. 15 S. Ruric. epist. 1,1,6–16: […], si quo modo possim intercedentibus uobis peccatorum meorum uincula disrumpere acceptisque columbae illius pinnis a uenantum laqueis euolare et uobiscum positus in dominica lege requiescere, ut sitim, quam opuscula uestra legendo concepi, ipse praesens, unde illa manarunt, uberius hauriens restinguerem, ut caritatis igniculum, quem in tepidis animae dormientis fauillis feruentibus suscitastis, prolatis de condensa scripturarum pabulis uiuax flamma roboraret, quae eloquio sancti oris accensa more sibi solito in pectore peccatoris uim naturae potentis exsereret calefaciendo frigida, inluminando tenebrosa, et spinas criminum consumendo („[…], wenn ich nur irgendwie durch euer Mitwirken die Fesseln meiner Sünden sprengen und, mit den Flügeln jener Taube versehen, aus den Schlingen der Jäger fortfliegen und in eurer Gegenwart im Gesetz des Herrn ruhen könnte, um den Durst, den ich beim Lesen eurer Werke bekommen habe, noch reichlicher trinkend zu löschen, indem ich selbst dort bin, wo diese ihren Ursprung haben, damit die lebendige Flamme, genährt durch
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fen, das er gleich zu Beginn seines Schreibens als sehnlichen Wunsch andeutet,16 nicht nur auf Faustus’ Fürsprache im Gebet, sondern auch auf weitere schriftliche Unterweisung, die zunehmend strenger und damit seiner Situation als veritablem Kranken, den es mit harter Kur zu heilen gelte, gerecht werden möge.17 Der Brief an Faustus von Riez artikuliert ein deutliches Gefälle zwischen Adressat und Adressant, die Ruricius nicht nur über die suggestive Andeutung seiner Lebenssituation, sondern auch über die Wirkmächtigkeit, die er Faustus im Hinblick auf sein Hilfegesuch zubilligt, gekonnt zu inszenieren weiß. So stellt er seiner Selbstbeschreibung eines in irdischer Sündhaftigkeit verhafteten, || den Zunder aus dem dichten Wald der Hl. Schriften, das schwache Feuer der Liebe, das ihr mit glühenden Funken in der lauen Asche einer schlafenden Seele entfacht habt, kräftigt, welche entzündet durch die Rede deines heiligen Mundes wie üblich im Herzen eines Sünders die Macht ihrer kraftvollen Natur entfaltet, indem sie die Kälte erwärmt, die Dunkelheit erhellt und die Dornen der Schuld vernichtet“). Zu Faustus’ Œuvre vgl. oben Anm. 1 mit Verweisen auf die einschlägige Literatur. Womöglich bezieht sich Ruricius hier auf die beiden zentralen Werke des Faustus De spiritu sancto und De gratia; vgl. Mathisen (1999) 88, Anm. 5. 16 S. das Zitat in Anm. 19. 17 Ruric. epist. 1,1,26–37: Quam ob rem spero, domine mi, ut pro me indesinenter oretis et, quotiens dignati fueritis ariditatem terrae meae eloquentiae uestrae imbre perfundere, non mihi, sicut nunc fecistis adhuc meae infirmitatis ignari, delicatos et dulces cibos, sed austeriores et aegritudini meae congruos suggeratis, quia non expediunt stulto deliciae, postmodum proditoribus meis censorium praebeatis adsensum, qui more humani ingenii affectu nimio praepediti et a ueritate iudicii declinantes incurrunt pro amore mendacium. Sane nec uereatur sanctitas uestra, ne uulneribus meis gratior sit fouentis dextera quam secantis, quia ea nec a me posse curari et tamen grauiter conputruisse Domino donante iam sentio („Deshalb hoffe ich, mein Herr, dass ihr unaufhörlich für mich betet und dass ihr mir, sooft ihr geruht, die Trockenheit meiner Erde mit dem Regen eurer Beredsamkeit zu bewässern, keine wohlschmeckenden und süßen Speisen, wie ihr es jetzt getan habt, da ihr meiner Schwäche bislang unkundig wart, sondern herbe und meiner Krankheit angemessene darreicht, weil dem Toren keine Delikatessen zuträglich sind, und dass ihr daraufhin meinen Verrätern kritische Aufmerksamkeit zuteil werden lasst, die, da sie sich nach Art der menschlichen Begabung von zu großer Zuneigung einspannen lassen und der Wahrheit des Urteils ausweichen, aus Liebe der Lüge verfallen. Eure Heiligkeit soll überhaupt keine Bedenken tragen, dass meinen Wunden die rechte Hand des Liebkosenden lieber ist als die des Amputators, weil ich Gott sei Dank inzwischen merke, dass ich sie nicht aus eigener Kraft heilen kann, wo sie doch schon von schwerer Fäulnis befallen sind“). Faustus’ implizite Modellierung zum heilenden Arzt steht im Horizont einer entsprechenden Charakterisierung von Christus’ Heilshandeln in der frühchristlichen Literatur, die ihre Vorlagen in den Evangelien findet; s. hierzu die einschlägigen Belege im Kommentar von Neri (2009) 167–169 ad loc.; vgl. hierzu auch Dumeige (1972), Lutterbach (1996) für eine umfassende Geschichte des Motivs von Christus als Arzt vom Neuen Testament bis in die Neuzeit sowie von dessen Ausweitung auf die Heiligen unter besonderer Berücksichtung der Übergangszeit von der Spätantike zum Frühmittelalter sowie Vannier (2005) mit speziellem Blick auf die Kirchenväter.
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nach Ausgang aus dieser strebenden, sich hierfür ohne Unterstützung von außen aber als zu schwach begreifenden Menschen einen Ansprechpartner gegenüber, dessen Schriften nicht nur ein solches geistliches Potential besitzen, dass sie bei ihm eine Sehnsucht nach einem entsprechenden Leben entfachen, sondern der es auch versteht, den auf diese Weise zur Umkehr Entschlossenen mit geeigneten und sich in angemessener Weise intensivierenden Mahnungen erfolgreich dorthin zu geleiten, eine Kompetenz, die er, wie abschließend erkennbar wird, offensichtlich zum Nutzen vieler einsetzt.18 In der Tat benennt Ruricius zu Beginn seines Schreibens als Beweggrund für seine Kontaktaufnahme mit Faustus dessen herausragenden Ruf, durch den er schon seit Längerem Kenntnis von ihm und seinem Wirken haben will.19 Sein Adressat soll von Anfang an keinen Zweifel haben, dass sich Ruricius bewusst ist, sich in ihm einer weithin bekannten und anerkannten geistlichen Autorität im Hinblick auf sein Anliegen, Geleit bei der Konversion zu einem asketischen Leben zu erhalten, zu empfehlen, welcher es sich mit der gebotenen Devotheit anzunähern gilt. Die markante Kontrastierung der Korrespondenzpartner, die Ruricius in seinem Brief vornimmt, dient somit zu einem guten Teil dem Bestreben, sich einen Adressaten geneigt zu machen, bei dem er sich erst Gehör verschaffen zu müssen meint. In diesen Zusammenhang gehört auch, dass er durch die Verwendung einer entsprechenden Nomenklatur dessen Amtsautorität als Bischof deutlich herauszustellen weiß, wodurch er nicht nur die ehrerbietende Haltung, die er seinem Adressaten erweist, nochmals intensiver zur Geltung bringt, sondern auch die bereits über sein Hilfegesuch bewusst inszenierte Un-
|| 18 Ruric. epist. 1,1,39–44: Supplici itaque prece deposco, ut de illo thesauro penetralium uestrorum, unde noua et uetera proferre consuestis, peritissimi utpote medici, qui languentium innumeras et uarias aegritudines cotidie gratia Dei adiuuante sanatis, languori quoque meo, quae conuenire cognoscitis, medicamenta mittatis („Daher fordere ich euch mit inständiger Bitte auf, dass ihr aus jenem Schatz eures Inneren, aus dem ihr Neues wie Altes hervorzuholen pflegt, wie ein höchst erfahrener Arzt, der ihr täglich mit Gottes Hilfe unzählige und ganz verschiedene Krankheiten der matt Darniederliegenden heilt, auch für meine Schwäche die Arzneien schickt, die nach Eurer Kenntnis wirken“). 19 Ruric. epist. 1,1,3–5: Olim te, domine mi uenerande ac beatissime sacerdos, fama celeberrima praedicante cognoui; olim desiderio pii amoris infuso illis te, quibus scribere dignaris, oculis cordis intueor, sed nihilominus etiam corporeis uidere festino, […] („Seit Langem schon habe ich, mein verehrter Herr und allerseligster Geistlicher, durch den Ruf, der dir allenthalben vorauseilt, von dir Kenntnis erhalten; seit Langem schon betrachte ich dich, erfüllt von der Sehnsucht frommer Zuneigung, mit jenen Augen des Herzens, denen du zu schreiben geruhst. Doch nichtsdestoweniger möchte ich dich so rasch wie möglich auch mit meinen wirklichen Augen sehen“).
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terlegenheit gegenüber diesem durch einen weiteren Aspekt verstärkt.20 Seinem Bekenntnis, zur Umsetzung seines Konversionsanliegens nicht genügend befähigt zu sein, steht somit eine ausgeprägte epistolographische Kompetenz gegenüber, die sich neben der prononciert auf die Beförderung seines Anliegens ausgerichteten Gestaltung eines markanten hierarchischen Gefälles zwischen seinem Adressaten und sich selbst nicht zuletzt auch in Aufbau und stilistischer Ausgestaltung des Briefes niederschlägt.21 Diese artikuliert sich zunächst in einem sehr klaren argumentativen Aufbau, der in drei Abschnitten eine entsprechende Anzahl von gedanklichen Schritten enthält.22 Auf die schmeichelhafte Mitteilung an seinen Briefpartner, dass seine Sehnsucht nach einem Ausgang aus irdischer Sündhaftigkeit durch dessen Schriften wesentlich befördert werde, woraus sich sein Wunsch nähre, ihn bald persönlich kennenlernen zu dürfen,23 folgt die Bitte um Faustus’ Gebet für ihn, die er mit seiner Schwäche begründet, die intendierte Veränderung zum || 20 Vgl. das Protokoll des Briefes (Ruric. epist. 1,1,1f.): Domino suo peculiari in Christo Domino patrono Fausto episcopo Ruricius („Ruricius grüßt seinen persönlichen Herrn, seinen Beschützer im Herrn Christus und Bischof Faustus“); zur Bezeichnung des Bischofs als patronus in der Spätantike s. Neri (2009) 161 comm. ad loc. Vgl. des Weiteren Faustus’ Anrede als beatissime sacerdos in Ruric. epist. 1,1,3 (zur Verwendung des Appellativum beatus im Positiv oder Superlativ im ekklesialen Kontext s. erneut Neri [2009] 162 ad loc.) sowie mit dem Epitheton sanctitas in Ruric. epist. 1,1,35 (vgl. Neri [2009] 168 ad loc.); für einen Überblick über Grußformeln lateinischer Briefe bis 1200 s. Lanham (1975) mit zahlreichen auch spätantiken und frühmittelalterlichen Beispielen; vgl. für einen allgemeinen Überblick allein mit Bezug auf die lateinische Epistolographie der späten Republik und der Kaiserzeit auch Cugusi (1989) 383–389 und Corbinelli (2008) 31–56 und passim mit konkreten Bezügen auf die Briefkorpora Ciceros, Senecas und Plinius’ d. J.; für die Herausbildung eines spezifisch christlichen Repertoires von Anredeund Grußformeln auf der Basis paganer Vorbilder s. Bastiaensen (1964) mit Beispielen v.a. aus Cyprian und den Briefautoren der ersten Hälfte des 4. Jh.s.; zur Titulatur von Bischöfen in lateinischen Briefen des 5. Jh.s. s. Jerg (1970) 159–161 bzw. des 6.–8. Jh.s. ebd., 168–171; vgl. auch Dihle (1952) für einen freilich vor allem auf griechischen Quellen basierenden Überblick über die Entwicklung brieflicher Anredeformen von klassischer Zeit bis in die Spätantike und den Einfluss christlicher humilitas-Konzepte auf diese. 21 Grundsätzlich zum Stil der Ruricius-Briefe s. Rimini (1912), Loyen (1943) 169–173, Hagendahl (1952) – alle drei mit negativer Grundhaltung gegenüber Ruricius’ stilistischem Vermögen –, Mathisen (1999) 53–56, die kompakte Charakterisierung in Neri (2009) 16–20 sowie Schwitter (2015) 288–297 im Kontext einer allgemeinen Untersuchung zum spätantiken Briefstil; speziell zu den Autoren im spätantiken Gallien des 5. und 6. Jh.s vgl. auch Gioanni (2004). 22 Dass Ruricus in seinen Briefen nur sehr verhalten dem zeitgenössischen Stilideal der obscuritas gefolgt ist und sich stattdessen einer verhältnismäßig klaren Sprache bedient hat, führt Schwitter (2015) 293–297 mit Analyse einschlägiger Beispiele aus; vgl. hierzu auch Gioanni (2004) 536–541. 23 Ruric. epist. 1,1,3–17.
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gegenwärtigen Zeitpunkt allein zuwege zu bringen,24 bevor er daran das weitergehende Anliegen anknüpft, sein Adressat möge ihm mit seinen Ermahnungen regelmäßig zur Seite stehen und damit seine an vielen anderen manifestierte Qualität als Seelenarzt auch bei ihm erfolgreich unter Beweis stellen.25 Diese zunächst in einem, daraufhin in zwei und schließlich in vier Perioden ausformulierte Argumentationslinie bildet sodann die Grundlage für ein ebenso aufwändig wie ausladend gestaltetes virtuoses Spiel metaphorischer und anderweitig gesuchter Formulierungen, die in sichtlichem Gegensatz zur einfachen Gedankenführung des Briefes stehen und daher als Aussagebene eigenen Rechts erkennbar werden.26 In der Tat scheint dieser seine Länge wesentlich bestimmende Aspekt darauf angelegt zu sein, die souveräne Beherrschung spätantiken Briefstils und seiner zentralen Elemente vorzuführen, zu denen nicht zuletzt auch vielfältige intertextuelle Referenzen auf epistolographische Autoritäten der jüngeren und entfernteren Vergangenheit, die deren Kenntnis dokumentieren wollen,27 aber auch der Rückgriff auf einschlägige antike Brieftopik gehören. Zu nennen sind hier die eingangs formulierte Vorstellung, Briefkommunikation unter Vertrauten schaffe Präsenz im Geiste bzw. im Herzen,28 sowie die Zuversicht, dass Faustus’ Sprachbegabung bei Ruricius ähnlich belebend wie Regen auf ein ausgetrocknetes Feld wirke, wodurch er im Motiv des Bescheidenheitstopos einmal mehr die Überlegenheit seines Adressaten herausarbeitet.29 Letzteres Element gibt zu erkennen, dass auch die aufwändige formale Gestaltung des Briefs seinem inhaltlichen Anliegen zuarbeiten will.30 Somit ergibt
|| 24 Ebd., 18–26. 25 Ebd., 26–44. 26 S. hierzu den erschöpfenden Kommentar von Neri (2009) 161–169. 27 Vgl. hierzu den Kommentar in Neri (2009) ad loc. Hervorzuheben sind insbesondere die Briefe des Hieronymus, aber auch jene von Ambrosius, Augustinus und Sidonius Apollinaris. 28 S. hierzu immer noch maßgeblich Thraede (1970) sowie u.a. Cugusi (1983) 73f. und Corbinelli (2008) 31–26; zur christlichen Adaptation des epistolographischen Topos von der Präsenz des Briefpartners im Geiste s. Gemeinhardt (2007) 196–201; für eine Aufstellung der einschlägigen antiken und spätantiken Testimonien s. den Kommentar von Neri (2009) 162f.; allgemein zur Verwendung der Freundschaftstopik in der Ruricius-Korrespondenz mit Blick auf deren zweites Buch vgl. G.M. Müller (2013); für einen umfassenden Überblick über den in diesem Horizont einschlägigen Topos vom Brief als Spiegel der Seele von der Antike bis zur englischen Brieftheorie des 18. Jh.s s. W.G. Müller (1980), für einige spätantike Testimonien ebd., 142–144. 29 Einschlägige intertextuelle Referenzen aus der zeitgenössischen Briefliteratur hinsichtlich dieses epistolographischen Topos verzeichnet Neri (2009) 167 ad loc. 30 Hierzu gehört auch jener insbesondere in der zweiten Briefhälfte zu beobachtende Rückgriff auf medizinische Metaphorik zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen spirituellem
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sich der eigentümliche Befund, dass Ruricius seine Hilfsbedürftigkeit auf dem Weg zu einem geistlichen Leben und die daraus resultierende Einnahme einer seinem Adressaten weit unterlegenen Schülerrolle über die ostentative Präsentation umfassender Versiertheit in epistolarer Topik und Stilistik inszeniert, sodass seine Ausführungen auch zum Medium einer entsprechenden Selbstdarstellung avancieren.31 Das offensichtliche Bestreben, sich gegenüber Faustus komplementär zu seinem Unterstützungsgesuch als prominenten Vertreter einer Bildungselite zu präsentieren,32 reicht aber noch weiter und tangiert jenen Bereich, für den er das Geleit seines Adressaten erbittet. Denn sein Anliegen hat Ruricius mit wiederholten teils direkt zitierten, teils indirekt angedeuteten Verweisen auf passende Bibelstellen untermauert, die seine entsprechende Belesenheit belegen und seinem Gegenüber vermitteln wollen, dass er sich im Hinblick auf das für seinen Konversionsplan grundlegende biblische Orientierungswissen durchaus als gleichberechtigten Gesprächspartner zu verstehen gedenkt.33 So erweist sich die Botschaft des Briefes letztlich als komplexer, als lediglich ein Bittgesuch um geistliche Begleitung an Faustus von Riez zu artikulieren, indem er ergänzend dazu Stellung und Verhältnis der beiden Briefpartner zueinander aus Ruricius’ Sicht austariert. Einem Adressaten, den er als weithin anerkanntes Modell und wirkmächtigen Lehrer einer asketischen Lebensweise anspricht, stellt sich Ruricus einerseits als diese erstrebender und dabei Faustus’ Führung benötigender Novize, anderseits als stilistisch versiertes Mitglied einer spätantiken Bildungselite gegenüber, der seine daraus resultierende Stil- und Literaturkompetenz für sein Anliegen offensiv einsetzt.34
|| Lehrer und hilfsbedürftigem Schüler, die ihren Ursprung in der Bibel hat und in der patristischen Literatur vielfältig aufgegriffen wurde; vgl. hierzu oben Anm. 17 mit Verweisen auf einschlägige Referenzen in der Literatur. 31 S. hierzu mit exemplarischen Analysen aus den Briefwechseln des Ausonius und des Paulinus von Nola Schwitter (2015) 132–140. 32 Für eine Definition des römischen Aristokraten im spätantiken Gallien unter Auswertung einschlägiger Selbstzeugnisse s. Mathisen (1993) 9–16; zur Bedeutung von Literatur für diese Schicht s. ebd., 105–118 (zur Briefkommunikation ebd., 115f.). 33 Direkte Bibelzitate finden sich in Ruric. epist. 1,1,16f. (Ps 62,9), ebd., 19 (Sap 9,15) und ebd., 38f. (Ps 140,5). Indirekte Anspielungen sind dokumentiert im Apparat von Demeulenaere (1985) 313f. sowie ausführlicher im Stellenkommentar von Neri (2009) 161–169. 34 Zu literarischer Betätigung als Standesmerkmal poströmischer gallischer Eliten s. Mathisen (1988) 50–52 und Mathisen (1993) 50–57, 105–108; vgl. auch Gioanni (2004) 521–524 speziell zum Verhältnis von Stil und Identität in der Briefliteratur im Gallien des 5. und 6. Jh.s.; allgemein zum römischen Selbstverständnis nach dem Ende des (west-)römischen Reichs am Beispiel von Sidonius Apollinaris, Ennodius und Cassiodor s. Callu (2001).
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Indem er somit keinen Widerspruch zwischen dieser und seinem Anliegen einer Lebenswende sieht, suggeriert er, darin ein gemeinsames Fundament mit seinem Adressaten zu besitzen, das er in der Annäherung an die von Faustus bereits vorbildlich praktizierte geistliche Lebensweise auch auf diese auszuweiten wünscht.35 Der zweite Brief an Faustus von Riez greift das Aussagetableau des ersten in wesentlichen Aspekten wieder auf, führt die dort angelegte Charakterisierung der beiden Korrespondenzpartner und ihres Verhältnisses zueinander aber insgesamt prononcierter fort. So nimmt Ruricius mit dem Hinweis auf seine geistige Trägheit sein Bekenntnis der Hilfsbedürftigkeit aus dem ersten Schreiben wieder auf, beschreibt sein aktuelles Leben, das er ohne Unterstützung von außen nicht hinter sich zu lassen vermag, aber deutlicher und zudem weit ausführlicher als Zustand der Sündhaftigkeit, bei dem es nichts zu verteidigen gebe, mehr noch: dessen Rechtfertigung nur noch zu tieferer Verstrickung in die Schuld führe.36 Seinen Adressaten würdigt er erneut in Anspielung auf das Bild
|| 35 Zur aristokratischen Bildungskultur im spätantiken und poströmischen Gallien s. grundlegend Mathisen (1993); zu deren sprachlichen Artikulationsformen s. Schwitter (2015) 80–93; zum Verhältnis zwischen antiker Bildungskultur und Christentum in der Spätantike s. Gemeinhardt (2007) 129–486, darin insb. 184–244 zur Bedeutung der Epistolographie in der Bildungskultur des spätantiken Christentums; für einen allgemeinen Überblick über die christliche Briefliteratur bis zum 4. und beginnenden 5. Jahrhundert s. Giannarelli (2003). 36 Ruric. epist. 1,2,3–14: Ita me hactenus impia neglegentia et neglegens impietas possederunt, ut, quid, domine mi, in me potissimum accusem, nesciam et, quid in me primum excusem, non inueniam. Si enim argumentationem aliquam ad excusandas excusationes in peccatis exhibere temptauero, adiciam peccato sine iudicii recordatione peccatum, ut duplici atque maiori delicto ipse me premam, ut, qui tarditatis reus sum, esse incipiam falsitatis et ab humana usque iniuria crimen extendam, paternam nunc tantum expectans de segnitiae noxa sententiam, diuinae uero pro mendacii ultione subiciar, praesertim cum uera confessio indulgentiam et falsa excusatio mereatur offensam. Malo itaque tam simplici confessione quam supplici ueniam petere, quam peccata geminare („Bis jetzt haben gottlose Nachlässigkeit und nachlässige Gottlosigket derart von mir Besitz ergriffen, dass ich nicht weiß, mein Herr, was ich in mir am meisten anklagen, und nicht ermitteln kann, wofür ich mich als Erstes rechtfertigen soll. Denn wenn ich versuche, irgendeine Beweisführung zur Rechtfertigung meiner Sünden anzustrengen, vergesse ich das Gericht und füge ich einer Sünde nur eine weitere hinzu, sodass ich mich selbst mit einem doppelten und größeren Vergehen belaste und neben der Trägheit auch noch der Falschheit angeklagt werde und mein Verbrechen damit weit jenseits menschlichen Unrechts ausdehne und, da ich jetzt nur das Urteil eines Vaters für das Vergehen der Trägheit erwarte, der göttlichen Strafe für meine Lüge unterworfen werde, zumal da aufrichtiges Bekenntnis Nachsicht und falsche Rechtfertigung Ungnade verdienen. Daher will ich lieber mit einem ebenso schlichten wie demütigen Bekenntnis Verzeihung erflehen als meine Sünden zu verdoppeln“).
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des heilenden Arztes,37 gesteht diesem darüber hinaus aber nochmals größere Autorität und Freiheit ihm gegenüber zu. Dies artikuliert sich nicht nur in seiner Bereitschaft, weit drastischere Eingriffe zu ertragen, wenn es dieser für angemessen hielte, sondern auch in dessen Ansprache als Hirte und vor allem als Vater, dem zur Züchtigung seiner Kinder alle Maßnahmen erlaubt seien, wenn sie nur deren Vervollkommnung dienen.38 Faustus’ Modellierung zum erbeten gestrengen Vater mündet in der zweiten Hälfte des Briefs in eine gut ein Drittel seiner Länge umfassende Nacherzählung des biblischen Gleichnisses vom verlorenen Sohn, das Ruricius auf die zuvor entworfene Beziehung zu seinem Adressaten adaptiert.39 Weit expliziter und ausführlicher als im ersten Brief führt er somit seine Kenntnis der Heiligen Schrift und die Kompetenz vor, diese im Lichte des eigenen Lebens zu deuten.40 Indes nimmt er das Gleichnis nicht nur zum Anlass, die Faustus zuvor zuge-
|| 37 Zum erneuten Rückgriff auf medizinische Metaphorik in der Modellierung des LehrerSchüler-Verhältnisses zwischen Faustus und Ruricius sowie zur Charakterisierung des Konversionsprozesses in der Spätantike im Allgemeinen s. knapp Mathisen (1999) 90 sowie detaillierter Neri (2009) 171f. ad loc. 38 Ruric. epist. 1,2,16–27: Habes et in discipuli errore, quod corrigas, et in ouiculae languore, quod sanes. Potestatisque et iudicii tui est, utrum uelis ulceris mei putredinem ferri rigore rescindere an medicamentorum lenitate curare. Ego tamen, utram elegeritis, curationem amplectar intrepidus nec paternae ictum dexterae declinabo, dummodo portionem promissae hereditatis adipiscar, neque adtendam, quae mihi poena sit in flagello, sed quem habeam in testamento. Melius enim mihi est flere super patre, quam ut abdicer contemptus a patre, quia parentum pietas distringit, ut corrigat, non perseuerat, ut puniat, nec tantum eis maeroris infert adrogantia superbientis, quantum gaudii confert humilitas confitentis („Du hast im Irrtum deines Schülers etwas, das du berichtigen, und in der Trägheit deines Schäfleins, das du heilen mögest. Es liegt in deiner Macht und Urteilskraft, ob du die Fäulnis meines Geschwürs mit hartem Schwert ausschneiden oder mit sanfter Medizin heilen möchtest. Ich werde, egal welche von beiden ihr auch wählt, die Therapie unerschrocken auf mich nehmen und ich werde auch dem Schlag der väterlichen Rechten nicht ausweichen, wenn ich dadurch nur Anteil am versprochenen Erbe erlange, und ich werde nicht darauf achten, welche Strafe ich mit der Peitsche erhalten, sondern welchen Platz ich im Testament bekommen werde. Besser ist es nämlich für mich, wegen des Vaters zu weinen, als dass ich vom Vater verleugnet und verachtet werde, weil die Sorgepflicht der Eltern züchtigt, um zurechtzuweisen, und nicht dabei verharrt, um zu strafen, und die Anmaßung eines hochmütigen Sohnes verursacht bei ihnen nicht so viel Traurigkeit wie die Demut eines geständigen Freude“). 39 Ruric. epist. 1,2,28–42. 40 Lk 15,11–32. Zu den sprachlichen Anklängen an diese Perikope sowie an verschiedene spätantike Kommentierungen und Interpretationen des Gleichnisses, unter denen Ambr. in Luc. hier besonders prominent ist, s. Neri (2009) 172–174 ad loc. Darüber hinaus weist der Text freilich auch zuvor schon zahlreiche Anspielungen auf biblische Schriften auf; vgl. im Einzelnen ebd., 170–175 passim ad loc.
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standene Lizenz, sich ihm gegenüber nach eigenem Ermessen als richtender Vater zu erweisen, durch das Bild des angesichts der Reue des Sohnes zur Vergebung bereiten Vaters zu ergänzen und abzumildern, sondern auch, um seinem Adressaten damit einen Weg anzudeuten, wie er sich über ein entsprechendes Verhalten gegenüber Ruricius dem himmlischen Vater anzugleichen vermag. Ruricius’ Zuweisung der Vaterrolle an Faustus läuft somit auf dessen schmeichelhafte Engführung mit niemandem geringeren als mit Gott selbst hinaus, wenn er die Reumütigkeit seines geistlichen Zöglings, die Ruricius im Gestus eines Beichtbekenntnisses bereits im ersten Teil seines Schreibens zum Ausdruck gebracht hat,41 mit Güte und Vergebung zu beantworten bereit ist. In der Tat schließt der Brief mit Ruricius’ dezidierter Aufforderung an Faustus, den Vater des Gleichnisses nachzuahmen, indem er reuige Sünder bei ihrem Bestreben, von ihren Verfehlungen abzulassen, unterstützen und für sie bei Gott um Vergebung ihrer Vergehen beten möge.42 Dies mit der Überzeugung verbindend, dass bei einer solchen Haltung seine Vergebungsentscheidung auch im Himmel Gültigkeit besitzen werde, lässt Ruricus seine abschließende Anrede an seinen Adressaten in der impliziten Würdigung seines Adressaten als einer Art Stellvertreter Gottes auf Erden münden, auf die bereits seine Wiedergabe des Gleichnisses vom verlorenen Sohn und dessen barmherzigen Vater hingesteuert hat. In seinem zweiten Brief an Faustus versieht Ruricius seine Selbstbeschreibung folglich mit einer stärkeren sündentheologischen Akzentuierung,43 vor deren Hintergrund er seinen Adressaten aus der Rolle des fürbittenden und mahnenden Begleiters, die er im ersten Schreiben von ihm erbeten hat, in jene des züchtigenden Vaters transponiert,44 der seinen reumütigen Zögling mit gerechter, aber strenger Hand auf dem Weg zur Umkehr begleiten möge, eine || 41 Vgl. neben dem Beginn des Briefes auch Ruric. epist. 1,2,15f.: Habes ergo, pater optime, pastor egregie, me culpae meae spontaneum confessorem („Du hast in mir also, bester Vater, vortrefflicher Hirte, einen freiwilligen Bekenner meiner Schuld“). 42 Ruric. epist. 1,2,43–47: Tanti parentis imitatus fidem trade peccatoribus adiutorium, praesta conantibus remissionem, intercessionem largire confitentique filio non solum ipse ueniam tribue, sed ipse ueniam deprecare, ut, quem in peregrina patria appellas liberum, in propria possis uidere liberatum („Indem du dir das Vertrauen eines so großen Vaters zum Vorbild nimmst, gewähre den Sündern Hilfe, biete denen, die sich bemühen, Erholung, ergreife Partei für den Angeklagten und gewähre einem bekennenden Sohn nicht nur selbst Vergebung, sondern erbitte selbst Vergebung für ihn, damit du den, den du in einer fremden Heimat für frei erklärst, auch in der eigentlichen als Freien sehen kannst“). 43 Zum entsprechenden juridischen Vokabular s. Neri (2009) 170 ad loc. 44 Dem entspricht auch Faustus’ Anrede als pater optime in Ruric. epist. 1,2,15, nachdem das Protokoll im Hinblick auf die Titulatur jenem des ersten Briefs entspricht und auch die Anrede zu Beginn durch domine mi identisch ist.
