Actio: Körper und Geschlecht in der Rhetoriklehre 9783110267266, 9783110266368

From antiquity until the twentieth century, rhetorical training was exclusively concerned with forming male speakers as

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German Pages 498 [500] Year 2012

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Table of contents :
I Prolog: Körperbildungsmacht Rhetorik
II Körper-Rede, Macht, Geschlecht: Rhetorik mit Pierre Bourdieu und Judith Butler
III Aufführung von Männlichkeit: Actio und Geschlechterdifferenz in der alten Rhetorik
1 Einleitung
1.1 Stellenwert der actio in der alten Rhetorik
1.2 Fragestellung und Vorgehen
2 Antike Konzeptionen der actio und ihr gendering
2.1 Stimme
2.2 Gestik und Mimik
2.3 Kleidung
2.4 Leitdifferenz angemessen/unschicklich: Decorum
3 Das rhetorische Subjekt
3.1 Ars und natura
3.2 Der vir bonus
3.3 Rednerbildung, Mannwerdung: Die Ausbildung zum Redner
3.4 Lebenslang: Rhetorik für jedes Alter
3.5 Nachahmungen: Imitatio
3.6 Stimmübungen: Declamatio
3.7 Leibesübungen: Palaestra
4 Die rhetorische Situation
4.1 Schauplätze – Kampfplätze
4.2 Reden vor Massen: Publikum
4.3 Sich als etwas zeigen: Ethos und actio
4.4 Die Kunst verbergen: Redner und Schauspieler
5 Synthese
Exkurs: Damen und Herren im Gespräch: Actio in der Gesprächsrhetorik des 16. und 17. Jahrhunderts
1 Ein weiblicher vir bonus? Castigliones Hofdame
2 Bildungsmittel weiblicher Rhetorik: Harsdörffers Frauenzimmer Gesprächspiele
IV Ansehen von Weiblichkeit: Actio und Geschlechterdifferenz im 18. Jahrhundert
1 Einleitung
1.1 Fragestellung und Vorgehen
1.2 Die actio in der Rhetorik des 18. Jahrhunderts
1.3 Polarisierung der Geschlechtscharaktere
1.4 ›Öffentliche‹ und ›private‹ Rede
2 Das Frauenzimmer als Rednerin: Positionen der Frühaufklärung
2.1 »Nacheiferung«: Aufruf zur imitatio historischer Rednerinnen in Frauenzimmer-Lexika
2.2 »Redner im Reifrocke«: Eine Scherzrede über die Vorzüge weiblicher Rhetorik (Blaufus)
3 Geschlechtsneutrale Aktion? Actio in Rhetoriken
3.1 Wiederbelebung der Tradition: Gottscheds ›männliche‹ Rhetorik
3.2 Universalistische Entwürfe: Die Herausbildung der actio als selbstständige Disziplin (Engel, Lessing, Cludius, Pfannenberg, Seckendorf)
3.3 Einzelfall: Eine Redekunst fürs Frauenzimmer
4 Praktische Bildung: Actio in Erziehungsliteratur
4.1 Im pädagogischen Jahrhundert: Erwachendes Interesse an Mädchenbildung
4.2 Perspicuitas, brevitas, latinitas: Fénelons Anforderungen an eine weibliche Rhetorik
4.3 Gefallenwollen: Rousseaus Ideal einer weiblichen Rhetorik
4.4 Bescheidenheit: Campes Einschränkung weiblicher Rhetorik
4.5 Gesprächigkeit: Einspruch einer Gouvernante
5 Anstand im Leibe: Actio in der Anstandsliteratur
5.1 Von der Rhetorik zur Sittenlehre: Actio als körperlicher Anstand
5.2 Konzeptionen der ›Wohlanständigkeit‹ (Zedler, Sulzer, Garve)
5.3 Über den Umgang mit Menschen und Frauenzimmern (Knigge)
5.4 Knigges Nachfolger/innen: Körperlicher Anstand für Männer und Frauen von Welt (Siede, Wenzel, Wallenburg)
5.5 Anstand üben: Verkörperungen
6 Synthese
V Rhetorische Aneignung: Actio und Geschlechterdifferenz um 2000
1 Einleitung: Actio in Populärrhetoriken für Frauen
2 Rhetorisches Subjekt und rhetorische Situation
2.1 Karrierefrau im Haifischbecken
2.2 Leitdifferenz durchsetzungsstark/harmoniebedürftig
2.3 Ars und natura
3 Aktuelle Definitionen der actio und ihr gendering
3.1 Strategien der Aneignung und Vermischung männlicher und weiblicher Redestile
3.2 Stimme
3.3 Gestik und Mimik
3.4 Kleidung
3.5 Raum- und Distanzverhalten: Abschied von der Bescheidenheit
4 Rhetorik-Training
5 Die geschlechtliche Codierung von Gespräch und öffentlicher Rede
VI Epilog
VII Literaturverzeichnis
1 Quellen
2 Forschungsliteratur
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Actio: Körper und Geschlecht in der Rhetoriklehre
 9783110267266, 9783110266368

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STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR

Herausgegeben von Wilfried Barner, Georg Braungart und Martina Wagner-Egelhaaf

Band 196

Lily Tonger-Erk

Actio Körper und Geschlecht in der Rhetoriklehre

De Gruyter

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort.

D6

ISBN 978-3-11-026636-8 e-ISBN 978-3-11-026726-6 ISSN 0081-7236 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalogue record for this book is available from the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Gesamtherstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt

I

Prolog: Körperbildungsmacht Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1

II

Körper-Rede, Macht, Geschlecht: Rhetorik mit Pierre Bourdieu und Judith Butler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

III Aufführung von Männlichkeit: Actio und Geschlechterdifferenz in der alten Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . 40 1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 1.1 Stellenwert der actio in der alten Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . 40 1.2 Fragestellung und Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

2

Antike Konzeptionen der actio und ihr gendering . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2.1 Stimme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 2.2 Gestik und Mimik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 2.3 Kleidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 2.4 Leitdifferenz angemessen/unschicklich: Decorum . . . . . . . . . . . 69

3

Das rhetorische Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Ars und natura . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Der vir bonus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Rednerbildung, Mannwerdung: Die Ausbildung zum Redner . 3.4 Lebenslang: Rhetorik für jedes Alter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Nachahmungen: Imitatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Stimmübungen: Declamatio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7 Leibesübungen: Palaestra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

76 77 82 85 86 90 93 97

4

Die rhetorische Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Schauplätze – Kampfplätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Reden vor Massen: Publikum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Sich als etwas zeigen: Ēthos und actio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Die Kunst verbergen: Redner und Schauspieler . . . . . . . . . . . .

99 100 104 111 122

5

Synthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 V

Exkurs: Damen und Herren im Gespräch: Actio in der Gesprächsrhetorik des 16. und 17. Jahrhunderts . . . . . . . . 138 1

Ein weiblicher vir bonus? Castigliones Hofdame . . . . . . . . . . . . . . . . . 138

2

Bildungsmittel weiblicher Rhetorik: Harsdörffers Frauenzimmer Gesprächspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

IV Ansehen von Weiblichkeit: Actio und Geschlechterdifferenz im 18. Jahrhundert. . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 1

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Fragestellung und Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die actio in der Rhetorik des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . 1.3 Polarisierung der Geschlechtscharaktere . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 ›Öffentliche‹ und ›private‹ Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

2

Das Frauenzimmer als Rednerin: Positionen der Frühaufklärung . . . . 211 2.1 »Nacheiferung«: Aufruf zur imitatio historischer Rednerinnen in Frauenzimmer-Lexika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 2.2 »Redner im Reifrocke«: Eine Scherzrede über die Vorzüge weiblicher Rhetorik (Blaufus) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226

3

Geschlechtsneutrale Aktion? Actio in Rhetoriken . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Wiederbelebung der Tradition: Gottscheds ›männliche‹ Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Universalistische Entwürfe: Die Herausbildung der actio als selbstständige Disziplin (Engel, Lessing, Cludius, Pfannenberg, Seckendorf) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Einzelfall: Eine Redekunst fürs Frauenzimmer . . . . . . . . . . . . . .

4

VI

Praktische Bildung: Actio in Erziehungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Im pädagogischen Jahrhundert: Erwachendes Interesse an Mädchenbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Perspicuitas, brevitas, latinitas: Fénelons Anforderungen an eine weibliche Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Gefallenwollen: Rousseaus Ideal einer weiblichen Rhetorik . . . 4.4 Bescheidenheit: Campes Einschränkung weiblicher Rhetorik . . 4.5 Gesprächigkeit: Einspruch einer Gouvernante . . . . . . . . . . . . .

180 180 191 199 202

235 236

244 271 281 281 287 292 307 313

5

6

V

Anstand im Leibe: Actio in der Anstandsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Von der Rhetorik zur Sittenlehre: Actio als körperlicher Anstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Konzeptionen der ›Wohlanständigkeit‹ (Zedler, Sulzer, Garve). . 5.3 Über den Umgang mit Menschen und Frauenzimmern (Knigge) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Knigges Nachfolger/innen: Körperlicher Anstand für Männer und Frauen von Welt (Siede, Wenzel, Wallenburg) . . . . . . . . . 5.5 Anstand üben: Verkörperungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Synthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409

Rhetorische Aneignung: Actio und Geschlechterdifferenz um 2000 . . . . .

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Einleitung: Actio in Populärrhetoriken für Frauen . . . . . . . . . . . . . . . 421

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Rhetorisches Subjekt und rhetorische Situation . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Karrierefrau im Haifischbecken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Leitdifferenz durchsetzungsstark/harmoniebedürftig . . . . . . . . 2.3 Ars und natura . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3

Aktuelle Definitionen der actio und ihr gendering . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Strategien der Aneignung und Vermischung männlicher und weiblicher Redestile. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Stimme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Gestik und Mimik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Kleidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Raum- und Distanzverhalten: Abschied von der Bescheidenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

431 431 436 439 441 443

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Rhetorik-Training . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 446

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Die geschlechtliche Codierung von Gespräch und öffentlicher Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453

VI Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458

VII Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 1 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 467 2 Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 475 VII

I

Prolog: Körperbildungsmacht Rhetorik

Die Rhetoriklehre vermittelt Techniken des wirkungsvollen Redens. Keine Rede wirkt, wenn der Redner sein Publikum nicht mit der Art und Weise seines körperlichen Auftretens, seiner Stimmführung, Gestik, Mimik und Kleidung – kurz: mit seiner actio – zu überzeugen vermag. Schon Demosthenes, der berühmteste Redner der Antike, behauptet, den Erfolg einer Rede bestimme erstens der Redeauftritt, zweitens der Redeauftritt und drittens der Redeauftritt.1 Der actio, dem nach inventio, dispositio, elocutio und memoria fünften und letzten Produktionsstadium der Rede, wird in der ›alten Rhetorik‹2 eine entscheidende Bedeutung zugeschrieben. Die actio dient nicht nur der Unterstreichung des Gesagten und der Vermittlung von Emotionen (logos und pathos), sondern auch der Darstellung des ›Charakters‹ eines Redners (ēthos) – und das heißt nicht zuletzt: des ›Geschlechtscharakters‹. In dem Moment, wo ein Redner/eine Rednerin die Bühne betritt, wo er/sie die Stimme anhebt und seine/ihre Worte mit Mimik und Gestik unterstreicht, rückt der geschlechtliche Körper ins Blickfeld.3 Im System der Rhetorik ist es folglich gerade die actio, die zu einer gender-orientierten Auseinandersetzung auffordert. Die Rhetorik, wie sie sich in der griechisch-römischen Antike als wirkmächtiges Bildungsparadigma formiert, richtet sich ausschließlich an den Mann. Ziel der rhetorischen Unterweisung ist ein Redner, der sich nicht nur durch seine Tugend (virtus), sondern explizit auch durch seine Männlichkeit (virilitas) auszeichnet. 4 »Orator est, Marce fili, vir bonus dicendi peritus«5 – Catos berühmte Definition des idealen Redners zwingt geradezu zu einer geschlechtsdifferenzierten Wahrneh-

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Vgl. Quint. Inst. XI, 3, 6. Zit. n. Quintilian, Institutionis oratoriae libri XII/Ausbildung des Redners: Zwölf Bücher, lat.-dt., 2 Bde., übers. und hg. von Helmut Rahn, 3. Aufl., Darmstadt 1995. Mit dem Begriff der ›alten Rhetorik‹ beziehe ich mich auf: Roland Barthes, Die alte Rhetorik. In: Barthes, Das semiologische Abenteuer, Frankfurt a. M. 1988, S. 15-101; vgl. dazu Kapitel III.1.1. Die Bedeutsamkeit der geschlechtsspezifischen Wahrnehmung des Körpers beim Redeauftritt zeigt sich – auch heute noch – in den medialen Debatten, die über Angela Merkels Frisur, Hillary Clintons Tränen oder Gerhard Schröders ›Testosteron‹-Rhetorik geführt werden. Vgl. Quint. Inst. I, 8, 9; Amy Richlin, Gender and Rhetoric: Producing Manhood in the Schools. In: Roman Eloquence. Rhetoric in Society and Literature, hg. von William J. Dominik, London, New York 1997, S. 90-110. Cato, De rhetorica, fr. 14, erhalten in Seneca Maior, Controversiae I, Pr. 9. Zit. n. Mar-

1

mung: Der vorbildliche Redner erscheint als erwachsener, rechtschaffener Mann, der der Oberschicht angehört, über theoretische Kenntnisse sowie praktische Erfahrung in der Redekunst verfügt und sein Wissen väterlich an seinen Sohn weitergibt.6 Die alten Rhetoriken stellen dieses Rednerideal nicht nur vor, sondern sie vermitteln ebenso, wie die besagte Männlichkeit im Redeauftritt sichtbar und wirkungsorientiert darzustellen – ja: herzustellen – ist. Die angemessene Performanz von Geschlecht wird zu einem rhetorischen Wirkungsmittel. Meine Arbeit nimmt eben diese Verknüpfung von Redeauftritt und Geschlechterperformanz in den Blick, die bislang nicht historisch-systematisch untersucht wurde. Dabei weise ich auf die geschlechtliche Codierung der antiken actio-Lehre und deren Jahrhunderte währende Wirkmächtigkeit hin, decke die diskursiven Verschiebungen im Zuge der Transformation der Rhetorik im 18. Jahrhundert auf und verfolge deren Effekte bis hin zu populären Rhetorikratgebern für Frauen des 20. Jahrhunderts. Jedoch ist es das 18. Jahrhundert, das im Mittelpunkt der Arbeit steht – aufgrund von drei an sich nicht unbekannten Aspekten: Zum Ersten lösen sich Wissensbestände der actio-Lehre aus der klassischen Systemrhetorik und werden vermehrt von anderen, neuen Wissenschaften wie z.B. der Pädagogik oder Schauspielkunst aufgegriffen.7 Zum Zweiten werden die Geschlechter nun als einander radikal entgegengesetzt entworfen.8 Zum Dritten wird ›Bildung‹ im so genannten pädagogischen Jahrhundert zu einer zentralen aufklärerischen Forderung und die sichtbare Demonstration von Bildung (d.h. die actio im geselligen Umgang) zum Definitionskriterium des Bürgertums schlechthin.9 Aufgrund dieser tiefgreifenden Entwicklungen – der Transformation der Rhetorik, der Polarisierung der Geschlechterdifferenz und der Popularisierung des (rhetorischen) Wissens – ist das 18. Jahrhundert in der Geschichte der actio-Lehre aus gender-orientierter Perspektive ebenso bedeutsam wie folgenreich. Mir geht es nun darum, ob und wie diese drei Prozesse ineinander greifen. Um diese Fragestellung zu verfolgen, reicht es nicht aus, den Untersuchungsgegenstand auf systematische Rhetoriken zu beschränken. Im 18. Jahrhundert sind es neben den klassischen Systemrhetoriken u.a. auch Anstandslehren, Tanzbücher und Erziehungsratgeber, die Anleitungen für den wirkungsorientierten Redeauftritt

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cus Porcius Cato, Vom Landbau. Fragmente. Alle erhaltenen Schriften, lat.-dt., übers. und hg. von Otto Schönberger, München 1980, S. 278f. Vgl. Richlin, Gender and Rhetoric: Producing Manhood in the Schools, S. 90. Vgl. Helmut Schanze, Transformationen der Rhetorik. Wege der Rhetorikgeschichte um 1800. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch, 12, 1993, S. 50-72; Dietmar Till, Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 2004. Vgl. Karin Hausen, Die Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. In: Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, hg. von Werner Conze, Stuttgart 1976, S. 363-393. Ulrich Herrmann (Hg.), Das ›Pädagogische Jahrhundert‹, Weinheim 1981. Ulrike Döcker, Die Ordnung der bürgerlichen Welt. Verhaltensideale und soziale Praktiken im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M., New York 1994.

geben. Wenn solche Texte Auskunft über die rhetorische actio erteilen sollen, wird es notwendig, einen weiteren Rhetorikbegriff anzulegen, der nicht nur die ›große Rede‹, sondern auch die Konversation einschließt.10 Allein unter dieser Voraussetzung kommen auch Rednerinnen in den Blick. Denn versteht man unter Rhetorik lediglich die Anleitung zur ›großen Rede‹, bleibt sie Frauen bis ins 20. Jahrhundert vorenthalten – weder haben sie Zugang zu einer klassischen Rhetorik-Ausbildung noch zu öffentlichen Positionen, die mit rhetorischer Praxis verbunden wären.11 Wird dagegen die Konversationslehre berücksichtigt, zeigt sich ein gänzlich anderes Bild: Hier wird die Frau sehr wohl in die rhetorische Unterweisung und Praxis einbezogen. So entwirft Baldesar Castigliones Hofmannstraktat Il libro del Cortegiano (1528), der erstmals eine umfassende Rhetorik des Gesprächs entwickelt,12 auch die Frau als rhetorisches Subjekt. Denn Castiglione spricht der höfischen Frau die genuin rhetorische Aufgabe zu, sich mit jedem über alles angemessen unterhalten zu können und dabei ihren Gesprächspartner von sich – als Dame – zu überzeugen. Umfangreiche, eigens für die Frau verfasste Anweisungen, wie sie im geselligen Umgang aufzutreten, wie sie mit ihrer geschlechtsspezifischen Stimmführung, Körperhaltung und Gestik zu überzeugen hat, werden allerdings erst zum Ende des 18. Jahrhunderts publiziert – und zwar wiederum nicht in der Rhetorik-, sondern in der Anstandslehre. Während das wohl bekannteste Anstandsbuch, Adolph Freiherr Knigges Über den Umgang mit Menschen (1788), noch allein den bürgerlichen Mann adressiert und nur eine gesonderte Anleitung zur Konversation des Mannes mit der Frau gibt, richtet sich die Menge der Ratgeber ab 1800 explizit an die bürgerliche Frau. Das rhetorische Wissen über die actio geht in die Erziehungs- und Anstandslehre ein, wird für beide Geschlechter separat ausbuchstabiert und in bemerkenswertem Umfang popularisiert. Dass sich gerade in solchen Gebrauchstexten, die nicht der traditionellen Systemrhetorik zuzurechnen sind, Aussagen über eine geschlechtsdifferenzierte actio finden, ist eine der Hypothesen meiner Arbeit. 10

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Schon Regula Venske fordert in ihren frühen »Thesen zu einer feministischen Rhetorik« einen möglichst weiten Rhetorikbegriff, der für das 18. Jahrhundert nicht nur die Epistolographie und Konversation umfasst, sondern sogar Alltagsgespräche einbezieht. Ganz abgesehen von der problematischen Quellenlage zu Formen eines alltäglichen, privaten, ungelehrten Gesprächs würde ich den Rhetorikbegriff nicht derartig weit ausdehnen. Mir geht es vielmehr in dem Sinne um rhetorische Rede, dass damit eine Form der wirkungsorientierten Kommunikation, für die explizite Regeln entworfen (und befolgt) werden, gemeint ist: also um eine ›kunstvolle‹ im Sinne von lehr- und lernbare Rede. Vgl. Venske, Thesen zu einer feministischen Rhetorik. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch, 4, 1985, S. 149-158, S. 149; vgl. ausführlich: Kapitel IV.1. Dennoch sind in der Geschichte der Rhetorik vereinzelt Rednerinnen in der Öffentlichkeit aufgetreten. Vgl. Lily Tonger-Erk, Martina Wagner-Egelhaaf, Einleitung. In: Einspruch! Reden von Frauen, hg. von Tonger-Erk, Wagner-Egelhaaf, Stuttgart 2011, S. 13-32. Zu Castigliones Bedeutung für die Gesprächsrhetorik vgl. Markus Fauser, Das Gespräch im 18. Jahrhundert. Rhetorik und Geselligkeit in Deutschland, Stuttgart 1991, S. 162.

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Die ideale Differenz im Auftreten der Geschlechter, die die Anstandslehren nun proklamieren, bringt Gottfried Immanuel Wenzels weitverbreiteter Mann von Welt (1801) folgendermaßen auf den Punkt: Den Mann kleidet das unternehmende Wesen, das frei sich ankündigende in seinem Anstande; bei dem Frauenzimmer gefällt dies aber nicht; hier müssen Bescheidenheit, sittliche Zurückhaltung und Schamhaftigkeit in Miene, Stellung, Ton, Gang, Bewegung und Wendungen herrschen.13

Die Anstandslehre geht ebenso wie die Rhetoriklehre nicht davon aus, dass sich eine dem Geschlecht angemessene Haltung, Gestik, Mimik und Stimmführung auf ›natürliche‹ Weise ausdrückt. Die actio muss allererst in ihrer geschlechtlichen Diversität erlernt werden, um den gesellschaftlichen Erwartungen Genüge zu tun und einen gewinnenden Auftritt zu garantieren. Der aufklärerische Aufruf, sich selbst zu bilden, erstreckt sich nicht nur auf den Erwerb von Wissen, sondern ebenso auf die Einübung eines angemessenen körperlichen Auftretens als Bürger oder Bürgerin. Dabei ist auffällig, wie eindringlich die Ratgeber den Imperativ ›Üben, üben, üben!‹ wiederholen. Beiden Geschlechtern wird die Intention zugeschrieben, ihr Auftreten durch beständiges Üben vervollkommnen zu wollen. Die Bedeutsamkeit solcher Übungen für die Konstitution des bürgerlichen Mannes (und der Frau) offenbart sich paradigmatisch in einer Anekdote aus Der Mann von Welt: Ich habe einen jungen Mann gekannt, der mit der Bildung seines Herzens und Verstandes auch zugleich die Bildung seines Äußern vereinigte. Oft, wenn er allein war, stellte er die Stühle in seinem Zimmer so, als wenn er Gesellschaft hätte; ging in ein Nebengemach, trat mit dem Hute in der Hand herein, machte eine Verbeugung gegen die Stühle, sprach mit ihnen, unterhielt sie, sagte ihnen Höflichkeiten, und empfahl sich denselben. Ein ihm gegenüber wohnender Bürger sah mehrmahlen diesen Übungen des jungen Mannes zu, und war sehr geneigt, denselben für verrückt zu halten. Er konnte nicht begreifen, wie ein vernünftiger Mensch solche Possen treiben könne. ›Der junge Herr ist ein Narr, sagte er, darauf lebe und sterbe ich.‹ Ich unterrichtete hievon meinen Freund, der nun, um seinem Nachbarn kein Ärgerniß mehr zu geben, die Fenstervorhänge zuzog, seine Übungen fortsetzte, und der liebenswürdigste Gesellschafter wurde.14

Zur bürgerlichen Bildung gehört um 1800 auch die äußere, d. h. körperliche Bildung: Eine formvollendete Haltung, Gestik, Mimik und Stimmführung sind von herausragender Bedeutung für die bürgerliche Selbstdarstellung in der Gesellschaft. Mit Stühlen zu sprechen ist deshalb keineswegs närrisch, nur sollte es hinter verschlossenen Gardinen stattfinden. Gerade das Theatralische an diesem Übungs-

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14

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Gottfried Immanuel Wenzel, Der Mann von Welt oder Grundsätze und Regeln des Anstandes, der Grazie, der feinen Lebensart, und der wahren Höflichkeit, 6., unveränderte Aufl., Pest: Conrad Adolf Hartleben 1817, S. 141. Der Mann von Welt erscheint zuerst 1801 in Wien und wird in über fünfzehn Neuauflagen durch das gesamte 19. Jahrhundert hindurch wieder aufgelegt. Wenzel, Der Mann von Welt, S. 46f.

prozess, die wiederholte Probe auf der Wohnzimmer-Bühne mit Requisiten (und einem versteckten Zuschauer), muss verborgen werden, damit der junge Mann in der Gesellschaft vollkommen ›natürlich‹ erscheinen kann. Die Anekdote erzählt davon, was öffentlich gezeigt werden darf: der vollendete Umgang. Was dagegen nicht gezeigt werden darf, ist der Weg dahin, das ›Herstellungsverfahren‹ des vollendeten Mannes von Welt, des idealen geselligen Redners. Meine Arbeit fokussiert eben solche Verfahren der rhetorischen Erziehung zu einer angemessenen actio aus einer gender-orientierten Perspektive. Ich frage danach, inwiefern die actio-Lehre dazu beiträgt, dass und wie sich das rhetorische Subjekt geschlechtsspezifisch bildet und zeigt. Rhetorik nehme ich dementsprechend in erster Linie als lehr- und lernbare Kunst in den Blick, als téchnē (lat. ars, disciplina, doctrina).15 Die Entwicklung einer téchnē impliziert grundsätzlich, dass die natürliche Begabung für exzellente Ergebnisse nicht ausreicht. Stärker noch als der Begriff der ars verweist der der téchnē auf die technisch-praktische Dimension dieser Kunst: Sie bedarf eines Wissens und auch eines Könnens. Beides muss allererst vermittelt, gelernt und geübt werden. Es ist eine bemerkenswerte und keineswegs selbstverständliche Erkenntnis der sophistischen Rhetorik, dass dieses Wissen und Können nicht allein dem Adel angeboren ist.16 Die griechischen Rhetoriken gehen seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. vielmehr davon aus, dass ein Redner durch theoretische Unterweisung sowie praktische Übung ausgebildet werden kann. Diese Dreiheit von natürlicher Begabung (natura), Theorie (ars) und Übung (exercitatio) wird in der römischen Rhetorik, von Cicero, der Rhetorica ad Herennium und Quintilian tradiert.17 Gerade in Bezug auf die actio nimmt die Übung und das daraus folgende praktische Können einen zentralen Platz ein, sagt doch Cicero, die actio bedürfe »nicht so sehr der Theorie (ars) wie der Anstrengung (labor)«18. Rhetoriken formulieren demnach erstens Regeln, wie sich der Redner (und die Rednerin) idealerweise in spezifischen Redesituationen wirkungsorientiert zu zeigen haben. Zweitens richten sie ihren Fokus 15

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Das Historische Wörterbuch der Rhetorik gibt den Begriff ars mit griech. téchnē, lat. auch disciplina und doctrina wieder. Die Begriffe sind nicht vollständig synonym – zur begrifflichen Unterscheidung vgl. Franz-Hubert Robling, Ars. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 1, Tübingen 1992, Sp. 1009–1030; Guy Achard, Disciplina. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 2, Tübingen 1994, Sp. 756–763; Guy Achard, Doctrina. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 2, Tübingen 1994, Sp. 896–903. Lonni Bahmer hält diese Erkenntnis für »revolutionär«. Bahmer, Didaktik. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 2, Tübingen 1994, Sp. 736– 748, Sp. 737. Vgl. auch Lonni Bahmer, Eberhard Ockel, Erziehung, rhetorische. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 2, Tübingen 1994, Sp. 1438–1460, Sp. 1441. Cicero, De oratore/Über den Redner, lat.-dt., übers. und hg. von Harald Merklin, Stuttgart 1976; Cicero, Orator/Der Redner, lat.-dt., übers. und hg. von Harald Merklin, Stuttgart 2004. Rhetorica ad Herennium, lat.-dt., übers. und hg. von Theodor Nüßlein, 2. Aufl., Düsseldorf, Zürich 1998. Quintilian, Institutionis oratoriae libri XII. Vgl. Cic. De or. I, 156.

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auf die Übungspraxis, mit der dieses geschlechtsspezifische Auftreten zu erlernen ist. Es geht der Rhetorik als téchnē also nicht nur um die sprachliche Vermittlung rhetorischer Kenntnisse, sondern – und das ist so bemerkenswert und bislang in der Forschung nicht gleichermaßen wahrgenommen worden – um die Einübung körperlicher Praktiken. Hier setzt meine Arbeit an, indem sie erstens nach den körperlichen Praktiken der Rede fragt, und zweitens danach, mit welcher Technik die Rhetoriklehre diese Praktiken vermittelt. Unter den Übungen für eine vollkommene actio arbeite ich besonders die Nachahmung eines Vorbilds (imitatio), die öffentliche Übungsrede (declamatio) und die sportliche Ertüchtigung in der Ringschule (palaestra) heraus und lese sie als Techniken, die nicht nur der Formung des Rednerkörpers, sondern zugleich der des geschlechtlichen Körpers dienen. Der Übung kommen dabei zwei Funktionen zu: eine disziplinierende, da durch die Übungspraxis Normen des geschlechtlichen Auftretens regelgeleitet verkörpert werden, und eine ermächtigende, da dem Subjekt durch den Erwerb bestimmter Fertigkeiten die Handlungsmacht vermittelt wird, sich öffentlich Gehör zu verschaffen. Konstitutiv ist der prozessuale Charakter dieser Übungen: Cicero betont die lebenslange Aufgabe der Übung und die Notwendigkeit kontinuierlicher Selbst-Verbesserung, und Quintilian fordert die Ausbildung des Knaben vom Säuglingsalter an. Gerade diese Übungen (imitatio, declamatio und eine sportliche exercitatio) sind es, die auch im 18. Jahrhundert fortleben und geschlechtsspezifisch ausformuliert werden – nicht nur in der Rhetorik, sondern auch in der Erziehungs- und Anstandslehre, in die die Rhetorik sukzessive eingeht. Rhetorik möchte ich damit als eine äußerst wirkmächtige ›Körperbildungsmacht‹ betrachten – und die Rhetoriken, Anstandslehren und Erziehungsbücher als Texte, die an der diskursiven Bildung geschlechtlicher Subjekte auf eine besondere Weise mitarbeiten. Ich setze die Wortschöpfung ›Körperbildungsmacht‹ als einen Leitbegriff ein, um die bislang von der Forschung vernachlässigte Macht der Rhetorik, den geschlechtlichen Körper zu bilden, in den Vordergrund rücken. Rhetorik als Körperbildungsmacht zu verstehen, impliziert den Begriff einer Macht, die im Foucault’schen Sinne nicht nur disziplinierend, sondern auch produktiv wirkt.19 Rhetorik ist eine Bildungsmacht, die über Jahrhunderte, von der Antike bis in das 19. Jahrhundert hinein das abendländische Bildungssubjekt geprägt hat. Als obligatorischer Teil des europäischen Bildungskanons geht die kulturelle Bedeutung der Rhetorik dabei über die Ausbildung von Rednern hinaus, vermittelt sie doch ein grundlegendes Wissen über die menschliche Interaktion und Kommunikation.20 Dadurch, dass

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Vgl. u. a. zu Foucaults produktivem Machtbegriff: Michel Foucault, Das Subjekt und die Macht. In: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, hg. von Hubert L. Dreyfus, Paul Rabinow, Frankfurt a. M. 1987, S. 243–261; sowie Kapitel II. Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf, Einführung. Rhetorik – Macht – Bildung. In: Weibliche Rede – Rhetorik der Weiblichkeit. Studien zum Verhältnis von Rhetorik und Ge-

die Rhetorik bestimmte kommunikative Praktiken als männliche oder weibliche kennzeichnet und die Kommunikation zwischen den Geschlechtern regelt, spiegelt sie einerseits die jeweilige Geschlechterordnung und partizipiert andererseits an deren Produktion. Indem ich die Rhetorik als Körper-Bildungsmacht bezeichne, soll betont werden, dass die Rhetorik nicht nur lehrbares Wissen und – aufgehoben im vir bonus-Ideal – ethische Anschauungen transportiert, sondern eben auch KörperVorstellungen bereit hält. Das angemessene Auftreten des (geschlechtlichen) Körpers wird in den rhetorischen Texten sowohl be- als auch vorgeschrieben. Auch wenn ich meinen Fokus auf die actio, den körperlichen Redeauftritt, richte, so schreibe ich doch über Texte, die diese Performanz reflektieren. Insofern geht es in meiner Arbeit nicht um eine Sozialgeschichte des Redeauftritts, sondern um deren Reflexion in Rhetorik- und Umgangslehren, die mit einem literaturwissenschaftlichen Instrumentarium zu untersuchen sind. Allerdings wird anhand der rhetorischen Texte, die zu einer ›realen‹ körperlichen Umsetzung ihrer Übungsanleitungen auffordern, deutlich, dass sich nicht trennscharf zwischen textuellen Diskursen und realen Praktiken des Körpers unterscheiden lässt.21 Die diskursive Repräsentation der Körper bietet immer den Rahmen, innerhalb dessen ein angemessenes körperliches Auftreten möglich ist. Der Trennstrich kann dann auch anders gesetzt und Rhetorik als Körperbildungs-Macht bestimmt werden, da die der Rhetorik zugrunde liegende Körpervorstellung gerade nicht die eines statischen Körpers ist, sondern die eines prozessual werdenden, eines unabgeschlossenen, eines im Reden immer wieder neu performativ gebildeten. Der Körper rückt als in der actio hervorgebrachter, nicht als ›natürlicher‹ in den Blick. Diese Vorstellung eines durch kontinuierliche Wiederholung von Konventionen hervorgebrachten Körpers scheint eine Performativität avant la lettre zu implizieren. Judith Butler definiert Performativität als die »ständige wiederholende und zitierende Praxis, durch die der Diskurs die Wirkungen erzeugt, die er erst benennt«.22 Die hier analysierten Rhetoriken und Anstandslehren vertrauen auf die formierende Wirkung der kontinuierlichen Übung, in der das rhetorische und geschlechtliche Subjekt durch Wiederholung und Aneignung allererst entsteht. Bildung wird damit im doppelten Sinne sowohl als Erziehung als auch als materieller Herstellungsprozess gedacht.

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schlechterdifferenz, hg. von Wagner-Egelhaaf, Bischoff, Freiburg i. Br. 2003, S. 40–50; Øivind Andersen, Im Garten der Rhetorik. Die Kunst der Rede in der Antike, Darmstadt 2001, S. 219. Bekanntlich ist von normativen Schriften nicht unmittelbar auf eine bestimmte Praxis des Redeauftritts zu schließen – inwiefern die Texte die alltägliche Realität wiedergegeben oder auf diese eingewirkt haben, kann nur vermutet werden, ist jedoch nicht das Thema der vorliegenden Arbeit. Judith Butler, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt a. M. 1997, S. 22.

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Forschungskontext Die hier verfolgte gender-orientierte Fragestellung, die den historisch spezifischen Herstellungsprozess des geschlechtlichen Körpers, wie er in der actio-Lehre dargestellt wird, untersucht, eröffnet ein bislang wenig bearbeitetes Forschungsfeld. Mit der verstärkten Inanspruchnahme der Rhetorik für schriftliche Texte hat sich ihr Augenmerk lange auf die elocutio als gewaltiges Klassifikationssystem konzentriert.23 Die Rhetorikforschung hat sich zwar in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend von ihrer verengten Perspektive auf die rhetorische Formen- und Figurenlehre gelöst und kulturwissenschaftlich geöffnet, dabei ist der Blick jedoch selten auf die actio gerichtet worden – trotz der ›Wiederkehr des Körpers‹24 seit den achtziger Jahren. Zudem hat die Auseinandersetzung mit der Kategorie ›Geschlecht‹ in der deutschen Rhetorikforschung deutlich später eingesetzt als in den anderen mit Sprache und Kommunikation befassten Fachrichtungen. Obwohl rhetorische Fragestellungen in den Gender Studies schon seit den 1990er Jahren verhandelt werden und die Gender Studies in den Kulturwissenschaften lange fest verankerter und unverzichtbarer Bestandteil sind, entwickelt sich in der Rhetorikforschung erst in jüngster Zeit eine gender-Perspektive.25 Auch die körperliche Erziehung des Redners beziehungsweise der Rednerin hat – zumal aus einer genderorientierten Perspektive – bislang kaum das Forschungsinteresse der Rhetorik- beziehungsweise der Erziehungswissenschaft erregt.26

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Vgl. Heinrich Lausberg, Handbuch der Literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, 2 Bde., München 1960. Zur Kritik an die auf ihre Systematik reduzierte Rhetorik vgl. Josef Kopperschmidt, Was weiß die Rhetorik vom Menschen? Thematisch einleitende Bemerkungen. In: Rhetorische Anthropologie. Studien zum Homo rhetoricus, hg. von Kopperschmidt, München 2000, S. 7–37, S. 14ff. Vgl. Dietmar Kamper, Christoph Wulf (Hg.), Die Wiederkehr des Körpers, Frankfurt a. M. 1982. Zum verstärkten Interesse an der Analysekategorie ›Körper‹ (um nicht zu sagen: Forschungsboom) in den Kulturwissenschaften vgl. zusammenfassend: Gabriele Genge, Einleitung. In: Sprachformen des Körpers in Kunst und Wissenschaft, hg. von Genge, Tübingen, Basel 2000, S. 9–15. Zum Entstehungszusammenhang der gender-orientierten Rhetorikforschung, zu ihren Forschungsfeldern, Fragestellungen und Ergebnissen vgl. meinen umfassenden Forschungsabriss: Rhetorik und Gender Studies. In: Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung, hg. von Ulla Fix, Andreas Gardt, Joachim Knape, Berlin, New York 2008, S. 880–894. Von den dort genannten Publikationen soll hier nur auf folgende methodisch wegweisende Sammelbände hingewiesen werden: Doerte Bischoff, Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.), Weibliche Rede – Rhetorik der Weiblichkeit. Studien zum Verhältnis von Rhetorik und Geschlechterdifferenz, Freiburg i. Br. 2003; Bischoff, Wagner-Egelhaaf (Hg.), Mitsprache, Rederecht, Stimmgewalt. Genderkritische Strategien und Transformationen der Rhetorik, Heidelberg 2006. Obwohl die historische Pädagogik seit den späten 1990er Jahren die Frage nach dem Verhältnis von Rhetorik und Pädagogik als Forschungsgebiet entdeckt hat, blieb die körperliche Erziehung bislang ausgeblendet. Forschungsschwerpunkte liegen vorrangig

Eine umfassende Geschichte der actio liegt nicht vor. In den jeweiligen Kapiteln zur actio in der alten Rhetorik, dem 18. Jahrhundert und der Gegenwart greift diese Arbeit die Forschungsliteratur zu einzelnen Epochen auf. In Bezug auf die alte Rhetorik nimmt sie wichtige Impulse aus der amerikanischen Forschungsdiskussion auf, die bislang in der deutschsprachigen Rhetorikforschung gänzlich unbeachtet blieben, bettet sie in den deutschen Forschungskontext ein und ergänzt sie.27 Die Men’s Studies sind in den amerikanischen Altertumswissenschaften bereits in den 1990er Jahren angekommen und haben produktive Lektüren antiker Rednerkonzepte initiiert: Texte der klassischen Rhetorik und Sophistik werden als Teil des Prozesses männlicher Sozialisation dargestellt, wobei das Zusammenspiel von rhetorischer Praxis und der Darstellung von Männlichkeit herausgearbeitet wird.28 Was das zentrale Kapitel zum 18. Jahrhundert betrifft, so fehlen bislang Publikationen, die sich aus einem dezidiert rhetorischen und zugleich gender-differenzierten Blickwinkel mit der actio auseinandersetzen, zudem verschiedene Textsorten einbeziehen und den erzieherischen Aspekt der actio-Lehre untersuchen. Gender-orientierte kultur-, kunst- und sozialhistorische Beiträge zur weiblichen Körpersprache übersehen in der Regel die rhetorische Herkunft der actio-Lehre und lassen die wirkmächtige Tradition des männlich codierten Redner-Ideals außer Acht, wohingegen die Rhetorik-Forschung zum historischen Wandel der Körpersprache weitgehend gender-blind ist.29 Literaturwissenschaftliche Arbeiten stellen

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im Bereich der Topik und Argumentationstheorie. Vgl. Karl Helmer, Andreas Dörpinghaus, Rhetorik. In: Historisches Wörterbuch der Pädagogik, hg. von Dietrich Benner und Jürgen Oelkers, Weinheim, Basel 2004, S. 824–833; Lutz Koch (Hg.), Pädagogik und Rhetorik, Würzburg 2004; Andreas Dörpinghaus, Karl Helmer (Hg.), Rhetorik, Argumentation, Geltung, Würzburg 2002; Andreas Dörpinghaus, Logik der Rhetorik. Grundriss einer Theorie der argumentativen Verständigung in der Pädagogik, Würzburg 2002; Hans Jürgen Apel, Lutz Koch (Hg.), Überzeugende Rede und pädagogische Wirkung. Zur Bedeutung traditioneller Rhetorik für pädagogische Theorie und Praxis, Weinheim München 1997. Die Forschungsdiskussion in den Vereinigten Staaten und in Deutschland scheint bislang weitgehend getrennt voneinander zu verlaufen. Mir ist, abgesehen vom Projektumfeld Weibliche Rede – Rhetorik der Weiblichkeit, keine deutschsprachige Publikation bekannt, die eine/n der nachfolgend genannten amerikanischen Autor/innen zitieren würde. Auch die jüngste beachtliche Monographie zur Geschichte des Rednerideals nimmt keine Notiz von der in den amerikanischen Men’s Studies und den gender-orientierten Altertumswissenschaften erforschten Männlichkeit des Redners: Franz-Hubert Robling, Redner und Rhetorik. Studie zur Begriffs- und Ideengeschichte des Rednerideals, Hamburg 2007. Vgl. Maud Gleason, Making Men. Sophists and Self-Presentation in Ancient Rome, Princeton 1995; Richlin, Gender and Rhetoric: Producing Manhood in the Schools; Erik Gunderson, Staging Masculinity. The Rhetoric of Performance in the Roman World, Ann Arbor 2003; Joseph Roisman, The Rhetoric of Manhood. Masculinity in the Attic Orators, Berkeley, Los Angeles, London 2005. Zu einer eingehenden Auseinandersetzung mit der amerikanischen Forschungsliteratur vgl. Kapitel III. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur (ohne Rhetorik-

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gerade das antirhetorische Ausdrucksparadigma in den Vordergrund, demgemäß die weibliche eloquentia corporis seit der Mitte des 18. Jahrhunderts als naturhafte eloquentia cordis figuriert wird, und blenden die weiterhin publizierten rhetorischen actio-Konzeptionen aus, die hier in den Mittelpunkt gestellt werden.30 Was das 20. Jahrhundert angeht, so hat eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit aktuellen populären Rhetorikratgebern bislang kaum stattgefunden. Die einzige Monographie zum Thema kritisiert die »Gebrauchswertversprechen« der Rhetorikratgeber, ohne dabei auf diejenigen Leitfäden einzugehen, die sich seit den späten 1980er Jahren speziell an Frauen wenden.31 So kann meine Arbeit zum Einen historische Verbindungslinien herstellen, die in der Forschungsliteratur bislang nicht gezogen wurden, zum Zweiten die rhetorische actio-Forschung (besonders zum 18. Jahrhundert) um einen gender-Blickwinkel bereichern und zum Dritten solche Gebrauchstexte auf ihre rhetorische Gemachtheit hin analysieren, die bislang weder in eine kulturwissenschaftlich angelegte Literaturwissenschaft noch in die Rhetorikforschung Eingang gefunden haben.

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Bezug) zur weiblichen Körpersprache im 18. Jahrhundert und die bibliographischen Angaben finden sich in Kapitel IV.1.1. Die herausragenden Forschungsarbeiten zur actio im 18. Jahrhundert aus rhetorischer Perspektive übergehen dagegen den gender-Aspekt: Volker Kapp, Die Sprache der Zeichen und Bilder. Rhetorik und nonverbale Kommunikation in der frühen Neuzeit. In: Die Sprache der Zeichen und Bilder. Rhetorik und nonverbale Kommunikation in der frühen Neuzeit, hg. von Volker Kapp, Marburg 1990, S. 7–10; Alexander Košenina, Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur ›eloquentia corporis‹ im 18. Jahrhundert, Tübingen 1995; Manfred Beetz, Die Körpersprache im Wandel der deutschen Rhetorik vom 17. zum 18. Jahrhundert. In: Rhetorische Anthropologie: Studien zum Homo rhetoricus, hg. von Josef Kopperschmidt, München 2000, S. 39–65; Dietmar Till, Rhetorik und Schauspielkunst. In: Bewegtes Leben. Körpertechniken in der Frühen Neuzeit, hg. von Rebekka von Mallinckrodt, Wolfenbüttel 2008, S. 61–84. Ursula Geitner, Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1992; Doerte Bischoff, Die schöne Stimme und der versehrte Körper. Ovids Philomela und die ›eloquentia corporis‹ im Diskurs der Empfindsamkeit. In: Weibliche Rede – Rhetorik der Weiblichkeit. Studien zum Verhältnis von Rhetorik und Geschlechterdifferenz, hg. von Bischoff, Martina Wagner-Egelhaaf, Freiburg i. Br. 2003, S. 249–281. Vgl. ohne gender-Bezug: Albert Bremerich-Vos, Populäre rhetorische Ratgeber. Historisch-systematische Untersuchungen, Tübingen 1991. Zur gender-orientierten Analyse aktueller Rhetorikratgeber für Frauen: Lily Tonger-Erk, Die ›Zicke‹. Eine konfrontative weibliche Rhetorik. In: Mitsprache, Rederecht, Stimmgewalt. Genderkritische Strategien und Transformationen der Rhetorik, hg. von Doerte Bischoff, Martina WagnerEgelhaaf, Heidelberg 2006, S. 319–337; Tonger-Erk, ›Selbst-Herrlichkeits-Training‹. Populäre Rhetorikratgeber für Frauen. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch, 29, 2010, S. 35–50. Vgl. ausführlicher zum Forschungsstand: Kapitel V.1.

Zum Vorgehen Meiner Leitfrage, wie die actio-Lehre in der Geschichte der Rhetoriklehre dazu beiträgt, dass sich das rhetorische Subjekt auf eine geschlechtsspezifische Art bildet und zeigt, gehe ich anhand von drei historischen Umbruchstellen nach, die für die Entwicklung der actio aus einer gender-orientierten Sicht maßgeblich sind: die Antike, das 18. Jahrhundert und die Gegenwart. In der griechischen und römischen Antike32 gründet sich die Rhetorik als ausschließlich männliche Wissenschaft und Praxis der Rede. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert ist erstens eine tiefgreifende Transformation der Rhetorik und zweitens die Polarisierung der Geschlechtscharaktere zu beobachten. In der Gegenwart kann schließlich eine ›Wiederkehr der Rhetorik‹33 verzeichnet werden, und seit den späten 1980er Jahren kommen erstmals Rhetoriken für Frauen auf den deutschen Buchmarkt. Den drei historisch angelegten Kapiteln ist eine Auseinandersetzung mit theoretischen Positionen von Pierre Bourdieu und Judith Butler (Kapitel II) vorangestellt, die meinen analytischen Blick auf die rhetorischen Texte leiten soll. Bourdieu und Butler sind deshalb für einen gender-orienierte Perspektive auf die actio zentral, weil sie die Bedeutung von körperlichen Praktiken für die Konstitution des geschlechtlichen Subjekts herausarbeiten. Nach Bourdieus Theorie des Habitus bilden sich Subjekte durch ihre gesellschaftlich geformten Praktiken.34 Butler entwirft das geschlechtliche Subjekt als Effekt einer wiederholenden performativen Praxis.35 Beide rücken den Körper als etwas Gewordenes, als Verkörperung von Geschichte beziehungsweise Materialisierung von Diskursen ins Zentrum, und entlarven Natürlichkeit und Essentialität als Illusion, die durch die Verschleierung der Historizität des Körpers entstehe. Das ›unbewusste‹, konventionelle, wiederholte, körperliche Handeln wird nicht als Ausdrucksmittel eines bestehenden Subjekts, sondern als performatives Moment seiner Entstehung gedacht. Mit Bourdieu und Butler stellen sich die Fragen, wie das Subjekt und sein Körper in und durch Handlungen gebildet wird, wie kulturelle Normen dabei wirken, in welchem Ma-

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Zur Problematisierung des groben Hilfsbegriffs ›Antike‹ vgl. Kapitel III.1.1. Vgl. Helmuth Vetter, Wiederkehr der Rhetorik? In: Die Wiederkehr der Rhetorik, hg. von Vetter, Richard Heinrich, Wien, Berlin 1999, S. 7–27. Vgl. ausführlich: Kapitel II; Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1976; Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1987; Bourdieu, Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tauschs, Wien 1990; Bourdieu, Die männliche Herrschaft, Frankfurt a. M. 2005. Vgl. ausführlich: Kapitel II; Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a. M. 1991; Butler, Körper von Gewicht; Butler, Performativity’s Social Magic. In: The Social and the Political Body, New York 1996, hg. von Theodore R. Schatzki, Wolfgang Natter, S. 29–47; Butler, Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998; Butler, Performative Akte und Geschlechterkonstitution. Phänomenologie und feministische Theorie. In: Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, hg. von Uwe Wirth, Frankfurt a. M. 2002, S. 301–320.

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ße dem Subjekt Handlungsmacht (agency) zugeschrieben werden kann und welche Rolle das Sprechen als performatives Handeln dabei spielt. Die Rhetoriken und Anstandslehren werden vor diesem theoretischen Hintergrund als Texte lesbar, die den Herstellungsprozess des geschlechtlichen Körpers reflektieren. Ein vir bonus zu sein, heißt, ein vir geworden zu sein, sich in wiederholenden, körperlichen Praktiken in historisch beschränkten Möglichkeiten materialisiert zu haben. Im grundlegenden Kapitel III untersuche ich unter systematischen Gesichtspunkten die actio in der alten Rhetorik. Gefragt wird nach einer geschlechtsspezifischen Formulierung der actio (wie sie sich beispielsweise in der topischen Verknüpfung einer tiefen, männlichen Stimme mit Autorität zeigt) sowie des rhetorischen Subjekts und der rhetorischen Situation. Im Mittelpunkt steht dabei die Anleitung zur Performanz als vir bonus, die, wie erwähnt, die rhetorische Überzeugungskraft mit der Darstellung von Männlichkeit verschränkt. Zugrunde liegen u. a. die kanonischen Texte von Aristoteles, Cicero und Quintilian, die traditionsstiftend für die nachfolgenden Jahrhunderten sind. Anschließend folgt ein Exkurs, der die Anfänge der Gesprächsrhetorik bei Castiglione, dessen Ergänzung des vir bonus um eine femina bona und die Einbindung der Frau in Harsdörffers Frauenzimmer-Gesprächspiele in den Blick nimmt, und damit die historische Grundlage für eine Ausweitung meines Fokus von der ›großen Rede‹ auf die Konversation legt. Bemerkenswert ist, dass in der Gesprächsrhetorik von Anfang an die Frau in die Ausformulierung theoretischer Modelle einbezogen wird. Den Schwerpunkt der Arbeit bildet das Kapitel IV zur actio und Geschlechterdifferenz im 18. Jahrhundert – stellt sich doch, wie gesagt, die Frage, wie im Zuge der Transformation der Rhetorik das rhetorische Wissen, das nun in andere Wissensbereiche eingeht, mit dem Wissen um eine sich polarisierende Geschlechterdifferenz verbunden wird. Dabei folgt meine Arbeit der Ausweitung ihres Gegenstands: In bemerkenswertem Umfang wird die Figur der Rednerin in Frauenzimmerlexika und Reden der Frühaufklärung verhandelt, die Kapitel IV.2 in den Mittelpunkt stellt. Bezeichnend ist, dass die Einbeziehung von Frauen als Rednerinnen in der höfischen und bürgerlichen Konversation, ja selbst der frühaufklärerische Aufruf zur Frauenbildung und imitatio historischer Rednerinnen kaum Auswirkungen auf die systematischen Rhetoriken des 18. Jahrhunderts hat – wie Kapitel IV.3 am Beispiel von J. C. Gottscheds Ausführlicher Redekunst (ab 1729) herausarbeitet. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts löst sich die actio zunehmend aus der officia-Rhetorik und geht, beflügelt durch die aufkommende Lehre der Schauspielkunst, in eigenständige actio-Abhandlungen ein wie J. J. Engels Ideen zu einer Mimik (1785f.), H. H. Cludius’ Grundriß der körperlichen Beredsamkeit (1792) und J. G. Pfannenbergs Über die rednerische Action (1796). Eine geschlechtsspezifische actio wird zugunsten der Katalogisierung und Systematisierung einer ungeheuren Bandbreite von Affekten und des dazugehörigen Körperausdrucks hier jedoch theoretisch nicht ausformuliert. Im Zuge der genannten Transformation beerbt neben der Schauspielkunst auch die Pädagogik die Rhetorik. Im letzten Drittel des so genannten ›pädagogischen Jahrhunderts‹ wird erstmals der Mädchenerziehung gesteigerte Aufmerksamkeit entge12

gen gebracht, was mich in Kapitel IV.4 zu der Frage führt, ob und wie Mädchen eine rhetorische Erziehung vermittelt wird. Auskunft geben die drei prominentesten Texte zur Mädchenerziehung im 18. Jahrhundert: F. Fénelons Über Mädchenerziehung (1660), J.-J. Rousseaus Erziehungsroman Emile oder Über die Erziehung (1762) und J. H. Campes Väterlicher Rath für meine Tochter (1789), die ausgehend von ganz unterschiedlichen Geschlechterbildern Konzeptionen weiblicher Rede und rhetorischer Erziehung entwickeln. Ebenfalls mit einem pädagogischen Anspruch – und zwar zunehmend geschlechtsdifferenziert – treten die Anstandslehren auf, die in Kapitel IV.5 untersucht werden: A. Knigges Über den Umgang mit Menschen (1788), J. C. Siedes Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit (1797) sowie Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit (1797), G. I. Wenzels Der Mann von Welt oder Grundsätze und Regeln des Anstandes, der Grazie, der feinen Lebensart, und der wahren Höflichkeit (1801) oder A. v. Wallenburgs Anstandslehre für das weibliche Geschlecht (1824). Da die Anstandslehren erstmals eine geschlechtsspezifische actio-Lehre erarbeiten und in ausführlichen Übungsprogrammen für bürgerliche Rednerinnen verfügbar machen, stellen sie einen besonders aussagekräftigen Untersuchungsgegenstand meiner Arbeit dar. Diese Texte leiten zur Einübung geschlechtsspezifischer Praktiken des Auftretens und Redens vor Publikum an – mit dem Hinweis auf eine kontinuierliche gesellschaftliche Sichtbarkeit, in der die angemessene Performanz als Frau und als Mann keineswegs ausschließlich den neuen Leitwerten des 18. Jahrhunderts, der ›Authentizität‹ und der ›Natürlichkeit‹ folgt, sondern ebenso als rhetorisch-wirkungsorientierte Leistung erscheint. Damit erzählt meine Arbeit nicht vom ›Verfall‹ der Rhetorik – oder gar ihrem ›Ende‹ – im 18. Jahrhundert, sondern nimmt den wertneutralen Begriff der ›Transformation‹ der Rhetorik zum Anlass, diejenigen Texte zu untersuchen, in die rhetorisches Wissen Eingang findet. Dass damit traditionell in der Rhetorik-Forschung wenig beachtete Texte wie Anstands- und Erziehungslehren in den Fokus rücken, birgt zugleich die Chance, Frauen in den Blick zu bekommen, die in den systematischen Rhetoriken weitgehend unsichtbar bleiben. Die zentral verhandelte Redesituation in den Anstandslehren ist die der Konversation mit dem Ziel, dass alle Gesprächsteilnehmer/innen zur Geltung kommen sollen und keine/r die größte Geltung für sich beansprucht. Im Vordergrund steht vielmehr, Gefallen zu erzeugen. Dabei wird in der Nachfolge Knigges allerdings, so meine These, eine geschlechtliche Codierung bedeutsam: Während in Bezug auf die männliche actio des bürgerlichen Subjekts Gelten und Gefallen aneinander gekoppelt sind (wer gefällt, der gilt etwas und erzielt beruflichen Erfolg), so ist für die weibliche actio eine Konzentration auf ein rein ästhetisch gedachtes Gefallen wahrzunehmen. In den gegenwärtigen Populärrhetoriken, die auf eine gänzlich andere Redesituation abzielen – nämlich eine agonal gedachte und männlich konnotierte Berufswelt –, wird eben diese der Frau zugeschriebene, ästhetische Ausrichtung auf das Gefallen problematisch. Dies zeigt ein abschließender Ausblick auf die actio in der Gegenwart: Kapitel V analysiert die seit den späten 1980er Jahren speziell für Frauen erscheinenden Rhetorikratgeber wie C. Hovermanns Erfolgsrhetorik 13

für Frauen (2004). In solchen Handbüchern wird die Beherrschung der ›angemessenen‹ Rede als Schlüssel zu politischen und gesellschaftlichen Machtpositionen dargestellt. Dass Frauen solche Machtpositionen vielerorts noch nicht erreicht haben, wird nicht etwa auf eine den Mann privilegierende gesellschaftliche Ordnung zurückgeführt, sondern auf eine defizitäre weibliche Rhetorik. Ich frage danach, wie die Rhetorikratgeber die Frau zu einer ›besseren‹ (männlich codierten?) Rede anleiten. Es wird sich zeigen, dass gerade durch die Vermittlung einer ›angemessenen‹ actio, durch Haltung, Gestik, Mimik, Stimmführung und Kleidung ein neuer Geltungsanspruch sichtbar gemacht werden soll – ohne mit der zugleich geforderten Performanz von Weiblichkeit zu kollidieren. Eine Arbeit, die in einem historischen Dreischritt die actio-Lehre der Antike, des 18. Jahrhunderts und der Gegenwart in den Blick nimmt, scheint die Geschichte einer Entwicklung erzählen zu wollen. Geschichte als eine kohärente Reihenfolge von Ereignissen und Ideen zu erzählen, würde jedoch bedeuten, Verschiebungen, Gleichzeitigkeiten und Brüche methodisch auszublenden. In diesem Bewusstsein strebt die vorliegende Arbeit keine ›große Erzählung‹ an. Indem beispielhafte Texte aus der Antike, dem 18. Jahrhundert und der Gegenwart analysiert werden, kann es weder darum gehen, eine kontinuierliche, ungebrochene Macht rhetorischer Übungspraktiken für die Herausbildung eines rhetorischen Subjekts von der Antike bis heute zu behaupten, noch darum, die Entwicklung der actio-Lehre sowie der Geschlechterordnung mit all ihren Transformationen und Brüchen detailliert nachzuzeichnen. Ganz im Gegenteil würde die Annahme einer anthropologischen Kontinuität der actio den Blick auf die spezifischen historischen gender-Codierungen verstellen. Stattdessen soll der Fokus gerade auf die veränderliche rhetorische Konstruktion der Geschlechterdifferenz gelenkt werden. Die Antike ist demnach auch nicht als ›Vorstufe‹ der Rhetorik des 18. Jahrhunderts zu denken, vor deren Hintergrund die letztere gar abwertend als ›Schwundstufe‹ oder ›Abweichung‹ gesehen würde. Vielmehr ist die Bezugnahme auf die alte Rhetorik – ebenso wie auf die aktuelle Populärrhetorik – von heuristischem Wert, insofern sie als ›Kontrastfolie‹ Transformationen sichtbar macht. Um diese Herangehensweise auch in der Anlage dieser Arbeit deutlich zu machen, werden die Kapitel zur alten Rhetorik und zur Gegenwartsrhetorik nach systematischen Gesichtspunkten geordnet. Dagegen ist das zentrale Kapitel zur Rhetorik des 18. Jahrhunderts textorientiert aufgebaut, um der Spezifik der einzelnen Texte und Textsorten gerecht zu werden. Im Zentrum der Arbeit steht, wie gesagt, die gender-orientierte Analyse der Transformation der actio-Lehre im 18. Jahrhundert. Gezielt wird nicht die ›Rhetorik der Aufklärung‹ zum Gegenstand gemacht, sondern es ist von der (deutschsprachigen) Rhetorik des (langen) 18. Jahrhunderts36 die Rede, da die literaturwissenschaftlichen Epochenbegriffe die analysierten Gebrauchstexte nicht adäquat

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Vgl. zum Begriff des ›langen‹ 18. Jahrhunderts: Rudolf Vierhaus, Aufklärung und Reformzeit. Kontinuitäten und Neuansätze in der deutschen Politik des späten 18. und

erfassen. Damit wird keine inhaltlich zu begründende epochale Abgrenzung vorausgesetzt, sondern eine formale Angabe zu einem Zeitraum gemacht, der sich in Hinblick auf die actio, wie zu zeigen ist, gerade durch die plurale und parallele Entwicklung verschiedener actio-Modelle auszeichnet. Das ›18. Jahrhundert‹ verwende ich daher als einen neutralen Begriff, der Heterogenität zulässt. Was den räumlichen Untersuchungsrahmen betrifft, liegt der Schwerpunkt dieser Arbeit auf deutschsprachigen Texten. Eine komparatistische Perspektive, obgleich sie angesichts der evidenten europäischen Entwicklung der Rhetorik wünschenswert wäre, hätte den Rahmen dieser Arbeit überschritten und wird insofern nur in Form einiger Querverweise angedeutet.37 Zur Verwendung des Begriffes ›actio‹ Dass die körperliche Aufführung der Rede in dieser Arbeit durchgehend mit dem Begriff actio bezeichnet wird, bedarf einer kurzen, etymologisch reflektierten Begründung. Im Griechischen wird der Redeauftritt hypókrisis genannt. Hypókrisis meint ursprünglich die ›Vortragskunst‹ des Schauspielers, wobei die Bedeutung des Wortes sowohl ›Deuten‹ als auch ›eine Rolle spielen‹ bis hin zu ›Heuchelei‹ und ›Verstellung‹ umfasst.38 Wann der Begriff in die rhetorische Terminologie übernommen wurde, ist ungeklärt.39 Aristoteles setzt den Begriff nicht nur für die – schon früher systematisch reflektierte – ›Schauspielkunst‹, sondern auch für die rhetorische ›Vortragskunst‹ ein. 40 Damit ist das Auftreten des Redners von Beginn an terminologisch mit dem des Schauspielers (hypókrites) verbunden. Im Lateinischen wird hypókrisis überwiegend mit actio übersetzt (in Ciceros De inventione, De oratore, Brutus, Partitiones oratoriae und in Quintilians Institutio oratoria), ein Begriff, der ebenfalls auf den actor, den Schauspieler hinweist, aber auch allgemein ›Auftreten‹, ›Handlung‹ sowie ›Prozess, Gerichtsverhandlung‹ bedeutet. 41 Daneben wird (in der Rhetorica ad Herennium, in Ciceros De inventione) synonym das Wort pronuntiatio für den Vortrag eingesetzt, wobei beide Begriffe sowohl die Stimme als auch Gestik, Mimik, Haltung und Kleidung einschließen. Pronuntiatio stammt von nuntius, ›Botschaft‹, ›Botschafter‹ ab, und steht somit ety-

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beginnenden 19. Jahrhunderts. In: Reformen im rheinbündischen Deutschland, hg. von Eberhard Weis, München 1984, S. 287–301. Zu einem Überblick über die europäische Entwicklung der Rhetorik vgl. Thomas M. Conley, Rhetoric in the European Tradition, Chicago, London 1990. Vgl. Ursula Maier-Eichhorn, Die Gestikulation in Quintilians Rhetorik, Frankfurt a. M. 1989, S. 11. Vgl. Maier-Eichhorn, Die Gestikulation in Quintilians Rhetorik, S. 11. Vgl. Frank Rebmann, Pronuntiatio. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 7, Tübingen 2005, Sp. 212–247, Sp. 213. Vgl. Arist. Rhet. III, 1, 1403b. Zit. n. Rhetorik, übers. und erl. von Christof Rapp, 2 Halbbde., 1. Halbbd., Darmstadt 2002. Vgl. Maier-Eichhorn, Die Gestikulation in Quintilians Rhetorik, S. 13.

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mologisch im Zusammenhang mit der Vermittlung einer Botschaft.42 Quintilian stellt die Vermutung an, dass ursprünglich mit pronuntiatio die Stimmführung und mit actio die Körperbewegungen gemeint gewesen seien, verwendet jedoch beide Begriffe weiterhin synonym.43 Seit der Frühen Neuzeit treten die Bedeutungen auseinander: Pronuntiatio bezeichnet nun den stimmlichen Vortrag (auch vox, figura vocis), während actio die körperliche Beredsamkeit (auch motus, motus corporis) meint. 44 Im 18. Jahrhundert wird üblicherweise zwischen actio beziehungsweise Action als dem körperlichen Anteil und pronuntiatio beziehungsweise Declamation als dem stimmlichen Anteil des Redeauftritts differenziert. Hinzu kommt eine Vielzahl nationalsprachlicher Begriffe, wie körperliche Beredsamkeit, äußerer Vortrag oder körperlicher Anstand. In den Populärrhetoriken des 20. und 21. Jahrhunderts haben sich schließlich die Begriffe Körpersprache und nonverbale Kommunikation durchgesetzt. In dieser Arbeit wird durchgehend der Begriff actio verwendet, der als erkenntnisleitender Terminus im Dickicht verwandter Begriffe dient. Bedeutungsveränderungen sollen dadurch nicht übergangen, sondern im Gegenteil herausgearbeitet werden können. Selbstverständlich ist das, was in der Antike, im 18. Jahrhundert und in der Gegenwart unter actio verstanden wird, nicht immer das Gleiche, ebenso wenig wie immer die Bezeichnung actio verwendet wird. Die Wahl ist zum einen auf den Begriff der actio gefallen, weil das fünfte officium erst in den römischen Rhetoriken systematisch ausgearbeitet und dafür überwiegend der Begriff actio eingesetzt wird. Vor allem soll mit der Bedeutung von actio als ›Auftreten‹ und ›Handlung‹ jedoch auf deren performative Dimension als körperliche Handlung verwiesen werden. Nicht zuletzt weist die actio auf die Nähe zur Schauspielkunst hin, zum actor (›Schauspieler‹) und zu agere (›eine Rolle spielen‹, ›etwas vorführen‹). So eignet sich der Begriff dazu, den Redeauftritt als körperliche Performanz/ Performance zu perspektivieren, der in einer gewissen theatralen Grundsituation vor einem Publikum, auf einer Bühne mit Gestik, Mimik und Stimmführung bestimmte Inszenierungsstrategien verfolgt. Aus dem gleichen Grund ziehe ich der Übersetzung von actio durch ›Vortrag‹ auch die durch ›Redeauftritt‹ vor, da ›Vortrag‹ auch den ›Vortragstext‹ bezeichnen kann, ›Redeauftritt‹ jedoch durch die Kombination von ›Reden‹ und ›Auftreten‹ die actio als einen körperlichen Akt vor Publikum ausweist.

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Vgl. Rebmann, Pronuntiatio, Sp. 213. Vgl. Quint. Inst. XI, 3, 1. Clemens Ottmers, Rhetorik, Stuttgart, Weimar 1996, S. 218.

II

Körper-Rede, Macht, Geschlecht: Rhetorik mit Pierre Bourdieu und Judith Butler

Das ›rhetorische Subjekt‹ Zürnen Sie nicht, Madame; ich habe zwar zu lange verweilet, ehe ich diese Redekunst verfertiget habe, die Sie so eifrig von mir verlanget: wenn Sie aber erst meine Gründe wissen werden, so werden Sie sich gar nicht mehr über meine Langsamkeit, wohl aber über meinen Gehorsam wundern. Denn sollte ich wohl im Stande seyn, Ihnen in der Redekunst Unterricht zu geben, da ich es durch dieselbe niemals dahin habe bringen können, Sie von der großen Hochachtung zu überreden, die ich für Sie hege; noch die geringste Neigung in Ihnen dadurch gegen mich zu erregen?1

Mit diesen galanten Worten beginnt die einzige systematische Rhetorik des 18. Jahrhunderts, die einer Frau zugeeignet ist. Zugleich ist die Redekunst fürs Frauenzimmer von 1768 wohl die erste Systemrhetorik im deutschsprachigen Raum überhaupt, die eine Frau zum rhetorischen Subjekt ausbilden will. Wie lange auch immer Madame auf die ersehnte Redekunst gewartet haben mag – einige Wochen, Monate oder gar Jahre –, es erscheint wie ein Wimpernschlag vor dem Panorama der Rhetorikgeschichte: Denn mit dieser Ausnahme wird in systematischen Rhetoriken von der Antike bis in die 1980er Jahre einzig der Mann als rhetorisches Subjekt angesprochen. Warum ich den Begriff des ›rhetorischen Subjekts‹ dem des orators – oder der Neuschöpfung oratrix – vorziehe, möchte ich im Folgenden erläutern. Damit werden zugleich die theoretischen Grundannahmen meiner Arbeit dargelegt. Die Wissenschaft der Rhetorik ist lange von der scheinbaren Geschlechtsneutralität ihres Gegenstands ausgegangen, ohne die geschlechtlichen Implikationen ihrer Grundkategorien, beispielsweise des zentralen orator-Begriffs, zum Gegenstand zu machen.2 »Wenn man die Rhetorik befragt, wo ihr ureigener Ansatzpunkt gegenüber anderen mit Sprache und Kommunikation befassten Disziplinen ist,

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Anonym, Die Redekunst fürs Frauenzimmer, aus dem Französischen übersetzt, Regensburg: Johann Leopold Montag 1768, S. 3. So hält es die bislang ausführlichste Monographie zur Begriffs- und Ideengeschichte des Rednerideals bis auf einen fünfseitigen »Exkurs: Rednerideal und Frauenbildung« ab S. 141 nicht für notwendig, darauf hinzuweisen, dass unter dem scheinbar geschlechtsneutral verwendeten Begriff ›Redner‹ einzig der männliche Redner zu verstehen ist. Die ›Männlichkeit‹ als Konstitutionsmerkmal des Redners bleibt unerwähnt. Vgl. Robling, Redner und Rhetorik. Studie zur Begriffs- und Ideengeschichte des Rednerideals, S. 141–146.

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dann kann die Antwort nur lauten: bei dem als Orator handelnden Menschen.«3 Das Geschlecht dieses Menschen bleibt unerwähnt. Vielmehr wird er als selbstbestimmt handelnder und redender in den Mittelpunkt gesetzt, und die Rhetorik als Instrument verstanden, sich in einer Gesellschaft Gehör zu verschaffen. Bereits die antiken Rhetoriken erheben Joachim Knape zufolge den Anspruch, den »Ausgang des Menschen aus gesellschaftlicher Sprachlosigkeit« zu ermöglichen und den Redner, »wenigstens im Moment des kommunikativen Erfolges, aus sozialer Determination zu befreien«. 4 Dass die entsprechenden Redesituationen zumeist als agonale gedacht werden, setzt auch Josef Kopperschmidt voraus, der die Selbstbehauptung in sozialen Konflikten zum Hauptziel rhetorischer Praxis erklärt.5 Rhetorik erscheint als ein Werkzeugkasten, aus dem sich der orator bedienen kann, um sich rhetorisch zu ermächtigen, sich selbst gegenüber anderen zu beweisen, politisch zu partizipieren und andere zu beherrschen. Aus dieser Sichtweise wird Macht als ein Besitz verstanden, der es ermöglicht, sich innerhalb sozialer Beziehungen rhetorisch gegen andere durchzusetzen. Eine Rhetorikauffassung, die einen auf agonale Selbstbehauptung zielenden orator ins Zentrum stellt, lässt mindestens sechs Dinge außer Acht. Erstens entwirft sich die antike Rhetorik zwar in der Tat als ein Instrument der Selbstermächtigung, dessen Entwicklung mit der erstarkten Rolle öffentlich wirksamer Rede in den demokratischen Systemen Athens und Roms zusammenhängt.6 Diesen Selbstentwurf unkritisch zu übernehmen, heißt jedoch, dessen soziale und geschlechtliche Implikationen erneut festzuschreiben.7 Die Rhetorik hat in der Antike keineswegs ›dem Menschen‹ aus seiner sozialen Determination zu politischer Partizipation verholfen, vielmehr stellt sie nach Roland Barthes eine privilegierte Technik der herrschenden Klassen dar.8 Der »Besitz des Sprechens« bedeutete Macht, so Barthes, und selektive Zugangsregeln beschränkten diesen Besitz.9 Der orator ist in der Antike ausdrücklich ein vir, ein hochgestellter Mann, dem allein die Möglichkeit offen stand, die

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Joachim Knape, Was ist Rhetorik?, Stuttgart 2000, S. 33. Knape, Was ist Rhetorik?, S. 33. Vgl. Kopperschmidt, Was weiß die Rhetorik vom Menschen? Thematisch einleitende Bemerkungen, S. 22–26. Vgl. Cic. Brut. 45ff.; vgl. Karl Büchner, Zur antiken Vorstellung vom Redner. In: Büchner, Studien zur römischen Literatur, Wiesbaden 1978, S. 27–43, S. 27. Vgl. Elisabeth Strowick, Methodische Überlegungen zu einer rhetorischen Anthropologie. In: Wahrnehmen und Handeln. Perspektiven einer Literaturanthropologie, hg. von Wolfgang Braungart, Klaus Ridder, Friedmar Apel, Bielefeld 2004, S. 247–265, S. 248–251. Ich schließe mich in diesem Punkt Strowicks Kritik an Kopperschmidts oratorzentrierter Rhetorikauffassung an. Kopperschmidts These eines sich im Reden selbst behauptenden homo rhetoricus übersehe dessen Hervorbringung durch Diskurse ebenso wie dessen implizite Männlichkeit, womit Kopperschmidt ein patriarchalisches Subjekt- und Geschichtsverständnis fortschreibe. Vgl. Barthes, Die alte Rhetorik, S. 17. Barthes, Die alte Rhetorik, S. 17 [Hervorh. im Original].

umfangreiche rhetorische Bildung zu genießen.10 Frauen besaßen bekanntlich kein Rederecht, ebenso wenig wie Ausländer, Sklaven und Kinder. Wird die Rhetorik im Anschluss an Barthes als gesellschaftliche Praxis gedacht, stellt sich die Frage, wer wo wie sprechen darf und damit Aussicht auf Anerkennung beziehungsweise Wirkung seiner oder ihrer Rede hat. Dass diese Aussicht auf die Wirkmächtigkeit der Rede für Redner und für Rednerinnen – bei gleicher rhetorischer Kompetenz – aufgrund der historischen Codierung der Rednerposition als eine männliche nicht gleichermaßen gegeben ist, gehört zu den Hypothesen dieser Arbeit. Zweitens, so bemerkt Kopperschmidt selbst, sind »nicht alle, vielleicht nicht einmal die wichtigsten Situationen, aus denen die Lebenswelt des Menschen besteht, […] Situationen eines sozial aufgenötigten Kampfes um Selbstbehauptung«11. Dennoch besteht Kopperschmidt auf dem grundsätzlich agonalen Charakter der Rhetorik. Dem ließe sich die Frage nach anderen Formen der Rhetorik hinzufügen, etwa einer ›invitatorischen‹ Rhetorik, die eine gleichberechtigte Teilhabe am Diskurs anstrebt, wie Sonja Foss und Cindy L. Griffin sie vorschlagen.12 Dass gerade die Codierung der Rhetorik als agonale Rede Auswirkungen auf die Partizipation von Frauen hat, werden meine Ausführungen zur Gesprächsrhetorik von Harsdörffers FrauenzimmerGesprächspielen bis zu aktuellen Populärrhetoriken für Frauen noch zeigen.13 Drittens haben poststrukturalistische Machttheorien, insbesondere die von Michel Foucault, entgegen einer traditionellen Machtkonzeption, die Macht als Besitz darstellt und ihre Repressivität betont, eine polyzentrische, allgegenwärtige, produktive und in Praktiken und Technologien sichtbare Macht entworfen.14 Das Subjekt ist dann nicht mehr Besitzer der Macht, sondern wird durch die Macht allererst hervorgebracht. Damit verbunden ist viertens die kritische Hinterfragung und Verabschiedung vom Konzept eines Subjekts, das souverän über Wahrnehmung, Bewusstsein und Rede verfügt. Gegen das Konzept eines »denkenden, erkennenden und es aussprechenden Subjekts«15 hat Foucault die produktive Macht des Diskurses gesetzt. Fou-

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Vgl. u. a. Quint. Inst. XII, 1, 1 und Quint. Inst. I, Vorwort, 9. Kopperschmidt, Was weiß die Rhetorik vom Menschen?, S. 26. Sonja Foss, Cindy L. Griffin, Beyond Persuasion. A Proposal for Invitational Rhetoric. In: Communication Monographs, 62, 1995, S. 1–18, S. 4. Vgl. den Exkurs zur Gesprächsrhetorik des 16. und 17. Jahrhunderts, Kapitel IV, Kapitel V und insbesondere Kapitel V.5. Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1977, S. 37ff.; Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt a. M. 1977, S. 93–102; Foucault, Two Lectures. In: Foucault, Power/Knowledge: Selected Interviews and Other Writings, 1972–1977, hg. von Colin Gordon, New York 1980, S. 78–108; Foucault, Das Subjekt und die Macht. Vgl. zur Entwicklung von Foucaults Machtbegriff: Judith Butler, Noch einmal: Körper und Macht. In: Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption, hg. von Axel Honneth, Martin Saar, Frankfurt a. M. 2003, S. 52–67. Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1973, S. 82.

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cault macht deutlich, dass es kein souveränes, freies oder ›natürliches‹ Sprechen geben kann, sondern dass Sprache und Sprechen diskursiven Auslese- und Kontrollverfahren unterliegen: »Man weiß, dass man nicht das Recht hat, alles zu sagen, dass man nicht bei jeder Gelegenheit von allem sprechen kann, dass schließlich nicht jeder beliebige über alles beliebige reden kann.«16 Das Subjekt ist nicht mehr Ausgangspunkt des Sprechens, vielmehr verschiebt sich mit Foucault der Blick auf die Untersuchung von anonymen Aussagemustern und von Subjektpositionen, die im Diskurs eingenommen werden können.17 Die Rhetorik kann vor diesem Hintergrund als eine Diskursmacht verstanden werden, die Renate Lachmann, Riccardo Nicolosi und Susanne Strätling zufolge, »den soziokulturellen Kommunikationsraum organisiert, die Verfahren zur diskursiven Kontrolle, zur dialogischen Interaktion und zum operativen Handeln bereitstellt«18. Damit regelt die Rhetorik – und auch das ist für ein Nachdenken über Rhetorik und Geschlecht von herausragender Bedeutung – nicht nur, was gesagt und getan wird, sondern strukturiert auch die Effekte des Sprechens und Handelns.19 Während das ›Subjekt‹ in der klassischen Subjektphilosophie ein reflexives Wesen bezeichnet, das sich selbst zum Gegenstand seines Nachdenkens macht, gehe ich von einem poststrukturalistischen Subjektbegriff aus, der, anstatt diese Reflexivität vorauszusetzen, nach den diskursiven Subjektivierungsweisen fragt, die ein solches spezifisches, vermeintlich selbstreflexives Subjekt hervorbringen.20 Der Begriff der ›Subjektivierung‹ gibt dabei den Butler’schen Neologismus subjectivation wieder und »bezeichnet den Prozeß des Unterworfenwerdens durch die Macht und zugleich den Prozeß der Subjektwerdung«.21 Eben diese Unterwerfung des Subjekts

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Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a. M. 1991, S. 11. Vgl. Foucault, Archäologie des Wissens, S. 177f. Renate Lachmann, Riccardo Nicolosi, Susanne Strätling, Vorwort. In: Rhetorik als kulturelle Praxis, hg. von Renate Lachmann, Riccardo Nicolosi, Susanne Strätling, München 2008, S. 9–12, S. 10. Vgl. Lachmann, Nicolosi, Strätling, Vorwort, S. 10. Das Subjekt, wie es Foucault und, wie noch gezeigt werden soll, Pierre Bourdieu und Judith Butler entwerfen, ist nicht mehr dasjenige der klassischen Subjektphilosophie. Vgl. zu letzterem: Christoph Riedel, Subjekt und Individuum. Zur Geschichte des philosophischen Ich-Begriffs, Darmstadt 1989; Roland Hagenbüchle, Subjektivität: Eine historisch-systematische Hinführung. In: Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, hg. von Roland Hagenbüchle, Reto Luzius Fetz, Peter Schulz, 2 Bde., Berlin, New York 1998, Bd. 1, S. 1–88. Ich beziehe meine Vorgehensweise einer kulturwissenschaftlichen Subjektanalyse, die eine Rekonstruktion historischer Subjektformen und Subjektivierungsweisen in den Blick nimmt von: Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006. Vgl. Judith Butler, Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a. M. 2001, S. 8, vgl. S. 16–22. Butlers Neuschöpfung subjectivation basiert auf dem englischen Begriff subjection und bildet sich strukturell analog zum französischen Neologismus assujettissement von Michel Foucault. Subjectivation wird im Deutschen übersetzt als

ist Butler zufolge die Möglichkeitsbedingung seiner Handlungsfähigkeit.22 Damit wird die doppelte Bedeutung von ›Subjekt‹ konstitutiv: Einerseits wirkt das Subjekt als eine agierende Instanz, andererseits bezeichnet subiectum dasjenige, das übergeordneten Strukturen und Regeln unterworfen ist. In der vorliegenden Arbeit wird also der Begriff des rhetorischen Subjekts verwendet, um die Konzeption eines orators/einer oratrix kenntlich zu machen, der/die zugleich den Regeln des rhetorischen Diskurses unterworfen als auch ermächtigt ist, indem er/sie gemäß den Regeln des Diskurses zu sprechen gelernt hat und sich Gehör verschaffen kann. Das Rednersubjekt kann dann nicht mehr als souveräner Produzent seiner Rede verstanden werden, sondern erscheint selbst als Effekt des Diskurses. Elisabeth Strowick fasst diese Positionen zusammen, indem sie das Subjekt des rhetorischen Diskurses als »ermächtigt und entmachtet zugleich« bezeichnet.23 Fünftens richten sich solche Theorien einer ›Subjektivierung‹ nicht nur auf das Subjekt als eine geistige Entität oder als Träger eines Bewusstseins, sondern auch auf das Subjekt als ein notwendig körperliches. Dabei wird der Körper nicht nur als intentional einsetzbares Instrument begriffen, sondern seine prozessuale Konstitution ebenso wie seine nicht-intentionalen Handlungen beobachtet. Insofern muss die Analyse rhetorischer Subjekte auch diese zentrale Dimension des Körpers bzw. der Körperbildung beachten. Nicht zuletzt erzwingt der Begriff des rhetorischen Subjekts eine geschlechtsspezifische Inblicknahme der Rhetorik, die, wie gesagt, nur scheinbar ›den Menschen‹ rhetorisch ermächtigt. Denn aus einer poststrukturalistischen Perspektive kann ein Subjekt nicht als ›geschlechtsneutral‹ wahrgenommen werden. Im Gegenteil ist mit Butler darauf hinzuweisen, dass ein Subjekt nur als geschlechtliches

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›Subjektivation‹, ›Subjektwerdung‹ oder ›Subjektivierung‹, wobei der letzte Begriff meiner Meinung nach am besten den prozessualen Aspekt wiedergibt und zugleich den Charakter einer Wortneuschöpfung beibehält – weshalb ich ihn auch verwenden werde. »Kein Individuum wird Subjekt, ohne zuvor unterworfen/subjektiviert zu werden«, schreibt Butler. Das ›Subjekt‹ erscheint damit dem ›Individuum‹ vorgeordnet. Deshalb hat es Butler zufolge auch wenig Sinn, den Terminus ›Individuum‹ zu verwenden, da »Individuen ihre Verständlichkeit erst durch die Subjektwerdung erlangen.« Butler, Psyche der Macht, S. 15f. Den Unterschied zwischen Individuum und Subjekt macht Peter V. Zima verständlich: »Das sprachlose Individuum (etwa als Neugeborenes), wird erst zum Subjekt, indem es sich im Sozialisationsprozess sprachliche und kulturelle Identität (als Objekt) aneignet. Subjektivität könnte hier als dynamische Synthese von biologischer Individualität und kultureller Identität aufgefasst werden: als gesellschaftlicher und sprachlicher Prozess, in dem der Einzelne stets auf die anderen, auf Alterität und Dialog mit dem ihm Fremden angewiesen ist.« Peter V. Zima, Subjekt/Subjektivität. In: Metzler Lexikon Ästhetik, hg. von Achim Trebeß, Stuttgart, Weimar 2006, S. 369–372, S. 370. Strowick, Methodische Überlegungen zu einer rhetorischen Anthropologie, S. 250. Strowick wendet sich von einer oratorzentrierten Rhetorik ab und präferiert eine an Paul de Man angelehnte literaturwissenschaftliche Betrachtung der Rhetorik als Textwissenschaft.

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intelligibel wird. Zu fragen ist dann, welche geschlechtlichen Subjektpositionen der rhetorische Diskurs eröffnet (wie etwa die des vir bonus oder der eloquenten Hofdame), sowie nach den historisch-spezifischen kulturellen Praktiken und Diskursen, die die Einzelnen im Prozess der ›Subjektivierung‹ zu zurechenbaren, sprachmächtigen und geschlechtlichen, von sich selber und von anderen anerkannten Subjekten machen. Ein solchermaßen reformuliertes Konzept des orators als rhetorisches Subjekt ermöglicht es, weiterhin die zentrale Stellung des Redners in der antiken Rhetorik und damit des körperlichen, wirkungsorientierten Redeauftritts (actio) zu betonen, ohne der Vorstellung eines souveränen Sprechers aufzusitzen. Meine Arbeit nimmt daher den Begriff des rhetorischen Subjekts als Analyseinstrument, um danach zu fragen, wie rhetorische Texte dieses Subjekt historisch spezifisch herstellen. Sie verfolgt die These, dass gerade die actio-Lehre mit ihren Anweisungen für körperliches Auftreten eine besondere Rolle für die Konstitution des Subjekts spielt. Beschreibe ich Rhetorik als Körperbildungsmacht, so ist zu präzisieren: Was ist unter ›Körperbildung‹ konkret zu verstehen? Welche Konzeptionen des Körpers und Geschlechts stehen dahinter? Meine einleitend formulierte Hypothese, dass die hier analysierten Rhetoriken und Anstandslehren eine Struktur der Wiederholung und Aneignung als konstitutiv für die Bildung des rhetorischen (und zugleich geschlechtlichen) Subjekts setzen, kann so prägnant nur auf der Grundlage poststrukturalistischer Theorien formuliert werden, die gemeinsam haben, dass sie das Subjekt als Effekt einer repetitiven körperlichen Praxis bestimmen. Diese theoretische Grundlage – im Einzelnen beziehe ich mich auf Pierre Bourdieu und Judith Butler – möchte ich im Folgenden reflektieren. Pierre Bourdieus Theorie der Praxis Bourdieus Beschäftigung mit sozialen Praktiken resultiert aus der Auseinandersetzung mit dem strukturalistischen Ansatz Ferdinand de Saussures und Claude Lévi-Strauss’ in seinen ethnologischen Arbeiten über die kabylische Gesellschaft. Bourdieu kritisiert, dass die totalisierende Suche nach Strukturen und Regelmäßigkeiten die kabylische Gesellschaft nicht adäquat erfassen könne, weil sie unter anderem die zeitliche Abfolge von Handlungen unberücksichtigt lasse. Er beobachtet außerdem, dass manche Praktiken, beispielsweise die Heiratspraktiken nicht identisch sind mit den entsprechenden Diskursen, die die Kabylen darüber führen. So beginnt Bourdieu, die soziale Praxis zum Ausgangspunkt seiner Beobachtungen zu machen, und nicht Sprache, Zeichensysteme oder Strukturen. Indem er die hierarchische Geist-Körper-Dichotomie aufbricht und die Praxis damit nicht mehr als dem Denken unter- oder nachgeordnete »Ausübung/Ausführung«24 vorher gefasster

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Vgl. Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 159 [alle Hervorhebungen im Original, sofern nicht anders angemerkt].

Intentionen oder eines bestehenden Regelwerks erscheint, gelangt Bourdieu zu einer radikalen Aufwertung der Praxis und damit des Körpers. Sich abgrenzend von der Vorstellung eines entkörperlichten, selbstreflexiven Subjekts versteht Bourdieu das Subjekt als ein körperliches, als Träger eines inkorporierten Habitus.25 Der Habitus ist nicht angeboren, sondern vollständig gesellschaftlich und historisch bedingt und wird im Sozialisationsprozess durch individuelle wie kollektive Erfahrungen ausgebildet. Diesen Prozess beschreibt Bourdieu mit dem Begriff der Einverleibung (incorporation), womit er die körperliche Dimension des Habitus zentral setzt. Der Körper dient sowohl als (passiver) Speicher einer verkörperten Geschichte als auch als aktiver Produzent von Handlungen. Die Inkorporierung von Strukturen führt zu einem »Wissen um die Grenzen«, das die Subjekte in ihrem jeweiligen sozialen Feld dazu bringt, »sich standesgemäß zu verhalten«, »an ihrem Platz zu bleiben« und »zu sein, was sie sein sollen«.26 Zugleich reproduziert der Körper diese ›Geschichte‹ und mit ihr die inkorporierten Werte und Machtbeziehungen. Dies geschieht unbewusst, denn »[w]as der Leib gelernt hat, das besitzt man nicht wie ein wiederbetrachtbares Wissen, sondern das ist man«27. Der Habitus verknüpft damit Körper und Gesellschaft: Der Körper erscheint als Produkt sozialer Praxis und seine Praktiken konstituieren wiederum die Gesellschaft. Auf dieser »Dialektik zwischen Interiorität und Exteriorität, d. h. zwischen der Interiorisierung der Exteriorität und der Exteriorisierung der Interiorität«28 basiert Bourdieus Theorie der Praxis. Die Einverleibung der sozialen Strukturen verläuft weder bewusst rational noch mechanisch ab, sondern als praktisches, körperlich-sinnliches Tun in Interaktion mit anderen. Dem Körper wird dabei eine eigene Aktivität und eine eigene ›Logik‹ zugestanden. Die Einverleibung findet statt, indem der Körper Handlungen – wie z. B. die Haltung, Gestik und Redeweise – anderer nachahmt: Dabei wird die Motorik unmittelbar von der körperlichen Hexis angesprochen, einem Haltungsschema (schème postural), das, weil für ein ganzes System von Körpertechniken und Werkzeugen verantwortlich und mit einer Vielzahl sozialer Bedeutungen und Werte befrachtet, zugleich singulär und systematisch ist […].29

Dass das mimetische Erlernen bestimmter Haltungen und Gesten über praktische Handlungen verläuft, »ohne jemals die Ebene des Diskurses zu beanspruchen« – nicht Modelle, sondern Handlungen anderer würden nachgeahmt, so Bourdieu30 – bedeu-

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Bourdieu selbst spricht von ›Akteuren‹ oder ›Individuen‹, nicht von ›Subjekten‹. Dennoch kann seine Theorie der Praxis als eine Subjekttheorie im oben beschriebenen Sinne verstanden werden. Vgl. Andreas Reckwitz, Subjekt, Bielefeld 2008, S. 39. Bourdieu, Was heißt sprechen?, S. 90. Bourdieu, Sozialer Sinn, S. 135 [Hervorhebung von mir]. Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 164. Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 189f. Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 189.

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tet jedoch nicht, dass es um ein mechanisches Lernen beziehungsweise Reproduzieren geht. Im Gegenteil ist der Habitus begrenzt kreativ, denn die »erworbenen Denk- und Ausdrucksschemata [gestatten] die intentionslose Erfindung der geregelten Improvisation«31. Das Subjekt beherrscht seine Handlungen nicht bewusst, es ist nicht ihr Produzent, sondern sie werden durch den Habitus produziert und übersteigen dementsprechend immer die Intention des Subjekts. Mehrfach bringt Bourdieu hier das Beispiel der Schlagfertigkeit an, die nicht selten den schlagfertigen Redner ebenso wie sein Publikum überrascht – deren Sinn also die Intention des Subjekts übersteigt. Trotz kontinuierlicher Modifikationen in der »Laufbahn« des Subjekts zeigt sich der Habitus insgesamt relativ stabil und dementsprechend unflexibel, wenn er auf fremde Strukturen trifft, die nicht zu denjenigen gehören, in denen er produziert und inkorporiert wurde.32 Die einverleibten und im Körper gespeicherten Strukturen enthalten über die konkreten Handlungen – beispielsweise Höflichkeitsregeln, Essverhalten, Körperhaltung für Jungen und Mädchen, Raumverhalten – hinaus die Anerkennung bestimmter Werte und hierarchischer Dichotomien – wie beispielsweise die zwischen Männern und Frauen, Älteren und Jüngeren. Diese Sinnstrukturen werden im Körper gespeichert und durch ihn relativ unverändert reproduziert. Messen alle Gesellschaften […] den augenblicklich unbedeutendsten Einzelheiten der Haltung, des Auftretens, der körperlichen und verbalen Darstellungsweisen einen so großen Wert bei, so darum, weil sie, indem sie den Körper wie ein Gedächtnis behandeln, ihm in gedrängter und praktischer, d. h. mnemotechnischer Form die fundamentalen Prinzipien der kulturellen Willkür zuweisen. Das derart Einverleibte findet sich jenseits des Bewußtseinsprozesses angesiedelt, also geschützt vor absichtlichen und überlegten Transformationen, geschützt selbst noch davor, explizit gemacht zu werden: Nichts erscheint unaussprechlicher, unkommunizierbarer, unersetzlicher, unnachahmlicher und dadurch kostbarer als die einverleibten, zu Körpern gemachten Werte […].33

Sowohl die einverleibten Werte als auch die gesellschaftlich konstituierten Körper (und ihre geschlechtliche Erscheinungsweise, wie sich ergänzen ließe,) erhalten damit den Anschein von Natürlichkeit. Denn der Habitus ist »zu Natur gewordene Geschichte […], die als solche negiert, weil als zweite Natur realisiert wird«34 .

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Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 179. Bourdieu macht dies am Habitus der vormodernen kabylischen Gesellschaft fest, der in Konfrontation mit den Strukturen des kapitalistischen Kolonialismus ›unpassende‹ Praktiken hervorbringt. Vgl. auch Beate Krais, Gunter Gebauer, Habitus, Bielefeld 2002, S. 63f. Krais und Gebauer denken Bourdieu hier mit Bezug auf die Gehirnforschung weiter und verstehen den Habitus als dispositionelles Netz, das Erfahrungen aufnimmt, in spezifischer Weise verarbeitet und sich damit zugleich immer weiter modifiziert, jedoch Erfahrungen, für die keine ›Ankopplungsstelle‹ besteht, nicht aufnehmen kann. Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 200. Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 171.

Damit sind die Habitus »Quasi-Naturen«35. Natur erscheint als ein Resultat des Vergessens, denn die Subjekte sind sich der ›Geschichte‹ des Habitus nicht mehr bewusst. In Was heißt sprechen? geht Bourdieu genauer auf den Zusammenhang von Körper, Macht und Sprechen ein – einen aus rhetorischer Perspektive zentralen Zusammenhang. Bourdieu beschreibt Sprechakte wie Ernennungen oder Beleidigungen als performative »Ein- oder Absetzungsakte, durch die eine Einzelperson, die im eigenen Namen oder im Namen einer zahlenmäßig oder sozial mehr oder weniger bedeutenden Gruppe handelt, jemandem mitteilt, er habe diese oder jene Eigenschaft, und zugleich, er habe sich der ihm auf diese Weise zugesprochenen sozialen Natur gemäß zu verhalten.«36 Die performative Äußerung funktioniere nach der Formel: »Werde, was Du bist!«37 Dieses – wie Bourdieu es im Rückgriff auf Austin nennt – »Mysterium der performativen Magie«38 beruhe jedoch nicht auf einer Macht, die den Worten selbst innewohne, sondern auf einer externen Macht. Der Sprecher muss zum einen autorisiert, das heißt bevollmächtigt sein, im Namen einer Gruppe, die ihr ›symbolisches Kapital‹ auf ihn überträgt, in einer bestimmten Situation vor einem bestimmten Publikum zu sprechen. Zum anderen muss der Sprecher über die (habituelle) Sprachkompetenz verfügen, sich mit Autorität zu äußern, das heißt, er muss sich der ›legitimen‹, auf einem ›sprachlichen Markt‹ anerkannten Sprache zu bedienen wissen. Die Sprachkompetenz, die ausreicht, um Sätze zu bilden, kann völlig unzureichend sein, um Sätze zu bilden, auf die gehört wird […]. Sprecher ohne legitime Sprachkompetenz sind in Wirklichkeit von sozialen Welten, in denen diese Kompetenz vorausgesetzt wird, ausgeschlossen oder zum Schweigen verurteilt.39

Wirkungsvoll ist das Sprechen nur, wenn es nicht nur verstanden, sondern auch anerkannt wird. 40 Diese Anerkennung beruht auf den »gesellschaftlichen Bedingungen der Produktion und Reproduktion der klassenspezifischen Verteilung von Kenntnis und Anerkenntnis der legitimen Sprache«41 – also sowohl auf der habituellen Sprachkenntnis der Sprechenden als auch der habituellen Disposition, die zur Anerkennung der Macht der Sprechenden führt. Damit kann nicht jedermann oder jedefrau überall sprechen und Gehör finden. Vielmehr bedarf es – neben ei-

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Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 171. Bourdieu, Was heißt sprechen?, S. 71. Vgl. ausführlich zu Bourdieus Konzept des Performativen: Kathrin Audehm, Die Macht der Sprache. Performative Magie bei Pierre Bourdieu. In: Grundlagen des Performativen. Eine Einführung in die Zusammenhänge von Sprache, Macht und Handeln, hg. von Christoph Wulf, Michael Göhlich, Jörg Zirfas, Weinheim, München 2001, S. 101–128. Bourdieu, Was heißt sprechen?, S. 88. Bourdieu, Was heißt sprechen?, S. 72. Bourdieu, Was heißt sprechen?, S. 32. Vgl. Bourdieu, Was heißt sprechen?, S. 77. Bourdieu, Was heißt sprechen?, S. 79.

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ner autorisierten ›Rednerposition‹ – eines ›legitimen‹ sprachlichen Habitus, also der gesellschaftlich erworbenen Disposition zu einer bestimmten körperlichen Hexis und Art der (Aus-)Sprache, die sowohl die Sprachkompetenz als auch die soziale Kompetenz, diese Sprachkompetenz situationsadäquat einzusetzen, beinhaltet. 42 Ein solcher ›legitimer‹ Sprachhabitus wird »in einem langen Prozeß der allmählichen Aneignung über die Sanktionen des Sprachmarkts unmerklich eingeübt«43. Diese Einübung ist deshalb so effektiv, weil sie einem Ritual gleicht.44 Im Ritual wird eine Identität gesetzt und festgeschrieben, die zugleich den Imperativ enthält, so zu sein, wie man sein soll. Damit fasst Bourdieu den Einsetzungsakt als einen »Kommunikationsakt, aber von besonderer Art: er bedeutet jemandem seine Identität, aber in dem Sinne, dass er sie ihm ausspricht und sie ihm zugleich, indem er sie ihm vor aller Augen ausspricht, auferlegt […] und ihm auf diese Weise mit Autorität mitteilt, was er ist und was er zu sein hat.«45 Diese performative Grenzziehung funktioniert durch ein »unablässiges Bestärken, Ermutigen und Zur-OrdnungRufen« und »an den Platz erinnern« derer auf der ›richtigen Seite der Linie‹ und den Ausschluss derer auf der ›falschen Seite der Linie‹. 46 Mit dieser »Einübungsarbeit« wird die bleibende Festlegung einer willkürlichen Grenze vollzogen und naturalisiert.47 Indem der sprachliche Markt die sozialen Unterschiede in ein System von sprachlichen Distinktionen übersetzt, lassen sich die Subjekte nach der praktischen Beherrschung der ›legitimen‹ Sprache anhand der Parameter von Distinktion und Korrektheit bewerten. 48 Im Kampf um die ›Sprachautorität‹ spielen laut Bourdieu solche Institutionen wie die Grammatik und die Literatur – und hier müsste die Rhetorik hinzugefügt werden – eine besonders machtvolle Rolle, weil sie für würdig befunden werden, die »Produktion von Produktionsmitteln – Wort- und Gedankenverbindungen, Gattungen, legitime Ausdrucksweisen oder Stile und ganz allgemein alle Diskursformen, die dazu bestimmt sind, als ›Autorität‹ angesehen und als Beispiel für den ›richtigen Sprachgebrauch‹ zitiert zu werden« zu betreiben. 49 Sie sichern das zeitliche Fortbestehen und die räumliche Verbreitung der legitimen Sprache und garantieren deren Anerkennung in der ständigen Auseinandersetzung mit anderen Akteuren auf dem Sprachmarkt. Nicht nur die Grammatik, sondern auch und gerade die Rhetorik, so ließe sich in Anlehnung an Bourdieu formulieren, unterziehen die legitime Sprache einer Standardisierungs- und Kodifizierungsar-

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Vgl. Bourdieu, Was heißt sprechen?, S. 11f. Bourdieu, Was heißt sprechen?, S. 27. Vgl. Bourdieu, Was heißt sprechen?, S. 28f. Bourdieu, Was heißt sprechen?, S. 87f. Vgl. Bourdieu, Was heißt sprechen?, S. 88f. Bourdieu, Was heißt sprechen?, S. 90. Vgl. Bourdieu, Was heißt sprechen?, S. 32, S. 38. Bourdieu, Was heißt sprechen?, S. 35.

beit, »die sie bewusst beherrschbar und damit leicht reproduzierbar machen soll«50. Die Rhetorik ist umso mehr von Relevanz, da der sprachliche Habitus grundsätzlich körperlich gedacht wird: Die Sprache ist eine Technik des Körpers, und die eigentliche sprachliche, ganz besonders die phonologische Kompetenz ist eine Dimension der Hexis, der physischen Erscheinung, in der sich das ganze Verhältnis zur sozialen Welt und das ganze sozial geprägte Weltverhältnis ausdrücken.51

Gerade die Rhetorik liefert in Bezug auf den Körper explizite Anleitungen, wie die von ihr gesetzte ›legitime‹ (Aus-)Sprache inkorporiert und damit reproduziert werden soll. Bourdieus Betonung von inkorporierten sozialen Unterschieden, die sich in der Sprechweise manifestieren, macht sichtbar, dass die Rhetorik bei dieser Kodifizierungsarbeit zugleich soziale (und geschlechtliche) Ungleichheit reproduziert.52 Die Autorität bezeugende Aussprache, ebenso wie Gestik, Kleidung, Tribüne oder Mikrophon, sichern dem legitimen Sprecher das Gehör.53 Für Bourdieu sind dies Zeichen der Macht: Die sprachliche Kompetenz ist ein nach Außen hörbar (und durch die Gestik und Kleidung sichtbar) gemachter Anspruch auf eine Macht, die sie zugleich verkündet. Die »Redegewandtheit von offiziellen Sprechern […] ist auch eine Manifestation der Kompetenz im Sinne eines Rechts auf das Wort und eines Rechts auf Macht durch das Wort«, erklärt Bourdieu.54 Trotz dieser augenscheinlichen Performativität von Macht in der Rede macht Bourdieu allerdings das Gelingen, also den ›Anspruch auf Wirkung‹ der Rede, von externen sozialen Faktoren abhängig. Er denkt eine Reproduktion von Macht, nicht aber eine performative ›Anmaßung‹ von Macht. Damit bleibt Bourdieu letztlich bei einem Abbildungsverhältnis von Wirklichkeit und Sprache: Die sozialen Positionen spiegeln sich in den sprachlichen Machtverhältnissen, wobei Bourdieu diese Verhältnisse gerade nicht als in der Sprache ausgehandelte, sondern als vorgängige denkt. Anhand dieser kurzen Skizze lässt sich die Bedeutung der Bourdieu’schen Praxis-Theorie für mein Verständnis der Rhetorik als Körperbildungsmacht folgendermaßen zusammenfassen: Mit Bourdieu rückt ein in erster Linie körperlich gedachtes Subjekt in den Blick, das in einem fortwährenden Prozess gesellschaftliche Strukturen inkorporiert und reproduziert. Sprechen wird als ein körperlicher Akt verstanden, als Teil des Habitus. Der Habitus wird durch Erfahrung, Gewöhnung und Nachahmung der Praxis erworben – und zwar vorrangig unbewusst. Demgegenüber kann die Rhetorik als eine ›offizielle‹ Vermittlungs- und Habitualisierungsinstanz einer ›legitimen‹ Sprache innerhalb eines bestimmten sozialen Feldes verstanden werden, wobei ich ergänze, dass gerade auch die in der actio-Lehre ver-

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Vgl. Bourdieu, Was heißt sprechen?, S. 36. Bourdieu, Was heißt sprechen?, S. 66f. Vgl. Bourdieu, Was heißt sprechen?, S. 39. Vgl. Bourdieu, Was heißt sprechen?, S. 48f. Bourdieu, Was heißt sprechen?, S. 55.

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handelte ›legitime‹ Gestik, Mimik, Stimmführung, Kleidung und das Raumverhalten ›Autorität‹ transportieren und damit Aussicht auf Anerkennung generieren. Vermittelt und zur zweiten Natur wird diese ›legitime‹ – oder in einem rhetorischen Terminus ›angemessene‹ (decorum) – Sprache durch eine ›Einübungsarbeit‹, die zugleich die damit verbundenen sozialen Positionen inkorporiert. Judith Butlers Theorie der performativen Subjektkonstitution Judith Butler greift Bourdieus sozialwissenschaftliche Habitus-Theorie kritisch auf und verbindet sie mit ihrem sprechakttheoretischen Konzept performativer Subjektkonstitution.55 Sie lenkt den Blick nicht nur auf die sozialen Praktiken, in denen sich Subjekte handelnd bilden, sondern auch auf die Diskurse, die Subjekte bilden, von denen sie sprechen. Ebenso wie Bourdieu geht Butler davon aus, dass der Körper »nicht nur in Übereinstimmung mit bestimmten geregelten oder ritualisierten Praktiken handelt, er ist selbst diese sedimentierte rituelle Aktivität; sein Handeln ist in diesem Sinn eine Form von verkörpertem Gedächtnis. So wird die offenkundige Materialität des Körpers als eine Form praktischer Aktivität neu gefasst […]«.56 Das

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Während Butler in Gender Trouble (1990) und ihrem Aufsatz »Performative Acts and Gender Constitution: An Essay in Phenomenology and Feminist Theory« (1997) wesentlich näher an Bourdieu die Bedeutung von (körperlichen) Akten für die Konstitution des Subjekts betont, verschiebt sich ihr Fokus später, vor allem in Bodies that Matter (1993), »Performativity’s Social Magic« (1996) und Hate Speech (1997), auf eine dezidiert sprechakttheoretische Theorie performativer Subjektkonstitution. Vgl. Uwe Wirth, Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität. In: Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, hg. von Uwe Wirth, Frankfurt a. M. 2002, S. 9–60, S. 40. Butler, Haß spricht, S. 218. Kritik an Butlers Bourdieu-Lektüre in Haß spricht übt Claudia Rademacher, die in der überzogenen Anschuldigung gipfelt, Butler betreibe mit ihrem diskurstheoretischen Ansatz eine »Kulturalisierung des Sozialen«, die gesellschaftliche Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse nicht hinreichend abbilde. »Butler bringt sich durch ihre geradezu fahrlässig einseitige Bourdieu-Lektüre – man ist geneigt, von einer ›Fehlaneignung‹ zu sprechen – um wichtige Einsichten. Sie löst Bourdieus Habitus-Konzept ebenso wie seine Analyse der ›performativen Wirkung des Diskurses‹ völlig aus dem Zusammenhang und verhehlt mit ihrem platten Determinismus-Verdikt die gesellschaftliche Essenz der Bourdieuschen Analysen.« Claudia Rademacher, Geschlechterrevolution – rein symbolisch? Judith Butlers Bourdieu-Lektüre und ihr Konzept einer ›subversiven Identitätspolitik‹. In: Geschlecht – Ethnizität – Klasse. Zur sozialen Konstruktion von Hierarchie und Differenz, hg. von Claudia Rademacher, Peter Wiechens, Opladen 2001, S. 31–51, S. 41, S. 39. Rademacher verkennt allerdings Butlers politische Zielsetzung, die sich eben nicht nur mit einer Analyse bestehender reproduktiver gesellschaftlicher Machtverhältnisse zufrieden gibt – und ebenso wenig mit einer rein sprachtheoretisch ausgerichteten Sprechaktanalyse ohne gesellschaftlichen Bezug wie Derrida –, sondern in der Verbindung beider Ansätze Strategien der Subversion aufzeigen möchte. Eine Kritik an Rademacher und zugleich differenziertere Analyse

körperliche Handeln, das Bourdieu unter dem Begriff ›Praktiken‹ fasst, bezieht Butler als ›Akte‹ in ihre Performativitätstheorie ein: Einerseits konstituieren Akte Bedeutung und andererseits performieren und inszenieren Akte Bedeutung.57 Mit dieser Definition grenzt sich Butler von einem Verständnis von Akten ab, das diese als ›Ausdruck‹ einer bestehenden Identität liest. Stattdessen betont sie die performative Funktion von Akten. Der Körper ist den Akten nicht vorgängig, sondern – in Anlehnung an Bourdieu – als das »Erbe abgelagerter Akte«58 zu verstehen. Dagegen kritisiert Butler: »Bourdieu bietet in seinem Begriff des Habitus eine Theorie des Körperwissens, aber er verbindet diese Ausführungen zum Körper nicht mit der Theorie der performativen Äußerung.«59 Der Körper diene nicht nur durch die Inkorporierung von Praktiken als Speicher einer Geschichte, sondern er stelle diese auch immer wieder durch seine (Sprech-)Praktiken her. Damit sei seine Funktionsweise analog zu der von performativen Äußerungen zu verstehen.60 »So wird der Habitus geformt, aber er formt auch: Der körperliche Habitus stellt in eben diesem Sinne eine stillschweigende Form von Performativität dar, eine Zitatenkette, die auf der Ebene des Körpers gelebt und geglaubt wird.«61 Butler wundert sich, warum Bourdieu, dessen Habitus-Begriff so offensichtlich performativ angelegt ist, diese Bezeichnung dafür nicht in Anspruch nimmt. Verantwortlich könnte dafür die Differenz von Sozialem und Sprachlichem sein, die Bourdieu in seiner Theorie des Sprechaktes als gesellschaftlich bedingten Akt einsetzt. Butler zeigt jedoch, dass gerade am Beispiel des körperlichen Habitus die Unterscheidung zwischen Sozialem und Sprachlichem problematisch ist: Das gesellschaftliche Leben des Körpers stellt sich durch eine Anrufung her, die sprachlich und produktiv zugleich ist. […] Anrufungen, die ein Subjekt in die Existenz rufen, d. h. gesellschaftliche performative Äußerungen, die mit der Zeit ritualisiert und sedimentiert worden sind, sind für den Prozeß der Subjektbildung ebenso zentral wie der verkörperte, partizipatorische Habitus.62

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der Diskussion um Bourdieu und Butler liefert: Elisabeth Tuider, Körpereventualitäten. Der Körper als kultureller Konstruktionsschauplatz. In: Körperbilder zwischen Natur und Kultur. Interdisziplinäre Beiträge zur Genderforschung, hg. von Hildegard Macha, Claudia Fahrenwald, Opladen 2003, S. 43–67. Vgl. Butler, Performative Akte und Geschlechterkonstitution, S. 304. Butler, Performative Akte und Geschlechterkonstitution, S. 307. Butler, Haß spricht, S. 216. Butler, Haß spricht, S. 216. Butler, Haß spricht, S. 219. Butler, Haß spricht, S. 217. Butler erklärt ihr Konzept einer diskursiven ›Anrufung‹ anhand von Louis Althussers anschaulicher Szene einer ›Anrufung‹: Ein Passant wird auf der Straße von einem Polizisten angerufen. Indem sich der Passant umwendet, erkennt er sich als den Angerufenen (an). Diese Anerkennung versteht Butler als konstitutiven Moment, der das (gesellschaftliche) Subjekt (sprachlich) ins Leben ruft. Durch die Anrede (und die Anerkennung) des Anderen wird das Subjekt zu einem Subjekt, das seinerseits andere ansprechen kann. Vgl. Louis Alt husser, Ideology and Ideological State

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Die diskursive und die soziale Konstitution des Subjekts sind nach Butler unlösbar verknüpft. Damit leistet Butler eine entscheidende Zusammenführung zweier Argumente, die Bourdieu zwar einzeln ausgeführt, jedoch nicht verbunden hat. Butler rückt nun – und das macht ihre Position für diese gender-orientierte Arbeit unabdingbar – die Konstitution des geschlechtlichen Körpers in den Mittelpunkt ihrer Subjekttheorie. Sie tut dies früher und konsequenter als Bourdieu, der erst 1998 in La domination masculine seine soziale Habitus-Theorie explizit auf den geschlechtlichen Habitus ausweitet.63 Während die feministische sex/genderUnterscheidung den biologischen Körper nicht hinterfragt hat, macht Butler darauf aufmerksam, dass die Trennung zwischen sex und gender selbst eine diskursive Konstruktion ist.64 Sex kann Butler zufolge nicht als ›nackte Tatsache‹ wahrgenommen werden, sondern ist ebenfalls diskursiv konstituiert. Damit wird nicht behauptet, dass der Körper »lediglich sprachlicher Stoff« sei, allerdings kann auf seine Materie auch nicht außerhalb von Sprache Bezug genommen werden.65 Vielmehr denkt Butler die Materie selbst als Effekt einer diskursiven, produktiven Macht (im Foucault’schen Sinn), wobei sie den zeitlichen Aspekt betont: Sie begreift Materie als einen »Prozeß der Materialisierung, der im Laufe der Zeit stabil wird, so daß sich die Wirkung von Begrenzung, Festigkeit und Oberfl äche herstellt«66. Nach

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Apparatus (Notes Towards an Investigation). In: Althusser, Lenin and Philosophy and Other Essays, New York 2001, S. 85–126; dazu: Butler, Haß spricht, S. 43. In La domination masculine (Paris 1998, dt.: Die männliche Herrschaft, Frankfurt a. M. 2005) nimmt Bourdieu einen ethnographischen Blick ein als heuristisches Instrument, um die »trügerische[] Vertrautheit aufzubrechen«, welche die eigene, binäre Geschlechterordnung natürlich erscheinen lässt. Seine Analyse der kabylischen Geschlechterordnung sieht »die ›Geschlechter‹ als vergeschlechtlichte[n] Habitus« (S. 11). Damit sind das Männliche und das Weibliche nicht natürlich gegeben, sondern Ergebnis einer langwierigen Konstruktionsarbeit. »Das Zusammenspiel der biologischen Erscheinungsformen und der höchst realen Auswirkungen, die eine lang andauernde kollektive Arbeit der Vergesellschaftung des Biologischen und der Biologisierung des Gesellschaftlichen in den Körpern und den Köpfen gehabt haben, hat eine Verkehrung der Beziehung von Ursachen und Wirkung zur Folge.« (S. 11) Nicht die biologischen Unterschiede seien Grundlage einer geschlechterdifferenzierten Gesellschafts- und Herrschaftsordnung, sondern umgekehrt diene die Naturalisierung der gesellschaftlichen Konstruktion der Geschlechter der Legitimierung eines Herrschaftsverhältnisses. Eben die Beschreibung dieser »zirkelhafte[n] Kausalbeziehung« (S. 23) – der gesellschaftlich konstruierte Unterschied wird zum natürlich erscheinenden Beleg einer gesellschaftlichen Sichtweise, die ihn geschaffen hat – proklamiert Bourdieu als originelle Eigenleistung (S. 43), die sich gleichwohl bereits bei Butler findet. In der feministischen Theorie wird sex als das biologische, anatomische Geschlecht und gender als die sozial und kulturell erworbene Geschlechtsidentität, die dem Männlichen und Weiblichen zugeordnet wird, verstanden. Vgl. Butler, Unbehagen der Geschlechter, S. 22ff. Butler, Körper von Gewicht, S. 104, S. 33. Butler, Körper von Gewicht, S. 32 [alle Hervorhebungen im Original, sofern nicht anders angemerkt].

Butler hat der Diskurs die Macht, durch ständige Wiederholungen Wirkungen zu produzieren. Der im ›Wiederholungszwang‹ performativ hervorgebrachte geschlechtliche Körper wirkt ›natürlich‹, weil »verschiedenartige körperliche Gesten, Bewegungen und Inszenierungen die Illusion eines beständigen, geschlechtlich bestimmten Selbst erzeugen«.67 Diese »ständig wiederholende und zitierende Praxis, durch die der Diskurs die Wirkungen erzeugt, die er benennt«, bezeichnet Butler als Performativität.68 Nach Butler sind Sprechakte nun »ein Bereich, indem die Macht als Diskurs agiert«, indem sie das hervorbringen, was sie benennen.69 Dies erklärt Butler am Beispiel eines typischen Aktes einer Benennung: Die konstative Aussage ›Es ist ein Mädchen‹ enthält zugleich den Imperativ, sich wie ein Mädchen aufzuführen und setzt einen Prozess der ›Mädchenisierung‹ in Gang.70 Der performative Akt des Benennens ist sowohl als direktive beziehungsweise deklarative Anweisung ›Sei ein Mädchen!‹ zu verstehen als auch als Aufforderung zu einer Performance, also einer theatralischen Selbstinszenierung.71 Geschlecht ist damit nichts Vorgängiges, sondern kommt allererst durch eine »stilisierte Wiederholung von Akten«72 zustande. Mit dem Begriff der stilisierten Wiederholung verweist Butler darauf, dass Akte niemals nur individuell, sondern, in Anlehnung an Sartres Stil des Seins oder Foucaults Stilistik der Existenz, immer auch geschichtlich und damit konventionell sind.73 Die »Stilisierung des Körpers«, seine Haltung und Gestik, muss sich im Einklang mit gesellschaftlichen Sanktionen und Vorschriften vollziehen. Trotz der Ähnlichkeit von gender-konstituierenden Akten mit theatralischen Akten und trotz des offenkundig rhetorischen Terminus einer ›Stilisierung‹ von Akten, handelt es sich weder um ein Konzept, das das Subjekt als Schauspieler/in denkt, der/die eine Rolle aktiv ergreift, noch um eines, das das Subjekt als Redner/in versteht, der/ die wirkungsorientiert seinen Körper als Überzeugungsmittel einsetzt. Vielmehr grenzt sich Butler von solchen Positionen ab, die von einem Selbst ausgehen, das Rollen willentlich annimmt und austauscht.74 Denn bereits dieses Selbst, so Butler,

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Butler, Performative Akte und Geschlechterkonstitution, S. 302. Butler, Körper von Gewicht, S. 22. Butler, Haß spricht, S. 309. Vgl. Butler, Performativity’s Social Magic, S. 37. Butler zufolge ähneln gender-konstituierende Akte denen in theatralen Kontexten. »Tun, dramatisieren, reproduzieren« – das sind Butler zufolge drei Elemente der Verkörperung. Butler, Performative Akte und Geschlechterkonstitution, S. 305. Butler, Performative Akte und Geschlechterkonstitution, S. 302. Vgl. Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, S. 206. Vgl. Butler, Performative Akte und Geschlechterkonstitution, S. 305. So grenzt sich Butler von der Goffman’schen Rollentheorie ab. Vgl. Butler, Körper von Gewicht, S. 14; Erving Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München 1969. Damit positioniert sich Butler ebenso wie Bourdieu außerhalb der klassischen soziologischen Rollentheorie. Zur Unterscheidung des Habituskonzepts von der Rollentheorie: Beate Krais, Habitus und soziale Praxis. In: Pierre Bourdieu –

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ist durch den Diskurs konstituiert.75 Das Mädchen, um im vorangegangenen Beispiel zu bleiben, muss also Normen des ›Mädchenseins‹ zitieren, um als intelligibles Subjekt anerkannt zu werden.76 Es ist nach Butler keine Frage des freien Willens, die Geschlechterzugehörigkeit zu performieren, sondern eine »Überlebensstrategie in Zwangssystemen«77. Insofern geht auch Bourdieus Kritik an Butler fehl, sie denke die Geschlechter – zumindest in Das Unbehagen der Geschlechter – als bloße ›Rollen‹, die voluntaristisch anzunehmen oder zu verwerfen seien.78 Nach Butler konstituiert der Diskurs erst die Möglichkeitsbedingung der (geschlechtlichen) Subjekte und individuellen Sprechakte: »Wo ein ›Ich‹ vorhanden ist, das sich äußert oder spricht und damit eine Wirkung im Diskurs erzielt, da ist zuerst ein Diskurs, der dem ›Ich‹ vorhergeht und es ermöglicht und in der Sprache die zwingende Stoßrichtung seines Willens bildet.«79 Wenn die performative Kraft der Sprache für die Konstitution des Subjekts so zentral ist und es eben »die Macht dieses Zitats [ist], die der performativen Äußerung ihre bindende oder verleihende

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Politisches Forschen, Denken und Eingreifen, hg. von Margareta Steinrücke, Hamburg 2004, S. 91–106, S. 94f. und Krais, Gebauer, Habitus, S. 66ff. Butler, Performative Akte und Geschlechterkonstitution, S. 316. Vgl. Butler, Performative Akte und Geschlechterkonstitution, S. 305. Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, S. 205. Erst in Körper von Gewicht sehe Butler diesen Fehler ein. Vgl. Bourdieu, Die männliche Herrschaft, S. 178, Fn. 36. Ebenso haltlos ist Bourdieus Vorwurf, Butler proklamiere die voluntaristische Überwindung des geschlechtlichen Dualismus: »Diese Dualismen sind tief in den Dingen (den Strukturen) und den Körpern verankert und nicht aus einem bloßen Benennungseffekt hervorgegangen und können daher auch nicht durch einen Akt performativer Magie aufgehoben werden. [...] Es ist die Geschlechterordnung, auf der die performative Wirksamkeit der Worte – und ganz besonders der Beleidigungen – gründet; und sie ist es auch, die gegen die pseudorevolutionären Umdefinitionen des subversiven Voluntarismus resistent ist.« (S. 178) Eben diese Argumentation ist schwer nachzuvollziehen, zeigt Bourdieu doch, dass die männliche Herrschaft im Symbolischen wurzelt, also auch in Benennungen, die verkörpert werden. Wenn also die Geschlechterordnung Effekt einer symbolischen Ordnung ist, warum sollte dann die Arbeit an der symbolischen Ordnung durch die performative Macht des Wortes (also z. B. durch ›pseudorevolutionäre Umdefinitionen‹) nicht auch auf die Geschlechterordnung rückwirken können? Hier scheint Bourdieu Geschlecht doch als etwas Vorgängiges zu betrachten bzw. die transhistorische Konstanz der Geschlechterordnung überzubewerten. Insgesamt wirkt die polemische Kritik Bourdieus – der in Die männliche Herrschaft bemerkenswerte Übereinstimmungen mit Thesen Butlers erkennen lässt, diese jedoch bis auf eben jene kritische Abgrenzung am Ende des Buches mit keinem Wort erwähnt – wie eine Fehlaneignung. Weder hat Butler in Das Unbehagen der Geschlechter die Position vertreten, Geschlecht könne wie eine ›Rolle‹ angezogen und abgestreift werden, spricht sie doch von der heterosexuellen Matrix als einem Zwangssystem. Noch greift Bourdieus Vorwurf, Butler zeichne Geschlecht als ›bloß‹ durch Benennungseffekte hervorgegangen, zeigt sie doch en Detail eben jene Verkörperungsarbeit durch performative Wiederholungen. Butler, Körper von Gewicht, S. 310.

Kraft gibt«80, drängt sich die Frage auf, worin die Handlungsmacht des Subjekts besteht. Zum einen geht Butler davon aus, dass Wiederholung nicht als identische Reproduktion missverstanden werden darf, sondern immer auch die Gefahr des Verfehlens oder Übererfüllens von Normen in sich birgt.81 Zum anderen entwirft Butler konkrete Strategien des Resignifizierens: Durch die Dekontextualisierung (also die zitierende Wiederholung in anderen als den früheren Kontexten) sowie durch die (zum Beispiel parodistische) »Fehlaneignung anrufender performativer Äußerungen« eröffnen sich dem Subjekt Handlungsmöglichkeiten »subversiver Territorialisierung und Resignifizierung einer herrschenden gesellschaftlichen Ordnung«.82 Diese Strategien einer Resignifizierung nennt Butler eine ›Politik des Performativen‹.83 Die dezidiert politische Zielsetzung von Butlers Subjekttheorie lässt sich nicht zuletzt an ihrer kritischen Bourdieu-Rezeption ablesen. Wenn, wie Bourdieu behauptet, das Gelingen von performativen Äußerungen von der institutionalisierten Autorisierung dessen, der spricht, abhängt, sind Sprechakte ohne Legitimation per se wirkungslos, sie scheitern. Mit der Behauptung, daß performative Äußerungen nur dann effektiv wirken, wenn sie von jenen ausgesprochen werden, die (schon) eine gesellschaftliche Machtposition innehaben, in der sie Worte als Taten ausführen können, verwirft Bourdieu unbeabsichtigt die Möglichkeit einer Handlungsmacht, die an den Rändern der Macht entsteht.84

Dagegen geht Butler erstens davon aus, dass Sprechakte in anderen als ihren ursprünglichen Kontexten eingesetzt werden können, wobei sie – und hier widerspricht Butler Bourdieu, der die performative Kraft von Sprechakten an ihren gewöhnlichen Kontext bindet – durchaus ihre Kraft behalten oder sogar aus dieser Rekontextualisierung gewinnen können. Indem die Sprache durch den Bruch mit dem früheren Kontext nicht-konventionale Bedeutungen annimmt, erschüttert sie die sonst fest gefügte Kontextwahrnehmung und wirbelt die sedimentierten Bedeutungen auf.85 Darin sieht Butler gerade die politische Kraft von performativen Äußerungen. Ein zweiter Kritikpunkt Butlers an Bourdieu betrifft die performative Hervorbringung der gesellschaftlichen Position des Sprechers oder der Sprecherin. Indem Bourdieu einen Unterschied zwischen gelingenden, weil bereits autorisierten, und scheiternden, unautorisierten Sprechakten macht, geht er notwendig davon aus, dass die legitimisierenden Strukturen für den gelingenden Sprechakt von vornherein fest bestehen. Dies bedeutet bezogen auf Rhetorik und Geschlechterdif-

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Butler, Körper von Gewicht, S. 309. Vgl. Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, S. 207. Butler, Haß spricht, S. 217f. Vgl. Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, S. 213. Vgl. auch den Untertitel von Butler, Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Butler, Haß spricht, S. 220. Vgl. Butler, Haß spricht, S. 205f.

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ferenz, dass eine Frau in solchen kulturhistorischen Kontexten (wie beispielsweise in der Antike), in denen ihr keine Redeposition eingeräumt wurde, niemals mit Erfolg sprechen könnte. Damit wäre das Auftreten einer Rednerin wie Hortensia nicht zu erklären.86 Butler zufolge spiegeln Sprechakte aber nicht nur die gesellschaftliche Position der Sprecher wider, sondern sie stellen sie her beziehungsweise verändern sie. Mit Butler ließe sich also der Redeauftritt Hortensias als eine performative Anmaßung beschreiben. Die Gesellschaftsordnung, die laut Bourdieu dem Diskurs äußerlich ist, (und mit ihr die Kontexte von Sprechakten) wird im Diskurs hergestellt – wie Bourdieu selbst in Bezug auf den Habitus immer wieder schreibt, jedoch in Bezug auf den Sprechakt außer Acht lässt. Butler zufolge ist es möglich, dass Sprechakte Kontexte verändern, wodurch sie das Bourdieu’sche Modell um eine zeitliche Dimension erweitert: »Jenes Moment, in dem ein Sprechakt ohne vorgängige Autorisierung dennoch im Vorgang seiner Äußerung Autorität gewinnt, kann einen veränderten Kontext seiner zukünftigen Rezeption antizipieren und setzen.«87 Die Betonung der Prozessualität performativer Äußerungen bringt Beweglichkeit in das bei Bourdieu eher starre Modell autorisierter Rednerpositionen und eröffnet Handlungsmöglichkeiten auch von zuvor nicht autorisierten Positionen aus – wie eben für Rednerinnen in einer traditionell männlich codierten Rednerposition. Anders als Bourdieu zeigt Butler auf, dass der Körper nicht nur die Sedimentierung von Sprechakten darstellt, sondern über den Sprechakt hinausgeht, indem »das, was am Sprechen körperlich ist, eben den Normen, die es regulieren, widersteht und sie durcheinander bringt«88. Für diese These zieht Butler Shoshana Felmans Austin-Lektüre heran, in der Felman betont, dass der Körper im Sprechen nicht vollständig kontrollierbar sei, sondern im Gegenteil immer (eingeschränkt) unvorhersehbar und kontingent.89 Die körperlichen Effekte des Sprechens überschreiten und beschneiden die Intentionen des Sprechers. »Der Sprechakt sagt immer mehr oder sagt es in anderer Weise, als er sagen will.«90 Sowohl den Widerstand als auch den Überschuss, die der Körper produziert, könne Bourdieu nicht erklären, so Butler, da er von der wirksamen Inkorporierung von Normen ausgehe.91 Butler fokussiert dagegen gerade die Risiken und das Fehlgehen des Körper-Bildungsprozesses und verortet darin ein Moment der Subversion. Indem der Körper die diskursiven

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Vgl. zu Hortensia Kapitel III.4.2. Butler, Haß spricht, S. 226. Butler, Haß spricht, S. 201. Vgl. Shoshana Felman, The Literary Speech Act. Don Juan with J. L. Austin, or Seduction in Two Languages, Cornell 1983. Butler, Haß spricht, S. 22. Butler, Haß spricht, S. 221.

Mittel ›enteignet‹92 , durch die er selbst hergestellt wurde, kann er kulturelle Bedeutung verunsichern und ein »Instrument des Widerstands«93 bilden. Butler hat darauf aufmerksam gemacht, dass die scheinbar so unhinterfragbare biologische Grundlage von Geschlecht nicht vordiskursiv zu denken ist. Der geschlechtliche Körper erscheint als ein Gewordener, der sich im fortlaufenden Prozess der Materialisierung stabilisiert und nur den Anschein von Natürlichkeit erweckt. Damit richtet sich der Blick mit Butler auf die kulturellen Diskurse, die ein Subjekt als ein geschlechtliches anrufen und zu einer wiederholenden, zitierenden Selbstinszenierung auffordern. Die rhetorischen Texte, die dieser Arbeit zugrunde liegen, können als Teil dieser Diskurse und, wie ich meine, als Körperbildungsmacht verstanden werden. Sie normieren und vermitteln Praktiken des angemessenen Auftretens als Mann oder Frau. Während Butler selbst vor allem die ›Ränder‹ geschlechtlicher Performativität fokussiert – etwa in Bezug auf drag, crossdressing, Travestie, Hermaphroditismus, Transsexualität oder Homosexualität –, um daran Fragen der Aneignung und der Subversion von gender und gender identity zu erklären, ist es keineswegs ein weniger (wissenschafts-)politisches Anliegen, den Blick auf die heterosexuelle ›Masse‹ zu richten: Die dieser Arbeit zugrunde liegenden normativen Texte geben Auskunft darüber, wie Geschlecht gesellschaftskonform performiert werden soll, wie Körper gebildet werden sollen. Nach einem subversiven Potential der Texte wird man dagegen vergeblich suchen.94 Stattdessen zeigen die Ratgeber anhand vieler Negativbeispiele auf, welche Körper (-haltungen) verworfen werden müssen, um davon den angemessen agierenden, sichtbar männlichen oder weiblichen Körper abgrenzen zu können. Eben dieser Ausschlussmechanismus eines Anderen, dem der Subjektstatus abgesprochen wird, dient Butler zufolge der Stabilisierung und Naturalisierung des intelligiblen Subjekts. Ziel der vorliegenden Arbeit kann es jedoch nicht sein, erneut die Naturalisierung der Geschlechterdifferenz zu ›entlarven‹ oder festzustellen, dass der Körper diskursiv konstituiert ist. Vielmehr kann meine Analyse rhetorischer und pädagogischer Texte Butlers Überlegungen, denen eine fehlende Historizität vorgeworfen wurde,95 eine fundierte historische Dimension hinzufügen. Zu fragen ist dann, auf welche Weise die Texte an der diskursiven Bildung der geschlechtlichen Körper mitarbeiten, wie sie die körperliche Performanz strukturieren und modellieren, wie sie der Form und Haltung des Körpers Bedeutung geben.

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Vgl. Butler, Haß spricht, S. 225. Butler, Haß spricht, S. 230. Solche subversiven Strategien der Aneignung und Resignifizierung der männlich codierten Rednerposition in Reden von historischen Rednerinnen werden aufgezeigt in: Lily Tonger-Erk, Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.), Einspruch! Reden von Frauen, Stuttgart 2011. Vgl. Hilge Landweer, Kritik und Verteidigung der Kategorie ›Geschlecht‹. Wahrnehmungs- und symboltheoretische Überlegungen zur sex/gender-Unterscheidung. In: Feministische Studien 11/2, 1993, S. 34–43; Reckwitz, Subjekt, S. 84.

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Rhetorik mit Bourdieu und Butler Die kurze Einführung in Bourdieus Theorie der Praxis und Butlers Theorie der performativen Subjektkonstitution lässt trotz der genannten produktiven Differenzen auch maßgebliche theoretische Berührungspunkte sichtbar werden: Bourdieu formuliert eine Theorie, in der Subjekte durch ihre gesellschaftlich geformten Praktiken gebildet werden, wobei er als paradigmatisches Beispiel für die Funktionsweise des Habitus häufig die Geschlechterdifferenz anführt. Butler entwirft eine Theorie des geschlechtlichen Subjekts, die Geschlechtsidentität und Körper als Wirkung von Macht und Effekt einer wiederholenden performativen Praxis fasst. Beide betonen die Prozessualität und Unabgeschlossenheit eines Subjekts, das als Effekt seines körperlichen Handelns gedacht wird – wobei Sprechen Teil dieses Handelns ist. Handeln erscheint dabei nicht als eine in erster Linie intentionale Tätigkeit. Stattdessen ist das ›unbewusste‹, konventionelle, wiederholte Handeln zentral, das nicht als Ausdrucksmittel eines bestehenden Subjekts, sondern als performatives Moment in seiner Entstehung gedacht wird. Schließlich spielt in beiden Theorien der Körper als ein Speicher vergangenen Handelns, der durch Verschleierung seiner eigenen Historizität die Illusion von Natürlichkeit und Essentialität erweckt, eine zentrale Rolle. Dabei ist der Körper bei Butler allerdings im Gegensatz zu Bourdieu nicht nur als Sedimentierung von (Sprech-)Akten zu verstehen, sondern birgt einen Moment des Widerstands, indem ihm immer das Risiko der Verfehlung von (widersprüchlichen) Normen eigen ist. Bourdieu und Butler zufolge ist das Subjekt nicht ohne Körper zu denken und ein Körper ohne Geschlecht nicht vorstellbar. Beide – Körper und Geschlecht – erscheinen nicht als ›natürlich‹ gegeben, sondern als sozial beziehungsweise kulturell produziert. Bourdieu und Butler fragen, wie in unserer Kultur ein Körper (geschlechtlich) hergestellt wird. Dies geschieht zum einen durch eine unintendierte ›Körperbildung‹ im Lebensverlauf, die Bourdieu als Habitualisierung beschreibt und die Butler als Performativität konzipiert. Zum anderen jedoch greift die Rhetorik – wie ich zeigen werde – als téchnē in diesen unintendierten Prozess ein: Sie gibt explizite Anweisungen zum Erlernen von Körpertechniken, die den Körper in der Rede als Zeichen einsetzbar machen. Hier sind die Theorien Bourdieus und Butlers mit dem historischen Material der rhetorischen Texte um den Aspekt der intentionalen Körperübung zu ergänzen. Beide unterschätzen die Wirkmächtigkeit einer abendländischen Diskursmacht wie der Rhetorik, die geschlechtliche Normen des Auftretens aufgreift, schriftlich ausdifferenziert, über Zeit und Raum transportiert sowie anhand ausformulierter Regeln und Methoden körperlich einübt. Eben jenes Ineinandergreifen expliziter pädagogischer Interventionen und impliziter, unbewusster Normen scheint mir in Bezug auf die ›Körperbildung‹ bislang theoretisch zu wenig berücksichtigt. Während die theoretischen Begriffe des Habitus und der Performativität erlauben, einen Aspekt der Rhetorik – der körperlichen Übung – aufzuwerten, der wissenschaftshistorisch marginalisiert wurde, ermöglicht andersherum die Arbeit am rhetorischen Quellenmaterial, eben jene Theorien mit 36

der intentionalen Übung des körperlichen Auftretens zu konfrontieren, die diese überwiegend ausblenden. In diesem Zusammenhang erscheint es bedeutend, dass der Habitus-Begriff ursprünglich aus der Rhetorik stammt.96 Das lateinische Wort habitus bedeutet ›Haltung, Erscheinung, Gewohnheit, Sitte, Fertigkeit‹ und bezeichnet in der Rhetoriklehre die Körperhaltung des Redners in der actio, seine vorausgesetzte Wohlgestalt (habitus corporis), geistige Verfassung (habitus mentis) und die äußere Gesamterscheinung.97 Ciceros einflussreiche Definition des Habitus verweist auf die Bedeutung der kontinuierlich wiederholten Praxis sowohl für eine Formation des Geistes als auch des Körpers: Habitus nennen wir die beständige und vollendete Ausbildung des Geistes oder des Körpers in irgendeiner Sache, wie z. B. die Aneignung einer Tugend oder einer Fertigkeit, oder irgendeines Wissens, desgleichen eine körperliche Geschicklichkeit, die nicht von Natur gegeben, sondern durch sorgfältige Übung und Fleiß erworben ist.98

Diese durch kontinuierliche Wiederholung hervorgebrachte Beständigkeit von Geist und Körper scheint eine Performativität avant la lettre zu implizieren.99 Durch praktische Erfahrung und Gewöhnung richten sich Wissen und Können im Körper ein. Indem Bourdieu den praktischen Vollzug für eine Theorie des Handelns weitaus bedeutsamer erachtet als kognitive Strukturen, setzt er eine Kategorie zentral, die in der europäischen Denktradition diffamiert wurde und in Vergessenheit geraten ist, beginnend mit Platon, der die Rhetorik als ›Übung‹ abwertet und ihr damit den Status einer ›Wissenschaft‹ abspricht.100 Mit Bourdieu und Butler kann also ein Aspekt der Rhetorik – der körperlichen Übung – aufgewertet und in den Blick genommen werden, der in der Wissenschaftsgeschichte verdrängt wurde. Die hierarchische Opposition von rationaler Wissenschaft und körperlicher Übung wird in dem rhetorischen Konzept des Habitus gerade aufgehoben. Während Bourdieu den Habitus als unbewusste Mimesis von Praktiken konzipiert, spricht Cicero von einer ›sorgfältigen‹ Übung. Schon Aristoteles hat die Notwendigkeit langjähri96 97 98 99

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Zur Begriffsgeschichte vgl. Alexander Košenina, Habitus. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 3, Tübingen 1996, Sp. 1272–1277. Košenina, Habitus, Sp. 1272. Cic. De Inv. I, 25, 36. Zit. n. Cicero, De inventione/Von der Auffindung des Stoffes, lat.-dt., übers. und hg. von Theodor Nüßlein, Düsseldorf, Zürich 1998. Dabei soll keine Gleichsetzung von modernen und historischen Begrifflichkeiten vorgeschlagen werden, sondern deren jeweiliges heuristisches Potential durch eine Engführung ebenso wie durch eine Differenzierung der Begriffe bei gleichzeitiger Berücksichtigung der jeweiligen spezifischen Diskurshorizonte ausgelotet werden. Den Begriff der Performativität macht auch Andreas Hetzel für die Rhetorik produktiv: Hetzel, ›Die Rede ist ein großer Bewirker.‹ Performativität in der antiken Rhetorik. In: Performativität und Praxis, hg. von Jens Kertscher, Dieter Mersch, München 2003, S. 229–246. Vgl. Plat. Gorg. 462bc. Zit. n. Platon, Gorgias. In: Platon, Sämtliche Werke, Bd. 1, übers. von Friedrich Schleiermacher, hg. von Ursula Wolf, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 337–452.