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Rolle, deren Souveränität er über sein Anliegen, Faustus möge sich dabei an der barmherzigen Güte des Vaters aus dem Gleichnis vom verlorenen Sohn orientieren, nochmals zu steigern weiß, indem er seinen Adressaten hierdurch implizit in die Nähe Gottes stellt. Dieser kontrastreicheren Zeichnung der beiden Korrespondenzpartner entspricht, dass der Brief diese klarer ausführt als das erste Schreiben und sich komplementär dazu auch einer übersichtlicheren Syntax sowie insgesamt einfacheren stilistischen Gestaltung bedient.45 Dies zeigt sich beispielsweise gleich zu Beginn, indem Ruricius dort ohne Umschweife in medias res geht und sein Bekenntnis, bislang komplett in irdischen Nichtigkeiten gefangen gewesen zu sein und nicht wisse, wo er mit seinen Entschuldigungen anfangen solle, konzise benennt46 oder wenn er daran anschließend seine diesmal auch offensiveren Erwartungen an seinen Adressaten direkter vorbringt,47 bis er sie am Ende sogar in eine asyndetische Reihe von Imperativen münden lässt, um diesen auf Verhaltensweisen zu verpflichten, die sich seiner Meinung aus der imitatio des barmherzigen Vaters aus dem zuvor referierten biblischen Gleichnis ergäben.48 Inhaltlich komplementär, unterscheiden sich die beiden Briefe des Ruricius an Faustus von Riez somit in der Art und Weise, wie sie ihr Anliegen vorbringen und in Anlehnung daran das Verhältnis zwischen einem reumütig nach einem asketischen Leben strebenden und hierfür des Geleits bedürfenden Adressanten und einem Adressaten, der als anerkannte spirituelle Autorität die erwünschte Unterstützung wirkungsvoll zu leisten vermag, artikulieren.49 Vor dem Hintergrund, dass der erste Brief sowohl Ruricius’ eigene Lage als auch insbesondere die Rolle, die von seinem Adressaten erbeten wird, wortreicher, stilistisch ausgefeilter und insgesamt verhaltener formuliert, während der zweite Brief beides präziser und prononcierter darlegt, lässt sich schließen, dass sie Einblick in zwei unterschiedliche Phasen der Beziehung zwischen Ruricius und Faustus von Riez gewähren.50 Während der erste Brief noch auf die Phase von deren
|| 45 Das bedeutet freilich nicht, dass nicht auch dieser Brief stilistisch und rhetorisch gekonnt durchkomponiert ist; s. hierzu im Einzelnen den Stellenkommentar in Neri (2009) 170–175. 46 S. Ruric. epist. 1,2,3–5 im Zitat in Anm. 36. Vgl. auch nochmals ebd., 15f. (Zitat oben in Anm. 41). 47 Vgl. nochmals Ruric. epist. 1,2,16f. im Zitat in Anm. 38. 48 S. Ruric. epist. 1,2,43–46 im Zitat in Anm. 42 (trade, praesta, tribue, deprecare). 49 Für einen knappen Überblick über die beiden Ruricius-Briefe an Faustus vgl. auch Barcellona (2006) 18–20. 50 Mathisen (1999) datiert die beiden Briefe in die Jahre 475–477 n. Chr., Neri (2009) 175 epist. 1,2 präzise auf 477.
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Grundlegung zu weisen scheint,51 dürfte der zweite bereits in eine Periode gewachsener Vertrautheit zwischen den beiden Korrespondenzpartnern datieren, in der es Ruricius zwar für angezeigt hält, nochmals konzise, aber nicht mehr höflich für sich werbend seine Lage zu skizzieren, und sich seine Erwartungen an seinen Adressaten inzwischen deutlicher zu formulieren traut. Auf diese Weise porträtieren die beiden Briefe zum einen Beginn und Etablierung einer geistlichen Lehrer-Schüler-Beziehung,52 die sich Ruricius’ Initiative verdankt, zum anderen die Spannbreite der epistolographischen Kompetenz ihres Verfassers, die ihn einerseits als Vertreter einer spätantiken Bildungselite ausweist und zum anderen als für die erstrebte geistliche Konversion hinreichend motiviert und vorbereitet empfiehlt.
III Die fünf Schreiben des Faustus von Riez an Ruricius53 lassen sich nicht unmittelbar auf die zwei an ihn gerichteten Briefe beziehen, die den Auftakt der Ruricius-Korrespondenz bilden.54 Dennoch stehen die ersten beiden von ihnen in evidentem inhaltlichem Zusammenhang mit den Ruricius-Briefen an Faustus und sie greifen dabei auch die Rollen auf, die Ruricius sich und seinem Adressaten in letzteren zugewiesen hat.55 In der Tat präsentiert sich Faustus im ersten erhaltenen Brief an Ruricius als jener Ratgeber und Lehrer, als den ihn dieser in seinen Briefen angesprochen hat.56 So kulminieren seine Ausführungen in der Weisung, dass es im Hinblick auf sein Anliegen eigentlich das Beste sei, den eigenen Besitz an geeignete Verwalter zu übergeben, um den Geist von den
|| 51 Vgl. Neri (2009) 163f. ad loc. 52 Vgl. Barcellona (1997) 780–781. 53 Die Briefe des Faustus an Ruricius werden im Folgenden nach der Ausgabe von Demeulenaere (1985) 406–415 (Appendix II: Epistulae Fausti ad Ruricium) in der dortigen Zählung wiedergegeben. In eckigen Klammern erscheinen die Briefnummern in der Ausgabe von Neri (2011) mit italienischer Übersetzung und ausführlichem Kommentar. 54 Freilich erwägen Mathisen (1999) 87 und Neri (2011) 369, dass Fausti epistula ad Ruricium 2 [=9] die direkte Antwort auf Ruric. epist. 1,1 darstellt. 55 Mathisen (1999) 92–105 lässt in seiner Übersetzung der Briefe von und an Ruricius die fünf Schreiben des Faustus unmittelbar auf jene beiden des Ruricius an ihn folgen, um diese als Elemente einer Korrespondenzbeziehung erkennbar werden zu lassen; vgl. ebd., 92, Anm. 1. 56 Zu Faustus’ pastoralem Wirken vor allem unter Auswertung seiner Predigten s. Nürnberg (1988) 226–244.
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irdischen Sorgen zu befreien,57 und in einem Kloster, vorzugsweise jenem von Lérins,58 dem Ruricius später drei Jahre als Abt vorstand, die asketische Lebensweise zu erproben und einzuüben.59 Indes beschränkt sich Faustus nicht auf praktische Ratschläge, wie Ruricius die von ihm erstrebte Konversion wirkungsvoll umsetzen kann; voran gehen
|| 57 Zu diesen Empfehlungen und ihren juristischen Implikationen s. Neri (2011) 366f. ad loc. 58 Ausführlich zur asketischen Spiritualität der Mönchsgemeinschaft auf der Insel Lérins und deren Strahlkraft auf das geistliche Leben im Süden Galliens des 5. Jh.s s. Kasper (1991), zur Bedeutung des Faustus von Riez für diese ebd., 231–238; vgl. auch Nürnberg (1988) 97–130; für eine historische Annäherung mit Blick auf die Organisation des Inselklosters s. zudem Pricoco (1978) 23–73 und Nouailhat (1988) 135–244 sowie Weigel (1938) 23–53 mit Blick auf Faustus (zu dessen Zeit als Abt des Inselklosters zwischen 433–457 s. ebd., 54–71); zum weiteren historischen Horizont und der literarischen Produktion auf Lérins s. de Vogüé (2003); dort 366–374 auch zu den Briefen des Faustus an Ruricius; zur Rolle monastischer Erfahrung für die Ausbildung der klerikalen Eliten in Gallien und den sich daraus ergebenden Unterschieden zur Situation auf der Appenninenhalbinsel v.a. auf der Basis einer Auswertung der Schriften des Ennodius s. Bartlett (2001), ebd., 212–215 zur Bedeutung von Lérins für diese spezifische Entwicklung in Gallien; für eine historische Kontextualisierung des Inselklosters von Lérins und der dort gepflegten Lebensweise mit vergleichbaren Initiativen im nordwestlichen Mittelmeerraum s. Biarne (2000); allgemein zu Reflexen auf die Spiritualität von Lérins in der Briefliteratur an der Wende vom 5. zum 6. Jh. s. Gioanni (2004) 533f.; zu den Briefautoren des 5. Jh.s. mit Beziehungen zu Lérins und deren Verbindungen untereinander s. Mathisen (1981) 104–107; vgl. auch Wes (1992), der sich dem Phänomen der conversio kommunikationstheoretisch nähert und auf der Basis zeitgenössischer Quellen deren Implikationen für das aristokratische Kommunikationsverhalten der Zeit herausarbeitet. 59 Fausti epistula ad Ruricium 1 [=8], 55–64: De eo autem, quod quidam prouocationis amore consuluit, salutifera et perfecta meditatio est curas animi partito per plures terrenae regimine rei subleuare et post haec triplici deliberatione tractare, quid melius sit, locare uel administrare uel distrahere propriam portionem. Primum reuera bonum esset, ut Christi famulus Christi pauperis uias ex toto pauper studeret incedere, si perfectam magni alicuius monasterii scholam uel certe insulanam angelicae congregationis militiam liceret expetere. Nam in medio saeculi institutionem eremiticam proferre quanta magnanimitas, tanta est difficultas („Hinsichtlich der Frage, die mir jemand gestellt hat im Bestreben, mich herauszufordern: die heilsamste und vollkommenste Überlegung ist es, die Sorgen des Geistes zu verringern, indem man die Verwaltung seiner Ländereien auf mehrere Schultern verteilt, und danach zu überlegen, welche der drei Varianten die bessere ist: den eigenen Anteil zu vermieten, selbst zu verwalten oder zu verkaufen. Am besten wäre es natürlich, als Diener Christi danach zu trachten, vollständig arm die Wege des armen Christus zu beschreiten, wenn es freistünde, sich der vollendeten Schule irgendeines großen Klosters oder freilich dem Dienst des engelsgleichen Konvents auf der Insel zu überantworten. Denn mitten in dieser Welt eine monastische Lebensweise an den Tag zu legen, zeugt zwar von Seelengröße, ist aber gleichermaßen schwierig“). Zur Verwendung des Begriffs schola zur Bezeichnung eines Klosters s. die Belege bei Neri (2011) 363f.; zur Klosterlandschaft im südlichen Gallien neben Lérins s. ebd., 364f.
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diesen ebenso ausführliche theologische Erläuterungen darüber, dass die Eigenschaften Gottes beim Menschen nicht wie bei jenem ein Wesensbestandteil, sondern auf diesen nur übertragen sind und daher auch jederzeit verloren gehen können,60 gefolgt von ergänzenden Bemerkungen über die Wesensgleichheit von Gott Vater und Sohn.61 Anlass für diese ist Faustus’ Lob auf Ruricius’ Briefboten, mit dem er sein Schreiben eröffnet.62 Denn dieser habe sich als jemand zu erkennen gegeben, der bereits das von Ruricius erstrebte asketische Leben angenommen habe63 und deswegen seine ganze Bewunderung verdiene, mag ihn auch die Gelehrsamkeit des von ihm überbrachten Briefs deutlich als weniger gelehrt erscheinen lassen.64 Denn durch seine bereits erfolgte Lebensentscheidung eigne ihm eine vorbildliche Einfachheit, die einem zentralen
|| 60 Fausti epistula ad Ruricium 1 [=8], 23–39; zum theologischen Hintergrund der Passage mit Verweis auf einschlägige Testimonien der patristischen Literatur s. Neri (2011) 361 ad loc.; vgl. auch Barcellona (1997) 799f. 61 Fausti epistula ad Ruricium 1 [=8], 40–54; zum trinitätstheologischen Hintergrund mit Bezügen zu De spiritu sancto 1,6 vgl. Neri (2011) 362f. 62 Grundsätzlich zum Brieftransport in der Spätantike und der Rolle privater Boten für diesen s. u.a. Mratschek (2002) 274–307 mit Blick auf die Korrespondenz des Paulinus von Nola; bezogen auf die Antike insgesamt unter Auswertung vor allem von Zeugnissen aus Ciceros hierfür besonders ergiebigem Briefwechsel s. Corbinelli (2008) 15–21; vgl. auch die älteren Ausführungen in McGuire (1960) 185, 199–200. 63 Zur Metaphorik des Übergangs von der Sklaverei in die Freiheit, mit der die erfolgte conversio des Briefboten angedeutet wird, sowie seinem neutestamentarischen Hintergrund s. Neri (2011) 358f. ad loc. 64 Fausti epistula ad Ruricium 1 [=8], 9–18: Et propterea ad fructum uestrum creuisse gratulatus sum, quod in eo uita melior conditionem primae natiuitatis aboleuit atque in eo naeuum generis manumissio religionis abstersit et in adoptionem Christi personam mancipii fide emancipauit et transcripsit. Quomodo autem apud eius uel apud reliquorum fratrum lacteam sinceritatem agere deberemus, latissimam apostoli dispensationem expedito digessistis alloquio, et cum eos doctissima pagina minus doctos adserat, nos tamen in eorum defaecatis moribus admirati sumus per donum mansuetudinis et humilitatis plenitudinem lectionis („Und deswegen habe ich mich darüber gefreut, dass es zum Wachstum eures Nutzens geschehen ist, dass in ihm das bessere Leben den Zustand seiner ersten Geburt beseitigt und die freimachende Kraft des Glaubens den Makel des Menschengeschlechts abgewaschen hat und er seine Sklavenrolle durch Glauben zugunsten einer Adoption durch Christus überwunden und überschrieben hat. Im Hinblick aber darauf, wie wir uns angesichts seiner rechtschaffenen Reinheit und jener der übrigen Brüder verhalten sollten, habt ihr die Weisung des Apostels mit eurer Nachricht prompt in gebührender Weise befolgt; und obwohl sie dein höchstgebildetes Schreiben als weniger gebildet ausweist, bewundern wir in ihrem gereinigten Wesen einen vollkommenen Lesestoff wegen des Geschenks ihrer Sanft- und ihrer Demut“).
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Merkmal Gottes entspreche, worauf seine anschließenden theologischen Ausführungen hinweisen wollen.65 Faustus’ anerkennende Worte über den Boten münden somit in einer Distanzierung von jener aufwändigen Stilkultur, die Ruricius’ Korrespondenz und nicht zuletzt auch die beiden an ihn adressierten Briefe prägen, und dürften auch mit diesem Ziel formuliert worden sein. Offensichtlich wollte Faustus seinem Adressaten eingangs einen subtilen Hinweis darauf geben, dass sich sprachliche Kompetenz und Gelehrsamkeit wo nicht als hinderlich, so zumindest als unerheblich für jene Lebensform erweisen, die Ruricius mit seiner Hilfe zu erreichen sucht. Distinktionsmerkmal für diese sei allein jene von seinem Boten bereits erfolgreich übernommene und auf Gottes Wesen verweisende Einfachheit, für die Bildung und Stil keine Relevanz besitzen. In der Tat fügt Faustus zum Abschluss seiner theologischen Ausführungen mahnend an, dass die Gott Vater und Sohn gleichermaßen wesensgemäße Einfachheit auch jedem Menschen innewohne, vorausgesetzt, diesen halte nichts Widersprechendes von ihr ab und er richte sein ganzes Streben nach ihr aus.66 Bevor er im zweiten Teil seines Briefs auf die praktischen Aspekte einer Konversion zu einem asketischen Leben zu sprechen kommt und entsprechende Vorschläge unterbreitet, ist Faustus folglich zunächst bestrebt, Ruricius die sich in seinem Boten idealtypisch realisierende geistige Einfalt als Wesensmerkmal einer sich an Gott angleichenden Existenz zu empfehlen und vor diesem Hintergrund Ruricius’
|| 65 S. hierzu die Überleitung zwischen den beiden Abschnitten in Epistula Fausti ad Ruricium 1 [=8], 19–24: Vincit enim largitas gratiae instituta doctrinae. Nam etsi sub exiguo tempore intra eorum lucida pectora et perspicua penetralia introduxit se sensus candida puritas et praeclara simplicitas, per quam diuinae imaginis speculum in interioris hominis nitore perfulget. Diuinae, inquam, imaginis, ita enim de Domino legimus: purus, simplex, subtilis („Die Freigebigkeit der Gnade übertrifft nämlich die Grundsätze der Gelehrsamkeit. Denn wenn auch nur für eine kleine Zeitspanne führte sich in ihre leuchtenden Herzen und in ihr klares Inneres eine strahlende Reinheit und herrliche Einfachheit der Empfindung ein, durch die ein Spiegel des göttlichen Abbildes im Glanz des inneren Menschen erstrahlt. Des göttlichen Abbildes, sage ich, denn so lesen wir es über den Herrn: Er ist klar, einfach, schlicht“). Das abschließende Trikolon nimmt eine Formulierung aus Faustus’ De gratia 2,9 auf; vgl. Neri (2011) 361 ad loc. 66 Fausti epistula ad Ruricium 1 [=8], 50–54: Inde et nos de hac accepimus simplicitate, si in nobis nihil sit dissonum, nihil uarium, nihil diuersum, si semper idem esse probabilibus studiis et fundatis in Christo sensibus enitamur, ut inmutabiles in bono nouis tantum in diem profectibus inmutemur („Daher haben auch wir Anteil an dieser Einfachheit erhalten, wenn in uns nichts Misstönendes, nichts Wankelmütiges, nichts von ihr Abweichendes vorhanden ist, wenn wir mit untadeligen Bemühungen und mit in Christus gründender Gesinnung stets danach streben, gleich zu bleiben, damit wir uns unwandelbar im Guten allein durch täglichen Fortschritt verändern“).
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Selbstdarstellung als eines prominenten Vertreters der zeitgenössichen Bildungsaristokratie in ihrer Bedeutung für sein Anliegen zu relativieren. Indes bedeutet dies nicht, dass sich Faustus selbst seinem Adressaten gegenüber als Gesprächspartner ohne Bildungsanspruch präsentiert. Im Gegenteil lässt nicht nur der theologische Teil des Briefs eine entsprechende Gelehrsamkeit durchblicken, welche sich neben seinen Lehrinhalten selbst auch in einschlägigen Bibelreferenzen und Bezügen auf das theologische Schrifttum der Epoche niederschlägt.67 Darüber hinaus zeigt er sogleich zu Beginn des Schreibens seine Vertrautheit mit charakteristischen Topoi spätantiker Epistolographie an, wenn er dieses, nicht unähnlich dem Auftakt des ersten Ruricius-Briefs an ihn, mit einem Verweis auf die präsenzstiftende Wirkung der von Ruricius initiierten Briefkommunikation mit ihm anheben lässt.68 Faustus legt somit eine differenzierte Haltung gegenüber der von Ruricius in seinen Briefen offensiv angewandten Stilkultur an den Tag: Zum einen weist er auf deren Irrelevanz für die von seinem Adressaten angestrebte Lebensform hin und deutet die Gefährdung an, sich durch diese von der konstitutiven Einfachheit eines gottgefälligen Daseins ablenken zu lassen. Zum anderen hindern ihn diese theologisch unterfütterten Mahnungen aber nicht daran, selbst maßvollen Gebrauch von den einschlägigen epistolographischen Usancen zu machen und damit seine Zuge-
|| 67 Vgl. hierzu die einschlägigen Nachweise im Kommentar von Neri (2011) 360–363; zur aufwändigen rhetorischen Ausgestaltung der doktrinären Passagen des Briefes s. ebd., 360f.; zu den inhaltlichen Bezügen dieses Abschnitts zu weiteren Briefen des Faustus, insb. zu den Nummern 3 und 5, sowie zum Traktat De gratia s. Neri (2011) 360–363. 68 Fausti epistula ad Ruricium 1 [=8], 4–9: Licet per quamcumque personam iucundum mihi sit cum indiuiduo pectore ipsius caritatis uocibus conloqui et sedula uos officiorum ambitione conplecti, sed nunc quanto opportunius tanto auidius pignus animi uestri ministerio domestici portitoris adsumpsi, in cuius merito minus adsignauit relatio quam probauit agnitio („Zwar bereitet es mir Freude, mich durch Vermittlung welcher Person auch immer mit eurem treuen Herzen in Worten reiner Zuneigung zu unterhalten und euch mit geflissentlicher Pflichterfüllung zu umarmen. Doch jetzt habe ich umso gelegener desto begieriger ein Pfand eures Geistes durch den Dienst eures persönlichen Boten emfangen, auf dessen Verdienst weniger euer Bericht verwies als ihn seine Bekanntschaft unter Beweis stellte“). Zu den officia einer Freundschaftskorrespondenz s. zusammenfassend Neri (2011) 357 ad loc.; zum hier angedeuteten Konzept des colloquium absentium mit einschlägigen Testimonien aus der spätantiken Epistolographie ebd., 360 ad loc. Mathisen (1999) 93, Anm. 2 sieht im Beginn des Schreibens ein Indiz dafür, dass die Korrespondenzbeziehung zwischen Faustus und Ruricius bei seiner Abfassung schon eine Weile andauert. In der Tat bezieht sich Faustus in 1 [=8], 7 auf einen Brief des Ruricius, der nicht erhalten ist. Allgemein zum Verständnis von Freundschaft in der christlichen Kultur der Spätantike sowie zum vermehrten Ersatz des Begriffs amicitia durch caritas, welche eine der heidnischen Variante überlegene Form der Freundschaft indizieren soll, s. Konstan (1997) 149– 173.
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hörigkeit zur Bildungswelt des Ruricius anzuzeigen.69 Auch wenn Faustus die erbetene Rolle eines geistlichen Lehrers und Begleiters aufgreift, will sein Brief dennoch vermitteln, dass hier ungeachtet der sich daraus ergebenden Hierarchie zwei Vertreter der gallorömischen Bildungsaristokratie miteinander im Austausch stehen, die im Hinblick auf die für diese charakteristischen kommunikativen Umgangsformen grundsätzlich über die gleiche Kompetenz verfügen und sich in dieser Hinsicht gleichberechtigt gegenüberstehen.70 Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Faustus seine Relativierung von Ruricius’ Stilbewusstsein so verhalten und allenfalls indirekt formuliert. Denn weder weitet er das von ihm konstatierte Missverhältnis zwischen der Gelehrsamkeit seines Adressaten und der dadurch noch eklatanter zu Tage tretenden Einfachheit seines Briefboten zu einer offenen Kritik an jenem aus noch bezieht er die selbst nur im kollektiven Plural formulierte Mahnung, sich durch nichts vom Streben nach einer auf Gott verweisenden Einfachheit abbringen zu lassen,71 direkt auf Ruricius und seine eingangs angedeuteten Vorbehalte gegen dessen ostentativ inszeniertes Bildungsbewusstsein. So offensichtlich Faustus’ theologische Ausführungen über das Eigenschaftsprofil Gottes und seines mit ihm wesensgleichen Sohnes als Mahnung an Ruricius gedacht sind, so geschickt zurückhaltend artikuliert er diese an ihren Rändern und lässt auf diese Weise durchblicken, dass er Ruricius’ Bildungsidentität nicht grundsätzlich infrage stellen will.72
|| 69 Für eine allgemeine Würdigung von Faustus’ epistolarem Stil s. Neri (2011) 20–22. Zu intertextuellen Referenzen zu den einschlägigen epistolographischen Autoritäten s. den Kommentar ebd., ad loc. Neri (2011) wie Mathisen (1999) weisen in ihren Kommentaren zudem verschiedene intertextuelle Referenzen zwischen den beiden Ruricius-Briefen und jenen des Faustus an ihn nach. Für ein zeitgenössisches Lob auf Faustus’ epistolographischen Stil s. Sidon. epist. 9,9,10. 70 In diesem Sinne lässt sich die Bezeichnung des Adressaten als excolendus im Protokoll des Briefes verstehen, mit der Faustus den hohen Rang seines Gesprächspartners betont; vgl. zum Gebrauch dieses Epithetons in den Briefen des Ruricius und des Faustus Neri (2011) 319 mit Bezug auf das Protokoll von Faustus’ sechstem Brief, der an den patricius und praefectus praetorio Galliarum des Jahres 469 Felix gerichtet ist. Zur Epistolographie als Medium gemeinsamer sozialer Verortung in der Oberschicht im spätantiken Christentum vgl. Gemeinhardt (2007) 186. 71 Vgl. die rekurrente Verwendung des Personalpronomens in der ersten Person Plural im Abschnitt Fausti epistula ad Ruricium 1 [=8], 24–30. 72 Vgl. Bartlett (2001) zum Verhältnis von aristokratischer Identität und asketischer Haltung bei der Herausbildung des gallischen Klerus; s. auch Wes (1992) 260–263, der darlegt, dass die mit einer conversio verbundene Abkehr von aristokratischem Verhalten durch die anschließende Übernahme eines Bischofsamtes in der Regel wieder relativiert wurde.
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Die hierin zum Ausdruck kommende Haltung zeigt auffallende Ähnlichkeit mit der Zielrichtung von Faustus’ abschließenden Ratschlägen, wie Ruricius mit seinem Besitz verfahren soll. Denn auch wenn diese ihren Adressaten frei von der Sorge um die irdischen Belange machen wollen, geht Faustus nicht so weit, die Veräußerung seiner Güter zu verlangen, sondern er empfiehlt lediglich, diese in die Hände verlässlicher Verwalter zu legen, ohne die Besitzverhältnisse grundlegend zu ändern.73 Bei beiden Themen, die den Brief prägen, sucht Faustus somit in komplementärer Weise einen Ausgleich zwischen den Forderungen christlicher Askese und den Bedingungen aristokratischer Existenz, die von ihm ungeachtet entsprechender Mahnungen weder im Hinblick auf ihre materiellen Grundlagen noch in Bezug auf ihr Bedürfnis nach intellektueller Selbstdarstellung grundsätzlich angefochten werden. Dass Faustus’ Betrebungen offensichtlich erfolgreich gewesen sind, geht aus seinem zweiten Brief hervor, in dem er seine Freude darüber zum Ausdruck bringt, dass Ruricius inzwischen die Konversion zu einer asketischen Lebensweise vollzogen hat.74 Diese Wandlung kommt bereits dadurch zum Ausdruck, dass ihn Faustus im Protokoll seines Schreibens nicht als filius, sondern als frater anspricht und damit ein Verhältnis der beiden andeutet, das sich auf Augenhöhe bewegt.75 Dennoch scheint er seine Pflicht, seinen Adressaten mit Mahnungen und Ratschlägen zu begleiten, nicht als abgeschlossen anzusehen. Denn solche prägen auch weite Teile dieses Briefs, wobei er seine Weisungen klarer als in seiner ersten erhaltenen Epistel formuliert. Während diese die grundsätzliche Bedeutung einer nach Einfachheit und Immunität gegen die Ablenkungen der Welt strebenden Haltung als Voraussetzung für eine erfolgrei-
|| 73 Vgl. Fausti epistula ad Ruricium 1 [=8], 65–80. 74 Fausti epistula ad Ruricium 2 [=9], 17–22: Ego autem hanc primam munificentiam Domino largiente percepi, quod piissimus meus Ruricius post uitae huius iactationes ad portum religionis proram salutis excelsi manu gubernante conuertit, quod post umbras seducentium uanitatum et inlusiones transuolantium somniorum mansura et solida concupiuit et despecto tandem saeculo infelicitatem eius magnam respuit […] („Ich aber habe diese vorzüglichste Gnade als Geschenk Gottes erhalten, dass mein allerfrommster Ruricius durch die lenkende Hand des Höchsten das Schiff des Heils nach den Wogen dieses Lebens in den Hafen der Gottesfürchtigkeit gewendet hat, dass er nach den Schatten der verführerischen Nichtigkeiten und den Verlockungen der vergänglichen Traumbilder das Bleibende und Wesentliche begehrt und, dem Diesseits endlich mit Verachtung begegnend, dessen großes Elend zurückgewiesen hat […]“); zur Verwendung der Metapher des Hafens sowie zu seiner Rekurrenz in der biblischen wie der patristischen Literatur s. Neri (2011) 371f. Mathisen (1999) 87 zieht aufgrund einiger einschlägiger Anspielungen in Erwägung, dass dieser Brief die Antwort auf Ruric. epist. 1,1 darstellt; dieser Einschätzung folgt Neri (2011) 387. 75 Fausti epistula ad Ruricium 2 [=9], 3; vgl. Neri (2011) 369 ad loc.
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che Adaptation der asketischen Lebensweise herausstellte, konzentrieren sich Faustus’ Ausführungen hier zudem auf ganz konkrete Aspekte, welche diese befördern und deren Ziele demzufolge auch wirksam zu erreichen verhelfen. Faustus’ Brief offenbart somit das Bestreben, seinen Adressaten kontinuierlich auf dem Weg zu einer immer konsequenteren Askese zu begleiten. Die von ihm klar und ähnlich einem Lehrschreiben strukturierten Mahnungen, über eine entsprechende Herzensbildung auch das eigene Sprachverhalten zu regulieren,76 das Fasten nicht nur als eine Möglichkeit, sich gegen die irdischen Verlockungen, sondern auch gegen die schlechten Emotionen zu immunisieren und damit als eine Schule der inneren Haltungen zu begreifen, sowie auf diese Weise eine Standhaftigkeit zu erreichen, die das Herz für das Wirken Christi und das beständige Wachstum guter Eigenschaften öffnet,77 formuliert Faustus dabei erneut in Anspielung auf eine Vielzahl von biblischen Referenzen sowie unter Rückgriff auf einschlägige theologische Autoritäten der Epoche und präsentiert sich auf diese Weise einmal mehr als entsprechend gebildeten Lehrer.78 Mit dem klaren Aufbau seiner Argumentation korrespondiert eine immer wieder rhetorisch zugespitzte, aber insgesamt sehr einfache und luzide Sprache, die gekonnt auf sein didaktisches Anliegen abgestimmt ist.79 Die gegenüber Ruricius’ Briefen auch hier zu konstatierende größere Schlichtheit in Ausdruck und Stil gründet somit auf bewusster Wahl und indiziert auf diese Weise eine sprachliche Versiertheit, die seinem Korrespondenzpartner nicht nachsteht. || 76 Ebd., 26–40; der Abschnitt basiert weitgehend auf Euseb. Gallic. Hom. 60,4; s. Neri (2011) 373 ad loc. 77 Hierin besteht das zentrale Anliegen des Briefs; Fausti epistula ad Ruricium 2 [=9], 41–108. 78 S. hierzu den Kommentar von Neri (2011) 371–379 sowie die Auszeichnungen der Bibelzitate im Apparat von Demeulenaere (1985) 409–411. 79 In seinem unterweisenden Teil, der auf den Ausdruck der Freude über Ruricius’ erfolgreiche Konversion folgt (Fausti epistula ad Ruricium 2 [=9], 27–108), ist der Brief neben Partien, die Grundsätze asketischen Lebens und deren Heilsrelevanz beschreiben sowie diese mit Bibelverweisen begründen (vgl. etwa ebd., 41–52), in seinen unterweisenden Abschnitten von einer Syntax geprägt, in der vor allem Hortative, in die sich der Absender mit einschließt (vgl. etwa ebd., 31: uitemus; 71: subiungamus; 72: abscidamus; 75: curemus), Iussive (vgl. etwa ebd., 53: non frangat; 54: non resoluat; 55: ostendat) sowie Sätze vorherrschen, die eine imperativische Absicht aufweisen (vgl. den Abschnitt ebd., 87–108). Die Satzkonstruktionen weisen dabei häufig eine ut-ita-Struktur auf, in der aus entweder einer doktrinären Aussage oder einer Bibelreferenz eine konkrete Handlungsanweisung an den Adressaten abgeleitet wird (vgl. etwa ebd., 79–81). Dass Faustus bei der Formulierung seiner Weisungen auf direkte Imperative gänzlich verzichtet und stattdessen den integrierenden Hortativ bevorzugt, belegt sein Bemühen, den weitgehend doktrinären Charakter seines Briefes möglichst zurückhaltend zu formulieren und damit seine Lehrerrolle jenseits des entsprechenden Inhalts nicht allzu stark zu profilieren.
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Faustus’ zweiter Brief an Ruricius widmet sich indes nicht nur einmal mehr dem Lebenswandel seines Adressaten, sondern er gibt zumindest andeutungsweise auch Einblick in die Lebenssituation seines Absenders. So wird einleitend erkennbar, dass Faustus sein Schreiben in der Fremde und damit während seines Exils verfasst hat.80 Nichtsdestoweniger bewertet er seine Lage nicht negativ: Sie gewähre ihm die für ein asketisches Dasein nötige Ruhe und Einsamkeit, und erweise sich daher als heilsame Zeit der inneren Reinigung, weshalb er sie als Gunst Gottes begreife. Zudem könne er sich dennoch über den Gewinn neuer Adepten sowie an der Entwicklung jener freuen, die er bereits erfolgreich bei der Konversion zur heilsamen Askese begleitet hat. Hieraus resultiere sein Eindruck, nicht die Heimat verloren, sondern diese nur gewechselt zu haben, sowie das Empfinden, reich zu sein, obwohl er seinen Bischofssitz verloren hat.81 Faustus’ Andeutungen darüber, dass sein Netzwerk trotz seines Exils wächst und gedeiht, präludieren nicht nur seine anschließend zum Ausdruck gebrachte Freude über Ruricius’ erfolgreiche Konversion und lassen diesen als Teil einer weitaus größeren Gruppe von Menschen erscheinen, die von ihm
|| 80 Faustus’ Exil datiert von ca. 477, als er von seinem Bischofssitz in Riez vertrieben wurde, bis Ende 484, nachdem der Gotenkönig Eurich gestorben war; vgl. Neri (2011) 13f.; zum historischen Hintergrund s. auch Weigel (1938) 110–119, Barcellona (1997) 782–789 sowie Barcellona (2006) 22–33. 81 Fausti epistulam ad Ruricium 2 [=9], 4–16: Propitia diuinitate in secreto religionis congruo et tranquillissimo in silentio constituti, in quo Dominus ad rubiginem longa securitate contractam salutiferae limam castigationis admouit, in hac, inquam, quiete magna, si agnoscamus, uacatione donati dum nouos ciues commercio caritatis adquirimus, dum de adquisitorum salute gaudemus, inter haec positi bona praesenti insultamus exilio et patriam nos non amisisse, sed commutasse cognoscimus. Nam dum fideles famuli Dei in necessitatibus nostris bonitatem suae deuotionis exercent, sine sede propria possessores, sine possessione diuites sumus, immo eos, qui de nostra fructum capiunt consolatione, ditamus. Miro modo consolatores nostri de pauperculis negotiantur et de egenis lucra perpetua consequuntur („Durch göttliche Gunst in die Einsamkeit, die einem gottgefälligen Leben angemessen ist, und in äußerste Ruhe versetzt, in welcher Gott seine Feile heilsamer Züchtigung zur Entfernung des Rostes, der sich durch lange Sorglosigkeit gebildet hatte, anlegte, in dieser, sage ich, Ruhe mit großer Freiheit beschenkt, sofern wir dies anerkennen wollen, verhöhnen wir, während wir neue Mitbürger in liebevollem Austausch erwerben, während wir uns über das Heil der neu Dazugewonnenen erfreuen und damit über derartige Güter verfügen, unser Exil und erkennen, dass wir unsere Heimat nicht verloren, sondern nur getauscht haben. Denn solange sich die treuen Diener Gottes angesichts unserer Notlage in hingebungsvoller Güte üben, sind wir ohne Wohnsitz Besitzende, sind wir ohne Besitz reich, ja wir bereichern sogar die, die aus unserem Trost einen Gewinn ziehen. Auf wunderbare Weise ziehen unsere Tröster Gewinn aus uns Armen und sie erzielen aus den Bedürftigen dauerhaften Lohn“); zum Verständnis von sedes als Ort des Bischofssitzes s. Neri (2011) 370 ad loc.
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Orientierung auf dem Weg zu einem asketischen Leben erhalten. Darüber hinaus macht Faustus mit ihnen aber auch kenntlich, dass er durch seine erzwungene Absenz von seinem Bischofssitz nicht an Wirksamkeit und Einfluss auf die asketische Bewegung im Süden Galliens verloren hat. Der auffällig lange Vorspann vor der brieflichen Unterweisung seines Adressaten dient somit zweifelsohne auch dazu, gegenüber diesem keinen Zweifel an seiner geistlichen Autorität aufkommen zu lassen. Mehr noch: Er nutzt den Hinweis auf seine aktuelle Lage sogar dazu, seiner Rolle als Vorbild und Lehrer noch stärkeres Profil zu verleihen, indem er in dieser den Ermöglichungsgrund für ein gleichsam eremitenhaftes Dasein und damit eine willkommene Gelegenheit zur inneren Prüfung erkennt. Durch diese positive Umdeutung seiner Exilerfahrung empfiehlt er sich gleich zu Beginn seines Briefes programmatisch als vollendeter vir religiosus, der über jegliche irdische Anfechtung erhaben ist, weil er allein seinen asketischen Reifungsprozess im Blick hat. Mit seinem anschließenden Verweis auf den anhaltenden Kontakt zu einer wachsenden Zahl von Schülern, die er auf dem Weg zu einer asketischen Lebensweise erfolgreich begleitet, deutet er freilich an, dass dieses Beziehungsgeflecht Anteil an jener positiven Bewertung seiner aktuellen Lage hat.82 Denn hierdurch vermag er die nützlichen Effekte der erzwungenen Einsamkeit für seine innere Vervollkommnung zu nutzen, ohne in völlige Isolation zu verfallen. Indem er das Wachsen einer weitverzweigten Gemeinschaft von Gleichgesinnten und Nachfolgern als Folge freundschaftlicher Zuneigung versteht,83 entledigt er sein Verhältnis zu dieser indes nicht nur großzügig der ihr innewohnenden Hierarchie, die daraus resultiert, dass er sich als deren Impulsgeber und Zentrum zu erkennen gibt. Darüber hinaus deutet er sie hierdurch im Licht traditioneller aristokratischer Gemeinschaftbildung, die auf diese Weise ihre signifikante Umkodierung unter christlichem Vorzeichen erhält.84 Vor diesem
|| 82 Neri (2011) 369f. liest den einleitenden Abschnitt als Ausdruck der Verbitterung, aber auch des Stolzes und des inneren Widerstands gegen die aktuelle Situation. Zweifelsohne trägt Faustus’ Freude über die stetig wachsende Größe der von ihm angestoßenen asketischen Bewegung Züge der Selbsttröstung. Gleichwohl domininiert das Bemühen um positive Umdeutung des Exils, insofern er sich hierdurch neben der Chance auf asketische Selbstvervollkommnung des Zusammenhalts und der Solidarität der asketischen Gemeinschaft in besonderem Maße vergewissern zu können glaubt und dies zum zentralen Gegenstand seiner Anspielung auf seine Verbannung macht. 83 Vgl. im Zitat in Anm. 81 die Passage 6–8: […] in hac, inquam, quiete magna, si agnoscamus, uacatione donati dum nouos ciues commercio caritatis adquirimus, […]. 84 Zur Bedeutung von Freundschaft für den Zusammenhalt der Aristokratie im spätantiken Gallien s. Mathisen (1993) 13–16.
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Hintergrund behält die briefliche Kommunikation auch ihre grundlegende Bedeutung für die Kohäsion solcher Freundschaftsbeziehungen über größere Entfernungen, auf welche Faustus dadurch anspielt, dass er gerade in deren Fortbestand eine Linderung seiner Exilerfahrung erkennen will.85 Wenngleich indirekt, bewegt er sich mit seiner Freude über Fortbestand und Ausbau seines Beziehungsnetzwerks trotz erzwungener Distanz somit im Horizont der einschlägigen Brieftopik und gibt über den Verweis auf das commercium caritatis überdies seine Verwurzelung in der traditionellen aristokratischen Mentalität zu erkennen, aus deren Perspektive er offensichtlich auch die von ihm geschaffene asketische Gemeinschaft und seine Stellung in dieser bestimmt. Der zweite Brief schließt somit an Faustus’ Selbstmodellierung in seinem ersten erhaltenen Schreiben an und baut diese in wesentlichen Aspekten aus. So nimmt er die von Ruricius erbetene Rolle des Lehrers und Ratgebers offensiver und direkter wahr, was auf eine inzwischen größere Vertrautheit der beiden untereinander und also auf eine inzwischen schon länger andauernde Beziehung verweist. Damit korrespondiert, dass Ruricius als auf seinem Weg bereits Fortgeschrittener erscheint. Darüber hinaus mag der Hinweis auf sein Exil und der darüber hinwegtröstende Fortbestand seines Netzwerks zwar durchaus auch dazu dienen, die eigene Position aus der erzwungenen Distanz heraus zu sichern. Vor allem vermittelt er aber das Bild eines souveränen, von irdischen Widrigkeiten unabhängigen Asketen, dem es selbst aus der Ferne gelingt, weiter am Aufbau einer asketischen Gemeinschaft zu arbeiten und diese an sich zu binden, und bewirkt damit eine signifikante Verstärkung seiner Autorität als Lehrer und Modell. Der darauffolgende Brief der kleinen Sammlung bleibt hinter dieser inhaltlichen und funktionalen Komplexität zurück und scheint gerade deswegen als eine Art Standardbeispiel für die Kommunikation zwischen Faustus und Ruricius im Spannungsfeld von Beziehungspflege und Belehrung dienen zu wollen. So präsentiert er sich von seinen Rändern her als typische Grußadresse, die der Kohäsion spätantiker Bildungsaristokraten dient, indem sein Beginn virtuos die topische Vorstellung vom Brief als Unterredung zwischen Abwesenden adaptiert, dabei auch auf die bereits bei Cicero formulierte Vorstellung zurückgreifend, dass die Freundschaft getrennte Gesprächspartner einander im Herzen
|| 85 Allgemein zur Kontinuität der freundschaftsstiftenden und -erhaltenden Funktion von Epistolographie in der christlichen Spätantike s. Gemeinhardt (2007) 185–187 sowie 191–196; zur präsenzstiftenden Funktion von Briefen ebd., 196–201.
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ansichtig werden lässt,86 und sein Schluss zu einem ausführlichen Gruß gemeinsam mit den ihm verbundenen Klerikern an den Adressaten und dessen Ehefrau ausholt, welchen er durch die Hoffnung einleitet, dass die von seiner Seite erfüllte Pflicht zur Kontaktpflege bei Gelegenheit eine Antwort seines Adressaten nach sich ziehen möge.87 Dazwischen eingebettet befindet sich erneut eine Unterweisungssequenz, die gekonnt aus der einleitenden Betonung der Gemeinschaft im Herzen abgeleitet wird. Deren Ermöglichung auf das Wirken Gottes zurückführend, verweist Faustus nämlich darauf, dass mit dem Herzen auch jene Instanz benannt sei, die gleichsam mit inneren Augen versehene Heimstatt des Gewissens sei und
|| 86 Fausti epistula ad Ruricium 3 [=10], 3–8: Gratias Domino, qui id generali dispensatione largitus est, ut inter eos, quos locorum interualla discriminant, liber ac nullis conclusus absentiae legibus animus commearet nihilque esset tam inpenetrabile, quod mentis aspectibus non pateret, sed per cordis intuitum inde se inuicem cari gratia intercurrente conspicerent, ubi caritas ipsa consistit („Dank sei Gott, der dieses Geschenk grundsätzlich allen zugänglich gemacht hat, dass sich der Geist zwischen denen, die räumliche Distanz trennt, frei und ohne durch die Bedingungen der Trennung eingeschlossen hin und her bewegen kann und nichts so undurchdringlich ist, das dem Anblick des Geistes nicht offenstünde, sondern einander Zugetane sich so mit Hilfe der Gnade im Herzen wechselseitig anblicken können, wenn nur die Liebe selbst ihren festen Stand hat“). Zur Topik der präsenzstiftenden Wirkung von Briefkommunikation mit einschlägigen Belegen sowie mit Hinweisen auf deren christliche Weiterentwicklung, die sich in einer besonderen Fokussierung auf das Herz als Wahrnehmungsinstanz artikuliert, vgl. Neri (2011) 381f. ad loc. Die Wendung locorum interualla hat ihre Vorprägung in einer vergleichbaren Formulierung bei Cic. fam. 1,7,1, die bereits von Ambr. epist. 37,4 aufgegriffen wurde. 87 Fausti epistula ad Ruricium 3 [=10], 39–45: Praelatis itaque obsequiis quaeso, ut, cum se facultas opportuna praebuerit, gaudere nos de uestra sospitate ac proprietate faciatis. Pro filiis et diaconibus meis uberes refero gratias, domnam filiam meam religionis speculum et pietatis exemplum debito cultu ueneratus saluto. Dominus Deus noster magnificandam mihi bonitatem uestram et praesentibus repleat bonis et dignam reddat aeternis, domine deuinctissime et honore praecipuo specialiter excolende fili („Nachdem ich euch somit meiner Ehrerbietung versichert habe, bitte ich, dass ihr mir, wenn sich eine günstige Gelegenheit dazu ergibt, zu meiner Freude Kenntnis davon gebt, gesund und wohlbehalten zu sein. Für meine Zöglinge und meine Diakone entbiete ich reichen Dank und ich grüße eure Gattin, meine Tochter, Spiegel eines gottgefälligen Lebens und Beispiel der Frömmigkeit, indem ich ihr die gebührende Ehrerbietung erweise. Unser Herr und Gott erfülle Euren mir rühmenswerten Edelmut mit irdischen Gütern und mache euch würdig für die himmlischen, mir aufs engste verbundener Herr und mit herausragender Hochachtung in besonderem Maße zu verehrender Sohn“); zur Beziehung zwischen Einleitung und Abschluss des Briefes s. Neri (2011) 386. Einen ähnlichen Abschluss weist bereits der vorangehende Brief 2 [=9] auf; zu den dort angesprochenen Personen s. den Kommentar von Neri (2011) 380. Demgegenüber schließt der erste Brief des Faustus an Ruricius mit einer nur sehr knappen Grußadresse (Fausti epistula ad Ruricium 1 [=8], 31f.).
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dem Menschen auf diese Weise helfe, das eigene Leben mit Blick auf das jüngste Gericht und dessen Normen auszurichten.88 Aus der protreptisch akzentuierten Überzeugung, dass Ruricius diese inneren Augen sicherlich beständig am Willen Gottes als des höchsten Richters ausrichten werde, leitet er daraufhin einige in Form von Wünschen formulierte Weisungen an seinen Adressaten ab, sich von den irdischen Verpflichtungen zu lösen, diese zu verachten und mit Gebet und Fasten das Streben auf die himmlischen Dinge zu richten, um für sich das ewige Leben zu gewinnen.89
|| 88 Fausti epistula ad Ruricium 3 [=10], 8–16: Habet siquidem et interior noster oculos suos, quibus se conscientiae testis introspicit, quibus in se conuersus aut erubescenda aut gaudenda considerat, quibus diem ultimum peruidet, quibus uel confusibilem uel Deo tribuente laudabilem uitae totius historiam ante animae suae faciem prouida in futurum cogitatione disponit et in praesentiam trepidae sollicitudinis tempus reddendae rationis adducit et ea, quae parauit Deus diligentibus se, in secreta pectoris sui pagina spe imaginante depingit („Freilich hat auch unser Inneres seine Augen, mit denen es sich als Zeuge des Gewissens prüft, mit denen es in sich gekehrt entweder Schändliches oder Erfreuliches betrachtet, mit denen es den jüngsten Tag in den Blick nimmt, mit denen es die entweder verworrene oder, wenn Gott will, lobenswerte Geschichte des ganzen Lebens vor das Gesicht seiner Seele in vorausschauendem Gedanken an die Zukunft ausbreitet und im Hinblick auf die Gegenwart mit ihren Sorgen und Verwirrungen eine passende Gelegenheit, Rechenschaft abzulegen, bietet und das, was Gott denen bereitet, die ihn lieben, auf eine verborgene Seite seines Herzens durch die Vorstellungskraft der Hoffnung malt“). 89 Fausti epistula ad Ruricium 3 [=10], 17–30: Quos, ut puto, oculos et ipse ad tremendi iudicis nutum semper adtollis, ut de te illud propheticum merito dici possit: Sapientis oculi in capite eius. Inde est, habeo enim illic, filius meus, proditores tuos, inde est, inquam, quod praesentium rerum relinquenda subsidia quasi auidus fenerator per pretia captiuorum in sinu remuneratoris seminantis more commendas, de usu proprietatem facis et in perennes thesauros peritura conuertis. Inde est, quod cum fidelissima Sarra tua sub uno Christi iugo ad communem tendens coronam terrenorum despector et caelestium conpetitor, saeculi peregrinus et paradisi candidatus mundo huic, qui iam non habet, unde decipiat uel seducat, miles Christi secretus inludis. Cum regni interminabilis socia ieiuniis et orationibus et quadam fidei manu ianuam uitae pia coniuratione pulsatis, ut duplicem palmam de mutua salute capiatis („Diese Augen erhebst auch du selbst, meine ich, stets zum Wink des schrecklichen Richters, sodass über dich zu Recht jenes prophetische Wort gesagt werden kann: Der Weise hat seine Augen in seinem Kopf. Daraus folgt, mein Sohn, dass ich von daher deine Verräter vor Augen habe, daraus folgt, sage ich, dass du die Mittel deines aktuellen Besitzes, die es zurückzulassen gilt, wie ein begieriger Wucherer um des Lohnes für die Gefangenen willen nach Art eines Sämannes dem Schoß desjenigen, der es vergelten kann, anvertraust; durch ihren guten Gebrauch verschaffst du dir Besitz und verwandelst das Vergängliche in einen ewigen Schatz. Daraus folgt, dass du, zusammen mit deiner treuesten Sahra unter dem einen Joch Christi nach der gemeinsamen Krone strebend, als Verächter der irdischen und Bewerber um die himmlischen Dinge, als Fremder in der Welt und Kandidat für das Paradies wie ein Soldat Christi im Verborgenen diese Welt, die inzwischen nichts mehr hat, womit sie dich täuschen und verleiten kann, verlachst. Zusammen mit
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Mit dem Verweis auf Gott als Richter, der über das irdische Verhalten jedes Menschen Gericht halten wird und damit den Eintritt ins ewige Leben reguliert, erhalten Faustus’ Ratschläge eine neue Dimension an Relevanz und Konsequenz.90 Gleichzeitig greift er in dem Brief aber auch in besonderem Maße auf einschlägige Höflichkeitsformen aristokratischer Korrespondenz zurück. Wie in keinem anderen der bisher vorgestellten Schreiben ist Faustus hier somit bestrebt, kenntlich zu machen, dass er seine Beziehung zu Ruricius im Rahmen der Gemeinschafts- und Kommunikationskultur poströmischer Aristokraten verstanden wissen will, und federt auf diese Weise deren hierarchische Komponente ab, die hier durch die Direktheit, mit der er seine Mahnungen formuliert, sowie durch seine Anspielung auf die jenseitigen Konsequenzen ihrer Nichtbeachtung ebenfalls außergewöhnlich deutlich hervortritt. Gerade wegen dieser beiden charakteristischen Aspekte und ihres prononcierten Kontrasts kann Faustus’ dritter Brief gleichsam als Zeugnis für den kommunikativen Alltag der beiden Korrespondenzpartner gelesen werden, insofern nicht nur die ihn zu Beginn und Abschluss prägende Funktion des Grußes und der Beziehungspflege über die räumliche Distanz hinweg Vertrautheit indiziert, sondern auch der Befund, dass Faustus seine Weisungen unumwunden und ohne höfliche Distanz vorbringen zu können glaubt. Letztlich dienen somit auch diese dazu, die Verbundenheit der beiden Briefpartner untereinander zu betonen und zu stärken: Das in der antiken Briefkommunikation zentrale Element, sich der wechselseitigen Zuneigung zu vergewissern, wird hier unter christlichen Vorzeichen durch die Sorge um das Seelenheil des Korrespondenzpartners ergänzt und auf diese Weise um eine existentielle Dimension erweitert.91 Die beiden letzten erhaltenen Korrespondenzstücke unterscheiden sich von den drei vorangehenden nicht nur durch ihre Kürze, sondern auch dadurch, dass sie nach Ruricius’ Akklamation zum Bischof von Limoges datieren.92 Dies
|| deiner Gefährtin für das Königreich, das kein Ende hat, klopft ihr durch Fasten und Beten und gleichsam mit der Hand des Glaubens in frommer Gemeinschaft an die Tür des Lebens, damit ihr den doppelten Siegespreis für euer wechselseitiges Heil erlangt“). 90 Vgl. Fausti epistula ad Ruricium 3 [=10], 17 im Zitat in Anm. 89. In diesem Zusammenhang verweist Neri (2011) 385 ad loc. mit einschlägigen Belegen auf die doppelte Bedeutung von sospitas in der Einleitung von Faustus’ abschließendem Gruß (vgl. Fausti epistula ad Ruricium 3 [=10], 40 im Zitat in Anm. 87), das im christlichen Kontext neben dem körperlichen Wohlergehen auch das jenseitige Heil miteinschließt. 91 Vgl. hierzu auch den Abschnitt Fausti epistula ad Ruricium 3 [=10], 31–38. 92 Mathisen (1999) 103 und Neri (2011) 387 und 392 datieren beide Briefe um das Jahr 485, mithin unmittelbar nach Faustus’ Rückkehr aus seinem Exil und Ruricius’ Akklamation zum
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wird zuallererst im Protokoll der beiden Briefe, aber auch durch entsprechende Hinweise in diesen selbst erkennbar.93 So präsentiert sich das vierte an Ruricius gerichtete Schreiben des Faustus zwar einmal mehr als Freundschafts- und Grußadresse,94 in die der Absender am Ende erneut den ihm unterstehenden Klerus integriert.95 Diese ist jedoch nicht wie im vorangehenden Brief durch eine Sequenz von Mahnungen begleitet, mit denen er die eingeschlagene Lebensweise seines Adressaten weiter zu festigen sucht, sondern durch die Bitte, sich eines namentlich nicht näher bezeichneten Mannes anzunehmen, der nach einem Gefängnisaufenthalt der Hilfe bedürftig zu sein scheint.96 Als einem antiken Freundschaftsbrief affines Element unterstreicht dabei die Empfehlung,97
|| Bischof von Limoges; vgl. Mathisen (1999) 33–35 für eine historische Rekonstruktion von Ruricius’ Episkopat. 93 Das Protokoll von Fausti epistula ad Ruricium 4 [=11], 2f. spricht Ruricius mit der Wendung excolendus frater episcopus an, jenes des folgenden Briefes (5 [=12], 2–3 mit dignissimus frater episcopus. Im ersten der beiden Briefe folgt am Ende des ersten Abschnitts eine erneute, die Wertschätzung nochmals stärker zum Ausdruck bringende Anrede (4 [=11], 9f.; s. hierzu den Abschluss des Zitats unten in Anm. 102). 94 Vgl. zum Verständnis dieses Briefes als Freundschaftsgeschenk ebd., 11f.: His itaque caritatis inexsolubilem pensionem, qua soluentis magis census ditatur, exhibeo […] („Daher leiste ich hiermit die unauflösbare Zahlung der Zuneigung, durch die der Besitz des Zahlenden noch mehr bereichert wird“); vgl. zur Stelle Neri (2011) 388. 95 Fausti epistula ad Ruricium 4 [=11], 23–27: Conserui mei, praecipue admirator uester frater meus, presbyter Memorius, mecum reuerentissime sospitant. Dominus Deus noster memorem mei piam beatitudinem uestram ecclesiae suae profectibus felici longaeuitate conseruet, domine beatissime et summo mihi honore ante omnes singulariter excolende frater („Meine Mitdiener, vor allem mein Mitbruder, der Priester Memorius, euer Verehrer, grüßen zusammen mit mir in ergebenster Weise. Unser Herr und Gott möge eure fromme Seligkeit im Gedenken an mich mit glücklicher Langlebigkeit bewahren für den Fortschritt seiner Kirche, glücklichster Herr und mir vor allen anderen mit höchster Hochachtung in einzigartiger Weise zu verehrender Bruder“). Die abschließende Anrede nimmt jene am Ende des ersten Abschnitts des Briefs wörtlich wieder auf (s. unten Anm. 102; vgl. Neri [2011] 390 ad loc.). Das Gleiche ist im folgenden Brief 5 [=12] zu beobachten (vgl. ebd., 2 mit ebd., 30). 96 Fausti epistula ad Ruricium 4 [=11], 11–22; zur möglichen Problemlage des Empfohlenen, der zudem auch der Überbringer des Briefs ist (ebd., 16: harum portitori), sowie zu den Indizien, dass Faustus ihn deswegen Ruricius anempfiehlt, weil dieser über gute Kontakte zu den herrschenden Goten verfügt haben könnte, s. Neri (2011) 389 ad loc. sowie Mathisen (1999) 39f. grundsätzlich über Ruricius’ Verhältnis zu den Goten; vgl. Mathisen (1993) 98–102 über die verschiedenen Funktionen und Verpflichtungen, die den Bischöfen im spätantiken Gallien für die lokale Bevölkerung ihres Bischofssitzes zukamen. 97 In der Tat schließt Faustus sein Anliegen im gleichen Satz unmittelbar an seine Freundschaftsbekundung gegenüber Ruricius an (Fausti epistula ad Ruricium 4 [=11], 12f.: […] et materiam boni operis ingerere pro laborantum commendatione praesumo („[…] und ich wage es, um
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sich eines in Not geratenen Dritten anzunehmen, nicht nur generell die Verbundenheit der beiden Korrespondenzpartner untereinander,98 sondern sie betont auch deren Kollegialität im bischöflichen Amt, indem sie auf die gemeinsame Verpflichtung gegenüber den ihnen unterstehenden Gläubigen verweist. Tatsächlich stellen litterae commendationis einen rekurrenten Brieftypus in den Korrespondenzen zwischen den allesamt das Bischofsamt bekleidenden Bildungsaristokraten im spätantiken Gallien dar, welcher stets auch als Verweis auf das gute Verhältnis der jeweiligen Korrespondenzpartner zueinander verstanden werden sollte.99 Entsprechend versteht Faustus seinen Verweis auf die Barmherzigkeit, die er für den Ruricius anempfohlenen Menschen erbittet, auch nicht als Aufforderung an seinen Adressaten, sein christliches Tugendprofil im Sinne eines persönlichen Entwicklungsprozesses zu vervollkommnen, sondern als Erinnerung an ein für einen Verantwortungsträger der Kirche angemessenes Verhalten,100 an die er freilich die beruhigende Gewissheit anschließt, dass Ruricius ohnehin für sein Wohlwollen bekannt sei.101 Dieses Lob, mit dem || ein gutes Werk zu tun, einen Vorstoß in Richtung der Empfehlung Leidender zu machen“]). Dem Zitat geht das Zitat in Anm. 94 unmittelbar voraus. 98 Vgl. Neri (2011) 388 ad loc. mit Verweisen auf die einschlägige Forschungsliteratur zur Nähe zwischen diesem Typus und dem Freundschaftsbrief. 99 Allgemein zu Fortleben und Funktion der litterae commendaticiae im Gallien des 5. bis 7. Jh.s mit einschlägigen Beispielen sowie mit einleitendem Rückblick auf die Vorbilder in klassischer Zeit s. Furbetta (2015); vgl. auch Plautera (1977) für eine Typologie des Empfehlungsbriefes von Cicero bis Fronto, Cotton (1981) für einen Überblick über Empfehlungsbriefe der Alltagskommunikation aus der Kaiserzeit sowie Cugusi (1989) 397 für eine Typologie des antiken Empfehlungsbriefes; zur gemeinschaftsstiftenden Bedeutung gemeinsamer episkopaler Verpflichtungen vgl. Mathisen (1993) 102f. 100 Fausti epistula ad Ruricium 4 [=11], 13–17: Quasi insinuationem meam ad fructum uestrum pertinere confido et ideo misericordiam, quam miseris ecclesiastica praebere consueuit humanitas harum portitori, qui in Lugdunensi pertulit captiuitatem, negare non potui („Ich vertraue, dass meine Empfehlung gleichermaßen zu eurem Vorteil ist, und deshalb konnte ich das Erbarmen, das die Menschenfreundlichkeit der Kirche den Elenden zu gewähren pflegt, dem Überbringer dieses Briefes, der in Lyon Gefängnishaft ertragen hat, nicht abschlagen“). Vgl. Furbetta (2015) 353 mit Verweis auf Aug. epist. 151,2, wo die Empfehlung Bedürftiger als dem Bischofsamt zukommende moralische Pflicht benannt wird. 101 Fausti epistula ad Ruricium 4 [=11], 20–22: […] praelatis officiis quaeso, ut morem benignitatis uestrae etiam in huius consolatione teneatis et apud antepositos, quo poposcerit, litteris prosequaris („Nachdem ich meine Ehrerbietung geleistet habe, bitte ich, dass ihr eure wohlwollende Art auch zu seiner Tröstung einsetzt und durch einen Brief bei seinen Entscheidungsträgern zu erreichen sucht, worum er ersucht“). Am Beispiel von Ruric. epist. 2,12 arbeitet Furbetta (2015) 353–355 zum einen die Bedeutung wechselseitiger Empfehlungsbitten für Freundschaftsbekundung und Kohäsion der gallorömischen Eliten und zum anderen als Ausweis, den moralischen Verpflichtungen des Bischofsamts gerecht zu werden, heraus.