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ger Übung und Erfahrung (empeiría) für die Rhetorik betont, die zu einer auf die Praxis gerichteten Theorie (téchnē) und zum Wissen (epistémē) hinzutreten muss.101 Das Wissen muss rational erfasst, in die Praxis übersetzt und durch ständige Wiederholung von Kindesbeinen an möglichst täglich eingeübt und verkörpert werden. Die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Wiederholung von Praktiken lässt in Bezug auf die Rhetorik nicht nur die einzelne Rede, sondern auch die rhetorischen Übungen hervortreten. Damit liegen Bezüge sowohl zur actio als auch zu den verschiedenen Techniken der Rhetoriklehre, namentlich der imitatio/mimesis nahe. Die antike Rhetorik liefert mit der actio-Lehre ein Instrument, mit der das rhetorische Wissen, beruhend auf expliziten, rationalen Regeln, durch sorgfältige Übung im Körper verankert und habitualisiert wird. Damit schließt die Rhetorik sozusagen den Graben zwischen einer intentionalen Handlungstheorie einerseits und einer Theorie der unbewussten, inkorporierten Praktiken andererseits, indem sie den Prozess der Habitualisierung bewusst gestaltet. Die Rhetorik holt den Körper ins Spiel und formt ihn. Zugleich richtet sie eine intentionale Aufgabe an das Subjekt, seinen Körper zu bilden. Rhetorik macht jene ›Imperative‹, die die Gesellschaft bei Bourdieu oder der Diskurs bei Butler implizit an das Subjekt richtet, sich auf eine bestimmte Art und Weise körperlich zu zeigen, in Form von ›Übungsanleitungen‹ explizit. Zu jeder Praktik (z. B. wie das Subjekt seine Rede mit Gestik begleitet) vermittelt die Rhetorik eine Reihe möglicher Erziehungstechniken, welche zur Implementierung der Praktik herangezogen werden können (z. B. Übungsreden zu halten, ein Gewicht auf die Schultern zu legen, vor dem Spiegel zu üben).102 Während der Begriff der Praktik gerade erlaubt, das Subjekt nicht als Handlungsträger denken zu müssen, spricht die Rhetorik ein Subjekt an, das bewusst lernt, sich selbst zu formen und sich auf eine bestimmte Art und Weise zu zeigen. Rhetorik wird damit als Technik der Disziplinierung ebenso lesbar wie als Instrument einer rhetorischen Selbstermächtigung. Eben diese Doppeldeutigkeit liegt auch meiner These von der Rhetorik als Körperbildungsmacht zugrunde, indem sie davon ausgeht, dass die Rhetorik den Körper bildet (das heißt sowohl subjektiviert als auch erzieht) und diesem subjektivierten, geübten Körper wiederum eine Handlungsfähigkeit diskursiv zugeschrieben wird. Wenn Geschlecht performativ, also durch wiederholte Praktiken, hergestellt wird – und Butler nennt hier explizit die Art des Sprechens und sich Gebärdens –, dann sind die

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Vgl. Arist. Rhet. III, 10, 1410b; Bahmer, Didaktik, Sp. 738. Marcel Mauss weist darauf hin, dass zu einer Körpertechnik (beispielsweise des Gehens) immer auch eine Technik der Erziehung (beispielsweise zum Gehen) gehört. Diese »grundlegende Bedeutung«, die Mauss der Erziehung zu bestimmten Körpertechniken beigefügt hat, stimmt mit meinem Verständnis der Rhetorik als Körperbildungsmacht überein. Unter den Techniken des Körpers versteht Mauss »die Weisen, in der sich die Menschen in der einen wie der anderen Gesellschaft traditionsgemäß ihres Körpers bedienen«. Vgl. Marcel Mauss, Die Techniken des Körpers. In: Mauss, Soziologie und Anthropologie, Bd. 2, München, Wien 1975, S. 199–220, S. 209, S. 199.

geschlechtsspezifischen Praktiken, die die Rhetorik – zumal in ihrer historischen Bedeutung als abendländische Bildungsmacht – lehrt, besonders relevant. Welche idealen geschlechtsspezifischen Praktiken die Rhetorik vermittelt und wie sie zu ihrer Implementierung beiträgt, will diese Arbeit aufzeigen. Dabei wird deutlich, dass die rhetorischen Übungen und Praktiken ein kontrolliertes GeschlechtlichWerden in Gang setzen.

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III

Aufführung von Männlichkeit: Actio und Geschlechterdifferenz in der alten Rhetorik

III.1

Einleitung

III.1.1

Stellenwert der actio in der alten Rhetorik

Dass das körperliche Auftreten während einer Rede genuiner Teil der Rhetoriklehre ist, dass der Einsatz von Gestik, Mimik, Stimmführung und Kleidung als persuasive Mittel in Regeln gefasst, gelehrt und geübt werden muss, ist eine Idee, die in der griechischen Rhetorik ihren Ausgang nimmt und in der römischen Rhetorik umfangreich ausformuliert wird. Dass dieser actio-Lehre von ihren Anfängen in der Antike an geschlechtliche Parameter eingeschrieben sind, ist eine der Grundthesen dieser Arbeit. In diesem Kapitel werden diejenigen Rhetoriken aus der griechisch-römischen Antike, die an der Etablierung der Rhetorik als bis heute wirksames Bildungsparadigma ausschlaggebend beteiligt waren, auf die geschlechtliche Codierung der actio und die (Körper-) Bildung des Redners hin untersucht. Damit wird das Fundament für die gender-orientierte Analyse der actio-Lehre in nachantiken Zeiten, insbesondere im 18. Jahrhundert gelegt, die ohne diese heuristische Grundlage aufgrund ihrer vielfältigen Bezugnahmen auf die traditionsmächtigen Ursprünge nicht adäquat zu erfassen wäre. Die Textauswahl stützt sich auf solche Rhetoriken, die die actio systematisch abhandeln. Im Mittelpunkt stehen die römischen Rhetoriken: die einst fälschlich unter Ciceros Namen überlieferte Rhetorica ad Herennium, die drei maßgeblichen Texte Ciceros De oratore, Orator und Brutus sowie die ausführlichste Abhandlung der actio, Quintilians Institutio oratoria.1 In der griechischen Rhetorik, von der mehr durch die späteren römischen Darstellungen der Rhetorikgeschichte bekannt ist, als dass die ursprünglichen Texte überliefert wären, wird die actio noch nicht systematisch behandelt. Gleichwohl soll die einflussreiche Rhetorik des Aristoteles auf die Ansätze einer Einbeziehung der actio sowie die Darstellung des ēthos untersucht werden. Der Schwerpunkt des Textkorpus liegt also auf der römischen Antike, die die actio erstmals umfangreich ausformuliert und ihren systematischen Platz als fünftes officium festschreibt.

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Diese Texte bilden den Kern des in diesem Kapitel untersuchten Textkorpus, das, wenn thematisch notwendig, durch weitere antike Quellen ergänzt wird.

Damit handelt es sich um ein Textkorpus aus fünf Jahrhunderten, aus unterschiedlichen Sprach- und Kulturräumen mit verschiedenen politischen Strukturen und rhetorischen Orten. Es soll keineswegs suggeriert werden, daraus ließe sich eine Aussage über die actio in der Antike treffen. Vielmehr handelt es sich um verschiedene actio-Modelle aus einem Zeitraum, der mit dem groben Hilfsbegriff ›Antike‹ nur ungenau umschrieben ist. Treffender ist Roland Barthes’ Begriff der ›alten Rhetorik‹, der neben der Polyfunktionalität gerade auch die Jahrhunderte währende Wirkmächtigkeit der Rhetorik als grundlegender Bestandteil des europäischen Bildungskanons impliziert.2 So wird die Textauswahl dadurch legitimiert, dass es sich um ein Textkorpus handelt, das über die folgenden Jahrhunderte immer wieder aufgerufen, zitiert und reproduziert wurde und damit ausgehend von den antiken Texten einzelne Entwicklungen und Fäden sowohl ins 18. Jahrhundert als auch in die Gegenwart gezogen werden können. In dieser Hinsicht ist auch der Schwerpunkt dieses Kapitels auf der römischen Antike legitim, sind es doch im 18. Jahrhundert die römischen Rhetoriken, die als maßgeblicher Bezugspunkt für die Neubestimmung der actio herangezogen werden. Da die hier verfolgte Fragestellung im Folgenden nicht altphilologische oder rhetorikgeschichtliche Ziele verfolgt, sondern kulturwissenschaftlich begründet ist, werden die antiken Texte nicht chronologisch behandelt, sondern den einzelnen Fragekomplexen systematisch zugeordnet. Um die Texte dennoch verorten zu können, folgt einleitend ein kurzer chronologischer Überblick über das in diesem Kapitel untersuchte Textkorpus, indem ich die Art der Einbindung der actio-Lehre in den jeweiligen Rhetoriken herausarbeite, um einige Gedanken über die Gewichtung der actio-Lehre innerhalb der alten Rhetorik anzuschließen.3 Aristoteles schafft mit seiner Rhetorik die für die späteren Jahrhunderte der Rezeption verbindliche wissenschaftliche Grundlegung der Rhetorik. Die dreibändige Rhetorik aus dem 4. Jh. v. Chr. nennt drei Aufgaben des Redners: Stoffauffindung 2 3

Vgl. Barthes, Die alte Rhetorik. Einen instruktiven Abriss der actio in der antiken Rhetorik gibt: Axel Hübler, Das Konzept ›Körper‹ in den Sprach- und Kommunikationswissenschaften, Tübingen, Basel 2001, S. 121–144. Zur Theorie und Geschichte der actio vgl. Bernd Steinbrink, Actio. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 1, Tübingen 1992, Sp. 43–74; Rebmann, Pronuntiatio; Markus Wilczek, Rüdiger Campe, Stimme, Stimmkunde. In: Rhetorisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 9, Tübingen 2009, Sp. 83–99; vgl. die beiden Artikel von Thomas Schirren, Rhetorik des Körpers (actio I) sowie von Reinhart Meyer-Kalkus, Rhetorik der Stimme (actio II). In: Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung, hg. von Ulla Fix, Andreas Gardt, Joachim Knape, Bd. 1, Berlin, New York 2008, S. 669–679, S. 679–688. Mit einem Schwerpunkt auf der simulatio und dissimulatio in der actio-Lehre: Geitner, Die Sprache der Verstellung, S. 80–94. Aus einem kommunikationswissenschaftlich-psycholinguistischen Blickwinkel: Cornelia Müller, Redebegleitende Gesten. Kulturgeschichte, Theorie, Sprachvergleich, Berlin 1998, S. 25–85. Keine dieser Veröffentlichungen zur Theorie und Geschichte der actio bezieht sich auf die Kategorie ›Geschlecht‹.

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(heúresis), Stoffgliederung (táxis) und sprachliche Gestaltung (léxis). Diese in der römischen Rhetorik inventio, dispositio und elocutio genannten Produktionsstadien der Rede bleiben die Hauptelemente der Rhetorik. Die sich mit der Performanz der Rede befassenden Teile der Einprägung in das Gedächtnis (mnēmē/memoria) und der Vortragskunst (hypókrisis/actio) werden erstmals in der römischen Rhetorik eingeführt, vervollständigen das bekannte Fünferschema der officia oratoris, bleiben jedoch immer zumindest vom Umfang der Bearbeitung her zurück. Das Thema der Vortragskunst scheint zu Aristoteles’ Zeiten in der Rhetorik noch relativ unbearbeitet, Ansätze zu einer Lehre der Stimmführung finden sich in der Schauspielkunst und Rhapsodik.4 Für diese Arbeit besonders aufschlussreich ist Aristoteles’ Rhetorik in Bezug auf den Entwurf eines performativ in der actio herzustellenden ēthos, der Charakterdarstellung des Redners, die zu den rhetorischen Beweismitteln zählt und maßgeblich für die Glaubwürdigkeit der Rede ist. Seit dem 2. Jahrhundert v. Chr. gelangt die Rhetorik zusammen mit anderen Bildungsimporten von Griechenland nach Rom. Während die aristotelische Rhetorik vornehmlich politischen Zwecken dienen soll, gestaltet sich die römische Rhetorik weitgehend unpolitisch und ist eher auf Stilistik und Forensik bedacht. Die Rhetorica ad Herennium ist die älteste vollständig erhaltene römische Rhetorik und stammt ungefähr von 84 v. Chr. Sie ist auch das erste systematische Rhetoriklehrwerk, das die actio innerhalb des fünfteiligen Systems der rhetorischen Arbeitsaufgaben detailliert darstellt. Offenbar hat die actio in Rom an Relevanz gewonnen, denn der Auctor setzt sich mit der allgemeinen Meinung auseinander, dass »der Vortrag für den Redner am meisten nützlich ist und am meisten zur Überredung beiträgt« und bescheinigt ihr – auch wenn er selbst keine der fünf Aufgaben des Redners als einzige herausgestellt wissen will – »einen ausnehmend großen Nutzen« im Vergleich zu den anderen.5 Anders als die Rhetorica ad Herennium ist Ciceros De oratore aus dem Jahr 55 v. Chr. nicht als systematisches Lehrbuch konzipiert, das einen »Katalog von Regeln«6 zusammenfassend geordnet wiedergibt, sondern als eine facettenreiche Diskussion, die die »Ansicht der größten und glanzvollsten Redner über die gesamte Redekunst«7 entfalten will. Die Form des Gesprächs wählt Cicero in Anlehnung an Platons Phaidros 8: Er lässt zwei zeitgenössische Meister der Redekunst, Lucius

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Vgl. Arist. Rhet. III, 1, 1403b/1404a. In der Regel zitiere ich die aktuelle Übersetzung von Christof Rapp aus der Aristoteles-Werkausgabe: Rhetorik, übers. und erl. von Christof Rapp, 2 Halbbde., 1. Halbbd., Darmstadt 2002. In solchen Fällen, in denen Rapps wortwörtliche Übersetzung auf Kosten der Verständlichkeit geht, ziehe ich Gernot Krapingers Übersetzung vor und kennzeichne dies entsprechend: Rhetorik, übers. und hg. von Gernot Krapinger, Stuttgart 1999. Rhet. Her. III, 19. Cic. De or. I, 23. Cic. De or. I, 4. Cic. De or. I, 28.

Lucinius Crassus und Marcus Antonius, mit zwei Schülern und Verehrern, Publius Sulpicius Rufus und Gaius Aurelius Cotta, im Jahr 91 v. Chr. auf Crassus’ Landgut über den Redner sprechen.9 Der erste der drei Bände ist der Diskussion um den orator perfectus gewidmet. »Die Rhetorik als Fachgebiet und die rhetorische Theorie werden also zunächst vom rhetorischen Sprecher her perspektiviert«10, betont Joachim Knape. Die Redner entwerfen verschiedene Visionen des wahrhaft vollkommenen Redners und der damit verbundenen Notwendigkeit einer umfassenden Bildung nicht nur auf rhetorischem, sondern auch auf juristischem, historischem und philosophischem Gebiet. Erst das zweite und dritte Buch sind nach dem Schema der fünf officia oratoris gegliedert, wobei die actio in Buch III (213–230) von Crassus zur Sprache gebracht wird. Der actio wird »allein entscheidende Bedeutung«11 zugemessen und die bekannte Anekdote aufgerufen, derzufolge Demosthenes auf die Frage, was beim Reden die Hauptsache sei, der actio den ersten, den zweiten und den dritten Rang eingeräumt habe. Trotz ihrer Relevanz wird die Beschreibung der actio relativ kurz gefasst. Ciceros neun Jahre später erschienener Orator ist dagegen nicht als Dialog verfasst, sondern wendet sich »geradezu als Brieftraktat«12 an den jungen Redner Marcus Iunius Brutus. Der ähnliche Titel kündigt die thematische Nähe an. Ziel ist es wiederum, den vollkommenen Redner zu entwerfen. Das Thema wird jedoch deutlich begrenzter abgehandelt als in De oratore und konzentriert sich vor allem auf die elocutio, während die actio nur eine kurze, komprimierte Erwähnung (Or. 54–60) findet. Wie in De oratore wird die actio als Körpersprache (eloquentia corporis) bezeichnet und in das Zweierschema von Stimme (vox) und Bewegung (motus) unterteilt. Innovativ ist vor allem die Konzeption der Stimme, genauer des rhythmischen Vortrags, die nicht nur für Affektübertragung und Abwechslung wie in De oratore verantwortlich gemacht wird, sondern einen ästhetischen »Ohrenschmaus«13 bieten soll. Kurz vor dem Orator, ebenfalls im Jahr 46 v. Chr. verfasst Cicero seine Geschichte der großen Redner Roms mit dem Titel Brutus, die sich wiederum an den – diesmal titelgebenden – jungen Redner richtet.14 Wie De oratore ist Brutus als ein Gespräch verfasst, allerdings tritt hier Cicero selbst als Hauptredner auf, der zu-

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Zu den historischen Rednern und dem Aufbau des Textes vgl. Harald Merklin, Einleitung. In: Cicero, De oratore/Über den Redner, lat.-dt., übers. und hg. von Harald Merklin, Stuttgart 1976, S. 3–40. Joachim Knape, Marcus Tullius Cicero: ›Über den Orator‹. Das Meisterwerk der römischen Rhetoriktheorie. In: Knape, Allgemeine Rhetorik. Stationen der Theoriegeschichte, Stuttgart 2000, S. 91–132, S. 95. Cic. De or. III, 213. Harald Merklin, Einleitung. In: Marcus Tullius Cicero, Orator/Der Redner, lat.-dt., übers. und hg. von Harald Merklin, Stuttgart 2004, S. 5–15, S. 11. Cic. Or. 58. Cicero, Brutus, lat.-dt., übers. und hg. von Bernhard Kytzler, 5. Aufl., Düsseldorf, Zürich 2000.

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sammen mit Titus Pomponius Atticus über Verdienste und Mängel der römischen Redner und ihrer attischen Vorgänger spricht. Fokussiert über die einzelnen Redner nimmt Cicero eine historisch-kritische Bestandsaufnahme vorangegangener Leistungen auf dem Gebiet der Rhetorik vor. Brutus scheint aus dem Textkorpus insofern herauszufallen, als hier die actio nicht an einem Stück systematisch verhandelt wird. Ciceros Würdigung der antiken Redner orientiert sich jedoch an den fünf officia oratoris als Beschreibungsraster, wodurch der Redeauftritt mehrfach erwähnt wird. Durch die subjektive, wertende Darstellung der actio verschiedener Redner, eingebunden in diverse Anekdoten, zeigt sich Brutus als besonders aussagekräftige Quelle gerade auch in Bezug auf die Kategorie ›Geschlecht‹. Ähnlich der Rhetorica ad Herennium ist Quintilians Institutio nicht als Dialog, sondern als Lehrbuch gestaltet, das sich direkt an den Leser – genauer an den Redelehrer – richtet. Quintilian vermittelt nicht nur den umfassenden Stoff der Rhetorik, sondern zeigt zugleich Wege der Vermittlung auf.15 Auch Quintilian erhebt in Anlehnung an Ciceros Modell des orator perfectus höchste Erziehungsund Bildungsansprüche, betont aber stärker noch die Notwendigkeit moralischer Integrität.16 Sein Ideal ist der vir bonus dicendi peritus. Die Institutionis oratoriae libri XII sind das umfangreichste Rhetorikwerk, das aus der Antike überliefert ist, und enthalten auch die ausführlichste Beschreibung der actio (Inst. XI, 3, 1–184). Dabei wird der Tradition entsprechend die actio (ebenso wie die dispositio und die memoria) im Vergleich zu den anderen officia deutlich kürzer verhandelt. Auch Quintilian schließt sich der gängigen Auffassung an, dass die actio von großer Relevanz für den Erfolg der Rede sei und nennt – wie so oft – Cicero als Paten dieser Ansicht. Der Redeauftritt habe »etwas ganz Erstaunliches an Kraft und Macht«17. Denn nicht die im Inneren des Redners verfasste Rede, sondern nur der Redeauftritt könne das Publikum im Inneren packen, mitreißen, bewegen und ihm Genuss verschaffen. Diese affektiv penetrierende, performativ wirkende Macht der actio scheint sogar die der Worte zu übertreffen. Die hier genannten römischen Rhetoriken, die sich zwar auch auf die Erstellung von schriftlichen Texten, vielmehr jedoch auf die mündliche Aufführung einer Gerichts-, Beratungs- oder Lobrede richten, stimmen alle darin überein, dass

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Vgl. Manfred Fuhrmann, Die antike Rhetorik. Eine Einführung, 5., überarb. Aufl., Düsseldorf, Zürich 2003, S. 70. Quintilians »Reformschrift« strebt Helmut Rahn zufolge eine »Neubegründung und Ergänzung des ciceronischen Bildungsideals« an. Helmut Rahn, Nachwort: Die bildungsgeschichtliche Leistung Quintilians. In: Marcus Fabius Quintilian, Institutionis oratoriae libri XII/Ausbildung des Redners: Zwölf Bücher, lat.-dt., 2 Bde., übers. und hg. von Helmut Rahn, 3. Aufl., Darmstadt 1995, S. 826–839, S. 834. Zu Quintilians Orientierung an Cicero, aber auch seinen Innovationen im Bereich der actio, insbesondere der Gestik, vgl. Elaine Fantham, Quintilian on Performance: Traditional and Personal Elements in Institutio 11.3. In: Phoenix, 36, 1982, S. 243–263. Quint. Inst. XI, 3, 2, vgl. auch XI, 3, 67.

– sofern es überhaupt möglich sei, eines der fünf officia als ausschlaggebend zu küren – die Wahl auf die actio fiele. Die Art des Vortrags ist für die Überzeugung und Gewinnung des Publikums das letztlich entscheidende Instrument.18 Wie die Rhetoriken feststellen, nützt es nämlich gar nichts, wenn die Rede zwar gewandt und gewinnend formuliert ist, jedoch unvorteilhaft, ungeschickt oder unangemessen vorgetragen wird. Alle rhetorische Kunstfertigkeit, meint Cicero, »wirkt nur in dem Umfang, in dem der Vortrag [sie] zur Geltung bringt. Der Vortrag, sage ich, hat in der Redekunst allein entscheidende Bedeutung. Denn ohne ihn gilt auch der größte Redner nichts, ein mittelmäßiger, der ihn beherrscht, kann aber oft die größten Meister übertreffen.«19 Die Rede aufzuführen heißt zugleich, die Rede – ebenso wie den Redner selbst – zur Geltung zu bringen, ihnen eine Bühne zu verschaffen, sie sichtbar zu machen. Obwohl die Rhetoriken der actio so einstimmig einen hohen Stellenwert beimessen, bleibt das Ausmaß der Beschäftigung mit der actio doch merkwürdig gering.20 Dieses irritierende Desinteresse – das sich wissenschaftshistorisch nicht auf die Antike beschränkt – hat verschiedene Gründe. Zum einen erscheint die actio nicht als ›genuin rhetorisch‹, da die Kunst, durch Stimme und Gestik Massen zu erreichen und zu bewegen, aus der Schauspielkunst stammt. In dem Bemühen, sich als eigenständige junge Wissenschaft zu behaupten und gegen andere Künste und Wissenschaften abzugrenzen, stellt die Rhetorik die elocutio in den Mittelpunkt. Der Redner sei nicht in erster Linie inventor, compositor oder actor, wie Cicero meint, sondern zeichne sich durch die Beherrschung aller dieser Aufgaben, vor allem aber durch seine Eloquenz aus.21 Besonders der Philosophie gegenüber sieht sich die Rhetorik gezwungen, ihren Wert und ihre Eigenständigkeit herauszustellen. Der Vorwurf, mit dem die Philosophie, die sich selbst als der Wahrheit verpflichtet darstellt, die Rhetorik zu diskreditieren sucht, ist der des schönen Scheins. Platons Vergleich der Rhetorik mit der Schminkkunst und Kochkunst im Gorgias ist hier topisch: Die Philosophie entwirft sich selbst als männlich und wahrhaftig, die Rhetorik jedoch als körperlich, weiblich und trügerisch, mit (Rede-) Schmuck blendend.22 Die hierarchischen Dichotomien von Körper und Geist, Schein und Sein, Wahrscheinlichkeit und

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Vgl. Rhet. Her. III, 19; Cic. Brut. 110 und 142; De or. III, 213; Or. 56; Quint. Inst. II, 3, 2 und II, 3, 5–7. Cic. De or. III, 213. Vgl. Ottmers, Rhetorik, S. 217. Vgl. Cic. Or. 61. Vgl. Plat. Gorg. 464 b3–465 e2. Vgl. zu diesem Topos aus gender-orientierter Perspektive: Gertrude Postl, Rhetorik und die gegenwärtige Geschlechterdebatte. In: Die Wiederkehr der Rhetorik, hg. von Helmuth Vetter, Richard Heinrich, Wien, Oldenbourg, Berlin 1999, S. 137–165; Doerte Bischoff, Martina Wagner-Egelhaaf, Einleitung. Weibliche Rede – Rhetorik der Weiblichkeit. In: Weibliche Rede – Rhetorik der Weiblichkeit. Studien zum Verhältnis von Rhetorik und Geschlechterdifferenz, hg. von Doerte Bischoff, Martina Wagner-Egelhaaf, Freiburg i. Br. 2003, S. 9–40, S. 20f.; Gödde, Actio – Stimme – Körper, S. 242.

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Wahrheit, die in der Debatte zwischen Rhetorik und Philosophie aufgerufen werden, resultieren in der Diskreditierung des Körpers als Träger des Scheins. Obwohl sich diese Debatte nicht auf die actio im Speziellen bezieht, unterliegt gerade dieses officium, das die Sprache des Körpers in den Mittelpunkt rückt, dem Verdacht der Täuschung. In dem Moment, in dem Bewegungen und Stimme gelernt, geübt und gezielt eingesetzt werden, erscheinen sie als ein Zugeständnis an den schönen Schein, an die »Schlechtigkeit des Zuhörers«, wie Aristoteles formuliert.23 Und schließlich ist offenbar die in der actio aufscheinende Körperlichkeit selbst ein Grund für die geringe wissenschaftliche Bearbeitung der actio. Die actio scheint der »Verwissenschaftlichung«24 nicht vollständig zugänglich zu sein, indem der Körper sich der Regulierung und Modellierung durch die Rhetorik nie restlos beugt. Zunächst bedarf die Wissenschaft von der actio einer naturgegebenen körperlichen Grundlage – eines männlichen, gut gewachsenen, nicht verkrüppelten Körpers. Doch selbst der ausgebildete, trainierte und beherrschte Körper scheint nie ganz in den oratorischen Verkörperungen aufzugehen. Immer wieder verrutscht das Bild, offenbart sich der Körper in seiner geschlechtlichen Materialität, was die rhetorische Lehre gerade zu vermeiden angetreten ist. Zuletzt scheint die Verschiedenartigkeit, die Individualität der Körper dem Systematisierungswillen der Rhetorik einen Riegel vorzuschieben, so dass das decorum, die Regeln des Passenden und Schicklichen, gerade in Bezug auf die actio am Ende für jeden etwas anderes bedeuten kann – eine Feststellung, die Quintilians vorherige ausführliche wissenschaftliche Ausarbeitung der actio geradezu paradox erscheinen lässt.25

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Arist. Rhet. III, 1, 1404a. Georg Wöhrle sieht Aristoteles’ negative Äußerungen über die actio als Zugeständnis an die ›Schlechtigkeit‹ der Zuhörer nicht im Zusammenhang mit der Körperlichkeit und Scheinhaftigkeit der actio, sondern als eine Kritik am politischen Verfall, der durch das Auftreten von Demagogen wie Kleon gekennzeichnet sei: Die »maßlose« actio »ist Begleiter und damit zugleich Signum einer schlechten politischen Verfassung. Stimmaufwand und Gestik werden extensiv zur Verführung der Menge eingesetzt.« Georg Wöhrle, Actio. Das fünfte officium des antiken Redners. In: Gymnasium. Zeitschrift für Kultur der Antike und Humanistische Bildung, 97, 1990, S. 31–46, S. 33f. Eine ›maßlose‹ actio ist jedoch von allen Rhetorikern verurteilt worden und die Frage ist, warum Aristoteles generell der actio so wenig Aufmerksamkeit schenkt. Das Argument einer politischen Motivation der Beschäftigung mit der actio beziehungsweise mit der Rhetorik allgemein kann auch andersherum eingesetzt werden: Die These, die z. B. Karl Büchner vertritt, wäre dann, dass es die Demokratie (nicht die Demagogie) ist, die allererst den Berufsstand und mit ihm das Ideal eines Redners hervorbringt. »Redner gibt es dort, wo es eine Öffentlichkeit mit dem Wort zu formen gilt.« Büchner, Zur antiken Vorstellung vom Redner, S. 27. Schon in der Antike selbst entsteht die Theorie, dass die Rhetorik gemeinsam mit der Demokratie zu ihrer Blüte gekommen sei (vgl. Cic. Brut. 45ff.). Arist. Rhet. III, 1, 1404a (hier zit. n. der Übersetzung von Krapinger). Vgl. Quint. Inst. XI, 3, 178ff.

III.1.2 Fragestellung und Vorgehen Um meiner Leitfrage systematisch nachzugehen, inwiefern die rhetorische actioLehre dazu beiträgt, dass und wie sich das rhetorische Subjekt auf eine geschlechtsspezifische Art bildet und zeigt, werden in den folgenden Unterkapiteln drei Perspektiven auf die actio eingenommen: Die Perspektivierung der actio als Zeichen erlaubt einen systematischen Zugriff auf die geschlechtliche Codierung der antiken Definitionen von Stimme, Gestik, Mimik und Kleidung (III.2). Die Inblicknahme der actio als Performanz ist erkenntnisleitend für die Analyse der rhetorischen Erziehung zu einer angemessenen actio, durch die das rhetorische Subjekt hervorgebracht wird (III.3). Und die Fokussierung auf die actio als Inszenierung (III.4) macht das Theatralische der Redesituation, in der sich das rhetorische Subjekt konstituiert, sichtbar. Nicht zuletzt ist die actio immer auch als Text zu verstehen: Die uns überlieferten Rhetoriken enthalten ein schriftliches Reden über mündliches Reden. Die Texte erzählen von sprechenden Körpern. Die antiken Rhetoriken selbst denken über diesen Medienwechsel nach: Die Rhetorica ad Herennium thematisiert explizit die Schwierigkeit einer Verschriftlichung von visuellen und akustischen Zeichen.26 Die Frage lautet deshalb immer auch, mit welchen Mitteln textuelle Bühnen für den Redeauftritt geschaffen werden und was gerade dadurch, dass Körper und Stimmen vertextet werden, sichtbar wird. Actio als Zeichen Schon die Aristoteles zugeschriebenen physiognomischen Schriften entwerfen Körper und Geist nicht als Gegensatz, sondern als einer engen Wechselwirkung unterworfen. Die geistige Verfassung ist abhängig vom Körper und umgekehrt wird der Körper durch das Geistesleben beeinflusst.27 Auch die römischen Rhetoriken stellen die actio als mentis index, als Zeichen, Anzeiger oder Abbild der geistigen Bewegungen dar. Die actio setzt Körper und Geist (mens, anima) zueinander in eine Analogie: Es gibt ebenso viele Stimmen und Gesten, wie es Stimmungen und Bewegungen des Geistes gibt.28 Die Physiognomik und die actio behaupten damit die Lesbarkeit des Körpers. Während sich die Physiognomik vornehmlich für

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Vgl. Rhet. Her. III, 19. »Der Geist hängt vom Körper ab und besteht nicht für sich allein [...]. Und umgekehrt wird der Körper von den seelischen Vorgängen in Mitleidenschaft gezogen [...].« Aristoteles, Physiognomonica, übers. und komm. von Sabine Vogt. In: Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung, hg. von Hellmut Flashar, Bd. 18: Opuscula, Teil VI, Berlin 1999, 805a. Auch Cicero betont das Wechselverhältnis von körperlicher Stimme und geistiger Stimmung: »Die Wandlungsmöglichkeiten der Stimme sind so zahlreich wie die der geistigen Verfassung, die durch die Stimme in höchstem Maß beeinflusst wird (vocis mutationes totidem sunt quot animorum, qui maxime voce commoventur).« (Cic. Or. 55) Quintilian formuliert ähnlich: Die Stimme ist »nämlich der Anzeiger unseres denkenden Geistes

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den statischen Körper interessiert, stellt die Rhetorik den bewegten Körper, seine Haltung, Gestik, Mimik und Stimmführung in den Mittelpunkt. Dieser bewegte Körper wird als sprechender aufgefasst: »Der Vortrag ist ja gleichsam die Sprache des Körpers (est enim actio quasi sermo corporis), umso mehr muss er dem Geist entsprechen.«29 Durch den und mit dem – semiotisch begriffenen – Körper wird etwas ausgedrückt und die Bewegungen des Körpers werden als Zeichen ähnlich denen der Sprache gelesen. Eine Frage, die in der westlichen Kulturgeschichte immer wieder verhandelt wird, ist die, ob Gestik, Mimik und Stimme als untrügliche Anzeichen aufgefasst werden, die metonymisch als sichtbarer, äußerer Teil auf ein unsichtbares Inneres verweisen, oder ob sie als erlernbare, vortäuschbare und steuerbare Zeichen konzipiert werden. Cicero würde antworten, dass »jede Regung des Gemüts […] von Natur aus ihren charakteristischen Ausdruck in Miene, Tonfall und Gebärde«30 hat. Eine überaus wirkmächtige Aussage, die – gemeinsam mit der wissenschaftlichen Weiterentwicklung der Physiognomik – zu der tief im Denken des abendländischen Kulturkreises verwurzelten Vorstellung geführt hat, dass das Äußere des Körpers Rückschlüsse auf sein Inneres liefert.31 Allerdings erscheint diese Beziehung zwischen Innen und Außen schon in der Antike nicht so klar. Ganz im Gegenteil: »[V]erdunkelt«, »verworren« und »überdeckt« sind die Äußerungen des Körpers, so Cicero, und erst die Kunst der actio verschafft ihnen Klarheit und Sichtbarkeit.32 Die Rhetoriklehre leistet sozusagen intensivmedizinische Geburtshilfe, sie bringt ›natürliche‹ Zeichen ›künstlich‹ ans Licht. Auf diesem »schmalen Grat zwischen Kultur und Natur« kann die actio einerseits Natur vertreten und andererseits ihre mimetische Verfremdung lehren.33 Als Lehre von der Hervorbringung und Steuerung von Körperzeichen entwickeln Cicero und Quintilian detaillierte Anweisungen für den intentionalen Einsatz von Stimme, Gestik und Mimik. In den antiken Rhetoriken wird der Prozess einer Definition und Festschreibung der Verbindung von Zeichen und Ausdruck, von Signifikant und Signifikat erkennbar. Dabei kann nicht geklärt werden, »ob diese Inventarisierung nonverbaler Zeichen nur aus der Gewissheit entspringt, den Schlüssel zur Erschließung dieses riesigen Zeichenarsenals in Händen zu haben,

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und besitzt ebenso viele Verwandlungsmöglichkeiten wie dieser (est enim mentis index ac totidem quo illa mutationes habet).« (Quint. Inst. XI, 3, 62). Cic. De or. III, 222. Cic. De or. III, 216. Vgl. Wolfram Groddeck, Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens, Basel, Frankfurt a. M. 1995, S. 55. Vgl. Kapp, Die Lehre von der actio als Schlüssel zum Verständnis der Kultur der frühen Neuzeit, S. 56. Cic. De or. III, 215. Vgl. Susanne Gödde, Einführung. Actio – Stimme – Körper. In: Weibliche Rede – Rhetorik der Weiblichkeit. Studien zum Verhältnis von Rhetorik und Geschlechterdifferenz, hg. von Doerte Bischoff, Martina Wagner-Egelhaaf, Freiburg i. Br. 2003, S. 241– 247, S. 247.

oder ob nicht gerade das Bedürfnis nach einer Klärung gleichzeitig ein indirektes Eingeständnis der Unsicherheit über die Aussagekraft der nonverbalen Sprache ist«, wie Volker Kapp sich in Bezug auf die actio der frühen Neuzeit fragt.34 Setzt man die Ununterscheidbarkeit konstitutiv, ob die Performanz vor dem kulturellen Sinn steht oder umgekehrt, dann lässt sich der Prozess der Kodifizierung von Körperzeichen nicht mehr dem Paradigma von Darstellung und Abbildung (Repräsentation) zuordnen, sondern als konstruktiven Prozess, als ›Semiose‹ (im Sinne Julia Kristevas) beschreiben. Es handelt sich dann um »Prozesse, in denen der Schreibakt einen Prozeß der Inszenierung von Sinn in Gang setzt.«35 Wird die actio als ›Zeichenarsenal‹ in den Blick genommen, ist aus gender-orientierter Perspektive zu fragen, wie die Rede vom Körper den Körper als redenden entwirft und wie die Kategorie ›Geschlecht‹ in diese ›Inventarisierung nonverbaler Zeichen‹ eingeschrieben wird – indem beispielsweise eine tiefe, männliche Stimme mit Würde und eine hohe Stimme mit Ängstlichkeit verbunden werden. In den antiken Rhetoriken werden geschlechtliche Interpretationen von Körperzeichen gesetzt, die für die folgenden Jahrhunderte verbindlich bleiben. Zugleich wird danach gefragt, was der Körper nicht bezeichnen darf, und nach den Strategien der Ausschließung solcher ›unangemessenen‹ Körperzeichen. Dieser Prozess der Ausschließung, der sich in den Rhetoriken abbildet, wird zugleich als Spur der Widerständigkeit des phänomenalen Leibes lesbar, der nie ganz in seiner Funktion als semiotischer Körper aufgeht. Dies soll im ersten Unterkapitel, »Antike Definitionen der actio und ihr gendering« (III.2), untersucht werden. Actio als Performanz Wer die Gestik eines Körpers wahrnimmt und seine Stimme hört, kommt kaum umhin, diese traditionell als Ausdruck von Geschlechterzugehörigkeit zu deuten. Judith Butler hat jedoch davor gewarnt, solche Akte als wahrhaftige Anzeichen einer bestehenden Geschlechterzugehörigkeit zu lesen und stattdessen betont, dass Gesten (und zu ergänzen wäre: Stimmen) nicht nur expressiv, sondern performativ sind: sie konstituieren Identität, anstatt sie zu verdeutlichen oder auszudrücken.36 Butler fordert gerade, dass »wir eine Welt denken müssen, in der Akte, Gesten und

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»Es machen sich jedenfalls in der frühen Neuzeit gleichzeitig mit einer Produktion von Deutungsmustern nonverbaler Kommunikation Bedenken gegen die Tragfähigkeit der überkommenen Modelle zur Fundierung dieser Art von Aussagen bemerkbar« – so Volker Kapp weiter, der diesen Überlegungen die Physiognomien von Bonifacio sowie die Gebärdenbücher für Malerei von Le Bruns zugrunde legt. Kapp, Die Lehre von der actio als Schlüssel zum Verständnis der Kultur der frühen Neuzeit, S. 56. Gerhard Neumann, Die Instanz der Szene im Denken der Sprache. In: Theatralität als Modell in den Kulturwissenschaften, hg. von Erika Fischer-Lichte, Christian Horn, Sandra Umathum, Matthias Warstat, Tübingen, Basel 2004, S. 139–157, S. 143. Butler, Performative Akte und Geschlechterkonstitution, S. 315.

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der sichtbare Körper, der bekleidete Körper, die verschiedenen körperlichen Attribute, die gewöhnlich mit der Geschlechterzugehörigkeit verbunden sind, nichts ausdrücken.«37 Vielmehr erscheint der Körper als Effekt einer Zeichenordnung. Ein zeichentheoretisches und ein performatives Körperkonzept können einander hier durchaus ergänzen. Wird die actio als performativer Sprechakt in den Blick genommen, kommt nicht nur die konstitutive, sondern auch die performative, inszenatorische Seite des Aktes zum Tragen.38 Zugleich rückt das Geschlecht des Redners als in diesen Sprechakten performativ erzeugtes in den Fokus. Nach Butler kommt Geschlechtsidentität performativ, als »stilisierte Wiederholung von Akten«39 zustande, wobei eben der Begriff der ›Stilisierung‹ des Körpers besonders auf das rhetorische und inszenatorische Moment der Performanz hinweist.40 Sprechakte können als performative Inszenierungen – auch von Gestik, Mimik und Stimme – betrachtet werden, die die »Illusion eines beständigen, geschlechtlich bestimmten Selbst«41 erzeugen. Die actio der antiken Redner kann dann als Performanz, als theatralische Aufführung einer rituellen Sprechhandlung, ins Auge gefasst werden. Die Verbindung von Performanz und Performativität wird besonders deutlich anhand der antiken Ausbildung zum Redner, die in extremem Maß auf die exercitatio, die kontinuierliche Einübung, Wiederholung und öffentliche Aufführung der Rede, sowie die imitatio, die Nachahmung, ausgerichtet ist. Diese Einübung ist durchaus als körperlicher Akt zu denken, der als Mittel einer hegemonialen Disziplinierung des rhetorischen Subjekts lesbar wird, das sich durch die wiederholte Aufführung von Konventionen allererst konstituiert. In dieser ständigen zitierenden Wiederholung von Vorbildern, die der Ausbildungsweg vorschreibt, wird nicht nur der perfekte Redner, sondern auch der geschlechtlich eindeutige, männliche Redner hervorge-

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Butler, Performative Akte und Geschlechterkonstitution, S. 319. Vgl. Butler, Performative Akte und Geschlechterkonstitution, S. 304. Elisabeth Strowick hat ihre Überlegungen zur actio als Sprechakt mehrfach veröffentlicht, vgl. das Kapitel I.1 »Alte Rhetorik«. In: Strowick, Sprechende Körper – Poetik der Ansteckung. Performativa in Literatur und Rhetorik, München 2009, S. 53–85; Strowick, Akte des sprechenden Körpers. Austin – Quintilian – Kafka. In: Rhetorik. Figuration und Performanz, hg. von Jürgen Fohrmann, Stuttgart 2004, S. 536–556; Strowick, Actio in actu oder: Der andere Schauplatz. In: Weibliche Rede – Rhetorik der Weiblichkeit. Studien zum Verhältnis von Rhetorik und Geschlechterdifferenz, hg. von Doerte Bischoff, Martina Wagner-Egelhaaf, Freiburg i. Br. 2003, S. 283–300; sowie Strowick, Geschwätzige Fingerspitzen. Rhetorische Gesten des Geschlechts. In: Hand. Medium – Körper – Technik, hg. von Ulrike Bergermann, Andrea Sick, Andrea Klier, Bremen 2001, S. 75– 86. Eine produktive Analyse der Performativität (avant la lettre) der Rhetorik mit einzelnen Hinweisen speziell auf die actio leistet: Hetzel, ›Die Rede ist ein großer Bewirker.‹ Performativität in der antiken Rhetorik. Butler, Performative Akte und Geschlechterkonstitution, S. 302. Butler, Performative Akte und Geschlechterkonstitution, S. 305. Butler, Performative Akte und Geschlechterkonstitution, S. 302.

bracht. Dabei ist zu fragen, ob der Körper lediglich als Objekt von Disziplinierungstechniken entworfen wird oder ihm Handlungsfreiräume zugebilligt werden. Im Vordergrund der normativen Rhetoriken steht jedoch die formierende Wirkung der kontinuierlichen, übenden Performanz einer angemessenen actio. Die (Aus-) Bildung der rednerischen actio, die Rednerbildung und Mannwerdung verkreuzt, soll im Unterkapitel »Das rhetorische Subjekt« (III.3) im Vordergrund stehen. Actio als Inszenierung Mehrfach ist bereits der Begriff der Inszenierung gefallen. 42 Der Redner setzt sich in der und durch die actio in Szene. Dieser Begriff aus dem semantischen Feld des Theaters ist keineswegs unpassend für den Redner. Vielmehr ist er zu ergänzen durch das Publikum, vor dem der Redner sich selbst darstellt, durch die Bühne, auf der der Redner agiert, und durch die Sichtbarkeit, die er durch die anrufende Aufführung von Stimme und Gestik erlangt. Von Beginn an bemüht sich die Rhetorik jedoch um eine Abgrenzung des Redners gegen den Schauspieler. Gerade die ursprünglich der Schauspielkunst entstammende actio macht jedoch die Problematik dieser Abgrenzung deutlich, da auf der Ebene der körperlichen Inszenierung die Handlungskompetenz, die der Redner für die Darstellung seiner eigenen, ›wahren‹ Rolle braucht, die gleiche ist wie die, die der Schauspieler für eine ›fiktive‹ benötigt. Der Redner bringt in der actio die rhetorischen Überzeugungsmittel auf die Bühne, indem er ēthos, pathos und logos sichtbar und hörbar macht. Als auctor suae personae inszeniert sich der Redner selbst, er stellt sich in der actio durch eine würdevolle und anmutige Stimme und Gestik als vir bonus dar und steigert so die Glaubwürdigkeit der Rede (ēthos). Er lenkt die Aufmerksamkeit des Publikums und macht durch die Art des Vortrags, eine erregte Stimme und Gestik, äußerlich sichtbar, dass er innerlich an der Rede beteiligt ist, um Mitgefühl und Zustimmung des Publikums zu generieren (pathos). Nicht zuletzt dient die actio dazu, den Inhalt der Rede stimmlich und gestisch zu bekräftigen und zu verdeutlichen (logos). Dem ēthos, der zielgerichteten und publikumsorientierten Selbstdarstellung in der actio, kommt jedoch, wie schon Aristoteles bemerkt, herausragende Bedeutung zu. 43 Der Körper des Redners dient als Medium öffentlicher Zurschaustellung von Status, Macht und Geschlecht. Mit dem Begriff der Inszenierung lässt sich die actio als

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Vgl. zum Begriff der Inszenierung: Erika Fischer-Lichte, Einleitung. Theatralität als kulturelles Modell. In: Theatralität als kulturelles Modell in den Kulturwissenschaften, hg. von Erika Fischer-Lichte, Christian Horn, Sandra Umathum, Matthias Warstat, Tübingen, Basel 2004, S. 7–26, S. 14–18. Fischer-Lichte zufolge lässt sich ›Inszenierung‹ »als der Vorgang der Planung, Erprobung und Festlegung von Strategien bestimmen, nach denen die Materialität der Aufführung performativ hervorgebracht werden soll.« (S. 16) Vgl. Arist. Rhet. I, 2, 1356a.

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eine intentionale Strategie der Selbstdarstellung beschreiben, die – im Rahmen des decorum – der Planung, Erprobung und Aufführung bedarf. Die Rhetoriken haben den Anspruch, den Redner durch Sprache zum Menschen zu bilden. Das heißt, dass der solchermaßen zu einer rhetorischen Selbstinszenierung Befähigte allererst als Mensch ›sichtbar‹ wird, nicht nur ›visuell präsent‹. Sokrates’ – nicht authentischer, aber traditionsmächtiger – Imperativ »Rede, damit ich dich sehe!«44 kann nicht nur physiognomisch in dem Sinne verstanden werden, dass sich der Charakter einer Person an der Art des Sprechens ablesen zu lassen scheint, sondern auch als Aufforderung zu einer performativen Identitätssetzung des Sprechers während und in der Rede. Der Redner wird dem Publikum durch seine Stimme ebenso sichtbar wie durch seinen Anblick. Sichtbarkeit ist ein Effekt der actio. Ob etwas inszeniert erscheint oder nicht, liegt im Blick des Zuschauers – wobei der antike Zuschauer einer Aufführung beiwohnte und die wissenschaftliche Betrachterin heute nur noch die Anweisungen zur Inszenierung und Beschreibungen der Aufführung in den antiken Rhetoriken beobachten kann. 45 Dabei ist zu vermerken, dass die antiken Rhetoriken den Inszenierungscharakter der actio reflektieren und überaus explizite Anweisungen für diese Inszenierungen liefern, wie das Eingangszitat von Cicero veranschaulicht, zugleich aber darauf hinweisen, dass die überzeugende Wirkung nur dann gegeben ist, wenn die Inszenierung sich selbst verbirgt (dissimulatio artis). Gefordert wird also – und dies ist der Unterschied zur antiken Schauspielkunst – eine inszenierte Authentizität, eine Kunst, deren höchste Kunst ist, nicht als solche zu erscheinen. 46 Die Fragen, die sich daraus ergeben und im letzten Unterkapitel, »Die rhetorische Situation« (III.4), verfolgt werden, lauten dann: Welche Strategien der öffentlichen Selbstinszenierung erscheinen in der Antike für Redner angemessen und Erfolg versprechend, welche stehen Rednerinnen offen? Wie werden Geltungsansprüche von Rednern oder Rednerinnen in der actio und durch die Inszenierung der actio sichtbar gemacht und wie werden sie wahrgenommen? Wie wirken sich die Orte der Inszenierung und das Publikum auf die actio von Rednerinnen und Rednern aus?

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Vgl. zur Rezeption und Verbreitung des seit der Spätantike Sokrates zugeschriebenen Ausspruchs: Reinhart Meyer-Kalkus, Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, Berlin 2001, S. 12. Zur Unterscheidung von Aufführung und Inszenierung vgl. Fischer-Lichte, Einleitung. Theatralität als kulturelles Modell, S. 15. Vgl. zum Paradox der zugleich notwendig absichtlichen und unabsichtlich erscheinenden Inszenierung: Alois Hahn, Inszenierung von Unabsichtlichkeit. In: Theatralität und die Krisen der Repräsentation, hg. von Erika Fischer-Lichte, Stuttgart, Weimar 2001, S. 176–197, sowie den Sammelband von Erika Fischer-Lichte (Hg.), Inszenierung von Authentizität, Tübingen, Basel 2000.

III.2 Antike Konzeptionen der actio und ihr gendering Die Perspektivierung der actio als Zeichensystem lenkt den Blick auf das prekäre Verhältnis zwischen Innen und Außen, zwischen Geist und Körper. Ob Stimme, Gestik und Mimik als untrügliche Anzeichen aufzufassen sind, die unmittelbar unsichtbare Bewegungen der Seele in sichtbare, körperliche Bewegungen übersetzen, oder ob sie als erlernbare, vortäuschbare und steuerbare Zeichen konzipiert werden, wird in der alten Rhetorik nicht eindeutig beantwortet. Vielmehr scheint sich die actio einer einseitigen Zuordnung zu den Polen dichotomischer Ordnungsmuster wie Authentizität/Verstellung oder Natur/Kultur zu entziehen, die üblicherweise herangezogen werden, um über die Körpersprache zu reflektieren. Ciceros wirkmächtiger Satz, dass »jede Regung des Gemüts […] von Natur aus ihren charakteristischen Ausdruck in Miene, Tonfall und Gebärde«47 hat, bietet eine anthropologische Erklärung an, die die actio auf Seiten der Natur zu verorten scheint. Das Verständnis der actio als natürlicher Ausdruck der Seele gipfelt in ihrer Konzeption als einer universell verständlichen Sprache bei Cicero48 oder als »gemeinsame Sprache der Menschheit« bei Quintilian 49. Dem steht die ebenfalls von Cicero und Quintilian geäußerte Auffassung der actio als gezielt einsetzbares Zeichenarsenal entgegen, derzufolge die actio lehr- und lernbar ist. Die Darlegung der actio im Rahmen eines pädagogischen Programms zielt dementsprechend auf die Disziplinierung des Körpers, nicht auf einen ›natürlichen Ausdruck‹. Ja, die actio-Lehre bezieht ihre Daseinsberechtigung und ihre Notwendigkeit aus der von Natur aus unzureichenden, unklar erscheinenden Beziehung zwischen Innen und Außen: Die natürlichen Äußerungen des Körpers seien »verdunkelt«, »verworren« und »überdeckt«, so Cicero, und erst die Kunst der actio verschaffe ihnen Klarheit und Sichtbarkeit.50 So kann die actio einerseits den Anspruch erheben, Natur auszudrücken und andererseits die Produktion wirkungsorientierter Körper-Zeichen lehren. Das Maß der künstlichen Hervorbringung des körperlichen Redeschmuckes bleibt jedoch umkämpft – und dieser Kampf wird nicht zuletzt über die Geschlechterdifferenz ausgefochten. Quintilian gibt Kritiker der actio-Lehre wieder, nach denen die natürliche Redegabe männlicher sei als die eingeübte, »gesuchte« und »unnatürliche«: Eine ungeschulte actio sei jenen zufolge »stärker und einzig […] wahrer Männer würdig«.51 Im Kontext der der Attizismus-Asianismus-Debatte52

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Cic. De or. III, 216. Vgl. Cic. De or. III, 223. Quint. Inst. XI, 3, 87. Cic. De or. III, 215. Quint. Inst. XI, 3, 10. Vgl. zur Asianismus-Attizismus-Debatte (ohne gender-Bezug): Albrecht Dihle, Attizismus. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 1, Tübingen 1992, Sp. 1163–1176. Da sich kein Redner der Zeit selbst zum Asianismus bekann-

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wird die Grenzziehung zwischen dem positiv bewerteten, schlichten ›attischen‹ und dem negativ bewerteten, überbordenden ›asianischen‹ Stil der Rede auf die körperliche Performanz übertragen, wobei der Asianismus zumeist in Analogie zum Weiblichen gesetzt und über diesen Vergleich von der ›guten‹, ›gesunden‹, ›männlichen‹ Rede ausgeschlossen wird. Patricia Parker hat anhand reichen Materials von der römischen Antike (Cicero, Tacitus, Quintilian, Horaz, Seneca) bis in die europäische frühe Neuzeit die enorme Wirkmächtigkeit der Engführung eines ›guten‹, attischen, männlich konnotierten Stils mit dem männlichen (virilis), harten (durus) und muskulösen (nervosus) Körper gezeigt. Verworfen wird dagegen der ›effeminierte‹, weichliche, überbordende asianische Stil – eine Geschlecht und Ethnizität verbindende Codierung –, der als Bedrohung eines »ambiguous gender of men of words« jedoch immer latent bleibt.53 Dieses Kapitel fokussiert die actio als Zeichensystem, genauer: als Zusammenspiel verschiedener Zeichensysteme. Gestik, Mimik, Stimmführung und Kleidung erscheinen als jeweils eigenes Zeichensystem, das nicht in dem ›Gesagten‹ aufgeht. So kann mit der Stimme ein Redetext verlautet werden, die Art der Stimmführung weist jedoch auf weit mehr hin: zum Beispiel auf das Geschlecht des Redners, seinen Selbstentwurf als würdiger vir bonus, auf den Grad seiner Anteilnahme an dem Ausgesprochenen oder auf seinen Respekt für das Publikum. Verfolgt wird die These, dass die Zeichen der Geschlechtszugehörigkeit in der antiken actio-Lehre nicht isoliert zu betrachten sind, sondern im Gegenteil eng und dauerhaft verknüpft werden mit denen, die das ēthos des Redners transportieren. So steht beispielsweise eine ›starke‹ Stimme für die Anwaltstätigkeit, den hohen bürgerlichen Status, die Autorität, Durchsetzungskraft und nicht zuletzt die Männlichkeit des Redners. Welche (geschlechtliche) Bedeutung der Stimme, Gestik, Mimik und Kleidung in der actio-Lehre im Einzelnen zugeordnet wird, soll im Folgenden – beginnend mit der Stimm-Konzeption – untersucht werden. So wird ein gegendertes Zeichenarsenal vorgeführt, das über die folgenden Jahrhunderte verbindlich bleibt.

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te, geht es vor allem um die Frage, wie die Grenze zwischen asianischer und attischer Ausdrucksweise bestimmt wird. Vgl. Fuhrmann, Die antike Rhetorik, S. 62f. Sowohl Cicero als auch Quintilian bestimmen den attischen als den passenden Stil, werfen aber den rigorosen Anhängern der attischen Schlichtheit eine ›Blutleere‹ vor, die hinter dem ›Best-Möglichen‹, das der wahre Attizismus sei, zurückbleibe. Wie Quintilian berichtet, wurde Cicero selbst von einigen Zeitgenossen dem Asianismus zugeordnet, sein Stil als schwülstig, sich wiederholend, kraftlos und gar – Gipfel der Beleidigung – »was man kaum aussprechen mag, zu weibisch [weichlich] für einen Mann (viro molliorem)« bezeichnet (Quint. Inst. XII, 10, 12ff.). Cicero verteidigt sich im Orator und in Brutus gegen diesen Vorwurf, indem er das decorum betont, das dem Gegenstand der Rede entsprechend den Stil der Rede und damit das Maß des Redeschmucks bestimmt. Patricia Parker, Virile Style. In: Premodern Sexualities, hg. von Louise Fradenburg, Carla Freccero, New York, London 1996, S. 201–222, S. 216.

III.2.1 Stimme Während Aristoteles in Bezug auf den Vortrag (hypókrisis) nur die Stimme verhandelt, treffen die römischen Rhetoriken eine grundlegende Unterscheidung zwischen zwei Bereichen der actio: Stimmgestaltung und Körperbewegung. »Der Vortrag (actio) ist ja gleichsam die Körpersprache (eloquentia corporis), da er aus Stimme (vox) und Bewegung (motus) besteht.«54 Trotz der systematischen Trennung von vox und motus wird gerade deren »Koexpressivität«55 betont: Stimme und Bewegung müssten wie die Saiten eines Instruments aufeinander abgestimmt werden, so Cicero56 – eine Aufforderung zur »Ausdruckssynchronisation«57, die in der aktuellen Forschungsdiskussion zur Stimme überwiegend übersehen wird.58 Beide Komponenten der actio, vox und motus sollen im Zusammenspiel auf die Sinne wirken. So schreibt Quintilian über »Stimme und Gebärdenspiel«, dass »das Letztere auf die

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Cic. Or. 55. Vgl. Meyer-Kalkus, Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, S. 51. Vgl. Cic. De or. III, 216. Joachim Knape, Marcus Fabius Quintilianus: ›Ausbildung des Redners‹. Die Summe der antiken Rhetorik. In: Knape, Allgemeine Rhetorik. Stationen der Theoriegeschichte, Stuttgart 2000, S. 133–173, S. 170. Die rhetorische Verknüpfung von Stimme und Gestik in der actio-Lehre ist in der aktuellen Forschungsdiskussion um die Stimme in den Hintergrund getreten. Symptomatisch für die Forschung ist vielmehr eine Trennung von Stimme auf der einen und Gestik auf der anderen Seite. Innerhalb der Stimmforschung lassen sich grob fünf Tendenzen ausmachen und unter anderem mit den folgenden Namen verbinden: eine dekonstruktive (Jacques Derrida), eine psychoanalytische (Julia Kristeva, Roland Barthes), eine kulturwissenschaftliche (Karl-Heinz Göttert, Reinhart Meyer-Kalkus, Sigrid Weigel), eine phänomenologische (Bernhard Waldenfels, Dieter Mersch) und eine medientheoretische (Friedrich Kittler). Die drei zuletzt Genannten haben in den letzten Jahren für eine ›Renaissance der Stimme‹ in der Forschungsdiskussion gesorgt. Herausgearbeitet wurde die Materialität, Leiblichkeit, Prozessualität, Ereignishaftigkeit, Intersubjektivität, Affektivität, Ästhetik und der Appellcharakter der Stimme. Daneben traten die Aufnahme-, Bearbeitungs-, Speicherungs- und Wiedergabetechniken in den Blick. An dieser Stelle kann nicht die gesamte Forschungsdiskussion aufgerollt werden. Vgl. zusammenfassend: Doris Kolesch, Sybille Krämer, Stimmen im Konzert der Disziplinen. In: Stimme. Annäherung an ein Phänomen, hg. von Doris Kolesch, Sybille Krämer, Frankfurt a. M. 2006, S. 7–15; Cornelia Epping-Jäger, Erika Linz, Einleitung. In: Medien/Stimmen, hg. von Cornelia Epping-Jäger, Erika Linz, Köln 2003, S. 7–15. Die Forschung zur Stimme aus einem rhetorischen Blickwinkel – hier wäre an erster Stelle Götterts ansonsten beeindruckende Geschichte der Stimme zu denken – ignoriert die dezidierte Männlichkeit der Stimme in ihren Quellen: Karl-Heinz Göttert, Geschichte der Stimme, München 1998. Auch die jüngeren Artikel zur Stimme im Historischen Wörterbuch der Rhetorik (Wilczek, Campe, Stimme, Stimmkunde) und Rhetorik und Stilistik (Meyer-Kalkus, Rhetorik der Stimme [actio II]) vermerken kaum ein Wort über das Geschlecht der Stimme und des Sprechers/der Sprecherin. Die bislang ausführlichste Untersuchung zur Stimme in der antiken Rhetorik aus gender-orientierter Perspektive hat Maud Gleason verfasst: vgl. das Kapitel »Voice and Virility in Rhetorical Writers«. In: Gleason, Making Men, S. 103–130.

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Augen, das Erstere auf die Ohren wirkt, auf die beiden Sinne, durch die jede Gefühlsregung in das Innere dringt«.59 Dieser Aussage über die affektive Wirkung der actio liegt die Konzeption eines ›offenen‹ Körpers zugrunde, durch den Gefühlsregungen über eine visuelle und auditive Übertragung ins Innere gelangen. Sowohl vox als auch motus sollen die Gestimmtheit des Redners transportieren und damit wiederum Stimmungen im Publikum bewirken. Die Rhetorik bindet die actio also an den Affekt und perspektiviert sie sowohl über ihre Produktion als auch über ihre Wirkung, die unlösbar verknüpft werden. Die alte Rhetorik entwickelt nun verschiedene Systematiken, um die Produktion und die Wirkung der Stimme zu beschreiben. Aristoteles differenziert in Bezug auf die Stimme Lautstärke, Tonfall und Rhythmus, die als affektorientierte Überzeugungsmittel gezielt eingesetzt werden.60 Die Rhetorica ad Herennium gibt diese drei Kategorien leicht variiert als Umfang (magnitudo), Stärke (firmitudo) und Geschmeidigkeit (mollitudo) wieder. Allein der Umfang ist dabei der Natur geschuldet, die Stärke wird vorrangig durch die Stimmpflege und die Geschmeidigkeit vor allem durch die Übung hergestellt. Damit zählt die Geschmeidigkeit der Stimme, die »Fähigkeit, sie beim Sprechen zu unserem Vorteil drehen und wenden zu können«61, zu den eigentlichen Aufgaben des Redners, ist sie doch durch Übung zu perfektionieren. Die Geschmeidigkeit bezieht sich auf die situationsgerechte stimmliche Performanz im ruhigen Gesprächston (sermo), in der leidenschaftlichen Rede (contentio) oder im sich steigernden Ton (amplificatio). Damit ist die Stimmführung sowohl der Redesituation als auch dem Verlauf der Rede anzupassen. Anders als der Auctor systematisiert Cicero die Stimmführung nach den verschiedenen Affektlagen – Cicero zufolge kennt der Vortrag ebenso viele Stimmbewegungen wie Gemütsbewegungen: Die Wandlungsmöglichkeiten der Stimme sind so zahlreich wie die der geistigen Verfassung, die durch die Stimme in höchstem Maße beeinflusst wird. Deshalb wird jener vollkommene Redner […] je nachdem, wie er selbst gestimmt erscheinen und auf die Gemütsverfassung des Zuhörers einwirken will, einen bestimmten Tonfall seiner Stimme anschlagen.62

Die rhetorische Konzeption der Stimme zeichnet sich demnach dadurch aus, die Stimme nicht als ›natürlichen‹ Ausdruck der Affekte, sondern als wirkungsorientiertes Überzeugungsmittel einzusetzen: Es geht darum, die einer bestimmten Wirkungsabsicht entsprechende Stimmführung einzusetzen. Cicero zufolge gibt es dabei keine Stimm-Veränderung, die »nicht der Kunst und ihren Regeln unterliegt«.63 Um diese Stimm-Veränderungen allererst sprachlich fassen zu können, skizziert

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Quint. Inst. XI, 3, 14. Arist. Rhet. III, 1, 1403b. Rhet. Her. III, 20. Cic. Or. 55. Cic. De or. III, 217.

Cicero ein dichotomisches Beschreibungsraster: »sanft oder rauh, gepresst oder verströmend, getragen oder abgehackt, dumpf oder kreischend, mit wechselndem Ton an- oder abschwellend«64 . Ausgehend von der individuellen Mittellage einer Stimme wird jede Veränderung innerhalb dieser Koordinaten semiotisch als Zeichen verschiedener Affekte wie Jähzorn, Kraft, Trauer und Freude bestimmbar. Die Rhetoriken greifen also konventionelle Bedeutungen der Stimmführung auf, beschreiben und systematisieren sie, um sie wiederum lehrbar zu machen. Insofern entwerfen die Rhetoriken die Stimme als Zeichensystem und tradieren zugleich die gesetzten Bedeutungen der Stimme. Quintilian schließlich unterscheidet Umfang (quantitas) und Klangform (qualitas) als die natürlich gegebenen Grundlagen der Stimme, konzentriert seine Darstellung jedoch auf Stimmpflege und Stimmbildung: Eine einfache, enthaltsame Lebensweise und tägliche Übung werden gefordert. Seine Darstellung der Stimmführung systematisiert Quintilian anhand der vier Tugenden der sprachlichen Darstellung (virtutes elocutionis) und entwirft die entsprechenden Regeln erstens für die ›fehlerfreie‹ und zweitens die ›deutliche‹ Aussprache. Drittens wird die ›schmuckvolle‹ Stimmführung verlangt – ebenso wie Cicero legt Quintilian hier besonderen Wert auf eine abwechslungsreiche Stimmführung.65 Viertens und letztens solle die Stimme ›passend‹ sein, also den Inhalten beziehungsweise Affektlagen der Rede angemessen. Damit werden die virtutes erstmals nicht nur für die sprachliche Gestaltung der Rede, die elocutio, sondern für die actio fruchtbar gemacht. Quintilian greift Ciceros Konzeption der Stimme als Zeichen verschiedener Affekte auf und stellt Überlegungen zu dem Verhältnis von Affekt und ›passendem‹ Stimmzeichen an: Affekte werden hörbar, indem einerseits echte Gefühle in der Stimme ›durchbrechen‹, also ohne Kunst erscheinen, und andererseits, wenn nachgeahmte Gefühle kunstvoll zum Ausdruck gebracht werden. Beiden Varianten fehlt laut Quintilian etwas: ersteren die Kunst und letzteren die ›Echtheit‹. Deshalb rät Quintilian zur Selbstinduktion: Es gelte, sich richtig ergreifen und rühren zu lassen. So wird die Stimme wie eine Vermittlerin die Stimmung, die sie aus unserem Gemütszustand empfangen hat, an den Gemütszustand der Richter weitergeben: sie ist nämlich ein Anzeiger des denkenden Geistes (mentis index) und besitzt ebenso viele Verwandlungsmöglichkeiten wie dieser.66

Die Stimme als mentis index ist also auch bei Quintilian nicht als untrüglicher Seelenspiegel misszuverstehen, sondern durch die Methode der Selbstinduktion künstlich hervorgebracht.

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Cic. De or. III, 216. Cic. De or. III, 224f.; Quint. Inst. XI, 3, 43ff. Quint. Inst. XI, 3, 62.