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Faustus seinen Adressaten einmal mehr für sein Anliegen geneigt machen möchte, lässt diesen abschließend deutlich als jemanden erscheinen, der keiner Belehrung mehr bedürftig ist, weil er zentrale christliche Eigenschaften ohnehin schon erfolgreich verinnerlicht hat. An die Stelle des Ermahnungen auf dem Weg einer Konversion zur vita religiosa bedürfenden und einfordernden Schülers tritt hier der gleichberechtigte und in seinem vorbildlichen Verhalten nicht zu hinterfragende Amtsbruder,102 gegenüber dem die Erwähnung spezifisch christlicher Haltungen auf die Versicherung der gemeinsamen Normenbasis zielt und damit der Pflege einer Beziehung dient, die tragfähig genug ist, sich bei deren Realisierung zugunsten Bedürftiger wechselseitig um Unterstützung ersuchen zu dürfen. Diese auf Ruricius’ Akklamation zum Bischof von Limoges zurückzuführende Veränderung der Kommunikationssituation erlaubt es Faustus schließlich auch, die Überlegenheit und Souveränität, die seine Rolle gegenüber seinem Adressaten bis dahin bestimmt hat, aufzugeben. Hiervon gibt das fünfte und letzte erhaltene Stück des Briefwechsels ein Beispiel, das in seiner zweiten Hälfte erneut um Unterstützung für eine in Not befindliche Person ersucht.103 Eingangs formuliert
|| Vor diesem Hintergrund werde das klassische Beziehungsverhältnis zwischen patronus und cliens durch jenes zwischen pastor bonus und einfachem Gläubigen, der in Not geraten ist, ersetzt, welches seinerseits nach Art der affektiven Beziehung zwischen Vater und Sohn modelliert wird. 102 In der Tat beginnt der Brief mit einer ausladenden Lobsequenz auf Ruricius’ barmherzige Haltung, die Würdigung und captatio benevolentiae für das sodann formulierte Anliegen in einem ist (Fausti epistula ad Ruricium 4 [=11], 4–10): Tanta mihi de animi uestri benignitate fiducia est, ut ex eius fonte purissimo non iam solus haurire contentus sim, sed alios quoque, qui eius usu mecum reficiantur, inuitem, praesertim cum prorogata huius largitas in lucrum transeat largientis eiusque bono ita muneretur accipiens, ut non minoretur inpertiens et in morem fenoris sui crescat expensis, domine beatissime et summo mihi honore ante omnes singulariter excolende („Ich habe so großes Vertrauen in die Güte eures Herzens, dass ich nicht mehr nur damit zufrieden bin, allein aus ihrer reinen Quelle zu schöpfen, sondern auch andere dazu einlade, die zusammen mit mir durch ihren Gebrauch erfrischt werden, zumal da lang andauernde Freigebigkeit sich in Gewinn für den Schenkenden verwandelt und der Empfänger durch seine Wohltat auf solche Weise beschenkt wird, dass der, der sie leistet, keinen Verlust erleidet und nach Art einer Verzinsung durch seine Aufwendungen reicher wird, glückseligster und mir in höchster Hochachtung vor allen anderen in einzigartiger Weise zu verehrender Herr“); vgl. zur Stelle auch Mathisen (1999) 103. 103 Fausti epistula ad Ruricium 5 [=12], 21–24: Harum autem portitorem sanctum presbyterum Florentium mihi iam diu cognitum et exemplis magistri et morum floribus adornatum, quoniam pro germanae suae absolutione peregrinatur, insinuo, qui mihi opportunum gratus mediator ingessit („Ich empfehle dir aber den Überbringer dieses Briefes, den heiligen Priester Florentius, der mir schon seit Langem bekannt und den das Vorbild seines Lehrers und ein glänzender
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es allerdings ausladend und stilistisch aufwändig gestaltet Faustus’ Dank an Ruricius für dessen Solidarität und Beistand während seines Exils,104 wodurch der zum Leben in der Fremde gezwungene Bischof von Riez bei seinem Briefpartner eine alternative Heimat gefunden habe.105 Das Lob auf die lindernde Wirkung, die Ruricius’ Treue zu entfalten vermocht habe, dient im weiteren Argumentationsgang des Briefs sodann dazu, Ruricius’ Aufstieg ins Bischofsamt, auf den der Brief im Folgenden anspielt, als Konsequenz und Gegengabe Gottes für sein Verhalten gegenüber Faustus zu inszenieren. Dabei lässt er Ruricius’ Beistand während seines Exils als indirekten Beleg für dessen erfolgreiche Adaptation der vita religiosa erscheinen, wodurch er suggeriert, dass die soeben erlangte hohe geistliche Würde letztlich als Belohnung für den konsequent durchlaufenen Konversionsprozess zu deuten sei.106 Indem er auf diese Weise
|| Charakter ziert, da er für die Freisprechung seiner Schwester unterwegs ist; er hat mir diese Gelegenheit als dankbarer Mittler angetragen“). Das Hilfegesuch bezieht sich offensichtlich auf die Schwester des Briefboten Florentius; vgl. Neri (2011) 394 ad loc.; zur Funktion dieses und des vorangehenden Briefes als Empfehlungssschreiben im Horizont von Sidonius Apollinaris’ Lob auf den Bischof von Riez in dessen Eucharisticon ad Faustum episcopum vgl. Barcellona (1997) 779. 104 Zur Datierung des Exils vgl. oben Anm. 80. 105 Fausti epistula ad Ruricium 5 [=12], 4–12: Gratias ad uos, dum uobis de patria scribimus, qui nobis patriam in peregrinatione fecistis, qui indefessa liberalitate patriae desideria temperastis uim quandam diuinae iustitiae succedentibus sibi beneficiis inferentes, ut, quod intulerat ad castigationem, conuerteret ad honorem, conferret ad consolationem, mutaret ad requiem, merita nostra praetermitteret, ut uestra cumularet, debita obliuiscens et lucra uestra multiplicans, apud utrasque partes magnitudinem suae bonitatis exercens nos uestro locupletaret obsequio, uos nostro ditaret exilio („Dank sei euch, da ich euch aus der Heimat schreibe, dass ihr uns Heimat während unserer Wanderschaft gewährt habt, der ihr in unermüdlicher Freigebigkeit die Sehnsucht nach der Heimat gelindert habt, indem ihr uns damals die Macht der Gerechtigkeit Gottes, Wohltat an Wohltat reihend, erwiesen habt, sodass sich das, was mir zur Züchtigung auferlegt worden war, in Ehre verwandelt, zur Tröstung beigetragen und sich in Ruhe verwandelt hat; mein Exil hat meine Verdienste übergangen, damit es eure vermehrt, dabei unsere Schulden vergessend und euren Lohn vermehrend, und indem es auf beiden Seiten die Größe seiner Güte erwiesen hat, uns durch eure Willfährigkeit und euch durch unser Exil bereichert hat“). Zu den topischen Elementen dieser ausladenden Danksagung s. Neri (2011) 391f. ad loc. 106 Fausti epistula ad Ruricium 5 [=12], 12–20: Vnde factum est, ut iam in praesenti benedictionem futurorum inpatiens dispensaret et fidelissimum famulum suum super candelabrum domus suae cooperante misericordia, iustitia, sinceritate, continentia, benignitate, id est domesticis suffragatoribus sublimaret. Ecce quali pretio Ruricius meus summum sacerdotium conparauit. Vnde emit, ipsum est, quod emit, et testibus propriis adclamantibus in se honoris causas refugia honoris exhibuit. Tantum itaque munus scit in Christi nomine custodire, qui sciuit adquirere („Von daher ist es geschehen, dass er ungeduldig bereits in der Gegenwart die Wohltaten der Zukunft ausgeteilt hat und seinen zuverlässigsten Diener über den Leuchter seines Hauses
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ganz verhalten auch auf seine Mentorenrolle für Ruricius anspielt, deutet er nicht nur an, dass diese nun ihr Ziel erreicht habe, sondern er macht dessen klerikalen Karrieresprung auch als Erfolg seines Engagements und damit auch als Würdigung seines Wirkens lesbar. Dass Ruricius’ Aufstieg zum Bischof von Limoges, der hier als Folge seiner geistlichen Unterweisung durch Faustus wahrnehmbar werden soll, eine Veränderung im Rollenverhältnis der beiden Korrespondenzpartner möglich macht, tritt im Vergleich mit jenem zweiten Brief nochmals deutlicher zutage, in dem dessen Exil schon einmal Thema gewesen ist. Während Faustus dort, wie gesehen, bemüht war, dieses als Chance zur eigenen spirituellen Weiterentwicklung zu deuten und vor diesem Hintergrund gegenüber Ruricius keinen Zweifel aufkommen zu lassen, dass der Verlust der Heimat seine Rolle als geistliche Autorität und also als Zentrum eines Netzwerks von Adepten der vita religiosa beschädigen könne, erlaubt er sich hier, einen anderen Einblick in die Zeit seiner Verbannung zu gewähren, welcher von Einsamkeit und Trostbedürftigkeit zeugt. Anlass hierfür dürfte freilich nicht nur gewesen sein, dass er von dieser Lebensphase inzwischen im Rückblick berichten kann, sondern ganz offensichtlich auch die sich inzwischen eingestellte Ranggleichheit der beiden Korrespondenzpartner, die einerseits eine besondere Betonung seiner geistlichen Autorität nicht mehr notwendig macht und auf der anderen Seite gleichsam ein Fundament stiftet, um ohne Gesichtsverlust gegenüber seinem Gesprächspartner auch einmal die Rolle des Schwächeren einnehmen zu können. Die fünf erhaltenen Briefe porträtieren somit keine statischen Rollen, sondern ein dynamisches Verhältnis der beiden Korrespondenzparter zueinander. So reflektieren die ersten drei Schreiben, dass Faustus die von Ruricius erbetene Aufgabe eines Lehrers und Begleiters auf dem von ihm eingeschlagenen Konversionsweg zur vita religiosa aufgegriffen und erfüllt hat.107 Dabei porträtieren
|| unter Mitwirkung der Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Aufrichtigkeit, Enthaltsamkeit und Güte, das heißt, durch seine persönlichen Fürsprecher, erhoben hat. Siehe, durch welchen Preis sich mein Ruricius das höchste Priesteramt erworben hat. Sein Kaufpreis ist identisch mit dem Kaufgegenstand und er hat sich, wie seine persönlichen Zeugen bestätigen, die Flucht vor der Würde zur Ursache für den Erhalt der Würde gemacht. Ein so großes Geschenk weiß daher der im Namen Christi zu bewahren, der es sich zu erwerben wusste“); zur gleichsam topischen Ablehnung des Bischofsamts durch den für dieses Ausersehenen s. Neri (2011) 393f. ad loc. mit weiteren einschlägigen Testimonien u.a. in Bezug auf Martin von Tours und Ambrosius von Mailand; zur Akklamation durch lokalen Klerus und Volk als vorgegebenem Verfahren für die Ernennung eines Bischofs sowie zu den rekurrenten Abweichungen davon s. ebd., 392f. ad loc. 107 Zum weiteren Kontext der in diesen Briefen zum Ausdruck kommenden pastoralen Tätigkeit des Faustus und deren Bezügen zur auf Lérins praktizierten asketischen Spiritualität s.
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sie unterschiedliche Selbstmodellierungen ihres Absenders, welche zum einen auf eine Entwicklung seiner Beziehung zu seinem Adressaten hindeuten und zum anderen Einblick in die biographischen Rahmenbedingungen seines Austauschs mit diesem gewähren. Präsentiert sich in der ersten Epistel der souveräne Lehrer, der in zwar betont höflicher und zurückhaltender, aber nichtsdestoweniger programmatischer Weise die Koordinaten eines asketischen Lebens skizziert, diese theologisch fundiert und Empfehlungen für deren kluge Realisierung gibt, befleißigt er sich in der dritten eines freundschaftlicheren und gleichzeitig routinierteren, aber auch deutlicheren Tonfalls, welcher eine inzwischen stärkere Vertrautheit der Korrespondenzpartner suggeriert und damit als Ausdruck einer bereits fortgeschrittenen Phase ihrer Lehrer-Schüler-Beziehung zu werten sein dürfte, in der sich die daraus resultierende Hierarchie zwischen den beiden bereits abgeflacht hat. Im dazwischenliegenden Brief lässt sich Faustus vor dem Hintergrund seines Exils, das hier erstmals als biographischer Hintergrund seiner Korrespondenz mit Ruricius erkennbar wird,108 zum einen als Stifter und Mittelpunkt einer sich kontinuierlich vergrößernden asketischen Bewegung und zum anderen als Modell der damit verbundenen Lebensform erscheinen, indem er die Erfahrung des Heimatverlusts als Gelegenheit zur Selbstprüfung und persönlichen Weiterentwicklung für sich positiv umzudeuten weiß. Ruricius’ fortdauernde Unterweisung wird hier somit ergänzt durch das Porträt des auch in seiner Lebenspraxis vorbildlichen Lehrers und der asketischen Autorität für eine maßgeblich von ihm gestiftete und beständig wachsende Bewegung, als welche ihn Ruricius in seinen beiden Briefen angesprochen hat. Mag diese Selbstmodellierung im letzten auch der Sorge geschuldet sein, dass durch den Verlust seines Bischofssitzes gerade jene zentrale Rolle innerhalb der von ihm angestoßenen asketischen Netzwerke gefährdet sein könnte, die er in dem Brief ebenso geschickt wie deutlich hervorhebt, führt diese trotzdem vor allem das Bild des souveränen Lehrers und überzeugenden Vorbilds ergänzend weiter aus, dem in unterschiedlicher Nuancierung auch der erste und der dritte Brief zuarbeiten. Indem die letzten beiden Briefe Ruricius’ Aufstieg ins Bischofsamt reflektieren, führen sie die Skizzierung einer biographischen Entwicklungslinie im Hin-
|| Nürnberg (1988) 222–244; vgl. auch Gioanni (2004) 532–536 für einen allgemeinen Blick auf die pastorale Indienstnahme von Briefen in der gallischen Epistolographie an der Wende vom 5. zum 6. Jh. 108 Nach Mathisen (1999) 102, Anm. 4 lässt sich auch in Fausti epistula ad Ruricium 3 [=10], 13f. (in praesentiam trepidae sollicitudinis) eine Anspielung auf Faustus’ Exil bzw. die dahinterstehende Herrschaft des Eurich erkennen; vgl. das Zitat oben Anm. 88.
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tergrund fort, welche sich bereits in den ersten drei Briefen wahrnehmen ließ. Der neue Rang des Adressaten artikuliert sich dabei zuallererst in einem inhaltlichen Wandel, insofern an die Stelle der Unterweisung die Empfehlung in Not befindlicher Menschen tritt. Die Dominanz dieses Themas ergibt sich daraus, dass dieses dem Repertoire epistolarer Freundschaftsbekundung zugehörig ist und auf diese Weise der sozialen Kohäsionsfunktion von Briefen Ausdruck verleiht. Es dokumentiert somit Faustus’ Einsicht, dass die neue Stellung seines Adressaten eine Veränderung des Kommunikationsstils nach sich ziehen muss, um ihrer Beziehung Dauerhaftigkeit zu verleihen. An die Stelle einer von Ratschlägen und Anweisungen geprägten hierarchischen Kommunikation, deren Dynamik und Fortbestand von Ruricius’ Konversionsinteresse garantiert wurde, tritt infolgedessen ein Korrespondenzstil, der bei der Formulierung eines Anliegens nicht nur in den Ton höflicher Zurückhaltung wechselt, sondern vom Verweis auf gemeinsame Amtspflichten auf der Basis eines übereinstimmenden karitativen Wertehorizonts begleitet wird, welcher von dem Bewusstsein zeugt, dass die Beziehung zwischen gleichrangigen Briefpartnern immer wieder neu zu begründen ist.109 Das Briefpaar spiegelt neben Faustus’ epistolographischer Kompetenz somit auch den konstitutiven Einfluss sozialer Hierarchien auf den Spielraum brieflicher Kommunikation wider. Dies wird insbesondere in Faustus’ erneuter Anspielung auf sein Exil im fünften Brief sichtbar, welche vom Dank an Ruricius’ Treue während dieser Zeit geprägt ist. Die Gleichrangigkeit der beiden Korrespondenzpartner verlangt Faustus somit nicht allein eine Neujustierung seiner Rolle und ihrer kommunikativen Realisierung ab, sondern sie schafft auch einen stabilen Rahmen, um im Rückblick ein Eingeständnis von Schwäche zu artikulieren. Ergänzen sich die beiden Briefe somit zu einem durchaus differenzierten Einblick in die Konsequenzen, die Ruricius’ Ernennung zum Amtsbruder des Faustus für ihren epistolaren Austausch gezeitigt hat, bleibt indes die Frage, warum jener fünfte Brief, der Ruricius’ Aufstieg ins Bischofsamt unmittelbar reflektiert und damit dem vierten Schreiben chronologisch voranzugehen scheint, in der Überlieferung nach diesem eingereiht worden ist.110 Eine Erklärung hierfür könnte sein, dass das gleichsam programmatische Aufgreifen der von Ruricius erbetenen Lehrerrolle in Faustus’ erstem Brief und dessen Glück-
|| 109 Zur Bedeutung von Briefkorrespondenz für die soziale Kohäsion gallorömischer Aristokraten in der Spätantike s. einmal mehr Mathisen (1981) 106. 110 Vgl. Mathisen (1999) 104, der den fünften Brief unmittelbar nach Faustus’ Rückkehr aus dem Exil datiert.
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wunsch für die Ernennung seines Adressaten zum Bischof von Limoges in seinem letzten eine bedeutungstragende Klammer um die kleine Sammlung bilden sollte. Die vorliegende Anordnung muss folglich nicht unbedingt auf einen unachtsamen Kompilator zurückgeführt werden, sondern sie kann bewusste Wahl sein, deren Ziel es war, unter ausnahmsweiser Abweichung von einer ansonsten biographisch lesbaren Reihung der kleinen Briefserie deren zwei zentrale Koordinaten sichtbar zu machen: Faustus’ Bereitschaft, Ruricius auf seinem Weg zur vita religiosa zu begleiten, sowie dessen Aufstieg zum Bischof von Limoges. In der Tat verbindet Faustus im fünften Brief seine Freude über den jüngsten Karriereschritt mit der Überzeugung, dass dieser als Geschenk Gottes für den inzwischen erfolgreich absolvierten Konversionsprozess zu verstehen sei, und stellt auf diese Weise einen unmittelbaren Bedingungszusammenhang zwischen den beiden zentralen Themen der kleinen Briefsammlung her. Vor diesem Hintergrund ergibt sich schließlich, dass die fünf Schreiben des Faustus trotz ihrer Anspielung auf seine Exilerfahrung als biographischen Hintergrund für seine geistliche Begleitung des Ruricius vor allem dessen Entwicklung und Faustus’ Beitrag zu dieser porträtieren wollen.
IV Indem sie den Fokus vor allem auf Ruricius’ Konversionsprozess zur vita religiosa und Faustus’ wichtige Rolle für dessen Gelingen legen, ergänzen die fünf erhaltenen Faustus-Briefe an Ruricius die zwei in seinem Briefwechsel überlieferten Schreiben an jenen in entscheidender Weise. Sie gewähren nicht nur Einblick in das Verhältnis der beiden aus der Perspektive des von Ruricius zum geistlichen Begleiter und Lehrer erwählten Faustus, sondern sie konturieren auch einen Prozess wechselseitiger Annäherung und infolgedessen eine allmähliche Abflachung der insbesondere von Ruricius scharf konturierten Rollenhierarchie, welche einen aus seinem zweiten Brief zu gewinnenden Eindruck fortführt und verstärkt. Schließlich lassen sie Ruricius’ Erwählung zum Bischof von Limoges über die entsprechende Interpretation in Faustus’ fünftem Brief als bedeutendste Folge seiner Entscheidung erscheinen, unter dessen Leitung ein Leben in Askese einzuüben. Die Bedeutung, die dem Konversionsprozess für die Biographie des Ruricius hier zugeschrieben wird, deutet letztlich auch der Ruricius-Briefwechsel selbst an, indem die zwei Schreiben an Faustus den Auftakt seines ersten Buches bil-
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den.111 Offensichtlich scheint es dem Arrangeur des Korpus darum gegangen zu sein, Ruricius’ durch Faustus wirksam angeleitete Konversion zur vita religiosa als zentrales Ereignis seiner Vita und entscheidenden Verständnishintergrund der nachfolgend dokumentierten Briefe zu profilieren.112 Durch dieses prominent platzierte Zeugnis für den modellhaften Übertritt eines gallorömischen Aristokraten zu einer am asketischen Ideal ausgerichteten Lebensweise erhält der Ruricius-Briefwechesel im Kreis der erhaltenen Korrespondenzen aus dem spätantiken Gallien nicht zuletzt ein deutlich eigenständiges Gepräge, das durch die fünf Faustus-Briefe, wie gesehen, erheblich an Profil gewinnt. Denn erst zusammen mit ihnen wird die ostentativ an den Beginn der RuriciusKorrespondenz gestellte Dokumentation seiner Entscheidung, den Weg zu einem Leben in Askese einzuschlagen, mit seinem Aufstieg zum Bischof von Limoges verknüpft und zu einem biographisch sinnfälligen Bogen verbunden.113 Es spricht somit einiges dafür, dass die fünf erhaltenen Briefe des Faustus an Ruricius deswegen im Kontext seines Briefwechsels überliefert wurden,114 und dies wahrscheinlich schon in Ruricius’ Archiv,115 weil sie ebendieses biographische Narrativ ermöglichten und infolgedessen das durch das spezifische Arrangement der Ruricius-Korrespondenz intendierte Porträt eines zur asketischen Lebensform konvertierenden gallorömischen Aristokraten und damit eines prominenten Vertreters und letztlich auch Werbeträgers jener von Faustus in seinem zweiten Brief angedeuteten Bewegung in erheblichem Maße unterstützten.116 Dabei entspricht es einer grundlegenden Strategie der mit der Zusammenstellung von Briefsammlungen traditionell bezweckten positiven Darstellung des Adressanten – und dies unabhängig davon, ob dieser oder ein
|| 111 Vgl. Mathisen (1999) 87. 112 Zur Komposition von antiken Briefsammlungen und deren Kriterien s. grundlegend Gibson (2009) sowie am Beispiel des ersten Buches der Sidonius-Korrespondenz Gibson (2013b). 113 Zur Bedeutung des Bischofsamts als Karriereoption für gallorömischen Aristokraten nach Auflösung der römischen Zentralgewalt s. Mathisen (1993) 89–104. 114 Zur Anordnung der fünf Faustus-Briefe an Ruricius als eigenständiges Korpus im Codex Sangallensis 190 s. die Bemerkungen oben in den Anm. 4 und 7 mit Verweis auf die einschlägige Literatur, insbesondere auf Mathisen (1998). 115 Vgl. Mathisen (1999) 71 sowie Mathisen (1998) 172f. (s. auch ergänzend dazu ebd., 177–181) und Mathisen (2018) 69–71, der die Zusammenstellung des Ruricius-Briefwechsels mit guten Argumenten auf dessen persönliches Archiv zurückführt, aus dem auch die fünf einschlägigen Faustus-Briefe ihren Weg in den Codex Sangallensis 190 gefunden haben werden (vgl. ebd., 74); zur Bedeutung von Archiven für Sammlung und Überlieferung spätantiker Briefe s. darüber hinaus Wood (2018) 45–53. 116 Zur Lesbarkeit von Briefsammlungen als selektive Autobiographie s. mit Blick auf Plinius Gibson/Morello (2012) 13–19 und Gibson (2013a).
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anderer für die Zusammenstellung verantwortlich zeichnet –, dass lobenswerte Aspekte in expliziter Weise eher über die Briefpartner Eingang in diese finden sollten.117 Dass den konstitutiven Zusammenhang zwischen Konversion und Episkopat im Horizont der Ruricius-Korrespondenz Faustus herstellt und damit den erfolgreichen Vollzug des von ihm angeleiteten Wandlungsprozesses impliziert, während die beiden Ruricius-Briefe sich darauf beschränken, den bescheidenen, sich seiner Sündhaftigkeit bewusstwerdenden und im Hinblick auf sein Anliegen hilfsbedürftigen Postulanten zu porträtieren und damit eine nur indirekte Würdigung ihres Adressanten vornehmen, dürfte vor diesem Hintergrund folglich als bewusste Entscheidung einer mit den Usancen epistolarer memoria-Bildung gut vertrauten Hand zu deuten sein. Das auf diese Weise zu erklärende Fehlen eines expliziten Hinweises auf die Ernennung zum Bischof von Limoges im Ruricius-Briefwechsel selbst hat in diesem freilich den Freiraum eröffnet, einen anderen Bogen zu schlagen, der das Bild des aufgrund seiner Konversion zu einer asketischen Lebensweise zum Bischof aufgestiegenen Aristokraten um einen dazu komplementären Aspekt ergänzt. Entscheidend hierfür ist einmal mehr die letzte Nummer, mithin der das erste Buch der Sammlung abschließende achtzehnte Brief, der an Ruricius’ Sohn Ommatius adressiert ist.118 In diesem entschuldigt sich der Absender zunächst für sein längeres Schweigen aufgrund zahlreicher anderweitiger Verpflichtungen, welche ihn indirekt als vielbeschäftigten Bischof porträtieren, um seinen Adressaten daraufhin in ausführlicher Weise zu ermahnen, unbeirrt und zielstrebig den bereits eingeschlagenen Pfad in Richtung einer vita religiosa fortzusetzen.119 Im Gestus des Vaters, der sich um das Seelenheil seines Sohnes
|| 117 Zur Möglichkeit indirekter Selbstdarstellung im antiken Brief am Beispiel der Sammlung des jüngeren Plinius s. beispielsweise Gibson (2003), Gauly (2008) und grundlegend Ludolph (1997). 118 Ruricius’ Sohn Ommatius dürfte vor 490 zum Priester ordiniert worden sein (vgl. hierzu Ruric. epist. 2,28, 2,58 und 2,59). Mathisen (1999) 131 datiert den Brief vor Ommatius’ Eintritt in den Klerikerstand. Neri (2009) 237 ad loc. datiert das Schreiben in die Zeitspanne zwischen 485 und 490 und geht davon aus, dass Ommatius zum Zeitpunkt des Briefs gerade in den Klerikerstand eingetreten war. 119 Ruric. epist. 1,18,3–15: Vt per Venerium dulcedini tuae non scriberem, non neglegentiae nec inputationis alicuius, sed occupationis fuisse cognosce. Vnde has per Amelium dedi, quibus salue plurimum dico et, ut propositi tui semper reminiscaris, admoneo. Nec animum tuum iam Deo dicatum aut a coepto itinere blandior uisus auocet aut modulatior corrumpat auditus aut dulcior gustus inficiat aut mollior sollicitet tactus aut suauior odoratus inliciat et per fenestras corporis mors intromittatur ad animam, sed neque stiuam tenens contra Domini sententiam retro respicias, ut directum lineae sulcus amittat, quin potius ita in eum, cui te ipso inspirante uouisti, omnibus sensibus inhies et corde defixus adhaereas, ut, cum te uel una praefatorum uitiorum inlex
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besorgt zeigt, gibt sich Ruricius somit allenfalls im Hintergrund über die Anspielung auf seine zahlreichen Verpflichtungen als kirchlicher Amtsträger zu erkennen und präsentiert sich stattdessen vor allen Dingen als Ratgeber und Wegweiser für die asketische Neuausrichtung seines Sohnes und damit in einer Rolle, die er im ersten Brief des Buches von Faustus von Riez für sich erbeten hatte.120 Aus dem um Weisung und Orientierung ersuchenden Lehrling eines am Ideal der Askese ausgerichteten Lebens ist hier ein Meister und Lehrer geworden, der inzwischen andere auf dem von ihn erfolgreich durchschrittenen Konversionsweg mahnend und unterstützend zu begleiten vermag.121 Komplementär zur biographischen Linie, welche die ersten beiden RuriciusBriefe im Verbund mit den fünf Faustus-Briefen zeichnen und die das Bischofsamt von Limoges als Kulminationspunkt des einst eingeschlagenen Konversionsprozesses zu einer asketischen Lebensweise erscheinen lässt, spannt das erste Buch der Ruricius-Korrespondenz über seine rahmenden Briefe einen Bogen von jener Lebensphase, in der Ruricius um Rat und Orientierung für die gewünschte Neuausrichtung seines Lebens ersucht, zu einer, in der er selbst
|| forma pulsauerit, fide firma et diuina meditatione munitum pectus adire non possit. Et, quamlibet in turbis positus esse uidearis, intrans in cubiculum cordis tui clauso ostio tuo Dominum orare non desinas, ut, qui uidet in occulto, dicat tibi, sicut sancto Moysi uociferanti ad se non uoce, sed corde dicebat: Quid clamas ad me? („Wisse, dass es weder Nachlässigkeit noch einer Verstimmung, sondern meiner Arbeitsbelastung geschuldet ist, dass ich dir, mein lieber Sohn, nicht vermittels Venerius geschrieben habe. Daher habe ich dir diesen Brief durch Amelius zukommen lassen, mit dem ich dich aufs Herzlichste grüße und dich ermuntere, dich stets an dein Vorhaben zu erinnern. Dein Geist, den du bereits Gott verschrieben hast, soll weder eine einschmeichelndere Erscheinung vom eingeschlagenen Weg abbringen noch ein wohlklingenderer Laut oder ein süßerer Geschmack anstecken noch eine zärtlichere Berührung erregen noch ein lieblicherer Duft verführen und der Tod soll durch die Fenster des Körpers keinen Einlass erhalten. Vielmehr solltst du, den Griff des Pfluges fest in der Hand, nicht gegen die Weisung des Herrn rückwärts blicken, damit die Furche ihren geraden Verlauf nicht verliert, und damit du vielmehr auf diese Weise mit allen Sinnen nach ihm begehrst und an ihm mit ganzem Herzen hängst, dem du dich auf seine eigene Anregung hin geweiht hast, damit die verführerische Gestalt eines der genannten Laster dann, wenn es anklopft, keinen Einlass in dein Herz erhält, weil es mit festem Glauben und Gedanken an Gott bewehrt ist. Und wie sehr es auch scheint, dass du dich inmitten von Verwirrung befindest, sollst du dich in das innerste Gemach deines Herzens zurückziehen, die Tür verschließen und den Herrn unablässig bitten, dass er, der auch das Verborgene sieht, zu dir spricht, wie er zum heiligen Moses sprach, der zu ihm nicht mit der Stimme, sondern im Herzen schrie: Was rufst Du mich?“). Die beiden zu Beginn des Briefs genannten Briefboten sind nicht näher bekannt; vgl. Mathisen (1999) 131 und Neri (2009) 237; das biblische Zitat ist Ex 14,15 entnommen; s. Mathisen (1999) 132. 120 Vgl. Mathisen (1999) 57. 121 Vgl. auch Alciati (2008) 76.
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zum Ratgeber für andere, die das gleiche Ziel erstreben, geworden ist.122 Zusammengenommen porträtieren das erste Buch des Ruricius-Briefwechsels und die fünf erhaltenen Briefe des Faustus an diesen Ruricius somit als eine Person, die nach ihrer Wandlung unter der Führung des Faustus von Riez nicht nur das gleiche hohe kirchliche Amt wie sein Lehrer und geistlicher Begleiter erwirbt, sondern diesem sodann auch als Autorität in asketischen Fragen nacheifert. Dabei erzählen sie nicht nur von der Beziehung zwischen dem Bischof von Riez und dem späteren Oberhirten von Limoges, sondern sie entwerfen für beide auch miteinander verwobene Rollen: jene des asketischen Modells sowie des Begründers und Förderers einer entsprechenden Bewegung für Faustus und jene des gelehrigen Schülers, der unter seiner Führung zum bischöflichen Amtsbruder und gleichzeitig selbst zum Propagator der vita religiosa avanciert, für Ruricius. Auf diese Weise überliefern die hier analysierten Briefe Ruricius als Beispiel eines gallorömischen Aristokraten, der sein Leben am Ideal der Askese ausgerichtet hat, und dokumentiert diese Lebensentscheidung gleichzeitig als Erfolg für die asketische Bewegung des Faustus von Riez.
Literaturverzeichnis 1. Editionen, Übersetzungen und Kommentare Demeulenaere, Roland (Hg.): Ruricii Lemovicensis epistularum libri duo. Accedunt: I. Epistulae ad Ruricium scriptae, II. Epistulae Fausti ad Ruricium, in: ders. (Hg.): Foebadius, Victricius Leporius, Vincentius Lerinensis, Evagrius, Ruricius, Turnhout 1985 (CCSL 64), 303–415. Mathisen, Ralph W. (Üs.): Ruricius of Limoges and Friends. A Collection of Letters from Visigothic Gaul, translated with introduction, commentary and notes by R.W.M., Liverpool 1999 (Translated Texts for Historians 30). Micaelli, Claudio: Fausto di Riez, Lo spirito santo, Rom 1997. Neri, Marino (Hg.): Ruricio di Limoges, Lettere, Pisa 2009 (Pubblicazioni della Facoltà di Lettere e Filosofia dell’Università di Pavia 122). Neri, Marino (Hg.): Dio, l’anima e l’uomo. L’epistolario di Fausto di Riez, Rom 2011.
2. Sekundärliteratur Alciati, Roberto: Ruricio novella Sidonio? Costituzione e trasmissione del suo epistolario tra tarda antichità e alto medioevo, in: Gioanni, Stéphane; Grévin, Benoît (Hgg.): L’antiquité
|| 122 Zur Vermutung, dass das erste Buch der Ruricius-Korrespondenz Ergebnis einer planvollen Zusammenstellung ist, s. Mathisen (1999) 56f.
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Johanna Schenk
Der Bischof als Rhetor, oder: Wie reagiert man auf ‚rufschädigende Gerüchte‘? Zu Alc. Avit. epist. 57P Zu Beginn des vierten Buchs der Aeneis beschreibt Vergil die Göttin Fama unter anderem mit den folgenden Versen: Fama, malum qua non aliud uelocius ullum: mobilitate uiget uirisque adquirit eundo, parua metu primo, mox sese attollit in auras ingrediturque solo et caput inter nubila condit.1
Vergils Darstellung thematisiert eine Erfahrung im Zusammenhang mit Gerüchten, die wohl die meisten Menschen schon gemacht haben: die Schnelligkeit und Unauffälligkeit, mit der sie sich verbreiten und durch die sie sich jeglicher Kontrolle entziehen.2 Einmal geäußert, können sie kaum noch aufgehalten werden. Damit stellt sich ganz allgemein die Frage nach dem Umgang mit ihnen, insbesondere, wenn sie eine Gefahr für das eigene Prestige bedeuten. Mit einem solchen Problem ist Bischof Avitus von Vienne in seiner epist. 3 57P konfrontiert: Es ist offensichtlich der rumor aufgekommen, er habe bei der Aussprache einer Silbe deren Quantität nicht beachtet. In seiner Reaktion auf diesen Vorwurf, der ihm mangelnde Bildung unterstellt, begibt sich der Bischof
|| 1 Verg. Aen. 4,174–177, zitiert nach der Ausgabe von Mynors; Übersetzung (Wilhelm Plankl): „Fama, ein Übel, das hurtiger ist als alle die andern./ Schnelligkeit nährt sie, es wächst die Kraft ihr im Schreiten./ Klein zu Beginn aus Furcht, erhebt sie sich bald in die Lüfte,/ schreitet am Boden einher und verbirgt in den Wolken den Scheitel.“ Nachdem Venus und Iuno gemeinsam die ‚Heirat‘ Didos und Aeneas’ bewerkstelligt haben, gelangt das Gerücht hiervon zu Iarbas, dessen Antrag Dido abgelehnt hat. Iarbas’ Gebet zu Iuppiter führt zur Entsendung Merkurs und damit zur Weiterfahrt des Aeneas. Letztlich setzt also das Gerücht die weitere Handlung der Aeneis in Gang. Dieser Ansicht ist auch Pease (1935) 212 (zu Aen. 4,174), der darin einen Beitrag Vergils zur epischen Technik sieht. 2 Zur Repräsentation von Fama in der europäischen, insbesondere der antiken Literatur vgl. Hardie (2012). 3 Da sich die Nummerierung der Avitusbriefe nach Peipers MGH-Ausgabe eingebürgert hat, soll sie auch hier verwendet werden, wobei die entsprechenden Nummern zur größeren Deutlichkeit mit einem P versehen sind. In der von Elena Malaspina und Marc Reydellet besorgten Budé-Ausgabe trägt der Brief die Nummer 54.
https://doi.org/10.1515/9783110676303-019
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in den Bereich der Schule und Ausbildung, indem er beispielsweise seinen Adressaten als Rhetor anspricht. Bevor aber im Detail auf die Strategien eingegangen wird, die er dabei einsetzt, soll eine kurze allgemeine Einführung zu seiner Person und den unmittelbaren Zeitumständen des Briefs erfolgen.
1 Leben und Herkunft Wann genau Alcimus Ecdicius Avitus4 geboren wurde, wissen wir nicht; 494/6 war er jedenfalls Bischof von Vienne, wie Ennodius bezeugt. Dieses Amt hatten vor ihm sein Vater Hesychius und sein Taufpate Mamertus innegehabt, sein Bruder Apollinaris war Bischof von Valence. Zudem gibt Avitus selbst an, dass einige seiner Vorfahren Bischöfe waren, daneben sind aus späterer Zeit ranghohe Kleriker aus der Familie der Aviti bekannt. Aus seinem Namen und dem seines Bruders lässt sich schließen, dass er mit Sidonius Apollinaris und Eparchius Avitus, 455/6 römischer Kaiser, verwandt war, also aus der gallorömischen Senatorenschicht stammte. Das genaue Verwandtschaftsverhältnis ist jedoch unklar. Als Bischof von Vienne hatte Avitus einen der beiden Metropolitensitze des burgundischen Königreichs inne. Er pflegte enge Kontakte zu den burgundischen Herrschern Gundobad und Sigismund, Gundobads Sohn, die in der Briefsammlung großen Raum einnehmen: Etwa ein Viertel der Schreiben hat einen der beiden Könige als Adressaten oder Adressanten. Wie die Briefe zeigen, versuchte Avitus, den Homöer Gundobad zum katholischen Glauben zu bekehren; anders als sein Sohn Sigismund konvertierte dieser aber nicht. Außerdem stand Avitus mit zahlreichen Adligen, Bischöfen und Päpsten in Gallien, Italien und Konstantinopel in Verbindung, die als Adressaten seiner Schreiben auftreten. 517 leitete er gemeinsam mit Bischof Viventiolus von Lyon das Konzil von Epao, das er auch entscheidend prägte. Vermutlich starb er nicht viel später, am 5. Februar 518. Neben seinen Briefen sind einige Predigten und vor allem Dichtungen erhalten, die seine profunde rhetorische Ausbildung bezeugen.5
|| 4 Vgl. zu Avitus auch die Einführungen in der Übersetzung von Shanzer und Wood sowie in der zweisprachigen Ausgabe von Malaspina und Reydellet, ebenso die entsprechenden Artikel der PLRE und der PCBE. 5 Zu Avitus’ Briefen und Briefsammlung s. Burckhardt (1938), Wood (1993) sowie McCarthy (2017), zu den Predigten etwa Wood (2013), zur Dichtung beispielsweise die Ausgaben und Übersetzungen von Hecquet-Noti (1999/2005), (2011) und Shea (1997).
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2 Die Burgunder Ab 413 hatten sich die Burgunder6 im Rheinland angesiedelt. Nachdem sie 436 von Aetius und den Hunnen fast vollständig vernichtet worden waren, wurden sie wohl 443 in die Sapaudia an den Genfer See umgesiedelt. Dieses Gebiet teilten sie sich mit den galloromanischen Einwohnern, was aber anscheinend kein größeres Problem darstellte: Die gallische Senatorenschicht duldete es sogar, dass sie ihren Herrschaftsbereich weiter ausdehnten. Zu Beginn des 6. Jahrhunderts waren die burgundischen Herrscher in mehrere Konflikte verwickelt. Es kam nicht nur zu inneren Streitigkeiten um die Herrschaft, sondern auch zu Feldzügen gegen West- und Ostgoten. Letztlich gelang es ihnen nicht lange, ihr Einflussgebiet weitgehend selbstständig zu erhalten: Schon 534 wurde es von den Franken erobert. Sowohl Gundobad als auch Sigismund, die etwa zwischen 480 und 520 die Macht im burgundischen Gebiet ausübten, verstanden sich weiterhin als Teil des römischen Reiches und orientierten sich nach Konstantinopel hin.7 So trugen beide römische Titel, beispielsweise den des patricius, und ließen das Bild des Kaisers auf ihre Münzen prägen. Außerdem zeichneten sie sich durch ihre Bildung8 aus.
3 Adel, Bildung und Briefe Neben diesem unmittelbaren zeitgeschichtlichen Kontext sind weitere Hintergründe für das Verständnis von Avitus’ Briefen, insbesondere von epist. 57P, zentral. Hierzu gehören die spätantike römische Aristokratie und die bedeutende Rolle, die Briefe für sie spielten. In ihren eigenen Augen zeichneten sich die römischen Adligen der Zeit unter anderem dadurch aus, dass sie vornehmer Herkunft waren, über einen gewissen Reichtum verfügten, Ämter bekleideten und einen bestimmten Lebensstil pflegten, zu dem es beispielsweise gehörte, sich für Freunde und Verwandte einzusetzen oder öffentliche Gebäude finanziell zu unterstützen.9 Nicht zuletzt galt sprachliche und literarische Bildung als besonderes, gerade einen nobilis markierendes Merkmal. Mit dem allmählichen
|| 6 Zur Geschichte der Burgunder vgl. etwa Favrod (1997) und (2002) sowie Kaiser (2004). 7 Vgl. dazu beispielsweise Wood (2014). 8 Hierzu auch Wood (2004). 9 Vgl. Näf (1995) 8f.; Rapp/Salzman (2000) 316; Salzman (2000) passim; Rebenich (2008) 154.
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Rückgang des Einflusses des römischen Imperiums in Gallien fiel für die meisten nobiles die Möglichkeit weg, ein Verwaltungsamt zu bekleiden, ebenso verloren viele zumindest einen Teil ihres Vermögens.10 Eine mögliche Alternative zu einer weltlichen Karriere, die gerade in Gallien von vielen Aristokraten wahrgenommen wurde, bot die Kirche, zum Beispiel durch das Bischofsamt. So stammte eine immer größere Anzahl der gallischen Bischöfe aus der Oberschicht, was auch dazu führte, dass viele Merkmale, die einen nobilis ausmachten, auf das Idealbild des Bischofs übertragen wurden.11 Insbesondere Bildung wurde für die spätantiken Aristokraten nun wichtiger als jemals zuvor: Die Pflege eines sehr elaborierten sprachlichen Stils, die Produktion literarischer Werke sowie deren Verbreitung und Diskussion im Bekanntenkreis ermöglichten es ihnen, sich von den unteren Schichten und vor allem von den sich ansiedelnden Nichtrömern abzugrenzen.12 In diesem Zusammenhang kam Briefen eine zentrale Funktion zu. Sie boten den gallorömischen Adligen nicht nur die Möglichkeit, miteinander in Kontakt zu bleiben und dadurch ihre Verbundenheit untereinander zu stärken, sondern auch die Gelegenheit, sich gegenseitig ihre Bildung zu demonstrieren und sich so ihrer romanitas zu versichern.13 Wer einen sorgfältig gestalteten Brief erhielt oder schrieb, wer ein literarisches Werk verfasste, das von anderen gelobt wurde, wessen Stil bei den anderen Anerkennung fand, der wusste, dass er noch zur Elite gehörte; oder, wie Ralph Mathisen es formulierte: „In fifth-century Gaul, [literary activity] became a means by which someone born an aristocrat could remain one.“14 Grundlage für eine erfolgreiche literarische Tätigkeit war die Kenntnis klassischer lateinischer Literatur, insbesondere Vergils, und die Beherrschung eines ‚korrekten‘, sich daran orientierenden Latein. Ein Verstoß gegen die sprachlichen Normen, die in der jahrelangen Ausbildung beim Grammatiker und beim Rhetor erlernt wurden,15 war also nicht nur ein kleiner Fehler, sondern gefährdete gleichsam die roma-
|| 10 Vgl. Mathisen (1993) 32. 11 Vgl. Barnish (1988) 138f.; Mathisen (1993) 91–93; Rapp (2000) 393f. 12 Vgl. Eigler (2003) 31; Gemeinhardt (2007) 224f.; Salzman (2000) 353; vgl. auch Sidon. epist. 8,2,2: solum erit posthac nobilitatis indicium litteris nosse („In Zukunft wird der einzige Adelsnachweis in literarischer Bildung bestehen“, lateinischer Text: Anderson, Übersetzung nach Köhler). 13 Vgl. Gioanni (2004) passim, insbesondere 520–524; Guipponi-Gineste (2014) 254f.; Mathisen (1988) passim; Schwitter (2015) 88. 14 Mathisen (1988) 50. 15 Vgl. etwa Chin (2008) 30; 35; 42f.; Irvine (1994) 20f.; 76; 80; Kaster (1988) 13f.; 17; zu Ausbildung und Schule in Antike und Spätantike allgemein vgl. beispielsweise Marrou (1977) sowie Christes (2006).
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nitas des Sprechers oder Schreibers. Der Umgang mit einem solchen Lapsus war somit heikel und erforderte ein gewisses Fingerspitzengefühl. Ein Beispiel hierfür ist Avitus’ epist. 57P, die im Folgenden genauer betrachtet werden soll.
4 Avitus, epist. 57P Zu den Hintergründen von epist. 57P ist nur wenig bekannt; adressiert ist das Schreiben an den Rhetor Viventiolus, bei dem es sich aber wohl um den gleichnamigen Bischof von Lyon handelt.16 Dafür spricht, dass der Name nicht sehr verbreitet war und der ironische Ton des Briefs mit dem anderer Briefe an den Bischof Viventiolus durchaus vergleichbar ist.17 Wann das Schreiben entstanden ist, lässt sich nicht genau feststellen; die zu Beginn genannte Kirche liefert keinen näheren Anhaltspunkt, da nicht erschlossen werden kann, um welche es sich handelt.18 Glaubt man allerdings Avitus’ Selbstaussagen,19 ereignete sich die Begebenheit eher spät in seinem Leben.20 Aus dem Brief selbst ergibt sich folgender Hintergrund: Avitus war offensichtlich als Prediger zur Weihung einer Kirche nach Lyon eingeladen (in homilia, quam nuper ad populum Lugdunensem in dedicatione basilicae uideor concionatus, §121). Wie Ian Wood zeigte,22 waren solche Anlässe auch soziale Ereignisse, an denen die Mitglieder der gesellschaftlichen Kreise um die meist adligen Stifter teilnahmen.23 Dementsprechend waren die bei diesen Gelegen-
|| 16 Dieser Meinung sind auch Heinzelmann (1982) sowie Shanzer/Wood (2002), während in der PLRE nur ein Rhetor Viventiolus (mit Verweis auf Alc. Avit. epist. 57P) aufgeführt ist. Die PCBE geht von der Identität des Rhetors Viventiolus mit dem gleichnamigen Bischof von Lyon aus; Malaspina und Reydellet führen verschiedene Ansichten an, legen sich aber nicht fest. 17 Vgl. Shanzer/Wood (2002) 270. 18 Die in Lyon gefundenen Überreste spätantiker Kirchen können nicht hinreichend genau datiert werden, vgl. Bonnet/Reynaud (2000) passim sowie Gauthier (1986/7) IV 15–35 passim; zudem kommt die Form potitur, deren fehlerhafte Aussprache Viventiolus Avitus vorwirft, in den überlieferten Predigtfragmenten nicht vor. 19 Dazu zählt etwa das Zitat Verg. ecl. 9,51, auf das ich später noch genauer eingehen werde. 20 Geht man außerdem davon aus, dass Viventiolus zum Zeitpunkt der Kircheneinweihung bereits Bischof war, lässt sich der Entstehungszeitraum des Briefes auf 513/4 – 518 eingrenzen. 21 Alc. Avit. epist. 57P wird nach der Budé-Ausgabe zitiert; der lateinische Text und eine deutsche Übersetzung der Verfasserin befinden sich in einem Anhang zu diesem Beitrag. 22 Vgl. Wood (1986) 76f. 23 S. hierzu ebenso Alc. Avit epist. 50P (epist. 47 der Budé-Ausgabe), die auch Wood (1986) heranzieht. In diesem Brief entschuldigt Avitus sein Fernbleiben von der Einweihung einer
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heiten gehaltenen Predigten vor allem an eine soziale Elite gerichtet, sie mussten also erstens entsprechend literarisch gestaltet werden und zweitens war es für den Prediger von zentraler Wichtigkeit, sprachliche Fehler zu vermeiden, um sich nicht als Mitglied aristokratischer Kreise zu disqualifizieren.24 Gerade in dieser Hinsicht hat sich aber das Problem ergeben, auf das Avitus in epist. 57P Bezug nimmt: Ihm ist zu Ohren gekommen, Viventiolus verbreite das Gerücht, er habe in dieser Predigt einen Barbarismus begangen (rumor25 ex uobis susurriat – barbarismum me incurrisse dicatis, §1). Durch die Anrede von Viventiolus als „Rhetor“ und die Wahl des Verbs susurriat wird ein ironischer Grundton des Briefs deutlich. Ebenso wird der Bereich ‚Schule und Bildung‘ aufgerufen:26 Der Bischof von Lyon erscheint in der Rolle des Lehrers, der die Fehler der Schüler kritisiert, somit als die Instanz, vor der diese sich rechtfertigen müssen. Avitus’ Argumentation entspricht denn auch genau diesem Setting, wie sich im Folgenden zeigen wird. Anstatt den genannten Vorwurf sofort zu widerlegen, räumt er bescheiden und höflich ein, dies sei durchaus möglich – obwohl er sich früher mit Literatur beschäftigt habe, sei jetzt aufgrund seines Alters alles hinfällig (vgl. §1). Durch die Verwendung des Vergilzitats omnia fert aetas (Verg. ecl. 9,51) widerlegt der Bischof von Vienne seine Aussage jedoch sofort und streicht gerade seine Bildung heraus. Er ist nicht nur in der Lage, überhaupt Vergil zu zitieren, der Kon|| vom Adressaten, dem vir illustris Arigius, renovierten Kirche. Das Schreiben fällt durch seine ausgefeilte sprachlich-stilistische Gestaltung insbesondere der Beschreibung der Kirche auf. 24 S. dazu die obigen Ausführungen und vgl. beispielsweise Näf (1995). Letztlich stellten Predigten ebenso einen Teil der aristokratischen Kommunikation dar wie die von Avitus und seinen Zeitgenossen verfassten Briefe. Vgl. hierzu Wood (2013), insbesondere 93. 25 In Avitus’ Briefen stellt rumor stets eine aus welchen Gründen auch immer nicht näher bezeichnete Informationsquelle dar. In einem ähnlichen Zusammenhang wie Avitus in epist. 57P verwendet der vir illustris Heraclius in Alc. Avit. epist. 54P den Begriff, wenn er darauf eingeht, dass Avitus von einer theologischen Diskussion, die Heraclius mit Gundobad geführt hat, rumore (§2) erfahren hat. Ebenso wie in der Aeneis setzt ein Gerücht hier die Handlung in Gang, indem es den Anlass für einen Brief bietet. 26 Wie die Grammatiken zeigen, stellten Barbarismen durchaus ein wichtiges Thema in der Schule dar. Donat definiert den entsprechenden Fehler etwa folgendermaßen: Barbarismus est una pars orationis vitiosa in communi sermone. in poemate metaplasmus [...] barbarismus fit duobus modis, pronuntiatione et scripto („Ein Barbarismus ist die Verwendung eines fehlerhaften Worts in ungebundener Rede. In der Dichtung sagt man Metaplasmus. [...] Ein Barbarismus kann auf zwei Weisen auftreten, in der gesprochenen Sprache und in der geschriebenen.“, Don. gramm. IV 392). Etwas ausführlicher äußert sich Servius dazu (Serv. gramm. IV 444). Consentius widmet dem Thema ein recht ausführliches Kapitel seiner wohl umfangreicheren Grammatik, vgl. Fögen (1997) 164–167.
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text der Stelle bringt darüber hinaus genau das zum Ausdruck, was er aussagen will: Moenis, der Sänger der neunten Ekloge, klagt nämlich darüber, dass ihn jetzt im Alter sein Gedächtnis im Stich lasse und er sich an viele Lieder aus seiner Jugend nicht mehr erinnern könne. Hierbei setzt Avitus stillschweigend voraus, dass der Adressat seines Briefs den Kontext des Zitats ohne weitere Hinweise rekonstruieren kann und schreibt diesem damit keinen geringeren Bildungsstand als sich selbst zu.27 Obwohl der Bischof von Vienne aber die Tatsache des Vorwurfs nicht kritisiert, stört er sich doch daran, dass Viventiolus nicht mit ihm persönlich darüber gesprochen habe – schließlich wolle er immer noch lernen, auch wenn er es nicht mehr so könne wie früher (§2: Ambieram [...]). Durch die klangliche Gestaltung des Parallelismus si sciendi in me facultas minuitur, discendi cupiditas non mutatur (§2) zeigt Avitus dabei, dass es um seine literarischen Fähigkeiten keineswegs schlecht bestellt ist. Dies macht er ebenso im folgenden Satz quia uos absentem dicere comperi, quamquam absens respondere curaui (§3) deutlich: Nicht nur dessen paralleler Aufbau sowie das Polyptoton absentem – absens heben seine Bildung hervor, sondern insbesondere die betonte Orientierung an Viventiolus in Bezug auf die Abwesenheit. Denn der Topos, dass ein Brief die Trennung zwischen beiden Partnern aufhebe und für QuasiAnwesenheit sorge,28 wird hier gerade nicht verwendet. Abgesehen davon ist eine schriftliche Antwort natürlich günstiger, weil sie es Avitus in besonderem Maße erlaubt, seine Kenntnisse zur Schau zu stellen. Erst, nachdem er so deutlich auf seine Bildung hingewiesen hat, beschreibt er in §3 genauer, worin der angebliche Barbarismus bestand: Er hat potitur mit langem i ausgesprochen, obwohl das i bei Vergil bei ui potitur (Aen. 3,56) eindeutig kurz ist.29 In diesem Zusammenhang wird Viventiolus bereits vom Vorwurf distanziert. Anders als zuvor sind es jetzt unbekannte Dritte, die ihm diese
|| 27 Dies ist nicht besonders überraschend, da Vergil einer der wichtigsten, wenn nicht der wichtigste Schulautor war und eine Grundlage des Unterrichts beim Grammatiker bildete. Vgl. hierzu etwa Christes (2006) 111–124; Clarke (1971) 20; den Boeft (1998) passim; Eigler (2003) 18f.; 29–35; 97f.; Haarhoff (1920) 56; 69; Marrou (1977) 401–412, v.a. 406f.; Riché (1979) 25–27; Riché (1995) 73; ebenso die Tatsache, dass in der Spätantike einige Vergilkommentare verfasst wurden, etwa von Servius und Donat. 28 Zu Briefmotiven im Allgemeinen und diesem Topos im Besonderen vgl. beispielsweise Abram (1994) 17–77; Corbinelli (2008) 21–27; Cugusi (1983) 73f.; Thraede (1970) passim; zu spätantiken Briefen s. zudem Ebbeler (2009). 29 Dasselbe ist an der einzigen anderen Stelle, an der Vergil die Form potitur verwendet (Aen. 4,217), der Fall.
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Aussage in den Mund legen: culpasse uos ferunt (§3), sodass Viventiolus kaum weniger zu Unrecht beschuldigt erscheint als Avitus. Der Bischof von Vienne rechtfertigt sich nun damit, dass der ‚Fehler‘ nicht bei ihm, sondern bei Vergil liege: dieser habe aus metrischen Gründen einen Barbarismus30 begangen (ut [...] metri legem, sicubi opus est, barbarismo contempto expediat, §3), indem er sich über Grammatikregeln hinweggesetzt habe (artem minime secutus, §3). Für ein solches Vorgehen Vergils führt Avitus noch drei weitere Beispiele aus der Aeneis an,31 von denen eines (feruere Leucaten, §3) auch in Donats Ars Grammatica als Beispiel für einen Barbarismus genannt wird.32 Dadurch zeigt er einerseits, dass er selber die Aeneis sehr gut kennt, andererseits, dass er auch in den Ausspracheregeln der lateinischen Sprache bewandert ist und Verstöße dagegen erkennen kann. Seine Bildung stellt er jedoch keineswegs als Ausnahmeerscheinung dar: Bei den erwähnten Stellen sei jedem noch so gering Gebildeten klar, dass die betreffenden Silben eigentlich lang wären (nullus litteratorum33 corripi asserat, §4). Da Viventiolus natürlich zum Kreis der Hochgebildeten gehört – schließlich erhält er diesen Brief – ist er somit gewissermaßen gezwungen, Avitus zuzustimmen. Ist Vergil deswegen ungebildet? Keinesfalls – er bedient sich lediglich der ihm als Dichter zukommenden licentia poetarum (§4) bzw. poetica libertas (vgl. §5), die ihm auch die antiken Grammatiker und Rhetoren zugestehen.34 Der Bischof von Vienne || 30 Streng genommen handelt es sich bei Vergil nicht um einen Barbarismus, sondern um einen Metaplasmus, schließlich ist der Grund für die „Abweichung von der korrekten lautlichen Zusammensetzung“ (Lausberg [1973] 259, §479) dem Metrum geschuldet. Vgl. hierzu allgemein Lausberg (1973) 259–266 bzw. §§ 479–495, der einen Überblick über die entsprechenden Definitionen der lateinischen Grammatiker gibt. Über die mangelnde Trennschärfe seiner Vorgänger und Zeitgenossen bei der Verwendung der beiden Begriffe beklagte sich bereits Consentius (Consent. gramm. 10,18–11,2N [= V 391]). Zu Consentius vgl. auch Fögen (1997). 31 Aen. 7,231, Aen. 8,677 und Aen. 6,513f., alle in §3. Die Anführung von Literaturzitaten als exempla war eine der Techniken, derer sich die spätantiken Grammatiker bedienten, vgl. Chin (2008) 12. 32 Don. gramm. IV 392. 33 Die Form litteratorum ist doppeldeutig: Sie kann als Genitiv Plural sowohl von litteratus als auch von litterator aufgefasst werden. Während litteratus insbesondere einen in der grammatica Gebildeten bezeichnet (vgl. Irvine [1994] 2), wird litterator oft verwendet, um jemanden zu benennen, der lediglich über ein Halbwissen verfügt (s. ThlL s.v. litterator). Da die zweite Möglichkeit recht gut zum scherzhaft-ironischen Ton des Briefs passt, habe ich die Stelle entsprechend übersetzt (s. Anhang); allerdings ist es auch sehr wohl möglich, dass Avitus die Zweideutigkeit durchaus beabsichtigte. 34 Etwa Quintilian, der mehrmals von der poetica licentia spricht, z.B. Quint. inst. 4,1,58, vgl. dazu Clarke (1971) 24, ebenso Servius, vgl. Uhl (1998) 248, die zahlreiche Belegstellen anführt.
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widerlegt seinen Lyoner Amtskollegen also nicht – das hätte er auch nicht gekonnt – sondern entkräftet dessen Vorwurf dadurch, dass er ihm die Hauptprämisse entzieht, nämlich dass man sich für korrekten Sprachgebrauch stets an Vergil orientieren müsse.35 Dass sein eigener Sprachgebrauch, also die Aussprache von potitur mit langer Mittelsilbe, tatsächlich korrekt war bzw. ist, zeigt er im Folgenden durch eine grammatische Begründung (artis potius lege tractemus, §5). Wie die meisten Grammatiker argumentiert er mit dem Analogieprinzip,36 indem er verschiedene Formen von potiri aufzählt, bei denen das i an entsprechender Stelle lang ist (vgl. §5). Diese Beispiele werden durch die Verwendung von sic – sic – sicut – similiter (§5)37 regelrecht eingehämmert und wirken so wie eine Masse an Beweisen, denen das Gegenüber nichts entgegensetzen kann. Avitus tritt hier letztlich selber wie ein Grammatiker bzw. Rhetor38 auf, als der Viventiolus nicht nur durch die entsprechende Anrede erscheint, und streicht so seine profunde Ausbildung heraus. Auffällig ist, dass er sich nur in diesem Teil des Briefs explizit mit der 1. Person Plural auf sich selbst bezieht, während er sonst die 1. Person Singular verwendet.39 Auch dadurch wirkt der Text wie ein grammatischer Traktat oder eine Erörterung des Problems in der Schule. Nach diesen Begründungen argumentiert der Bischof von Vienne nun anders herum (§5): Angenommen, das i bei potitur sei kurz, dann folge daraus zwangsweise, dass analog dazu bei potiris die mittlere Silbe ebenfalls kurz ausgesprochen werden müsse, und dies wiederum widerspreche jedem lateinischen Sprachgebrauch vollkommen: quod utique ab omni exemplo atque usu integritas Latinitatis excludit (§5).40 Nachdem er so ausführlich seinen Stand|| 35 Damit steht Avitus nicht allein: Auch Donat führt Beispiele antiker Autoren an, die seine Schüler nicht nachahmen sollen, vgl. Chin (2008) 17. Ebenso kritisiert Servius Vergil, um korrekten Sprachgebrauch zu zeigen, vgl. Kaster (1988) 179f. und Uhl (1998) 111. Überhaupt machte Dichtungskritik schon in Griechenland einen wichtigen Teil des Grammatikunterrichts aus, vgl. Clarke (1971) 13. 36 Etwa Servius, vgl. Uhl (1998) 132; Clarke (1971) 13; 17f. 37 Eben dieser sprachlichen Mittel bedient sich auch Servius, wenn er nach dem Analogieprinzip argumentiert, vgl. Uhl (1998) 133. 38 Auf die „enge Beziehung“ bzw. sogar „Verflechtung von Grammatik und Rhetorik“ weist Fögen (1998) 200 und 203 hin. 39 Ebenso bedient sich Servius der 1. Person Plural, um den eigenen Sprachgebrauch bzw. die erlaubte Verwendung eines Worts oder einer Formulierung zu bezeichnen, vgl. Uhl (1998) 116; 293. 40 Gerade eine integritas latinitatis, d.h. die schriftliche und mündliche Beherrschung korrekten Lateins, ist das Ziel des spätantiken Grammatikunterrichts, vgl. Kaster (1988) 18f.; Uhl
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punkt dargelegt, die Richtigkeit seiner Aussprache belegt und den Vorwurf entkräftet hat, kann er sich einen abschließenden Kommentar nicht verkneifen: Ecce uerbum quod a uobis reprensum fuerat, de quo audeo rationem mutuari (§5). Hierbei spricht er seinen Adressaten nach längerer Zeit wieder direkt an und bezieht ihn in mutuari dezidiert als Partner mit ein. Dass mutuari sich nicht nur auf Viventiolus’ Kritik und Avitus’ Reaktion darauf bezieht, wird in der folgenden, aufwändig gestalteten Periode deutlich. Zunächst weist der Adressant mit den Worten honorificum salue persoluens [...] quaeso41 (§6), darauf hin, dass er nun gegen Ende seines Briefs eine Bitte äußern will. Dann beruft er sich auf das Recht der Freundschaft, das gerade die freie Meinungsäußerung gewähre (ego, amicitiae iure, quid mihi uideretur stilo paginae liberioris expressi, §6).42 Hierdurch zeigt er, dass ihm die etwas heikle Situation durchaus bewusst ist: im vorangehenden Teil des Schreibens hat er zwar betont auf seine Bildung hingewiesen und sich für den ihm vorgeworfenen Aussprachefehler gerechtfertigt, dabei aber implizit seinem Briefpartner unterstellt, dass dieser sich geirrt hat, wodurch dieser als weniger gebildet erscheint als er selbst. Trotzdem erkennt er dessen Argumentationsbasis grundsätzlich an: Vergil sei ein Vorbild für den Sprachgebrauch, dem man jedoch dann, wenn er einen Barbarismus begehe, nicht folgen dürfe, da man ihn hinsichtlich der Genialität seiner Dichtungen nicht erreichen könne (quem uel ob hoc in barbarismorum usurpatione non debemus sequi, quia in carminum dignitate non possumus consequi, §6).43 Und doch lässt Avitus es sich nicht nehmen, gerade diese Aussage in einen eleganten Parallelismus samt Wortspiel sequi – consequi zu verpacken. Da er aber das vergilische Exemplum, das Viventiolus angeführt hat,44 als unbrauchbar widerlegt hat, ergibt sich nun ein Problem: Welche Regeln soll man bei der Orientierung an Vergil beachten, der nicht nur Barbaris-
|| (1998) 15. In seiner Argumentation geht Avitus auf alle drei Kriterien ein, die die Grammatiker für korrekten Sprachgebrauch angeben: consuetudo bzw. usus (die Ansichten der litterati bzw. der litteratores in §4, usu, §5), ratio (die Argumentation anhand des Analogieprinzips in §5), auctoritas (die Verwendung vergilischer Beispiele, §3f.), vgl. dazu außerdem Irvine (1994) 74; Uhl (1998) 27, und insbesondere Siebenborn (1976) 56–139. 41 Dieselbe Formulierung verwendet Avitus übrigens in epist. 56P an Messianus. 42 Freie Meinungsäußerung – vor allem dann, wenn dies bedeutete, Freunde zu kritisieren und zurechtzuweisen – galt in der Antike als Eigenschaft gerade von Freunden, vgl. etwa Cic. Lael. 88–92 und Konstan (1997) 103–105; Augustins Idee einer ‚korrektiven‘ christlichen Freundschaft, die per Brief stattfindet, analysiert Ebbeler (2012). 43 Ähnlich argumentiert Servius, vgl. Uhl (1998) 291. 44 Gleichzeitig wird es durch die Konstruktion als Ablativus absolutus (sublato – Vergilianae auctoritatis exemplo, §6) von Viventiolus distanziert.
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men wie den im Brief diskutierten begeht, sondern an anderer Stelle auch ganz korrekt das Partizip Perfekt Passiv potitus mit langem i verwendet (§6)? Genau diese Frage soll der Bischof von Lyon in seinem Antwortschreiben behandeln: uos mihi magis rationem, quam sequi debeam, rescripto exponente tractetis (§6).45 Damit wird Viventiolus die Aufgabe übertragen, nicht nur ein Einzelproblem zu erörtern, wie Avitus dies getan hat, sondern eine grundsätzliche Angelegenheit, und er kann die Rolle des Rhetors, als der er zu Beginn des Briefs angeredet wird, ganz besonders übernehmen. Die Kommunikation zwischen den beiden Bischöfen geht also weiter, sie treten als Mitglieder einer Elite auf, die sich unter anderem durch ihre Bildung und den gelehrten Austausch über entsprechende Themen definiert. Auf welche Art und Weise Viventiolus die ihm gestellte Aufgabe löst, bleibt ihm überlassen: eligitis (§7) – falls er sich jedoch dafür entscheidet, Beispiele anzuführen, dann sollen diese vor allem von Rednern stammen (de priscis magis oratoribus, §7)46 und das Ergebnis sorgfältiger Recherche sein (perquisitum diligentius repertumue, §7). Dabei sind die Rollen klar verteilt: der Bischof von Vienne ist der gelehrige und anspruchsvolle Schüler (certe sciscitantem, §7), sein Adressat der Lehrer, der sich darum bemüht, seinen Schülern die alten Autoren nahezubringen (docere; quos discipulis merito traditis, §7). Beide Briefpartner verbindet das gemeinsame Interesse daran, die überlieferte Bildung zu bewahren und lebendig zu halten. Dementsprechend formuliert Avitus die Möglichkeit, dass Viventiolus keine Argumente für seinen Traktat findet, im Passiv: quod si nec argumento artis nec oratorio inuenitur (§8). Sollte dies tatsächlich der Fall sein, liegt dies somit nicht in dessen Verantwortung, sondern es sind wirklich keine Argumente vorhanden. Dann jedoch soll der Bischof von Lyon zulassen, dass beider gemeinsame Söhne mit diesem einen Fehler (hoc uno tantum uitio, §8) zufrieden sind. Worauf genau der Verfasser sich mit uitium bezieht, ist unklar, wahrscheinlich meint er
|| 45 Mit dieser Frage setzt sich auch Servius auseinander, vgl. Uhl (1998) 225 und 287–291, die auf den doppelten Charakter des Kriteriums auctoritas (vgl. dazu Anm. 40 dieses Beitrags) hinweist: Einerseits sollen sich die Schüler an den Vorbildern orientieren, andererseits haben die auctores freilich einen Sondercharakter, der nicht nachgeahmt werden soll. Eben dieses Problem soll Thema von Viventiolus’ Antwort werden, der somit in Servius’ Fußstapfen tritt. 46 Uhl bemerkt, dass auch Servius zwischen dem Sprachgebrauch der poetae und dem der Prosaschriftsteller unterscheide, aber nur selten beide Bereiche nebeneinanderstelle, vgl. Uhl (1998) 214; 298; ebenso weise er unterschiedlichen Autoren unterschiedlichen Rang innerhalb der auctoritas zu, vgl. ibid. 240.