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Diese knappe Einführung in die rhetorischen Stimm-Konzeptionen zeigt: Die Stimme geht in der actio-Lehre nicht in dem Transport des Gesagten auf. Vielmehr wird sie als ein eigenes Zeichensystem lesbar, das das Gesagte unterstützen, bekräftigen oder konterkarieren kann. Dabei wird ihr eine besondere Bedeutung für den Ausdruck und die Übermittlung von Affekten beigelegt. Die Stimme wird nicht als Gabe der Natur dargestellt, vielmehr muss sie durch Pflege und Übung als rhetorische, zielgerichtet einsetzbare Stimme allererst hergestellt werden. Stärker noch als in Bezug auf die Gestik fallen jedoch bei der Stimme bestimmte körperliche Voraussetzungen ins Gewicht.67 Jeder Redner hat eine individuelle, unverwechselbare Stimme. Cicero beschreibt dies als die Mittellage, die jeder Stimme individuell eigen sei und von der aus der Redner die Stimme stufenweise ansteigen lassen solle.68 Betont wird mehrfach der körperliche Ort der Stimme, wobei die Stimme idealerweise in ihrer semiotischen Bedeutung aufzugehen hat und an die Körperlichkeit der Stimme erinnernde Geräusche wie Räuspern oder Rauhheit als vitium der Stimmführung ausgeschlossen werden. Auf der anderen Seite arbeiten die Rhetoriken daran, dass die Stimme einen ganz bestimmten Körper hörbar macht: nämlich den des vir bonus – transportiert die Stimme doch auch die Herkunft, das Alter und nicht zuletzt das Geschlecht des Redners. Die Stimme hat immer eine geschlechtliche Bedeutungsdimension. Diese wird von den antiken Rhetoriken explizit reflektiert und zwar indem die Rhetoriken ein – männliches – Stimmideal setzen, das durch die Abgrenzung von anderen, nicht-rhetorischen Stimmen stabilisiert wird.69 Die ideale Stimme wird als die des vir bonus entworfen: Das ēthos des vir bonus, der sich bei Wind und Wetter, Tag und Nacht für die Sache seiner Klienten einsetzt, wird eng verknüpft mit einer männlichen, kräftigen Körperkonstitution und einer männlichen, starken Stimme.70 Die

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Hier sei nur kurz auf die physiologischen Stimmtheorien der Antike verwiesen. Die Stimme wurde als von der Luft ausgeübter Stoß (Platon), als Schlag der eingeatmeten Luft an die Luftröhre (Aristoteles) oder als materieller Partikel-Strom (Lukrez) gedacht. Die Entdeckung der Stimmbänder erfolgte erst durch Antoine Ferrein im Jahr 1741. Die Stimme unterscheidet sich von bloßen Tönen wie Husten etc. durch die Ausdrucksabsicht. Festzuhalten im Rahmen der actio ist, dass die Stimme körperlich gedacht wurde, der Zustand des Körpers beeinflusst die Stimme. Dabei wird nicht nur an die Sprechwerkzeuge, den Mund, die Zunge, die Lippen und an den Atemfluss gedacht. Auch über Kopf, Nase, Brust und Lunge (vgl. Quint. Inst. XI, 3, 16) geht das Stimmkonzept hinaus. Vielmehr ist die Stimme nur im Zusammenhang mit dem ganzen Körper zu denken, worauf Quintilians Vorschriften zur Stimmpflege hinweisen: »Spaziergänge, Salben, Enthaltung von Geschlechtsverkehr und der Genuß leicht verdaulicher Speisen, also eine einfache Lebensführung« (Quint. Inst. XI, 3, 19). Offenbar wird also die gesamte körperliche Verfassung in der Stimme hörbar, der Körper bringt die Stimme zum Klingen und andersherum. Vgl. zur historischen Physiologie der Stimme: Göttert, Geschichte der Stimme, S. 21–33. Vgl. Cic. De or. III, 227. Vgl. Gödde, Einführung. Actio – Stimme – Körper, S. 245. Vgl. Quint. Inst. XI, 3, 22ff.

»feste körperliche Konstitution« des vir bonus wird zum einen gegen die »Dürftigkeit der Stimme von Eunuchen, Frauen und Kranken«71 abgegrenzt und zum anderen gegen die verweichlichte, artifizielle Stimme der Sänger und Schauspieler.72 Im Gegensatz zum (verweiblichten) Sänger habe der Redner »nicht so sehr eine weiche und zarte (molli teneraque) wie vielmehr eine starke und widerstandsfähige (forti ac durabili) Stimme« nötig, so Quintilian.73 Die Heftigkeit, mit der gerade eine singende Stimme im Kontext der Attizismus-Asianismus-Debatte abgelehnt wird, überrascht. So schließt Quintilian eine karikierende Aufzählung der stimmbezogenen Fehler beim Redeauftritt, die das zischende Einziehen der Atemluft, Zugtier-ähnliches Schnaufen, Schleim-hochziehen und -aushusten sowie eine feuchte Aussprache beinhaltet, mit dem »schlimmsten dieser Fehler […], der heutzutage am stärksten in allen Gerichtsreden und Schulübungen zu schaffen macht: das Gesinge«.74 Singen passt Quintilian zufolge nicht zu den ernsten Rechtsfällen auf dem Forum, sondern zum orgiastischen Kult. Auch hier kommt die Geschlechterdifferenz ins Spiel. Amy Richlin hat in ihrer Quintilian-Lektüre herausgearbeitet, wie Singen und Tanzen als lustvoller Genuss, als eine exzessive, orgiastische, mit Weiblichkeit assoziierte »Zügellosigkeit (licentia)«75 dargestellt werden, der Quintilian den kontrollierten, disziplinierten Körper entgegen setzt.76 Auch Maud Gleason und Erik Gunderson lesen die Quintilian’sche Disziplinierung der Stimme als Antwort auf das Problem, dass der glänzende Redeauftritt verdächtig ist, eine ›Lust‹ zu erwecken, die mit der nichtpenetrierbaren Männlichkeit des Redners unvereinbar erscheint.77 Damit werden die stimmpflegerischen Forderungen Quintilians wie »Spaziergänge, Salben, Enthaltung von Geschlechtsverkehr und der Genuß leicht verdaulicher Speisen, also eine einfache Lebensführung«78 als Akt einer anti-lustvollen Selbstdisziplinierung lesbar, die sichtbar beziehungsweise hörbar gemacht als Zeichen des männlichen, maßvollen ēthos dient. Gleason schreibt der disziplinierten Stimme eine zentrale Funktion für die Selbstdarstellung des Redners zu:

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Quint. Inst. XI, 3, 19. Als nicht rhetorikfähig stellt Quintilian daneben Ausländer und pubertierende Jungen dar: Quint. Inst. XI, 3, 28f.; 30f. Vgl. zur Differenzierung von Redner und Schauspieler ausführlich: Kapitel III.4.4. Quint. Inst. XI, 3, 23. Quint. Inst. XI, 3, 57. Quint. Inst. XI 3, 58. »[G]ibt es denn überhaupt jemanden, der in einem Rechtsstreit singt? Wenn das aber allgemein eingeführt werden soll, so gibt es keinen Grund, warum wir nicht dieses modulierende Singen auch noch mit Saitenspiel und Bläsern, nein, beim Herkules, besser noch, wie es der Geschmacklosigkeit noch näher kommt, mit dem Zymbelspiel begleiten sollen?« (Quint. Inst. XI, 3, 57) Richlin zufolge sind die Zimbeln als Zeichen der eunuchischen Priester Zybeles zu verstehen. Vgl. Richlin, Gender and Rhetoric: Producing Manhood in the Schools, S. 105, 107. Vgl. Gleason, Making Men, S. 114ff.; Gunderson, Staging Masculinity, S. 128f. Quint. Inst. XI, 3, 19.

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A man’s voice served to assert and to defend his status, revealing (or concealing) his birthplace, social origins, and education. Yet it also served as a focus of his self-control and thus became an index of his self-mastery in the areas of exercise, education, food, and sex.79

So kann die trainierte, disziplinierte, starke und feste Stimme als Zeichen für die Männlichkeit des Redners fungieren. Ziel der Rhetorik ist also die Herstellung einer ›männlichen‹ Stimme, die sich auf dem Forum lautlich durchsetzen kann, die Emotionen erregen, Sachverhalte klar machen und glaubwürdig das Bild eines vir bonus transportieren kann. Damit rückt die soziale und ethische Funktion der Stimme in den Fokus: Der Redner wird dem Publikum durch seine Stimme ebenso sichtbar wie durch seinen Anblick.80 Sokrates Aufforderung »Rede, damit ich dich sehe!« kann nicht nur als Hinweis auf einen physiognomischen Rückschluss von der Art des Sprechens auf den Charakter des Redners verstanden werden, sondern auch als Aufforderung, durch eine einnehmende actio – die Stimmführung inbegriffen – Sichtbarkeit erst herzustellen. Die rhetorische Stimme ist an jemanden gerichtet, sie fordert dazu auf zuzuhören, den Redner wahrzunehmen, ihm Anerkennung zu zollen. Dieter Mersch verweist in seinen phänomenologischen Thesen zur Stimme auf deren ethische Dimension: Die Stimme appelliert nicht nur daran, mir womöglich Glauben zu schenken und auf diese Weise das Gesagte entgegenzunehmen sowie zu akzeptieren – das bedeutet erneut, die Stimme allein auf der Ebene des Sagens, im Konnex zwischen Ausdruck und Aussage zu behandeln, um ihre Expressivität in den Vordergrund zu rücken –, sondern sie appelliert daran, mich anzunehmen und anzuerkennen.81

Mersch zufolge nimmt ein Subjekt mit seiner Stimme in einem sozialen Raum eine Position ein, und zwar im doppelten Sinne eine Position des Körpers und der Überzeugungen, und macht damit den Anderen zu einem Zeugen seiner ›Selbstsetzung‹. Während Merschs phänomenologische Überlegung davon ausgeht, dass diese Aufforderung zur Anerkennung jeder menschlichen Stimme per se inhärent

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Gleason, Making Men, S. xiii. Den Begriff ›Sichtbarkeit‹ nehme ich sowohl im übertragenen als auch im wörtlichen Sinne für vox und motus in Anspruch. Denn die klassische Zweiteilung der actio darf nicht über die Interdependenzen von Stimmgestaltung und Körperbewegung hinwegtäuschen. Im Gegenteil ist darauf hinzuweisen, dass in der Antike die Gestalt(ung) der Stimme (figura vocis) körperlich gedacht wird und der Körper klangliche Qualitäten hat. Dies wird nicht zuletzt aus der antiken Metaphorik deutlich, die Visuelles mit Auditivem belegt und umgekehrt – etwa wenn die Körperbewegungen mit einem harmonischen Orchester oder Saiteninstrument verglichen oder der Stimme als höchste Auszeichnung »Glanz« (splendor) zugeschrieben wird. Insofern wird das ēthos des Redners durch vox und motus ›sichtbar‹. Dieter Mersch, Präsenz und Ethizität der Stimme. In: Stimme. Annäherung an ein Phänomen, hg. von Doris Kolesch, Sybille Krämer, Frankfurt a. M. 2006, S. 211–236, S. 234.

ist, arbeiten die Rhetoriken an einer gezielten Herstellung dieser Anerkennung, die zudem auf einen spezifischen Personenkreis beschränkt ist. Die ›öffentliche‹ Stimme, die dem Redner eine rhetorische Selbstsetzung allererst ermöglicht, wird in der alten Rhetorik einzig dem vir bonus übertragen. ›Annehmbar‹ und ›anerkennbar‹ sind den Rhetoriken zufolge nur dezidiert männliche Stimmen. Anderen wird nicht nur explizit eine (in rhetorischem Sinne) angemessene Stimme abgesprochen, sie werden damit auch implizit von Optionen einer rhetorischen Selbstsetzung abgeschnitten. Während die männliche Stimme als Ideal entworfen wird, dient die weibliche Stimme lediglich dazu, als das ›Andere‹ der männlichen Stimme deren Grenzen zu markieren:82 Quintilian zufolge darf die Stimme »nicht genuschelt, roh, grob, hart, starr, heiser, schmalzig oder dünn, hohl, abstoßend, kümmerlich, weichlich oder weibisch (effeminata)«83 klingen. Wie die gender-orientierte Forschung gezeigt hat, lassen sich nicht in den antiken Rhetoriken, dafür umso mehr in den mythischen und literarischen Erzählungen eine Vielzahl von Figurationen weiblicher Stimmen ausfindig machen und auf die (Selbst-) Konstitution der Rhetorik zurückbeziehen. Als weibliche Figurationen des ›Anderen‹ der Rhetorik können Figuren wie die verführerisch singenden Sirenen84, die entstellt nachahmende Echo85, die grässlich schreienden Erinnyen oder die gewaltsam zum Verstummen gebrachte Philomela86 gelesen werden, von denen eine Bedrohung der kulturellen Ordnung auszugehen scheint. Sie bilden das konstitutive ›Außen‹, in dessen Rahmen die männliche Rhetorik als klar, sinnvoll, rational, strukturiert, konzis und wirkmächtig erscheint. Stimmen von Rednerinnen, die sich innerhalb der kulturellen Ordnung bewegen, werden dagegen in den Rhetoriken nur selten verzeichnet. Ausnahmen machen Cicero und Quintilian in Bezug auf wenige namentlich genannte Mütter, die eine gewählte Ausdrucksweise von ihren berühmten Vätern übernommen haben und diese an ihre Kinder weitergeben. Gebildeten Frauen wird hier als Müttern eine wichtige, jedoch vornehmlich passive Rolle in der Spracherziehung ihrer Kinder zugestanden. Genannt wird Cornelia, die Mutter der Gracchen, die über eine »hocherlesene Sprache«87 verfügt, wodurch ihre Söhne – außergewöhnlich genug und daher von Cicero erwähnt – »nicht so sehr im Schoße der Mutter ihre Er-

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Vgl. Gödde, Einführung. Actio – Stimme – Körper, S. 245. Quint. Inst. XI, 3, 32. Vgl. Martina Wagner-Egelhaaf, Sirenengesänge. Mythos und Medialität der weiblichen Stimme. In: Mythen in Kunst und Literatur. Tradition und kulturelle Repräsentation, hg. von Annette Simonis, Linda Simonis, Köln, Weimar, Wien 2004, S. 383–403. Vgl. Bettine Menke, Rhetorik der Echo. Echo-Trope, Figur des Nachlebens. In: Weibliche Rede – Rhetorik der Weiblichkeit. Studien zum Verhältnis von Geschlechterdifferenz, hg. von Doerte Bischoff, Martina Wagner-Egelhaaf, Freiburg i. Br. 2003, S. 135– 159. Vgl. Bischoff, Die schöne Stimme und der versehrte Körper. Ovids Philomela und die ›eloquentia corporis‹ im Diskurs der Empfindsamkeit. Quint. Inst. I, 1, 6.

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ziehung erhielten als durch ihre Sprache«88. Daneben findet mehrfach Laelia Erwähnung, die Tochter des Gaius, die wie ein Gefäß die gewählte Redeweise ihres Vaters aufgenommen und an Töchter und Enkelinnen weitergegeben hat. 89 Cicero hebt lobend hervor, dass ihre Stimme den alten, für Rom charakteristischen Akzent entgegen allen neumodischen Strömungen konserviere, da »Frauen […] ja das Alte leichter unversehrt [bewahren], weil sie in ihrer Isolierung vom Sprachgebrauch der Menge stets an dem festhalten, was sie als erstes kennenlernten«. So hört Cicero durch das bewahrende Medium Laelia hindurch die alten Redner: »[B]ei ihr also habe ich, wenn ich sie höre, den Eindruck, Plautus oder Naevius zu hören«90. Während die Stimme des Redners als Instrument des eigenen Ausdruckswillens dargestellt wird, erscheint die Stimme der Frau als passives Medium oder als Echo vergangener Männerstimmen. So zementieren die Rhetoriken nicht nur durch die dezidiert männliche Codierung der rhetorikfähigen Stimme, sondern auch über die Darstellungsweise der weiblichen Stimme den Ausschluss der Frau von Positionen rednerischer Selbstkonstitution. III.2.2 Gestik und Mimik Hatte Aristoteles unter dem Vortrag (hypókrisis) zunächst lediglich Volumen, Ton und Rhythmus der Stimme verstanden, so messen die römischen Rhetoriker, der Auctor ad Herennium, Cicero und vor allem Quintilian, zunehmend auch der Gestik und Mimik zentrale Bedeutung zu. Den Bewegungen des Körpers wird eine Wirkungsmacht zugeschrieben, die das unbewegte Bild übersteigt, ja selbst die Macht des gesprochenen Worts zu übertreffen scheint. Gestik und Mimik verleihen Rede und Redner Glaubwürdigkeit, Nachdruck und Schönheit.91 Mit Quintilians umfangreicher und detaillierter Beschreibung der Gestik und Mimik kommt die Lehre von der Hervorbringung und Steuerung von Körperzeichen zu einem vorläufigen Höhepunkt. Auf die Darstellung der Stimme lässt Quintilian die der Gebärden folgen, wobei penibel von Kopf bis Fuß jedes einzelne Körperteil auf seine Bedeutung für die actio hin überprüft wird: Kopf, Gesicht, Augen, Augenbrauen, Stirn, Nase, Lippen, Nacken, Schultern, Brust, Arme, Hände, Finger, Beine und Füße. Quintilian entwickelt hier erstmals eine Typologie von Gesten, die über die systematische Beschreibung des Körpers verläuft. Zieht man alternative denkbare Modelle der Ordnung von Gesten – etwa über die RedeAnlässe oder über die jeweils auszudrückenden Affekte – in Betracht,92 wird die

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Cic. Brut. 210. Cic. Brut. 210; Quint. Inst. I, 1, 6. Cic. De or. III, 45. Vgl. Quint. Inst. XI, 3, 67. Zu Typologien von Gesten – ohne Bezug auf Quintilian – vgl. Christoph Wulf, Geste. In: Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, hg. von Christoph Wulf, Weinheim, Basel 1997, S. 516–524, S. 522f.

außerordentliche Relevanz des (Zeichen-) Körpers bei Quintilian deutlich. Da jedem einzelnen Körperteil bestimmte Ausdrucksmöglichkeiten zugeordnet werden, kommt es zu einer vollständigen Semiotisierung des Körpers. Ob diese Inventarisierung, Kategorisierung und Kodifizierung von Körperzeichen ein bestehendes Spektrum kultureller Bedeutungsmöglichkeiten des Körpers nur abbildet oder vielmehr solche Sinnzuschreibungen allererst produziert, bleibt unentscheidbar. Deutlich wird, dass in den Rhetoriken ein kulturhistorisches Körperzeichen-Programm festgelegt wird, das den Körper als Zeichenträger einsetzbar und lesbar macht.93 Mit dem Begriff ›Programm‹ soll – mehr als mit dem neutraleren Begriff ›Katalog‹ – auf die normative Vorgehensweise der Rhetoriken verwiesen werden. Nicht nur die Vielzahl der inventarisierten Gesten ist bemerkenswert, sondern auch die zugleich stattfindende »Selbstbeschränkung, ja Minimalisierung der Bewegungsmöglichkeiten.«94 Denn mit der Beschreibung der zeichenhaften Verwendung von Gestik und Mimik geht eine Normierung derselben einher, die bestimmte Körperzeichen als passend und andere als unpassend markiert. Beispielsweise werden in der Institutio oratoria Bewegungen der Nase und der Lippen aufgezählt und mit einer Bedeutung versehen, anschließend jedoch als unpassend verworfen. Gesten werden mit der Begründung ausgeschlossen, dass sie – im Blick der Redelehrer beziehungsweise des Publikums – übertrieben, unanständig, despektierlich, komisch oder unmännlich wirken. Die Gestik richtet sich immer an ein bestimmtes Publikum – und sei es bloß ein imaginäres: »Die Funktion des Betrachters ist der Geste eingeschrieben.«95 Alexander Kuba sieht die Normativität der Gesten in der Antike bereits in der Etymologie des Begriffes gestus enthalten, der von gerere abgeleitet nicht nur ›machen, tragen, ausführen, eine Rolle spielen‹, sondern auch ›sich verhalten, sich betragen‹ bedeutet.96 Das Betragen wiederum verweist auf eine ethisch-moralische Dimension der Gestik. Eben diese Verknüpfung von actio und ēthos möchte ich aus einer gender-orientierten Perspektive in den Vordergrund rücken. Damit stellt sich die Frage, inwie-

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Dass mit der gleichzeitigen Konzeption der Gestik als einer ›Universalsprache‹ das Gegenteil behauptet wird, habe ich bereits erwähnt. Die Eigenheit der Geste scheint gerade in einem ›Dazwischen‹ der üblichen Dichotomien zu liegen: zwischen Unmittelbarkeit des Selbstausdrucks und Einbindung in ein kodifiziertes Zeichensystem, zwischen Authentizitätswillen und Situationsanspruch, zwischen Natur und der Dekonstruktion eines Natur-Körpers, zwischen Individualität und Determiniertheit des Habitus, wie der folgende Band vorschlägt: Margreth Egidi, Oliver Schneider, Matthias Schöning, Irene Schütze, Caroline Torra-Mattenklott, Riskante Gesten. Einleitung. In: Gestik. Figuren des Körpers in Text und Bild, hg. von Margreth Egidi u. a., Tübingen 2000, S. 11–41, S. 11. Vgl. ebd. für eine umfangreiche Diskussion des Forschungsstandes zur Gestik. Göttert, Geschichte der Stimme, S. 74. Alexander Kuba, Geste/Gestus. In: Metzler Lexikon Theatertheorie, hg. von Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch, Matthias Warstat, Stuttgart, Weimar 2005, S. 129–136, S. 130. Vgl. Kuba, Geste/Gestus, S. 129f.

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fern der Gestik und Mimik ein spezifisch männliches ēthos eingeschrieben ist. Noch bevor die sprachbegleitende Verwendung der Gestik im Redeverlauf beschrieben wird, weist die Rhetorica ad Herennium darauf hin, dass die Bewegungen des Körpers (Gestik und Mimik) »zum Vortragenden passen (pronuntianti conveniat)«97 müssten. Fraglich ist, wer diskursiv als Vortragende/r zugelassen ist und welche Gestik und Mimik als zu ihm/ihr passend erachtet wird. Eine Analyse der römischen Rhetoriken zeigt, dass die Gestik an den Körper des vir bonus gebunden wird, dessen Bewegungen sich explizit durch ihre Männlichkeit auszeichnen. Für den antiken Redner ist die Gestik damit nicht nur Mittel des Vortrags, sondern gleichzeitig ein Mittel der Selbstdarstellung als vir bonus. So heißt es bei Cicero, dass der Redeinhalt durch die Gestik nicht mimetisch gezeigt, sondern zeichenhaft angedeutet werden soll, und zwar »mit energischer, männlicher Körperhaltung (laterum inflexione hac forti ac virili) […], nicht nach Bühnen- und Schauspielerart, sondern im Stil der Waffenübung oder auch des Ringkampfs«98. Auch im Orator fordert Cicero, dass der Redner weder schlaff noch geziert aufzutreten habe, sondern sich »durch seine ganze Körperhaltung […] und durch eine männlich wirkende Art der Bewegung [ausdrücken] (trunco magis toto se ipse moderans et virili laterum flexione)« solle.99 Diese Aufforderung zu einer männlichen Performanz steht im Zusammenhang mit der Unterscheidung zwischen einer mimetischen Darstellung des Redeinhalts (demonstratio) und der Artikulation des Redeinhalts durch einen Zeichencode (significatio). Cicero zufolge dient der Körper nicht der Nachahmung des Redeinhalts, sondern wird als eigenständiger Code eingesetzt.100 Auch die energische, männliche Körperhaltung ist damit als rhetorisch einsetzbares Zeichen für Männlichkeit zu lesen. Mit diesem kulturellen Zeichencode müssen Redner und Publikum vertraut sein, damit die Gestik die erwartete Wirkung zeitigen kann. Die rhetorische Konzeption des Körpers in der actio-Lehre erweist sich damit als »Schauplatz von Geschlechterpolitik«101. Die actio-Lehre bringt einen männlichen, kämpferisch geübten, beherrschten und gemäßigten Körper und eine ebensolche Stimme hervor. Als Bewertungsmaßstab wird das decorum sowie das rechte Maß (moderatio) eingesetzt. Jegliche Übertreibung der Gestik gefährdet dagegen den würdevollen Auftritt des Redners: »In der Miene soll also Ehrgefühl und Energie zu erkennen sein, in der Gebärde soll man weder übertriebene Anmut (venustas)

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Rhet. Her. III, 26. Cic. De or. III, 220. Cic. Or. 18, 59. Thomas Schirren erklärt Ciceros Differenzierung von demonstratio und significatio so, dass »der Körper wie auch die Sprache nicht als ein analoges Zeichensystem fungieren dürfen (im Falle der Sprache wäre das onomatopoietisch), sondern als digitaler Kode (im Sinne Flussers)«. Schirren, Rhetorik des Körpers (actio I), S. 675. Vgl. Vilém Flusser, Kommunikologie, Mannheim 1996. Strowick, Sprechende Körper – Poetik der Ansteckung, S. 84. Vgl. Gödde, Actio – Stimme – Körper, S. 244f.

noch Häßlichkeit erblicken, damit wir nicht den Eindruck von Schauspielern oder Tagelöhnern erwecken.«102 Das rechte Maß lässt sich nur durch die Darstellung von Extremen bestimmen. Dies geschieht durch die Abgrenzung von nicht rhetorikfähigen Subjekten wie Schauspielern, Ausdruckstänzern (Pantomimen), Komödianten, Tagelöhnern oder Barbaren. Übertretungen des rechten Maßes bedrohen in beiden Richtungen die Geschlechtsidentität und den Status des idealen Redners: Die allzu trainierte, exaltierte, stilisierte Gestik wie die des Schauspielers wird genauso als ›unmännlich‹ codiert wie die große Untrainiertheit, Rauheit oder Hässlichkeit der Gestik.103 Das dem vir bonus zugeschriebene Wirkungsziel, das durch die Gestik und Mimik erreicht werden soll, ist in erster Linie die Vermittlung eines würdigen Eindrucks. Dies ergibt die Lektüre von Ciceros Brutus, der in seiner kleinen Geschichte antiker Redner einen lebendigen Eindruck der rednerischen Praxis vermittelt. Es zeigt sich, dass die actio in Bezug auf die Gestik besonders die Würde (dignitas) des Redners ausstellt, wobei diese Würde dem orator nicht notwendigerweise eigen sein muss, sondern erst im Redeauftritt herzustellen ist. Neben der Würde ist es die – niemals übertriebene – Anmut (venustas), die die Gestik auszeichnet.104 In Bezug auf die Stimme herrscht dagegen der Glanz (splendor) als herausragendes Merkmal vor – bemerkenswerterweise ja eine visuelle Metapher. Zu Publius Lentulus heißt es, »seine Langsamkeit im Denken und Sprechen wurde verdeckt durch die Würde seiner Erscheinung (dignitas), durch seine Bewegung voll Kunst und Anmut (ars et venustas), durch den Reiz und die Kraft seiner Stimme (suavitas et magnitudo)« (Cic. Brut. 235). Gnaeus Pompeus’ »Vortrag zeigte in der Stimme großen Glanz (splendor), in der Gestik größte Noblesse (dignitas)«.105 Von Marcellus berichtet Cicero, dass »durch den vollen Klang seiner Stimme (splendor), durch die Würde (dignitas) seiner Gebärden […] alles, was er sagt, Ansehen und Glanz (speciosum et illustre) [gewinnt]«.106 Und von dem berühmten Sulpicius schreibt Cicero: »Seine Stimme war stark, aber zugleich auch von angenehmem, strahlendem Timbre (magna tum suavis et splendida). Seine Gesten und Körperbewegungen zeigten eine Anmut (venustas), die jedoch für das Forum, nicht für die Bühne gemacht schien.«107 Während dignitas durchgehend als positives Merkmal des männlichen Erscheinungsbildes verwendet wird, ist die venustas problematischer. Hier muss zwischen

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Rhet. Her. III, 26. Vgl. Gödde, Actio – Stimme – Körper, S. 244f. Während Gödde vor allem darauf hinweist, dass die Extreme ›weiblich‹ konnotiert seien, möchte ich hier außerdem die These von Joseph Roisman stark machen, der gezeigt hat, dass die Darstellung der Extreme konkurrierende Arten von Männlichkeit produziert. Vgl. Kapitel III.3.2. In De oratore charakterisiert Cicero das Ziel des letzten Produktionsstadiums, würdevoll und elegant vorzutragen (agere cum dignitate ac venustate)« (Cic. De or. I, 142). Cic. Brut. 240. Brut. 250. Brut. 203.

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der schauspielerischen und der rednerischen venustas unterschieden werden, wobei erstere, wie sich in anderen Kontexten zeigt, als zu übertrieben, weich, lieblich und geschlechtlich uneindeutig für den Redner unangemessen erscheint.108 Mit seiner Gestik und Mimik zeigt der Redner nicht (nur) auf etwas anderes, beispielsweise auf einen empörenden Sachverhalt, sondern ›auf sich selbst‹ als rechtschaffenen, aufrechten, würdigen Mann. Eben diese ethische Dimension der Gestik, die eine Verknüpfung von männlichem Körper, ästhetischer Bewegung und Würde beinhaltet, wird problematisch, betreten Frauen die Redner-Bühne.109 Der Gestik und Mimik wird in der alten Rhetorik nicht nur eine sprachbegleitende Funktion zugeschrieben, die dazu dient, die Rede in ihrem sich steigernden Verlauf zu unterstützen und insbesondere starke Affekte zu vermitteln. Parallel dazu dient die Gestik, wie betont, grundsätzlich zur Selbstdarstellung des vir bonus, der sich durch eine angemessene, moderate und würdige Weise des Auftretens zu erkennen gibt. Die Zeichen der Männlichkeit richten sich an ein Publikum, das der Geste immer eingeschrieben ist. Verbunden mit der Gestik ist außerdem eine gewisse Exponiertheit, ist doch der Redeauftritt an den öffentlichen Raum gebunden und auf visuelle Wahrnehmung angewiesen. Indem die Bewegungen des Körpers den Bewegungen des Geistes/der Empfindungen zu folgen scheinen,110 sollen sie die innere Haltung des Redners evident machen. Affekte fallen dem Publikum buchstäblich ins Auge: Über eine visuelle Übertragung dringen sie ins Innere des Publikums. Einerseits erscheint die actio so wirkmächtig, weil die Bewegungen des Körpers scheinbar unvermittelt denen des Geistes folgen und wiederum das Publikum bewegen. Andererseits betont die Rhetoriklehre den erlernbaren technischen Einsatz der Körperzeichen. So werden konventionelle Zeichen (und zwar auch die der Geschlechtszugehörigkeit) produziert und mit dem Hinweis auf eine anthropologische Universalität legitimiert. III.2.3 Kleidung Quintilian hat als erster der antiken Rhetoriker die Kleidung (cultus) in die Konzeption der actio ausführlich mit einbezogen und sie als ein eigenes Zeichensystem entworfen, in dem die Inszenierung der Kleidungsstücke, ihre Anordnung und Unordnung lesbar werden. Der Kleidung kommen in der actio mehrere Funktionen zu: Ihre Inszenierung muss die Männlichkeit, Ehrbarkeit und den sozialen Status

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Vgl. zur venustas Kapitel III.4.4. Würde, Anmut und Glanz bleiben bis ins 18. Jahrhundert der Rhetorik als zentrale Wirkungsziele des idealen Redners eingeschrieben. Doch während die schon in der Antike in Bezug auf die Geschlechtsidentität problematische Kategorie der ›Anmut‹ im 18. Jahrhundert zunehmend weiblich codiert wird, bleibt die ›Würde‹, diese für das Gelingen des Redeauftritts vorherrschende Kategorie, dem Mann vorbehalten. Vgl. Kapitel IV.5.4 und IV.5.5. Vgl. Cic. De or. III, 222.

des Redners sichtbar machen, und im Verlauf der Rede muss sie im Zusammenspiel mit Gestik und Stimme die Affekte des Redners zeigen. Außerdem ist die Metaphorik der Kleidung maßgeblich für die Beschreibung der Rhetorik insgesamt, die nach Cicero Dinge in Worte kleidet. Dabei wird immer auch die Angemessenheit, Männlichkeit und Moderatheit der Kleidung eingefordert und der unangemessenen weiblichen Putz- und Schminkkunst gegenüber gestellt. Quintilian beschreibt ausführlich, wie sich der Redner korrekt zu kleiden hat, wie Länge, Faltenwurf und Sitz der Tunika und Toga zu handhaben sind, wie das Haar zu tragen ist. Im Kontrast etwa zu der Kleidung von Zenturionen wird deutlich, dass dies – in Anlehnung an heutige Rhetorikratgeber – durchaus als uniforme Berufskleidung zu lesen ist. Die Kleiderordnung folgt der zeitgenössischen Mode, die Quintilian in ihrer historischen Veränderlichkeit beschreibt.111 Die Mode impliziert Regeln der Standesdistinktion, indem etwa nicht jeder das Recht hat, den breiten Purpurstreifen zu tragen, sowie der Geschlechterdistinktion.112 Das rechte Maß der Kleidung wird durch die beiden Extreme der zu großen Sorgfalt auf der einen und der Vernachlässigung auf der anderen Seite gesetzt.113 Eine zu sorgfältige, verschwenderische Kleidung – etwa zu viele Ringe – wirkt Quintilian zufolge unmännlich und eine nachlässige Attitüde ehrlos. Stattdessen soll die Kleidung Ehrbarkeit, Würde und Männlichkeit demonstrieren: »Der gepflegte Anzug hat beim Redner keine Besonderheiten, aber er fällt beim Redner mehr ins Auge (conspicitur). Deshalb sei er, wie es bei allen ehrbaren Männern sein muß, gediegen und männlich (splendidus et virilis).«114 Dass die Kleidung in der exponierten Situation der Rede vor Publikum besonders ins Auge fällt, weist noch einmal auf die Relevanz des Visuellen in der römischen Rhetorik hin und erklärt für Quintilian die Notwen-

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Je nach Mode ist das Gewand länger oder kürzer und erlaubt die Kleidung bestimmte Bewegungen in der actio, grenzt aber vor allem andere ein. Während der Redner in Griechenland einen Arm im Gewand stecken hatte (vgl. Quint. Inst. XI, 3, 138), hielten die römischen Redner mit einem Arm den Bausch der Toga ruhig. Dies erlaubt ausholende Gesten nur mit dem anderen, dem rechten Arm. Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit durch die Toga ist damit zugleich ein Zeichen der Oberklasse, sich keiner produktiven Arbeit widmen zu müssen. Vgl. Fantham, Quintilian on Performance, S. 250f. Vgl. Quint. Inst. XI, 3, 138. Die Kleidung als Teil der Demonstration von Reichtum unterlag im antiken Rom expliziten – geschlechterdifferenzierten – Gesetzen, wie z. B. der Lex Oppia, die (im Zuge der verheerenden militärischen und finanziellen Lage Roms im Krieg gegen Hannibal 215 v. Chr.) den Frauen – und nicht den Männern – untersagte, Kleidung mit Purpurbesatz zu tragen und in bestimmten Gegenden mit dem Wagen, einem besonderen Statussymbol, auszufahren. Vgl. Sarah B. Pomeroy, Frauenleben im klassischen Altertum, Stuttgart 1985, S. 272. Cheryl Glenn sieht hierin eines von vielen Gesetzen und Geboten, die römische Frauen unterdrücken und aus der öffentlichen, und damit auch rhetorischen Sphäre fernhalten. Vgl. Cheryl Glenn, Rhetoric Retold. Regendering the Tradition from Antiquity Through the Renaissance, Carbondale, Edwardsville 1997, S. 62. Vgl. Quint. Inst. XI, 3, 137. Quint. Inst. XI, 3, 137.

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digkeit einer sorgfältigen Inszenierung von Kleidung. Diese Inszenierung wiederum lenkt den Blick des Publikums. Kleidung betont bestimmte Orte des Körpers, hebt sie hervor, verleiht ihnen eine Bedeutung und verhüllt andere. Der männliche Körper wird durch die Kleidung konturiert: »Die Schulter aber darf nicht samt der ganzen Kehle [von der Tunika] bedeckt werden, sonst wird der Überwurf eng und verliert sein würdevolles Aussehen, das auf der breiten Brust beruht.«115 Der Blick des Publikums kann überaus effektvoll gelenkt werden, wenn das verhüllende Gewand zerrissen wird und gleich einem aufgehenden Vorhang eine narbenversehrte Brust, Zeichen des ehrenvollen Kampfes für Rom, freilegt. Der Akt des Zerreißens der Kleidung ist als Zeichen höchster innerer Bewegung lesbar und das Publikum ob dieser Inszenierung extrem bewegt, wie Cicero berichtet: Da freilich spürte ich die starke Ergriffenheit der Richter, als ich den gramgebeugten Greis aufstehen hieß und das tat, was du, Crassus, rühmst: Nicht nach der Regel einer Kunst, von der ich nichts zu sagen wüßte, sondern aus echter, schmerzlicher Bewegung zerriß ich seine Tunika, um seine Narben den Blicken darzubieten.116

Während der nackte Körper, der als sichtbares Zeichen des Kampfes und der Verwundung Narben aufweist, für die ultimative evidente Wahrheit steht, verschafft die Kleidung beziehungsweise das scheinbar ungeplante Zerreißen der Kleidung, dieser Wahrheit erst eine Bühne. Die Zeichenhaftigkeit der Kleidung fällt bereits ins Auge, bevor der Redner zu seiner Rede angesetzt hat, wenn er mit würdevoller, geordneter Kleidung erscheint. Im zeitlichen Verlauf der actio gerät die Ordnung der Kleidung jedoch in eine absichtliche Unordnung. Quintilian entwirft die Kleidung als eine eigene ›Vortragsart‹, einen selbstständigen Teil der actio, die den einzelnen partes orationis jeweils angemessen sein muss. Im Lauf des Vortrags bewegt sich die Kleidung und verrutscht gezielt mit zunehmender affektiver und körperlicher Bewegung: Mit der linken Hand darf man [den Bausch der Toga] von der Kehle und dem Brustansatz wegnehmen; denn schon hat die Glut alles erfasst. Und wie die Stimme heftiger wird und abwechslungsreicher im Ton, so hat auch der Überwurf seine Vortragsart wie im Handgemenge des Kampfes.117

Wenn am Ende des Vortrags die Kleidung verrutscht, der Redner verschwitzt und die Haare wirr sind, so muss dies den Anschein der Unabsichtlichkeit bewahren und erzielt so den erwünschten Effekt einer Achtlosigkeit gegenüber Äußerlichkeiten in völliger Hingabe an die Affekte: »auch der perlende Schweiß, die Erschöpfung, die Unordnung im Überwurf und das Flattern der Toga, als wenn sie überall

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Quint. Inst. XI, 3, 141. Cic. De or. II, 195; vgl. De or. II, 124. Quint. Inst. XI, 3, 145.

ihren Halt verlöre«118 sind dann erlaubt. Die Bewegung der Kleidung wird zum Zeichen der inneren Bewegtheit. Wird in Quintilians Ausführung über die Kleidung als Teil der actio besonders beschrieben, wie der männliche Körper durch die Kleidung konturiert und lesbar wird, erlaubt die metaphorische Verwendung der Kleidung einen Einblick in die Konzeption des weiblichen Körpers und seiner Kleidung. Die Bekleidungsmetaphorik für die sprachliche Gestalt der Rede ist in der Nachfolge Ciceros topisch: Die Gedanken müssten in Worte gekleidet werden.119 Die Rede erhält in dieser Metaphorik selbst einen Körper, der bekleidet wird, und dies ist – zumeist – ein weiblicher Körper. Allerdings steht vor allem der weibliche Körper unter dem topischen Verdacht der Putz- und Schminkkunst, der Verschwendung und Fälschung, wie in Platons Gorgias deutlich wird.120 Ist die Bekleidungsmetaphorik gerade für den üppigen Redeschmuck im asianischen Stil häufig, greift Cicero jedoch auf die Metaphorik der weiblichen Kleidung auch für die Beschreibung des schlichten Stils zurück: Denn so, wie man von manchen Frauen sagt, sie seien nicht zurechtgemacht, und ihnen gerade das gut steht, so findet diese schlichte Redeweise auch ohne Kunst Gefallen. In beiden Fällen gibt es nämlich etwas, das den Reiz erhöht, doch ohne dass es in Erscheinung tritt. Da wird man jeglichen auffallenden Zierrat, wie Perlenschmuck, verbannen, man wird nicht einmal Lockenwickel verwenden. Erst recht wird man sämtliche Mittel künstlichen weißen oder roten Teints verschmähen, es wird nur Eleganz und Feinheit bleiben. Die Sprache wird rein und korrekt sein, die Aussprache klar und deutlich, man wird sorgfältig darauf achten, was angemessen ist.121

Cicero entwirft hier eine Frau, die ›nicht zurechtgemacht‹, ungeschmückt (inornata) ist und in dieser Definition ex negativo nur vor der Folie einer zurechtgemachten Frau funktioniert. Die Differenz, das, was ›nicht in Erscheinung tritt‹, wird mitgedacht und die ungeschmückte Frau damit nicht als kunstlose, ›natürliche‹ Frau lesbar, sondern als eine, die die Kunst des Verzichts wirksam inszeniert. III.2.4 Leitdifferenz angemessen/unschicklich: Decorum Die actio-Lehre beschreibt, wie der Redner seinen Körper als Zeichen einzusetzen hat, um eine bestimmte Bedeutung zu übermitteln und eine spezifische Wirkung zu erzielen. Dabei steht in der Antike »weder in der Redekunst noch in anderen Kunstgattungen Originalität hoch im Kurs«, bemerkt Øivind Andersen.122 Auch für die actio ist nicht die Originalität, sondern die Konventionalität der körpersprachlichen Zeichen maßgeblich. Die actio eines Redners unterliegt Konventionen, 118 119 120 121 122

Quint. Inst. XI, 3, 147. Vgl. Cic. De or. I, 142. Plat. Gorg. 464 b3–465 e2. Cic. Or. 78f. Andersen, Im Garten der Rhetorik, S. 93.

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die regeln, was für wen, wann, wo, vor wem und mit welchem Ziel ›angemessen‹ und ›schicklich‹ ist. Dieses relationale und situative Wissen wird mit den Begriffen prépon im Griechischen und aptum, decorum oder proprium im Lateinischen belegt, die ›angemessen sein‹, ›passend‹, ›schicklich‹ und ›sich ziemend‹ bedeuten.123 Ausgehend von meiner Grundannahme, dass das ›Angemessene‹ weder ahistorisch noch geschlechtsneutral bestimmt werden kann, stellt sich die Frage, wie das decorum die Zeichenproduktion der actio reguliert und welche Bedeutung das decorum für die Wahrnehmung männlicher und weiblicher (Körper-) Rede hat. Der Redeauftritt ist dann ›passend‹ (aptum), wenn er sich »dem, wovon wir sprechen, anpaßt«.124 Das decorum bestimmt aber auch, wie die Rede in ein angemessenes Verhältnis zu den außersprachlichen Rahmenbedingungen gebracht wird, die die Rhetorik zu klassifizieren und auf das relationale Wissen zurück zu beziehen versucht. So kann zwischen einem ›inneren‹ und einem ›äußeren‹ aptum unterschieden werden: Während das innere aptum den Gegenstand und die Art der Rede darüber reguliert, verlangt das äußere aptum die Anpassung von Haltung, Gestik und Mimik an die körperlichen Eigenheiten, den Stand, das Alter und nicht zuletzt das Geschlecht des Redners, an die Größe des Raums und die Erwartungshaltung des Publikums sowie die Statusrelation zwischen Redner und Publikum. Das decorum ist gegeben, wenn etwas nicht nur innerhalb eines bestimmten Rahmens, sondern auch von einem bestimmten Standpunkt aus – im Blick der ›Gesellschaft‹ oder eines spezifischen Publikums – als ›passend‹ betrachtet wird.125 Das decorum kann damit als Bindeglied zwischen relationalem und situativem Wissen verstanden werden.126 Damit ist die Angemessenheitsregel gerade in Bezug auf die Kategorie ›Geschlecht‹ relevant, denn das decorum regelt auch das ideale Verhältnis zwischen der Redeweise und dem Geschlecht des Redners/der Rednerin. Es ist die Verknüpfung

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Vgl. ausführlich zur semantischen Differenzierung: Ursula Mildner, Decorum. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 2, Tübingen 1994, Sp. 423–451, Sp. 423f. Jan Dietrich Müller weist dem bislang kaum analysierten Konzept des decorum eine zentrale Rolle in der Rhetorik von ihren Anfängen bis Castiglione zu: Müller, Decorum. Konzepte von Angemessenheit in der Theorie der Rhetorik von den Sophisten bis zur Renaissance, Berlin, Boston 2011. Quint. Inst. XI, 3, 61. Vgl. ausführlich zu Quintilians Konzeption des aptum in der actio: Fantham, Quintilian on Performance, S. 251. Vgl. Mildner, Decorum, Sp. 423. Jürgen Fohrmann sieht die »Verschränkung von relationalem und situativem Wissen« als eine spezifische Leistung der ›alten Rhetorik‹. Jürgen Fohrmann, Vorbemerkung. In: Rhetorik. Figuration und Performanz, hg. von Jürgen Fohrmann, Stuttgart, Weimar 2004, S. VII-X, S. VIII. Dieses »Wissen« teilt Cicero in die »Fähigkeit, das Angemessene zu tun«, die von der Begabung, Übung und Kunstfertigkeit abhängt und »das Wissen um das, was jeweils das Angemessene ist«, das aus einer praktischen Klugheit resultiert. Quintilian zufolge kann dieses Wissen durchaus emotionaler Art sein: Da es kein feststehendes Maß der Angemessenheit gebe, müsse das decorum eher »gefühlsmäßig« erfasst werden (Quint. Inst. XI, 1, 91).

von rhetorischer Angemessenheit und ethischer Schicklichkeit, die das decorum zu einem überaus wirkungsvollen Instrument macht, das nicht nur über den Erfolg einer Rede, sondern auch über die soziale Anerkennung des Redners (oder der Rednerin) entscheidet. Zumal in Bezug auf die actio kommt dem decorum eine enorme Bedeutung zu, da, wie Quintilian hervorhebt, »gerade beim Vortrag das Schickliche besonders ins Auge fällt«127 – es am Rednerkörper sichtbar wird. Im Redeauftritt zeigt sich der Redner so, wie er selbst erscheinen will, er nutzt sein ēthos als rhetorisches Überzeugungsmittel.128 Umso wichtiger ist es, in den Augen des Publikums das ethische decorum zu wahren, denn »nichts kann gefallen, was sich nicht in den Grenzen des Schicklichen hält«129. Die Regulierung der Rede durch das decorum erfolgt durch den Entwurf von Kontrasten zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig. Das rechte Maß (modus) ist immer eines der Mitte, der Mäßigung und Beherrschung. Durch die kontrastive Beschreibung der Ränder des rechten Maßes wird ein Urteil über das, was angemessen oder unangemessen ist, allererst gebildet. Dementsprechend kommt dem decorum konstituierende Wirkungskraft zu – es beschreibt nicht nur gesellschaftliche Konventionen, es bildet sie allererst. Damit hat das decorum neben der normativen auch eine produktive Relevanz. Die alte Rhetorik versucht, dieses rechte Maß als ein gesellschaftlich verbindliches zu formulieren und fordert damit ein den bestehenden Konventionen entsprechendes Handeln des Redners ein. Das decorum erhält seine von den Rhetoriken mehrfach beschworene soziale Verbindlichkeit erst durch seine kontinuierliche zitierende Wiederholung. Die Grenzen des decorum sind markiert durch die Rede von unpassenden, lächerlichen Subjekten. Eine Abweichung oder, wie bereits gesagt, ›Originalität‹ des Redners ist nicht vorgesehen. Trotzdem wäre es falsch, so Clemens Ottmers, »das aptum als eine Angemessenheitsregel zu betrachten, die ausschließlich normerhaltenden oder normverstärkenden Charakter besitzt. Gerade das Durchbrechen bestimmter Normvorstellungen, gesellschaftlicher Erwartungshaltungen oder intellektueller Positionen kann ja durchaus Ziel der Redeintention sein.«130 Der Redner müsse sich nur der Regeln bewusst sein, um gegen diese gezielt und – entsprechend rhetorisch gewappnet – anzurennen. Diese – in Bezug auf eine Gegenwartsrhetorik gerade auch für Frauen produktive – These findet allerdings in der alten Rhetorik kaum eine Textgrundlage. Vielmehr werden Sanktionen bei einer Übertretung des decorum in Aussicht gestellt: Lächerlichkeit und soziale Abwertung. Damit ist das decorum weniger einer ›Verhaltensempfehlung‹ ähnlich, sondern eher einem Verbot, das zwischen regelhaften und abweichenden Rednern unterscheidet, also Subjektpositionen hervorbringt und andere verwirft.

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Quint. Inst. XI, 3, 177. Vgl. Cic. Brut. 142. Quint. Inst. I, 11, 11. Ottmers, Rhetorik, S. 153f.

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Mit Foucault kann das decorum, meine ich, als ein Ausschließungssystem, das die Produktion von Aussagen regelt, begriffen werden. Das »sichtbarste und vertrauteste« der Ausschließungssysteme ist nach Foucault das Verbot: Man weiß, daß man nicht das Recht hat, alles zu sagen, daß man nicht bei jeder Gelegenheit von allem sprechen kann, daß schließlich nicht jeder beliebige über alles beliebige reden kann. Tabu des Gegenstandes, Ritual der Umstände, bevorzugtes oder ausschließliches Recht des sprechenden Subjekts – dies sind die drei Typen von Verboten, die sich überschneiden, verstärken oder ausgleichen und so einen komplexen Raster bilden, der sich ständig ändert.131

Die Rhetorik formuliert dieses Verbot explizit: Denn nicht jede Lebensstellung, nicht jedes Ehrenamt, nicht jede Autorität, nicht jedes Lebensalter, aber auch nicht jeder Ort, jeder Zeitpunkt, jedes Publikum ist mit derselben Art von Worten oder von Gedanken zu behandeln, und in jedem Abschnitt der Rede wie des Lebens ist zu beachten, was sich ziemt (quid deceat); das hängt zum einen von der Sache ab, um die es geht, zum anderen von der Person sowohl derjenigen, die reden, als auch derer, die zuhören.132

Nähert man sich mit Foucaults Begrifflichkeit der Rhetorik, wird die diskursive – und das heißt historisch und räumlich jeweils zu unterscheidende – Ordnung deutlich, die Subjektpositionen sowohl verbietet als auch produziert. Was als angemessene Rede erscheint, kann weder ahistorisch noch geschlechtsneutral bestimmt werden, sondern nur in einem diskursiven Rahmen. Wenn das decorum das Verhältnis von Regel und Abweichung beschreibt, dann ist die Frage, welche Rolle Abweichungen von der Norm spielen, welche Handlungsfreiräume dem Subjekt offen stehen und welches decorum für Rednerinnen in der Antike Geltung hat. Finden absichtliche – nicht solche aus Dummheit, Unwissenheit, Dreistigkeit, Ungestüm, Nachlässigkeit oder mangelndem Schamgefühl begangene – Übertretungen des decorum von männlichen Rednern in den antiken Rhetoriken so gut wie keine Beschreibung,133 gilt der Redeauftritt einer Frau an und für sich als Überschreitung der Grenzen des decorum.

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Foucault, Die Ordnung des Diskurses, S. 11. Cic. Or. 71. Eine Ausnahme ist das von Cicero und Quintilian erwähnte Beispiel P. Rutilius Rufus, eines untadeligen, der Philosophie ergebenen Mannes, der sich unschuldig vor Gericht sieht und sich »ohne Aufwand, schlicht und klar«, nach dem »Grundsatz der Wahrhaftigkeit« verteidigen will (Cic. De or. I, 229). Die Situation einer Verteidigung vor den Richtern hätte jedoch ein anderes Vorgehen als angemessen vorgesehen: »So aber ging ein solcher Mann verloren, während seine Sache in einer Art vertreten wurde, als fände die Verhandlung in jenem Idealstaat Platons statt. Da seufzte niemand, keiner der Anwälte rief um Hilfe, niemand fühlte Schmerz, niemand beklagte sich, niemand bat flehentlich den Staat um seinen Schutz, niemand fiel auf die Knie […], [n]iemand stampfte damals während des Verfahrens mit dem Fuße auf« (Cic. De or. I, 230). Gerade die unangemessene actio scheint hier zu der Verurteilung von Rutilius beigetragen

Das Beispiel einer Frau, die sich entgegen den Konventionen des decorum als Rednerin betätigt und deren Redeauftritte in der Öffentlichkeit dementsprechend als unangemessen, ja als unanständig bewertet werden, ist Gaia Afrania. Valerius Maximus berichtet in Denkwürdige Taten und Worte von der Senatorengattin, die sich »weder durch ihre natürliche Bestimmung noch aus Rücksicht auf ihren vornehmen Stand«134 zum Schweigen bringen lässt, sondern öffentlich auf das Forum tritt. Sie sei »auf Prozesse ganz versessen und redete vor dem Prätor immer für sich selber, nicht weil es ihr an Rechtsbeiständen fehlte, sondern weil sie kein Schamgefühl (impudentia) kannte«135. Auf dem Forum ist es jedoch unüblich (inusitatus), dass Frauen als Rednerinnen auftreten. In diesem Rahmen wird Afranias Stimme als tierisches »Gebelfer« (latratus) wahrgenommen. Valerius Maximus stellt Afrania als den Inbegriff der Schamlosigkeit dar und erklärt ihren Namen zum Schimpfwort für alle Frauen mit schlechtem Charakter. Signifikant ist, dass Valerius Maximus weder die Qualität noch den Inhalt oder Erfolg von Afranias Reden erwähnt. Einzig die Tatsache, dass Afrania öffentlich redet, scheint so gegen das decorum zu verstoßen, so ungeheuerlich und widernatürlich, dass er sie als Monster (monstrum) bezeichnet. Das Monster, die öffentlich als Rednerin auftretende Frau, kann als eine Figur gelesen werden, die die Grenze des decorum markiert, indem sie diese durch ihre Überschreitung sichtbar macht. Die Genderspezifik des decorum lässt sich auf die These zuspitzen, dass die Geschlechterdifferenz in der alten Rhetorik der metaphorische Bereich schlechthin ist, an dem das decorum überhaupt ausgehandelt wird. Der Unterschied zwi-

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zu haben. Die ganze Anekdote weist auf die Situativität der Rhetorik hin, die nicht einem ›Idealstaat‹, sondern einem gegebenen gesellschaftlichen Rahmen ›angemessen‹ sein muss. Ein weiteres, in diesem Zusammenhang genanntes Beispiel ist das des Sokrates, der es ebenfalls ablehnte, sich vor Gericht ›rhetorisch angemessen‹ zu verteidigen, sogar eine vorformulierte Verteidigungsrede des ihm zu Hilfe kommenden Lysias nicht annahm, weil er nur Tatsachen sprechen lassen wollte, anstatt um Wohlwollen und Gnade zu bitten. Die Richter jedoch, aufgebracht über sein ›unangemessenes‹, anmaßendes Verhalten verurteilten ihn – den Unschuldigen – zum Tode (vgl. Cic. De or. I, 231). Während Cicero hier deutlich macht, dass es sich um ein unterschiedliches decorum des Philosophen Sokrates und des Sophisten Lysias beziehungsweise der Richter handelt und dass Sokrates sich vor Gericht hätte ›anpassen‹ müssen, sieht Quintilian in einer »moralistischen Schwerpunktverlagerung« (Quint. Inst. XI, 1, 9ff., Anmerkung 7) darin den Sieg dessen, was sich geziemt über das, was nützlich ist. In jedem Fall macht die Anekdote deutlich, dass ein Redner, der sich in der gegebenen Redesituation – einer Verteidigungsrede vor Gericht im Athen des 5. Jahrhundert – rhetorisch nicht ›passend‹ verhält, von der Gesellschaft ausgeschlossen werden kann und wird. Valerius Maximus, Facta et dicta memorabilia/Denkwürdige Taten und Worte, lat.-dt., übers. und hg. von Ursula Blank-Sangmeister, Stuttgart 1991, VIII, 3, S. 231. Gaia Afrania [auch Carfania] war die Ehefrau des Senators Licinius Bucco und lebte im 1. Jahrhundert v. Chr. Vgl. Bernhard Kytzler, Frauen der Antike. Von Aspasia bis Zenobia, 3. Aufl., Düsseldorf 2005, S. 44f. Vgl. auch Glenn, Rhetoric Retold, S. 70. Val. Max. VIII, 3.

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schen Mann und Frau erscheint in der Antike derartig evident – im Sinne einer vor Augen stehenden, offenkundigen und unhinterfragbaren ›Wahrheit‹ –, dass er dafür prädestiniert ist, das decorum als ein Maß der Differenz zu erläutern, das für unterschiedliche Subjekte unterschiedliche Regeln geltend macht. So nutzt schon Aristoteles in seiner Poetik die Geschlechterdifferenz zur Beschreibung der Angemessenheit in der Charakterdarstellung: Das zweite Merkmal [des Charakters neben Tüchtigkeit, Ähnlichkeit und Gleichmäßigkeit] ist die Angemessenheit. Eine Frau kann nämlich tapfer von Charakter sein, aber es ist nicht angemessen, dass sie in derselben Weise tapfer oder energisch ist wie ein Mann.136

Und auch Quintilian erläutert das decorum der Rede metaphorisch anhand der Geschlechterdifferenz: Wie ja mit Halsketten, Edelsteinen und langen Kleidern, wie es zum Schmuck der Frauen gehört, Männer verunstaltet würden (ut deformentur), und die Tracht des triumphierenden Feldherrn, die doch an Herrlichkeit alles Erdenkliche übertrifft, für die Frauen nicht passte (nec deceat).137

Die Wirkmächtigkeit des decorum-Konzepts liegt nicht zuletzt darin begründet, dass Cicero den Geltungsbereich des decorum auf den gesamten Bereich nichtsprachlichen Verhaltens und Handelns ausdehnt – wo er noch in der frühneuzeitlichen Anweisungsliteratur zur Verwendung kommt.138 In De officiis verknüpft Cicero das Schickliche (decorum) unlösbar mit dem Ehrenhaften (honestum), wobei das Schickliche die äußere, sichtbare Seite des Ehrenhaften darstellt.139 Gerade auch die Haltung und Bewegung des Körpers zeigt insofern die Schicklichkeit an – nicht nur während der Rede: »Haltung, Einhergehen, Sitzen, Liegen, Mienenspiel, die

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Arist. Poet. 15. Zit. n. Aristoteles, Poetik, übers. und hg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982. Quint. Inst. XI, 1, 3. Vgl. dazu Barbara Bauer, Aptum, Decorum. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. von Klaus Weimar u. a., Bd. 1, Berlin, New York 2007, S. 115–119, S. 115. Karl-Heinz Göttert zufolge wird die Lehre des decorum im 18. Jahrhundert im Zuge der aufkommenden Autonomie-Ästhetik verabschiedet. In der heutigen Rhetorik zähle kein objektiv zu bestimmendes decorum mehr, sondern nur noch der »(subjektive) Geschmack«, meint Karl-Heinz Göttert, Einführung in die Rhetorik: Grundbegriffe – Geschichte – Rezeption, 3. Aufl., München 1998, S. 66. Dem entgegnend verweise ich gerade auf die Wirkmächtigkeit des decorum-Konzepts für den körperlichen ›Anstand‹, das in die Anstandsliteratur des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts einfließt (vgl. Kapitel IV.5.2). Nicht zuletzt in gegenwärtigen Populär-Rhetoriken finden sich, gerade was die körperliche ›Schicklichkeit‹ betrifft, jede Menge normativer Regeln, die auf das rhetorische decorum zurückgehen (vgl. Kapitel V.2.2). Vgl. Cic. De off. I, 93ff.; 126. Zit. n. Cicero, De officiis/Vom pflichtgemäßen Handeln, lat.-dt., übers. und hg. von Heinz Gunermann, Stuttgart 2007.

Augen und die Bewegung der Hände mögen jenes Schickliche einhalten.«140 Während dieses öffentlichen Auftretens »sind zwei Fehler besonders zu meiden: nichts soll sich weibisch oder unmännlich und nichts ungeschliffen und grobschlächtig ausnehmen (Quibus in rebus duo maxime sunt fugienda, ne quid effeminatum aut molle et ne quid durum aut rusticum sit).«141 Die geschlechtliche und soziale Abgrenzung gehört so zu den Grundvoraussetzungen ›schicklichen‹ Verhaltens. Während eine schickliche immer auch eine ›schöne‹ Darstellung birgt, differenziert Cicero zwischen »zwei Arten der Schönheit«, »deren einer die Lieblichkeit (venustas), der anderen die Würde (dignitas) zugehört, so müssen wir die Lieblichkeit der Frau, die Würde dem Manne für zukommend erachten.«142 Wenn, wie Cicero sagt, völlig »klar« ist, »daß nicht ein Stil für jeden Fall und jeden Hörer, für jede beteiligte Person und jede Situation geeignet ist«143, stellt sich aus einem gender-orientierten Blickwinkel die Frage, welche (Körper-) Rede die Rhetoriken für den Mann (und die Frau) als ›angemessen‹ markieren. Die geschlechtliche Codierung von Lieblichkeit/Anmut und Würde ist dabei von fundamentaler Relevanz für das decorum: Der angemessene Redeauftritt des Mannes hat grundsätzlich männlich und würdevoll zu wirken, während es fraglich ist, ob dem weiblichen, anmutigen Redeauftritt die gleiche Überzeugungskraft zugeschrieben werden kann.144 Über die Leitdifferenz von angemessen/unschicklich greift die Rhetorik Wissen über die Geschlechterdifferenz auf und schreibt es in Form von Regeln beziehungsweise in Form eines zu erwerbenden Erfahrungswissens, wie geschlechtsspezifisch ›angemessen‹ zu sprechen ist, fest. Vor diesem Hintergrund kann die Rhetorik nicht als eine geschlechtsneutrale (ebenso wenig wie eine standesneutrale) Theorie der Beredsamkeit verstanden werden, auch wenn die Geschlechterdifferenz so ›offenkundig‹ zweierlei Maß erfordert, dass sie manches Mal kaum der Rede wert erscheint. Vielmehr wird deutlich, dass in der Redepraxis auch Redegegenstand, Publikum und Redesituation – durch die Kategorie der Angemessenheit und ihre Anbindung an das Geschlecht des Redners/der Rednerin – geschlechtlich konnotiert werden. Die Kategorie des decorum regelt nicht nur, zu welchen Orten der Rede Frauen Zugang haben und zu welchen nicht (etwa zum Forum, wie das Beispiel der Gaia Afrania zeigt), sondern auch, wie sie ihre (Körper-) Rede in denjenigen Redesituationen ausrichten müssen, die sich für sie schicken, um überhaupt Gehör finden zu können. Rhetorisch ›angemessen‹ ist nur das, was zugleich ästhetischen Ansprüchen Genüge tut und sich in einem ethischen Sinne schickt. Nur wenn kulturhistorisch konkret erfragt wird, welche Körper-Zeichen in einem bestimmten gesellschaftlichen Rahmen und für eine bestimmte Kommunikationssituation

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Cic. De off. I, 128. Cic. De off. I, 129. Cic. De off. I, 130. Cic. De or. III, 210. Vgl. zu dieser Problematik das Kapitel IV.5.4 (insb. »Wie gefällt man allen? Fazit«).

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als rhetorisch ›angemessen‹ beschrieben werden und inwiefern diese geschlechtlich codiert sind, lassen sich Aussagen darüber treffen, ob und wie weibliche Rede (auch heute noch) überzeugen kann.

III.3 Das rhetorische Subjekt Die Rhetorik gilt als das älteste systematische Wissens- und Ausbildungsfach des Abendlands.145 Die Rhetoriken der griechischen und römischen Antike haben die Praxis der Rede wissenschaftlich beobachtet, daraus Regeln abgeleitet und pädagogische Methoden zu ihrer Vermittlung entwickelt. Ziel dieser Lehre ist die ›Produktion‹ rhetorisch ausgebildeter Subjekte, die sich – in Übereinstimmung mit herrschenden Normen und Werten – öffentlich Geltung verschaffen können. Zugang zu dieser Lehre hat – und pädagogisch erfasst wird – jedoch nicht jedermann, sondern nur der hochrangige Mann und Bürger. Roland Barthes beschreibt die alte Rhetorik insofern als »privilegierte Technik«: »Da die Sprache Macht bedeutet, hat man selektive Zugangsregeln zu dieser Macht erlassen und sie als Pseudowissenschaft errichtet, die denjenigen, ›die nicht sprechen können‹, verschlossen bleibt«.146 Barthes zeigt auch auf, wie ein Subjekt durch die rhetorische Erziehung allererst verfertigt wird: Man sieht, wie stark diese Pädagogik des Sprechen forciert: es wird von allen Seiten eingekreist, aus dem Körper des Schülers ausgestoßen, als gäbe es eine angeborene Sprechhemmung, als bedürfte es einer ganzen Technik, einer ganzen Erziehung, um aus dem Schweigen herauszukommen, als ob dieses endlich erlernte, endlich eroberte Sprechen eine gute ›Objekt‹-Beziehung zur Welt darstellte, eine gute Beherrschung der Welt, der anderen.147

Rhetorik stellt sich vor diesem Hintergrund als eine Bildungsmacht dar, die Subjekte durch die Sprache bildet. In diesem Kapitel soll auf die pädagogischen Techniken der ›Produktion‹ des rhetorischen Subjekts eingegangen werden. Hinter der Rhetorik steht ein – nachhaltig wirksames – Erziehungsparadigma mit dem Anspruch, ein redekundiges und zugleich redliches Subjekt zu formen, das ein verantwortliches, aktives Mitglied der Gesellschaft wird.148 Dass diese rhetorische Erziehung nicht nur die verbale Rede, sondern zugleich den Körper formt, führt zu meiner These, dass die Rhetorik als Körperbildungsmacht zu verstehen ist. Diese Körperbildung ist, so soll argumentiert werden, als ein performativer Vollzug zu verstehen,

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Vgl. Manfred Fuhrmann, Das systematische Lehrbuch. Ein Beitrag zur Geschichte der Wissenschaften in der Antike, Göttingen 1960; Peter Wülfing, Antike und moderne Redegestik. In: Der altsprachliche Unterricht, 1, 1994, S. 45–63, S. 47. Barthes, Die alte Rhetorik, S. 17. Barthes, Die alte Rhetorik, S. 29f. Vgl. Andersen, Im Garten der Rhetorik, S. 270f.

in dem in beständiger Wiederholung die ›angemessene‹ actio körperlich eingeübt, d. h. produziert und reproduziert wird. Durch diese wiederholte Aufführung einer an Konventionen und Vorbildern orientierten actio unter väterlicher Lehraufsicht konstituiert sich der Körper des vir bonus. Ich arbeite drei spezifische Übungspraktiken heraus, imitatio, declamatio und die sportliche exercitatio, anhand derer ich zeige, wie die Texte eine kontinuierliche Performanz einfordern, in der sich rhetorische Angemessenheit mit geschlechtlicher Eindeutigkeit verbindet. Als gesellschaftliche Praktik besteht die Rhetorik nicht nur aus den Rhetoriklehrbüchern, sondern, um die in diesem Kontext wichtigsten Elemente zu nennen, aus Rhetorikschulen, die das rhetorische Wissen vermitteln, aus Übungs-Deklamationen und nicht zuletzt der öffentlichen Praxis. Der überlieferte Ort dieser »Einführung ins öffentliche Leben«149 sind die Rhetorik-Handbücher, in denen väterlich auftretende Rhetoriklehrer ihr Wissen an Knaben und junge Männer weitergeben und damit »a whole cadre of young men« hervorbringen, die, einheitlich geschult und verbunden durch ihr gemeinsames Wissen, als Erwachsene die überlieferte Ordnung der Gesellschaft konservieren sollen.150 Diese Rhetorik-Handbücher spiegeln die Unterrichts-Praxis an den Rhetorikschulen, die eben nicht nur den »Ausgang des Menschen aus gesellschaftlicher Sprachlosigkeit«151 bewirken, sondern, wie vor allem von der amerikanischen Forschung beschrieben, als »a locus of gender construction, a place where manhood is contested, defended, defined, and indeed produced«152 funktionieren. III.3.1 Ars und natura Bevor auf das Redner-Ideal der alten Rhetorik und die pädagogischen Techniken, die diesen erzeugen, eingegangen wird, soll noch einmal grundlegend nach dem Verhältnis von ars und natura in der actio-Lehre gefragt werden. Seit sich die Rhetorik als téchnē/ars definiert, wird das Verhältnis von ars und natura als zentrales Problem verhandelt.153 Wird die Kunst der Rede als eine lehr- und lernbare konzipiert, stellt sich die Frage, inwiefern die Kunst der Natur bedarf beziehungsweise andersherum. In der actio-Lehre, die auf eine Ausbildung des Körpers zielt, wird diese Frage in besonderem Maße virulent: Welche Anteile der actio sind der natura, welche der ars geschuldet? Was für ein Körperbild liegt dem rhetorischen actioKonzept zugrunde? Und welche Rückschlüsse lassen die Aussagen über ars und natura auf die Konzeption der Kategorie ›Geschlecht‹ zu?

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Fuhrmann, Die antike Rhetorik, S. 9. Gleason, Making Men, S. 121. Knape, Was ist Rhetorik?, S. 33. Richlin, Gender and Rhetoric: Producing Manhood in the Schools, S. 90. Vgl. Florian Neumann, Natura-ars-Dialektik. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 6, Tübingen 2003, Sp. 139–171.