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aber das „Gerücht“ vom Beginn des Briefs.47 Jedenfalls betont er die enge Verbindung mit seinem Adressaten: Beide haben communes filios (§8), womit vermutlich die Gemeinden von Lyon und Vienne gemeint sind. Zudem ist hier die einzige Stelle, an der dieser mit der 2. Person Singular angesprochen wird: patere und imbueres, §8. In diesem Zusammenhang kann sich der Autor einen wohl scherzhaft gemeinten Kommentar offensichtlich nicht verkneifen: Ihm sei es lieber, wenn Viventiolus als erster die gemeinsamen Söhne unterweise, als wenn er dies als Einziger tue (§8). Damit erkennt er dem Bischof von Lyon zwar einen gewissen Vorrang zu, macht aber deutlich, dass er dessen Unterweisungen noch für ergänzungsbedürftig hält – der Grund ergibt sich aus dem Ende des Schreibens. Trotzdem bezeichnet er ihn als überreichen Quell hervorströmender Gelehrsamkeit (ex illo profluentis uberi fonte doctrinae, §8), aus dem den gemeinsamen Söhnen unter anderem literarische Bildung zuteil wird (non minus quam litteras bibant, §8). Durch die Wassermetaphorik in imbueres, profluentis, fonte und bibant wird hierbei nicht nur die Bildung des Bischofs von Lyon betont, sondern insbesondere Avitus’ eigene hervorgehoben. Doch das eigentlich wichtige Bildungsziel48 besteht nach Avitus nicht in der Kenntnis der klassischen Literatur und dem Wissen, wie mit ihr umzugehen ist, sondern in der Vermittlung einer bestimmten Verhaltensnorm, deren Zentralität durch die sorgfältige sprachliche Gestaltung und die Positionierung als den Brief abschließendes Lumen deutlich wird. Das entsprechende Benehmen beschreibt der Bischof von Vienne folgendermaßen: Man solle einen Freund eher zu eigenen Studien ermutigen als ihn durch Entmutigung davon abzubringen und ein Redner solle eher vortragen als tadeln und beleidigen49 (vgl. §8). Damit umschreibt er den in der Aristokratie üblichen Verhaltenskodex: Das Verhältnis untereinander, die typische Beziehung, der auch durch die Briefe Ausdruck verliehen wird, ist geprägt durch amicitia. Ein fester Bestandteil bei der Pflege dieser amicitia ist gerade die Diskussion über verschiedene Bildungsgegenstände, v.a. Literatur und Sprache. Im
|| 47 Dieser Ansicht sind auch Malaspina und Reydellet in Anm. 704 zur französischen Übersetzung. 48 Eine Lacuna nach minus anzunehmen, wie Danuta Shanzer und Ian Wood dies tun (vgl. Shanzer/Wood (2002) 273 Anm. 1), ist nicht notwendig, wenn man den quod-Satz, der den Brief abschließt, nicht als Begründung des Vorhergehenden auffasst, sondern als Objekt zu bibant und Primum Comparationis des Vergleichs. So verstehen jedenfalls Malaspina und Reydellet die Stelle, wie die französische Übersetzung zeigt. 49 Diese zweite Forderung variiert die erste und stellt gleichzeitig einen Bezug zum Beginn des Schreibens her, an dem Viventiolus als Rhetor angesprochen wird.
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Umgang miteinander ist besonders Höflichkeit gegenüber dem Adressaten gefordert, ebenso, ihn in seinen literarischen Bemühungen zu unterstützen.50 Indem Avitus ebendies besonders betont, weist er indirekt darauf hin, dass er diese Höflichkeitsnorm durch Viventiolus’ Kritik zumindest im Scherz verletzt sah – und hier ergibt sich auch der Grund für die Forderung, der Bischof von Lyon solle nicht der einzige Lehrer seiner Zöglinge sein: Diese sollen sich wohl durch ein besseres Benehmen auszeichnen. Wie man sich entsprechend verhält, zeigt Avitus an derselben Stelle: Er formuliert seinen Anspruch unpersönlich durch die Verwendung von decet (§8), wobei die Wichtigkeit dieses Wortes nichtsdestotrotz durch seine Position am Ende des Satzes – sogar des Briefs – pointiert hervorgehoben wird. Der Bischof von Vienne präsentiert sich also implizit als Ideal, an dem sich andere – auch Viventiolus – ein Beispiel nehmen sollten.
5 Fazit Wie reagiert man also auf ‚rufschädigende Gerüchte‘? Betrachtet man Avitus’ epist. 57P, dann ist die erste Antwort: indem man sie nicht ignoriert, sondern dazu Stellung nimmt. In diesem Fall tut der Bischof von Vienne dies, indem er das Ganze nicht zu ernst nimmt, sondern in seinem Brief eine der Schule vergleichbare Situation entwirft, in der er sich wie ein guter Schüler gegenüber Viventiolus, dem die Rolle des Rhetors zugewiesen wird, rechtfertigt. Dabei streicht er immer wieder mehr oder weniger subtil seine Bildung heraus: Er gestaltet das ganze Schreiben nicht nur auf sprachlicher Ebene sorgfältig, er zitiert Vergil, und er argumentiert mithilfe von weiteren Vergilzitaten sowie grammatikalischen Erläuterungen, wobei er fast schon eine kurze Abhandlung verfasst. Ebenso wenig wie der Adressant verliert dabei der Adressat das Gesicht: Auch wenn sein ‚Vorwurf‘ widerlegt wird, geschieht dies auf eine Art und Weise, die ihn nicht weniger gebildet als den Adressanten erscheinen lässt, schließlich ist er als Rhetor natürlich in der Lage, die Anspielungen und Argumente zu verstehen, und wird zu einer weiteren Abhandlung über die Orientierung an Vergil als sprachlichem Vorbild aufgefordert. Zudem wird wiederholt seine ‚Lehrtätigkeit‘ hervorgehoben.
|| 50 Zu amicitia und Briefen vgl. etwa Bjornlie (2009) v.a. 136–143, Bruggisser (1993) 3–31 sowie meine Ausführungen unter 3. Adel, Bildung und Briefe, S. 499‒501.
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Beide Briefpartner treten also als Mitglieder einer Elite auf, die sich unter anderem durch ihre Bildung definiert und diese durch den Austausch lebendig hält. ‚Rufschädigende Gerüchte‘ sind damit letztlich nicht nur eine Gefahr für den eigenen Status, sondern darüber hinaus ein Anlass, um diese Kommunikation wach zu halten, die beteiligten Parteien als gebildet zu erweisen und anzuzeigen, dass sie zu Recht Teil der Elite sind. Der Nachweis der Bildung richtet sich dabei nicht allein an den unmittelbaren Adressaten eines solchen Briefs, sondern an die etwas größere Öffentlichkeit, die ihn zu Gesicht bekam, wenn er herumgezeigt wurde,51 im Archiv erhalten blieb oder sogar als Bestandteil einer Sammlung ‚veröffentlicht‘ wurde.52 Verstand dieses Publikum die Argumentation, die Anspielungen und den ironischen Ton des Schreibens, konnte es sich selbst ebenfalls als gebildet wahrnehmen; wenn dies nicht der Fall war, konnte es zumindest über die Gelehrsamkeit der beiden Briefpartner staunen.
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|| 51 Dass dies durchaus der Fall war, zeigt etwa epist. 51P (= epist. 48 der Budé-Ausgabe) an den vir illustris Apollinaris, den Sohn des Sidonius: Ante aliquot menses datas ad amicum quendam communem Magnificentiae Vestrae litteras uidi, §9 („Den Brief Eurer Hochherzigkeit, den Ihr vor einigen Monaten an einen gemeinsamen Freund geschickt habt, habe ich gesehen“). Wie in epist. 57P ging es auch in besagtem (nicht erhaltenem) Brief um Bildungsinhalte im weitesten Sinne: Thema war (unter anderem) Avitus’ Dichtung, über die Apollinaris sich lobend geäußert hatte. 52 Ein entsprechendes Briefmodell entwickelt Schwitter (2015) 40–64, insbesondere 56ff.
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Alcimus Ecdicius Avitus: Avit de Vienne. Éloge consolatoire de la chasteté (sur la virginité). Introduction, texte critique, traduction, notes et index par Nicole Hecquet-Noti, Paris 2011 (Sources chrétiennes 546). Alcimus Ecdicius Avitus: The poems of Alcimus Ecdicius Avitus. Translation and introduction by George W. Shea, Tempe, Ariz. 1997 (Medieval & Renaissance texts & studies 172). Consentius: Artium scriptores minores. Cledonius, Pompeius, Iulianus, excerpta ex commentariis in Donatum, Consentius, Phocas, Eutyches, Augustinus, Palaemon, Asper, de nomine et pronomine, de dubiis nominibus, Macrobii excerpta, ex recensione Henrici Keilii, Hildesheim 1961 (Grammatici Latini 5). Consentius: Consentii Ars de barbarismis et metaplasmis recensuit Maximilianus Niedermann, Neuchâtel 1937 (Université / Faculté des Lettres: Recueil de travaux 18). Aelius Donatus; Maurus Servius Honoratus: Probi, Donati, Servii, qui feruntur de arte grammatica libri, ex recensione Henrici Keilii, Hildesheim 1961 (Grammatici Latini 4). Marcus Fabius Quintilianus: M. Fabii Quintiliani Institutionis oratoriae libri XII Pars 1 Libros I-VI continens. ed. Ludwig Radermacher, addenda et corrigenda collegit et adiecit Vinzenz Buchheit, Berlin 1971 (Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana). Marcus Tullius Cicero: M. Tulli Ciceronis scripta quae manserunt omnia. Cato Maior, Laelius. recognovit K. Simbeck, Stuttgart 1976 (Bibliotheca scriptorum Graecorum et Romanorum Teubneriana). Gaius Sollius Apollinaris Sidonius: Sidonius. Poems and letters. In two volumes. With an English translation, introduction and notes by William B. Anderson, Cambridge, Mass. 19631965 (The Loeb classical library). Gaius Sollius Apollinaris Sidonius: Die Briefe. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Helga Köhler, Stuttgart 2014 (Bibliothek der mittellateinischen Literatur 11). Publius Vergilius Maro: Publi Vergili Maronis Aeneidos liber quartus. Edited by Arthur Stanley Pease, Cambridge, Mass. 1935. Publius Vergilius Maro: Aeneis. 12 Gesänge. Hg. v. Wilhelm Plankl, Stuttgart 1984.
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Anhang Alc. Avit. epist. 57P: Text53 und Übersetzung Epistola beati Aviti episcopi ad Viventiolum rhetorem 1. Avitus episcopus Viventiolo rhetori. Cum rumor ex uobis susurriat quod in homilia, quam nuper ad populum Lugdunensem in dedicatione basilicae uideor concionatus, barbarismum me incurrisse dicatis, palam scilicet castigantes quod publica oratione peccauerim, fateor istud potuisse contingere, praesertim mihi cui, si qua in annis uiridioribus fuerunt studia litterarum, omnia fert aetas [Verg. ecl. 9,51]. 2. Ambieram tamen a uobis hoc ipsum coram positus audire, quia etiam si sciendi in me facultas minuitur, discendi cupiditas non mutatur. Sed quia uos absentem dicere comperi, quamquam absens respondere curaui. 3. Igitur culpasse uos ferunt, quod potitur media syllaba producta dixerim, Virgilium in hoc uerbo scilicet non secutus, qui syllaba ipsa correpte usus est dicens ui potitur [Verg. Aen. 3,56]: sed istud remissibile est poematis necessitate, quod perinde saepe inuenimus Virgilium praesumpsisse, ut scilicet metri legem, sicubi opus est, barbarismo contempto expediat et syllabarum naturam certis quibusque locis artem minime secutus inuertat. Quale est illud non erimus regno indecores [Verg. Aen. 7,231], uel: feruere Leucaten [Verg. Aen. 8,677] uel illud namque ut supremam falsa inter gaudia noctem / egerimus, nosti [Verg. Aen. 6,513f.].
|| 53 Der lateinische Text entspricht dem der Budé-Ausgabe; die Stellenangaben zu den Vergilzitaten sind in eckigen Klammern nach den Anmerkungen von Malaspina und Reydellet sowie Peiper ergänzt.
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4. Cum utique haec tria uerba, id est ‚feruere‘, ‚egerimus‘ aut ‚indecores‘ nullus litteratorum corripi asserat, sed productis naturaliter paenultimis syllabis adhortetur ponenda, Virgilius ergo usus licentia poetarum, secundum ea quae supra diximus, corripiens mediam syllabam praesumit ‚potitur‘. 5. Quod uerbum, sequestrata paulisper poetica libertate, artis potius lege tractemus. Secundum quod longa media est ‚potiris‘, restat ut persona tertia (id est ‚potitur‘) similiter longa sit; sic tempore praeterito perfecto prima, secunda, tertia persona ‚potitus sum, es, est‘; sic imperatiuo modo tempore praesenti secunda persona ‚potire‘ (sicut ‚sortire‘); similiter optatiuo modo tempore praesenti ( est praeterito imperfecto) sub totis tribus personis aeque syllaba producta, ‚utinam potirer, potireris, potiretur‘. Ceterum si tertiam personam (‚potitur‘) breuem ponas, idem facere cogeris et in secunda, ut ‚pótiris‘ dicas, quod utique ab omni exemplo atque usu integritas latinitatis excludit. Ecce uerbum quod a uobis reprensum fuerat, de quo audeo rationem mutuari. 6. Nunc autem, honorificum salue persoluens, impensis precibus quaeso ut, quia ego, amicitiae iure, quid mihi uideretur stilo paginae liberioris expressi, uos quoque ad uicem sublato, ut supra dictum est, Vergilianae auctoritatis exemplo – quem uel ob hoc in barbarismorum usurpatione non debemus sequi, quia in carminum dignitate non possumus consequi – licet idem Virgilius ‚potitus‘ uel ‚potiti‘ producte posuerit (sicut est illud auroque potiti [cf. Verg. Aen. 6,624 ausoque potiti; Aen. 3,55f. et auro/ ui potitur]), uos mihi magis rationem, quam sequi debeam, rescripto exponente tractetis. 7. Aut si certe sciscitantem testimonii cuiuscumque eligitis docere compendio, spero ut de priscis magis oratoribus, quos discipulis merito traditis, perquisitum diligentius repertumue pandatis. 8. Quod si nec argumento artis nec oratorio inuenitur, patere communes filios, quorum ingenia mallem praesenti tempore ut primus quam solus imbueres, hoc uno tantum uitio esse contentos: qui tamen ex illo profluentis uberi fonte doctrinae iam nunc inter initia sua non minus quam litteris bibant quod amicum attrahere magis studiis quam detractare et oratorem eloqui potius quam obloqui decet.
Übersetzung Brief des seligen Bischof Avitus an den Rhetor Viventiolus 1. Bischof Avitus an den Rhetor Viventiolus. Ein Gerücht, dessen Ursprung bei Euch liegt, raunt, dass Ihr behauptet, ich hätte in der Predigt, die ich, wie mir scheint, neulich vor dem Volk von Lyon bei der Weihung einer Basilika gehalten
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habe, einen Barbarismus begangen, und Ihr tadelt freilich vor aller Welt, dass ich in einer öffentlichen Rede einen Fehler gemacht habe. Also gebe ich zu, dass dies passieren konnte, besonders mir, dem, wenn ich in jüngeren Jahren irgendwelche literarischen Studien betrieben habe, das Alter alles nimmt. 2. Trotzdem hätte ich es vorgezogen, gerade dies von Euch persönlich und in Eurer Gegenwart zu hören, da – auch wenn das Vermögen die Dinge zu übersehen sich in mir verringert – das Verlangen zu verstehen sich nicht verändert. Aber da ich erfahren habe, dass Ihr trotz meiner Abwesenheit redet, habe ich dafür gesorgt, dass ich ungeachtet meiner Abwesenheit antworte. 3. Ihr sollt also getadelt haben, dass ich potītur mit langer Mittelsilbe ausgesprochen habe und bei diesem Wort offensichtlich Vergil nicht gefolgt sei, der gerade diese Silbe als kurze verwendet hat und ui potĭtur sagte. Aber das ist entschuldbar durch den Zwang des Versmaßes, weil wir es in vergleichbarer Weise oft finden, dass Vergil es sich herausgenommen hat, natürlich die Regeln des Metrums einzuhalten, wo nötig ohne einen Barbarismus zu vermeiden, und die Natur von Silben an ganz bestimmten Stellen umzukehren, ohne sich im geringsten an die Prinzipien der Grammatik zu halten. So macht er es bei non erimus regno indĕcores (wir werden für Eure Herrschaft keine Schande sein), bei feruĕre Leucaten (dass Leucate wimmelt), oder auch bei namque ut supremam falsa inter gaudia noctem/egerĭmus, nosti (denn wie wir die letzte Nacht unter falschen Freuden verbracht haben, weißt du). 4. Da sicherlich kein halbwegs54 gebildeter Mensch behaupten würde, dass man diese drei Wörter, also feruere, egerimus und indecores, mit kurzer Silbe ausspreche, sondern mahnte, dass man sie von Natur aus mit einer langen vorletzten Silbe setzen müsse, hat Vergil somit von seiner dichterischen Freiheit Gebrauch gemacht und passend zu dem, was wir oben gesagt haben, die mittlere Silbe gekürzt und sich herausgenommen, potĭtur zu schreiben. 5. Wir wollen nun ein wenig von der dichterischen Freiheit Abstand nehmen und dieses Wort mehr nach den Regeln der Grammatik behandeln. Der Tatsache gemäß, dass bei potīris die mittlere Silbe lang ist, folgt, dass sie in der 3. Person, d. h. bei potītur, in entsprechender Weise lang ist. So sind im Perfekt die 1., 2. und 3. Person potītus sum, es, est; so ist der Imperativ Präsens in der 2. Person potīre (wie sortīre); ähnlich ist die Silbe im Optativ des Präsens (d. h. im Imperfekt) bei allen drei Personen in gleicher Weise lang: utinam potīrer, potīreris, potīretur. Wenn man im Übrigen die 3. Person, potĭtur, mit kurzer Silbe setzt, ist man gezwungen, dasselbe auch in der 2. zu tun, sodass man pótĭris sagt, was bei einer korrekten Verwendung des Lateins durch jede Art von Beispiel und || 54 Zu litteratorum s.o. Anm. 33.
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Gebrauch ausgeschlossen ist. Das ist das Wort, das von Euch kritisiert worden war, und worüber ich es wage, Argumente auszutauschen! 6. Nun aber, indem ich einen ehrenvollen Gruß einlöse, äußere ich eine nachdrückliche Bitte: Da ich mit dem Recht der Freundschaft das, was mir richtig schien, in Form eines ziemlich freimütigen Schreibens zum Ausdruck gebracht habe, sollt auch Ihr, weil, wie oben gesagt wurde, das Muster der Autorität Vergils entkräftet wurde – an dem wir uns deswegen bei der Verwendung von Barbarismen kein Beispiel nehmen dürfen, weil wir es mit ihm in Bezug auf die Würde der Dichtung nicht aufnehmen können – Ihr sollt Eurerseits, auch wenn derselbe Vergil potītus bzw. potīti mit langer Silbe verwendet hat (wie es bei auroque potīti der Fall ist), für mich eher die Methode, der ich folgen muss, in einer Antwort darstellen und behandeln. 7. Oder, wenn Ihr Euch entscheidet, mein gewiss drängendes Fragen mit Unterstützung irgendeines Beispiels zu beantworten, hoffe ich, dass Ihr Eure recht sorgfältige Untersuchung und das Ergebnis eher nach den antiken Rednern, in denen Ihr Eure Schüler zu Recht unterweist, ausführlich darstellt. 8. Wenn aber weder in einer Darstellung der Grammatik noch in einer der Rhetorik etwas zu finden ist, so duldet, dass unsere gemeinsamen Söhne, deren Verstand Du im Moment meiner Meinung nach lieber als erster denn als einziger nähren solltest, mit diesem einen Fehler zufrieden sind. Trotzdem sollen diese schon jetzt, noch ganz am Anfang, aus jener reichen Quelle überfließender Bildung nicht weniger als literarische Bildung den Gedanken aufnehmen, dass es anständiger ist, einen Freund zu Studien zu bringen, als ihn davon abzubringen, und dass ein Redner eher vorne sprechen als widersprechen sollte.
Index Achaia 78, 133, 335 Achilleus 162f., 168, 175, 214 Adam 314 Adherbal 136, 144–152 Aelianus, Cl. 225, 256 Aemilius Paulus, L. 147 Aeneas 214 Aetius 499 Afrika 99, 146, 149, 317 Aigeus 32 Albinus, Lucceius 213, 248f. Alexander der Große 209 Alexander von Abonouteichos 262‒264, 271 Alexandria 28, 53, 57f. Alkiphron 256 Alsium 248 Amasis 123 Ambrosius von Mailand 400, 461, 485 Anaxarch 33 Antiochia 382, 391, 396 Antiochianos 265 Antiochus 299 Antipatros 61–63 Antiphates 165, 176 Antonius, M. 101 Apamea 296 Apelles 35 Apollinaris (Sohn des Sidonius) 510 Apollinaris, L. Domitius 213 Apollinaris von Valence 498 Apollonios 52, 57–59, 65 A(p)phia 282, 332 Aquileia 382, 389 Arat von Soloi 214 Arbogast 437 Archimedes 52–58, 65 Archippos 282f., 332 Arigius 502 Aristarch 282, 296 Aristides 309 Aristophanes von Byzanz 184 Aristoteles 31, 172, 209, 259, 298 Arnobius 400
https://doi.org/10.1515/9783110676303-020
Arrian 51, 58 Arrianus Maturus 216 Arrius, Q. 87 Artemidor 241 Artemon 31 Arulenus Rusticus 235, 239f., 244 Asia 76f., 80, 82, 346f. Asklepios 189 Asklepios (Adressat Lukians) 255, 262, 268f. Athen 29, 62, 78 Attalos I von Pergamon 57f. Atticus, T. Pomponius 96 Augustinus von Hippo 382f., 387, 392, 396, 400 Augustus 135, 168, 237 Ausonius, D. Magnus 434 Avitus 196f. Avitus von Vienne 498f., 501‒509 Baebius Macer 213 Baetica 213 Barnabas 282 Batis 32 Bauto, Flavius 436, 441f. Bethlehem 382f., 391f., 394f., 397, 401 Bomilcar 136 Britannia 76 Brundisium 77 Caecilius Celer 235f. Caecilius Metellus Nepos, Q. 73, 90 Caesar, C. Julius 76, 96f., 99, 100–102, 105, 108, 114f., 123, 125–136, 145, 150–152 Calidius, M. 86 Calpurnius Flaccus 219f. Calpurnius Piso 239 Candavia 77 Cassiodor 462 Catilina, L. Sergius 136–143, 150–152 Cato d. Ä. 195 Cato Uticensis, M. Porcius 75 Catullus Messalinus 242f.
520 | Index
Catulus, Q. 136f., 140, 142f., 151f. Cethegus, C. Cornelius 136 Chalkis 382, 397 Charybdis 165, 176 Christus 280, 283f., 287, 291–297, 301f., 306, 313f., 316f., 319‒321, 458, 460, 468‒470 Chrysostomos, Johannes 394 Cicero, M. Tullius 28, 51, 71–90, 95–116, 129, 136f., 140, 146, 199, 208, 215, 217, 221, 224, 453, 460, 469, 477, 482 Cicero, M. Tullius (Sohn des M. Tullius Cicero) 73, 81 Cicero, Q. Tullius 73–80, 82–90, 152 Cirta 146 Claudia 189, 201 Claudianus, Cl. 444 Claudianus Mamertus. 454, 498 Claudius Etruscus 189f. Clodius Pulcher, P. 72, 95, 97f., 101, 106, 109, 133f. Considius 127f. Corellia Hispulla 244 Corellius Rufus 243f. Cornelius Miniacus 216 Cottia 238 Cottius 238 Crassus, M. Licinius 86, 96 Crassus, P. Licinius 98 Cyprian 400, 460 Damasus 382, 391 Daniel 299 Decianos 195, 197 Demas 282 Demetrios (Ps.) 56, 124, 141, 208f., 348, 350 Demokrit 174 Demosthenes 44, 246 Diodor 32 Diogenes von Oinoanda 30, 52, 56, 61f., 64 Diomedes 165, 219 Dion 209 Dionysios von Alexandria 28 Dionysios von Syrakus 267
Domitian 235, 239‒245 Dositheos 53–55, 57f. Dyrrachium 78, 133–135 Eleazar 299 Ennodius von Pavia 462, 468, 498 Epaon 498 Epaphras 281–283, 287f., 290, 292, 294 Eparchius Avitus 498 Ephesus 78, 285, 293, 296, 311, 346f. Epikur 27–39, 41f., 44f., 52, 61–63, 199, 254‒256, 262f. Epirus 77f., 133 Eratosthenes 53, 55 Etrurien 136 Eudemos 57f. Eugenius 437 Eumathios I. 420 Eunapios 409‒412 Eurich 475, 486 Eusebius 285 Eustochium 383, 385, 388, 391f., 394 Fabia 142 Fabius Iustus 235f. Fabius, Q. Maximus Verucosus 147 Fabricius Veiento 242f. Faesulae 136 Faustus von Riez 453‒478, 480‒492 Favonius 134 Felix 472 Ferox 220f. Firmum 247 Frontinus 249 Fronto 482 Fundania 62 Gabinius, Aulus 95, 109 Gabriel 309 Galatien 332, 335 Galenos von Pergamon 58 Gallien 76, 115, 127f., 130f., 241, 437f., 453, 456, 460, 462f., 468, 476, 481f., 489, 498, 500 Gellius, A. 225 Genfer See 499 Germanien 237
Index | 521
Glaukos 219 Glykon 262 Gregor von Nazianz 208, 210f., 223, 382 Griechenland 76 Gundobad 498f., 502 Hadrianeia Neokaisareia 311 Hannibal 147, 149 Helvidius Priscus 240, 246 Heraclius 502 Herakleides 57 Herculaneum 30 Herennius Senecio 235, 240 Herodot 31, 39–41, 123, 265 Hesiod 52 Hesychius 498 Hiempsal 144–146 Hierapolis 283f., 347 Hieronymus 285, 381–389, 391f. 394– 402 Homer 167f., 170f., 173, 176, 186, 214 Honorius 442 Horaz, Q. Flaccus 159–178, 256 Hortensius Hortalus, Q. 86f. Hypsaeus 98 Idomeneus 32f. Ignatius 321 Ino 162f., 175 Io 162f., 175 Isokrates 43, 141 Israel 284, 289, 291, 293 Italien 99, 134f. Iuba 99 Iulius Genitor 244‒246, 249 Iulius Victor 211, 223 Iulius Vindex 248 Iunius Mauricus 236, 239‒244, 249 Ixion 162f., 175 Jerusalem 382, 391 Jesus Justus 282 Johannes 339, 344–347, 349–351 Josephus, Flavius 299, 308 Jugurtha 136, 144–147, 149f. Junia 282 Justin 321 Juvenal 242
Kallimachos 166, 194 Kallimorphos 265 Kelsos 262f. Kilikien 76, 98, 113f. Klaros 311 Kleinasien 344f. Kleon 38 Kolossä 279f., 283–285, 294, 296, 298, 307, 310, 336, 347 Kolotes 35f. Konon 53–55 Konstantinopel 53, 382, 391, 394, 411, 498f. Korinth 332, 335 Krepereios Kalpurnianos 265 Kronios 264 Kronos 253 Kyrene 53 Labienus 127f., 130, 151f. Laktanz 400 Lampsakos 31 Laodizea 283‒286, 307, 310f., 322, 336, 346f. Lentulus Spinther, P. Cornelius 73, 96f. Lentulus Sura, P. Cornelius 136, 140 Leonteus 36, 63 Leontion 31 Lérins 453, 468, 485 Libanios (Ps.) 124, 208, 210f., 223, 256, 443, 445f. Limoges 453, 456, 480f., 483, 485, 488‒ 492 Lindos 62f. Litaviccus 129 Luca 96 Lucan 187, 200 Lucilius 59–61 Lukas 282 Lukian 253‒272 Lukrez, T. Carus 28, 160 Lupercus 212 Lydien 307 Lykia 61 Lykinos 265 Lykostal 285 Lyon 482, 498, 501f., 505, 507‒509, 515
522 | Index
Macedonia 78 Macrinus, Caecilius 237 Maecius Celer 189 Maesius Maximus 430 Magnesia 347 Magnus Maximus 439, 444 Mailand 439 Manlius, C. 136 Manutius, Aldus 239 Marc Aurel 265 Marcella 387f., 392, 394f. Marcius, C. Figulus 136 Maria 292 Marius, M. 75 Markus 282 Martial, M. Valerius 181, 183, 185, 193, 195–198, 225, 248f. Martin von Tours 485 Masinissa 144f., 147–150 Massilia 137 Maximus, Q. 148 Medea 162f., 175 Meleager 165 Melior, Atedius 183, 187f., 190, 199 Menecrates, Julius 190 Menoikeus 31, 43 Messala 86 Messalenos 51 Messianus 506 Metrodorus 32, 63 Mettius Modestus 235 Michael 309f. Micipsa 144–146 Milo, T. Annius 95, 98, 110–112, 116 Mithras 37 Mithres 32 Mithridates 136, 146 Moses 491 Musonius Rufus, Gaius 245 Nabdalsa 136 Naukrates 58 Neapel 189f., 200, 234 Neoptolemos von Parion 172 Neratius Priscus 244 Nero 313 Nerva 237, 241‒244
Nicomachus, Flavianus Iunior 437 Nicomachus, Flavianus Virius 429f., 435‒ 441, 445 Nikaia 411 Nikobulos 210f. Nikomedia 411 Novius Vindex 191 Numidien 146 Nympha 282, 290 Odysseus 168, 173 Oinoanda 30, 52 Olympia 264 Olympios IX. 421 Ommatius 490 Onesimus 282f. Orestes 162f., 175 Orestilla 137f., 142 Origines 309 Orosius 142 Ovid, P. Naso 190, 197, 208, 237, 249 Palatin 97 Pannonien 244 Papias von Hierapolis 341, 347 Papirius Paetus, L. 75 Parnasios II. 417f. Parrhesiades 260 Paula 382f., 388, 394f. Paulinus 218, 247 Paulinus von Nola 462, 469 Paulus 279, 281–287, 289–296, 301f., 305, 307, 322, 329–337, 339, 341f., 344–346 Pedius, Q. 127 Pergamon 57, 189 Perge 52, 57 Persis 292 Petronius Probus, Sextus 436f., 439, 442 Pharsalos 134f. Philadelphia 346 Philagrios III. 421 Philemon 282, 332 Philokles 257 Philon 299, 302, 310, 312, 316, 319f. Philon (Adressat Lukians) 257, 265 Philonides 30
Index | 523
Philoxenos von Kythera 267 Phrygien 307 Pindar 184, 194 Piso, L. Calpurnius Caesoninus 95, 109 Platon 42, 62, 199, 209, 265, 312, 319 Plinius d.Ä. 108, 213, 222 Plinius d.J. 146, 199, 207f., 211–225, 233‒ 249, 453, 460, 489f. Plotius Grypus 190 Polla 187f., 200 Polla Argentaria 187f. Pollius Felix 183, 187f., 190, 192, 199f. Polykrates 123 Pompeia 101 Pompeia Celerina 248 Pompeiopolis 265 Pompeius Falco 238 Pompeius Magnus, Cn. 96–102, 132–134 Pontos 311 Praetextatus, Vettius Agorius 436, 439 Priamus 165, 167f. Priscus 197f. Priscus, C. Helvidius 215 Promotus, Flavius 436, 441f., 444 Proteus Peregrinos 264 Publicius Certus 235 Pythokles 31, 35, 38f., 41f. Quintilian, M. Fabius 159, 182, 191 Ravenna 96, 115 Regulus, M. Aquilius 235f., 239f. Rhodos 62 Richomeres, Flavius 436, 441‒443, 445 Riez 453, 456f., 480, 484, 492 Rom 76f., 84–89, 95, 107, 111–114, 116, 131f., 134, 136, 138, 142, 147, 150, 152, 190, 197, 238, 241, 266, 296, 381f., 385, 391f., 395f., 398, 401, 429, 437 Rufinus von Aquileia 386, 392, 396 Rufus, M. Caelius 96, 113–115 Ruricius von Limoges 453‒475, 477‒492 Ruso 249f. Rutilius Gallicus 186
Sabinos 268f., 272 Sabinus 218f., 247, 250 Saenius, L. 136 Sallust, C. Crispus 123, 125f., 136–142, 147–150, 152 Salomo 294 Samos 63 Sankt Gallen 454 Sapaudia 499 Sardeis 346 Sardinia 76 Scaurus 108 Scipio, P. Cornelius Aemilianus Africanus 144, 147‒149 Scipio, P. Cornelius Africanus maior 148 Scipio, Q. Caecilius Metellus Pius 133– 135 Scipio, Q. Caecilius Metellus Pius Cornelianus Nascia 98 Scribonius Curio, C. (cos. 76) 106 Scribonius Curio, C. (tr. pl.) 50, 73, 75, 98–103, 105–116 Sedatus 455 Seneca d.J. 28, 32, 3752, 56, 59–62, 146, 199, 208, 221, 254, 313, 320, 453, 460 Sentius Augurinus 238, 248 Septicius Clarus 220 Septimius Severus 190 Sestius 95 Sidonius Apollinaris 188, 200, 431, 433f., 455, 457, 461f., 484, 489, 498, 510 Sigismund 498f. Silvanus 332 Simplikios 51 Skylla 165, 176 Smyrna 346 Sokrates 44 Sosthenes 332 Spanien 197 Statius, P. Papinius 181–185, 187–200, 225 Stella 199 Stilicho, Flavius 435f., 441‒444 Sueton, C. Tranquillus 99 Symmachus, L. Aurelius Avianius 435, 446
524 | Index
Symmachus, Q. Aurelius 429–437, 439, 441–446 Symmachus, Q. Aurelius Memmius 434 Syphax 149 Syrakus 52 Tacitus, P. Cornelius 222, 234, 248 Terentia 73f., 80 Tertullian 400 Theodoret 310 Theodoridas 62f. Theodosius 439, 442 Theodotion 299 Theon von Smyrna 398 Thessalonike 77, 85 Thukydides 123f., 265 Thyateira 346 Timokles 255, 266, 268, 271 Timotheos 280–282, 296, 332, 337, 339 Toranius 196f. Trajan 211f., 233 Tralleis 347 Troja 164f., 168, 176 Trypho 191, 321 Tryphosa 292 Tullia 73, 81 Tychikus 282f., 297 Ummidius Quadratus 215 Ursus 187f., 190 Valence 498 Varro, M. Terentius 51, 62 Vatinius 101 Velleius Paterculus 100 Vergil, P. Maro 186, 214, 234, 381, 387, 399‒401 Verginius Rufus 248f. Verus, Lucius 265 Vestricius Spurinna 236 Vienne 241, 498, 502‒505, 507‒509 Villius Annalis, Sextus 111, 116 Vitorius Marcellus 183, 191, 199 Viventiolus von Lyon 498, 501‒509, 515 Voconius Romanus 221 Zeus 313
Index locorum Achilleius Tatios Isagoge 4
301
Aristeasbrief 142
305
Avitus von Vienne epist. 51P §9 54P §2 57P §1 57P §2 57P §3 57P §3f. 57P §4 57P §5 57P §6 57P §7 57P §8
510 502 501f. 503 503f. 506 504, 506 504‒506 506f. 507 507
Ambrosius von Mailand epist. 37,4 478
Apollonius von Perge con. 1 vol. 1 p. 1,3–7 Heiberg 58 1 vol. 1 p. 4, 20 Heiberg 58 2 vol. 1 p. 192,3–4 Heiberg 58 2 vol. 1 p. 192,5–6 Heiberg 58 2 vol. 1 p. 192,7–11 Heiberg 58 4 vol. 2 p. 3,1–8 Heiberg 57 4 vol. 2 p. 4,1 Heiberg 58
https://doi.org/10.1515/9783110676303-021
Archimedes con. sphair. vol. 1 p. 246,5–7 Heiberg 55 spir. vol. 2 p. 2,11–13 Heiberg 55 vol. 2 p. 2,18–21 Heiberg 56 vol. 2 p. 2,22–4,4 Heiberg 56 vol. 2 p. 2,4–5 Heiberg 57 vol. 2 p. 2,6–10 Heiberg 55
Appian civ. 2,26 2,26–33
99, 113 115
Apuleius met. 1,26,3
418
Aelius Aristeides or. 34,47 43,1 51 52 56
258 258 412 412 412
Aristeides von Athen Apologie 14,4 309
526 | Index locorum
Aristoteles poet. 1448b25ff. 1449a31‒33
259 259
pol. 1253b1‒11 318 1259a36‒1260b19 318 1307b35 298 5,1302b34‒40 312 soph. el. 164a20ff.