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Während sich Aristoteles in Bezug auf die hypókrisis nur knapp äußert und die »natürliche Begabung« des Redners für den gelungenen Redeauftritt verantwortlich macht,154 verhandeln die römischen Rhetoriker ausführlicher, ob die natürliche Begabung oder die Ausbildung in Bezug auf die actio wichtiger sei. Cicero und Quintilian teilen dabei der Natur eine »Hauptrolle«155 zu: Für die gelungene actio müsse natura die Stimme und einen wohlgebildeten Körper bereitstellen, der Rest sei erlernbare ars, so die antike Lehrmeinung. Beide unterscheiden zwischen solchen körperlichen Voraussetzungen, die von vornherein verhindern, dass ein guter Redner entsteht, und solchen, deren Anlagen ausbildungsfähig sind. Bestimmte Voraussetzungen seien nicht »mit Hilfe einer Technik zu erlangen«, sondern »Gaben der Natur«. Dazu zählen solche Anlagen, »die sicher mit dem Menschen selbst entstehen, seiner Zungenfertigkeit, dem Klang der Stimme, seiner Lunge und Körperkraft, einer gewissen Form und Bildung des Gesichts und Körpers insgesamt«156. Anhand der Technik werde »ein gewisse[r] Schliff« gegeben, werde »Gutes durch theoretische Ausbildung besser«, doch – im krassen Gegenteil – gebe es Leute, »die so stottern, deren Stimme so mißtönend oder deren Miene und Bewegungen so roh und ungehobelt ist, daß sie, auch wenn sie nach Begabung und Kunstfertigkeit dazu imstande wären, doch nicht der Zahl der Redner zugerechnet werden könnten.«157 Auch Quintilian zufolge muss der angehende ideale Redner Voraussetzungen mitbringen: Wem »Stimme, Lungenkraft, beständige Gesundheit, Ausdauer und Anmut«158 gänzlich fehlen, wird diese nicht weiterentwickeln können. Wem sie jedoch in Ansätzen gegeben sind, der kann sie durch die Kunst der Rhetorik ausbilden. Damit sortiert die Rhetorik von vornherein eine bestimmte Menge an Körpern aufgrund ihrer ›Natur‹ als nicht-rhetorikfähig aus. Von dieser grundlegenden Grenzziehung ist auch der weibliche Körper betroffen, der in der alten Rhetorik nicht als rhetorikfähig in Frage kommt – zumindest gibt es keine Beispiele, in denen einem weiblichen Körper die entsprechenden natürlichen Voraussetzungen wie Stimme, Lungen- und Körperkraft etc. beigeordnet würden. Der geschlechtliche Körper im Sinne eines phänomenalen Leibes scheint also eine unhintergehbare Grundlage, die jedoch in jedem Fall der rhetorischen Ausbildung, Disziplinierung und Vervollkommnung bedarf. Doch ist die Grenze zwischen den ›hoffnungslosen‹ und den ›vielversprechenden‹ Fällen nicht so undurchlässig, wie es auf den ersten Blick scheint. Zwar wird die Latte körperlicher Voraussetzungen hoch gehängt – nicht zuletzt um den Redner so vollkommen zu zeichnen, dass die Rhetorik als hehre Kunst erscheint –, doch zugleich erzählen die Rhetoriken von einzelnen Rednern, deren körperliche

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Arist. Rhet. III, 1, 1404a. Quint. Inst. XI, 3, 11. Cic. De or. I, 114. Cic. De or. I, 115. Quint. Inst. I, Pr. 27.

Schwächen sogar ihre Wirkung steigerten oder von solchen, die eklatante körperliche Mängel durch einen enormen Trainingsaufwand beseitigten. Zu den ersteren gehört Antonius, von dem Cicero schreibt: Seine Stimme besaß eine ausgeglichene Intonation, war jedoch von Natur aus etwas rauh. Aber eben dieser Defekt verwandelte sich gerade für ihn in einen Vorzug. In seinen pathetischen Klagen macht sich etwas Kläglich-Rührendes bemerkbar, wohl geeignet, ihm Vertrauen zu erwerben und Mitleid zu erregen.159

Die Rhetoriken kennen viele solcher individuellen Eigenheiten, die zu einem Vorteil der actio ausgebaut werden können. Daraus resultiert eine Anweisung zu Individualität, die letztlich dem decorum widerspricht.160 Zu den letzteren gehört vor allem Demosthenes, dessen unglaubliches Auftrittstraining in unzähligen biographischen Anekdoten von Cicero und Quintilian tradiert wird. Auch die autobiographische Darstellungsweise von Ciceros eigenem Werdegang verrät eine Hochachtung der ars, die die Vorrangstellung der natura als Lippenbekenntnis erscheinen lässt. Der Redner wird nicht geboren, sondern gemacht, lassen diese biographischen Erzählungen erkennen: und zwar durch absoluten Willen und kontinuierliche Übung. Die (Auto-) Biographien zweier der berühmtesten Redner der Antike, Demosthenes und Cicero, können vor dem Hintergrund meines Leitbegriffs der Rhetorik als Körperbildungsmacht als Bildungsgeschichten gelesen werden: Erzählt wird die – körperliche – Entwicklung der beiden Redner in Auseinandersetzung mit der Rhetorik, die eine zunehmende rhetorische Leistungsfähigkeit mit der Mannwerdung der Redner verkreuzt. Demosthenes ist als Knabe, so berichtet Plutarchs Biographie, körperlich schwach, verzärtelt, mager und kränklich.161 Er wächst ohne Vater auf, wird von der Mutter verwöhnt und von körperlichen Anstrengungen ferngehalten. In einem weiblichen Umfeld solchermaßen verweichlicht – und verweiblicht – nennen ihn andere Knaben beim Schimpfnamen »Batalos«, ein Begriff, der nach Plutarch einen »weichliche[n] Flötenspieler«, einen Dichter »unanständiger Lieder« oder ein »Körperglied, das man in guter Gesellschaft nicht mit Namen nennt« bedeuten kann.162 Fasziniert von dem Ruhm eines Redners und der Macht der Beredsamkeit widmet sich der Knabe völlig der Redekunst, lernt ununterbrochen, übt und tritt schließlich vor Publikum. Das erste Mal freilich, da er vor das Volk trat, erntete er Lärm und Gelächter, weil seine Art zu sprechen aller Gewohnheit widersprach […]. Dazu kam, wie es scheint,

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Cic. Brut. 141f. Vgl. Quint. Inst. XI, 3,180. Plutarch, Fünf Doppelbiographien, griech.-dt., übers. von Konrat Ziegler und Walter Wuhrmann, ausgew. von Manfred Fuhrmann, mit einer Einf. und Erl. von Konrat Ziegler, Bd. 2: Gaius Marcius und Alkibiades, Demosthenes und Cicero, Zürich, München 1994. Plut. Dem. 4.

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eine Schwäche der Stimme, eine Undeutlichkeit der Aussprache und eine Knappheit des Atems, die durch das Zerreißen der Perioden den Sinn des Gesagten nicht recht klar werden ließ.163

Ein alter Mann, Eunomos, macht ihm daraufhin Vorwürfe, dass sich Demosthenes »aus Mutlosigkeit und Weichlichkeit aufgebe, sich nicht beherzt der Masse stelle, nicht seinen Körper für die politischen Kämpfe stähle, sondern ihn aus Verzärtelung verkommen lasse.«164 Mit diesem männlichen Einspruch wird Demosthenes dazu aufgerufen, sich als Mann aufzuführen. Trotz Vorbereitung bis zur Erschöpfung für einen zweiten Vortrag fällt Demosthenes erneut bei der Menge durch.165 Diesmal ist es ein Schauspieler, Satyros, der ihm den Weg weist.166 Satyros lässt Demosthenes einen dramatischen Text aufsagen und wiederholt denselben Text mit dem dazu gehörigen Ausdruck von Stimme und Miene, so dass Demosthenes realisiert, wie zentral das Auftreten, die actio, für den Erfolg der Rede ist. Was nun folgt, ist eine beispiellose körperliche Selbstdisziplinierung, die in den antiken Rhetoriken kontinuierlich wiederholt und als vorbildhaft dargestellt wird.167 All jene körperlichen Voraussetzungen, die der Redner angeblich von Natur aus zu besitzen hat, fehlen Demosthenes. Stattdessen wird er geradezu als Verkörperung der oben genannten Fehler gezeichnet: Er stottert, hat kein Stimmvolumen, dafür hässliche körperliche Ticks. Doch Cicero berichtet, dass Demosthenes »durch Disziplin und Fleiß Hemmungen überwand, durch die ihn die Natur behinderte«168. Demosthenes trainiert die Lautstärke seiner Stimme, indem er sich selbst für Monate in einen unterirdischen Übungsraum sperrt und übt. Er gewinnt eine klare Aussprache, indem er mit Steinen im Mund artikuliert. Er übt die Ausdauer seiner Stimme und sein Lungenvolumen durch Dauerlauf und Bergsteigen. Er verbessert seine Gestik durch Übungen vor einem Spiegel und er beseitigt ein Schulterzucken durch das Auflegen einer Eisenstange. In diesem Prozess wird aus einem weichlichen, unbeherrschten, weiblich konnotierten Körper ein disziplinierter, beherrschter, männlich konnotierter Körper geformt. Cicero und Quintilian nehmen das Beispiel des Demosthenes als Triumph der ars über die natura in ihre Rhetoriken

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Plut. Dem. 6. Plut. Dem. 6. Neben der Art und der Dauer der Übungen stellt Plutarchs Text den Blick des Publikums in den Mittelpunkt, das als normierendes Korrektiv dient. Vgl. zur Relevanz des Publikums für die Selbstkonstitution des Redners: Kapitel III.4.2. Allerdings sucht Demosthenes den Schauspieler nicht auf, sondern Satyros drängt Demosthenes seine Hilfe geradezu auf – ein Verweis Plutarchs auf die zweifelhafte Vorbildfunktion von in der Antike nicht hochgeschätzten Schauspielern. Vgl. Fritz Graf, Gestures and Conventions: The Gestures of Roman Actors and Orators. In: A Cultural History of Gesture, hg. von Jan Bremmer, Herman Roodenburg, Ithaka, New York 1991, S. 36–58, S. 48 sowie S. 57, Fn. 36 zu den verschiedenen Fassungen des Schauspielerbesuchs. Plut. Dem. 7–11; Cic. De or. I, 260ff.; Quint. Inst. XI, 3, 6; 54; 68; 130. Cic. De or. I, 260.

auf und stellen damit den durch kontinuierliche Übung geformten, disziplinierten männlichen Körper als rhetorisches Ziel heraus. Wie Quintilian sagt, ist nichts »vollkommen, wo nicht die Natur durch unsere Sorge (cura) und Mühe gefördert werde«169. Vollkommenheit, und darauf zielen die Rhetoriken ab, kann erst durch einen Akt der cura, der Sorge um sich, erreicht werden. Wenn Rhetorik – und damit Männlichkeit – cura als Supplement zu natura verlangt, so Erik Gunderson mit Bezugnahme auf Foucault, wird die Stabilität und ›Natürlichkeit‹ des Geschlechts in Frage gestellt und stattdessen die Notwendigkeit einer kontinuierlichen Performanz von Männlichkeit sichtbar.170 Wie Selbstdisziplinierung, körperliche Ausbildung und Mannwerdung in der rhetorischen Ausbildung verkreuzt werden, zeigt auch das Beispiel Ciceros: Ich war damals überaus schmal und von schwacher körperlicher Konstitution, mein Hals war langgestreckt und dünn, ein Zustand und ein Aussehen, die, wie man glaubt, nicht weit von Lebensgefahr entfernt sind, wenn Arbeit und starke Beanspruchung der Lungen hinzutreten. Das beunruhigte die, denen ich nahestand, um so mehr, als ich alle meine Reden hielt, ohne einmal den Ton zu senken oder zu wechseln, mit höchster Anstrengung der Stimme und Anspannung meines ganzen Körpers. So ermahnten mich meine Freunden wie auch die Ärzte, meine Anwaltstätigkeit aufzugeben. Ich aber meinte, lieber jedes Risiko auf mich nehmen zu wollen, als die Hoffnung auf Ruhm als Redner aufzugeben. Nun war ich der Überzeugung, eine Entspannung und Mäßigung meiner Stimme, eine Änderung meiner Redeweise überhaupt würden es mir ermöglichen, der Gefahr zu entgehen und ausgeglichener zu sprechen. [...] Und so reiste ich nach zweijähriger Anwaltstätigkeit – mein Name hatte auf dem Forum schon einen guten Klang – aus Rom fort. […] [Nachdem Cicero die bedeutendsten Redelehrer in Athen, ganz Kleinasien besucht hatte, schloss er sich in Rhodos dem überaus tüchtigen Redelehrer Molon an.] Er bemühte sich denn soweit möglich, mich, der ich in meinem Stil in jugendlicher Freizügigkeit und Fessellosigkeit allzu unbekümmert überströmte, zu mäßigen [...]. So konnte ich nach zwei Jahren nicht nur besser ausgebildet, sondern fast völlig verwandelt zurückkehren. Die allzu starke Anspannung meiner Stimme hatte sich verloren, meine Redeweise war nun gleichsam ausgegoren, und meine Lungen hatten an Kraft, meine Statur einigermaßen an Stärke gewonnen.171

Ciceros Text stellt die Lebensgefahr in den Mittelpunkt, unter der sich die körperliche Transformation vom weichlichen Jüngling zum starken männlichen Redner vollzieht. Anstatt anzuerkennen, dass die Natur ihm keinen Redner-Körper geschenkt hat, arbeitet Cicero lieber unter Lebensgefahr an der Herstellung eines solchen Körpers. Motivation ist der drohende Ausschluss vom Forum, dem Ort der Männlichkeits-Darbietungen. Nach seiner Stimm-Bildungsreise kehrt Cicero »nicht nur besser ausgebildet, sondern fast völlig verwandelt« zurück: Auch hier wird ein Triumph der ars über die natura erzählt, die nicht nur verbessert, sondern verändert werden kann. Der schwache Jüngling hat sich in einen Mann verwandelt,

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Quint. Inst. XI, 3, 11. Vgl. Gunderson, Staging Masculinity, S. 64. Cic. Brut. 313–317.

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der über eine starke körperliche Konstitution und Lungenkraft verfügt. Damit ist der Prozess jedoch nicht abgeschlossen, vielmehr wird eine lebenslange Performanz von Männlichkeit gefordert, deren Instabilität dadurch allererst deutlich wird.172 Der Aufruf zu lebenslanger Selbst-Arbeit an der Performanz des Redners belegt außerdem, dass es sich bei der Verkreuzung von Körperbildung und Mannwerdung in den biographischen Erzählungen Demosthenes’ und Ciceros um mehr als auf die Pubertät begrenzte rites de passage handelt. III.3.2 Der vir bonus Die Rhetorik trifft bekanntermaßen eine Unterscheidung zwischen drei Redegattungen, der beratenden Rede (genus deliberativum), der forensischen Rede (genus iudicale) sowie der Festrede (genus demonstrativum) und spiegelt damit die öffentlichen Aufgaben des Redners wider. Im Vordergrund der griechischen Rhetorik steht nach Aristoteles der politische Einsatz der Rhetorik als ehrenvollste Aufgabe.173 Die römischen Rhetorik-Handbücher stellen dagegen deutlich die Gerichtsrede in den Mittelpunkt, die als die anspruchsvollste gilt und aus der Quintilian und Cicero die meisten Beispiele für die Anwendung der Rhetorik wählen. Neben der forensischen Rede behält die deliberative Rede eine gewisse Stellung: Der Redner müsse »Wortführer im Senat, im Volk und in Prozessen«174 sein. Die dritte Gattung der Lobreden dagegen, die der Grieche Isokrates glänzend beherrschte, wird nun von Cicero als mindere Gattung abgewertet. Lobreden vermittelten zwar Genuss, seien auch auf Spielen und Schauen, in Gymnasien und Ringschulen passend, auf dem Forum jedoch würden sie »verschmäht und abgelehnt«, denn in den dortigen Auseinandersetzungen gehe es um »Schlacht« und »Kampf«.175 Der ideale römische Redner ist demnach Bürger, Politiker und Jurist, die bevorzugten Orte der Rede sind der Senat, die Volksversammlung und das Gericht, und die Rede ist nicht spielerischer Ohrenschmaus, sondern kämpferischer Ernst. In diesem agonalen Selbstentwurf der Rhetorik wird der Redner als eine nach Macht strebende und zugleich auf das Gemeinwohl achtende Führungspersönlichkeit konzipiert, da »jener Mann von echtem Bürgersinn und Eignung für die gemeinsamen und persönlichen Verwaltungsaufgaben, der die Städte durch sein Wort im Rat lenken, durch die Gesetzgebung begründen, durch seine Entscheidungen vor Gericht verbessern kann, wahrhaft niemand sonst sein kann als der Redner«176. Unter den standesgleichen Rednern, die beispielsweise Cicero in De oratore und Orator Dialoge führen lässt, wird ein gemeinschaftsbildendes ›Wir‹ entworfen, das die impliziten Rezipienten

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Vgl. Kapitel III.3.4. Vgl. Arist. Rhet. I, 1, 1354b. Cic. De or. III, 63. Cic. Or. 42. Quint. Inst. I, Pr. 10; vgl. auch Cic. De or. I, 34.

der Rhetorik-Handbücher einschließt: »Für uns indessen, deren Wirkungsfeld inmitten dieses Volkes und auf dem Forum liegt […]«177. Die Figur des vir bonus ist Ziel und Voraussetzung der Rhetorik zugleich. Die rhetorische Erziehung als fundamentaler Bestandteil der römischen Bildung der Oberklasse bringt den idealen Redner als vir bonus erst hervor. Und ein wahrer Redner kann nur aus einem vir bonus werden. »Orator est, Marce fili, vir bonus dicendi peritus.«178 Dieser Satz zwingt geradezu zu einer geschlechterdifferenzierten Wahrnehmung der Rhetorik: Der Redner ist ein Mann, er ist erwachsen und gehört der Oberklasse an, er ist rechtschaffen und verfügt über rhetorisches Wissen ebenso wie über praktische rhetorische Erfahrung und Können, und er gibt sein Wissen väterlich an seinen Sohn weiter.179 Der Begriff vir steht nicht nur für die Bezeichnung des biologischen Geschlechts, sondern verknüpft dieses bereits mit einer sozialen und ethischen Rolle. Francesca Santoro L’Hoir ist den Konnotationen der Begriffe ›Mann‹ und ›Frau‹ im Lateinischen nachgegangen: Während homo und mulier die generellen biologischen Bezeichnungen darstellen, werden vir und femina ausschließlich für die Oberklasse eingesetzt.180 Wenn in der alten Rhetorik vom Redner als vir (bonus) die Rede ist, dann drückt dies neben dem männlichen Geschlecht aus, dass der Redner der Oberklasse angehört und zugleich ein aktives Verhältnis zur römischen Republik hat. Der vir bonus ist ein vir cives. Der Redner muss seiner ehrbaren Funktion in der römischen Republik zufolge Eigenschaften wie auctoritas, ›Glaubwürdigkeit, Würde, Ernst, Gewicht, Ansehen‹, und modestia, ›Maßhalten, Bescheidenheit, Anstand‹, aufweisen beziehungsweise zeigen. Während die begleitenden Adjektive des vir – wie bonus – immer positiv sind und als Lob eingesetzt werden, haften dem homo, unter dem auch Sklaven, Freigelassene, Fremde oder Privatmänner verstanden werden können, oftmals negative begleitende Adjektive wie z. B. impudens und ridiculus an, die niemals mit vir auftauchen. Die Unterschiede zwischen mulier und femina sind nicht so ausgeprägt, beide Begriffe kommen insgesamt seltener vor, wobei mulier noch häufiger verwendet wird. Hier bezeichnet femina neben dem Geschlecht ebenfalls einen höheren Status.181 Erik Gunderson hat drei Bedeutungen des vir bonus besonders hervorgehoben: Das männliche Geschlecht, die bürgerliche Verantwortung und zuletzt die auctoritas, die Autorität zu sprechen und zu führen, der Besitz von Prestige, Einfluss, Führungskraft und Macht.182 Daneben ist auch das sexuelle Begehren des vir bereits im Begriff angelegt, wie Jonathan Walter zeigt: Der vir verfügt über körperliche Integrität, sexuelle Virilität und Unverletzbarkeit, das heißt, er übernimmt nicht

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Cic. De or. I, 219. Cato, De rhetorica, fr. 14, zit. n. Cato, Vom Landbau, S. 278f. Vgl. Richlin, Gender and Rhetoric, S. 90. Francesca Santoro L’Hoir, The Rhetoric of Gender Terms: ›man‹, ›woman‹, and the Portrayal of Character in Latin Prose, Leiden 1992, S. 1f. Vgl. Santoro L’Hoir, The Rhetoric of Gender Terms, S. 2f. Vgl. Gunderson, Staging Masculinity, 7f.

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den passiven (homo-) erotischen Part.183 Damit wird der vir außerdem gegen den puer, den Jungen, und den adolescens, den Heranwachsenden, abgegrenzt. Während die Adoleszenz offenbar ein Alter ist, indem der junge Mann noch penetrierbar durch ältere Männer erscheint, wird dies für den erwachsenen vir ausgeschlossen, so Walter. Die Kategorie des Alters ist – eng verbunden mit der des Geschlechts – ebenfalls maßgeblich für den vir. Was sich für einen jungen Mann von hohem Status, also einen angehenden vir, schickt, ist nicht gleichermaßen ›passend‹ für einen erwachsenen Mann, wie Cicero anhand von Hortensius deutlich macht.184 Wird das Anmutige, Üppige, ebenso wie das Überschwellende für einen adolescens akzeptiert, gelten die gleichen Eigenschaften für einen vir als ›effeminiert‹ (effeminatus). Auch innerhalb einer Altersgruppe müssen Status und Geschlechtsidentität – gerade im Kampf um die Gunst des Publikums auf dem Forum – immer wieder verhandelt werden, wovon viele Anekdoten in den Rhetoriken zeugen. Denn die Verunglimpfung eines anderen Redners als ›effeminiert‹ – und hier scheint ein Vergleich sowohl mit männlichen als auch weiblichen Sexualobjekten in passiver Position gemeint, die als das Andere des Mannes fungieren und jeweils als zart, weich und offen gelten – fungiert als eine beliebte und offenbar wirksame Strategie des Angriffs, deren sich nicht zuletzt Cicero selbst zu erwehren hatte.185 Dies heißt, und darauf hat die genderorientierte Altertums-Forschung mehrfach hingewiesen,186 dass die antiken Texte kaum Dichotomien von Mann und Frau auf der Grundlage des biologischen Geschlechts in Szene setzen, sondern dass in einem Geflecht aus Geschlecht, Status (durch Geburt, Alter, Staatsbürgertum und Autorität) und Sexualität verschiedene Arten von Männlichkeit identifiziert werden können, die kontinuierlich ausgehandelt und gegeneinander – sowie gegen Frauen – abgegrenzt werden müssen. Die männliche Geschlechtsidentität im alten Griechenland muss zwar, wie Joseph Roisman herausgestellt hat, ebenso wie die in Rom auch in Relation zum weiblichen Geschlecht gesehen werden, jedoch viel stärker noch in Abgrenzung zu anderen Männern. »For Athenians, being the opposite of a woman was an insufficient criterion for manhood, although a necessary prerequisite.«187 Wenn in den Handbüchern Weiblichkeit beschrieben wird, dann weniger, um Männer und Frauen einander gegenüber zu stellen, sondern

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Jonathan Walter, Invading the Roman Body: Manliness and Impenetrability in Roman Thought. In: Roman Sexualities, hg. von Judith P. Hallett, Marilyn B. Skinner, Princeton 1997, S. 29–43, S. 30ff. Cic. Brut. 325–328. Vgl. Kapitel III.3.4. Vgl. Quint. Inst. XII, 10, 12. Quintilian berichtet, Cicero sei von Zeitgenossen mit der beleidigenden Äußerung angegriffen worden, asianisch und damit »zu weibisch für einen Mann« zu sprechen. Vgl. Kapitel III.2 (Einleitung). Vgl. Gleason, Making Men, S. xxviii; Walter, Invading the Roman Body, S. 32; Gunderson, Staging Masculinity, S. 9; Roisman, The Rhetoric of Manhood, S. 9. Roisman, The Rhetoric of Manhood, S. 9.

vielmehr um den ›guten‹, männlichen vom ›schlechten‹, effeminierten Mann zu unterscheiden.188 Die kontinuierliche Thematisierung und Problematisierung des vir bonus in den Rhetoriken weist darauf hin, dass es nicht nur um die Darstellung, sondern um die performative Herstellung des vir geht, an der die Rhetoriken mitarbeiten. Vir bonus ist der Redner nicht (nur) qua Geburt, sondern er muss diesen instabilen Status unausgesetzt herstellen und darstellen. III.3.3 Rednerbildung, Mannwerdung: Die Ausbildung zum Redner Die Rhetoriken beschreiben nicht nur das Ideal des vir bonus, sondern auch, wie Knaben und junge Männer zu diesem Ideal geformt werden. Die antiken Rhetoriken zeigen, dass Rhetorik in einem früh zu beginnenden und unbegrenzt fortdauernden Aneignungsprozess zu erwerben ist. Ein Redner, so kann man folgern, ist nicht, sondern ein Redner wird gemacht. Wie die ›Produktion‹ des Redners zu verlaufen hat, wird von den Texten be- und vorgeschrieben. Die Texte selbst sind ebenso Produkte gesellschaftlicher Zuschreibungen wie auch produktive Kräfte in diesem Zuschreibungsprozess. »Was Erziehung als rhetorische ausweist, ist eine spezifische, vor allem zweckorientiert ganzheitliche Ausrichtung auf die Sprache im Medium der Sprache: Texte – vom homerischen Epos bis zur politischen Rede: Der Schüler lernt sie – hörend, lesend, schreibend – kennen und – nachahmend – verstehen, produziert sie selbst und gebraucht sie schließlich mündlich oder schriftlich als Mittel der Einflussnahme.«189

Dieser kurzen auf die »Sprache im Medium der Sprache« zugespitzten Definition der rhetorischen Erziehung im Historischen Wörterbuch der Rhetorik möchte ich allerdings noch einen Hinweis auf ›die Sprache im Medium des Körpers‹ oder sogar auf den ›sprachlich zugerichteten Körper‹ selbst hinzufügen, der, so meine ich, ebenfalls eine zentrale Stelle in der rhetorischen Erziehung einnimmt. Die Rhetorik stellt nicht nur die theoretische Anleitung zu einem rationalen Wissen, sondern auch die praktische Anleitung zu einem Körperwissen, das der Redner zu beherrschen hat. Die Beschreibungen der rhetorischen Übungen machen Techniken der Verkörperung explizit, während die Übungen selbst als Akte beschreibbar werden, die sich verkörpern. Im Folgenden sollen drei Praktiken der Subjektformierung beschrieben werden, die auf beispielhafte Weise die Verkörperung rhetorischen Wissens, die körperliche actio und die Geschlechterperformanz verknüpfen: erstens die imitatio, die Wahl eines Vorbilds, das nachgeahmt und zitiert wird. Zweitens die declamatio, eine Übungsrede zu fiktiven Themen, in der der junge (und in der Kaiserzeit auch der erwachsene) Redner vor Publikum in einem sich selbst ausstellenden Rollen188 189

Vgl. Gleason, Making Men, S. xxviii. Bahmer, Ockel, Erziehung, rhetorische, Sp. 1439.

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Spiel mögliche Selbstsetzungen vornimmt und einübt. Und drittens die sportliche Erziehung, die als Teil der rhetorischen Erziehung einmal mehr auf die Relevanz des Körpers hinweist und diesen als männlichen, beherrschten und trainierten hervorbringen soll. Alle drei Techniken lassen sich als in den Rednerschulen institutionalisierte Praktiken der Verkörperung von rhetorischen Regeln lesen, die durch das wiederholte Zitieren von Normen Wirkungen erzielen. Diese von Butler beeinflusste Lesart der Performativität rhetorischer Akte zeigt schließlich den geschlechtlichen Körper des Redners als »Speicher einer verkörperten Geschichte«190. Zuvor soll die rhetorische Erziehung als lebenslange Disziplinierung, die auf Fleiß und der Anpassung an das decorum beruht, dargestellt werden. III.3.4 Lebenslang: Rhetorik für jedes Alter Die Kategorie des Alters ist in den antiken Rhetoriken ein entscheidendes Differenzkriterium. Unterschieden wird nicht nur zwischen dem ›guten‹ und dem ›schlechten‹ Redner, unter den guten Rednern wird nochmals zwischen jungen und alten Rednern differenziert, für die jeweils unterschiedliche Grenzen der Angemessenheit gelten. Im Vergleich zum erwachsenen Mann werden Knaben und junge Männer als ›unfertig‹ dargestellt. Knaben und junge Männer, so stellen die Rhetoriken heraus, müssen eine Erziehung durchlaufen, um sich dem Ideal des vir bonus, dem erwachsenen Mann, anzupassen. Diese Erziehung setzt sozusagen mit der Geburt ein, in dem Moment, in dem der Vater den Sohn in einem antizipatorischen Akt, der mit Butler als identitätsstiftende Anrufung gelesen werden kann, zum Redner bestimmt: »So soll denn ein Vater, wenn ihm ein Sohn geboren ist, gleich möglichst große Hoffnungen in ihn setzen; [… und] aufs angelegentlichste alle seine Fürsorge in der Erwartung eines künftigen Redners betätigen.«191 Schon die Erziehung ist männlich codiert, wenn 190 191

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Butler, Haß spricht, S. 216. Quint. Inst. I, 1, 1ff. Kaum nötig zu erwähnen, kommt die Erziehung von Mädchen bei Quintilian nicht zur Sprache, allerdings finden Ammen und Mütter eine kurze Erwähnung, sind sie doch für die frühkindliche Spracherziehung zuständig und können bei mangelhafter eigener Bildung die Sprache der Söhne verderben (vgl. Quint. Inst. I, 1, 4–7). Woher Ammen und Mütter ihre Sprechfähigkeit beziehen, lässt Quintilian im Dunkeln. Über die Erziehung von (hochrangigen) Mädchen und Frauen in der Antike berichten nur wenige Quellen, Rückschlüsse werden oftmals von wenigen bekannten gelehrten Frauen auf die allgemeine Ausbildungssituation gezogen und sind daher problematisch. Auch die antike Bewertung von gelehrten Frauen ist außerordentlich uneinheitlich und reicht von Bewunderung bis Abscheu. Eine Auswertung der römischen Quellen findet sich in: Emily Hemelrijk, Matrona Docta. Educated Women in the Roman Elite from Cornelia to Julia Donna, London, New York 1999, insb. Kapitel 2 und 3. Hemelrijk argumentiert, dass die Erziehung von Mädchen weniger strukturiert ausgerichtet war als die der Jungen und maßgeblich von Zufällen bestimmt war, z. B. von lehrfreudigen Vätern, Ehemännern, Privatlehrern sowie der Partizipation am kulturellen Leben. Hemelrijk richtet ihren Fokus auf Frauen, die als Patroninnen von Lite-

Quintilian zu Zucht192 und Strenge mahnt, indem er ihr Gegenteil, die unmännliche Nachsicht verdammt: »Die weichliche (mollis) Art der Erziehung, die wir Nachsicht nennen, löst alles Straffe an Geist und Körper auf.«193 Ziel der Erziehung ist jedoch grundsätzlich das Straffe, Beherrschte, Disziplinierte und Züchtige. Aristoteles beschreibt die jungen Menschen – und das sind in seinen Augen junge Männer – als solche, die von leiblichen Begierden bestimmt sind, diesen unbeherrscht nachgehen und von anderen exzessiven Gefühlen wie Zorn, Siegesdurst, Liebe und Hass impulsiv beherrscht werden. In ihrer Unerfahrenheit haben sie noch keine begrenzenden Umstände erfahren, noch keine Not erlitten, sind noch nie gedemütigt worden, mussten noch keine Fehlschläge und Enttäuschungen hinnehmen. Aristoteles entwirft hier das Bild eines scheinbar natürlichen ›Urzustandes‹, der durch Lebenserfahrungen beschnitten, reguliert, begrenzt und eingeschränkt wird. Dabei ist dieser ›Urzustand‹ keineswegs positiv konnotiert. Das Ideal ist das des erwachsenen Mannes, an dem der junge Mann immer wieder gemessen wird. Aristoteles wirft dem jungen Mann vor, in allem ein Übermaß ohne Selbstdisziplin zu praktizieren – insbesondere in Bezug auf den eigenen Körper, seine Gelüste, Begierden und Affekte. Das Ziel ist dagegen ein maßvoller, beherrschter Umgang mit dem Körper. Denn all das, wovon die Jungen zu viel und die Alten zu wenig haben, davon haben die erwachsenen Männer das ›richtige Maß‹.194 Aristoteles’ Charakterentwurf der Jugend bildet eine topische Grundlage auch der römischen Rhetoriken, die verstärkt eine rhetorische Erziehung der Jugend einfordern und entwerfen. Auch hier wird der jugendliche Körper als überströmend, überschwänglich beschrieben. Cicero lässt Antonius von seinem Eindruck des jungen Redners Sulpicius berichten: Ich habe den Sulpicius hier noch als ganz jungen Mann in einem recht unbedeutenden Prozeß gehört; die Stimme, die Erscheinung, die Bewegung und die anderen Voraussetzungen waren der Aufgabe angemessen […], doch redete er schnell und überschwänglich und etwas zu üppig, was an seinem Alter lag. Ich hatte nichts dagegen, da bei einem

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ratur und literarischer Bildung, sowie als Verfasserinnen von Poesie und Prosa agierten. Während die literarische Bildung in den Rhetorikschulen für Jungen einen wichtigen Teil bildete, der durch theoretische und praktische Rhetorikübungen ergänzt wird, findet sich bei Hemelrijk jedoch kein Beispiel für Frauen, die über die literarische Bildung hinaus in der praktischen Redekunst geübt wurden. Die pädagogischen Mittel Quintilians, um einen züchtigen Zögling hervorzubringen, sind Lob, Ansporn und Wettbewerb, nicht aber körperliche Züchtigung. Diese ist auch nicht nötig, züchtigt sich der ideale Knabe doch selbst, indem er Lob und Vorwurf verinnerlicht und sich danach verhält: »Den Knaben, den ich mir wünsche«, so Quintilian, »wird man bei seinem Ehrgeiz packen können, ihn wird ein Vorwurf treffen, Ehre anspornen, Trägheit werde ich bei ihm nie zu befürchten haben.« (Quint. Inst. I, 2, 6f.) Diese Selbst-Disziplinierung des Subjekts ist bezeichnend für den Entwurf des idealen Redners in der alten Rhetorik. Quint. Inst. I, 2, 6. Arist. Rhet. II, 12ff., 1389a–1390b.

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jungen Menschen Überschwang zum Vorschein kommen soll. Wie bei den Reben ist es nämlich leichter, etwas zu beschneiden, was zu stark hervordrängt, als durch Pflege neue Triebe hervorzubringen, wenn das Holz nichts taugt; so will ich auch bei einem jungen Menschen etwas zu beschneiden haben.195

Die Rhetoriklehre fordert das rechte Maß, das decorum, ein, das, wie hier deutlich wird, im Wesentlichen durch ein ›Beschneiden‹, also durch Eingrenzen von Möglichkeiten durch Konventionen hervorgebracht wird. Der Rednerkörper muss in Übereinstimmung mit den als gesellschaftlich verbindlich erachteten Regeln des decorum gebracht werden, um die Einpassung des jungen Mannes in die Gemeinschaft als verantwortliches, produktives, sich männlich gerierendes Mitglied zu garantieren. Dies erfordert einen lebenslangen Anpassungsprozess, den die rhetorische Erziehung initialisiert und vorantreibt. Das Rednerideal der antiken Rhetorik ist derartig hoch gehängt, dass Cicero oder Quintilian in der ganzen Geschichte der Rhetorik kaum einmal das Prädikat eines orator perfectus vergeben. Stattdessen handelt es sich um einen kontinuierlichen Prozess der Annäherung an das Ideal. Dazu bedarf es theoretischer Anleitung, der Nachahmung und der Übung, wie die Rhetorica ad Herennium zusammenfasst.196 Zentral ist auf jeden Fall die beständige Übung, assiduitate dicendi, die beharrliche Beschäftigung und der ständige Umgang mit dem Reden, assiduus usus consuetudoque dicendi und der Fleiß, diligentia.197 Dass die Rhetorik die Übung so zentral setzt, ist keineswegs selbstverständlich, schränkt sie doch den Geltungsbereich der Rhetorik als Wissenschaft in gewisser Hinsicht ein, worauf der Redner Antonius hinweist: Zwischen Begabung und Fleiß bleibt freilich nur sehr wenig Spielraum für die Wissenschaft. Die Wissenschaft gibt nur Hinweise, wo man suchen und wo man das, worum man sich bemüht, ausfindig machen kann. Der Rest liegt im Bereich der Sorgfalt, Aufmerksamkeit, Überlegung, Wachsamkeit, Beharrlichkeit und Arbeit, mit einem Wort, das ich schon oft verwendet habe, im Bereich des Fleißes; denn diese eine Tugend schließt alle übrigen Tugenden ein.198

Das ganze Lehrgebäude der Rhetorik beruht auf eben diesem Fleiß, es schreibt ihn ein in jede Übung des ausgefeilten Lehrplans und fordert ihn noch in ihren wertenden Äußerungen über nachlassende, ältere Redner kontinuierlich ein. Nur durch das kontinuierlich wiederholte Zitieren von rhetorischen Normen und Regeln im Akt der Rede werden Wirkungen erzielt, kann sich der orator perfectus auf der Bühne inszenieren. Und da der perfekte Redner gegendert ist, wird durch diese »stilisierte Wiederholung von Akten«199, wie Judith Butler den Herstellungsprozess

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Cic. De or. II, 88. Vgl. Rhet. Her. I, 3. Rhet. Her. I, 1; I, 3. Cic. De or. II, 150. Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, S. 206.

des geschlechtlichen Körpers beschreibt, auch Geschlecht performiert, inszeniert und reproduziert. Ein Beispiel für die Anforderung lebenslangen Fleißes und der kontinuierlichen Anpassung an ein – sich mit dem Alter wandelndes – decorum liefert Cicero: Hortensius, einer der berühmtesten Redner zu Ciceros Zeit und zugleich sein vornehmlicher Konkurrent, bediente sich des asianischen Stils, so Cicero, und bewirkte damit in seiner Jugend großen Applaus. Der asianische Stil, wie ihn Cicero hier in zwei Varianten beschreibt, hat viel mit Aristoteles’ Beschreibung des jugendlichen Alters gemein und erscheint zugleich weiblich konnotiert: In der einen asianischen Variante sind die Sätze geschliffen, wohl abgerundet, reizvoll (dulces) und anmutig (venustas), in der anderen Variante ist der Ausdruck erregt, lebendig und leidenschaftlich, ausgeschmückt und witzig.200 Hortensius beherrscht und nutzt beide Varianten. Der asianische Stil steht jedoch eher der Jugend (adolescentes) als dem Alter (senectuti) an. Diese jugendliche Ausdrucksweise, die von Überschwang und (effeminierter) Lust zeugt, hätte jedoch durch konstante Übung weiterentwickelt – und das heißt auf ein rechtes Maß ›beschnitten‹ werden müssen, meint Cicero. Hortensius ließ allerdings in seinem Übungseifer nach, so Cicero, und verpasste die mit dem sozialen Aufstieg, der Übernahme von Ämtern und dem zunehmenden Alter einhergehenden Anforderungen an Würde und Gewicht. »Als aber nach und nach seine ehrenvollen Funktionen und die Würde höheren Alters Gewichtigeres erforderten, da blieb er derselbe – aber zu ihm paßte nicht mehr dasselbe.«201 In dem Moment, in dem Hortensius seine actio nicht mehr dem herrschenden decorum anpasst, verhält er sich weder mit der einem vir gebührenden Würde, noch performiert er seine Geschlechterzugehörigkeit hinreichend. Dies führt zu seinem Ausschluss aus der Galerie der berühmten Redner, die Cicero im Brutus entwirft.202 Ciceros Kritik, dass Hortensius »derselbe blieb«, zeigt, dass ganz offensichtlich hier kein Konzept eines beständigen, geschlechtlich bestimmten Selbst vorliegt, sondern im Gegenteil die Anforderung, durch Sprache und actio in jeder Rede erneut ein Selbst zu performieren, das einem kulturellen, historischen, veränderlichen decorum angepasst ist. Ein Redner, ein vir bonus zu sein, heißt, ein vir geworden zu sein, den Körper zu einem kulturellen Zeichen gemacht zu haben, sich selbst in der gehorsamen Befolgung einer historisch beschränkten Möglichkeit materialisiert und dies als nachhaltiges und wiederholtes körperliches Projekt mit dem Ziel des kulturellen Überlebens getan zu haben.203

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Cic. Brut. 325. Cic. Brut. 327. Auch wenn man die negative Bewertung von Hortensius als eine polemische Argumentationsweise Ciceros sieht, der sich seines Konkurrenten um den größten Nachruhm entledigen will, liefert ihm – und das ist hier entscheidend – die Rhetoriklehre die Argumente an die Hand. Judith Butler beschreibt mit ähnlichen Worten, was es bedeutet, eine Frau zu sein: vgl. Butler, Performative Akte und Geschlechterkonstitution, S. 305.

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III.3.5 Nachahmungen: Imitatio Wird in heutigen Rhetorikratgebern oftmals verlangt, möglichst natürlich aufzutreten, ›man selbst‹ zu sein und somit ein originäres Individuum darzustellen, wird in der alten Rhetorik im Gegenteil eine Integration in die bestehende Tradition von Rednern bevorzugt und durch die Anpassung an ›gute‹ Vorbilder erreicht. Die Nachahmung (imitatio) ist als pädagogische Methode an zentraler Stelle in der römischen Rhetoriklehre verankert: All die genannten [rhetorischen] Fähigkeiten können wir durch drei Mittel gewinnen: durch theoretische Unterweisung (ars), Nachahmung (imitatio) und Übung (exercitatio). […] Die Nachahmung ist das Mittel, durch das wir mit gewissenhafter Überlegung dazu gebracht werden, dass wir irgendwelchen Männern beim Reden ähnlich zu sein vermögen.204

Die Methode der rhetorischen Nachahmung bezieht sich sowohl auf die Nachahmung von schriftlich niedergelegten Texten, die analysiert, auswendig gelernt, übersetzt und paraphrasiert werden müssen, als auch auf die Nachahmung von lebenden Vorbildern, denen die Schüler auf das Forum folgen, um neben der gedanklichen und sprachlichen Gestaltung der Rede auch die Art des Redeauftritts imitieren zu können. Auf eben diese (bislang wissenschaftlich vernachlässigte) Nachahmung der actio eines vorbildhaften Redners – nicht auf das wirkmächtige poetologische Konzept der Mimesis205 – kommt es in den folgenden Ausführungen zur imitatio an. Gerade zur Ausbildung einer hervorragenden actio trägt weniger die theoretische Anleitung als vielmehr die Nachahmung und Übung bei, so Cicero: Schon die Bewegungen und Übungen der Stimme und des Atems, des ganzen Körpers und sogar der Zunge bedürfen nicht so sehr der Theorie wie der Anstrengung. Dabei gilt es, sorgsam darauf zu achten, wen wir da nachahmen, wem wir ähnlich werden wollen. Wir müssen unser Augenmerk nicht nur auf Redner, sondern auch auf die Schauspieler richten, damit wir nicht durch schlechte Angewohnheit auf etwas Hässliches, Verschrobenes verfallen.206

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Rhet. Her. I, 3. Während Mimesis gemeinhin als poetologisches Konzept der Nachahmung von Realität verstanden wird, hat Jürgen H. Petersen mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass die Übersetzung von mimesis mit ›Nachahmung‹ dem griechischen Begriff von Platon und Aristoteles keineswegs gerecht wird: »Der Nachahmungsgedanke ist so wenig griechischer Herkunft wie der Begriff der Mimesis möglichst präzise, also kopierende Realitätsabbildung bezeichnet; die Vorstellung von der Nachahmung als einem Grundelement der Dichtung hat sich vielmehr auf römischem Boden und in der römischen Antike [Cicero, Rhetorica ad Herennium, Dionysios von Halikarnass] entwickelt – allerdings keineswegs als Vorstellung von einer Naturabbildung durch die Künste, sondern als Nachahmung literarischer Modelle und Autoren, wobei unter ›Literatur‹ hier zunächst einmal nicht nur Poesie, sondern vor allem die Redekunst verstanden wird.« Jürgen H. Petersen, Mimesis – Imitatio – Nachahmung. Eine Geschichte der europäischen Poetik, München 2000, S. 54. Cic. De or. I, 156.

Mit dem Nachahmungsgedanken verbunden ist die Vorstellung von nachahmungswürdigen Modellen – nicht die ›Natur‹ wird nachgeahmt, sondern ein bestimmtes Redner-Modell, das von der Gemeinschaft als idealer Redner ausdrücklich anerkannt wird und dadurch als Vorbild in Frage kommt. Die imitatio, dies ist zu betonen, setzt also einen kulturellen Auswahlprozess voraus: Die ausführlichen Warnungen vor der Nachahmung eines falschen Vorbilds verweisen auf die Relevanz des decorum, der kulturellen Übereinstimmung darüber, wer als nachahmungswürdig gilt. Dass in diesem Auswahlverfahren hegemoniale kulturelle Geschlechterbilder reproduziert und tradiert werden, liegt auf der Hand. Die Nachahmung als Methode funktioniert nach Cicero so, dass der Redner sich ein Vorbild wählt, sein Augenmerk auf dieses richtet, die nachahmenswerten Züge von den anderen unterscheidet, sich die »wichtigsten Züge dessen, den man nachahmt, mit besonderer Sorgfalt zu eigen« macht und in einer kontinuierlichen Übung »den Mann seiner Wahl nachbildet und verkörpert (exingat atque exprimat)«, indem der Redner die Gewohnheit annimmt, »so zu reden, dass er sich mit ganzer Seele und aus vollem Herzen auf [sein Vorbild] hin orientiert«.207 In dieser mimetischen Identifikation bleibt es nicht bei einer ›oberflächlichen‹ Anpassung an die konventionelle actio eines etablierten Redners. Die imitatio, so möchte ich argumentieren, stellt das Muster der Verkörperung männlicher Rednerrollen bereit. Junge Redner ›übernehmen‹ nicht nur die Rolle oder gestische und stimmliche Ausdrucksweise eines als Vorbild fungierenden Redners, sondern sie ›verkörpern‹ diese in einem kontinuierlichen Prozess der Wiederholung von gestischen Akten.208 Der Redner handelt weniger in Übereinstimmung mit diesen vorgegebenen und kulturell als ›gut‹ bewerteten Stimmen und Gesten, vielmehr ist er selbst diese sedimentierte wiederholte Aktivität. Sowohl bei der imitatio als auch bei den im Folgenden genannten rhetorischen Übungen wird eine tägliche Wiederholung der Übung gefordert, die das Erlernte zur Gewohnheit machen, es ›in Fleisch und Blut übergehen‹ lassen. Über Gewohnheiten jedoch schreibt Aristoteles, dass »das, woran man sich gewöhnt hat, geschieht, als sei es schon von Natur aus so entstanden. Die Gewohnheit ist nämlich in gewisser Hinsicht der Natur ähnlich, denn nahe beieinander liegen ›oft‹ und ›immer‹, Natur aber bedeutet in etwa ›immer‹, Gewohnheit

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Cic. De or. II, 89f. Auch in Ciceros eigenem Werdegang spielen Vorbilder eine maßgebliche Rolle. Zunächst schließt er sich »Gaius Cotta an und folgt – nach dessen Vertreibung – als Achtzehnjähriger Sulpicius Rufus, einem außerordentlich engagierten und auch erfolgreichen Volkstribun, der tagtäglich in der Volksversammlung sprach, ehe er von den politischen Gegnern umgebracht wurde.« Göttert, Geschichte der Stimme, S. 79. Erika Fischer-Lichte definiert den Begriff der ›Verkörperung‹ im Gegensatz zum Ausdruck oder der Übernahme bereits bestehender anderweitiger Identitäten und Rollen als »diejenigen körperlichen Prozesse, mit denen der phänomenale Leib sich immer wieder selbst als einen je besonderen hervorbringt und damit zugleich spezifische Bedeutungen [wie eine dramatische Figur, eine Identität, eine soziale Rolle...] erzeugt.« Vgl. FischerLichte, Einleitung. Theatralität als kulturelles Modell, S. 15.

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›oft‹.«209 Quintilian formuliert ganz ähnlich, »häufige Nachahmung färbt auf die Sitten ab (frequens imitatio transit in mores)«.210 Umso schwieriger gestaltet sich die Wahl des Vorbilds – oder, wie Quintilian empfiehlt, mehrerer Vorbilder. Dass es sich hier um männliche Vorbilder handelt, steht – abgesehen von Amme und Mutter im frühkindlichen Stadium – außer Frage. Mit der Wahl eines Vorbilds, die oftmals aufgrund des Rats eines Älteren erfolgt, wird der junge Redner in eine männliche Tradition eingebunden, deren Konventionen er verkörpert und wiederum weitergibt. Die ›gute‹ Wahl eines Vorbilds selbst stellt bereits eine Leistung dar, dazu kommt die Auswahl derjenigen Züge, die nachahmenswert sind, und die Auslassung der unpassenden Züge. Nachahmungen, so macht Cicero deutlich, können ebenso nützlich wie schädlich sein, ahmt der Redner etwas ›Schlechtes‹ nach.211 Was gerade nicht nachgeahmt werden darf, beschreiben Cicero und Quintilian: Cicero warnt vor der Nachahmung übertriebener actio, vor Grimassen und breitem Dialekt, die lächerlich wirken. Ebenso warnt er vor übertriebener Nachahmung, denn die karikierende Nachahmung gehört zu den sparsam einzusetzenden Witzen: Die »Nachahmung des Gesichtsausdrucks und Tonfalls« und »noch eine Andeutung der Gebärde« kann große Heiterkeit auslösen: »da lachten wir noch mehr«.212 Eine solche Nachahmung ist nicht mit der imitatio gemeint, sie illustriert das Fehlgehen dieser Methode, wenn sie entweder ohne kritische Aneignung oder mit bewusst karikierender Absicht angewendet wird. Quintilian zeigt die Gefahren eines solchen imitatio-Missbrauchs drastisch auf. Da der »Nachahmungstrieb«213, den Quintilian in der aristotelischen Tradition214 jedem Kind zuschreibt, schon früh einsetzt, fordert Quintilian eine gebildete Amme, damit ihre Sprache das Kleinkind nicht verderbe, sowie ein moralisches Elternhaus, das den Knaben fern von sexuellen Ausschweifungen und luxuriösen Verweichlichungen hält – denn sonst »wird dieses Leben zur Gewohnheit und damit

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Arist. Rhet. I, 11, 1370a (hier zit. n. der Übersetzung von Krapinger). Rapp übersetzt: »[D]as Gewohnte geschieht wie vollends von Natur aus. Die Gewohnheit ist nämlich etwas Ähnliches wie die Natur; denn auch das Oft steht dem Immer nahe. Es gehört nämlich auf der einen Seite die Natur zum Immer, auf der anderen Seite die Gewohnheit zum Oft.« Quint. Inst. I, 11, 2. Helmut Rahns Übersetzung trifft die ›transitorische‹ Qualität der imitatio hier nicht ganz. Cic. De or. I, 156; II, 90ff. Cic. De or. II, 242. Quint. Inst. I, 3, 1. Aristoteles verankert den Trieb zur Nachahmung – eine der Ursachen der Dichtkunst – in der Natur des Menschen: »Denn sowohl das Nachahmen selbst ist den Menschen angeboren – es zeigt sich von Kindheit an, und der Mensch unterscheidet sich dadurch von den übrigen Lebewesen, dass er in besonderem Maße zur Nachahmung befähigt ist und seine ersten Kenntnisse durch Nachahmung erwirbt – als auch die Freude, die jedermann an Nachahmungen hat.« Arist. Poet. 4.

zur zweiten Natur (fit ex his consuetudo, inde natura)«.215 Der scheinbar zwangsweise Übergang von consuetudo zu natura ist bezeichnend – und zwar insbesondere in Bezug auf die wiederholte geschlechtliche Performanz im Prozess der imitatio. Der actio und ihrer Übungstechnik kommt insofern eine besondere Rolle im Erwerb nicht nur des rhetorischen, sondern auch geschlechtlichen Auftretens zu. In einem eigenen Unterkapitel zur pädagogischen Vermittlung der actio betont Quintilian direkt im ersten Absatz, dass der Knabe nicht nur eine kunstvolle actio, sondern vor allem eine männliche actio nachahmen und damit erwerben müsse. Ein Komödienschauspieler, der ja auch weibliche Rollen spielt, soll den Knaben unterweisen, jedoch nicht in schauspielerischer, sondern ausschließlich in rednerischer actio: Keineswegs soll der Knabe »je mit dünner Weiberstimme unmännlich säuseln oder wie ein Greis zittern« – denn, wie gesagt, frequens imitatio transit in mores.216 Weder die Stimme, noch die Gebärden von Frauen, Greisen, Sklaven, Trunkenbolden darf der Knabe einüben, denn es handelt sich um Rollen, die offenbar im »noch unerfahrenen Jugendalter die Gefahr der Ansteckung« in sich bergen.217 Geschlecht erscheint als eine Rolle neben anderen, die durch ständige nachahmende Wiederholung (frequens imitatio) eingeübt wird und die Identität beziehungsweise den ›Charakter‹ (mores) konstituiert. Schon im jugendlichen Alter muss man lernen, so wird bei Quintilian deutlich, sich durch die imitatio als Mann (oder als Frau) zu bewegen bzw. zu sprechen und diese eindeutige Geschlechterperformanz zeitlebens durch die Wahl neuer angemessener Vorbilder vervollkommnen. III.3.6 Stimmübungen: Declamatio Noch bevor ein junger Schüler überhaupt »die höheren rhetorischen Gesichtspunkte [...] erfassen kann«, wird die Ausbildung zum Lesen und zum (körperlichem) Sprechen eng miteinander verknüpft. Dann fordert Quintilian »einen sorgfältigen, erfahrenen Helfer, der nicht nur das Lesen überwacht, sondern [den Schüler] auch zwingt, ausgewählte Stellen auswendig zu lernen und sie stehend klar und deutlich wie beim wirklichen Vortrag zu sprechen, so dass er gleich Vortrag, Stimme und Gedächtnis übe.«218 Die kontinuierlichen Lese-, Schreib- und Sprech-Übungen als rhetorisches Erziehungsideal nimmt auch Cicero für sich selbst in Anspruch. Als junger Mann, so rühmt er sich, habe er »Tag für Tag geschrieben, gelesen, Ausarbeitungen verfasst« und schließlich Deklamationen vorgetragen.219 Deklamationen sind Übungsreden zu fiktiven Themen, die im schulischen Bereich in Griechenland seit dem 3. Jahrhundert und in Rom seit Ende des 1. Jahr-

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Quint. Inst. I, 1, 4ff.; I, 2, 8. Quint. Inst. I, 11, 1f. Quint. Inst. I, 11, 2. Quint. Inst. I, 11, 14. Vgl. Cic. Brut. 305; 309f.

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hunderts zurückzuverfolgen sind.220 Seit der augusteischen Zeit bezeichnet der Begriff auch ›Schaureden‹ – oder wie es Øivind Andersen treffend ausdrückt: »Konzertreden«221 – erwachsener Redner zur Zurschaustellung ihres rhetorischen Könnens und Unterhaltung eines großen Publikums. Martin Korenjak stellt daher fest: »Die Grenze zwischen Unterricht in unserem Sinne und öffentlicher Schaurede ist also fließend.«222 Ursprünglich waren Deklamationen schiere Stimmübungen, die durch das laute Aufsagen von Reden die Stärke der Stimme (firmitudo) und vor allem die Geschmeidigkeit der Stimme (mollitudo), »die Fähigkeit, sie beim Sprechen zu unserem Vorteil drehen und wenden zu können«, trainieren sollte.223 In dieser exercitatio declamationis stand also nicht der Inhalt der Rede, sondern ausschließlich die stimmliche actio im Vordergrund. In den Übungsdeklamationen, wie sie Quintilian für den Unterricht der fortgeschrittenen Schüler vorsieht, wird die Erstellung einer Rede mit allen Arbeitsschritten des Redners gefordert – allerdings steht die wohlinszenierte Präsentation der Rede, die actio, weiterhin im Vordergrund. Von allen rhetorischen Übungen schreibt Quintilian den Deklamationen den weitaus größten Nutzen zu, da Deklamationen ein »Bild« böten, »das der Wirklichkeit am nächsten kommt«.224 In den Deklamationen wird ein Wirklichkeitsbild entfaltet, und vor dieser mimetischen Szenerie entwirft sich der Schüler als Redner. Der an-

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Vgl. das Kapitel »Fortgeschrittene Übungen: declamationes«, in Andersen, Im Garten der Rhetorik, S. 249–255. Vgl. zum Begriff der declamatio im antiken Sprachgebrauch sowie zu einer kritischen Evaluation der Forschungsliteratur: Wilfried Stroh, Declamatio. In: Studium declamatorium. Untersuchungen zu Schulübungen und Prunkreden von der Antike bis zur Neuzeit, hg. von Bianca-Jeanette Schröder, Jens-Peter Schröder, München, Leipzig 2003, S. 5–34. Zur historischen Entwicklung der Deklamation über die Antike hinaus vgl. Jutta Sandstede, Deklamation. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 2, Tübingen 1994, Sp. 481–507. Der Begriff der »Konzertredner« bezieht sich auf die Zweite Sophistik im 2. bis 5. Jahrhundert n. Chr., in der Redner Tourneen durch verschiedene Städte unternahmen, von Herolden oder Boten angekündigt wurden und als ›Stars‹ vornehmlich (und nicht zufällig) im Theater, aber auch in Hörsälen und Rathäusern vor zusammengeströmten großen Mengen Reden hielten. Vgl. Andersen, Im Garten der Rhetorik, S. 258. In der augusteischen Zeit schwindet die politische Relevanz der Rhetorik. Es werden zwar noch Festreden, Gerichtsreden bei Prozessen und Beratungsreden im Umfeld des Kaisers gehalten, aber die politische Macht der Redner nimmt ab – während die Deklamationen zunehmen. Wenn auch die Zunahme von rhetorischen Vorführungen, die in erster Linie der Präsentation der Virtuosität des Redners vor einem eigens dafür versammelten Publikum dienen, nicht als scharfer Einschnitt, sondern als graduelle Entwicklung von schon früher bestehenden Formen zu beschreiben ist, ist deren Breitenwirkung und Entwicklung zu einem gesellschaftlichen Ereignis doch ein Spezifi kum der Zweiten Sophistik. Vgl. Martin Korenjak, Publikum und Redner. Ihre Interaktion in der sophistischen Rhetorik der Kaiserzeit, München 2000, S. 21f. Korenjak, Publikum und Redner, S. 25. Rhet. Her. III, 20. Vgl. Stroh, Declamatio, S. 10ff. Quint. Inst. II, 10, 1f.

gehende Redner sieht sich in den Deklamationen spielerisch in eine genuin rhetorische Situation vor ein Publikum mit einem gegebenen – fiktiven – Thema versetzt. In dieser Situation muss der Redner seinen Selbstentwurf – vor allem durch und in dem stimmlichen Vortrag – nicht nur (ein-)üben, sondern zugleich zur Schau stellen. Der Redner redet in den Deklamationen als jemand, als Anwalt oder als Prozesspartei – nicht aber als Schüler.225 Die Deklamationen sind damit Reden, die ihre Kunst nicht verbergen müssen, die wiederum Redner ermöglichen, die nicht ›natürlich‹ erscheinen, sondern vielmehr die Bildhaftigkeit der vorgestellten Identitätsentwürfe – der Schüler agiert als Redner (Anwalt) und zugleich als Urheber der Fiktion eines Redners (Anwalts) – offen zur Schau stellen. »Rhetoric and identity were closely aligned categories in antiquity, and declamation is no exception of this rule.«226 Vielmehr können Deklamationen, so Gunderson, als Schlüssel zur Produktion, Reproduktion, Zirkulierung von römischer Identität gelesen werden.227 Die Deklamationen zeigen eine andere Rhetorik, nicht die ideale Rhetorik, in der die Illusion aufrecht erhalten wird, wahr und authentisch zu sprechen, und in der ein Publikum zum Handeln aufgerufen wird, sondern eine Rhetorik, die ihr theatrales Moment offen zeigt: »Speech is here never self-presence, it is always role playing.«228 Schon von Zeitgenossen werden die Deklamationen, die fiktive Themen zu Unterhaltungszwecken auf die Bühne bringen, stark kritisiert – und bis heute wird die deklamatorische Art der Kritik an der Deklamatorik gerne übersehen.229 Die (damaligen wie heutigen) Kritiker der Deklamationen bleiben einem Denken von Inszenierung und Selbstdarstellung als Scheinhaftigkeit, Lüge, Täuschung oder auch (Selbst-) Entfremdung verpflichtet. Indem die »Fiktionalisierung der politischen Kommunikation«230 auf die Spitze getrieben, indem selbst der Anschein der Authentizität einer Zurschaustellung der rhetorischen Mittel weicht und indem die

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Vgl. Quint. Inst. XI, 1, 38. Erik Gunderson, Declamation, Paternity, and Roman Identity. Authority and the Rhetorical Self, Cambridge 2003, S. 5. Gunderson, Declamation, Paternity, and Roman Identity, S. 18. Gunderson, Declamation, Paternity, and Roman Identity, S. xi. So sieht z. B. Sandstede – in unkritischer Einigkeit mit antiken Rhetorikkritikern – in der Deklamation eine Verfallsform der Rhetorik: »Vor allem in der römischen Kaiserzeit gerät die in Deklamatorenschulen entwickelte Vortragskunst zur Sensationshascherei.« Sandstede, Deklamation, Sp. 481. Auf diese unkritische Rezeptionshaltung hat auch Gunderson explizit verwiesen: »An uncritical acceptance of ancient rhetorical criticism can lead to the reproduction of their specific biases as truths. […] Declamatory criticism participated in the contest for symbolic domination and the imposition of legitimate language of which the declamations themselves were but special instances.« Gunderson, Declamation, Paternity, and Roman Identity, S. 14. Heribert Schatz, Jörg-Uwe Nieland, Theatralität als Zerfallsform politischer Öffentlichkeit? In: Theatralität als kulturelles Modell in den Kulturwissenschaften, hg. von Erika Fischer-Lichte, Christian Horn, Sandra Umathum, Matthias Warstat, Tübingen, Basel 2004, S. 159–181, S. 172.

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Rollenhaftigkeit des Redner-ēthos aufscheint, offenbaren die Deklamationen die Theatralität der Rede – sowohl in Bezug auf den Stoff als auch auf die sprachliche Ausgestaltung und nicht zuletzt in Bezug auf die actio des Redners. In den der ›Wirklichkeit‹ nicht verpflichteten Deklamationen scheint die ansonsten an den vir bonus, die mores und das Schicksal der clientes gefesselte Rhetorik außer Rand und Band zu geraten. Die auf Schaueffekte und Publikumsunterhaltung ausgerichteten Deklamationen bieten Raum für – so suggerieren die Kritiker – Überfluss, Schwulst, Prahlerei und Dreistigkeit der Redner. Im Gegensatz zum Idealbild der Rhetorik als einer klaren, vom vir bonus verbürgten und legitimierten Rede, die reale Auswirkungen zeitigt, sind die Deklamationen ›leere Rede‹, sie sind nicht authentisch, fiktiv, ohne Wirklichkeitseffekte und ihres funktionalen Rahmens beraubt.231 Erik Gunderson fasst zusammen, dass die Kritiker der Deklamationen vor allem den mangelnden Inhalt der Rede beanstanden und die Befürworter dagegen den erzieherischen Nutzen der sprachlichen und stimmlichen Übung hervorheben.232 Quintilian versuche beides zu verbinden: Je näher das Thema und die Art der Aufführung der Deklamation an der Wirklichkeit, desto besser tauge sie als Übung. Hier wird die Grenze ausgehandelt, die »unechte«, »poetische« Inszenierungen von Wirklichkeit und wirklichkeitsähnliche Darstellungen von Wirklichkeit unterscheidet.233 Doch trotz dieser vorgeblichen Eingrenzung der Deklamationen auf rhetorische ›Wirklichkeit‹, also der Gerichtspraxis möglichst ähnliche Situationen, ist entscheidend, dass Quintilian letztlich den Unterschied relativiert: Diejenigen, die die ganze Deklamationsaufgabe als etwas von der Gerichtspraxis völlig Verschiedenes betrachten, haben nicht einmal den Grund, der zur Erfindung dieser Übung geführt hat, verstanden. Denn wenn die Deklamation nicht für das Forum vorbereitet, ist sie entweder ganz wie eine Schaustellung auf der Bühne oder wie der Erguß eines in Wahnsinn Rasenden. […] Soll also kein Unterschied bestehen zwischen der Art der Gerichtsrede und unserer Deklamationsrede? Wenn wir reden, um Fortschritte zu erzielen, keiner!234

Der Unterschied der Deklamation zu Schauspielerei oder Wahnsinn, so argumentiert Quintilian, liegt in der Bildung des Redners, der sich in einem mimetischen Prozess in einer Schein-Wirklichkeit auf die Wirklichkeit vorbereitet, ohne dass die Rhetorik selbst eine andere wäre. In den Deklamationen wird der Herstellungsprozess der Rede und der Redneridentität offensichtlich, den es zugunsten der Glaubwürdigkeit sonst unsichtbar zu machen gilt. So stellt Quintilian heraus, dass Deklamationen, da sie eben nicht nur Berichts- und Beratungsrede, sondern auch die Lobrede ›abbilden‹, eben »etwas mehr äußeren Glanz in Anspruch nehmen«

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Vgl. Gunderson, Declamation, Paternity, and Roman Identity, S. 5. Vgl. Gunderson, Declamation, Paternity, and Roman Identity, S. 17. Vgl. Quint. Inst. II, 10, 5. Quint. Inst. II, 10, 7ff.

dürften und es dem Redner hier gestattet sei, »die ganze Kunst, die meistens vor Gericht verborgen bleiben muß, nicht nur spielen zu lassen, sondern sie vor den zu diesem Zweck eingeladenen Gästen sogar vorzuführen.«235 III.3.7 Leibesübungen: Palaestra In der actio spielt die körperliche Verfassung des Redners, ein großes Lungenvolumen und ein beweglicher Körper, eine bedeutende Rolle, weshalb die RhetorikLehre Leibesübungen für die Körper-Bildung der Jungen vorsieht. Den Zusammenhang von Rhetorik und sportlichen Übungen, ihre »cultural, conceptional, and corporeal connections«, hat Debra Hawhee in Bezug auf das antike Griechenland entwickelt und herausgestellt, nämlich dass die klassische griechische Rhetorik das öffentliche Auftreten des Redners als eine Bodily Art begreift.236 Die Anforderungen, die das öffentliche Auftreten an den Redner stellt, sind der alten Rhetorik zufolge trainierbar. Hawhee stellt heraus, dass es sich vor allem um zwei Anforderungen handelt, die actio und Athletik vereinen: »a deeply habituated, embodied, situated intelligence and sense of timing«237. Sowohl im Sport als auch in der Rede geht es nicht nur um ein Agieren, sondern um ein Interagieren, muss der Gegner abgeschätzt und im entscheidenden Moment zum richtigen körperlichen oder verbalen Schlag ausgeholt werden. Beide Künste, Rhetorik und Athletik, bedürfen der Ausbildung, des Trainings und der Praxis dieses situierten Körperwissens (metis) und des Gefühls für das passende Verhalten im entscheidenden Augenblick (kairos oder decorum). Im 5. und 4. Jahrhundert hat sich daraus ein »crossover in paedagogical practices and learning styles« zwischen Rhetorik und Athletik ergeben, und zwar im Gymnasion, dem Ort sowohl des körperlichen als auch des rhetorischen Trainings der jungen griechischen Oberklasse.238 Diese Pädagogik, so stellt Hawhee heraus, beruht auf drei Prinzipien der Bewegung, »rhythm, repetition, and response«239. Durch deren kontinuierliche Einübung wird die Rhetorik als körperliche, habitualisierte Praxis strukturiert. Aufgrund ihrer Beobachtungen der engen räumlichen wie konzeptuellen Nähe von Rhetorik und Athletik weist Hawhee nachdrücklich auf die Bedeutung des Körpers im Kontext des rhetorischen Lernens und (Inter-) Agierens hin: »knowledge-making habits and

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Quint. Inst. II, 10, 11f. Debra Hawhee, Bodily Arts. Rhetoric and Athletics in Ancient Greece, Austin 2004, S. 4. Hawhee, Bodily Arts, S. 190. Hawhee, Bodily Arts, S. 111. Vgl. zur Entwicklung von Gymnasien und Palästren in hellenistischer und römischer Zeit: Henri-Irénée Marrou, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum, hg. von Richard Harder, Freiburg, München 1957, S. 187ff., S. 364ff. Hawhee, Bodily Arts, S. 135.

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practices cannot be extricated from the body«.240 Das ›Körperwissen‹ und das ›intellektuelle‹, grammatisch-rhetorische Wissen sind in der klassischen griechischen Rhetorik noch nicht getrennt. Bevor der Frage nachgegangen werden soll, inwiefern diese Aussage auch für die römische Rhetorik zutrifft, ist noch ein weiterer Schnittpunkt von Rhetorik und Athletik zu erwähnen, den Hawhee ausführt: die verknüpfte Inszenierung beider Künste bei spektakulären Festen in Athen. Diese Inszenierung zeichnet sich jeweils durch die ritualisierte Zurschaustellung von Körpern aus. Es geht darum, sich sichtbar zu machen, sich als ehrenwert und gut darzustellen. In der Wahrnehmung des Publikums entsteht dadurch ein Wissen von ›guten‹ Körpern, das weiter zitiert und tradiert wird.241 In der römischen Rhetorik macht vor allem Quintilian Aussagen über die körperliche Ausbildung des angehenden Redners. In einem kurzen Unterkapitel seiner Anleitung zur Knabenerziehung geht er auf die Anforderungen der actio ein und diskutiert hierfür den Unterrichtseinsatz von Komödienschauspielern und Ringschullehrern. Quintilian greift hier ganz offenbar Reste einer Tradition auf, wie sie Hawhee für das klassische Griechenland beschrieben hat, fokussiert aber überwiegend, was der angehende Redner gerade nicht darf. Schränkt Quintilian die Unterweisung der Jungen durch die Komödienspieler, die Stimme und Gestik verfeinern sollen, schon ein, ist er noch vorsichtiger, was die weitere Ausbildung des Körpers durch den Ringschullehrer betrifft. Ringschullehrer scheinen zu Quintilians Zeit in dem schlechten Ruf zu stehen, »durch die Sorge um den Leib den Geist [zu] erstick[en]«242 . Quintilian sieht jedoch einen Bedarf darin, den Knaben die ›passende‹ Haltung und Bewegung des Körpers, insbesondere von Armen, Händen, Füßen, Kopf und Augen, beibringen zu lassen. Ganz offenbar erscheint den Zeitgenossen der Ringschullehrer vor allem deshalb problematisch, weil von ihm die Gefahr der Vermittlung von unmännlich wirkender, tänzerischer Anmut ausgeht, die in der Rhetorik eher männlich und kriegerisch ausfallen soll. Quintilian geht mit seinem Vorschlag, Ringschullehrer in der rhetorischen Erziehung einzusetzen, daher mit äußerster Vorsicht ans Werk: Zunächst grenzt er den ›guten‹ gegen den ›schlechten‹ Ringschullehrer ab, dann sichert er sich durch Hinweise auf die durch Autoritäten wie Sokrates, Plato und Chrysipp vermittelte Erziehungstradition ab, ruft wie gewohnt Cicero an, der Bewegungen wie beim Fechten oder in der Ringschule fordert, und schließlich bleibt er bei der Formulierung ex negativo, dass der Unterricht durch den Ringschullehrer jedenfalls »nicht als Schande« gelte und keinen »Anstoß zu erregen« vermöge, solange der angehende Redner nur nicht eine gestische »Art Tanz« erlerne. Stattdessen soll der Redner in Mannesjahren von

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Hawhee, Bodily Arts, S. 195. Vgl. das Kapitel »The Visible Spoken: Rhetoric, Athletics, and the Circulation of Honor«. In: Hawhee, Bodily Arts, S. 162–185. Quint. Inst. I, 11, 15.

jenen Ringschulübungen »unvermerkt als Spur jener damals erworbenen tänzerischen Anmut begleitet« werden.243 Der rhetorische Aufwand, mit dem Quintilian seinen Vorschlag unangreifbar gestaltet, zeugt von der Schwierigkeit einer Gratwanderung zwischen ›passender‹ männlicher Anmut und ›unpassendem‹, weiblich wirkenden Tanz, eine Gratwanderung, die gerade in Bezug auf die Ästhetik der actio immer wieder vollführt wird. Die Ringschule – palaestra, das römische Pendant des gymnasion – hat zu Quintilians Zeiten offenbar gänzlich andere Konnotationen als diejenigen, die Hawhee für die klassische griechische Zeit herausgestellt hat. Trotzdem kann festgehalten werden, dass auch Quintilian noch die körperliche Ausbildung von Jugend an für notwendig erachtet. Quintilians Ausweg, eine ›unvermerkte Spur‹ zu legen, um eine quasi natürliche, keinesfalls künstlich oder erlernt wirkende gestische Anmut zu bewirken, verweist auf die Vermischung von ars und natura. Der ursprüngliche Zustand einer Körperäußerung ist nicht mehr auszumachen, die Spur verweist auf die Präsenz eines Abwesenden, auf die Entstehung und Markierung des Körpers durch körperliche Akte der Vergangenheit. Diese ›Spur‹ macht die rhetorischen Übungen als Akte sichtbar, die sich verkörpern.

III.4 Die rhetorische Situation »Aus dreierlei nämlich ist die Rede zusammengesetzt: aus einem Redner, dem Gegenstand, über den er redet, und jemandem, zu dem er redet; und das Ziel (des Redens) bezieht sich auf diesen letzteren, ich meine den Hörer.«244

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Quint. Inst. I, 11, 1f.; vgl. Cic. De or. III, 220. Arist. Rhet. I, 3, 1358a–1358b. Diesen Parametern fügt Aristoteles hinzu: »[E]s genügt nicht, über das zu verfügen, was man sagen muss, sondern es ist notwendig, dass man auch darüber verfügt, wie man es sagen muss« (Arist. Rhet. III, 1, 1403b). Mit Hellmut K. Geissner kann somit die Aristotelische Fragenfolge als »WER spricht WORÜBER zu WEM WIE mit welcher Wirkung?« formuliert werden. Quintilian erweitert nach Geissner diese Fragenfolge auf »WER, WAS, WO, WANN, AUF WELCHE WEISE (mit welchen Mitteln), FÜR WELCHE SITUATION (Gelegenheit)« (vgl. Quint. Inst. IV, 2, 55). Geissner beschreibt, wie sich nicht nur die alten Persuasionsziele der Rhetorik (docere, movere, delectare), sondern auch die antiken Aufbauformeln über die Jahrhunderte erhalten und in der modernen Publizistik niedergeschlagen haben, wie die Lasswell’sche Fünferformel »Who says what in which channel to whom with what effect« zeigt. Als Kanäle nenne Harold Dwight Lasswell später auch spezifisch rhetorische: »public discussion, debate, oratorical techniques«, gebe aber den uneindeutigen Kanalbegriff (den sich die Kommunikationstheorie um Shannen und Weaver zu eigen gemacht hatte als störungsfreien Übertragungsweg im Sender-Empfänger-Modell) auf und ersetze ihn durch das traditionelle »wie«: »Wer sagt was wie zu wem mit welcher Wirkung«. Vgl. Hellmut K. Geissner, Lasswells Fünferformeln. Zwischen alter Rhetorik und ›new rhetorics‹. In: Rhetorik zwischen Tradition und Innovation, hg. von Annette Mönnich, München, Basel 1999, S. 18–24.

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Nimmt man die rhetorischen Situationen der Antike in den Blick und bezieht das Agieren des Publikums mit ein, ist das resultierende Bild »weit entfernt nicht nur von unserer textgebundenen Erfahrung der alten Rhetorik, sondern auch von der Vorstellung, der Redner produziere sich vor einer schweigenden Masse, welche ihrerseits nichts zum Ablauf der betreffenden Veranstaltung beizutragen habe.«245 Im Zentrum der alten Rhetorik steht der Redner, sein erklärtes Ziel ist es, ein Publikum zu überzeugen. Alle rhetorischen Produktionsstadien sind auf dieses Ziel (telos) hin ausgerichtet. Zentral ist die Frage des Agierens vor Publikum besonders in der actio-Lehre. Die Aufführung der Rede findet in der Antike immer vor einem körperlich anwesenden, aktiven Publikum statt und ist auf dieses Publikum hin konzipiert.246 Das Publikum ist den Gesten, den Mienen und der Stimme eingeschrieben. Während die Reaktionen des Publikums in den antiken Reden nicht mitüberliefert sind, erzählen die Rhetoriken immer auch von der Praxis des Redens und damit eben auch von dem reziproken Verhältnis zwischen Redner und Publikum. In diesem Kapitel soll nach den inszenatorischen Strategien gefragt werden, mit denen sich der Redner in der actio Geltung verschafft. Dazu wird der Redner in einer hochkompetitiven Situation, in einer exponierten Position auf der Rednerbühne beobachtet, wie er vor einem lautstark reagierenden Publikum agiert. In seiner Selbst-Inszenierung stellt sich der Redner dem Publikum als rechtschaffen, glaubwürdig und männlich dar (ēthos) und verbirgt zugleich den Inszenierungscharakter der actio, indem er vermeidet, dem Publikum als Schauspieler zu erscheinen. Zu untersuchen ist dabei, wie das doing (gender) des Redners mit einem showing doing verbunden wird. Die Frage nach der Inszenierung lenkt also den Fokus auf die Steuerung von Blickkonstellationen, die der rhetorischen Performanz – auch von Geschlecht – eingeschrieben ist. III.4.1 Schauplätze – Kampfplätze Auf der Rednerbühne in der Politik, vor allem aber im Gericht steht der Redner in einer rednerischen Konkurrenzsituation, die die Rhetoriken selbst als Kampfhandlung beschreiben.247 In diesem agonalen Rednerduell geht es, kurz gesagt, darum, 245 246

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Korenjak, Publikum und Redner, S. 16. Ob es sich auch bei einer medial vermittelten Rede vor einer Kamera oder einem Radiomikrophon ohne anwesendes Publikum noch um eine Rede im antiken Sinne handelt, könnte mit Quintilian bezweifelt werden (Quint. Inst. I, 2, 29ff.) – unterscheidet Quintilian doch zwischen einem »Gesprächston«, der vor nur einem Zuhörer angewendet wird, und einer Rede, die geistige und körperliche Erregung durch die Interaktion mit dem Publikum voraussetzt. Ich lasse hier bewusst die dritte Gattung der Reden, die Lobrede (genus demonstrativum) weg, weil diese auch in den Rhetoriken kaum Beachtung findet. Diese Gattung, die nach Ehre oder Unehre fragt, lobt oder tadelt, stellt weniger die Anforderung an ein Publikum, sich für oder gegen den Redner zu positionieren. Vielmehr geht es um die

Zustimmung für sich selbst (beziehungsweise den eigenen Mandanten) und zugleich Abneigung gegen die gegnerische Partei zu bewirken. Insofern findet sich in den Rhetoriken immer eine zweifache Anweisung, die jeweils der Gegenpartei das Gegenteil des Eigenen unterstellt. Ziel ist: »Zum einen, daß der Redner selbst vor dem Publikum in gewissen Punkten oder im Allgemeinen gut, zum anderen, daß der Gegner vor dem Publikum oder überhaupt schlecht dasteht«248. Diese feindliche Gegenüberstellung von Kontrahenten lässt sich auch in der bevorzugten Metaphorik des Kampfes für die Rede ablesen. Immer wieder wird der Redner mit dem Feldherrn und Kämpfer, werden Teile der Rede mit den Waffen der Kriegskunst verglichen. Die Rede und der Redner werden durch diese Metaphorik als stark, mächtig und männlich ausgezeichnet, handelt es sich bei der Kriegskunst doch wohl um die männlich codierte Domäne schlechthin.249 Allerdings, so möchte ich herausstellen, entdecken die Rhetoriken selbst, dass es sich bei der Rede weniger um einen realen Kampf als vielmehr um die Zurschaustellung der Kampfhaltung handelt. Dementsprechend beziehen sich die Rhetoriken auch nicht auf die Kampfhandlungen im Feld, sondern auf Kampfspektakel wie die Gladiatorenkämpfe, Fecht- und Ringkämpfe, die jeweils die Inszenierung eines Kampfes auf einer Bühne vor Publikum darstellen.250 Ein Kampf, selbst einer auf Leben und Tod wie in der Arena der Gladiatoren, bestehe aus vielen Handlungen, so Cicero, die nicht nur auf Verwundung, sondern auch auf eine publikumsbezogene Zurschaustellung aus sind.251 Daraus leitet Cicero ab, dass die Rede sowohl kämpferisch sein als auch Showeffekte bieten muss. Der Redner müsse mit der Rede den Kontrahenten treffen und parieren – allerdings auf eine elegante, anmutige, dem Auge und Gehör Genuss verschaffende Weise.252 »Was aber den sprachlichen Ausdruck selbst betrifft, so kommt wie bei den Waffen entweder die Bedrohung und gleichsam der Angriff als Form des praktischen Gebrauchs oder die bloße Handhabung als wirkungsvolles Schauspiel in Betracht.«253 Die Rede kann in der Konkurrenz um Popularität und Wählerstimmen in der athenischen und römischen Demokratie die Fortsetzung oder das Ende einer politischen Karriere, also metaphorisch gesprochen Leben oder Tod eines Redners, bewirken. Doch nicht die

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Demonstration von Macht und Pracht eines geschlossenen (Familien-)Kreises, die zwar nach außen wirkt, aber nicht auf Widerspruch stößt. Auch Quintilian schreibt eine »Wettkampfstimmung« (Quint. Inst. XI, 1, 48) nur der Beratungs- und Gerichtsrede zu. Arist. Rhet. III, 19, 1419b (hier zit. n. der Übersetzung von Krapinger). Vgl. Tac. Ann. XIV, 35f. Zit. n. Tacitus, Annalen, lat.-dt., übers. und hg. von Erich Heller, München, Zürich 1992. Tacitus macht in der Darstellung verschiedener Kampfgeschehen mehrfach deutlich, dass Frauen als das Gegenteil von Kriegern gelten. Vgl. Thomas Späth, Männlichkeit und Weiblichkeit bei Tacitus. Zur Konstruktion der Geschlechter in der römischen Kaiserzeit, Frankfurt a. M., New York 1994. Vgl. Cic. De or. II, 317; III, 200; Cic. Or. 228. Vgl. Cic. De or. II, 317. Vgl. Cic. De or. III, 200. Cic. De or. III, 206.

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Worte allein haben diese Macht, sondern ihre Wirkung beim Publikum, für das die Rede als Spektakel inszeniert wird. Reden werden daher in der Regel von einem exponierten Ort aus gehalten, der den Redner akustisch und visuell wahrnehmbar macht und ihm eine vom Publikum separierte Position zuweist. Dieser Ort ist zumeist ein öffentlicher Schauplatz mit impliziten oder expliziten Zugangsregeln, der sich durch eine zentrale geografische Lage in der Stadt auszeichnet. In der athenischen und in der römischen Demokratie gab es auf diesen Plätzen jeweils besonders gestaltete Rednerbühnen. Die bekanntesten sind das bēma, ein stufenweise aus dem Fels geschlagenes Podest auf der Akropolis in Athen, und die rostra, eine erhöhte Bühne auf dem Ort der Volksversammlungen, dem Comitium, und später auf dem Forum Romanum.254 Bei Rednerbühnen handelt es sich in der Regel, wie im Falle der rostra, die mit im Kampf erbeuteten Schiffsschnäbeln ausgeschmückt sind, um privilegierte Orte, die Macht signalisieren und verleihen. Das ganze Forum und besonders die Versammlungsorte des Senats, die ältere Curia Hostilia, in der Cicero viele seiner Reden vor dem Senat hielt, und die spätere Curia Iulia sind als Räume zu denken, die durch eine Ansammlung mächtiger visueller Symbole der römischen Religion, Kultur und Geschichte ausgezeichnet sind.255 Diese Umgebung fungiert als Kulisse des Redeauftritts, die den Redner in die dargestellten Kontexte einbindet. Zudem kann der Redner in der actio auf Statuen, Denkmäler, Orte etc. gestisch verweisen und mit diesen visuellen Hilfsmitteln dem Publikum Personen, Werte oder Orte direkt vor Augen führen.256 Die Rednerbühne gewährt als Bühne eine theatrale Grundsituation. Es handelt sich jeweils um ein offenes, langes, schmales Podium, auf dem der Redner gut sichtbar und hörbar, allein und ohne Manuskript in einer »Ein-Mann-Show«257 agiert. Der erhöhte Standpunkt macht deutlich, welche Relevanz nicht nur der Stimme, sondern auch der Wahrnehmung der Gestik und Mimik beigeordnet wird. Zugleich nimmt der Redner durch die räumliche Trennung vom Publikum und die

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Vgl. zu der historischen Entwicklung der Rednerbühnen: Eckart Olshausen, Rednerbühne. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 7, Tübingen 2005, Sp. 1061–1070. Vgl. Gregory S. Aldrete, Gestures and Acclamations in Ancient Rome, Baltimore 1999, S. 19. In der gezielten Inszenierung der Umgebung des Redners wie der Platzierung von Statuen, auf die während der Rede gezeigt wurde, sieht Gregory Aldrete durchaus Ähnlichkeiten zu visuellen Darstellungsstrategien der Gegenwart: »Just as a modern speaker might employ posters or slides for the purpose of providing illustrations for his talk, so Cicero ensured that he would have a visual aid available to supplement the verbal component of his performance.« Zur Funktion der Gestik als ›Zeigen auf etwas‹ und ihrem vielfältigen Gebrauch in der römischen Rhetorik vgl. ausführlich Aldrete, Gestures and Acclamations in Ancient Rome, S. 17–34, hier S. 26. Andersen, Im Garten der Rhetorik, S. 123.

erhöhte Position eine höhere Stellung in politischem Sinne ein.258 Das Publikum, die römischen Bürger, platzierte sich vor der Rednerbühne.259 Die Bühne vermittelt einen Imperativ, den darauf agierenden Figuren zuzusehen und zuzuhören. Die Bühne ist ein Ort, der die Wahrnehmungsrichtung lenkt, der jeder körperlichen Bewegung, jedem Stimmverhalten, gleich ob intendiert oder nicht, Zeichenhaftigkeit und Bedeutsamkeit verleiht.260 Mit dem zunehmenden Verlust bürgerlicher Macht in der römischen Kaiserzeit verändern sich die Rahmenbedingungen der Rhetorik und auch ihre Schauplätze. Die Schauredner der Zweiten Sophistik treten vor allem – und nicht zufällig – im Theater, dem »öffentliche[n] Gebäude par excellence«261 auf, in dem sowohl Theateraufführungen, Volksversammlungen als auch rhetorische Darbietungen stattfinden. Politik und Drama werden am gleichen Ort produziert. In den ersten nachchristlichen Jahrhunderten werden unzählige Theater errichtet oder bestehende hellenistische Theater umgebaut.262 Wie Karl-Heinz Göttert beschreibt, bleibt die Architektur des griechisch-römischen Theaters bezeichnenderweise nicht nur für alle späteren westlichen Theaterbauten grundlegend, sondern auch für Hörsäle und Parlamentssäle.263 Die römischen Theater sind nicht wie die griechischen in einen Hang gebaut, sondern als freistehende, geschlossene Baukörper errichtet, wodurch der Zuschauerblick nicht mehr über Landschaft und Himmel schweift, sondern auf die Bühne zentriert ist.264 Der Redner steht auf der erhöhten Bühne vor der eindrucksvollen Kulisse der hohen Skene, während das Publikum teils in der halbrunden Orchestra und dem ebenso angelegten, ansteigenden Zuschauerraum 258 259 260

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Vgl. Andrew J. E. Bell, Cicero and the Spectacle of Power. In: The Journal of Roman Studies, 87, 1997, S. 1–22, S. 2. Anders als in den griechischen und römischen Theatern sind keine Sitzplätze vor bema und rostra vorgesehen. Umberto Eco erklärt anhand des Beispiels eines Betrunkenen, der auf eine Theaterbühne gestellt wird, dass in diesem Rahmen eine Unterscheidung zwischen künstlichen, intentionalen und natürlichen, nicht intentionalen Zeichen unmöglich wird. Vielmehr liegt die Entscheidung, ob etwas als Zeichen interpretiert wird, im Blick der Zuschauer. Vgl. Umberto Eco, Semiotik der Theateraufführung. In: Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften, hg. von Uwe Wirth, Frankfurt a. M. 2003, S. 262- 276. Korenjak, Publikum und Redner, S. 28. Vgl. Horst-Dieter Blume, Einführung in das antike Theaterwesen, 3. Aufl., Darmstadt 1991, S. 125. Vgl. Göttert, Geschichte der Stimme, S. 39. Die Erkenntnis einer solchen Konstante der Architektur soll natürlich nicht über historische und regionale Entwicklungen und Unterschiede hinwegtäuschen. So gehört die zunehmende ästhetische Separierung von Bühne und Publikum durch die Guckkastenbühne, die Abdunkelung der Zuschauerräume und Beleuchtung der Bühne zu maßgeblichen Erneuerungen im Theaterbühnenbau, während das englische House of Commons und House of Lords eine Ausnahme von den in der Regel halbrunden Parlamentsräumen mit erhöhter Rednerbühne bildet. Vgl. Manfred Brauneck, Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters, Bd. 1, Stuttgart, Weimar 1993, S. 215.

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sitzt oder steht. Die ausgezeichnete Akustik des Theaters wird den Redner tausenden bis zehntausenden Zuhörern verständlich gemacht haben. Die Anordnung des Publikums im Halbkreis, schreibt Korenjak, impliziert dennoch eine andere Relation zwischen Publikum und Redner als die hierarchischere frontale Positionierung. Das Publikum hat sich durch die halbrunde Anordnung nun vermehrt gegenseitig im Blick, wohingegen der Redner sich schwer tut, gleichzeitig das gesamte Publikum zu überschauen – ein Umstand, der dem Publikum verstärkt Macht verleiht.265 III.4.2 Reden vor Massen: Publikum Der privilegierte Schauplatz, auf dem der Redner erscheint, verleiht nicht allein Macht und garantiert nicht allein seine Sichtbarkeit. Der Redner bedarf des zustimmenden Blicks eines Massen-Publikums. Die antiken Rhetoriken stellen selbst die Reziprozität des Verhältnisses zwischen Redner und Publikum heraus. Weil aber für den Redner die Szenerie der Volksversammlung gleichsam die größte Bühne darstellt, steigern wir uns da schon von Natur zu größter Ausdruckskraft im Reden. Denn eine Menge Menschen ist von solcher Wirkung, daß, wie ein Flötenspieler nicht ohne Flöte spielen kann, so auch ein Redner nur vor zahlreichem Publikum beredt zu sein vermag.266

An dieser Stelle soll kurz auf die Historizität des Begriffes ›Publikum‹ hingewiesen werden, um das Publikum der Antike anschließend zu beschreiben. Das Publikum ist im Zuge des Performative Turn in den Kulturwissenschaften stärker ins Forschungsinteresse gerückt, indem nicht nur Texte, sondern Aufführungen – und damit eben auch das Publikum der Aufführungen Gegenstand von Forschung werden.267 Die Aufführung eines Textes oder generell eine Performance wird dann als einmaliges Ereignis der Interaktion zwischen Aufführenden und Publikum gefasst. Das Publikum bringt mit der Anwesenheit seines Körpers und der Wahrnehmung seiner Augen und Ohren zugleich das Bühnengeschehen mit hervor. Die Betonung der Aktivität des Publikums, die dessen kreative Verarbeitungs- und Deutungsleistung bis hin zu – in Performances und Theaterinszenierungen seit den 1960er Jahren eingeforderten – aktiven Eingriffen in das Bühnengeschehen und damit die Auflösung der Trennung zwischen Bühnen- und Zuschauerraum bezeichnet, wendet sich gegen die Vorstellung eines Publikums, welche seit Ende des 18. Jahr-

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Vgl. Korenjak, Publikum und Redner, S. 29f. Cic. De or. II, 338. Vgl. Erika Fischer-Lichte, Die Entdeckung des Zuschauers. Paradigmenwechsel auf dem Theater des 20. Jahrhunderts, Tübingen, Basel 1997. Neben dieser überwiegend aus Theater- und Literaturwissenschaft stammenden Sichtweise wird das Publikum im 20. Jahrhundert durch Kommunikationswissenschaft, Soziologie und Psychologie untersucht. Hier findet insbesondere das Publikum der Massenmedien Aufmerksamkeit, vgl. zusammenfassend: Sylvia Usener, Publikum. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 7, Tübingen 2005, Sp. 452–474, Sp. 471ff.

hunderts überwiegend die Rezipienten einer kulturellen Veranstaltung meint und es damit auf den ästhetisch-passiven, konsumtiven Bereich beschränkt. Während das Publikum politisch-sozialer Auftritte seit Beginn des 20. Jahrhunderts zumeist nicht als ›Publikum‹, sondern als ›Öffentlichkeit‹ bezeichnet wird, gilt der Begriff noch im 18. Jahrhundert zur Bezeichnung von räsonierenden, geschmacksbildenden Subjekten der politischen Öffentlichkeit.268 In der alten Rhetorik bezeichnet der Begriff des ›Publikums‹ (auditores, auditorium) sowohl die ›Zuhörer‹ als auch ›Betrachter‹ einer Rede. Die alte Rhetorik ist auf ein aktives, mitdenkendes und urteilendes Publikum ausgerichtet, auf das sie ihre Intention zu überzeugen richtet und dessen Reaktionen als Wirkungsmesser fungieren. Schon Aristoteles nennt das Publikum als notwendigen und maßgeblichen Teil der Rede – und nicht nur als Supplement.269 Ohne Publikum, so wäre mit Aristoteles zu formulieren, gäbe es keine Rede und keinen Redner. Ebenso wie eine Volksmasse sich erst im Akt der Rede als Publikum konstituiert, wird der Redner erst durch das Publikum als solcher hervorgebracht. Dies macht Quintilian deutlich, der noch ein psychologisches Argument hinzufügt: Den größten Einfluss auf das Publikum übt der Redner durch die Steuerung der starken Affekte aus, durch das pathos. Das pathos wird nicht nur durch die Inhalte der Rede, sondern vor allem durch die actio, durch Gestik, Mimik und Stimme vermittelt. Die körperliche Performanz, womit hier Darstellung und Herstellung gemeint ist, des pathos wirkt umso überzeugender, argumentieren die antiken Rhetoriken, fühlt der Redner selbst, was er an Gefühlen vermitteln will. Genau an dieser Stelle reicht nicht nur ein Hörer aus, so Quintilian, sondern ist ein großes Publikum vonnöten, um in einem Akt der Wechselwirkung eine Steigerung der Affekte zu erzielen. Denn die Redekunst hängt zum größten Teil von der Verfassung unseres Geistes ab. Er muß sich ergreifen lassen […], deshalb wächst er durch Beifall, steigert sich durch den Schwung und freut sich, etwas Großes zu leisten. Es ist, als wehrte sich etwas in uns dagegen, die ganze Redekraft, die uns so viel Mühe gekostet hat, für einen einzigen Hörer aufzubieten: wir scheuen uns dann, uns über den Gesprächston zu erheben. Es stelle sich doch jemand nur die Haltung beim Deklamieren vor oder die Stimme, das Auftreten und den Ton eines Redners, überhaupt die geistige und körperliche Erregung, sein Schwitzen, von anderem nicht zu reden, und sein Ermatten – und das alles vor einem Zuhörer: sähe das nicht fast so aus, als wäre er verrückt geworden? Es gäbe im menschlichen Dasein überhaupt keine Redekunst, wenn wir nur zu einzelnen redeten.270

Gerade der körperliche Akt der Rede bedarf des Publikums. Die körperlichen Zeichen im Verlauf der Rede, das Schwitzen, das Ermatten und – »von anderem nicht zu reden« –, also tabuisierte, doppeldeutige Körper-Zeichen der Erregung wirken deplatziert, werden sie nicht durch ein großes Publikum als Rede-Akt vereindeu-

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Vgl. Ernst Meier, Publikum. In: Metzler Lexikon Ästhetik, hg. von Achim Trebeß, Stuttgart, Weimar 2006, S. 309. Vgl. Arist. Rhet. I, 3, 1358b. Quint. Inst. I, 2, 30f.

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tigt. In seiner Erregung scheint der Redner-Körper sich eine gewisse Blöße zu geben, indem Körper-Zeichen, die ansonsten kulturell verboten sind und verborgen werden, exponiert und mit einer spezifischen Bedeutung aufgeladen werden. Diese Körper-Zeichen sind jedoch nur situativ – während einer Rede vor einem großen, als Interpretationsgemeinschaft fungierenden Publikum – als ›angemessen‹ zu legitimieren. Der durch das Publikum und die Bühne gegebene Rahmen lässt den verschwitzten, erregten Körper als Zeichen großer Affekte, wie sie die engagierte Behandlung eines Gegenstandes erfordern, erscheinen. Ohne diesen Rahmen würde die Körperlichkeit selbst exponiert, ein dem vir bonus unangemessenes Verhalten, das wiederum als Zeichen von ›Verrücktheit‹ gelesen würde.271 Auch Cicero betont, dass ein Rede-Publikum über einen einzelnen Zuhörer hinausgehen muss, ja besser noch mehr als nur zuhörende Richter umfassen und am besten aus einem Massen-Publikum bestehen sollte. Für das Volk, und nicht für Einzelne, soll ein Redner sprechen, und das Volk soll ihn als Redner bestätigen: »Denn dem größten Redner ist es eben zu eigen, auch als größter Redner dazustehen in den Augen des Volkes.«272 Diese Blickkonstellation ist wesentlich für den Redner. Der Redner entwirft sich selbst auf der Redner-Bühne, und diesen Selbstentwurf soll idealerweise der Blick des Volkes bestätigen. Mit Jacques Lacan ist eine solche Spiegelblickkonstellation als konstitutiv für die strukturelle Formierung des Subjekts zu lesen.273 Lacans Subjekt sieht im Spiegel sein ideales Körperbild und formt sich danach. Um sich dieser idealen Selbst-Setzung zu vergewissern, begehrt das Subjekt die Bestätigung im Blick des Anderen. Lacans Entwurf bietet eine Möglichkeit, die antike Relation von Redner-actio und Publikum zu beschreiben, da er zum einen die visuelle Wahrnehmung als konstitutiv für das Subjekt setzt und zum anderen die Vorgängigkeit kultureller Bilder, nach denen sich der Redner formt, betont. Damit beherrscht der Redner nicht souverän den Raum der Wahrnehmung, sondern befindet sich immer schon im Blick des Anderen. Das Publikum erblickt den Redner und der Redner wiederum sieht sich im Blick des Publikums. Cicero reflektiert diese doppelte Blickrichtung und geht so weit, den Erfolg der Rede durch die ›Ansicht‹ des Publikums bestimmen zu können. Um eine Rede zu beurteilen, müsse man ihr gar nicht zuhören, sondern einzig einen

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Die Frage drängt sich auf, ob einer Rednerin ein so mitreißender, pathetischer Auftritt in diesen körperlichen Ausmaßen möglich wäre. Naheliegend erscheint die Antwort, dass ein weiblicher, schwitzender, erregter und ermattender Körper niemals durch den Gegenstand einer Rede legitimiert werden könnte, sondern im männlichen Blick immer die Körperlichkeit – oder gar die ›Verrücktheit‹ der redenden Frau in den Vordergrund der Wahrnehmung rücken würde. Cic. Brut. 186. Vgl. Jacques Lacan, Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint (1949), in: Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart, hg. von Dorothee Kimmich, Rolf Günter Renner, Bernd Stiegler, Stuttgart 1996, S. 176–187.

Blick auf das Publikum werfen. Entweder das Publikum gähnt, plaudert und langweilt sich sichtlich – oder es ist gebannt, wirkt emotional erregt. Hier kann man soweit gehen, von einer actio des Publikums zu sprechen, wenn Cicero aufzählt: »die Richter recken die Hälse und schauen gespannt zu, sie scheinen etwas zu erfahren und, wie ihre Miene zeigt, dem auch zuzustimmen«274 . Neben dem idealen Redner entwirft Cicero auch ein ideales Publikum, die sich gegenseitig bedingen: Das aber ist es, was ich meinem Redner wünsche: Wenn man hört, er werde sprechen, dann wird der Platz auf den Bänken im voraus besetzt, das Tribunal füllt sich […]. Wenn jener sich erhebt und zu sprechen ansetzt, gibt man sich im Kreis Zeichen zur Stille. Alsbald folgen dicht aufeinander zahlreiche Bekundungen der Zustimmung und Bewunderung; Lachen, wenn er will – wenn er es will, Weinen. Wer das von Ferne sieht, der merkt, auch wenn er nicht weiß, was wirklich vor sich geht, daß hier jemand Anklang findet, daß ein Roscius auf der Bühne steht.275

Der ideale orator hat – gerade aufgrund seiner actio, seiner schauspielerischen Leistung in Bezug auf Stimme, Gestik und Mimik, wie sie der Hinweis auf den berühmten Schauspieler Roscius anspricht – Macht über die Affekte und Gedanken seines Publikums, er kann es verführen, bewegen, überreden, überzeugen. Er bedarf aber zugleich der Zeichen der Zustimmung, ja sogar Bewunderung des Publikums, die seine Selbstinszenierung bestätigen und aufrechterhalten. Damit demonstriert das Publikum sowohl die Wirkung der Rede als auch die des Redners.276 In gewohnt kontrastiver Weise wird in den Rhetoriken sowohl das mitgerissene als auch das unaufmerksame Publikum vor Augen geführt. Die Aufmerksamkeit des Publikums ist der Rede keineswegs eingeschrieben, sondern muss erkämpft und aufrechterhalten werden. Der Redner muss sich in einem ersten Schritt Gehör verschaffen. Dies ist bei einem antiken Publikum, das überaus aktiv ist, lärmt, plaudert, Kommentare ruft sowie zahlenmäßig stark ist, keineswegs selbstverständlich. In der Tat handelt es sich um eine Masse, die der Redner stimmlich, gestisch und mimisch erreichen muss: Bei wichtigen Entscheidungen der athenischen Volksversammlung spricht der Redner vor mindestens 6000 Personen, in den athenischen

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Cic. Brut. 200. Cic. Brut. 290. Der Beifall für die Rede beweist die Wirkung der Rede (Cic. Brut. 184–200). Cicero diskutiert hier einen möglichen Unterschied zwischen dem Urteil über eine Rede durch das Volk und durch Kenner. Der Unterschied ist, so Cicero, schlicht der, dass der Kenner durchschaut, wodurch die Rede gewirkt hat und dementsprechend weiß, warum die Masse Beifall spendet. Wenn die Masse einer Rede Beifall spendet, muss auch der Kenner ihr seine Wertschätzung zollen, ist doch das wichtigste Ziel, die positive Wirkung, erreicht. Diese neutrale Darstellung des Massenpublikums unterscheidet sich von solchen, die sich abwertend über die Massen äußern, die gerade was die actio betrifft, offenbar einen theatralischeren Geschmack haben als die gehobenen Stände. Es ist sicherlich auch als politische Strategie Ciceros, dessen politische Karriere nicht zuletzt vom Volk abhängig ist, zu werten, sich derartig respektvoll über die Meinung des Volkes zu äußern.

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Gerichtshöfen kommen mehrere hundert Richter zusammen. Römische Redner haben ebenfalls ein großes Publikum, vor allem in der Volksversammlung auf dem Comitium und im Senat.277 In den Theatern mit ihrer hervorragenden Akustik sprechen Schauredner der Kaiserzeit sogar vor 10–14.000 Zuschauern.278 Hier zählt vor allem die Lautstärke der Stimme und die ausholende Gestik. In einem zweiten Schritt muss der Redner die Aufmerksamkeit über große Zeiträume – teilweise stundenlang 279 – an sich binden. Dazu werden rhetorische Mittel der konkreten Publikumsansprache eingesetzt wie die Anrede, illustrierende Sequenzen der Rede (evidentia, illustratio), Appelle, rhetorische Fragen, gemeinschaftsstiftende Einbeziehung des Publikums durch Sätze wie »wer wüsste das nicht« sowie – dies nennt Cicero als bestes Mittel, um die Aufmerksamkeit des Publikums (zurück) zu gewinnen – schlagfertige Pointen und metadiskursive Äußerungen über das Publikum.280 Aber bereits die Wahl der Redegattung, der Stilmittel und die Gewichtung der Wirkungsfunktionen (docere, movere, delectare) wie auch die Strategien im Verlauf der Rede sind von der Einschätzung des Publikums, von seinem Wissensstand, seiner Stimmung und seiner Voreingenommenheit abhängig.281 Die actio wird als Mittel beschrieben, die Aufmerksamkeit für die Rede herzustellen und aufrecht zu erhalten, besonders durch ihren Abwechslungsreichtum, der immer wieder eingefordert wird. Ganz offensichtlich liegt hier kein Konzept vor, das dem Akt des Sprechens, dem Erscheinen der Stimme und des Körpers an sich, bereits eine zwingende Aufforderung zum Zuhören zuordnet. Vielmehr muss diese durch eine bestimmte Art der Stimmführung, der Gestik und Mimik jeweils situativ erzeugt und aufrechterhalten werden. Um angemessen – hier ist das decorum wiederum ein zentraler Begriff – auf das Publikum zu reagieren, muss der Redner über ein psychologisch zu nennendes »Gespür« verfügen, was das Publikum oder hier speziell die Richter »denken, was sie glauben, was sie erwarten, was sie wünschen und in welche Richtung sie wohl durch die Rede am leichtesten zu lenken sind«.282 Der Redner hat die kollektive Meinung abzuschätzen und Erwartungshaltungen zu bestätigen. »Er muß die Eigenarten jedes Stammes, Alters oder Standes kennen und die Gesinnung und Empfindung derer zu erspüren suchen, vor denen er etwas vertritt oder vertreten soll.«283 Spätestens an dieser Stelle stellt sich die Frage nach dem Geschlecht des Publikums. Sowohl für das athenische als auch das römische Publikum ist die Quellen-

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Im Senat sprach der römische Redner vor 300–600 Mitgliedern. Vgl. Usener, Publikum, Sp. 455. So viele Zuschauer hatten im Marcellus-Theater, das 11 v. Chr. in Rom erbaut wurde, Platz. Vgl. Brauneck, Die Welt als Bühne, S. 215. Vgl. Göttert, Geschichte der Stimme, S. 76. Vgl. Arist. Rhet. III, 7, 1408a; Cic. De or. II, 340. Vgl. Usener, Publikum, Sp. 453. Cic. De or. II, 186. Cic. De or. I, 223.

lage dürftig, die wenigen Äußerungen beziehen sich zumeist auf weibliches Publikum im Theater, nicht in der Politik oder vor Gericht. Es ist davon auszugehen, dass in Athen keine Frauen im Publikum anwesend sind, die in der athenischen Gesellschaft zurückgezogen in ihren Häusern leben und nicht in der Öffentlichkeit, weder im Theater noch in Versammlungen in Erscheinung treten.284 Für ein römisches Publikum lässt sich dies nicht mit der gleichen Sicherheit behaupten. Cicero vertritt Frauen juristisch und klagt Frauen an, die wohl bei den jeweiligen Verfahren auch anwesend sind. Rednerinnen wie Gaia Afrania oder Hortensia werden »sich ihre Beredsamkeit kaum erworben haben können, ohne in irgendeiner Form als Hörerinnen an rhetorischen Veranstaltungen teilzunehmen«285, meint Martin Korenjak. Aufgrund der wenigen expliziten Zeugnisse für Frauen im Publikum und eines völligen Mangels an Texten, die ihre Aktivitäten im Publikum beschreiben würden, kommt Korenjak zu der These, dass »Frauen sicher keine den Männern vergleichbare Publikumsgruppe, sondern immer eine Minderheit darstellen«286. In den antiken Kulturen, die Frauen als Rednerinnen und im Publikum nur als Ausnahmen kennt und von einem männlichen Redner hohen Standes sowie einem männlichen Publikum ausgeht, ist die Frage, was geschieht, wenn eine Rednerin zu diesem überwiegend männlichen Publikum spricht. Welche Erwartungshaltung tritt ihr entgegen? Kann sie sich ebenso im bestätigenden Blick der Menge spiegeln wie der Redner, kann sie ebenso überzeugen und bewegen – und wiederum durch die Reaktionen des Publikums angestachelt werden? Ciceros Brutus, der in vielen Anekdoten von Publikumsreaktionen erzählt, führt keine einzige Rednerin auf. Einzig Quintilian erwähnt kurz lobend eine Frau, die als Rednerin in eigener Sache in der Öffentlichkeit auftritt: Hortensia, Tochter des Quintus, hält eine Rede vor den Triumvirn, die man »nicht nur zur Ehre des weiblichen Geschlechts« lese.287 Während diese Rede zu Quintilians Zeiten offenbar schriftlich vorgelegen hat, ist sie uns nur durch Appians Römische Geschichte überliefert.288 Hortensia spricht vor 284

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Vgl. Pomeroy, Frauenleben im klassischen Altertum, S. 119ff. Ob Frauen zu Theateraufführungen im klassischen Athen Zutritt hatten, ist bis heute umstritten. Dagegen spricht ihre unterdrückte, auf das Haus beschränkte Position; dafür spricht eine Anekdote, die berichtet, im dritten Teil von Aischylos’ Oresteia hätten schwangere Frauen vor Schreck Fehlgeburten erlitten. Ob dies als ernst zu nehmender Beleg für Frauen im Theater oder als wirkungsästhetische Metaphorik zu lesen ist, bleibt unklar. Vgl. Willmar Sauter, Publikum. In: Metzler Lexikon Theatertheorie, hg. von Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch, Matthias Warstat, Stuttgart, Weimar 2005, S. 253–259, S. 255. Korenjak, Publikum und Redner, S. 49. Korenjak, Publikum und Redner, S. 50. Quint. Inst. I, 1, 6. App. Civ. IV, 32ff. Zit. n. Appian von Alexandria, Römische Geschichte, Bd. 2: Die Bürgerkriege, übers. und hg. von Otto Veh, Stuttgart 1989. Appian gibt an, eine ihm vorliegende Rede Hortensias in griechischer Übersetzung wiederzugeben. Sarah B. Pomeroy hält dagegen die Appian’sche Wiedergabe von Hortensias Rede »höchstwahrscheinlich [für] eine rhetorische Übung aus dem zweiten Jahrhundert«. Pomeroy, Frauenleben im klassischen Altertum, S. 267.

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dem Tribunal der Triumvirn auf dem Forum im Namen von eintausendvierhundert reichen, bislang nicht steuerpflichtigen Frauen, deren Vermögen nun zwangsweise geschätzt und als Kriegsabgabe zum zweiten Punischen Krieg besteuert werden soll. Bereits der Zugang zum Tribunal und damit zu einer Möglichkeit der Rede erscheint begrenzt und keinesfalls selbstverständlich für die Frauen. Immerhin ist der Weg, auf dem Hortensia mit den Frauen zum Tribunal vorrückt, Appian eine Beschreibung wert: »Nun bahnten sie sich ihren Weg zum Tribunal der Triumvirn auf dem Forum, wobei das Volk und die Leibgarden ihnen Platz machten.«289 Offenbar ist auf dem Forum, das in der Regel Männern vorbehalten ist, das Auftreten einer Menge Frauen Aufsehen erregend, denn damit jemand Platz macht, muss man sich zunächst bemerkbar machen. Anscheinend bleibt hier außerdem die Gruppe der Frauen von der des Volkes beziehungsweise der Leibgarden separiert. Hortensia selbst reflektiert zu Beginn der Rede ihren Bruch mit dem decorum: Ist es doch nicht nur ungewöhnlich, sondern auch ungebührlich, dass sie trotz ihres Geschlechtes und ihres Standes öffentlich das Wort ergreift. In ihrer captatio benevolentiae erklärt sie, wie sie zunächst das übliche, angemessene Vorgehen für eine hochrangige Frau befolgt hat – nämlich die weiblichen Verwandten der Triumvirn anzusprechen, um über diese Einfluss auf die Entscheidung zu nehmen. Erst nachdem sie von einer Verwandten ungehörig abgewiesen wird – das ›passende‹ Verhalten also von anderer Seite nicht eingehalten wird –, sieht sich Hortensia auf das Forum »gedrängt«290. Trotz dieser einleitenden Entschuldigung, mit der Hortensia sich das Wohlwollen ihres Publikums zu sichern sucht, reagieren die Triumvirn Appian zufolge verärgert: »Also sprach Hortensia, die Triumvirn aber ärgerten sich, dass Frauen, während ihre Männer kein Wort sagten, sich erkühnten und Versammlungen abhielten, ja sogar von den Behörden Rechenschaft über ihre Maßnahmen forderten […]. Daher befahlen sie ihren Liktoren, die Frauen vom Tribunal abzudrängen«291. Das Privileg des Zugangs zum Ort der Rede entscheidet zunächst über die schiere Möglichkeit der weiblichen Wortergreifung, die Verwehrung des Zugangs beziehungsweise die Vertreibung vom Ort der Rede beendet sie. Doch das Publikum kommt Hortensia zu Hilfe, es werden »schließlich Stimmen aus der Masse von außen her laut […]. Die Liktoren hielten nun in ihrem Tun inne, und auch die Triumvirn ließen erklären, sie wollten die Erledigung der Angelegenheit bis zum nächsten Tag verschieben.«292 Hier wird eindrucksvoll die Macht der Stimme des Volkes demonstriert und der Ohnmacht der weiblichen Stimme gegenüber gestellt. Erst laut werdende Stimmen aus der Masse – also männliche Stimmen, wie zu vermuten ist – finden bei den Triumvirn Gehör und bescheren

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App. Civ. IV, 32. App. Civ. IV, 32. App. Civ. IV, 34. App. Civ. IV, 34.

Hortensia zumindest einen Teilerfolg ihres Antrags.293 Während Hortensia die vom Stand her gleichgestellten Triumvirn nicht erreicht, überzeugt sie die (wahrscheinlich) sozial niedriger stehenden Massen. Ohne dieses Argument zu stark machen zu wollen – schließlich haben die Triumvirn ein anderes politisch-finanzielles Interesse an dem Vermögen der Frauen zur Kriegsführung als das Massen-Publikum –, möchte ich die Frage nach dem sozialen Status der Redner/innen im Vergleich zum Publikum, der Wirkung einer Rednerin auf ihr Publikum, dem Geschlecht des Publikums sowie den Zugangsmöglichkeiten von Rednerinnen auf die Rednerbühne für die kommenden Kapitel festhalten. III.4.3 Sich als etwas zeigen: Ēthos und actio Die Rhetorik zielt nach Aristoteles darauf ab, das Überzeugende in einer Sache zu erkennen und herauszustellen.294 Aristoteles hat in seiner Rhetorik drei Überzeugungsmittel der Rede aufgeführt: neben der Rede selbst (logos) und den Affekten der Zuhörer (pathos) nennt er den ›Charakter‹ des Redners (ēthos). Das Zusammenspiel dieser drei »technischen« Überzeugungsmittel bewirkt den Erfolg der Rede – »fast die bedeutendste Überzeugungskraft« spricht Aristoteles jedoch dem ēthos zu. Das ēthos überzeuge, indem »die Rede so dargeboten wird, daß sie den Redner glaubwürdig erscheinen läßt«.295 Unter ēthos ist also die auf Glaubwürdigkeit abzielende Selbstdarstellung des Redners im Redeauftritt zu verstehen. Die actio dient nach allgemeinem Verständnis dazu, den Inhalt des Gesagten zu unterstützen. Demnach laute der »Haupttenor aller Empfehlungen« in der klassischen Rhetorik, so Clemens Ottmers, »dass die Inhalte und Botschaften der Rede im Vordergrund stehen und der Redner diese durch seine Körpersprache und Stimmführung unterstützen und die actio dementsprechend ausrichten soll.«296 Hier ist darauf hinzuweisen, dass die actio nicht nur die verbale Darstellung der Rede-Inhalte unterstreicht, sondern auch – und zwar maßgeblich – für die Selbstdarstellung des Redners einzusetzen ist.297 Mit den körperlichen Ausdrucksmitteln Stimme, Mimik und Gestik verweist der Redner nicht nur auf etwas anderes, die Rede-Inhalte, sondern in einem selbstreferenziellen Moment zugleich auf ›sich‹ oder – wie nach den vorhergehenden Kapiteln zur Inszenierung und zum Publikum genauer formuliert werden kann: – ›sich als etwas für jemanden‹. Ob die Konzepti-

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Statt der 1400 Frauen müssen nur 400 Frauen ihren Besitz abschätzen lassen und darauf Steuern zahlen, stattdessen werden alle Männer zu erhöhten Steuern herangezogen. Vgl. App. Civ. IV, 35. Vgl. Arist. Rhet. I, 2, 1355b. Arist. Rhet. I, 2, 1356a (hier zit. n. der Übersetzung von Krapinger). Rapp übersetzt: »[...] dass sie den Redner glaubwürdig macht«. Ottmers, Rhetorik, S. 219. Auf diesen Zusammenhang von actio und ēthos wird auch in Kapitel III.2.1 und 2.2 hingewiesen.

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on des ēthos nun davon ausgeht, dass dieses ›Selbst‹, das gezeigt wird, vorgängig ist, oder aber ob ein ›Selbst als etwas für jemanden‹ erst in der Rede hergestellt wird, ist in der alten Rhetorik umstritten. Inwiefern die antiken Rhetoriken das ēthos an einen vorgängigen Charakter binden oder aber dessen performative Hervorbringung in der publikumsbezogenen Selbstinszenierung ausstellen, wird im Folgenden untersucht. Dabei stellt sich die Frage, wie gerade die actio das ēthos des Redners transportieren kann. Zu überprüfen ist die Hypothese, dass die Glaubwürdigkeit, die durch die ›Charakter‹-Darstellung herzustellen ist, an den ›Geschlechtscharakter‹ des vir bonus gebunden ist. Glaubwürdigkeit wäre damit als Effekt einer spezifischen männlichen Selbstdarstellung in der alten Rhetorik definiert. Aristoteles zufolge findet der Einsatz des ēthos immer in Bezug auf ein bestimmtes Publikum298 statt und scheint insbesondere dann vonnöten zu sein, wenn das Publikum eine Wahrheit nicht oder nicht leicht erkennen kann: Durch den Charakter also (erfolgt die Überzeugung), wenn die Rede so gehalten wird, dass sie den Redner glaubwürdig macht; denn wir glauben den Tugendhaften in höherem Maße und schneller – und zwar im Allgemeinen bei jeder Sache, vollends aber bei solchen Fällen, in denen es nichts Genaues, sondern geteilte Meinungen gibt. Dies muss sich aber durch die Rede ergeben, und nicht durch eine vorab bestehende Meinung darüber, was für ein Mensch der Redner ist [...].299

Hier zeigt sich die entscheidende Bedeutung der actio für das ēthos, denn es kommt nicht, wie Aristoteles sagt, auf eine vorgefasste Meinung über die Person des Redners an, sondern auf die Performanz des ›Charakters‹ im Redeauftritt.300 Insofern

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Es ist konstitutiv, dass der ›Charakter‹ des Redners immer in Bezug zu einem spezifischen Publikum steht, dem ebenfalls ein ›Charakter‹ zugeschrieben wird. Aristoteles entwickelt eine ›Charakter‹-Typologie des Publikums, die Rückschlüsse auf den Redner erlaubt. Unterschieden wird in Bezug auf die »Altersgruppen«, das sind »Jugend, Blütezeit und Alter« sowie »Glück«, nämlich »edle Herkunft, Reichtum, Macht und die Gegenteile davon« (Arist. Rhet. II, 12, 1389a). Obwohl die stereotype Beschreibung der unterschiedlichen ›Charaktere‹ an eine »cast list of Hellenic dramatis personae« (James S. Baumlin, Ēthos. In: Encyclopedia of Rhetoric, hg. von Thomas O. Sloane, Oxford 2001, S. 263–277, S. 267) erinnert, sind Aristoteles Differenzkriterien dennoch aufschlussreich: Deutlich wird zunächst, dass es sich um Differenzen innerhalb einer relativ homogenen Gruppe ranghoher Griechen handelt, dass die Kategorie ›Geschlecht‹ unerwähnt bleibt, insofern als grundsätzlich von einem männlichen Publikum ausgegangen wird, und weiterhin die Altersunterschiede unter Männern die für die alte Rhetorik bemerkenswertesten Differenzen sowohl unter den Rednern als auch im Publikum ausmachen. Arist. Rhet. I, 2, 1356a. Diese enge Bindung stellt Brigitte Mral sogar verstärkt für die heutige politische Rede fest: »Actio und ēthos sind unauflösbar verbunden. Die Glaubwürdigkeit des Politikers wird heute mehr denn je an der Einheitlichkeit von Ideologie, Handlung und Auftreten gemessen. Den Charakter, oder die persona, die ein Politiker wählt, vorzuzeigen, ist entscheidend für das Vertrauen, das ihm entgegengebracht wird.« Brigitte Mral, Gelassenheit, Humor, Engagement. Actio-Strategien moderner schwedischer Politikerinnen. In:

ist die Übersetzung von ēthos durch ›Charakter‹ problematisch, als es sich nicht um feststehende individuelle Charakterzüge des Redners handelt, sondern um einen Effekt des Redeauftritts.301 Der Begriff kann zugleich mit ›Gewohnheit, Sitte‹ übersetzt werden, womit der performative wiederholende Aspekt des ēthos betont wird.302 Der Rednercharakter erscheint dem Redeakt nicht vorgängig, die actio bringt das ēthos erst (in beständigen Wiederholungen) hervor. Beides, Charakter und Gewohnheit, scheint sich zu verschränken, denn wie gesagt ist die »Gewohnheit [...] nämlich in gewisser Hinsicht der Natur ähnlich, denn nahe beieinander liegen ›oft‹ und ›immer‹, Natur aber bedeutet in etwa ›immer‹, Gewohnheit ›oft‹«.303 Damit bedeutet das ēthos bei Aristoteles eben keine »revelation of character«, sondern eine »active construction of character«, wie James S. Baumlin betont.304 Aristoteles fordert nicht wie Platon oder Isokrates, der Redner müsse nach strengen moralischen Maßstäben leben, sondern entwirft das ēthos als rhetorisches entechnisches Instrument der Zuschauer-Beeinflussung.305 Tatsächlich bleibt immer unentscheidbar, ob ein Redner darstellt, was er wirklich ist, wie er zu sein glaubt oder zu sein wünscht.306

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Weibliche Rede – Rhetorik der Weiblichkeit. Studien zum Verhältnis von Rhetorik und Geschlechterdifferenz, hg. von Doerte Bischoff, Martina Wagner-Egelhaaf, Freiburg i. Br. 2003, S. 321–349, S. 327. Vgl. zur »Vorgängigkeit des Sprechens vor den Sprechern« in der Antike: Hetzel, ›Die Rede ist ein großer Bewirker‹, S. 232f. Sowie James S. Baumlin, Introduction: Positioning Ethos in Historical and Contemporary Theory. In: Ethos. New Essays in Rhetorical and Critical Theory, hg. von James S. Baumlin, Tita French Baumlin, Dallas 1994, S. xixxxi, S. xvii. Zu der Bedeutungspluralität des Begriffs vgl. auch Baumlin, Ēthos, S. 269; Baumlin, Introduction: Positioning Ethos in Historical and Contemporary Theory, S. xvii. Arist. Rhet. I, 11, 1370a (hier zit. n. der Übersetzung von Krapinger). Baumlin, Introduction: Positioning Ethos in Historical and Contemporary Theory, S. xv. Obwohl Markus Wörner das ēthos als entechnisches Überzeugungsmittel darstellt, scheint ihm die Lesart der Aristotelischen Rhetorik als »Regelwerk zur Produktion einer Weise von Erscheinen« Unbehagen zu verschaffen. Er beharrt darauf, dass »die tatsächliche gute Beschaffenheit des Charakters des Redners selbst derart unabdingbar für eine glaubwürdige Rede erforderlich [ist], daß sie ohne ihr Vorhandensein ihrer spezifischen Funktion überhaupt nicht zu entsprechen vermag.« Zwar beruhe die Entsprechung von Charakterbild und Charakter nicht auf einer Notwendigkeit, könne aber einzig die Geltung des Gesagten garantieren. Markus H. Wörner, Das Ethische in der Rhetorik des Aristoteles, Freiburg 1990, S. 332ff. Auf operativer Ebene ist es irrelevant, ob der ›wahre‹ und ›erscheinende‹ Charakter des Redners deckungsgleich sind, auf einer politischen oder ideologischen Ebene, auf der Markus Wörner hier offenbar argumentiert und die in der römischen Rhetorik vorherrscht, ist es jedoch für die Rhetorik höchst relevant, eine solche Entsprechung (voraus) zu setzen. Vgl. Hahn, Inszenierung von Unabsichtlichkeit, S. 178f. Aus heutigem Blickwinkel erscheint eine solche Unterscheidung zwischen Authentizität und Inszenierung in Anbetracht der anthropologischen Notwendigkeit des Inszenierungsbedarfs jeder Selbst-

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Gleichzeitig, so stellt sich Roland Barthes die Erzeugung des ēthos in der Rede vor, ereignen sich die rednerische Darstellung von Informationen über etwas anderes und über sich selbst: »Das Ethos im eigentlichen Sinn ist eine Konnotation: Der Redner äußert eine Information und sagt gleichzeitig: ich bin dies, und nicht jenes.«307 Aristoteles nennt neben den vorzutragenden Argumenten drei auf das ēthos bezogene Mittel, wie Glaubwürdigkeit zu bewirken ist: Erstens phronēsis, die Klugheit und Sachkenntnis des Redners, zweitens aretē, seine (scheinbar) moralisch-sittliche Lebensführung (zu den Tugenden zählen Gerechtigkeit, Tapferkeit, Mäßigkeit, Edelmut, innere Größe, Freigebigkeit, Sanftmut, Einsicht und Weisheit) und drittens eunoia, seine aufgeschlossene, wohlwollende Haltung dem Publikum gegenüber.308 Insofern müsse, folgert Barthes, der Redner gleichzeitig mit seinen Argumenten kontinuierlich ausdrücken: »folgt mir (phronesis), schätzt mich (arete) und liebt mich (eunoia)«309. Wie genau diese Handlungsanweisung nun in der actio umzusetzen ist, bleibt unerschlossen, bekanntlich besteht zu Aristoteles Zeit noch keine ausformulierte Theorie der actio. Das wenige, das Aristoteles in Bezug auf die actio in der Rhetorik ausführt, verknüpft die Stimmführung mit der Affekterregung: »wie man, um jeden beliebigen Affekt hervorzurufen, die Stimme einzusetzen hat«310 und wie diese in Lautstärke, Tonfall und Rhythmus zu variieren ist. Insofern ist anzunehmen, dass die Stimmführung ebenfalls für das ēthos relevant ist, da Aristoteles das ēthos und die Erregung von Affekten, von Stimmungen im Publikum, miteinander verbindet: Was die Glaubwürdigkeit betrifft, kommt es sehr darauf an, daß der Redner einen bestimmten Eindruck hinterläßt, daß die Zuhörer den Eindruck gewinnen, die Stimmung des Redners, die er vermittelt, spräche sie in irgendeiner Weise an, schließlich darauf, ob auch die Zuhörer selbst gerade in irgendeiner Stimmung sind.311

In der römischen Rhetorik erfährt das Aristotelische ēthos (lat. mores) einen Bedeutungswandel. Logos, ēthos und pathos gehen als die drei Wirkungsaufgaben des Redners in die römische Terminologie ein und werden als probare/docere, conciliare/ delectare sowie movere/flectere definiert. Damit wird das Aristotelische ›ēthos der

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darstellung als »deplatziert und kontraproduktiv«. Vgl. Fischer-Lichte, Einleitung. Theatralität als kulturelles Modell, S. 18. Barthes, Die alte Rhetorik, S. 76. Vgl. Arist. Rhet. II, 1, 1378a. Barthes, Die alte Rhetorik, S. 76. Arist. Rhet. III, 1, 1403b (hier zit. n. der Übersetzung von Krapinger). Arist. Rhet. II, 1, 1377b (hier zit. n. der Übersetzung von Krapinger). Rapp übersetzt: »[E]s bedeutet einen großen Unterschied für die Überzeugung, vor allem in den Versammlungen, dann aber auch in den Gerichtsverhandlungen, dass der Redner eine bestimmte Art von Mensch zu sein scheint und dass (die Hörer) annehmen, er sei ihnen gegenüber auf eine bestimmte Weise eingestellt, sowie außerdem, wenn sie (die Hörer) sich selbst gerade in einem bestimmten Zustand befinden.«

Glaubwürdigkeit‹ durch ein ›ēthos der Sympathie‹ ersetzt, wie James S. Baumlin schreibt.312 Aufgabe des Redners wird es, eine unterhaltsame, gelöste Stimmung des Publikums zu bewirken, womit das ēthos eher als abgemilderte Form des stärkere Affekte erregenden, aufrüttelnden pathos gelten kann. Das ēthos wird nun als »Eigenschaft gesehen, die den Redner zum Sympathieträger und zur Identifikationsfigur für das Publikum macht«.313 Zudem verändert sich die Konzeption des ›Charakters‹, der zunehmend vorgängig und wahrhaftig begründet gedacht wird – bis zur Zuspitzung des Redner-ēthos auf das vir bonus-Ideal. Die Rhetorica ad Herennium greift als erstes römisches Lehrbuch die griechische ēthos-Lehre wieder auf. Zu Beginn der Rede, im prooemium, sei es die Aufgabe des Redners, das Publikum in eine »geeignete innere Verfassung« zu versetzen, zuzuhören. Dazu müsse der Redner die Zuhörer aufmerksam, belehrbar oder wohlwollend stimmen.314 Wohlwollen (benevolentia) stellt der Redner vor allem über seine eigene Person her: Ausgehend von unserer eigenen Person werden wir Wohlwollen gewinnen, wenn wir unsere Pflichterfüllung ohne Anmaßung loben oder irgendwie erwähnen, wie wir uns dem Staat oder unseren Eltern oder den Zuhörern gegenüber verhalten haben, soweit dies alles zu der Angelegenheit, um die es geht, gehört. Ebenso wenn wir unsere Beschwernisse anführen, Not, Vereinsamung, Unglück […].315

Der Redner ist also dazu aufgerufen, seinen ›Charakter‹ selbst verbal ins rechte Licht zu rücken und durch die Erzeugung von Bewunderung oder Mitleid das Wohlwollen des Publikums zu generieren, und zwar indem er entweder offen und »unverhohlen« über seine eigene Person redet, oder »versteckt durch Verstellung«, was auch als »Einschmeichelung« bezeichnet wird.316 Zusätzlich verhelfen nonverbale Mittel dem Redner zu einer gelungenen Selbstdarstellung, insbesondere durch die Darstellung des rechten Maßes an Mimik und Gestik.317 Vor allem transportiert die actio das ēthos, indem sie innere Anteilnahme signalisiert: »Dies muß man jedoch wissen, dass ein guter Vortrag es bewirkt, dass der Anschein erweckt wird, die Rede komme aus dem innersten Herzen.«318 Diese Forderung nach dem Anschein realer ›innerer‹ Beteiligung des Redners ist neu, wirkmächtig und wird bei Cicero und Quintilian wiederholt. Ursula Maier-Eichhorn identifiziert sogar den »eigentliche[n] Zweck der ›pronuntiatio‹-Lehre« damit, »daß der Eindruck entsteht, der Redner sei an dem, was er vorträgt, wirklich innerlich beteiligt«319. Die actio erscheint nun als intentional einsetzbares Mittel, die Worte an die Person des Red312 313 314 315 316 317 318 319

Vgl. Baumlin, Ēthos, S. 269. Usener, Publikum, Sp. 457. Rhet. Her. I, 6. Rhet. Her. I, 8. Rhet. Her. I, 11. Vgl. Rhet. Her. III, 26. Rhet. Her. III, 27. Maier-Eichhorn, Die Gestikulation in Quintilians Rhetorik, S. 21.

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ners zurück zu binden, sein ›Inneres‹ nach ›außen‹ zu projizieren. Der Redner zeigt sich als von der eigenen Rede affiziert. Signifikant ist, dass weiterhin von einem »Anschein«, einem während des Überzeugungsprozesses in der und durch die Rede technisch herzustellenden Bild, gesprochen wird und nicht, wie zunehmend bis hin zu Quintilian gefordert, eine realistische Darstellung des ›Charakters‹ und eine wahrhaftige innere Beteiligung des Redners vonnöten ist. Auch Cicero bestimmt die Person des Redners als eines der wichtigsten Überzeugungsmittel. Während Aristoteles mit dem ›Charakter‹ des Redners in erster Linie die Glaubwürdigkeit desselben herstellen wollte, um seinen rationalen Argumenten mehr Gewicht zu verleihen, fordert Cicero, dass der Redner zunächst Sympathie erwecken muss, um anschließend an die emotionale Seite des Publikums appellieren zu können.320 Auch die Frage, mit welchen technischen Mitteln der Redner sich (und seine Klienten) dem Publikum vorteilhaft präsentieren kann, beantwortet Cicero: Gewinnen aber lassen sich die Herzen durch die Würde eines Menschen, seine Taten und das Urteil über seine Lebensführung. Diese Vorzüge sind leichter wirkungsvoll hervorzuheben, wenn sie vorhanden sind, als zu erfinden, wenn sie nicht vorhanden sind. Doch diesen Eindruck unterstützen bei dem Redner eine sanfte Stimme, ein schüchterner Gesichtsausdruck und eine liebenswürdige Ausdrucksweise.321

Die Reputation und Vita des Redners werden von Cicero als bekannt vorausgesetzt und als außerordentlich relevant bewertet. Indem der ›Charakter‹ vorgängig erscheint, wird dem Redeauftritt keine hervorbringende, sondern lediglich eine hervorhebende und unterstützende Funktion zugedacht. Darin besteht ein maßgeblicher Unterschied zu Aristoteles, der den ›Charakter‹ als Effekt des Redeauftritts vor jeglicher Reputation entworfen hatte. Die Erwähnung, dass die Erzeugung eines ›wahren Charakters‹ »leichter« falle als die eines ›wahrscheinlichen‹, scheint jedoch eher auf die rhetorischen Möglichkeiten der Vortäuschung zu verweisen, als diese zu verbieten. Es müssen eben die entsprechenden ›Charakter‹-Eigenschaften und Taten in jedem Fall zu finden sein – im einen Fall müssen sie gefunden und im anderen erfunden werden, in jedem Fall aber zum Ausdruck gebracht und sichtbar gemacht werden. Die strukturelle Ähnlichkeit vom Finden und Erfinden des ›Charakters‹ lässt erkennen, dass es sich immer um ein ›sich als etwas zeigen‹ handelt. Wie aber kann der ›Charakter‹ in der actio hervorgehoben werden? Welche Konzeptionen von Stimme, welche von Mimik entwirft Cicero als Ausdrucksmittel des ›Charakters‹? Und wie soll dieser ›Charakter‹ beschaffen sein? Die Rede, elocutio und actio inbegriffen, erscheint als Abbild oder Ausdruck des ›Charakters‹: Der Ton der Rede hat indessen eine solche Wirkung, daß die Rede gleichsam ein Bild vom Charakter des Redenden entstehen lässt (ut quasi mores oratoris effingat oratio).

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Vgl. Cic. De or. II, 178. Cic. De or. II, 182.

Durch die entsprechende Art von Gedanken und Formulierung kann man ja, wenn auch noch ein ruhiger und freundlich gestimmter Vortrag hinzukommt, die Wirkung erzielen, daß man als ein braver, gutartiger, tüchtiger Mann erscheint.322

Neben dem »ruhigen und freundlich gestimmten Vortrag« sind weitere Ausdrucksmittel der actio für den Redner-›Charakter‹ die bereits erwähnte »sanfte Stimme« und der »schüchterne Gesichtsausdruck« – insgesamt sehr moderate Ausdrucksmittel. Sympathie produzieren nach Cicero dazu »Anzeichen« von Umgänglichkeit, Großzügigkeit, Sanftmut, Anhänglichkeit, Dankbarkeit und Bescheidenheit, wohingegen Ungestüm, Hartnäckigkeit, Streitsucht und Härte unsympathisch wirken.323 Diese Aufzählung mag gerade in Bezug auf Geschlechterstereotypen Verwunderung hervorrufen, sind doch in der Gegenwart die einen weiblich und die anderen männlich codiert.324 Besonders der von Cicero geforderte »schüchterne Gesichtausdruck« (vultus pudoris) wirkt auf heutige Leser/innen überraschend, treten doch sämtliche aktuellen Rhetoriken an, eben jegliche ›Schüchternheit‹ (die oftmals als spezifisch weibliches Problem beschrieben wird) im Auftreten zu überwinden. Bereits die Rhetorica ad Herennium hatte ebenso wie Cicero gefordert: »In der Miene (vultus) soll also Ehrgefühl (pudor) und Energie zu erkennen sein«.325 Pudor lässt sich sowohl mit ›Ehrgefühl‹ und ›Ehrenhaftigkeit‹ als auch mit ›Scham, Scheu, Schüchternheit und Keuschheit‹ übersetzen. Sich nicht zu schämen, wird mit Schamlosigkeit (impudentia) gleichgesetzt und verstößt gegen das decorum.326 Der Gestus der Bescheidenheit, der – dies ist vorwegzunehmen – in den aktuellen Populärrhetoriken grundsätzlich weiblich gegendert und negativ konnotiert ist, erscheint in den antiken Rhetoriken durchgängig als höchste männliche Tugend. Nicht nur ergibt sich diese Tugend aus dem Stil der antiken Rhetoriken, deren Erzähl-Instanzen grundsätzlich ihre Unkenntnis bedauern, bevor sie sich zu meisterhaften Erklärungen aufschwingen.327 Auch wird die Bescheidenheit explizit reflektiert und mit ēthos und actio verknüpft:

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Cic. De or. II, 184. Cic. De or. II, 182. Vgl. Kapitel V.2.2. Rhet. Her. III, 26. Vgl. Cic. De or. I, 120. Sowohl Antonius als auch Crassus ›kokettieren‹ in De oratore mit ihrem Unwissen und ihrer Schüchternheit. Antonius hält sich zurück, gibt vor, auf Hilfe angewiesen zu sein oder sich nicht auszukennen, bezeichnet sich selbst als »Halbgebildeter vor Gebildeten« (II, 178) oder bezeichnet seine Erfolge als zufällig: »Du kannst daraus ersehen, daß ich gewöhnlich durch meine praktische Erfahrung in der Rede oder eher noch durch Zufall zu den Erfolgen komme, bei denen ich gelegentlich etwas zu leisten scheine.« (II, 180) Der ›allwissende‹ Crassus lässt sich lange bitten, bevor er zu reden beginnt: »›Nun gut‹, sagte Crassus, ›unter der Bedingung, wenn ich nur meine Unfähigkeit in dem, was ich nicht kann, und meine Unwissenheit in dem, was ich nicht weiß, bekennen darf, so mögt ihr nach eurem Gutdünken fragen.‹« (I, 101).