298
Arrian Epict. p. 5,10–12 Schenkl 58
Asconius Mil. 31 33
98 98
Athenaios Deipnosophistai 588a
35
Augustinus conf. 1,13f.,20‒23 1,17,27 8,6,15
387 387 382
epist. 151,2
482
Ausonius epist. 2
446
Außerkanonische Schriften AkpAbr 9,7‒10 306 AkpAbr 12,1f. 306 AkpAbr 17f. 309 ApkZef 3,5 303 ApkZef 4,2 303 ApkZef 10,3 309 ApkZef 11f. 303 AscIs 7‒9 309 AscIs 7,21 309 1 Esdr 5,51 306 grHen 14,9f. 311 grHen 14,13 311 grHen 102,5 302 1 Hen 11,1 321 1 Hen 25,7 321 1 Hen 39f. 309 1 Hen 46,3 294 1 Hen 50,1 284 1 Hen 51,3 294 1 Hen 58 289 1 Hen 61,10‒12 309 1 Hen 62,8 284 1 Hen 63,3 294 1 Hen 71,14–17 294 1 Hen 75,1 310 1 Hen 78‒80 305 1 Hen 108,7‒9 306 2 Hen 4,1 310 2 Hen 16,7 310 2 Hen 19,4 305 2 Hen 19,5 303 2 Hen 20,1‒21,1 309 3 Hen 20 310 JosAs 7,1 305 JosAs 8,5 305 JosAs 10,17 306 JosAs 11,2 306 JosAs 11,6 306 JosAs 11,12 306 JosAs 11,17 306 JosAs 13,1 306 JosAs 13,9 306 JosAs 15,3 306 Jub 1,14 306 Jub 1,23 314 Jub 1,24f. 307
Index locorum | 527
Jub 1,28 Jub 2,2 Jub 2,9 Jub 2,17–33 Jub 2,21 Jub 4,17f. Jub 50,6–13 PsSal 3,18 syrBar 4,3 syrBar 4,7 syrBar 5,6ff. syrBar 9,2ff. syrBar 12,5ff. syrBar 21,1ff. syrBar 43,3 syrBar 44,13 syrBar 44,14 syrBar 44,15 syrBar 47,2ff. syrBar 52,7 syrBar 78,2 TestAbr [A] 13,11
307 309f. 305 305 309 305 305 306 321 321 306 306 306 306 306 294 294 294 306 321 284
TestIob 48‒50 TestLev 2,10 TestLev 2,12 TestLev 3,5‒8 TestLev 5,1f.
310 309 310 310 309 310
Biblische Schriften Gen 1,26f. LXX Gen 1,28 Gen 2,2f. Gen 3,16 Gen 17,10‒27 Gen 29,25 Gen 31,41 Ex 3,14 Ex 4,31 Ex 12,27 Ex 14,30 Ex 31,3 Ex 31,13‒17 Ex 34,6 LXX Ex 35,31 LXX Lev 16,29
316f. 288 305 318 314 298 298 346 291 289 289 288 305 319 288 306
Lev 16,31 306 Lev 23,27 306 Lev 23,29 306 Lev 23,32 306 Lev 26,41 314 Dtn 4,19 309 Dtn 5,12‒15 305 Dtn 7,6‒8 284, 315 Dtn 10,16 314 Dtn 14,2 315 Dtn 17,3 309 Dtn 30,6 314 Jos 9,22 298 Jos 19,49 310 Jos 19,51 310 Ri 16,10 298 Ri 16,13 298 Ri 16,15 298 1 Sam (=1 Kön LXX) 19,17 298 1 Sam (=1 Kön LXX) 28,12 298 2 Sam (=2 Kön LXX) 7,14 287 2 Sam (=2 Kön LXX) 19,27 298 2 Sam (=2 Kön LXX) 21,5 298 2 Sam (=2 Kön LXX) 22,18 289 1 Kön (=1 Sam LXX) 8,10f. 313 1 Kön (= 1 Sam LXX) 18,22 308 2 Kön (= 2 Sam LXX) 15,26 308 3 Kön (=1 Kön) 10,9 308 4 Kön (=2 Kön) 20,13 302 1 Chr 23,31 306 1 Chr 28,4 308 2 Chr 2,3 306 2 Chr 5,13f. 313 2 Chr 31,3 306 Esra 8,21 306 4 Esra 5,13 306
528 | Index locorum
4 Esra 5,20 4 Esra 6,31 4 Esra 6,35 4 Esra 9,23‒25 4 Esra 12,51‒13,1 Tob 1,10‒12 Tob 5,3 Tob 9,2 Tob 9,5 Tob 12,15 Jdt 4,9 Jdt 8,6 Jdt 12,1‒19 1 Makk 1,46 1 Makk 1,62f. 1 Makk 9,27 1 Makk 10,34 1 Makk 12,25 1 Makk 13,20 1 Makk 14,31 1 Makk 15,40 2 Makk 1,6 2 Makk 1,11 2 Makk 2,30 3 Makk 1,3 4 Makk 1,1 4 Makk 5,7 4 Makk 5,11 4 Makk 5,22 4 Makk 7,9 4 Makk 7,21 Ijob 28,15‒19 Ps 2,7 Ps 8,7 Ps 15,3 LXX Ps 17,1 LXX Ps 29,1f. Ps 30,7 LXX Ps 33,4 Ps 33,5 LXX Ps 33,10 LXX Ps 33,18 LXX Ps 33,20 LXX Ps 34,13 LXX Ps 47,5 Ps 50,3 LXX
306 306 306 306 306 305 303 303 303 284 306 306 305 284 305 291 306 310 310 310 310 288 288 310 303 299 308 299 299 299 299 293 287 314 284 289 309 297 292 289 284 289 291 306 284 302
Ps 62,9 Ps 67,17 LXX Ps 89,27f. Ps 103, 20‒22 Ps 110,1 Ps 111 (= 112),1 Ps 113 (=114),2 Ps 118,43 LXX Ps 140,5 Ps 146 (=147), 10 Ps 148,1f. Spr 2,2 Spr 2,4 Spr 3,14–16 Spr 8 Spr 8,18–21 Spr 8,20 LXX Spr 15,16 Spr 21,20 Spr 22,4 Spr 24,4 Spr 31,30 Weish 1,7 Weish 3,11 Weish 5 Weish 5,5 Weish 7,17 Weish 7,7–21 Weish 7,8–14 Weish 9,9–18 Weish 9,15 Weish 10,12 Weish 13,2 Weish 14,18 Weish 14,27 Weish 18,9 Sir 1,25 Sir 7,19‒28 Sir 23,17 Sir 24 Sir 24,11 Sir 24,17 Sir 33,20‒33 Sir 34,1 Sir 43,26 Jes 1,13 LXX
462 313 287 309 287, 306, 314 308 302 292 462 308 308 294 293 293 294 293 288 293 293 293 293 288 313 297 289 307 301 294 293 288 462 320 301 308 308 284 293 318 302 294 302 293 318 297 301 306
Index locorum | 529
Jes 1,13f. Jes 6,1 LXX Jes 6,2f. Jes 11,9 Jes 29,13 LXX Jes 29,14 Jes 41,8f. LXX Jes 44,2 LXX Jes 44,22 LXX Jes 45,3 Jes 48,20 Jes 52,9 Jes 53,11f. Jes 56,6 Jes 58,3 Jes 58,5 Jes 63,16 LXX Jes 63,17 Jes 66,1 Jer 4,4 Jer 8,2 Jer 12,7 Jer 19,13 Jer 31,3 Bar 3f. Bar 3,37 Ez 10,4 Ez 36f. Ez 40f. Ez 41,3 LXX Ez 43,5 Ez 44,4 Ez 45,17 Dan 1,3‒16 Dan 1,20 Dan 2,2 LXX Dan 2,8 Dan 2,10 LXX Dan 2,19–23 Dan 2,28 Dan 3,59 Dan 7,10 Dan 7,18 Dan 7,21f. Dan 7,25 Dan 7,27 Dan 8,24
306 313 309 288 304 298 284 284 302 294 289 289 289 305 306 306 289 289 316 314 309 284 309 284 293 284 313 315 311 311 313 313 306 305 299 299 300 299 294 294 309 303, 309 284 284 284 284, 314 284
Dan 9,3 Dan 9,21 Dan 10,2f. Dan 10,12 Dan 12,1 Hos 2,13 Hab 3,16 Zef 1,5 Mt 5,34f. Mt 6,14f. Mt 11,18 Mt 11,25 Mt 18,23‒35 Mt 18,28f. Mt 18,31 Mt 18,33 Mt 24,49 Mk 1,1 Mk 1,6 Mk 2,23‒3,6 Mk 4,8 Mk 7 Mk 7,3 Mk 7,3f. Mk 7,5 Mk 7,6f. Mk 7,8 Mk 7,8f. Mk 7,13 Mk 7,21 Mk 7,21f. Mk 11,25 Mk 13,5 Lk 2,13f. Lk 10,21 Lk 15,11‒32 Lk 22,19f. Lk 22,53 Joh 4,25 Joh 8,23 Joh 11,4 Apg 3,19 Apg 5,19 Apg 7,53 Apg 10,14 Apg 11,2f. Apg 11,3
306 306 306 306 291 306 291 309 316 314 306 298 319 282 282 282 282 349 306 305 288 305 305 309f. 305 304 304f., 309 305 305 305 315 314 297 309 298 464 291 289 280 316 304 303 296 310 305 305 314
530 | Index locorum
Apg 12,12 Apg 12,25 Apg 13f. Apg 13,13 Apg 13,40 Apg 14,27 Apg 15,23–29 Apg 15,29 Apg 15,37–39 Apg 16,26f. Apg 18,4 Apg 19,9 Apg 19,10 Apg 19,29 Apg 20,4 Apg 20,29f. Apg 20,31 Apg 26,5 Apg 26,18 Apg 27,2 Röm 1,1 Röm 1,7 Röm 1,1–7 Röm 1,8–10 Röm 1,9–12 Röm 1,10–13 Röm 1,13 Röm 1,16 Röm 1,29‒31 Röm 2,1 Röm 2,4 Röm 2,25‒27 Röm 2,28f. Röm 3,30 Röm 4,9‒12 Röm 4,18 Röm 6 Röm 6,2 Röm 6,4 Röm 6,4f. Röm 6,6 Röm 6,7 Röm 6,8 Röm 6,10 Röm 6,11 Röm 7,24 Röm 7,6
282 282 335 282 297 296 333 333 282 296 293 280 293 282 282 296 294 308 289 282 281f., 345 283f. 331 287 288 286 291 293 315 304 319 314 314 314 314 287 314 302f. 303 314 314f. 302 302, 314 302 315 314 302
Röm 8,1‒3 Röm 8,5‒7 Röm 8,11 Röm 8,13 Röm 8,17 Röm 8,34 Röm 9–11 Röm 9,23 Röm 9,23f. Röm 9,24 Röm 10,12 Röm 11,25 Röm 11,33 Röm 12,3 Röm 12,4 Röm 13,12 Röm 13,14 Röm 14 Röm 14,3 Röm 14,4 Röm 14,5f. Röm 14,10 Röm 14,13 Röm 14,17 Röm 15,8–21 Röm 15,14 Röm 15,15 Röm 15,19 Röm 15,22–29 Röm 15,30 Röm 16,1 Röm 16,3–16 Röm 16,6 Röm 16,7 Röm 16,12 Röm 16,20 Röm 16,21–23 Röm 16,25f. Röm 16,26 1 Kor 1,1 1 Kor 1f. 1 Kor 1,1–3 1 Kor 1,2 1 Kor 1,3 1 Kor 1,4 1 Kor 1,13 1 Kor 1,14–16
303 309 315 315 291, 307 287 293 293 293 293 293 291 293 290 312, 319 315 315 304 304 304 305 304 303 304 291 296 290 292 333, 335 296 290 334f. 292 282 292 334 334 292f. 293 281, 332, 345 298 330 283f. 284 287 291 336
Index locorum | 531
1 Kor 1,20 1 Kor 1,21 1 Kor 1,24 1 Kor 1,26 1 Kor 1,30 1 Kor 2,4 1 Kor 2,5 1 Kor 2,6 1 Kor 2,7 1 Kor 2,10 1 Kor 2,13 1 Kor 3,6f. 1 Kor 3,6–17 1 Kor 3,10 1 Kor 4,12 1 Kor 4,14 1 Kor 5,3 1 Kor 5,9 1 Kor 5,10f. 1 Kor 6,9f. 1 Kor 6,13 1 Kor 6,14 1 Kor 6,15 1 Kor 7,1 1 Kor 7,15 1 Kor 7,18f. 1 Kor 7,19 1 Kor 8,1 1 Kor 8ff. 1 Kor 8,9 1 Kor 9,17 1 Kor 9,24 1 Kor 9,24–27 1 Kor 9,25 1 Kor 10,1 1 Kor 10,17 1 Kor 10,18 1 Kor 11,2–16 1 Kor 11,3 1 Kor 11,10 1 Kor 11,13–16 1 Kor 11,16 1 Kor 11,24 1 Kor 12 1 Kor 12,1 1 Kor 12,6 1 Kor 12,12f.
298 298 293, 298 297 294 298 298 298 292, 298 292 298 312 295 290 292 294 295 332 315 315 303 315 312 303 320 314 317 308 304 297 290 308 292 292 291 312, 319 297 333, 336 291 309 333 335 291 312 291 317 319
1 Kor 12,12‒27 1 Kor 12,13 1 Kor 12,20 1 Kor 13,4 1 Kor 13,13 1 Kor 14,33b 1 Kor 14,34 1 Kor 15,10 1 Kor 15,24ff. 1 Kor 15,24‒28 1 Kor 15,28 1 Kor 15,53 1 Kor 15,58 1 Kor 16,9 1 Kor 16,15–18 1 Kor 16,17 1 Kor 16,19 1 Kor 16,20 1 Kor 16,21 1 Kor 16,23f. 2 Kor 1,1 2 Kor 1,1f. 2 Kor 1,1–2 2 Kor 1–7 2 Kor 1,2 2 Kor 1,5 2 Kor 1,8 2 Kor 1,8ff. 2 Kor 2,3f. 2 Kor 2,4 2 Kor 2,7 2 Kor 2,12 2 Kor 2,14 2 Kor 4,8–12 2 Kor 4,10 2 Kor 4,14 2 Kor 5,2‒4 2 Kor 5,3f. 2 Kor 5,19 2 Kor 6,4 2 Kor 6,4–10 2 Kor 6,6 2 Kor 6,7 2 Kor 7,8 2 Kor 7,12 2 Kor 8,18f.
312 293, 317 319 319 287 335 318 292 314 321 317 315 290 296 334 291 334 334 296, 333 334 281–284, 332, 335, 345 330, 338 337 337 284 291 291 291 332 332 332 296 293, 302 291 291 315 315 302 314 289 291 289, 319 297 332 332 335
532 | Index locorum
2 Kor 8,23f. 2 Kor 9,10 2 Kor 10,1 2 Kor 10,10 2 Kor 10–13 2 Kor 10,11 2 Kor 11,23–28 2 Kor 11,28 2 Kor 12,1‒7 2 Kor 12,10 2 Kor 12,21 2 Kor 13,4 2 Kor 13,10 2 Kor 13,12 2 Kor 13,13 Gal 1,1 Gal 1,1f. Gal 1,1–5 Gal 1,3 Gal 2,5 Gal 2,7 Gal 2,9 Gal 2,11‒14 Gal 2,14 Gal 2,16 Gal 2,19 Gal 3,1 Gal 3,1f. Gal 3,19 Gal 3,27 Gal 3,28 Gal 4 Gal 4,3 Gal 4,5 Gal 4,8 Gal 4,10 Gal 4,9 Gal 4,17 Gal 5,2 Gal 5,6 Gal 5,8 Gal 5,19‒21 Gal 5,22f. Gal 6,1 Gal 6,11 Gal 6,15 Gal 6,18
335 312 291, 295 335 332 295 291 335 311 291 315 315 295 334 334 281, 332, 345 332 330, 343 284 297 314 290 305 297 287 303 335 346 302, 310, 314 315 293, 316f. 289, 302 302 302 302 302, 305 302 305 291 314, 317 298 315 319 314 296, 333 314, 317 334
Eph 1,1 Eph 1,1f. Eph 1,10 Eph 1,13 Eph 1,15 Eph 1,16ff. Eph 1,20 Eph 121 Eph 1,22 Eph 1,23 Eph 2,1 Eph 2,5 Eph 2,11 Eph 2,21 Eph 3,1 Eph 3,2 Eph 3,6f. Eph 3,7f. Eph 3,19 Eph 4,15 Eph 4,24 Eph 4,32 Eph 5,15 Eph 5,22‒24 Eph 5,23 Eph 6,5 Eph 6,21 Phil 1,1 Phil 1,1f. Phil 1,2 Phil 1,3f. Phil 1,4 Phil 1,7f. Phil 1,9–11 Phil 1,12ff. Phil 1,27 Phil 1,30 Phil 2,1‒3 Phil 2,9–11 Phil 2,12 Phil 2,30 Phil 3,2 Phil 3,3 Phil 3,10 Phil 3,14 Phil 3,19 Phil 3,19f.
281, 283, 345 338 312 297 287 288 287 316 312 313 314 314 314, 317 312 291 290 290 290 313 312 315 319 297 318 312 283 282 282f., 332, 345 330 284 287 288 286 288 291 295 292 319 287 295 291 297 314 291 308, 316 306 316
Index locorum | 533
Phil 4,7 Phil 4,21 Phil 4,22 Phil 4,23 Kol 1,1 Kol 1,1f. Kol 1,2 Kol 1,2f. Kol 1,3 Kol 1,3f. Kol 1,4 Kol 1,5 Kol 1,5f. Kol 1,6 Kol 1,7 Kol 1,7f. Kol 1,8 Kol 1,9 Kol 1,9f. Kol 1,10 Kol 1,10f. Kol 1,10–12 Kol 1,11 Kol 1,12 Kol 1,12–14 Kol 1,12‒20 Kol 1,13 Kol 1,14 Kol 1,15 Kol 1,15–20 Kol 1,16 Kol 1,16‒18 Kol 1,17 Kol 1,18 Kol 1,19 Kol 1,20 Kol 1,21 Kol 1,21f.
320 334 334 334 279–281, 283, 288, 290, 321, 345 338 280, 283, 287, 290, 316, 320 288 287f., 292, 296 295 283, 286–288, 319 287, 289, 292f., 296, 316, 321 286, 290 286, 288f., 312, 320f. 282f., 290, 294, 314 281f. 287, 291, 319 286, 288f., 292– 294, 296f., 321 316 288, 290, 312, 320 288 289 293, 319 283f., 289, 293, 307 289 322 287, 289, 302, 319, 321 291, 314f. 285, 287, 299, 302, 313, 316 288, 295 302, 309, 316 314 301, 320 285, 290f., 302, 309, 312, 315 313 287, 290f., 302, 315f., 320 290 290, 314
Kol 1,22 Kol 1,23 Kol 1,23–25 Kol 1,24 Kol 1,24f. Kol 1,25 Kol 1,25–28 Kol 1,26 Kol 1,27 Kol 1,28 Kol 1,29 Kol 1,29–2,1 Kol 2,1 Kol 2,1f. Kol 2,2 Kol 2,2f. Kol 2,3 Kol 2,4 Kol 2,4f. Kol 2,4–23 Kol 2,5 Kol 2,5–7 Kol 2,6 Kol 2,6f. Kol 2,6–8 Kol 2,7 Kol 2,8
Kol 2,8–15 Kol 2,9 Kol 2,9f. Kol 2,9–15 Kol 2,10 Kol 2,11 Kol 2,11f. Kol 2,11‒13 Kol 2,12 Kol 2,12f.
290–292, 294, 302, 315 286–288, 290, 293, 295, 316 283 291, 312 290 279, 283, 290, 292 293 283, 292–294 293, 321 279, 286, 288, 294, 312, 316 283, 292 291 283–286, 291f., 295 294 286–288, 292f., 296f., 316, 319 294 288, 321 279, 295, 298, 301, 312 282, 295 301 279, 287f., 292, 295, 322 290 288 295 295 288–290, 294f., 314, 321 279, 288, 295, 301, 304, 312, 314, 321, 342 295 291, 312 297, 307, 313 295 302, 309, 312, 314 291f., 302, 305f., 314f., 317, 321 307 314 288, 307, 314f. 294, 314
534 | Index locorum
Kol 2,12‒29 Kol 2,13 Kol 2,13f. Kol 2,13‒15 Kol 2,14 Kol 2,15 Kol 2,16 Kol 2,16–23 Kol 2,17 Kol 2,18 Kol 2,19 Kol 2,20 Kol 2,20ff. Kol 2,20–23 Kol 2,21 Kol 2,22 Kol 2,23 Kol 3 Kol 3,1 Kol 3,1f. Kol 3,1–4 Kol 3,2 Kol 3,3f. Kol 3,4 Kol 3,5 Kol 3,5ff. Kol 3,5–4,6 Kol 3,6 Kol 3,7f. Kol 3,8 Kol 3,8f. Kol 3,9 Kol 3,10 Kol 3,11 Kol 3,12 Kol 3,13 Kol 3,14 Kol 3,15
314 292f., 319 302, 315 307 291, 303, 305 302, 314 285, 302‒305, 307f., 312, 321 295, 299, 301 291, 306, 310, 312 292, 302, 308, 310, 312, 320 291, 302, 309, 312, 319f., 322 294, 302f., 305f., 312, 315 301 285 303 303f., 310, 321 288, 292, 304, 306, 308f. 315 287, 294, 306f., 314f. 306, 316, 318 295 306 294, 321 284, 293 303, 305f., 315 306, 319 295 315, 319 314 305, 315, 319 319 302, 315 288, 315f. 280, 293, 307, 314, 316‒318, 321 284, 289, 309, 315, 319 319 287, 319 287, 291, 308, 312, 319f.
Kol 3,16 Kol 3,17 Kol 3,18 Kol 3,18‒4,1 Kol 3,19 Kol 3,20 Kol 3,22 Kol 3,22ff. Kol 3,22‒25 Kol 3,24 Kol 4,1 Kol 4,2 Kol 4,3 Kol 4,3f. Kol 4,4 Kol 4,5 Kol 4,7 Kol 4,7f. Kol 4,7–9 Kol 4,7¬¬–14 Kol 4,7–17 Kol 4,8 Kol 4,9 Kol 4,10 Kol 4,11 Kol 4,12 Kol 4,12f. Kol 4,13 Kol 4,14 Kol 4,15 Kol 4,15f. Kol 4,16 Kol 4,17 Kol 4,18 Kol 4,25 Kol 5,13 Kol 5,15 Kol 5,16 Kol 5,17 Kol 5,18 Kol 5,20 Kol 8,16 Kol 11,11f. Kol 16,16 Kol 16–23
288, 292f., 296, 322 289, 322 283, 318 317 319 283, 288, 318 316 318 318 289 290, 316, 318 289 293, 296, 300 279, 283 293f. 288, 300, 318 282f. 283 282f. 282 296 297 282f. 282, 296 282, 321 282, 288, 292, 294, 321 281f. 283, 285, 292 282 282, 284, 314 285, 290 285, 322, 336, 351 282f. 283, 296, 300 314 314 314 314 314 314 314 300 314 292 279
Index locorum | 535
1 Thess 1,1 1 Thess 1,2 1 Thess 1,3 1 Thess 2,1f. 1 Thess 2,2 1 Thess 2,8 1 Thess 2,12 1 Thess 2,13 1 Thess 2,17–20 1 Thess 4,1 1 Thess 4,3‒7 1 Thess 4,12 1 Thess 5,8 1 Thess 5,12 1 Thess 5,14 1 Thess 5,25 1 Thess 5,26 1 Thess 5,27 1 Thess 5,8 1 Thess 5,28 2 Thess 1,1 2 Thess 1,1f. 2 Thess 1,11f. 2 Thess 2,2 2 Thess 2,15 2 Thess 3,1 2 Thess 3,15 1 Tim 1,1 1 Tim 1,1f. 1 Tim 1,2 1 Tim 2,9‒15 1 Tim 3 1 Tim 4,3 1 Tim 4,3–5 1 Tim 4,10 1 Tim 5 1 Tim 5,17 1 Tim 6,12 1 Tim 6,21 2 Tim 1,1 2 Tim 1,1f. 2 Tim 2,15 2 Tim 3,10 2 Tim 4,7 2 Tim 4,10f. 2 Tim 4,11
282, 284, 330, 332, 335, 345 287 287 291 292 289 288 288 286 288 315 319 315 292, 294 294 296 334 322, 335, 351 287 334 282 338 288 336 309 296 296 345 338 320 318 342 303 342 292 342 292 292 339 281, 345 338 297 289 292 282 282
2 Tim 4,12 2 Tim 4,22 Tit 1,1 Tit 1,1–4 Tit 1,14 Tit 1,14f. Tit 1,15 Tit 2,3‒5 Tit 3,12 Tit 3,15 Phlm 1 Phlm 1–3 Phlm 2 Phlm 3 Phlm 4 Phlm 10ff. Phlm 19 Phlm 23 Phlm 23f. Phlm 24 Phlm 25 Hebr 2,2 Hebr 3,12 Hebr 3,18 Hebr 10,1 Hebr 12,25 Hebr 13,23 Jak 1,1 Jak 1,18 Jak 1,22 Jak 1,26f. Jak 5,7–11 1 Petr 1,1f. 1 Petr 1,3f. 1 Petr 2,9 1 Petr 2,21 1 Petr 3,1‒6 1 Petr 5,13 1 Petr 2,9 2 Petr 1,1f. 2 Petr 3,5 2 Petr 3,15f. 2 Joh 1–3 2 Joh 1,8 3 Joh 1 Jud 1f. Offb 1,1–3
282 339 345 338 305 305 305 318 282 339 282, 332, 345 330, 337f. 282, 332 284 287 282 291, 296, 333 282 282, 334 282 334 310, 314 297 296 306 297 337 340 297 298 308 289 340, 343 287 289 291 318 282 284 340 301 336 340 297 340 340 342, 348
536 | Index locorum
Offb 1,3 Offb 1,4 Offb 1,4f. Offb 1,4–6 Offb 1,5 Offb 1,9 Offb 1,9–11 Offb 1,11 Offb 1,12–16 Offb 2f. Offb 2,1 Offb 2,2 Offb 2,6f. Offb 2,8 Offb 2,12 Offb 2,14f. Offb 2,14–17 Offb 2,18 Offb 2,20–24 Offb 2,20–25 Offb 3,1 Offb 3,7 Offb 3,14 Offb 3,14f. Offb 4f. Offb 4,1f. Offb 6,2 Offb 6,5 Offb 6,8 Offb 7,9 Offb 7,11f. Offb 8,2‒5 Offb 9,20f. Offb 12,3 Offb 14,1 Offb 14,14 Offb 18,4 Offb 19,10 Offb 19,11 Offb 20,12 Offb 21,7 Offb 21,8 Offb 22,8f. Offb 22,15
342, 352 284, 345 343, 345 346 285 349, 351 349 285, 346f., 349f. 351 349, 351f. 351 347 285 351 351 347 285 351 285 347 351 351 285, 351 285 309, 311 349 349 349 349 349 309 309 315 349 349 349 344 309 349 303 307 315 309 315
Caesar civ. 1,1,1f. 2,23–43 3,42–53 3,49,2 3,56,2–4 3,57 3,57,1 3,57,2 3,57, 2–4 3,57,4 3,57,5 3,60,3–61,3
132 99 133 133 133 132f. 133 134, 151 133 135 134, 151 133
Gall. 1,1,3 1,7,1 1,21–22 1,54,3 2 2,1f. 2,1,1 2,1–2,2,1 2,1,2 2,2,1 3,2,1 3,3,1 3,4,1 4 5,10,2 5,11,2 5,45–48 5,46,1 6,10,4 6,30,2 7 7,8,4 7,38 7,39 7,40,1 7,42,1 7,43,1 7,48,1 7,90,8
130 127 127 127 132, 152 127 151 127 128 151 129 129 129 132 129 129 152 129 129 129 132 129 129 129 129 129 129 129 132
Index locorum | 537
Cassiodor gramm. VII = de orthographia 1, p. 152,6 71
Chrysippos von Soli SVF 2,555 301
Cicero Att. 1,4,1 1,5,2 1,13,3 1,14,5 1,15,1 1,18 1,19 2,7,3 2,8,1 2,12,2 2,18,1 2,19,3 2,24 3,1–27 3,3 3,4 3,4,1 3,6 3,7,2 3,7,3 3,8,1 3,8,2 3,8,4 3,9 3,9,1 3,9,2 3,9,3 3,10,2 3,12,1 3,12,2 3,15,3 3,19,2 3,22 3,26 4,1,7 4,2,6
76 76 72 76, 101 76 96 96 96, 101 101 101 102 102 99 73 81 72, 81 81 81 81, 86 77 78 82 85, 87 83–85, 89 76, 78, 83 86 85 84 73 106 106 76 74 74, 81 76 97
5,6,2 5,7,1 5,14,1 init. 5,14,3 fin. 5,16,1 5,17,2 7,3,5 7,7,6 8,1,4 8,13,1 9,6A 9,8,1 9,13A 10,4,1 10,4,8–10 10,6,1 11,17 init. 14,13B 16,11,2 16,5,5
224 224 224 224 224 224 96 96 217, 224 224 224 217 224 224 115 224 224 215 224 199
Brut. 280 283
99 99
Caecin. 100 98–101
71 71
Cael. 42
96
Catil. 1,1 2,14 2,16 3,4–13 3,12
440 142 142 140 140
dom. 44 98
72 80
fam. 1,7,1 1,9,9 1,9,8-9
478 97 97
538 | Index locorum
1,9,21 2,1–6 2,1–7 2,1,1 2,1,2 2,2 2,3 2,3,1f. 2,3,2 2,4,1 2,4,2 2,5,2 2,6,1 2,6,3 2,6,4 2,7 2,7,1 2,7,2 2,7,4 2,8–15 2,9,1 2,10,1 2,10,4 2,11 2,13,1 2,13,3 5,4 5,4,2 5,12,1 7,1,6 7,3,6 7,19 7,33,2 8,1–14 8,6 8,6,3f. 8,6,5 9,8 9,21,1 14,1,1 14,1–4 14,3,2 14,4,5 15,4,8 15,18,1 15,21,1 15,21,5
97 98, 116 73, 99 102 104, 107 106 107 107 105, 107 103, 410 105, 107 107, 109 111 112 112 113 113 114 114 114 113 113 114 113 113 115 73f. 73 222 224 224 51 224 114 114 115 115 51 110 86 73 86 81 76 224 224 224
16,11,2 16,16
115 74
Flacc. 23 28,68f. 37
210 307 210
fin. 5,1
76
Lael. 88‒92
506
leg. 2,31 rep. 1,48
98 110
Mil. 24 80
98 110
off. 2,55–59 3,5,22f.