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In meinen Augen wirken auch die, die am besten reden und es am leichtesten und wirkungsvollsten können, trotzdem, wenn sie nicht scheu das Wort ergreifen und am Beginn der Rede Zeichen von Verwirrung zeigen, beinahe unverschämt; doch das kann eigentlich gar nicht passieren. Je besser nämlich einer spricht, um so mehr fürchtet er die Schwierigkeit des Sprechens, die mannigfachen Wirkungen der Rede und die Erwartungen seines Publikums. Wer aber nichts der Sache, des Rednertitels und des Ohrs der Menschen Würdiges zu leisten und hervorzubringen weiß, der scheint mir, wenn er auch beim Reden Bewegung zeigt, trotzdem ein unverschämter Kerl. […] Was mich betrifft, so stelle ich gewöhnlich bei euch fest und mache auch an mir selbst sehr oft die Erfahrung, daß ich bei den ersten Worten einer Rede vor Angst erbleiche und von ganzem Herzen und an allen Gliedern bebe. Als ein ganz junger Mann geriet ich am Beginn der Anklagerede sogar derartig aus der Fassung, daß ich es Q. Maximus als rettende Wohltat zu danken hatte, daß er auf der Stelle die Sitzung aufhob, als er mich vor Angst am Ende meiner Kräfte sah.328

Der Redner wird aufgefordert, seine emotionale Bewegtheit zu inszenieren, indem er körperliche »Zeichen von Verwirrung« zeigt, und sein Publikum glauben macht, es handele sich um Symptome, um ›untrügliche‹ Körperzeichen. Zwischen nichtintentionalem Körperzeichen und intentionalem ›Sich-Zeigen‹ kann kaum unterschieden werden, sind doch eben jene körperlichen Zeichen der Befangenheit und der Bescheidenheit als konventionelle Gesten in die rhetorische Lehre integriert, die sie als Zeichen der Redlichkeit (probitas)329 interpretiert und empfiehlt. Damit vereinnahmt die Rhetorik auch Widerstände des Körpers: Unabsichtliche Symptome des Körpers wie Erblassen oder Zittern werden nicht als Lapsus ausgeschlossen, sondern als Zeichen interpretiert, integriert und exponiert. Der BescheidenheitsGestus gehört also zur Selbst-Inszenierung des Redners, »denn nichts ist beliebter, um die Herzen zu gewinnen, als Schüchternheit (verecundia)«.330 Die genannten Sympathie erzeugenden, moderaten Affekte wie Bescheidenheit, Umgänglichkeit und Sanftmut werden vor allem mit dem ēthos verbunden, allerdings bedarf der Vortrag ebenso des pathos, der Erregung starker Effekte.

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Cic. De or. I, 119ff. Vgl. Cic. De or. I, 122. Quint. Inst. XI, 3, 161. Dies gilt laut Quintilian vor allem im prooemium. Allerdings tadelt Quintilian »die Schüchternheit (verecundia), insofern sie ein Gefühl der Furcht ist, das den Sinn von dem weglenkt, was man tun muß; daher dann die Verwirrung, die Reue, überhaupt begonnen zu haben, und das plötzliche Verstummen.« »Aber andererseits wünsche ich es durchaus, daß jemand, der sich zu reden anschickt, sich unruhig erhebt, sich verfärbt und die Gefahr erkennt, in die er sich begibt. Stellte sich das nicht selbst ein, so wäre es sogar vorzutäuschen. Aber dies komme vom Bewußtsein der Aufgabe, vor der man steht, nicht aus Angst, und in Erregung sollen wir kommen, nicht zusammenbrechen. Das beste Mittel aber, die Schüchternheit zu beheben, ist Selbstvertrauen, und ein noch so zaghaftes Auftreten findet eine Stütze in dem Bewußtsein hoher Verantwortung.« (Quint. Inst. XII, 5, 3f.) Auch Quintilian warnt vor dem »Fehler der Selbstgefälligkeit, Dreistigkeit, Ungezogenheit und Anmaßung« und setzt dagegen »Standhaftigkeit, Selbstvertrauen, Tapferkeit« (Quint. Inst. XII, 5, 2).

Wie jener andere Teil der Rede, der den empfehlenden Eindruck der Redlichkeit vermittelt und deshalb auf das Bild des rechtschaffenen Mannes ausgerichtet sein muß, ruhig, wie ich schon oft sagte, und verhalten sein muß, so sollte dieser Teil, in dem es für den Redner darum geht, die Einstellung der Menschen zu verändern und sie mit allen Mitteln umzustimmen, energisch und leidenschaftlich sein.331

Cicero verknüpft die einnehmende Gelassenheit und die mitreißende Leidenschaft eng miteinander, das eine müsse in das andere einfließen mit dem Ziel der Ausgewogenheit.332 Gilt bereits für das Rechtschaffenheit vermittelnde ēthos, dass die Vermittlung leichter falle, sofern es der Wahrheit entspreche, wird die Forderung nach Wahrhaftigkeit umso mehr für das stärkere Affekte vermittelnde pathos erhoben, da hier die Gefahr des Fehlgehens umso größer zu sein scheint. Dabei verspüre ich bei Gott gewöhnlich einen Schauder vor diesen Mitteln [der Rede], wenn du, Crassus, sie bei Gerichtsverhandlungen einsetztest; so gewaltig ist die Leidenschaft, das Drängen und der Schmerz, die sich in deinen Augen, deiner Miene, deiner Haltung, ja gar in deinem Finger auszudrücken pflegen, so reißend ist der Strom der eindrucksvollsten, treffendsten Formulierungen, so unverfälscht sind die Gedanken, so echt, so neu, so frei von Putz und kindischem Zierrat, dass du nicht nur den Richter zu entflammen, sondern selbst zu brennen scheinst.333

Wie bereits in der Rhetorica ad Herennium beschrieben, weckt auch hier die actio – sozusagen bis in die Fingerspitzen – den Eindruck der inneren Beteiligung. Die Kunst besteht weniger darin, Affekte bei anderen, als vielmehr bei sich selbst zu ›entfachen‹.334 Die Rede wird nicht nur als intentionales Ausdrucksmittel des Redners entworfen, sondern ihr wird eine Rückwirkung auf den Redner zugesprochen. Rede und Redner ›infizieren‹ sich gewissermaßen gegenseitig, denn die Rede »wirkt noch stärker als auf irgendeinen Zuhörer auf den Redner selbst«335. Die Metaphorik des Feuers, die hier die Verbindung zwischen Rede, Redner und Publikum versinnbildlicht, deutet auf eine prinzipielle ›Ansteckungsmöglichkeit‹ hin, die auf einer offenen Körperkonzeption beruht. Denn wie kein Stoff so einfach zu entzünden ist, daß er ganz ohne Hilfe eines Feuers Feuer fangen könnte, so ist kein Herz derart empfänglich für die Wirkung eines Redners, daß es sich nicht entflammen ließe, wenn er nicht selbst entflammt und brennend zu ihm käme.336

331 332 333 334 335 336

Cic. De or. II, 211. Vgl. Cic. De or. II, 212. Cic. De or. II, 188. Vgl. Cic. De or. II, 196. Cic. De or. II, 191. Cic. De or. II, 190. Quintilian greift Ciceros Meinung bis in die Metaphorik auf: »Nur Feuer kann einen Brand entfachen«; Quint. Inst. VI, 2, 26–36, hier 28.

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Je stärker die Affekte, je affektiver die Bewegungen des Körpers und die Stimme, umso eher besteht die Gefahr, dass die ›Inszenierung von Unabsichtlichkeit‹337 misslingt, die imaginäre Grenze zwischen Redner und Schauspieler überschritten wird und der Redner seine Glaubwürdigkeit verliert. Deshalb begründet Cicero das ›Mit-Fühlen‹ des Redners mit den Inhalten seiner Rede moralisch durch die enge Bindung des Redners an den Klienten, dessen Sache er vertritt. Es gehe nicht um die Zurschaustellung der eigenen Redetalente oder um die schauspielerische Darstellung einer fiktiven Situation, sondern um »weit Wichtigeres«: »Verlässlichkeit, Gewissenhaftigkeit und Pflichterfüllung« gegenüber den Klienten, denn nur in dem vollen rednerischen Einsatz zugunsten dieser gelinge es den Rednern, »als anständige Männer [zu] gelten«338. Fühlt der Redner jedoch nicht selbst die starken Affekte, zu denen er anzuregen anhebt, kann die gegenteilige Wirkung entstehen: Die Rede wirke »nicht nur nicht mitleiderregend, sondern sogar lächerlich«339. Lächerlichkeit bedeutet in den antiken Rhetoriken jedoch durchweg den schlimmsten Angriff auf den ›Charakter‹, dem sich der ehrenhafte Redner preisgeben kann. Für Quintilian schließlich ist die Rede Spiegel des ›Charakters‹. »Die Rede bringt nämlich meistens die (Art der) Gesittung [mores] zum Vorschein und enthüllt das verborgene Innere; und nicht ohne Grund haben die Griechen den Satz: wie jedermann lebe, so rede er auch.«340 Indem Quintilian die Rede entwirft als eine, die den vorgängigen ›Charakter‹ des Redners »enthüllt«, nimmt er Abstand von der vormaligen Konzeption der Rede, die um ihre Fähigkeit weiß, ›Charakter‹ in Worte und Gesten kleiden zu können, und diese auch zu nutzen gewillt ist. Diese Enthüllungs-Metaphorik unterscheidet ihn von Cicero, der davon ausgeht, dass die ›Charakter‹-Darstellung »keine Verstellung oder Täuschung braucht«341, sofern die Rede auf den Redner mit Macht zurückwirke. Umso wichtiger ist es für Quintilian, den Redner als ›guten Mann‹ zu etablieren, denn nur dann kann die Rede auch eine gute werden. Quintilian schlägt damit eine Brücke zwischen ēthos und vir bonus-Ideal. Die Institutio Oratoria tritt mit ihren zwölf Büchern an, um diesen vir bonus dicendi peritus, einen Ehrenmann, der gut reden kann, zu bilden. Nur ein guter Mann könne ein perfekter Redner sein, denn schlechte Männer verfügten kaum über gleich viel Begabung, Lerneifer und Bildung wie gute Männer, schlechte Männer gingen maßlos und ohne Takt und Anstand vor, ja schlechten Männern missglücke sogar die Verstellung.342 Das vir bonus-Ideal Quintilians wendet sich bekanntlich gegen den (Ver-) Ruf der Rhetorik als demagogische Kunst: Losgelöst von der moralischen Verpflichtung des Redners kann die Redekunst nicht nur zum Auffinden der Wahrheit eingesetzt, sondern eben auch zum Verschleiern derselben

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Vgl. den gleichnamigen Essay von Hahn, Inszenierung von Unabsichtlichkeit. Cic. De or. II, 192. Cic. De or. II, 196. Quint. Inst. XI, 1, 30. Cic. De or. II, 191. Quint. Inst. XII, 1, 9; 1, 12.

missbraucht werden. Umso mehr Aufwand betreibt Quintilian, um die Verstellungsmöglichkeiten, die die Rhetorik bereithält, nicht nur zu verdammen, sondern gar zu negieren beziehungsweise dem intentionalen Einsatz zu entziehen: Deshalb wird gewiß besser andere überzeugen, wer zuvor sich selbst überzeugt hat. Denn mag man auch noch so sehr auf der Hut sein, die Verstellung verrät sich doch, und nie ist wohl die Geschicklichkeit beim Reden so groß, dass jemand nicht strauchelt und stockt, wenn seine Worte seiner Herzensneigung zuwiderlaufen. Ein schlechter Mensch aber spricht zwangsläufig anders als er empfindet.343

Auch wenn die durchaus körperlich anmutenden Metaphern des Strauchelns und Stockens auf die verräterischen Zeichen des Körpers zu verweisen scheinen, der den wahren ›Charakter‹ ›enthüllt‹, hat Quintilian in seiner ausgefeilten actio-Lehre die Verbindung von ›Charakter‹ und actio kaum in den Blick genommen. Nur kurz kommentiert er die ethische Funktion der actio zu gewinnen und zu überzeugen. Das Gewinnende beruht gewöhnlich auf der Kraft der Empfehlung, die eine gesittete Lebensführung bedeutet, die irgendwie auch aus der Stimme und dem Vortrag hervorschimmert, oder auf dem Liebreiz, der die Rede beherrscht, das Überzeugende auf der bekräftigenden Haltung, die zuweilen mehr bedeutet als die Beweisführung selbst. […] Selbstvertrauen muß also zum Vorschein kommen und Festigkeit, jedenfalls wenn persönliches Ansehen dahintersteht.344

Dass der Charakter »irgendwie auch aus der Stimme und dem Vortrag hervorschimmert«, bleibt ungewöhnlich vage für Quintilian, passt aber zu dem Gedanken des vir bonus, der die Verstellung ächtet und – trotz aller minutiösen Anleitungen, die Quintilian für den Redeauftritt liefert – den ›irgendwie natürlichen‹ Ausdruck seiner selbst sucht. Während Quintilian beim ēthos bei der ›Wahrheit‹ bleiben möchte, greift er für das pathos lebhaft auf das der ›Wahrheit Gleichende‹ zurück. Quintilian verlangt ganz in Ciceros Tradition, der Redner möge die starken Gefühle, die er den Richtern zu übermitteln versucht, zunächst selbst empfi nden, »[d]enn es kann doch zuweilen sogar lächerlich wirken, Trauer, Zorn, Empörung wiederzugeben, wenn wir nur unsere Worte und Miene, nicht aber auch unser Inneres darauf einstellten.«345 Diese pathetischen Affekte zu erzeugen, sei die wahre Macht der Rede und daher stellt sich Quintilian auch die Frage: »Aber wie ist es möglich, sich ergreifen zu lassen? Die Gemütsbewegungen stehen doch nicht in unserer Gewalt!«346 Die Antwort liegt darin, sich die starken Gefühle als »visiones«, als Phantasiebilder vor Augen zu führen und zu vergegenwärtigen. In diesem Verfahren des Vor-AugenStellens (sub oculos subiecto) folgten zunächst die eigenen Gefühle den vorgestellten Bildern und dann auch die Gefühle der Richter den ›quasi natürlich‹ zur Schau 343 344 345 346

Quint. Inst. XII, 1, 29. Quint. Inst. XI, 3, 154f. Quint. Inst. VI, 2, 26. Quint. Inst. VI, 2, 29; vgl. Quint. Inst. VI, 2, 3f.

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gestellten Gefühlen des Redners.347 Quintilians Verfahren der Selbstinduktion zeugt von der immensen affektiven Kraft, die dem Visuellen in der alten Rhetorik zugeschrieben wird, womit sowohl das mit den Augen wahrnehmbare Auftreten des Rednerkörpers in der actio gemeint ist als auch – und damit verknüpft – die Macht der imaginären Bilder. III.4.4 Die Kunst verbergen: Redner und Schauspieler Die Beschreibung der actio wird in allen antiken Rhetoriken von einem maßgeblichen Paradox beherrscht. Einerseits stammt die Kunst der actio aus der Schauspielkunst und nutzt explizit deren Wissen und Praktiken. Andererseits wird eine Opposition zwischen Redner und Schauspieler aufgebaut, kontinuierlich aufgerufen und mit einer Vehemenz befestigt, die eine Verwechslung von Redner und Schauspieler als massive Bedrohung markiert. Die Gemeinsamkeiten von Schauspielkunst und Redekunst liegen auf der Hand: Schauspieler und Redner treten beide öffentlich auf und nutzen die überzeugende Wirkung, die durch den gezielten Einsatz von Gestik, Mimik und Stimme erreicht werden kann.348 Schauspieler und Redner sind, was memoria und actio betrifft, vor fast identische Aufgaben gestellt. Die ersten drei officia gelten dagegen nur dem Redner, der im Gegensatz zum Schauspieler seine Rede selbst entwirft, ordnet und formuliert. Memorieren und auftreten müssen jedoch beide – wenn auch an unterschiedlichen Orten, für verschiedenes Publikum und mit anderen Zielen. Obwohl der Redner im Bereich der actio von der Schauspielerei durchaus etwas lernen kann, ja sogar muss, werden feine Unterschiede in der Art des angemessenen Auftretens postuliert, die erschlossen werden sollen. Wie unterscheidet sich das Auftreten des Redners von dem des Schauspielers, Gestik, Stimme und Mimik betreffend? Was soll die Inszenierung des Redeauftritts im Gegensatz zum Schauspiel sichtbar machen – oder verbergen? Der Schauspieler wird – zumal in der römischen Rhetorik – als ein Feindbild entworfen, das dem sich verfestigenden Rednerideal diametral entgegengesetzt wird. Hier wird nicht so sehr auf der Basis der actio unterschieden, sondern vielmehr auf der des ēthos. Der Redner, dessen actio immer auch das ēthos eines vir bonus transportieren muss, unterscheidet sich von dem Schauspieler, der fiktive Figuren verkörpert. In der Bemühung, Rede und Schauspiel voneinander abzugrenzen, trennt Cicero zwischen den Rednern als »Darstellern der Wirklichkeit« (veritatis actores) und den Schauspielern als »Nachahmern von Wirklichkeit« (imita-

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Quint. Inst. VI, 2, 26–36. Noch heute wird die Allianz von Schauspiel- und Redekunst diskutiert, wenn es um Politiker geht, deren darstellerisches Geschick und telegene Ausstrahlung aus ihrer Erstkarriere als Schauspieler resultiert – wie man an den zunächst öffentlich belächelten, jedoch politisch erfolgreichen Beispielen von Ronald Reagan und Arnold Schwarzenegger sieht.

tores veritatis) und stellt damit den Redner höher, denn »ohne Zweifel übertrifft die Wirklichkeit die Nachahmung in jedem Punkt«.349 Übersetzt man veritatis actores alternativ als »Gestalter der Wahrheit«350, wird die erst diskursiv zu gestaltende und durchzusetzende Wahrheit anstelle einer scheinbar vorgefundenen, nur darzustellenden Wirklichkeit betont. In jedem Fall birgt die Konzeption des Redners sowohl die Darstellung als auch Herstellung einer politischen, juristischen und sozialen Wirklichkeit beziehungsweise Wahrheit. Ein entscheidender Unterschied zwischen Redner und Schauspieler liegt also in der Zuschreibung von Wirklichkeitseffekten. Während die actio des Redners ein wirkmächtiges ›Sprachhandeln‹ darstellt, schreibt Cicero dem Schauspieler offenbar lediglich ein ästhetisch-imitierendes Sprechen ohne politisch-soziale Folgen zu. Als Unterscheidungsmerkmal der Rede vom Schauspiel weisen die Rhetoriken einmal mehr auf das aptum hin, das rechte Maß des Einsatzes von Stimme, Mimik und Gebärde. Als dieses Maß übertretend werden Pantomimen, Schauspieler, Komödianten und Tänzer aufgerufen und von der rechten Rede ausgeschlossen. Je wohlklingender die Stimme, je lieblicher die Mimik und je anmutiger die Gestik eines Redners, kurz: je ästhetischer der Redeauftritt, desto größer erscheint die Gefahr einer Grenzüberschreitung zwischen Rede und Schauspiel. Damit verbunden ist die Frage nach den geschlechtlichen Implikationen dieser Abgrenzung, denn in der konfrontativen Gegenüberstellung des scheinbar dezent und männlich agierenden Redners mit dem ›geschminkten‹, verweiblicht wirkenden Schauspieler werden Fragen der Glaubwürdigkeit mit denen der Männlichkeit verknüpft. Indem ich die Argumentationsweise der alten Rhetorik im Prozess der Unterscheidung zwischen Redner und Schauspieler untersuche, geht es mir darum, auf die unauflösliche Verquickung der Begriffe hinzuweisen – trotz oder gerade wegen der aufwändigen Abgrenzungs- und Ausschlussbemühungen. Gerade der Umstand, dass die Rhetoriken die Figur des Schauspielers kontinuierlich als Grenzmarkierung aufrufen, verweist nicht nur auf die Institutionalisierungs- und Anerkennungsbestrebungen einer noch relativ jungen Kunst der actio hin, sondern auch auf den in der actio selbst angelegten theatralischen Gehalt. Damit wird auf eine

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Cic. De or. III, 214f. Übersetzung nach Manfred Fuhrmann, Die antike Rhetorik, 5., überarb. Aufl., Düsseldorf, Zürich 2005, S. 79. Harald Merklin unterscheidet in seiner Übersetzung zwischen den Rednern, »die für die Wahrheit selbst eintreten« und den Schauspielern, »die die Wirklichkeit doch nur nachahmen« (Cicero, De oratore, S. 583). Eine Differenzierung zwischen »Wahrheit« und »Wirklichkeit« ist im lateinischen Text jedoch nicht angelegt, veritas hat beide Bedeutungsebenen. Büchner, Zur antiken Vorstellung vom Redner, S. 42. Büchner schlägt zwar die Übersetzung von actor veritatis mit ›Gestalter der Wahrheit‹ vor, zieht jedoch nicht die Existenz einer vorgängigen Wirklichkeit in Frage. Vielmehr argumentiert er mit Cicero, dass einer ohne die rhetorische Vermittlung des Redners ›hilflosen‹ Wahrheit rhetorisch zum Sieg verholfen werden muss.

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Grundkonstellation der alten Rhetorik verwiesen, die eine gewisse Theatralität, Inszeniertheit und Exponiertheit der actio von Anbeginn an mitdenkt. Das Verhältnis von Schauspielerei und actio bleibt schließlich bis in die Gegenwart hinein ein viel diskutiertes Thema. Während in der Frühen Neuzeit eine Identifikation von actio und Schauspielkunst zu verzeichnen ist, erfolgt im 17. Jh. die Trennung beider. Im 18. Jahrhundert konstituiert sich die Schauspielkunst als eigenständige, nun auch auf Glaubwürdigkeit bedachte Kunst, die wiederum rhetorische Elemente aus der actio-Lehre integriert. Noch gegenwärtige Populärrhetoriken erwehren sich vehement des Vorwurfs, die actio sei mit Schauspielerei zu vergleichen und setzen eine scheinbar natürliche – paradoxerweise dennoch erlernbare – Körpersprache dagegen. Der Schauspieler in der griechischen und römischen Rhetorik Der griechische Begriff für die rhetorische Vortragskunst (hypókrisis) zeigt bereits die Verwandtschaft von actio und Schauspielkunst an, denn hypókrites bedeutet ›Schauspieler‹. Gestik, Mimik, Stimme und Kleidung, also das, was in der römischen Rhetorik unter actio zusammengefasst und beschrieben wird, summiert Aristoteles unter schauspielerischen Fähigkeiten: »[D]urch Gesten, durch die Stimme, durch die Kleidung und überhaupt durch den Vortrag« werde zur Wirkung der Rede beigetragen, indem sie einen Affekt, hier den des Mitleids, unmittelbar »vor Augen führen«351. Das Schauspielerische liegt also darin begründet, einen Affekt in (konventionalisierte) körperliche Zeichen zu übersetzen und so sichtbar – und damit evident – zu machen. Obwohl Aristoteles in Bezug auf die actio eine klaffende Lücke in der RhetorikTheorie explizit feststellt – betont er doch die große Relevanz der Vortragskunst und weiß um ihre unzureichende Bearbeitung –, macht er sich nicht daran, diese Lücke zu schließen, und zwar mit einer moralischen Begründung. Aristoteles hält die Vortragskunst für ein Zugeständnis an das Publikum: »Aber da die gesamte Beschäftigung mit der Rhetorik auf den Schein hinausläuft, haben wir uns eben damit zu befassen, nicht weil es richtig, sondern weil es notwendig ist«.352 Aristoteles ruft die – aus der Auseinandersetzung von Philosophie und Rhetorik altbekannte – Dichotomie von Wahrheit und Schein auf, wobei er der Rhetorik den ethisch unterlegenen Part zuschreibt. Die actio scheint geradezu eine Potenzierung der rhetorischen Unethik und Scheinhaftigkeit zu bilden, denn sie stellt den Kontakt zum

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Arist. Rhet. II, 8, 1386a. Während Rapp hypókrisis neutraler als ›Vortrag/-skunst‹ übersetzt (die sowohl in der Rede, als auch im Schauspiel bzw. Vortrag von nichtdramatischer Dichtung eingesetzt wird), wählt Krapinger die Übersetzung durch ›Schauspiel/ -kunst‹. Arist. Rhet. III, 1, 1404a (hier zit. n. der Übersetzung von Krapinger). Rapp übersetzt: »Aber weil die ganze Beschäftigung mit der Rhetorik auf die Meinung abzielt, muss man sich darum bemühen, nicht weil es richtig wäre, sondern weil es notwendig ist.«

Publikum her, dessen »Schlechtigkeit«353 Aristoteles hier beklagt, und sie beruht auf einer Zurschaustellung des Redner-Körpers, der die Rede mit schauspielerischem Geschick aufführt. Mit Erik Gunderson kann in Bezug auf die rhetorische Diskussion um den Schauspieler eine grundlegende Frage gestellt werden: »[W]hy should performances be an ethical matter rather than a question of success and failure or clarity and obscurity?«354 Tritt der Redner öffentlich auf, muss er über seine actio sein ēthos transportieren, um Glaubwürdigkeit zu bewirken. Ein maßgebliches Ziel des Redners muss es nach Aristoteles dabei sein, natürlich und ungekünstelt zu wirken – eine Maxime, die »schier unabsehbare Wirkung gehabt [hat], vielleicht gerade weil sie weniger eindeutig ist als sie es zu sein scheint«355, so Wolfram Groddeck. Daher muss der Redner unauffällig ans Werk gehen und keinen gekünstelten, sondern einen natürlichen Eindruck erwecken (dies nämlich überzeugt, jenes bewirkt das Gegenteil, denn die Leute fühlen sich betrogen, wenn man heimlich etwas gegen sie im Schilde führt, ähnlich wie wenn Wein gepanscht wird), z. B. trifft dies auf die Stimme des Theodoros im Gegensatz zu den übrigen Schauspielern zu: Seine erscheint wie die eines Redners, die der anderen hingegen wirken fremd.356

Aristoteles erwartet offensichtlich nicht, dass der Redner ohne Kunst ans Werk gehen sollte, sondern dass die höchste Kunst sei, die Kunst zu verdecken. Er soll sich die Techniken der Schauspieler aneignen, jedoch nicht wie ein Schauspieler wirken. In Bezug auf die actio kommt es für den Redner, so Aristoteles, vor allem darauf an, Anzeichen der Künstlichkeit wie eine fremdartige, ungebräuchliche, erhabene oder gekünstelte Sprachverwendung und Aussprache zu vermeiden und stattdessen durch die Verwendung von gebräuchlichen Worten den Anschein von Natürlichkeit und Klarheit zu erzielen. Festzuhalten bleibt, dass bei Aristoteles noch nicht die Grenze zwischen Redner und Schauspieler gezogen wird. Vielmehr werden die Ähnlichkeiten von Redevortrag und Schauspiel betont, hervorragende Schauspieler werden als Vorbilder gelobt und eine Unterscheidung wird innerhalb der Schauspielkunst getroffen: eine Grenze erscheint zwischen dem guten, ungekünstelt, natürlich wirkenden Schauspieler 353 354 355 356

Arist. Rhet. III, 1, 1404a. Gunderson, Staging Masculinity, S. 5. Groddeck, Reden über Rhetorik, S. 55. Arist. Rhet. III, 2, 1404b (hier zit. n. der Übersetzung von Krapinger). Rapp übersetzt: »Deswegen muss man (die Rede) unmerklich komponieren und nicht den Anschein des gekünstelten, sondern des natürlichen Redens erwecken – diese nämlich ist überzeugend, jenes aber das Gegenteil, denn (die Zuhörer) lehnen es ab, wie gegenüber jemandem, der etwas im Schilde führt, wie bei den gemischten Weinen –, so ergeht es zum Beispiel der Stimme des Theodoros im Vergleich mit den Stimmen der anderen Schauspieler. Die nämlich scheint die Stimme des Redenden zu sein, die anderen aber fremde.« [Die Formulierung ›bei den gemischten Weinen‹ verdeutlicht die Problematik der Rapp’schen Übersetzung, die zwar z. T. auf Kosten der Verständlichkeit um Wortgenauigkeit bemüht ist.]

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(beziehungsweise Redner) auf der einen und dem gekünstelt und fremd wirkenden Schauspieler (aber auch Schauredner) auf der anderen Seite. Die hier aufgerufene Opposition von Natürlichkeit und Künstlichkeit wird in der römischen Rhetorik verstärkt mit dem Redner auf der einen und dem Schauspieler auf der anderen Seite besetzt. Die Grenze verläuft nun zwischen Redner und Schauspieler: Der Schauspieler wird als das Andere des Redners gesetzt. Durch dessen Ausschluss und Verwerfung konstituiert sich das Rednersubjekt als vir bonus. In der Abgrenzung des Redners gegen den Schauspieler vollziehen die antiken Rhetoriken eine Definition des Rednersubjekts sowohl auf der Ebene des Status als auch auf der des Geschlechts. Was den Status betrifft, so unterscheiden sich römische Redner und Schauspieler grundsätzlich, sind doch Schauspieler zur Zeit Ciceros nicht wie im klassischen Athen vornehme Bürger, sondern zumeist Sklaven oder Freigelassene, die für Geld auftreten.357 Der Schauspieler muss mit seinem Körper Geld verdienen (corpore quaestum facere) – in römischen Augen ein großer Makel.358 Dazu kommt, daß Singen und Tanzen überhaupt in Rom für unfein gelten.359 Falls doch ein Freier als Schauspieler sein Brot verdient, gilt er als »ehrlos« (infamis) – die Ausnahme ist Roscius, der Schauspieler und Leiter einer Schauspielschule sowie Freund Ciceros, den dieser in De oratore häufig als beispielhaft erwähnt.360 Roscius ist tatsächlich der einzige ›gute‹ Schauspieler in der rhetorischen Diskussion. Wie Erik Gunderson bemerkt, wird sein Lob jedoch gerade mit dem Moment des Ausschlusses der anderen Schauspieler verbunden.361

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Vgl. zum griechischen Schauspieler: Brauneck, Die Welt als Bühne, S. 32–35. Brauneck schreibt, dass bis zum Aufkommen der Sophistik und der Gründung der Platonischen Akademie ein tragischer Dichter und ebenso (vielleicht in Personalunion) ein tragischer Schauspieler ein exzeptionell hohes Ansehen genossen. Einzelne Schauspieler traten sogar als offizielle Diplomaten Athens, z. B. am Hof Philipps II. von Makedonien auf. Einen niedrigen Stand hatten dagegen die Schauspieler der Komödien und insbesondere die vulgär geltenden Mimen des burlesk-komischen Possentheaters. Der Beruf des Schauspielers war ausschließlich Männern zugänglich, nur im Mimus, wo die Schauspieler ohne Masken auftraten, gab es Frauen. Vgl. zum römischen Schauspieler: Blume, Einführung in das antike Theaterwesen, S. 119; Brauneck, Die Welt als Bühne, S. 209. Vgl. Wilfried Stroh, Bühne frei! Die Welt des Theaters. In: Gladiatoren und Caesaren. Die Macht der Unterhaltung im antiken Rom, hg. von Eckart Köhne, Cornelia Ewigleben, Mainz 2000, S. 109–130, S. 112. Stroh, Bühne frei! Die Welt des Theaters, S. 112. Auch Amy Richlin weist auf die Anrüchigkeit von Tänzen und Tänzer/innen hin, vgl. Richlin, Gender and Rhetoric: Producing Manhood in the Schools, S. 100. Stroh stellt die These auf, dass die Einführung der Masken in Rom, die zu Roscius Zeiten stattgefunden haben muss, eben auf dessen sozialen Aufstieg zurückzuführen sei: »Als römischer Ritter hielt er es möglicherweise für schicklicher, das Gesicht auf der Bühne zu verbergen, das er als ehrloser Schauspieler noch unbedenklich entblößt hatte. Sollte er damit den allgemeinen Übergang zur Maske eingeleitet haben, so wäre es ein Hinweis auf die soziale Aufwertung des Schauspielers.« Vgl. Stroh, Bühne frei! Die Welt des Theaters, S. 114. Gunderson, Staging Masculinity, S. 119.

Aptum: Von übertriebenen, nachahmenden, lächerlichen und unfeinen Gesten Es ist aus heutiger Sicht schwer nachzuvollziehen, was genau ein Schauspieler stimmlich und gestisch anders gemacht hat, als es der Redner tun sollte.362 Ciceros Lob des Redners Sulpicius lässt erkennen, wie fein und graduell die Unterschiede gewesene sein mögen, ja drängt sogar den Verdacht auf, dass es weniger um reale Unterschiede, sondern vielmehr um die Steuerung und Vereindeutigung der Sichtweise auf die actio des Redners geht – indem sie von allen verdächtigen Spuren des Schauspielerischen ›gereinigt‹ präsentiert wird: Sulpicius war […] bei weitem der Pathetischste, ja, um es einmal so zu formulieren, ein Redner mit der Haltung eines Tragöden. Seine Stimme war stark, aber zugleich auch von angenehmem, strahlendem Timbre. Seine Gesten und Körperbewegungen zeigten eine Anmut, die jedoch für das Forum, nicht für die Bühne gemacht schien. Feurig und rasch war seine Sprache, aber weder überschwänglich noch überströmend.363

Der Tragöde (tragicus) als Sinnbild einer mächtigen actio wird aufgerufen, doch sogleich werden dessen anrüchigen Bedeutungsschattierungen, die gestische Anmut (venustas) und die überschwängliche, überströmende Sprache ausgeschlossen. Das decorum des Redners ist ein anderes als das des Schauspielers – und um das rednerische aptum zu verdeutlichen, brauchen die antiken Rhetoriken das Schreckbild des Schauspielers als omnipräsente Grenze. Am Ende seines Kapitels über die actio kommt Quintilian noch einmal auf das Thema des aptum zurück und betont, dass nämlich das rechte Maß über alles geht; denn nicht einen Komödianten (comoedus) wünsche ich mir ja, sondern einen Redner. […] Einen anderen Geschmack [als den des Schauspielers (actor)] verlangt die Rede; sie wünscht keine so starke Würze. Im Vortrag in der Verhandlung (actio) liegt ja ihr Wesen, nicht im Nachbilden (imitatio). Deshalb tadelt man ganz zu Recht einen Vortrag, der grimassenreich (vultuosus), mit Gebärdenspiel (gesticulatio) überladen ist und vom Umschlagen der Tonfärbung widerhallt.364

Die gleiche Position hat schon Cicero eingenommen, der eine actio empfiehlt, die nicht zur Tragödie und zur Bühne passt, sondern in der Bewegung des Körpers Maß hält, doch vieles durch die Miene zum Ausdruck bringt. Es ist nicht die, mit der man, wie es heißt, Grimassen schneidet, sondern jene, durch die man ungekünstelt zeigt, mit welcher Empfindung man jeweils etwas ausspricht.365

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Beschreibungen der römischen Schauspielkunst und Aufführungspraxis sind ebenso wie Theaterstücke (mit der Ausnahme Plautus’, Terenz’ und Senecas) kaum überliefert, vgl. Graf, Gestures and Conventions: The Gestures of Roman Actors and Orators, S. 49. Cic. Brut. 203. Quint. Inst. XI, 3, 181ff.; vgl. hierzu auch Cic. Or. 59 und Brut. 38, 141. Cic. Or. 86.

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Zwei offenbar miteinander verknüpfte Dinge werden dem Schauspieler vorgeworfen: zum einen nicht das rechte Maß (aptum) einzuhalten und zum anderen auf eine nachahmende Art (imitatio) vorzutragen. Quintilian und Cicero setzen begrifflich Grenzen des rechten Maßes (aptum): Wenn sich die Miene (vultus) zur Grimasse (vultuosus), die Gestik (gestus) zur wilden Gestikulation (gesticulatio) und die Stimme (vox) zum Gekreisch (vociferatio) steigert, ist das rechte Maß der Rhetorik überschritten. Die Begriffe versuchen, visuelle und auditive Phänomene beschreibbar zu machen. Der Rückgriff auf die Schauspielerei als die jeweilige Art, in der der Redner den Körper oder die Stimme gerade nicht einzusetzen hat, ist wohl auch ein Hilfsmittel, diese Begriffe durch eine unter Zeitgenossen weit verbreitete Kenntnis der schauspielerischen Gepflogenheiten zu erklären. Damit verschaffen die schriftlich niedergelegten Rhetoriktexte den Aktionen des Körpers, der Stimme, Gestik und Mimik, einen Auftritt und machen sie der Leserschaft imaginär hörbar und sichtbar. Sicherlich ist der Komödiendarsteller, von dem Quintilian hier redet, ein Sonderfall der Schauspielkunst, in dem Übertreibungen zum komischen Handwerk gehören. In der römischen Komödie treten stereotype Charaktere mit jeweils zugehörigen, konventionellen, überzogenen Gesten auf, die offenbar auf eine niedrige oder unanständige Art komisch wirken366 – und damit eben nicht für den ehrbaren Bürger und Redner angemessen erscheinen. Fritz Graf führt als Beispiel für das Maß der Bewegung den Unterschied zwischen Gehen und Rennen an: Ist für den vir bonus allenfalls maßvolles Gehen auf dem Forum erlaubt,367 würde nur ein Sklave in der Öffentlichkeit rennen (müssen), vermutlich noch in den Komödien durch eine spezielle Renntechnik überspitzt dargestellt.368 Die Ablehnung von ausladenden Gesten, derer sich vor allem die Komödiendarsteller bedienen, ist also verknüpft mit der niedrigen sozialen Stellung sowohl der dargestellten Figuren als auch des Schauspielers selbst. Allerdings scheint diese Abgrenzung schon im Altertum schwierig und historisch veränderlich: Doch hat sich schon eine etwas lebhaftere Vortragsweise eingebürgert, sie wird verlangt und passt auch an bestimmten Stellen, ist jedoch immer so zu mäßigen, dass wir nicht, während wir nach der erlesenen Kunst des Schauspielers haschen, die Geltung und das Gewicht unseres guten Namens einbüßen.369

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Auch die Rhetorik kann komische Elemente beinhalten. Anweisungen zu der Verwendung von Witzen gehören zum gängigen Repertoire der Rhetoriken. Allerdings wird davor gewarnt, zu viele, zweideutige, obszöne oder hemmungslose Witze zu machen, und stattdessen gefordert, dass die Witze zum Gegenstand der Rede, zum Publikum und zum Redner selbst passend sein sollen (vgl. Cic. Or. 99; vgl. De or. II, 247). Vgl. Quint. Inst. XI, 3, 125ff. Graf, Gestures and Conventions: The Gestures of Roman Actors and Orators, S. 49. Quint. Inst. XI, 3, 184.

Angesichts dieser historisch raschen Folge an Veränderungen in der Angemessenheit konventioneller Gestik erscheint das Aufrufen des Schauspielers weniger als substanzielle sondern eher als graduelle Unterscheidung. Der Schauspieler fungiert als eine Chiffre, die als warnende Grenzmetapher vor allem den normativen Anspruch transportiert, sich in der actio immer seines ēthos bewusst zu sein und sich als viriler, ehrenhafter Redner zu präsentieren. Der zweite an den Schauspieler gerichtete Vorwurf ist der der nachahmenden Gestik (imitatio). Dieser Unterschied zwischen schauspielerischer imitatio und rednerischer actio besteht nach Ursula Maier-Eichhorn »– was für uns heute kaum noch unmittelbar verständlich ist – offenbar darin, dass der Schauspieler das einzelne Wort durch seine Demonstration verdeutlicht, während der Redner größere gedankliche Gebilde beziehungsweise den ganzen zusammenhängenden Sachverhalt durch seine Gestikulation klar machen soll. Es ist der Unterschied zwischen ›Zeigen‹ und ›Ausdrücken‹.«370 Während Schauspieler in fiktive Rollen schlüpfen und Greise oder Frauen mit entsprechender Stimme und Bewegung nachahmen, mögen Redner zwar von Greisen oder Frauen sprechen, jedoch dabei ihren eigenen Charakter behalten und niemals »mit zittriger oder mit weibischer Stimme vortragen«.371 Quintilian unterscheidet zwischen denjenigen Gebärden, die »in natürlicher Weise mit dem sprachlichen Ausdruck einhergehen« und solchen, die pantomimisch nachahmen, etwa wie ein Arzt den Puls zu fühlen, um einen Kranken zu mimen, oder imaginäre Saiten anzuschlagen, um einen Kitharaspieler zu verkörpern.372 Während die ›natürliche‹ Art der Gebärden positiv bewertet wird, ist die ›nachahmende‹ »beim Vortrag aufs äußerste zu meiden.«373 Auch Cicero spricht davon, dass die actio den Inhalt der Rede nicht darstellen (exprimere), sondern andeuten müsse (demonstrare).374 Dies führt zu der Frage, was passierte, wenn der Redner nicht ›andeuten‹, sondern ›ausagieren‹ würde. Die actio, die Cicero und Quintilian ›quasi‹ als die Sprache des Körpers definieren, könnte als vollwertige Sprache neben – und nicht unter – die verbale Sprache treten. Cicero schreibt für die Rede im Gegensatz zum Schauspiel vor, »die Finger unterstreichen nur die Worte, statt sie auszudrücken«375. Es wird sichtbar, dass die Finger allerdings sehr wohl in der Lage wären, die Worte auszudrücken, ebenso wie Quintilian erklärt, dass Hände und Finger an Ausdruckskraft der Sprache fast nicht nachstünden.376 In der Aufforderung, Gesten nur ›anzudeuten‹, liegt die Aufforderung zur Subordination des Körpers unter die Sprache.

370 371 372 373 374 375 376

Maier-Eichhorn, Die Gestikulation in Quintilians Rhetorik, S. 23. Quint. Inst. XI, 3, 91. Quint. Inst. XI, 3, 88. Quint. Inst. XI, 3, 89. Cic. De or. III, 220. Cic. De or. III, 220. Vgl. Quint. Inst. XI, 3, 85.

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Gender Trouble: Von effeminierten Schauspielern Der Redner stellt in der actio seinen Körper öffentlich zur Schau. Um seinem Publikum zu gefallen, muss seine actio eine gewisse Eleganz ausdrücken.377 Diese ästhetisierte Inszenierung des Körpers bewirkt eine potentielle Bedrohung der Geschlechtsidentität, denen die Rhetoriken mit einer genauen Grenzziehung begegnen. Um die viril und männlich wirkende actio zu sichern, muss der Anschein einer übertrieben anmutigen und damit weiblich konnotierten actio ausgeschlossen werden. Schon die Rhetorica ad Herennium fordert in Bezug auf die Bewegungen des Körpers: In der Miene soll also Ehrgefühl (pudor) und Energie zu erkennen sein, in der Gebärde soll man weder übertriebene Anmut (venustas) noch Häßlichkeit erblicken, damit wir nicht den Eindruck von Schauspielern (histriones) oder Tagelöhnern erwecken.378

Der Auctor situiert den Redner hier zwischen zu anmutigen Schauspielern und zu häßlichen Arbeitern des niedrigsten Status. Die häufige Verknüpfung des Schauspielers mit venustas, ›Schönheit, Anmut, Liebreiz, Lust‹, deutet dessen ›Verweiblichung‹ an, da der Begriff venus, ›Liebe, Geliebte, Schönheit‹ beziehungsweise den Namen der Göttin Venus mitklingen lässt. Venustas ist zudem ein Begriff der eher Hetären als Matronen zuzuordnen ist379 und damit nicht nur einen niedrigen sozialen Status markiert, sondern auch Käuflichkeit und Penetrierbarkeit bedeuten kann.380 Wie ein Schauspieler zu erscheinen, kann auf die Spitze getrieben heißen, wie eine liebreizende, nicht ganz ehrwürdige, penetrierbare Frau zu wirken – auf jeden Fall nicht männlich genug zu erscheinen.381 Der Körper des Schauspielers wird nicht nur als verweiblicht, sondern auch als verweichlicht dargestellt. Ist es besonders die Gestik, die Gefahr läuft, übertrieben anmutig (venustas) zu erscheinen, besteht in Bezug auf die Stimme die Gefahr, zu weich (mollitudo) zu tönen.382 Obwohl Cicero und Quintilian die Relevanz von Gestik und Stimme für den Redner betonen, markieren sie die Bemühungen der Schauspieler um den eigenen Körper als übertrieben.383 Während sich der Schauspieler auf die Pflege und das Training seines Körpers konzentrieren könne, habe 377 378 379

380 381 382 383

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Vgl. Cic. De or. III, 103. Rhet. Her. III, 26. Vgl. Terenz’ Komödie Hecyra, in der ein Mann zwischen zwei Frauen steht – der Hetäre Bacchis, die über Liebreiz (venustas) verfügt, und seiner Ehefrau Philumena, die als sehr schön (perliberalis, ›wie es sich für eine freie Bürgerin gehört‹) charakterisiert wird. Vgl. zu Terenz’ Komödie: Stroh, Bühne frei! Die Welt des Theaters, S. 122f. Vgl. Richlin, Gender and Rhetoric: Producing Manhood in the Schools, S. 100. Vgl. Graf, Gestures and Conventions: The Gestures of Roman Actors and Orators, S. 48. Zu den »sexual overtones of mollitudo« vgl. Richlin, Gender and Rhetoric: Producing Manhood in the Schools, S. 100. Vgl. zur Differenzierung von Redner und Schauspieler in Bezug auf Stimme und Gestik auch die Kapitel III.2.1 und III.2.2.

der Redner als »Mann, der mit so vielen Verpflichtungen im bürgerlichen Leben beladen ist«384, mehr zu tun, als sich dem aufwändigen Studium der Gestik und dem jahrelangen Training der Stimme ›sklavenhaft‹ zu widmen. Auch hier klingt der Unterschied zwischen vir bonus und unfreiem Schauspieler durch. Schauspieler deklamieren im Sitzen, lassen im Liegen die Stimme Ton für Ton ansteigen und nehmen sie im Sitzen wieder zurück, Gesangslehrer schonen ihre Stimme nach der Anstrengung, gehen zu festgelegten Zeiten spazieren, halten Diät und zielen auf eine »weiche (mollis) und zarte (tener)« Stimme. Diese als ›Verweichlichung‹ gekennzeichnete und weiblich konnotierte Stimmpflege der Schauspieler und Sänger wird kontrastiert mit der ›guten‹, männlichen Stimme des Redners, der eine »starke (fortis) und widerstandsfähige (durabilis)« Stimme benötige, der »vieles rauh und erregt vortragen« müsse, ohne Schonung der Stimme in mehreren Prozessen gleichzeitig auftreten, auch noch Nachts bei Lampenqualm und im verschwitzten Gewand arbeiten müsse.385 Die selbst-bezogene Körperpflege wird kontrastiert mit der dem Staat und den Klienten dienlichen Arbeitsethik. Gegen Pflege und Genuß einer zarten, weichen Stimme des Schauspielers wird die eigene widerstandsfähige Stimme als Produkt der Selbstdisziplinierung und Aufopferung dargestellt – und so transzendiert386. Erik Gunderson stellt die These auf, dass Erfreuen (delectare) und Anmut (venustas) des Redners, dass Freude und Lust an der rhetorischen Performanz nur dann erlaubt sind, wenn sie Produkte des Regimes von Disziplin und Selbstkontrolle geworden sind. Die ganze Schauspielerdebatte diene dazu, die Disziplin zu privilegieren und die Lust zu zähmen.387 Der verführerische, weiche, erotische Körper schlägt jedoch im perfekten, korrekt trainierten Rednerkörper immer wieder durch. Gunderson schließt daraus: »The actor becomes the site at which the orator deposits his lack. In other words, as woman is to man, so is actor to orator: each is a parodic, castrated double whose failures of being support an ontology of authentic masculinity.«388 Die antiken Rhetoriken verwenden verschiedene Strategien, um diese Bedrohung ›authentischer‹ Maskulinität des Redners zu verwerfen, wodurch Männlichkeit allererst konstituiert wird. Der Einsatz des decorum dient dazu, sowohl rhetorische wie auch geschlechtliche Grenzen zu implementieren und zu überwachen. Die Grenzüberschreitung eines Redners wird zumeist mit der Beschreibung öffentlicher Erregung von Lächerlichkeit markiert. Die weichliche Stimme und Gestik wird nicht nur als inadäquat für den Redner dargestellt, sondern lächerlich gemacht und damit in ein undenkbares Außerhalb verbannt. So lässt Cicero Antonius am En-

384 385 386 387 388

Quint. Inst. XI, 3, 22. Quint. Inst. XI, 3, 22f. Vgl. zum Schauspieler: Cic. De or. I, 251. »The orator is always in the process of transcending his histrionic aspect« – meint Gunderson, Staging Masculinity, S. 112. Gunderson, Staging Masculinity, S. 120. Gunderson, Staging Masculinity, S. 115.

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de einer längeren Passage über die schauspielerische Stimmpflege mit komischer Übertreibung behaupten, wenn er erst einmal die Stimme an- und absteigen lassen wollte, wären die Klienten schon lange verurteilt. Im Brutus führt er einen Redner, Sextus Titius, auf, der mit so saloppen und weichlichen Bewegungen (solutus et mollis in gestu) auftritt, dass ein Tanz mit seinem Namen ›Titius‹ aufkommt, der ihn vollends der Lächerlichkeit preisgibt – eine Episode die Quintilian genüsslich aufgreift.389 Eine weitere Anekdote aus Gellius’ Attischen Nächten handelt von dem Redner Hortensius, der aufgrund seines theatralischen Auftretens den Spitznamen Dionysia erhält. Dionysia ist eine bekannte, sozial kaum hoch stehende Tänzerin der Zeit, deren Name zudem an den Gott der Ekstase erinnert.390 Als reichten diese warnenden Beispiele noch nicht, die Verweiblichung und Lächerlichkeit als Folge der Regelübertretung vor Augen führen, sind solche Anekdoten eingebettet in den expliziten, normativen Aufruf, sich als Redner »in Acht [zu] nehmen« und eine weichliche Vortragsweise (mollis actio) »[a]ufs äußerste zu meiden«.391 Sein und Schein: Ein performatives persona-Konzept Gesten sind in den Rhetoriken ebenso wie auf der Bühne hochkonventionell. Da solche konventionellen Systeme immer auch lehrbar sind – und in den Rhetoriken gelehrt werden – scheinen diese der Gefahr begegnen zu müssen, der Redner könnte aufgrund seiner einstudierten Gesten nicht authentisch wirken und damit seine Glaubwürdigkeit verlieren.392 Um dieser Gefahr entgegen zu treten, werden zwei Argumente genannt: Zum einen wird der Redeauftritt auf eine ›Natürlichkeit‹ gegründet, der durch die Kunst der Rhetorik nur zu ihrer eigentlichen Sichtbarkeit verholfen wird.393 Diese ›unsichtbare‹ Kunst beziehungsweise scheinbare Natur ist männlich konnotiert, wohingegen die schauspielerische Kunst, die offen zutage tritt als Künstlichkeit weiblich besetzt ist. Zum zweiten werden die Inhalte des Redeauftritts betont, der die Wirklichkeit hervorbringe, während der Schauspieler Fiktives aufführe. Sowohl Redner als auch Schauspieler versetzen sich während ihres Auftrittes in eine andere Rolle, und von beiden wird berichtet, wie stark die Identifikation mit dieser Rolle sei. Cicero berichtet, dass er oft gesehen habe, wie »die Augen

389 390

391 392 393

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Cic. Brut. 225. Vgl. Aulus Gellius, Noctes Atticae/Die attischen Nächte, lat.-dt., übers. und hg. von Fritz Weiss, unveränd. reprograf. Nachdr. der Ausg. Leipzig 1875, Darmstadt 1981, I, 5, 2 und dazu Graf, Gestures and Conventions: The Gestures of Roman Actors and Orators, S. 48. Quint. Inst. XI, 3, 128. Vgl. Graf, Gestures and Conventions: The Gestures of Roman Actors and Orators, S. 50. Vgl. Quint. Inst. XI, 3, 10.

des Schauspielers hinter seiner Maske zu glühen schienen«394 und Quintilian erzählt, dass er Schauspieler und Komödianten erlebt habe, die auch noch weinten, nachdem sie die Maske abgelegt hätten, so bewegt seien sie von ihrem Auftritt gewesen.395 Beide Redner werden selbst von den Inhalten ihrer Rede so ergriffen, dass Cicero aus »echter, schmerzlicher Bewegung« zu Tränen gerührt ist und Quintilian »ein solcher Schmerz, als wäre er echt« überwältigt, ihn erblassen und weinen lässt.396 Die Maske hat im antiken Drama die Funktion, zugleich die individuellen Züge des Schauspielers zu verbergen und die Charakterzüge der Figur weithin sichtbar zu machen. Traditionellerweise wird etwas hinter der Maske vermutet, das mit dem Attribut der Eigentlichkeit ausgestattet wird. Cicero und Quintilian suchen den Blick hinter die Masken, der das Eigentliche, das ›Wahre‹ enthüllen soll. Doch gespielte und ›wahre‹ Affekte lassen sich nicht unterscheiden. Dem gleichen Strukturmuster folgend versetzt sich der Redner während des Vortrags in die Rolle des vir bonus, er hat vom Schauspieler gelernt, »wie man der Überredung das Gewicht persönlicher Überzeugung geben soll, wie in der Erregung der Zorn ausbrechen, wie der Ton sich beim Klagen schmiegen soll« und setzt die ›Maske‹ dieser affektiven Zuständen auf.397 Der Redner führt sich selbst als Charakter in einem ›Ein-MannStück‹, das seine Rede ist, auf, und ebenso wie beim Schauspieler wird die Frage nach dem Eigentlichen obsolet, zählt doch nur das Sichtbare. Dennoch setzen die antiken Rhetoriken die Opposition von Fiktion und Realität und werden nicht müde, der Schauspielkunst die Fiktion und der Rhetorik die – höher bewertete – Realität zuzuschreiben. Schauspieler ahmten »Geschicke alter Helden und erfundene Bekümmernisse nach«, kaum könne es »so Unwirkliches geben wie die Welt der Verse, der Bühne und der Dramen«. Als Redner sei er, so Cicero, »nicht der Darsteller (actor) einer fremden, sondern der Schöpfer (auctor) meiner eigenen Person (persona)«.398 Der Begriff persona stammt aus dem Bühnenwesen und bezeichnet in der römischen Rhetorik zunächst die von Schauspielern getragene Maske sowie in übertragenem Sinne die funktionale Rolle, die der orator in Hinblick auf sein kommunikatives Ziel aktiv ergreift.399 Die im Rollenbegriff

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Cic. De or. II, 193. Quint. Inst. VI, 2, 35. Cic. De or. II, 195; Quint. Inst. VI, 2, 35f. Quint. Inst. I, 11, 12. »Auch muß der Schauspieler lehren, wie man erzählen, wie man der Überredung das Gewicht persönlicher Überzeugung geben soll, wie in der Erregung der Zorn ausbrechen, wie der Ton sich beim Klagen schmiegen soll. Das wird am besten geschehen, wenn der Lehrer aus den Komödien bestimmte, hierfür besonders geeignete Stellen auswählt, Stellen also, die Prozeßreden ähnlich sind.« (ebd.) Cic. De or. II, 194f. Meine Übersetzung folgt Andersen, Im Garten der Rhetorik, S. 129. Harald Merklin übersetzt: »[I]ch spiele ja auch keine fremde Rolle, sondern meine eigene«, womit der schöpferische Aspekt der Rednerrolle unbetont bleibt (Cicero, De oratore, S. 329). Vgl. Bernard Schouler, Jean Yves Boriaud u. a., Persona. In: Historisches Wörterbuch

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angelegte Unterscheidung zwischen einer vorgegebenen Rolle und ihrem Träger beziehungsweise Darsteller wird in Ciceros Vorstellung eines ›Rollenschöpfers‹ eingeschmolzen. Der Schöpfer der eigenen Rolle/Person steht jenseits der Opposition von Sein und Schein. Vielmehr ist er als performatives Konzept zu lesen. Die actio hat damit die Aufgabe und die Macht, die Person des Redners dar- und herzustellen.

III.5 Synthese Die Analyse der actio-Lehre aus einem gender-orientierten Blickwinkel hat zunächst gezeigt, dass der alten Rhetorik – insbesondere der actio-Lehre – geschlechtliche Parameter eingeschrieben sind, und zwar in einem bemerkenswerten Umfang und auf verschiedenen Ebenen. Das erste Unterkapitel, »Antike Konzeptionen der actio und ihr gendering« (III.2), hat dargestellt, wie die actio-Lehre den gesamten Körper als zeichenhaften konzipiert und in dieser detaillierten Arbeit der Bedeutungsgebung bestimmte Körperzeichen als männlich markiert. Dabei stellt sich heraus, dass actio und ēthos eng miteinander verknüpft sind: Zum einen machen die Rhetoriken die actio aus einer wirkungsorientierten Perspektive als Zeichen des ›Charakters‹ lesbar, zum anderen fordern sie aus einer produktionsorientierten Perspektive vom Redner, sein ēthos im Redeauftritt darzustellen. Stimme, Gestik und Mimik sowie die Kleidung müssen insofern nicht nur die Inhalte des Gesagten unterstreichen und die affektive Bewegtheit des Redners vermitteln, sondern auch sein ēthos als maßgebliches Überzeugungsmittel der Rede transportieren. Dieses ēthos – in der alten Rhetorik das des vir bonus – zeichnet sich grundsätzlich durch seine Männlichkeit aus. Der Körper wird in der actio-Lehre so zum Zeichenträger der Männlichkeit und diese erscheint ebenso konventionell und lehrbar, wie die nur vermeintlich unvermittelten Zeichen der inneren Bewegtheit, vertrauen die Rhetoriken doch keineswegs auf den ›natürlichen Ausdruck‹ des Körpers. Der mögliche Einsatz des Körpers als Zeichen wird beschrieben und begrenzt, indem nicht-rhetorikfähige Bewegungen explizit ausgeschlossen werden. Die Bestimmung der idealen männlichen actio erfolgt zum einen – und zwar im größten Umfang – durch die Abgrenzung von einer effeminierten actio, zum anderen durch die von einer statusniedrigen, schauspielerischen, ausländischen, antiquierten, kindlichen oder greisenhaften actio. Die ideale Männlichkeit des antiken Redners wird also nicht allein bestimmbar durch die Opposition zur Weiblichkeit, sondern ebenso zu anderen Männlichkeiten.

der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 6, Tübingen 2003, Sp. 789–810; Manfred Fuhrmann, Persona, ein römischer Rollenbegriff. In: Identität, hg. von Odo Marquard, Karlheinz Stierle, München 1979, S. 83–106.

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Die rhetorikfähige Stimme wird als männliche, starke, feste, widerstandsfähige, kräftige, disziplinierte Stimme definiert, die nicht weibisch, weich, zart, dürftig, dünn, hohl oder singend sein darf (2.1). Die Rede bedarf einer festen, körperlichen Konstitution und soll mit energischer, kämpferischer männlicher Körperhaltung, Würde, Bescheidenheit und – in einem eng abgesteckten Maß – mit Anmut gehalten werden, keinesfalls jedoch mit tänzerischen, weichen, lustvollen, allzu anmutigen Bewegungen (2.2). Dabei wird der männliche Körper durch die gediegene, würdevolle, männliche Kleidung konturiert, die mit zunehmender affektiver Intensität gezielt verrutscht und als Zeichen der Bewegtheit des Redners dient (2.4). Auch hier gilt ein Übermaß an Schmuck und Prachtentfaltung als effeminiert. Geregelt wird diese Grenzziehung zwischen dem rechten Maß und seiner Überschreitung durch das konventionelle decorum, das nicht nur das situativ Passende (also rhetorisch Wirkungsvolle) bestimmt, sondern diese persuasive Wirkung mit einer ethischen Aussage verknüpft und als das sozial Schickliche darstellt – eine Verknüpfung mit weitreichenden Folgen für die Relation von Redeauftritt und Geschlecht. Während der Redeauftritt eines Mannes zwar gegen die eine oder andere Regel des decorum verstoßen kann, gilt der Redeauftritt einer Frau in der Antike grundsätzlich als Übertretung des decorum. Gerade die actio wird als das officium beschrieben, in dem das decorum am strengsten einzuhalten ist: Vor Publikum kann nur der (geschlechtlich eindeutige) Redeauftritt überzeugen, der den Konventionen des Schicklichen entspricht. Über die Leitdifferenz von angemessen/ unschicklich greift die alte Rhetorik so konventionelles Wissen über die Geschlechterdifferenz auf, speist es in rhetorische Regeln ein, wie geschlechtsspezifisch zu sprechen ist, und wirkt damit wiederum auf das Vermögen der Geschlechter, als Redner/in aufzutreten, zurück. Dabei lese ich das decorum weniger als eine ›Verhaltensempfehlung‹, sondern vielmehr mit Foucault als ein Verbot, das nicht-rhetorikfähige (und rhetorikfähige) Subjektpositionen produziert (2.3). So führt dieses erste Unterkapitel in das gegenderte Zeichenprogramm der actio ein, ein Programm, das in weiten Teilen bis heute nachwirkt, während andere geschlechtliche Codierungen im 18. Jahrhundert eine Umwertung erfahren, wie die in der Antike als männlich geltenden Zeichen der Bescheidenheit, die im 18. Jahrhundert ganz dem weiblichen Geschlecht zugeschrieben werden. Wie dieses normative Körperzeichen-Programm in der rhetorischen actio-Lehre vermittelt wird, steht im Vordergrund des zweiten Unterkapitels, »Das rhetorische Subjekt« (III.3). Die Ausbildung des Redners beschränkt sich nicht darauf, Wissen über die Anforderungen an eine angemessene actio zu lehren, sondern schließt, wie ich zeige, eine körperliche Übung eben jener actio ein. Nicht jeder Körper wird von der Rhetorik-Lehre als Ausbildungsmaterial anerkannt, sondern nur solche (Männer-) Körper, die über bestimmte vielversprechende natürliche Voraussetzungen verfügen. ›Körperbildungsgeschichten‹ wie die von Demosthenes oder Cicero zeigen jedoch, dass mit einem immensen Aufwand an konstanter körperlicher Übung von Jugend an beinahe jeder natürliche Makel durch die Kunst besiegt werden kann. Selbstdisziplinierung, körperliche Ausbildung und Mannwerdung werden in 135

diesen beispielhaften Erfolgsgeschichten miteinander verknüpft, und erzählen von einer performativen Selbst-Herstellung des Redners (3.1). Ziel dieses Produktionsprozesses ist in der römischen Rhetorik der vir bonus, definiert durch seine Männlichkeit, seinen Status und seine (nicht passive) Sexualität, wobei die kontinuierliche Problematisierung des richtigen Auftretens als vir bonus auf die Instabilität dieser Kategorie verweist (3.2). Der vir bonus ist kein Redner qua Natur, sondern muss sich durch eine lebenslange, konstant wiederholte performative Aufführung als solcher beweisen (3.5). Diese Aufforderung zu einer kontinuierlichen, wiederholten Körper-Bildung verbindet die Einübung rhetorischer Angemessenheit mit der geschlechtlicher Eindeutigkeit (3.4). Für diese Körperbildung schlagen die alten Rhetoriken drei spezifische Übungspraktiken vor. In der imitatio passt sich der Redner nicht nur an sein männliches Vorbild an und schreibt sich so in eine männliche Tradition ein, sondern verkörpert in einem kontinuierlichen Prozess der Wiederholung von gestischen, mimischen und stimmlichen Akten dieses Vorbild (3.5). Während die imitatio deutlich macht, dass sich jeder Redeauftritt – ebenso wie die Performanz von Geschlecht – in eine kulturelle Tradition einbindet, zeigt der Blick auf die declamatio die inszenatorischen Züge dieser Performanz. Declamationes sind Übungsreden, in denen fiktive Selbstentwürfe vor einem Publikum erprobt und inszeniert werden. Die rhetorische Darstellung der declamationes lässt erkennen, dass es methodisch eben keinen Unterschied macht, sein ›wahres‹ oder ein ›fiktives‹ Ich aufzuführen (3.6). Schließlich verweist die enge Verbindung der Rhetorik mit Sport-Übungen zumal in der griechischen Rhetorik auf die – beiden Disziplinen eigene – Bedeutung der körperlichen Verfassung des Redners und eines Körperwissens über das angemessene Verhalten im rechten Augenblick. Die körperliche Übung in jungen Jahren begleitet den Redner lebenslang gleichsam als ›Spur‹ (Quintilian), die von einer Vermischung von ars und natura zeugt (3.7). Schließlich situiert das letzte Unterkapitel, »Die rhetorische Situation« (III.4), die actio nicht nur in der Ausbildungs-, sondern auch in der klassischen rhetorischen Situation der politischen oder juristischen Rede. Die alte Rhetorik entwirft diese Situation als eine agonale, in der sich der Redner als (Show-) Kämpfer gegen einen Widersacher durchsetzen muss. Die dem Waffen-Kampf als traditionell männlicher Domäne eingeschriebene Männlichkeit wird durch die Metaphorik auf den Wort-Kampf übertragen. Dass diesem Kampf immer ein inszenatorischer Show-Aspekt eignet, betont wiederum die Relevanz der sichtbaren actio (4.1). Dabei ist ein (Massen-) Publikum notwendiger – nicht nur fakultativer – Zeuge dieser kämpferischen Männlichkeitsinszenierung. Der Redner bedarf des Publikums, um allererst in Form zu kommen und das Publikum bestätigt den Redner in seiner Selbstinszenierung. Dieser reziproke Prozess, den ich mit Lacan als eine subjektkonstituierende Spiegelstruktur lese, erscheint, wie ein Exkurs zu Hortensia zeigt, für eine Rednerin in der Antike kaum erreichbar (4.2). Mit der actio verweist der Redner nicht nur auf Redeinhalte, sondern selbstreferenziell auch auf sich. Dieses ›Selbst‹ ist in der alten Rhetorik von Aristoteles bis Cicero nicht vorgängig konzipiert, sondern im Redeauftritt herzustellen. Erst Quintilian wendet sich von einer 136

als performativ zu bezeichnenden Konzeption ab, wie der vergleichende Blick auf die verschiedenen ēthos-Konzeptionen in der alten Rhetorik zeigt. In jedem Fall eignet dem ēthos, wie ich deutlich mache, eine körperliche Dimension (4.3). Die vorangehenden Ausführungen zur Inszenierung und zum Publikum ermöglichen es nun, die actio in der alten Rhetorik zu spezifizieren als ein ›sich als etwas für jemanden zeigen‹ – und diesen performativen Prozess der Inszenierung zu verbergen, wie die abschließende Untersuchung der prekären Grenzziehung zwischen dem Redner und dem Schauspieler belegt (4.4). Die actio wird in dieser Arbeit dementsprechend verstanden als wiederholte, performative Inszenierung mit dem Ziel, ein Publikum durch den Einsatz körperlicher, geschlechtlicher Zeichen von etwas und zugleich von ›sich‹ zu überzeugen. Die Rhetoriklehre sorgt dafür, dass dieser Einsatz körperlicher Zeichen zwar durchaus als intentionale Strategie gelehrt wird, sich durch die lebenslange Wiederholung bestimmter Übungstechniken jedoch verkörpert. So wird der geschlechtliche Körper in der actio-Lehre nicht nur dargestellt, sondern allererst hergestellt. Rhetorik wirkt als Körperbildungsmacht.