107 312
orat. 2,1–3
76
Phil. 2,44–46 2,46 2,7
100 101 79
Pis. 9
109
p. red. in. sen. 24 25f. 34 37
81 73 81 82
prov. 2
109
Index locorum | 539
Q. fr. 1,1 1,1,1 1,2 1,2,7 1,3 1,3,1 1,3,1f. 1,3,2 1,3,1–4 1,3,2f. 1,3,3 1,3,4 1,3,5 1,3,5–10 1,3,6 1,3,7 1,3,7f. 1,3,8 1,3,8f. 1,3,9 1,3,10 1,3f. 1,4 1,4,1 2,1–7 2,13–3,7 3,2,2 3,5,4 3,6(8),6 3,7(9),2 Sest. 88 98 109 130f. 144
76 77 76 80 74f., 77–79, 81, 83, 85, 88–90 79 80 85 83 81 75 78, 82f., 87 86, 88 85 87 88 86 76, 86f. 86 86f. 87 74 74f. 86 76 76 98 97 98, 110 110
109 95 109 73 110
Sull. 33
72
Vat. 24
102
Cicero, Q. Tullius com. pet. 6,33
96
CIL VI 1783 = ILS 2948 437, 440
Claudian 23,1‒6 23,14f.
444 444
Clemens von Alexandrien strom. 6,5,41 309
Codex Laurentianus 57,51 253
Codex Sangallensis 190 454f., 489
Codex Theodosius 14,9,1
414
Consentius gramm. 10,18-11,2N (= V 391) 504
Curtius Rufus 10,9,2 10,9,4
313 313
Demetrios (Ps.) eloc. 223 223f.
145, 192 32
540 | Index locorum
224 225 226 227 228 228f. 229 231 234
443 443 209 56, 141, 410 44, 186, 348 209 415 39, 44, 209 209
Digesta 27,1,6,2 27,1,6,4 27,1,6,7‒10
414 414 414
Diogenes Laertius 10,5 10,6 10,16–20 10,22
31, 35 35 29 29
Diogenes von Oinoanda fr. 2 col. 2,14–col. 3,2 Smith 61 fr. 62 col. 2,3 Smith 62 fr. 63 col. 1,1–2 Smith 62 fr. 63 col. 2,6–4,9 Smith 62 fr. 125, col. 1-4 Smith 34 fr. 126, col. 1-2 Smith 34
Dion Chrysostomos 32,22 258
Dionysios von Halikarnassos ant. 6,86 312
Donatus gramm. IV 392
502, 504
Epikur Fr. Arrighetti 42 43 52 55 56 59 65 71 72a 72b 78 88 89 96 98 99 114 117 247
33 35 29 37 33 36 36 31 34 34 32 35 35 31 31 31 34 35 42
Fr. Usener 106f. 108 116 117 132 133 138 141 143 153 163 165 177 185 221 387
31 31 33 35 37 33 29 36 31 35 35 35 32 31 42 34
Her. 35
40
Index locorum | 541
36 37 Kyriai doxai 11 12 27 28 Men. 122,1f. 122,5–123,1 122,5 123,1 135,2 135,2f.
41, 43 41, 43, 61
40 40 27 27
42 42 43 43 43 29
POxy. 507 col. 1,7–26 Angeli 63 fr. 1, col. 1 Schorn/Obbink 37 Pyth. 84 84f. 116
43, 254 39 39
Eratosthenes vol. 2 p. 426,4–5 Heiberg 55 vol. 2 p. 426–430 Heiberg 55 vol. 2 p. 430,14–18 Heiberg 56 quadr. vol. 2 p. 262 Heiberg 54 vol. 2 p. 262,13–264,4 Heiberg 56 sphaer. cyl. 1 vol. 1 p. 4,18–21 Heiberg 55
Eunapios von Sardes vit. 16,1,6‒8 495 XVI,2,1f. 411
Eusebius Gallic. Hom. 60,4
474
HE 3,39,3–4
341
Pr. Ev. 3,9 (GCS 43,126f.) 313
Faustus von Riez Fausti epistulae ad Ruricium 1,4‒9 471 1,7 471 1,9‒18 469 1,19‒24 470 1,23‒39 469 1,24‒30 472 1,31f. 478 1,40‒54 469 1,50‒54 470 1,55‒64 468 1,65‒80 473 2,3 473 2,4‒16 475 2,6‒8 476 2,17‒22 473 2,26‒40 474 2,27‒108 474 2,31 474 2,41‒52 474 2,41‒108 474 2,53 474 2,54 474 2,55 474 2,71 474 2,72 474 2,75 474 2,79‒81 474
542 | Index locorum
2,87‒108 3,3‒8 3,8‒16 3,13f. 3,17 3,17‒30 3,31‒38 3,39‒45 3,40 4,2f. 4,4‒10 4,9f. 4,11f. 4,11‒22 4,12f. 4,13‒17 4,16 4,20‒22 4,23‒27 5,2 5,2f. 5,4‒12 5,12‒20 5,21‒24 5,30 De gratia 2,9
474 478 479 486 480 479 480 478 480 481 483 481 481 481 481 482 481 482 481 481 481 484 484 483 481
2,8,5 §129‒131 2,8,9 §147 2,8,10 §152
Gennadius vir. ill. 86
305 305 305
453
Gregor von Nazianz epist. 51 210 51,1‒3 211 51,4 410
Herodot 3,40 3,42,4–43,1
123 123
Hieronymus c. Rufin. 2,22
383
chron. praef.
381
epist. 1 3 6 10 13 18 19 19–21 22 22,30,3–4 22,30,5 24,1 25,4 30 31 32 33 35f.
399 395 388 388 388 383 383 382 383, 397 385 386 388 388 383, 388 383, 388 387 383 382
470
Flavius Josephus ant. Iud. 12,3,4 §148‒153 307 13,6,3 §199 308 14,10,20 §241‒243 307 18,1,2 §9 299 18,1,2 §11 299 18,1,2 §26 299 Ap. 1,42
303
bell. Iud. 2,2,5 §28 2,8,2 §119
306 299
Index locorum | 543
39 47 64,21,1 70 70,2 79 84 84,3 93 97 106 108 121,20,5 123,9,1 126 128,5,4b 130 130,19,1 130,19,3f. 143
383 388 384 395 399 394 392 383 395 392, 394 392 383, 392, 394 387 382 392 392 387, 397 387 388 392
vir. ill. 135,1 135,2 135,3 135,5
381 387 387 383
Hermas sim. 5,3,7
306
vis. 3,10,6
306
Homer Od. 1–3
176
Horaz ars 1–9 1–45 5 7f.
173 162 166, 174 175
8f. 14 14–16 23 38 46–72 72–118 119 119–127 119–129 119–130 119–152 120b–124 122–127 128–130 129 129f. 131 131–139 131–152 132 133 133f. 134 135 136 136–140 137–139 137 138 139 140 141f. 143f. 144f. 146–152 146f. 148 149f. 151 152 295–298 304b–308 408–411 455
173 167 168 161, 171, 172 162 162 162 162, 170, 171, 172 162 170 166, 170, 177 159–162, 172, 174, 177 175 166 163 165 172 165 166 164, 173 166f. 165f. 166, 172 166, 172 165 166f. 169 167 167f. 170 169 165, 169 176 168 176 170 170 174 171 163, 170 171, 174 174 177 161 175
544 | Index locorum
carm. 4,3,16
194
epist. 2,1,1–4 2,1,250b–251
168 168
sat. 1,64–72
112
Ignatius Magn. 10,3
321
Iulius Victor rhet. 27
210
Iuvenal 4,113‒122
241
Justin der Märtyrer dial. 8,1 8,2 8,4 46f. 46,2 47,1
299 321 306, 321 321 321 321
Kallimachos ait. fr. 1,17 Pf.
194
Ap. 105–113
194
epigr. 21,4 Pf.
194
Libanios epist. 25F 26,2F 32F 41F 43F 44F 44,4F 59F 63,4F 87,1F 89F 89,4F 89,5F 92F 93,1F 93,2F 104F 121F 131,2F 139F 144F 148F 172F 172,1F 187F 199F 199,1F 231,3F 233F 239,1F 239,3F 239,4F 239,6 239,7F 248–250F 248,2F 248,3F 249,1F 249,1–2F 249,3F 250,1–2F 254F 254,3F 259F 261F
423 412 411, 423 425f. 411, 421 423, 425 412 423, 425 412 424 416, 421 421 421 422 412 419 425 412, 423f. 412 411, 423 415f., 418 423, 245 412, 420 421 425 416, 419 417 412 425 423 412, 417 419 417 412, 423 415, 421 420 412 412 422 419, 423 423 415, 421f. 421 423 425
Index locorum | 545
262F 269,5F 270 270,1 270,3F 273F 285F 285,2F 293,3F 305F 310,2F 311F 355F 355,1 355,2F 355,3 355,4F 371F 419F 456F 462,2F 465F 467F 467,1 472F 474F 475F 542F 542,1F 542,4F 547F 569F 579F 584,2F 600F 601F 634,2F 646,4F 666F 666,5F 704,2F 715,4F 719F 728F 728,2F 728,2–3F 737F
423 421 415f. 421, 423 421, 423 425 415 420 417 423 420, 424 411 415–417 417 415, 417, 424 417 417 412, 423 423, 425 425 412 412, 423–425 419, 423f. 412 423, 425 423 423, 425 411 419 419f. 413, 423–426 423 423f., 426 416 423–425 423f. 423 424 424 412 412 424 411, 415 412, 415, 419, 421 417, 421f. 422f. 423
737,4F 743,2F 745F 745,1F 745,3F 763,2F 766F 767,2F 768F 768,3F 781 781–782F 781,1–2 781,2 781,3F 782F 782,2F 782,2–3F 806F 812F 820,1F 833,1F 834,5F 844,1F 857,2F 866 873,1F 875F 892,2F 895F 895,4F 911,6F 972 1005F 1007 1009F 1012F 1012,4F 1013F 1014F 1014,3F 1020F 1014F 1020F 1020,2F 1024 1034F
419, 424 412 421, 424 422f. 422f. 417 424 415 411, 415 419, 421 421f. 415, 422 423 415 423 421 412, 417, 422 423 423 411 412 412 412 412 412 445 412 424 417 413 419 412 445 424 445 413, 426 415 421, 423 422 421f. 423 416 415 418 419 445 424
546 | Index locorum
1090F 1095F 1098 1101F 1141,1F 1164F 1165F 1188,4F 1222,1F 1238,1F 1240F 1240–1242F 1240,2F 1240,3F 1241,2 1241, 2–3 1241,3F 1241,4F 1242,2F 1250F 1250,3F 1261F 1261,2F 1261,4F 1268F 1309F 1309,2F 1345F 1394F 1403F 1408F 1408,2 1408,4F 1416F 1470,1F 1471F 1471,2F 1471,3F 1475F 1500F 1500,4F 1501F 1538F 1539F 1541,2
424 419 412 424 423 424, 426 412, 424 412 424 412 416, 418 415 419 412 417 421 417 416 412 423, 425 415 416f. 419 412 411, 415 416 417 424f. 425f. 424f. 412 412 411f. 412, 424f. 412 423f. 425 420 425 415f., 420 420 415, 419f. 412 424 412
or. 1,14‒93 1,219f. 43 55,28F 62,27f.
411 445 425 415 418
Libanios (Ps.) epist. char. p. 15,5–17 Weichert 33 1 256 2 145, 410 46f. 410 49f. 210
Livius 2,32,9‒12
312
Lukian Alex. 1 17 21 25 38 44f. 47 53‒57 59 60 61
254, 262f. 262 255, 262f. 263 263 263 254, 263 263 263 263 262
Apol. 1 3 4 6 15
254f., 269 255 269 269 254
Cal. 6
270
Index locorum | 547
Hist. Cons. 5 29
254 265
Ind. 7 15 28
267 267 267
Laps. 19
268
Merc. Cond. 8 11 15 19 22 24 25 26 33 Peregr. 1 2 3 6 43 45
254, 264 254f., 264 254 264 254 264
Pseudol. 1 7 9 11 29
268 267 267 267 267
266 266f. 267 271 255 266, 271 266 254 254
Rhet. Praec. 22 Sacr. 15
264
Symp. 22‒27
253
ver. hist. 2,35
253
Martial Epigrammaton libri XIV 1 pr. 195, 197 1 pr. 13 195 1,1,4 195 2 pr. 195, 197 2 pr. 1–11 195 2,5 197 7,1,3 196 8 pr. 195, 197f. 8 pr. 13–18 196 8,2 196 8,4 196 8,8 196 8,11 196 8,15 196 8,21 196 8,24 196 8,36 196 8,39 196 8,49(50) 196 8,56(54) 196 8,65 196 8,78 196 8,80 196 8,82 196 9 pr. 195, 197 9 pr. 1 196f. 9 pr. 2 196 9 pr. 6 197 10,2 197 12 pr. 195, 197f. 12 pr. 1f. 197 12,1 197f. 12,3 197f. 12,14 197f. 12,62,5 198 12,92 197f.
269 Origines Cels. 1,26 5,6
309 309
548 | Index locorum
Orosius 6,3,1
142
Orpheus fr. 168 Kern fr. 21a
313 313
Ovid trist. 4,10
190
Papyri Herculanenses PHerc. 1418, col. 31,4–19 Militello 32
Philodem De pietate 31,879-895 Obbink 34
Philon von Alexandria Cher. 127 302
fug. 4 12 212
308 312, 320 310
gig. 27 52
313 303
Gai. 156 232 245 295
299 308 299 308
her. 281
301
hypoth. 7,14 leg. 1,55
318 303
migr. 220
312
Mos. 2,67‒70 2,216
306 299
conf. 136 190
312f., 320 306
mut. 223
299
contempl. 3f. 26
301 299
opif. 25 69 139
316 316 316
decal. 53
301
Quaest. Ex. 2,117
313
plant. 7 8f. 9 80
312 312 320 310
det. 21 154
308 301
Index locorum | 549
somn. 1,232 1,238 2,115
310 310 308
spec. 1,304f. 1,315 2,255 3,131
314 308 301 313, 319
Philostrat epist. 2,1 soph. 1,21,3 516
Plinius d.J. nat. 36,116 36,118–120 36,120 epist. 1,1 1,1,1 1,2 1,2,2 1,3 1,4 1,5
410
412 412
Pindar Nem. 4,37
194
Platon Tht. 162e
298
Tim. 31b 31b‒32c 32a 32b 32c 38e 41b 43a 44d 73b 73b‒75d 81d
312 319 312 320 301, 312, 319 319 319 319 312 319 320 319
rep. 5,462c‒e 8,556e
312 312
1,5,1 1,5,2 1,5,2f. 1,5,3 1,5,4 1,5,5‒7 1,5,8 1,5,8‒10 1,5,9f. 1,5,10 1,5,11‒14 1,5,15 1,5,16 1,6 1,7 1,8 1,9 1,10 1,10,9 1,11 1,12 1,12,8 1,13 1,14 1,14,4 1,15 1,16 1,17 1,18 1,19 1,20 1,20,1‒3
108 108 108
220, 226 220 226 246 226 226 226, 235, 237‒240, 246, 249 235, 247 247 235 235 235 235 235f. 239 236 239 239 239 239 226 226 226 226 226 221 226, 235 226, 243f. 243 226 226, 240 240 226 226 226 227 227 213, 226f., 240 213
550 | Index locorum
1,20,14 1,20,20f. 1,20,24f. 1,21 1,22 1,23 1,24 1,71f. 2,1 2,1,2 2,2 2,2,1 2,2,2 2,3 2,4 2,5 2,5,13 2,6 2,7 2,7,1f. 2,7,3‒6 2,7,7 2,8 2,9 2,10 2,11 2,11,2 2,11,22 2,11,25 2,12 2,12,6f. 2,13 2,13,7 2,14 2,15 2,16 2,17 2,18 2,18,3 2,19 2,20 3,1 3,1,1 3,1,2 3,1,7 3,2 3,3
235 213 213 226f. 227 227 227 237 226, 248 248 218, 226, 246‒248 218 218 226 226 212, 226 212 226 226, 237f., 249 237f. 238 237 226 226 226 226 240 235, 240 216 217, 226 217 226 221 226 226 226 226 227, 240, 244 215 227 227, 235, 240 226, 237f., 249 237 239 238 226 226, 244‒246
3,3,5f. 3,4 3,5 3,5,20 3,6 3,7 3,8 3,9 3,9,27 3,9,36f. 3,10 3,10,1 3,10,6 3,11 3,11,3 3,11,4 3,11,8 3,11,9 3,12 3,13 3,14 3,15 3,16 3,17 3,18 3,19 3,20 3,20,10f. 3,21 3,21,5 4,1 4,2 4,3 4,4 4,5 4,6 4,7 4,8 4,8,3 4,9 4,10 4,11 4,11,15f. 4,12 4,13 4,14 4,14,5
244 226 213, 226 213 226 226 226 226 213 213 226, 238, 249 238 238 226, 241, 245 239f. 245 245 245 226 226, 237 226 226 226 226 227, 237 227 222, 227 222, 429 227 248 226 226, 235, 240 226 226 226 226 226, 235, 240 226 249 226 226 216, 226 217 226 226 226 248
Index locorum | 551
4,15 4,16 4,17 4,17,4‒9 4,17,8 4,17,11 4,18 4,19 4,20 4,21 4,22 4,22,1 4,22,3 4,22,4 4,22,4f. 4,22,5 4,23 4,24 4,25 4,26 4,27 4,27,4 4,27,5 4,28 4,29 4,30 5,1 5,1,5 5,2 5,2,1 5,2,2 5,3 5,4 5,5 5,6 5,6,41 5,6,42f. 5,6,44 5,7 5,7,5f. 5,8 5,9 5,10 5,11 5,12 5,13 5,14
226 226 226, 242f. 243 243 213 226f. 227 227 227 227, 241‒243 241 241 241 241 243 227 227 227 227 227, 238, 249 248 239 227 227 227 226 249 219, 226 219 219 226 226 226 213f., 226 213f. 214 214 226 216 226 226 226 226 226 226 226
5,15 5,16 5,17 5,18 5,19 5,20 5,21 6,1 6,2 6,3 6,4 6,5 6,6 6,7 6,8 6,9 6,10 6,10,1 6,10,3 6,11 6,12 6,13 6,14 6,14,1 6,14,2 6,15 6,16 6,16,1f. 6,16,22 6,17 6,18 6,19 6,20 6,21 6,22 6,23 6,24 6,25 6,26 6,27 6,28 6,29 6,30 6,31 6,32 6,33 6,34
226 226 226, 239, 249 226f. 227 227 227 226f. 227, 235, 240 226f. 227 227 227 227 227 226f. 227, 248f. 248 248 227 227 227 226f., 244, 249 244 244 227 222, 226f., 233f. 222 222 228 228 228 226, 228, 233f. 228 228, 241 228 228 228 228 228 228 228 228 228 226, 228 228 228
552 | Index locorum
7,1 7,2 7,3 7,4 7,4,6 7,5 7,6 7,7 7,8 7,9 7,9,8 7,9,11 7,9,15f. 7,10 7,11 7,12 7,13 7,14 7,15 7,16 7,17 7,18 7,19 7,20 7,21 7,22 7,23 7,24 7,25 7,26 7,27 7,28 7,29 7,30 7,30,4f. 7,31 7,32 7,33 7,33,1‒3 7,33,10 8,1 8,2 8,3 8,4 8,5 8,6 8,7
227 227, 235 227 227 248 226f. 227 227 227 221, 227 221 248 212 227 227 227 220f., 226f. 226f. 227 227 228, 235 228 228 228 228 228 226, 228 228 228 228 228 228 228 228, 246 246 228 226, 228 222, 228 222 222 227 227 227 227 227 227 226f.
8,8 8,9 8,10 8,11 8,12 8,13 8,14 8,15 8,16 8,17 8,18 8,19 8,20 8,21 8,22 8,23 8,24 9,1 9,2 9,2,1 9,2,2 9,2,3 9,2,5 9,3 9,3,1 9,4 9,5 9,6 9,7 9,8 9,9 9,10 9,11 9,12 9,13 9,13,1 9,13,6 9,13,26 9,14 9,15 9,16 9,17 9,18 9,19 9,19,1 9,20 9,21
227 226f. 227 227 227 226f. 226f. 226f. 227 228 228 226, 228 228 228 228 228 228 227 218, 227, 247f., 250 219, 247 430 221 219, 247 227, 247 248 226f. 227 227 227 226f. 227 227 226f. 226f. 215, 226f., 235, 246 215 243 215 226f. 227 226f. 228, 244 226, 228 228, 249f. 248f. 226, 228 228
Index locorum | 553
9,22 9,23 9,24 9,25 9,26 9,27 9,28,1 9,28 9,29 9,30 9,31 9,32 9,33 9,34 9,35 9,36 9,37 9,38 9,39 9,40 paneg. 61 61,1 62,2
Plutarch Ant. 2,4 Adv. col. 1117a 1117b
228 228 226, 228 228 228 226, 228 221 228 226, 228 228 226, 228 207, 226, 228 228 226, 228 226, 228 228 228 226, 228 228 228
249 236 236
101
33 36
Cic. 19–22 28–31 32 46f.
72 72 72 76
Gaius Marcius 6
312
Porphyrus Marc. 31
42
Quintilian inst. 4,1,58 6,3,86 10,3,17
504 112 182
Qumran CD III,13‒16 CD III,14 CD VI,18f. CD X,14‒XI,18 CD XVI,2‒4 11Q19 XXV,11f. 11Q19 XXVII,7 1QH III,22 1QH XV,26f. 1 QH XV,30f. 1QM II,4 1QM III,5 1QM VI,6 1QM VII,6 1QM XII,1f. 1QpHab VII,4f. 1QpHab IX,2 1QpHab X,13 1QpHab XI,13 1QS I,14f. 1QS III,13–IV,16 1QS IV,3 1QS IV,9‒11 1QS V,5 1QS VIII,6 1QS X,1–8 1QS XI,5–7 1QS XI,7 1QS XI,7f. 1QS XI,8 1QS XI,16 1QSa II,8f. 1Qsb IV,25f.
294 305 305 305 305 306 306 309 294 294 306 284 284 309 284 294 302 284 314 305 289 319 315 314 284 305 294 284 289 309 284 309 309
554 | Index locorum
4Q405 fr. 23,I,7‒10 311 4Q415 fr. 2 II 318 4QInstruction 294 4QShirShab 4 (bzw. 11) 309
Rabbinische Schriften bHag 15a 309 bSan 38b 309 ShemR 32 309 yBer 13a 309
Res Gestae divi Augusti 1 110
Rufinus von Aquileia apol. adv. Hier. 2,7 384
Ruricius von Limoges epist. 1,1 454, 467, 473 1,1,1f. 460 1,1,3 460 1,1,3‒5 457, 459 1,1,3‒17 460 1,1,6‒16 457 1,1,16f. 462 1,1,17‒26 457 1,1,18‒26 461 1,1,19 462 1,1,26‒37 458 1,1,26‒44 461 1,1,35 460 1,1,38f. 462 1,1,39‒44 459 1,2 454 1,2,3‒5 466 1,2,3‒14 463 1,2,15 465 1,2,15f. 465 1,2,16f. 466
1,2,16‒27 1,2,28‒42 1,2,43‒46 1,2,43‒47 1,18,3‒15 2,12 2,28 2,58 2,59
464 464 466 465 490 482 490 490 490
Sallust Catil. 5,4 5,7 15,1 20 20,2–17 30,1 31,4–9 32,1f. 32,3–33 34 34,2 34,3 35 34f. 35,2 35,3 35,6 36 38,3 44,4 44,5 58
143 139 142 139 139 136 136 136 136 136 137 137, 140 136f. 136 142f. 142 142f. 141 139 140 136, 140 139
Iug. 4,5–9 4,5 5,4 5,4f. 7 9,1–3 10 12–23,1 12,4–6 21,2f.
147 147 147 147 146 136, 144 146 146 146 146
Index locorum | 555
21,4 22 23,1 24 24,2 24,2f. 24,4 24,5–7 24,1–25,4 24,6 24,7 24,8–10 24,9 24,10 25,4 26,3 70,5
Seneca d.J. clem. 1,2,1 3,2,1 3,2,3 3,3,1
147 146 23 136, 144 150 146 146, 150 146 144 146 146 147 150 147, 150 147 150 136
313, 320 313, 320 313 313
epist. 1,7,1 1,91 6,13 8,2 14,92,30 15,95,52 21,3 21,3–5 22,5 40,1 47,1 55,9‒11 75,1 75,1f. 94,1
254 254 61 59 313 313 37 199 33 415 282 295 220 410 318
ira 2,31,7
312
Servius gramm. IV 444
502
Sibyllinische Orakel 3,586 297
Sidonius Apollinaris epist. 1,1 1,16 5,15 8,10 9,3 9,9 9,9,10 carm. 16 23,161 23,165f.
434 455 455 455 457 457 472
457 201 199
Simplikios Commentarius in Epicteti P 4–9, p. 192 Hadot 51
Sophokles Ant. 1167
80
Phil. 1018
80
Statius Silv. 1 pr. 1 1 pr. 1–5 1 pr. 20–23 1 pr. 1–15 1 pr. 8 1 pr. 11–13
183 199 199 186 187 192
556 | Index locorum
1 pr. 13–14 1 pr. 18 1 pr. 18f. 1 pr. 21f. 1 pr. 26 1 pr. 27f. 1 pr. 28 1 pr. 30 1,1 1,2 1,3 1,4 1,5 1,6 2 pr. 1 2 p. 1–4 2 pr. 27–29 2 pr. 3f. 2 pr. 9–11 2 pr. 14–18 2 pr. 18–22 2 pr. 21f. 2 pr. 23 2 pr. 22–24 2,1 2,2 2,3f. 2,3 2,4 2,5 2,6 2,7 3 pr. 1–6 3 pr. 1–10 3 pr. 7 3 pr. 9 3 pr. 10 3 pr. 11–14 3 pr. 14–16 3 pr. 16–20 3 pr. 20–23 3 pr. 21 3 pr. 22 3 pr. 23–25 3,1 3,2 3,2,121
187 187 186 186 186 186 186 186 183, 186 183, 186 186 190 186 186 187f. 199 199 188, 196 192 187 187 187 200 187 187f. 188, 190 187 187, 190 187 187 187f. 188 199 188 182 185, 188 192 189 189 189 189 201 200 199 185, 188, 190 189 189
3,3 3,4 3,4,1–11 3,4,7 3,4,94 3,5 3,5,51–54 4 pr. 1–2 4 pr. 2–5 4 pr. 10 4 pr. 10–12 4 pr. 15 4 pr. 25 4 pr. 16f. 4 pr. 17f. 4 pr. 20f. 4 pr. 22 4 pr. 24–27 4 pr. 28–34 4 pr. 34f. 4,1–3 4,5 4,6 4,7 4,7,3 4,7,26 4,8 5,3 5,5 5,5,87 Theb. 12,812
Sueton Caes. 29,1
189 189 189 190 189 190, 200 200 199 183 190 190 191 182 191 191 190 190 182, 193 193 199 183 190 191 191 194 194 190 182 182 182
194
99
Dom. 4,4
241
rhet. 2
99
Index locorum | 557
Symmachus epist. 1,1–12 1,2 1,31 1,44–55 1,56–61 2,3–8 2,11–13 2,13,1f. 2,17 2,19 2,22–28 2,30 2,32 2,34–37 2,35 2,35,1f. 2,47–62 2,69 2,75–77 2,86 2,90 3,54–56 3,59,1 3,59f. 3,62–66 3,68–71 3,74f. 3,74,3 3,78ff. 4,1 4,5 4,10f. 4,11 4,13–16 orat. 3,9f. rel. 3
436 446 446 436 436 439 439 439 439 439 439 439 439 439 431, 433, 436, 439 429 439 439 439 439 439 443 444 443 443 443 443 444 443 443 443 443 443 443
444
Tacitus Agr. 3 45 ann. 14,27
244 241
285
Tatian orat. 22
297
Tertullian ieiun. 12,2 13,4
306 306
Thukydides 1,128–138 1,22,1
123 124, 139
Valerius Maximus facta et dicta memorabilia 9,1,6 101
Varro Rust. 1,1,1
62
Velleius Paterculus historia Romana 2,45 2,48,3 2,48,4 2,48,5
72 99 99 100
Vergil Aen. 2,3 3,55f. 3,56
248 515 514
429
558 | Index locorum
4,147‒177 4,217 6,513f. 6,624 7,231 8,677
497 503 514 515 514 514
ecl. 1,23 9,51
214 501f., 514
georg. 3,37–39 4,176–178
194 214