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Exkurs: Damen und Herren im Gespräch: Actio in der Gesprächsrhetorik des 16. und 17. Jahrhunderts

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Ein weiblicher vir bonus? Castigliones Hofdame

Der vir bonus dicendi peritus, das Ideal eines hochgestellten, gebildeten und geübten Redners, ist, wie im Kapitel über die alte Rhetorik gezeigt wurde, ein dezidiert männliches Modell. Das Ideal einer vollkommenen Rednerin wurde in der Antike nicht formuliert, vielmehr funktioniert das vir bonus-Ideal gerade durch die diskursive Abgrenzung von der als nicht rhetorikfähig dargestellten Frau.1 Umso bemerkenswerter ist es, dass in Baldesar Castigliones Il libro del Cortegiano (1528)2 nicht nur der vollkommene Hofmann als »Kopie des alten orator«3 entworfen wird, sondern auch das Ideal einer Hofdame skizziert wird. Waren sowohl Redner als auch Publikum in der Antike explizit männlich gedacht, tritt nun neben den Hofmann (cortegiano) die Hofdame (donna di palazzo), der eine genuin rhetorische Aufgabe zugeschrieben wird: sich mit jedem über alles angenehm unterhalten zu können. Es wäre eine faszinierende Ergänzung der Rhetorikgeschichte, sollte sich in dieser über Jahrhunderte einflussreichen, in ganz Europa verbreiteten Schrift (erstmalig) der Entwurf einer femina bona finden – eines weiblichen Gegenstücks zu Ciceros vir bonus. Daraus ergeben sich folgende Fragen: Kann Castigliones Hofdame als Modellierung einer femina bona, einer oratrix, verstanden werden, so wie der Hofmann als eine Renaissance-Version des vir bonus, des antiken orators, gilt? Auf welche Redesituationen bezöge sich dieses Rednerinnen-Ideal und wie unterscheidet es sich von dem männlichen Redner-Ideal? Wird damit einhergehend auch ein spezifisch weibliches Bildungsprogramm formuliert? Auch das Publikum der höfischen Rede ist in Castigliones Buch vom Hofmann nicht mehr nur männlich: Der Hofmann muss einem weiblich gedachten Publikum mit seiner angenehmen actio

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Zur konstitutiven Abgrenzung des rhetorischen Subjekts von nicht-rhetorikfähigen Frauen, Kindern und Sklaven vgl. Kapitel III.3.2. Baldesar Castiglione, Il libro del Cortegiano, hg., eingeleitet und erläutert von Walter Barberis, Turin 1998. Baldesar Castiglione, Das Buch vom Hofmann, übers., eingeleitet und erläutert von Fritz Baumgart, Bremen 1960. Ich zitiere nach der deutschen Übersetzung mit wenigen vergleichenden Rückgriffen auf das Original. Karl-Heinz Göttert, Kommunikationsideale. Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie, München 1988, S. 20. Der Begriff der ›Kopie‹, der ein deckungsgleiches Abbildverhältnis suggeriert, scheint mir trotz der überaus deutlichen Cicero-Anleihen allerdings nicht der historischen Spezifi k des Hofmanns gerecht zu werden.

gefallen. Inwiefern beeinflusst diese veränderte Rezeptionsbedingung der männlichen Rede die Konzeption der actio? Und inwiefern werden verschiedene Regeln für die weibliche und die männliche actio aufgestellt? Warum dieser Exkurs exemplarisch einen Text aus der italienischen Renaissance und zwar gerade Castigliones Buch vom Hofmann in den Blick nimmt, hat folgende Gründe: Erstens handelt es sich beim Hofmann nach den höfischen Anstandslehren des Mittelalters um ein neues »Bündnis von Hofideal und humanistisch-rhetorischer Bildung«. 4 Zweitens wird die Frau in der nun theoriefähig gewordenen Rhetorik des Gesprächs5 explizit miteinbezogen und drittens wird der actio in der höfischen Konversation für den Hofmann und die Hofdame eine besondere Relevanz zugeschrieben. Viertens beschreitet Castiglione gerade mit der differenzierten Beschreibung der weiblichen actio neue Wege, wie Peter Burke am Rande bemerkt: Auch in früheren italienischen Manierenbüchern, vor allem solchen für Frauen wie dem anonymen Decor puellarum oder Francesco da Barberinos Reggimento e costumi della donna, war das angemessene Gebärdenspiel ein Thema gewesen, dort aber geschah das weniger ausführlich oder auf niedrigem Niveau. Der Hofmann war differenzierter als solche Anstandsfibeln und konkreter als frühere philosophische Erörterungen.6

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Wilfried Barner, Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen, Tübingen 1970, S. 369. Kapp zufolge besteht der Unterschied zwischen der Anstandsliteratur der Frühen Neuzeit und der des Mittelalters vor allem in der »Ankoppelung des Zivilisierungsideals an die Rhetorik und die durch die Regeln der actio motivierte Verlagerung des Akzents auf ästhetische Gesichtspunkte«. Kapp, Die Lehre von der actio als Schlüssel zum Verständnis der Kultur der frühen Neuzeit, S. 46. Göttert verweist auf die beginnende Ausbildung einer Rhetorik des Gesprächs in der Frühen Neuzeit: »Seit Beginn der Neuzeit entsteht eine Literatur, die sich statt mit der Rede vor großem Publikum mit dem Gespräch und dem Umgang im geselligen Kreis befaßt. Während in der Antike die Theoriefähigkeit des Stoffes noch skeptisch beurteilt wurde […], findet die Fragestellung zu Beginn der Neuzeit in einer eigenen Literatur des Anstands bzw. der Zivilität Beachtung.« Göttert, Geschichte der Stimme, S. 228. Fauser betont besonders die rezeptionsgeschichtliche Wirkung des Cortegiano für die entstehende Gesprächsrhetorik: »Für die Lehrbücher ist Castigliones Buch vom Hofmann vorbildhaft geworden, es ist durchdrungen von der Konzeption rednerischer Geselligkeit, es erweitert und überträgt die urbanitas und deren Randbereiche Lachen, Scherz und Witz auf die höfischen Verhältnisse. Es lehrt Gesprächskunst in allen Einzelheiten, und so geht man nicht fehl, wenn man annimmt, daß spätestens mit Castiglione die Rhetorik des Gesprächs ausgebildet war.« Fauser, Das Gespräch im 18. Jahrhundert, S. 162. Kapp weist auf die Relevanz der actio in dieser Gesprächsrhetorik hin: »Die Konversation übernimmt bei Castiglione Funktionen der politischen Beeinflussung, die herkömmlicherweise der deliberativen Rede vorbehalten war. Sie bringt eine Akzentuierung der actio mit sich, weil in der Konversation die äußere Erscheinung noch stärker über die Überzeugungskraft der Aussage entscheidet als in der deliberativen Rede. Ihre Aufwertung ist ein Merkmal für die Kultur der frühen Neuzeit.« Kapp, Die Lehre von der actio als Schlüssel zum Verständnis der Kultur der frühen Neuzeit, S. 46. Peter Burke, Die Geschicke des ›Hofmann‹. Zur Wirkung eines Renaissance-Breviers über angemessenes Verhalten, Berlin 1996, S. 41.

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Fünftens hat Castigliones Cortegiano durch seine unvergleichliche Rezeptionsgeschichte – Auflagen und Übersetzungen erschienen über zwei Jahrhunderte in ganz Europa – die Entstehung ähnlicher Leitbilder außerhalb Italiens, wie des honnête homme oder des gentleman, maßgeblich beeinflusst.7 Auch in der deutschen Rezeption lässt sich anhand der diversen Übersetzungen ein zunehmendes Interesse nicht nur für den »Hofman«, sondern auch für die »HofFraw« bzw. »Hof=Dame« erkennen.8 7

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Zur Rezeptionsgeschichte von Castigliones Cortegiano in Europa vgl. Burke, Die Geschicke des ›Hofmann‹; sowie in Deutschland: Klaus Ley, Castiglione und die Höflichkeit. Zur Rezeption des ›Cortegiano‹ im deutschen Sprachraum vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. In: Beiträge zur Aufnahme der italienischen und spanischen Literatur in Deutschland im 16. und 17. Jahrhundert, hg. von Alberto Martino, Amsterdam 1990, S. 3–108. Castigliones Cortegiano ist schon im 16. Jh. in Italien in über 50 Auflagen sowie in Übersetzungen in Europa in etwa 60 Auflagen verbreitet (Burke, Die Geschicke des ›Hofmann‹, S. 61). Eine direkte Beeinflussung späterer Traktate wie zum Beispiel des berühmten L’Honneste homme ou l’art de plaire à la court von Nicolas Faret (1630) ist nachweisbar. Barner zufolge bleibt Das Buch vom Hofmann ein Schlüsselwerk noch für die deutsche höfische Barockrhetorik des 17. Jahrhunderts (Barner, Barockrhetorik, S. 369). Noch in Harsdörffers Frauenzimmer Gesprächspiele (1641–49) wird der Cortegiano mehrfach erwähnt und kurz vorgestellt (3. Teil, S. 136–142). Burke schätzt den andauernden Erfolg des Buches vorsichtiger ein: Um 1650 sei das Interesse am Cortegiano abgeflacht, da es in der Zeit der Reformation und Gegenreformation nicht religiös genug erschienen sei, Frankreich Italien die kulturelle Leitfunktion abgenommen habe, die ›Anmut‹ in Umgangsformen und Lebensführung nicht mehr als Schlüssel zum Erfolg am Hofe gegolten habe und durch andere Konzepte wie die ›Klugheit‹ bei Baltasar Gracián, die totale ›Anpassung‹ an den Fürsten oder ›Verstellung‹ abgelöst worden sei. Burke weist jedoch auch auf die Wiederentdeckung mit Neuauflagen des Cortegiano in Italien und England im 18. Jahrhundert aufgrund einer ›Renaissance der Renaissance‹ hin. Burke, Die Geschicke des ›Hofmann‹, S. 140ff., S. 153ff. Die Übersetzungen lassen ein zunehmendes Interesse nicht nur für die Frau als ideale Hofdame, sondern auch als Rezipientin erkennen. Die erste deutsche Übersetzung des Cortegiano ist: Laurentz Kratzer, Hofman/ Ein schon holdseldig Buch/ in Welscher sprach der Cortegiano/ oder zu Teutsch der Hofman genannt/ Welches seinen ursprung und anfang/ an dem Fürstlichen Hof zu Urbino empfangen/ lustig zulesen/ Etwa in Italiänischer Sprach durch Graf Balthasern Castiglion beschriben worden, München: Adam Berg 1565. Während dieser Titel nichts über das angestrebte Publikum und über die Verhandlung der Hofdame besagt, findet sich in der Neuauflage ein Jahr später der Zusatz im Titel: Edlen und unedlen Manspersonen/ desgleichen allen Frawen und Jungfrawen seher lustig ze lesen. Ohne eindeutige ständische Abgrenzung wendet sich die Übersetzung an Männer und Frauen. Während die folgenden in Deutschland erschienenen lateinischen Übersetzungen kein weibliches Lesepublikum ansprechen und auch die Behandlung der Hofdame nicht explizit im Titel erwähnen, kündigt die deutsche Übersetzung von J. E. Noyse des Jahres 1593 ausdrücklich die Hofdame an: Der Hofmann […]. Item ein gantz zierliche und eygentliche Beschreibung/ einer Adelichen Tugendtlichen HofFrawen. Die nächste deutsche Übersetzung, erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts im Zeitalter der Galanterie anonym verfasst, trägt Mann und Frau scheinbar gleichberechtigt im Titel: Der vollkommene Hofmann und Hof=Dame, Frankfurt a. M.: Carl Schäfer 1684. Eine fast zeitgleich erschienene französische Fassung ist ebenfalls mit Le Parfait

Nicht zuletzt spielt die Kategorie ›Geschlecht‹ in Castigliones Buch vom Hofmann eine immense Rolle – und zwar maßgeblich verknüpft mit der Frage, wie als Mann und wie als Frau zu sprechen und zu agieren ist. Das Buch vom Hofmann entstammt einer Zeit, in der sich die Haltung zum Selbst auf eine Weise verändert, die Stephen Greenblatt als ›Self-Fashioning‹ beschrieben hat.9 Castiglione beschreibt, wie wichtig es ist, einen guten Eindruck von sich zu geben (dar bona impression di sé) und weist Männer und Frauen bewusst an, als Hofmann und als Hofdame eine Rolle zu spielen, ›sich eine andere Person anzuziehen‹ (vestirsi un’ altra persona).10 Burke fasst die neue Qualität zusammen, die Das Buch vom Hofmann ausmacht, und die es auch für diese Arbeit so relevant macht: Am innovativsten ist der Hofmann darin, wo er Schwerpunkte setzt, vor allem in dem Gewicht, das er auf die Ästhetik des Benehmens legt, die Gestaltung des Selbst als Kunstwerk und die Würde der Frauen (auch wenn der Raum, der ihnen eingeräumt wird, minimal ist im Vergleich zu dem der Männer).11

Dieses Bewusstsein der eigenen (performativ zu nennenden) stilisierten Selbstpräsentation legt nahe, auch das Geschlecht als eine performativ wiederholte, stilisierte Körperpraxis zu begreifen. Während Veröffentlichungen speziell zur geschlechtsspezifischen actio im Buch vom Hofmann bislang nicht vorliegen,12 kann dieses Kapitel zum einen auf derjenigen Forschungsliteratur aufbauen, die Castigliones Hofmannsbuch aus einem

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Courtisan et la Dame de Cour (1590) betitelt. Klaus Ley spricht diese Entwicklung zwar an und bemerkt, dass die letzten Titel darauf hinweisen, dass den Frauen, »die ja auch am Gesellschaftsleben beteiligt waren, die gebührende Aufmerksamkeit zukommen sollte« (S. 79), eine umfangreiche Untersuchung der geschlechtsspezifischen Rezeption des Cortegiano liegt jedoch nicht vor. Für die vollständigen Titel vgl. Ley, Castiglione und die Höflichkeit. Stephen Greenblatt, Renaissance Self-Fashioning from More to Shakespeare, Chicago (1980) 2005, zum »rhetorical self-fashioning« von Castigliones Cortegiano vgl. S. 161– 164. Vgl. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, I, 16, S. 39f.; II, 19, S. 132. Burke, Die Geschicke des ›Hofmann‹, S. 45. Dagegen liegen einige Titel vor, die den Hofmann zwar geschlechtsspezifisch in den Blick nehmen, dessen Bezug auf die rhetorische Tradition jedoch außer Acht lassen. Vgl. Valeria Finucci, The Lady Vanishes. Subjectivity and Representation in Castiglione and Ariosto, Stanford 1992. Finucci analysiert mit einem psychoanalytischen Instrumentarium die Produktion geschlechtsspezifischer Subjektivität in Castigliones Cortegiano, ohne jedoch auf die Rhetoriktradition zu rekurrieren oder der Körpersprache des Hofmanns und der Hofdame Aufmerksamkeit zu widmen. Auch Silke Segler-Meßner analysiert die Subjektentwürfe im Cortegiano ohne rhetorischen Fokus. Vgl. Silke Segler-Meßner, Der Dialog als Raum spielerischer Selbstentfaltung: Baldessar Castiglione, Stefano Guazzo, Moderata Fonte. In: Spielwelten. Performanz und Inszenierung in der Renaissance, hg. von Klaus W. Hempfer, Helmut Pfeiffer, Stuttgart 2002, S. 47–66; Segler-Meßner, Von der Entdeckung der Selbstbestimmung zur Diskussion über die Stellung der Frau: Der Wandel der Geschlechterbeziehungen in der italienischen Renaissance. In: Frauen in der

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rhetorikgeschichtlichen Blickwinkel wahrnimmt, ohne dabei die Kategorie ›Geschlecht‹ zu beachten.13 Zum anderen profitiert es von der neueren gender-orientierten Forschung zur Konversation in der Frühen Neuzeit.14 Der vielstimmige Geschlechterdiskurs Die Bezüge zur alten Rhetorik sind in Castigliones Buch vom Hofmann in vielen Bereichen offenkundig.15 Vor allem die Konzeption des idealen Hofmanns leitet sich wesentlich aus Ciceros Modell des vir bonus ab. Wie Platon den vollkommenen Staat, Xenophon den vollkommenen König und Cicero den vollkommenen Redner

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Frühen Neuzeit. Lebensentwürfe in Kunst und Literatur, hg. von Anne-Marie Bonnet, Barbara Schellewald, Köln, Weimar, Wien 2004, S. 7–35. Vgl. Manfred Hinz, Rhetorische Strategien des Hofmannes. Studien zu den italienischen Hofmannstraktaten des 16. und 17. Jahrhunderts, Stuttgart 1992, insb. S. 73– 220; Göttert, Kommunikationsideale, insb. S. 20–43; Kapp, Die Lehre von der actio als Schlüssel zum Verständnis der Kultur der frühen Neuzeit; Barner, Barockrhetorik, S. 369–374. Rüdiger Schnell (Hg.), Konversationskultur in der Vormoderne. Geschlechter im geselligen Gespräch, Köln, Weimar, Wien 2008. Darin einführend – allerdings ohne Bezug auf geschlechtsspezifische Unterschiede in der actio: Rüdiger Schnell, Männer unter sich – Männer und Frauen im Gespräch. Geschlechterspezifische Aspekte der Konversation, S. 387–440; darin insbesondere zu Castiglione: Francesco Mugheddu, Die ›civil conversatione‹ des Decameron und ihre Nachfolger, S. 259–312, und Rüdiger Schnell, Zur Konversationskultur in Italien und Deutschland im 15. und 16. Jahrhundert. Methodologische Überlegungen, S. 313–386. Vgl. Jennifer Richards, Assumed Simplicity and the Critique of Nobility: Or, How Castiglione Read Cicero. In: Renaissance Quarterly, 54/2, 2001, S. 460–486. Richards unterstreicht, dass nicht nur das orator-Ideal, sondern auch die dialogische Struktur des Cortegiano Ciceros De oratore gleicht. Während die Rezeptionsgeschichte des Cortegiano (unter anderem durch die Hinzufügung von zusammenfassenden Randglossen in Übersetzungen) belege, dass das Buch vor allem als präskriptives Handbuch zum höfischen Verhalten gelesen wurde, sei es aufgrund seiner dialogischen Struktur nicht auf eine eindimensional normative Aussage zu beschränken. Daneben sind weitere Bezüge zur alten Rhetorik offensichtlich: Castiglione greift das klassische fünf-officia-Schema der alten Rhetorik auf, wobei der actio eine besonders wichtige Rolle zugeschrieben wird. Barner weist darauf hin, dass sich Castiglione versiert der rhetorischen Systematik bediene, diese jedoch unter den Vorbehalt stelle, dass nicht erst die Worte, sondern bereits die Gedanken schön, sinnreich, scharf, zierlich und klug (belle, ingeniose, acute, eleganti und gravi) sein sollten, wobei acutum und ingeniosum spätestens 120 Jahre später, mit Baltasar Graciáns Agudeza y arte de ingenio (1648), zu »Leitbegriffen einer modernen, ganz Europa umspannenden rhetorischen Konzeption geworden seien« (Barner, Barockrhetorik, S. 371f.; vgl. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, I, 33, S. 65f.). Nicht zuletzt greift Castiglione die Lehre von ēthos, pathos und logos auf: Der Hofmann/Redner müsse es verstehen, nicht nur scharfsinnige Gedanken in klare Worte zu fassen, sondern auch Leidenschaften erregen zu können und nicht zuletzt durch das Verbergen der Kunst mit seiner eigenen Person zu überzeugen (I, 34, S. 67).

dargestellt habe, will Castiglione den vollkommenen Hofmann entwerfen.16 Anders als der vollkommene Redner scheint jedoch der vollkommene Hofmann nicht verhandelt werden zu können, ohne dass die generelle Frage nach der (Gleich-)Wertigkeit von Männern und Frauen aufgeworfen und ihm eine ideale »Frau zum Vergleich gegeben«17 wird. Dass Castiglione, wenn er an das Oratorkonzept der Antike anknüpft, das auf einer spezifisch männlich definierten (Körper-)Bildung beruht, und dieses Modell auf die neue Redesituation des höfischen Gesprächs überträgt, dabei auch die Frau am Hofe einbezieht, ist nicht selbstverständlich. Der Text selbst spiegelt mit der Vielstimmigkeit der verschiedenen Gesprächsteilnehmer das Neue, ja Skandalöse der Einbeziehung der Frau in die Formulierung eines höfischen Ideals. Während das Gespräch mit der Darstellung des männlichen Ideals beginnt, gilt es mehrere Einwände zu widerlegen, bevor es zu der Formulierung eines weiblichen Ideals kommen kann: Gasparo Pallavicino, dem während des gesamten Gesprächsverlaufs misogyne Aussagen zugeordnet werden, behauptet: Da dieselben Regeln für die Dame wie für den Herrn gälten, sei die Dame nicht weiter der Rede wert. Ein anderer Gesprächsteilnehmer, Nicolò Frisio, wirft im Gegenteil ein, man dürfe das Gespräch über den Hofmann nicht mit dem über die Dame vermischen, und sollte daher beim eigentlichen Thema, dem Hofmann, bleiben.18 Cesare Gonzaga begründet dagegen die Notwendigkeit, über die Hofdame zu sprechen: [W]ie kein Hof, so bedeutend er auch sei, ohne Damen Zierde oder Glanz und Freude haben kann, so kann auch kein Hofmann artig, gefällig oder kühn sein und ein anmutiges, ritterliches Werk verrichten, wenn er nicht durch den Umgang, die Liebe und das Wohlgefallen der Damen dazu bewogen wird. Deshalb muss das Gespräch über den Hofmann stets unvollkommen bleiben, wenn die Damen nicht durch ihre Einmischung ihren Teil jener Anmut beisteuern, mit der sie die Hofmannskunst vervollkommnen und schmücken.19

Ob die Hofdame nun als Vergleichsobjekt des Mannes dient, als Untergattung des Mannes vernachlässigt wird (Pallavicino), als sein auszuschließendes Gegenteil verworfen wird (Frisio), als ästhetisches Beiwerk des Hofmanns Erwähnung findet oder als seine vervollkommnende Erzieherin (Gonzaga) idealisiert wird – in jedem Fall wird das Gespräch über die Hofdame von Anfang an auf den Hofmann bezogen und kann nur in der Abgrenzung von diesem bestehen. So wird im Buch vom Hofmann das Weibliche zwar als das Andere des Mannes ausgeschlossen, wenn es darum geht, ein männliches Ideal durch die Verwerfung eines konstitutiven Außen zu definieren. Daneben wird, maßgeblich durch den als Fürsprecher der Frau auftretenden Giuliano de’ Medici, die Hofdame nicht nur als das ausgeschlossene ›Andere‹, sondern als selbstständiges Ideal entworfen – zugleich allerdings als ein

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Vgl. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, I, 3, S. 8. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, II, 100, S. 235. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, III, 3, S. 243. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, III, 3, S. 243.

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Produkt der männlichen Schöpfungskraft kenntlich gemacht. Giuliano de’ Medici greift explizit auf den Pygmalion-Topos zurück, indem er die ideale Hofdame als ›sein Geschöpf‹ beschreibt.20 Damit wird deutlich, dass es sich bei der idealen Hofdame um einen künstlerischen, männlichen Entwurf handelt, der zudem narzisstisch besetzt ist. Während die Darstellung des idealen Hofmanns der rhetorischen Tradition insofern folgt, als die Rhetorik schon immer von der Männlichkeit als Norm ausgeht, wird in der Rede über die ideale Hofdame jedoch auch eine weibliche Norm entworfen, die zwar angefeindet wird und legitimierungsbedürftig erscheint, sich jedoch im Diskurs über den Wert des Mannes und der Frau behaupten kann. Es sei nur kurz auf die historische Wirkmächtigkeit dieses Entwurfs eines vollkommenen Hofmanns und einer vollkommenen Hofdame als idealer Fluchtpunkt eines Subjektivierungsprozesses hingewiesen. Die literarische Form des Gesprächsspiels eröffnet die Möglichkeit, eine Welt darzustellen, wie sie sein könnte. In dieser Welt kann eine vollkommene Hofdame entworfen werden, ohne ihre Realisierbarkeit belegen zu müssen. Die Rezeptionsgeschichte des Libro del Cortegiano gibt Hinweise darauf, dass der literarische Dialog mit seinen Entwürfen idealer Männlichkeit und Weiblichkeit als ein präskriptiver Anstandstraktat, als Übungsanleitung und Handbuch gelesen wurde.21 Das Ideal wurde von Männern – und gerade auch von Frauen, wie Burke betont22 – nicht nur als (vielstimmige und teils widersprüchliche, hochliterarische) Beschreibung eines Ideals, sondern als Vorschrift, als normativer Imperativ verstanden: ›Werde das Ideal!‹

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»[Ich] werde […] also von dieser vollkommenen Hofdame sprechen, wie ich sie haben möchte; wenn ich sie nach meiner Weise dargestellt habe, werde ich sie, da ich doch keine andere haben kann, nach dem Vorbild Pygmalions für die meine halten.« (Castiglione, Das Buch vom Hofmann, III, 4, S. 245) An anderer Stelle bezeichnet Giuliano de’ Medici die von ihm beschriebene vollkommene Dame als »mein Geschöpf« (III, 54, S. 302). Burke zeigt, dass der als Dialog verfasste Cortegiano und der im Gegensatz dazu als Traktat geschriebene Il Galateo von Giovanni della Casa (1558) wie Bücher, die zur gleichen Gattung gehören, nämlich wie präskriptive Anstandsbücher rezipiert wurden. Gerade die zusammenfassenden und strukturierenden Paratexte der späteren Auflagen und Übersetzungen des Cortegiano ermunterten die Leser/innen, den Dialog als eine Sammlung von Richtlinien und Anleitungen zu sehen. Vgl. Burke, Die Geschicke des ›Hofmann‹, S. 90. Burke begründet seine Annahme, dass der Cortegiano um die Mitte des 16. Jahrhunderts gerade von Frauen viel gelesen wurde, durch eine signifi kante Anzahl historischer Frauen, aus deren Biographie hervorgeht, dass sie den Cortegiano zum Teil nicht nur gelesen, sondern regelrecht verehrt haben. Burke, Die Geschicke des ›Hofmann‹, S. 63ff. und S. 172ff.

Herren und Damen im Gesprächskreis: Die Redesituation Die Gespräche im Buch vom Hofmann sind doppelt gerahmt: Der erste Rahmen enthält eine Widmung an den Bischof von Viseo und die Erinnerung an die edlen Männer und Frauen am Hof von Urbino, die in der literarischen Fiktion des Gesprächs als Teilnehmer/innen auftreten, womit dem Dialog der Anschein von Historizität verliehen wird. Der zweite Rahmen erklärt das Vorhaben des Verfassers, auf Aufforderung von Alfonso Ariosto ein Buch über die Hofmannskunst zu schreiben. Explizit will der Verfasser dieses Vorhaben nicht in Form eines präskriptiven Traktats mit Regeln und Leitsätzen einlösen, sondern indem er »nach der Art der Alten« Gespräche (ragionamenti) über die Hofmannskunst wiedergibt.23 Angespielt wird auf Ciceros De oratore, das ebenfalls in Dialogform verfasst ist. Zu Beginn des ersten Buchs werden ausführlich die Situation, der Ort und die Teilnehmer/innen dieses Gesprächs geschildert. Inszeniert wird ein Gespräch, das an mehreren aufeinander folgenden Abenden in den Räumen der Herzogin Elisabetta Gonzaga von Urbino stattfindet, an dem mehrere Männer und deutlich weniger Frauen teilnehmen. Das Gespräch der gemischten Gesellschaft wird als angenehm, klug, schicklich, heiter und scherzhaft geschildert. Von Beginn an wird die Rede zwischen den Geschlechtern thematisiert, die insofern nicht als Selbstverständlichkeit angesehen werden kann: Nacheinander beschreibt der Text die Rede der Männer untereinander, dann die der Frauen untereinander und schließlich die Rede zwischen den Geschlechtern. Die Rede unter Männern wird als ein einträchtiger und freundschaftlicher Umgang definiert. Dann heißt es weiter: »Ebenso war es unter den Damen, mit denen man den freiesten und anständigsten (liberissimo ed onestissimo) Umgang hatte; jedem war es erlaubt, mit wem es ihm gefiel zu sprechen, zusammenzusitzen, zu scherzen und zu lachen.«24 ›Freiheit‹ und ›Anständigkeit‹ sind zwei Termini, die sich gegenseitig begrenzen und so den Rahmen für das gemischtgeschlechtliche Gespräch abstecken. Die Freiheit des Umgangs funktioniert nur, weil in der Person der Herzogin eine Garantin für die Freundschaftlichkeit und Sittsamkeit des Umgangs eingesetzt wird: Indem sie eine »Kette bildete, die alle in Liebe verbunden hielt«, ermöglicht die Herzogin auf der einen Seite den freien, freundschaftlichen Umgang (etwa im Gegensatz zu einer intriganten Atmosphäre, in der die Gesprächsteilnehmer/innen auf die eigene Vorteilsbildung achten müssten). Gleichzeitig schränkt die Herzogin die Freiheit durch den »stärkste[n] Zügel« der ihr gebührenden Achtung wieder ein.25 Die Gefahr einer Grenzüberschreitung des als sittsam geltenden Umgangs zwischen den Geschlechtern wird besonders im Scherzen vermutet, doch auch hier herrscht »anmutige und gesetzte Würde«26, verbürgt durch die Herzogin.

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Castiglione, Das Buch vom Hofmann, I, 1, S. 15. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, I, 4, S. 19. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, I, 4, S. 19. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, I, 4, S. 19. Vgl. Bernardo Bibbienas Regel für

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Diese Bescheidenheit und Vornehmheit, die alle Handlungen, Worte und Gebärden der Frau Herzogin beim Spotten und Lachen auszeichneten, bewirkten, daß sie von jedem, auch wenn er sie noch nie gesehen hatte, als eine überaus edle Frau erkannt wurde. Sich dergestalt den Anwesenden aufprägend, schien sie alle nach ihrer Art und Form zu stimmen; daher bemühte sich jeder diesen Ton nachzuahmen, indem er aus der Gegenwart einer so großen und tugendhaften Frau gleichsam eine Richtschnur schöner Sitten zog. (E cosí nei circonstanti imprimendosi, parea che tutti alla qualità e forma di lei temperasse; onde ciascuno questo stile imitare si sforzava, pigliando quasi una norma die bei costumi dalla presenzia d’una tanta e cosí virtuosa signora.)27

Insofern dient die Herzogin in doppelter Weise als Garantin der Einhaltung des decorum: Nicht nur die Achtung für die Herzogin als ranghöchste Person und der Wunsch ihr zu gefallen bewirkt die Anstrengung der Gesprächsteilnehmer/innen, sich ›passend‹ zu verhalten, sondern auch das direkte, visuell wahrnehmbare Vorbild der Herzogin prägt ihnen das decorum geradezu körperlich ein, ahmen die Gesprächsteilnehmer/innen doch die Rede und Körperrede (actio) der Herzogin nach (imitatio). Dass es eine Frau ist, die die ›Form‹ stellt, die auch Männer nachahmen, ist nicht nur aufgrund der männlichen Konnotation der ›Form‹ in der Philosophiegeschichte – die im weiteren Verlauf des Gesprächs explizit zur Rede kommt28 –, sondern auch wegen der traditionell an den männlichen Körper gebundenen imitatio bemerkenswert. Vielmehr scheint sich hier das seit dem Mittelalter topische Bild der Frau als Zivilisierungsinstanz29 der männlichen Gesellschaft auszuwirken: Die Frau wird als Ursprungsort und Fluchtpunkt der männlichen Zivilisation imaginiert.30 So wird durch die Anwesenheit der Herzogin und die Verortung der Redesituation in ihren Räumen der Rahmen für das folgende Gespräch gesetzt. Die Gesprächsteilnehmer/innen setzen sich in einen Kreis, und auch bei dieser Sitzordnung spielt das Geschlecht eine Rolle: Es werden abwechselnd Herren und Damen, soweit genügend Damen anwesend sind, nebeneinander platziert. Das Versprechen

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Männer, keine unsittlichen Scherze vor und über Frauen zu machen, um ihren prekären Ruf nicht zu gefährden (II, 90, S. 224f.). Castiglione, Das Buch vom Hofmann, I, 4, S. 20. Gasparo Pallavicino bemerkt, »daß nach Meinung der gelehrtesten Männer, wie Ihr wißt, der Mann der Form gleichkommt und die Frau dem Stoff; und wie die Form vollkommener als der Stoff ist, ja ihm sogar das Sein verleiht, ist der Mann vollkommener als die Frau.« (Castiglione, Das Buch vom Hofmann, III, 15, S. 259) Giuliano de’ Medici bestreitet die geschlechtliche Konnotation von Form und Stoff nicht, allerdings die damit verbundene Wertigkeit: Form und Stoff, Mann und Frau bräuchten sich gegenseitig, um einander vollkommen zu machen, und seien deshalb gleichwertig (III, 16, S. 260). Vgl. Kapp, Die Lehre von der actio als Schlüssel zum Verständnis der Kultur der frühen Neuzeit, S. 44. Cesare Gonzaga: »Seht Ihr nicht, daß die Ursache aller anmutigen und gefälligen Übungen niemand anderem als den Damen zuzuschreiben ist? Wer bemüht sich um Tanz und leichten Reigen wegen etwas anderem, als um den Damen zu gefallen? Wer befleißigt sich der Süßigkeit der Musik aus einem anderen Grunde? Wer des Versemachens […]?« Castiglione, Das Buch vom Hofmann, III, 52, S. 299.

dieser scheinbar egalitären Sitzordnung, bei der das Wort reihum gereicht werden kann und alle allen sicht- und hörbar sind, wird jedoch nicht eingelöst. »Die Gleichberechtigung der Geschlechter als anzustrebendes Ideal gesellschaftlichen Miteinanders ist in der Konversationsordnung zwar präfiguriert«, beschreibt Silke Segler-Meßner die Situation, »im konkreten Dialog jedoch außer Kraft gesetzt.«31 Denn im weiteren Verlauf des Gesprächs haben bis auf wenige Ausnahmen nur die Männer das Wort. Die Herzogin betraut Signora Emilia Pia mit der Gesprächsleitung. Emilia Pia wird als eine Frau charakterisiert, die »wegen ihrer Begabung mit lebhaftem Verstand und Urteil als die Lehrmeisterin aller erschien und der jeder Einsicht und Wert verdankte«.32 Ihre Kompetenz ebenso wie die sich in ihren Redebeiträgen zeigende rhetorische Gewandtheit allein scheinen Emilia Pia allerdings nicht mit hinreichender Autorität auszustatten. Als sie die Gesprächsleitung übernehmen will, wird ihr mehrfach widersprochen, so dass sie ihre Redeposition durch die Autorität der Herzogin zu stärken sucht. Die Herzogin überträgt daraufhin ihre Macht (die sie wiederum durch die Abwesenheit des unpässlichen Herzogs innehat) auf Emilia, die durch diesen Sprechakt explizit ermächtigt wird, die männlichen Gesprächsteilnehmer zum Sprechen oder zum Schweigen zu bringen. »Damit jeder Euch zu gehorchen habe, mache ich Euch zu meiner Stellvertreterin und verleihe Euch meine ganze Gewalt.«33 Die Macht, mit ihren Worten Wirkung, das heißt, Gehorsam zu erzielen, kommt Emilia Pia erst durch diesen Ermächtigungsakt zu. Emilia Pia hat das erste und das letzte Wort in dem Gespräch, welches Das Buch vom Hofmann wiedergibt. Sie schlägt ein Gesprächsspiel vor, bei dem alle Anwesenden reihum einen Vorschlag für ein neues Gesprächsspiel machen, wovon das Beste ausgewählt werden soll. Wie zu einem Ausgleich des durch den Vorsitz von Emilia Pia weiblich dominierten Machtverhältnisses wird bereits in der Wahl des Gesprächsspiels – und zwar auf Betreiben des als ›Frauenfeind‹ auftretenden Gasparo Pallavicino – durch die Herzogin beschlossen, dass die Frauen in der Runde keinen Vorschlag einbringen dürfen beziehungsweise einzubringen brauchen. Dies geschieht nicht etwa, weil die Gesprächsteilnehmerinnen nicht in der Lage wären, konstruktive Vorschläge zu formulieren – im Gegenteil wird mitgeteilt, dass Madonna Constanza Fregosa bereits zu ihrem Vorschlag ansetzen will, dann jedoch zum Schweigen gebracht wird.34 Vielmehr handelt es sich um explizit formulierte künstliche Regeln des Gesprächs, die den Geschlechtern unterschiedliche Aufgaben

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Segler-Meßner, Der Dialog als Raum spielerischer Selbstentfaltung, S. 52. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, I, 4, S. 19. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, I, 6, S. 22f. Dies erscheint umso irritierender, als es in einer früheren Dialogfassung Constanza Fregosa und Margherita Gonzaga erlaubt war, ernstzunehmende Gesprächsbeiträge zu liefern – Passagen, die Castiglione jedoch für die Endfassung gestrichen hat. Vgl. José Guidi, De l’amour courtois à l’amour sacré: La condition de la femme dans l’œuvre de B. Castiglione. In: Images de la femme dans la littérature italienne de la Renaissance.

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und Machtanteile zuteilen. Wie, wann und worüber Männer und Frauen sprechen dürfen, wird so nicht nur inhaltlich während des folgenden Gesprächs über den vollkommenen Hofmann und die vollkommene Hofdame, sondern auch durch die Darstellung der Redesituation verhandelt. Als Federico Fregoso vorschlägt, »daß das ›Spiel dieses Abends darin bestände, einen von unserer Gesellschaft auszuwählen und ihm den Auftrag zu erteilen, mit Worten einen vollendeten Hofmann (un perfetto cortegiano) zu schildern«35, schlägt Emilia Pia – ohne die Vorschläge der restlichen Runde abzuwarten – vor, dieses Spiel auszuwählen. Die Gesprächsleiterin, und nicht die überwiegend männliche Gruppe, schreibt damit das Thema der folgenden Gesprächsabende vor, und Emilia Pia bestimmt auch (nach Rücksprache mit der Herzogin) den ersten Redner des Abends, Graf Ludovico da Canossa, ebenso wie die weiteren. Neben ihren zumeist recht kurzen Einwürfen, in denen sie Redner bestimmt, Redezeit und Themen zuteilt, auf die Einhaltung der Regeln pocht, Widerspruch zurückweist und ihre Befehlsgewalt verteidigt, ist Emilia Pia auch die einzige weibliche Figur, die sich mit einem größeren inhaltlichen Redebeitrag zu Wort meldet.36 Valeria Finucci beschreibt diese geschlechtsspezifische Aufteilung, die viele (davon siebzehn namentlich genannte) Männer sprechen lässt, während wenige (davon nur vier namentlich genannte) Frauen entweder gar nicht oder kaum zu Wort kommen oder als Gesprächsleiterin über das Gespräch wachen, als eine textuelle Strategie, und zwar »a strategy of exclusion by inclusion«37. Castiglione führe damit das Ideal einer auf der Ebene des Gesprächsinhalts entworfenen redekundigen Hof-

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Préjugés misogynes et aspirations nouvelles, hg. von José Guidi, Marie-Françoise Piejus, Adelin-Charles Fiorato, Paris 1980, S. 9–80, S. 56, Anm. 254. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, I, 12, S. 31. Constanza Fregosa mischt sich nur ein einziges Mal kurz ein, um die Rede Ludovico da Canossas weg von den Schwächen der Frauen hin auf die Vollkommenheit des Hofmanns zu lenken (Castiglione, Das Buch vom Hofmann, I, 40, S. 73f.). Und Margherita Gonzaga bittet Giuliano de’ Medici kurz, ausführlicher von den berühmten Frauen zu berichten, um sie dem Vergessen nicht anheim fallen zu lassen, sondern ihre Lebensgeschichten zur Ehre des weiblichen Geschlechts zu wiederholen (III, 23, S. 267f.). Mehrfach erhebt das Kollektiv aller anwesenden Frauen die Stimme, etwa wenn »alle Damen« Giuliano de’ Medici bitten, mit seiner Aufzählung bedeutender Frauen fortzufahren (III, 32, S. 276). Emilia Pia bleibt die einzige, die länger spricht: Am Ende des Gesprächs über die Hofdame kommt es zu der Frage, wie der Hofmann die Liebe der Hofdame erwecken sollte. Zwar fordert Emilia Pia mehrfach den Unico Aretino dazu auf, diese Frage zu beantworten, dieser weigert sich jedoch wiederholt und pocht darauf, dass Emilia Pia als Frau besser geeignet sei, diese Frage – aus ›Frauensicht‹ – zu beantworten. Mehrfach aufgefordert, und so der (für den Mann und die Frau gleichermaßen) erforderlichen Bescheidenheit Genüge tuend, willigt Emilia Pia widerstrebend ein und spricht – allerdings im Vergleich zu den männlichen Redebeiträgen deutlich kürzer. Ihr Beitrag wird von Bernardo Bibbiena unterbrochen, der sie zwar anschließend auffordert, weiter zu sprechen, allerdings übernimmt Giuliano de’ Medici wieder das Wort. Vgl. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, III, 61, S. 311f. Finucci, The Lady Vanishes, S. 38.

dame ad absurdum, indem er sie auf der Ebene der Gesprächsführung ausschließe. Finuccis These ist, dass die scheinbare Kontrolle der weiblichen Figuren über den Gesprächsverlauf, in dem jedoch (fast) ausschließlich Männer das Wort ergreifen, den Ausschluss der Frau als sprechendes Subjekt aus der hegemonialen Ordnung zementiert und zudem deren Zustimmung zum männlichen Diskurs suggeriert. Während die Hofmänner zugleich den Diskurs produzierten und als vorbildhafte Beispiele des von ihnen selbst entworfenen Ideals fungierten, hätten die Hofdamen lediglich einen ikonischen Wert: The ideal court lady, by contrast, is important not for the way she is, since she is not drafted on present figures or even on the person representing her hierarchically – the duchess – but for the way she should be, a metaphor and a sign of the man representing her with his needs and his cultural prerogatives. If her function is iconic, his is diegetic, because only the person manipulating discourse can construe himself narratively.38

Diesem Argument möchte ich insofern widersprechen, als die krasse Gegensätzlichkeit zwischen weiblicher, stummer Personifikation und männlichem, sprechenden Vorbild, die Finucci entwirft, im Text keine Grundlage hat. Erstens erscheint die die Herzogin, wie ich gezeigt habe, durchaus als ein der imitatio würdiges Vorbild. Und zweitens wird auch das männliche Ideal in seiner Idealität reflektiert, welche die am Gespräch teilnehmenden Hofmänner keineswegs vollkommen erreichen. Während Finucci einzig auf die diskursive Konstruktion von Weiblichkeit rekurriert, übersieht sie die ebenso diskursive Konstruktion von Männlichkeit. Dass es allein männliche Figuren sind, denen der Diskurs über den idealen Hofmann und die ideale Hofdame in den Mund gelegt wird, heißt nicht, dass sich der Mann, wie es Finucci suggeriert, zum diskursiv unabhängigen sprechenden Subjekt aufschwingen könnte. Auch die männlichen Subjekte sind der Disziplinierung durch die dem Ideal inhärenten Kontrollmechanismen unterworfen. Finucci hebt einzig auf den Ausschluss der Frau aus dem Gespräch ab, indem sie – Emilia Pias Aufgabe der Gesprächsleitung entwertend – schreibt, es sei zwar wertvoll, über die Produktion eines Texts zu wachen, aber daran teilzunehmen sei wichtiger: »the image created inside the circle is much more important than silently presiding over that image«39. Dagegen möchte ich aus einer rhetorikgeschichtlichen Position argumentieren, dass der Frau damit erstmals eine beispiellose rhetorische Macht zugestanden wird. Zieht man in Betracht, dass es im Rahmen eines Gesprächsspiels gar nicht um eine Lösung der aufkommenden Streitfragen geht, sondern um die Einhaltung der Konversationsregeln, wie dies Manfred Hinz herausgestellt hat, 40 wird die bemerkenswerte Relevanz von Emilia Pias Position deutlich. Emilia Pia verfügt über die rhetorische Kompetenz und über die Macht, die Konversation zu regeln. Damit soll keine ›Gleichberechtigung‹ männlicher und

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Finucci, The Lady Vanishes, S. 39. Finucci, The Lady Vanishes, S. 37. Vgl. Hinz, Rhetorische Strategien des Hofmannes, S. 104ff.

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weiblicher Gesprächsteilnehmer/innen suggeriert werden – ein der Frühen Neuzeit kaum angemessenes Konzept. 41 Auch wenn es stimmt, dass die von der vollkommenen Hofdame geforderte Fähigkeit, sich mit jedem über alles angenehm unterhalten zu können, nicht auf der Ebene des geschilderten Gesprächsverlaufs umgesetzt wird, so ist doch der Entwurf dieses Ideals nicht völlig unter den Tisch fallen zu lassen. Immerhin: Il libro del Cortegiano entwirft das Ideal der Hofdame als gesellige, gebildete Rednerin und macht es damit intelligibel. Hergebrachte Topoi weiblicher Rede, die diese als ›andere‹ aus dem männlichen Diskurs ausschließen, wie Klatschsucht, »zügelloses Gelächter« und »Redseligkeit« werden als das Gegenteil des weiblichen Rede-Ideals aufgerufen und verbannt. 42 Stattdessen wird der Hofdame eine Stimme gegeben: Die weiblichen Figuren sprechen (zumindest manchmal). Sie greifen mit ihren Einsprüchen und Anordnungen in den Diskurs ein, sie nehmen sich das Wort und verteilen es. Sie sitzen nicht nur still und hören zu. Vor dem Hintergrund einer Rhetoriktradition, die den Redner ausschließlich männlich denkt, ist das bemerkenswert – ebenso wie vor dem Hintergrund zu gleicher Zeit publizierter Idealisierungen weiblichen Schweigens, wie dem von Finucci selbst zitierten Traktat De re uxoria von 1513: »Women should believe that they have achieved the glory of eloquence, if they will honor themselves with the outstanding ornament of silence.«43 Spätere Traktate in der Tradition des Cortegiano wie Stefano Guazzos La civil conversatione (1574) oder Nicolas Farets L’Honneste homme ou l’art de plaire à la court (1630) entwerfen kein selbstständiges weibliches RednerinnenIdeal mehr, sondern geben lediglich Anweisungen für die Konversation des Mannes mit der Frau. 44 Vor diesem Hintergrund wird die einseitige Betonung einer »exclu-

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Damit sollen nicht etwa ältere Vorstellungen einer Gleichstellung von Männern und Frauen in der Renaissance wiederholt werden, wie etwa die von Jacob Burckhardt geäußerte, dass in der Renaissance »das Weib dem Manne gleichgeachtet wurde« und in den höchsten Ständen auch im Wesentlichen die gleiche Bildung erhalten habe. Finucci grenzt sich mit Recht von diesen Vorstellungen ab – zumal nicht von den idealisierten und literarisierten Figuren auf historische Frauen der Renaissance zu schließen ist. Vgl. Jacob Burckhardt, Kunst und Kultur der Renaissance in Italien, Köln 1953, S. 182–184. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, III, 4, S. 248. Giovanni Barbaro, De re uxoria, Paris 1513, zit. n. Finucci, The Lady Vanishes, S. 41. In Guazzos La civil conversatione wird vorrangig die bürgerliche Konversation (im Sinne eines generellen Umgangs) des Mannes (unter anderem mit der Frau) beschrieben. In einem kurzen Absatz wird von der Frau, die nun als Ehefrau und Mutter statt als Hofdame wie bei Castiglione auftritt, vor allem Stillschweigen und eine zurückhaltendere actio als die des Mannes gefordert: »Und derhalben wirdt auff das höhest/ das Stillschweigen an einer Frauwen gelobet/ welches sie auff das höchst zieret/ und den Beruff ihrer Klugheit erweitert. Es stehet ihr auch nicht allein zu/ daß sie dermassen die Zung einhalte/ sonder daß sie auch ire Wort/ ihr Lachen/ ihr Anschawen/ und die Tracht ihrer Person/ mit der ansehenlichen und würdigen Maiestät begleite/ welche einer Matron sonderlich eignet: welches derhalben gesagt wirdt/ dieweil in der Welt unzehlich viel Weiber sindt/ welche mit einer unzweiffelichen Ehrlichkeit/ mit einer fürtrefflichen Dapfferkeit/ und außbündigem Verstandt begabet sindt/ welche ob sie wol den Namen der Matronen

sion by inclusion« der Frau Castigliones Text gerade nicht gerecht, sondern ist eben diese Spannung zwischen »exclusion« und »inclusion« konstitutiv: Die Formulierung eines weiblichen Ideals, das enorm progressiv wirkt, auf der einen Seite und dessen (noch) unvollständige Einlösung auf der anderen Seite. Diskursive Konstruktion von Männlichkeit: Das Hofmann-Ideal Im Gespräch wird nun der vollkommene Hofmann entworfen. Konstruiert wird (wie in Ciceros De oratore) ein Ideal, dem nachgestrebt werden soll, das jedoch in seiner Vollkommenheit kaum einzuholen ist. Damit wird das Hofmann-Ideal als Fluchtpunkt und Ziel eines normativen Programms präsentiert, das die Subjektivierung als einen Prozess kenntlich macht. Denn die Subjektform des idealen Hofmanns ist eben nicht in der Realität gegeben, sondern vom Einzelnen durch eine fortwährende Arbeit an sich selbst, durch die kontinuierliche Bewegung der Annäherung an das Ideal erst hervorzubringen. Das Ideal des Hofmanns leitet sich aus dessen ›Hauptberuf‹ ab, wovon ausgehend ein allgemeines Bildungsideal entwickelt wird. Signifikant ist, dass dem Hofmann und der Hofdame dabei unterschiedliche ›Hauptberufe‹ zugeschrieben werden, woraus sich zum Teil gemeinsame und zum Teil unterschiedliche Ansprüche an die jeweiligen Ideale ableiten. Ludovico da Canossa bestimmt, dass »der hauptsächliche und wahre Beruf des Hofmanns das Waffenhandwerk sein muß«45, das heißt, seine Hauptaufgabe ist es, in guter körperlicher Verfassung zu sein, mit Kraft, Leichtigkeit und Gewandtheit an den kämpferischen Übungen wie Reiten, Jagen und Ringkämpfen teilzunehmen. Seine zweite ›Hauptaufgabe‹ ist eine rhetorische, nämlich »eine höfliche und liebenswürdige Art im täglichen Gespräch«46 zu

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haben/ so erzeigen sie sich doch eusserlich gantz eitel/ leichtfertig/ und ohn einige Gravitet: und es sindt ihrer etlich/ welche ob sie schon alt sindt/ so haben sie doch Gebärden wie die junge Meidtlein/ und wiewol sie Weiber sindt/ so gebrauchen sie sich doch der Freyheit/ wie die Männer/ durch welche Manier und Weiß ihr Dignitet und Würde sehr geschmälert wirdt.« Zit. n. Stefano Guazzo, De Civili Conversatione, Das ist Von dem Bürgerlichen Wandel und zierlichen Sitten Ein gantz nützliches, sinnreiches und liebliches Gespräch […], Frankfurt a. M.: Andreas Wichels 1599, S. 230. Farets L’Honneste homme rühmt zwar den geradezu himmlischen Gesprächskreis (»circul«) der Königin am Hof von Frankreich und trägt dem Mann an, die Konversation mit Frauen zu suchen, die »die anmuthigste und angenehmeste«, aber auch die »zarteste und schwereste« im Gegensatz zu der lebhafteren, freieren und gewichtigeren »Conversation der Mannspersonen« sei, aber er gibt der Leserin kein explizites weibliches Konversations-Ideal an die Hand. Vgl. Nicolas Faret, L’Honneste Homme, Das ist: Der Ehrliebende WeltMann/ Oder Die von vielen Leuten gesuchte schöne Kunst/ wie einer an grosser Herren Höfen durch besondere Tugenden/ und geschicktes Wolverhalten gegen männiglichen sich beliebet und belobet machen könne, Leipzig: Nerlich 1647/48, ND hg. von Patricia Bohrn und Alfred Noe, Berlin 2007, S. 88. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, I, 17, S. 40. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, II, 17, S. 128. Federico Fregoso unterscheidet zwi-

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zeigen. 47 Zu Taten und Worten kommt als dritte Aufgabe das allgemeine Auftreten im täglichen Leben, die generelle Sichtbarkeit des Hofmanns am Schauplatz Hof – beispielsweise beim »Spazierengehen, Lachen, Anschauen«48. Dieses allgemeine, sicht- und hörbare Auftreten im täglichen Leben fasse ich unter einen erweiterten actio-Begriff, da alle diese Praktiken strategisch eingesetzt, ästhetisch geformt und einem Wirkungsziel unterworfen werden. 49 Federico Fregoso begründet die Relevanz der kontinuierlichen formvollendeten Performanz damit, dass »all dieses Äußerliche oft Kenntnis vom Inneren«50 gebe, dass also die Oberfläche des Körpers als Aussage gelesen und verstanden werde. Die rhetorische Situation wird dabei erheblich ausgeweitet: Beschrieben wird eine erweiterte Redesituation, in der sich der Hofmann vor seinem Publikum (dem Fürst, den Frauen51 und Männern am Hof) kontinuierlich zeigen muss – und zwar nicht nur während einer klar umrissenen Konversation mit einem Beginn und einem Ende und nicht nur während der Ausübung einer spezifischen ritterlichen Übung. Waren das Feld

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schen der Unterhaltung mit dem Fürsten (»obwohl die Bezeichnung Unterhaltung eine gewisse Gleichheit bedingt, die zwischen dem Herrn und dem Diener nicht bestehen zu können scheint, werden wir sie für den Augenblick doch so nennen«) und den »Gesprächen mit Gleichgestellten« (II, 18, S. 129; 25, S. 141). Die »Unterhaltung mit Männern und Frauen« fällt unter das ›Gespräch mit Gleichgestellten‹, sie sei diejenige, womit man »an den Höfen die meiste Zeit verbringt« und dementsprechend wichtig (II, 31, S. 150). An diese beiden ›Hauptaufgaben‹ sind zwei Bildungsideale gekoppelt: Das der alten ritterlichen Tradition mit ihrer Betonung der kriegerischen Tugenden und das der neuen humanistischen Position mit ihrer Rückbesinnung auf die alte Rhetorik. So soll der vollkommene Hofmann sich sowohl auf dem Feld der Kampfkunst bewähren, als auch über eine literarisch-musisch-künstlerische Bildung verfügen. Dank seiner Kenntnis der lateinischen und griechischen Sprache soll der Hofmann die antiken Dichter, Redner und Historiker lesen und daraus nicht nur Wissen schöpfen, sondern sich stilistisch schulen. Vgl. Barner, Barockrhetorik, S. 369f. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, II, 28, S. 146. Der Begriff des Habitus, der angesichts der verschiedenen, nicht grundsätzlich mit einer Rede verbundenen körperlichen Praktiken, die hier genannt werden, nahe liegen würde, scheint mir dagegen weniger sinnvoll, da es eben die strategische Relevanz der äußerlichen Darstellung des Hofmanns ist, die betont wird. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, II, 28, S. 146. Zu der Zeichenrelation zwischen Außen und Innen wird keine weitere Aussage gemacht, wichtig ist nur ihre rhetorische Instrumentalisierung. Der Mann muss sich größte Mühe geben, »in den Augen der Frau« zu gefallen und würdig zu erscheinen. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, III, 51, S. 298. Während Castiglione die Relevanz der männlichen actio aus einem weiblichen Blickwinkel nur streift, stellt sie sein Nachfolger Nicolas Faret (1630) umso deutlicher heraus: »Die erste Sorge so der jenige haben soll/ welcher die Gemache und Örter/ darinnen sich das Frawenzimmer befindet/ offt besuchen/ und denselben mit Gesprächs-unterhaltung aufwarten will/ ist daß er seine Gegenwart gefällig und angenehm mache. Dann das erste ding/ welches sie an einer Manns-Person betrachten/ ist die Mine oder gestalt und die äuserlichen Actionen/ welche Cicero eine Beredsamkeit des Leibes nennet.« Faret, L’Honneste Homme, Das ist: Der Ehrliebende Welt-Mann, S. 90.

der Rede und das der Waffenübungen einst klar definierte Agitationsfelder mit ihnen jeweils zugeordneten Idealen und Anforderungen, nimmt nun die rhetorische Selbstdarstellung mit Hilfe der männlichen, anmutigen und lässigen actio einen bemerkenswerten alltäglichen und omnipräsenten Raum in Castigliones Buch vom Hofmann ein. Zwei Leitbegriffe prägen dieses Auftreten im täglichen Leben, in dem der Hofmann (oder die Hofdame) jederzeit sein oder ihr rhetorisches ēthos durch das körperliche Auftreten zu zeigen haben: Anmut (grazia) und Lässigkeit (sprezzatura). Diese beiden Begriffe, die in der Rezeption Castigliones zentrale Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben, zeigen »am deutlichsten, wie sehr es Castiglione zugleich um die Ästhetik und die Ethik von Verhalten geht«52 , so Burke. Die Selbstdarstellung des Hofmanns wird, wenn er grazia besitzt, seinem Publikum angenehm (grato) sein. Die Anmut wird damit in den Dienst der »Sympathiegewinnung«53 gestellt. So verlangt Canossa, dass der Hofmann von Natur nicht allein Verstand und Schönheit an Gestalt und Angesicht, sondern auch eine bestimmte Anmut und, wie man zu sagen pflegt, eine Art habe, die ihn jedem, der ihn sieht, beim ersten Anblick angenehm und liebenswert macht, und daß dies eine Zierde sei, die alle Handlungen bestimmt und begleitet und ihn schon an der Stirn als den kennzeichnet, der des Umganges und der Huld jedes großen Herrn würdig ist.54

Die Anmut muss sich in beiden ›Hauptberufen‹ des Hofmanns zeigen – sowohl in der Kampfeskunst als auch im Gespräch. Gerade in der actio wird diese Anmut relevant, geht jedoch darüber hinaus und erfasst die gesamte persona: Der Hofmann gilt als anmutig, wenn »Person, Anblick, Worte und alle seine Bewegungen dermaßen mit Anmut gebildet und geordnet sind«55, wenn der »Hofmann seine Handlungen, Gebärden, Fertigkeiten, kurzum jede seiner Bewegungen mit Anmut«56 verbindet. Auffällig ist die Totalität dieser Forderung, jede Bewegung anmutig auszuführen. Der Anmut wird eine herausragende Bedeutung zugeschrieben, sie sei die »Würze jeder Sache, ohne die alle anderen Eigenschaften von geringem Wert sind«.57 Wie diese Anmut zu erreichen ist, darüber wird gesondert diskutiert. Nicht nur natura, sondern auch ars bringen die Anmut hervor. Obwohl es »fast sprichwörtlich ist, daß man Anmut nicht lernt«, kann, wer früh beginnt und »allen Fleiß« aufwendet, Anmut lernen – und zwar durch die imitatio der besten Meister.58 Ein guter Schüler müsse »allen Eifer aufwenden, um sich dem Lehrer anzugleichen

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Burke, Die Geschicke des ›Hofmann‹, S. 43. Göttert, Kommunikationsideale, S. 25. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, I, 14, S. 36. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, I, 14, S. 36. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, I, 24, S. 50. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, I, 24, S. 50. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, I, 25, S. 52.

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und, wenn dies möglich wäre, sich gleichsam in ihn zu verwandeln.«59 Es ist kein Zufall, dass die imitatio als Technik zur Erlernung der anmutigen actio vorgeschlagen wird. Die auf die gezielte, partielle imitatio der besten actio der besten Redner von Kindesbeinen an abzielende Bildungsvorstellung ist aus der alten Rhetorik bekannt.60 Sie funktioniert durch die Übernahme der visuell wahrnehmbaren Oberfläche: Die actio des Anderen muss »vor Augen«61 stehen, damit sie abgeschaut und körperlich eingeübt werden kann. Dafür umgibt sich der Mann mit Männern – »stets ausgezeichnete Männer um sich zu haben«62 ist die Voraussetzung für eine gelingende imitatio. In dieser ständigen zitierenden Wiederholung und Bestätigung von Vorbildern, die der Ausbildungsweg vorschreibt, wird nicht nur der perfekte Redner/Hofmann, sondern auch der geschlechtlich eindeutige, männliche Redner/ Hofmann hervorgebracht. Keine explizite Erwähnung finden dagegen weitere aus der alten Rhetorik bekannte Übungen wie die mit Demosthenes topisch verknüpften Stimmübungen oder das Ausmerzen körperlicher Fehler in der actio. Zwar wird der Ausbildungsweg des idealen Hofmanns angedeutet, ihm wird jedoch von Natur aus eine größere Vollkommenheit zugestanden als dem alten orator.63 Zur grazia hinzukommen muss die sprezzatura, ein Begriff, der als Neuschöpfung präsentiert wird, und der so viel wie nonchalance, gekonnte Nachlässigkeit oder, wie Fritz Baumgart übersetzt, Lässigkeit bedeutet. Diese Lässigkeit ist eine Neuformulierung des Prinzips der dissimulatio artis aus der antiken Rhetorik. Gefordert wird, eine gewisse Art von Lässigkeit anzuwenden, die die Kunst verbirgt und bezeigt, daß das, was man tut oder sagt, anscheinend mühelos und fast ohne Nachdenken zustandegekommen ist. […] Man kann daher sagen, daß wahre Kunst ist, was keine Kunst zu sein scheint; und man hat seinen Fleiß in nichts anderes zu setzen, als sie zu verbergen.64

Dagegen vernichte das Zurschaustellen von Kunst allen Anschein von Anmut. Dies bezieht sich sowohl auf die Rede und die actio im engeren Sinne als auch auf körperliche Praktiken wie Tanzen oder Waffenübungen, bei denen der Hofmann »gelöst eine bereite Haltung einnimmt, und zwar mit solcher Leichtigkeit, daß der Körper und alle Glieder ganz natürlich (naturalmente) und ohne jegliche Mühe diese Lage einzunehmen scheinen, als ob sie nie etwas anderes getan hätten.«65 Die Begriffe ›scheint‹ und ›als ob‹ zeigen an, dass es sich um eine scheinbare ›Natürlichkeit‹ handelt, die durch die Kunst, die Kunst zu verbergen, erzeugt wird. Die Haltung des Körpers und seiner Glieder ist eben nicht ›natürlich‹, sondern wird

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Castiglione, Das Buch vom Hofmann, I, 26, S. 52. Vgl. Kapitel III.3.5. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, I, 25, S. 52. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, I, 25, S. 52. Vgl. Göttert, Kommunikationsideale, S. 25. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, I, 26, S. 53f. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, I, 28, S. 57.

als Produkt einer Kunst ausgestellt. Gerade was die Lässigkeit betrifft, beruft sich Canossa auf die alte Rhetorik: Ich erinnere mich auch, gelesen zu haben, daß einige antike Redner besonders hervorragend gewesen sind, weil sie unter anderen Geschicklichkeiten sich darum bemühten, jeden glauben zu machen, daß sie keinerlei Kenntnis in den Wissenschaften besäßen; und ohne ihr Wissen merken zu lassen, taten sie so, als ob ihre Reden auf höchst einfache Weise und weit eher gemäß dem gemacht worden seien, was ihnen Natur und Wahrheit, als was Fleiß und Kunst darboten.66

Manfred Hinz weist darauf hin, dass das Prinzip des celare artem, des Verbergens der Kunst, wie es bei Cicero und Quintilian zu finden ist, »auf die persuasive Fähigkeit eines bestimmten zweckgerichteten Diskurses bezogen« gewesen sei, »der perfekte Hofmann dagegen wendet es im Grunde nicht mehr an, sondern verkörpert es, d. h. für ihn fallen Mittel und Zweck in eins. Der Hofmann also versucht sein Publikum nicht von einer bestimmten ›natura e verità‹ zu überzeugen, sondern nur von sich selber, und zwar gerade dadurch, daß er sich verbirgt.«67 Tatsächlich wird allerdings die Differenz zwischen einer intentionalen ›Anwendung‹ und einer ›Verkörperung‹ gerade durch die Struktur der kontinuierlichen Wiederholung ununterscheidbar. Bereits die alte Rhetorik hat, was die actio betrifft, mit dem Begriff der ›zweiten Natur‹ auf die Verkörperung rhetorischer Strategien als Übungseffekt hingewiesen.68 Zudem hat sie im Konzept des ēthos herausgestellt, dass der Redner sein Publikum von etwas und zugleich (mit seiner actio) von sich selber überzeugen muss. Die Überzeugung anderer von sich selbst (mit rhetorischen Mitteln) ist ein konstitutives Ziel der Anstandsliteratur, in der das Wort, das Auftreten und das Erscheinungsbild im gesellschaftlichen Umgang unlösbar mit der Person des Sprechenden verbunden werden.69 Während Anmut und Lässigkeit sowohl für den Mann als auch für die Frau gelten, wird die männliche actio darüber hinaus durch die Abgrenzung von der weiblichen definiert. Die Grenzen der männlichen Norm werden über geschlechtliche und soziale Kategorien definiert.70 Castiglione greift dabei das decorum, wie es Cicero in De oratore oder De officiis formuliert, auf und setzt das mittlere Maß und das Vermeiden von Extremen als wichtiges Kriterium der strategischen Selbstbeherrschung des vollkommenen Hofmanns ein. Dabei übernimmt Castiglione (neben den sozialen) die geschlechtlichen Implikationen des Ausschlusses von Ex-

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Castiglione, Das Buch vom Hofmann, I, 26, S. 54. Hinz, Rhetorische Strategien des Hofmannes, S. 123f. Vgl. Quint. Inst. I, 11, 1f. Vgl. Kapp, Die Lehre von der actio als Schlüssel zum Verständnis der Kultur der frühen Neuzeit, S. 45. Der Hofmann und die Hofdame müssen Ludovico da Canossa zufolge von Geburt adelig sein. Vgl. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, I, 14–16, S. 34–40.

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tremen, indem er verlangt, der Hofmann dürfe weder zu ›weich‹ und ›weibisch‹, noch zu ›hart‹ oder ›bäurisch‹ sein.71 Diese topische Abgrenzung wird sowohl für die Stimmführung als auch für die Mimik, Gestik und Kleidung aufgerufen. So sei für die actio eine gute Stimme [wünschenswert], nicht zu fein oder weich wie bei einer Frau (non troppo sottile o molle come di femina), aber auch nicht so scharf und schrecklich, daß sie etwas Bäurisches hat, sondern tönend, klar, ruhig und wohlgefügt (ma sonora, chiara, soave e ben composta), mit gewandter Aussprache, und von schicklichen Haltungen und Gebärden begleitet. Diese bestehen nach meiner Meinung in gewissen Bewegungen des ganzen Körpers, die weder gekünstelt noch heftig, sondern durch ein gelassenes Antlitz und durch Blicke gemäßigt sind, die Anmut verleihen und mit den Worten übereinstimmen; und so sehr es möglich ist, sollen die Gesten auch die Absicht und Stimmung des Sprechers kennzeichnen.72

Noch bevor Canossa auf die eigentliche rhetorische Funktion der actio zu sprechen kommt – nämlich Redeziel und Affekte hörbar und sichtbar zu unterstützen –, wird die geschlechtliche Abgrenzung gesetzt. Zu der strategisch-wirkungsorientierten, ästhetischen und ethischen Selbstdarstellung gehört es für den Hofmann an erster Stelle, sich ›als Mann‹ aufzuführen.73 Dies wird dem Leser/der Leserin mit einem Beispiel eindrücklich ›vor Augen geführt‹: Der schöne Bernardo Bibbieno fragt, wie der ideale, anmutige männliche Körper beschaffen sein sollte. Canossa antwortet ihm, indem er auf Bibbienos Physiognomie eingeht, diese als männliches Ideal herausstellt und verweiblichte Körper in Abgrenzung dagegen verwirft: [W]ir sehen zweifelsohne, daß Euer Anblick höchst angenehm (gratissimo) ist und jedem gefällt, obwohl die Gesichtszüge nicht sehr zart (delicati) sind. Sie enthalten aber etwas Männliches (virile) und sind dabei doch anmutig (grazioso), welche Eigenschaften man in vielen und verschiedenen Formen von Gesichtern findet. Derart, möchte ich, sei das Aussehen unseres Hofmanns beschaffen und nicht so weich und weibisch (molle e feminile), wie viele es zu haben sich bemühen, die sich nicht nur die Haare kräuseln und die Augenbrauen auszupfen, sondern sich dazu mit allen jenen Mittelchen anstreichen, die sonst nur die unzüchtigsten und unanständigsten Frauen der Welt gebrauchen. Sie scheinen beim Gehen, Stehen und jeder anderen ihrer Bewegungen so zart und matt zu sein, daß ihre Glieder im Begriff sind, sich voneinander zu lösen. Sie bringen ihre Worte derart betrübt hervor, daß ihr Geist in jedem Augenblick zu verlöschen droht. […] Da die Natur sie nicht als Frauen erschaffen hat, die zu scheinen und zu sein sie augenscheinlich wünschen, dürften sie nicht als anständige Frauen geachtet, sondern müßten

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Vgl. Cic. De off. I, 129. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, I, 33, S. 66. Wie die Verkörperung einer weiblichen und einer männlichen Rolle gedacht werden könnte, zeigt das Beispiel des fürstlichen Körpers: Der Fürst weiß von sich, dass er »außer schon Fürst zu sein, auch noch die Form des Fürsten haben soll«. Damit bewegt er sich in den engen Grenzen dessen, was in der »Würde eines Fürsten« liegt und verfügt nicht über die Freiheit, sich außerhalb dieser Grenzen zu bewegen – außer er maskiert sich. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, II, 11, S. 121.

als öffentliche Dirnen nicht allein von Höfen der großen Herren, sondern auch aus der Gemeinschaft der Adeligen verjagt werden.74

Die ästhetische Selbstdarstellung des Mannes droht kontinuierlich umzuschlagen in eine mit der Schönheit topisch verbundene Weiblichkeit. Als konstitutives Außen der männlichen Subjektform wird ein effiminierter, sich künstlich verschönernder Mann entworfen, dem der Subjektstatus abgesprochen und der aus der zweigeschlechtlichen und heterosexuellen Ordnung verbannt wird. Diese Differenzmarkierung ist, wie dem exzessiven Vergleich mit den ›unanständigsten Frauen der Welt‹, der Beschimpfung als ›öffentliche Dirne‹ und der Drohung, den effeminierten Mann wie ein Tier zu ›verjagen‹, zu entnehmen ist, affektiv besetzt: »Der leidenschaftlichen Verhaftetheit (mit dem Gesetz) entspricht als Kehrseite eine ebenso leidenschaftliche, libidinös-aggressive Verwerfung«75, beschreibt Andreas Reckwitz die Ausschlussmechanismen eines ›Anderen‹ im Prozess der Subjektivierung nach Butler. Mit der Berufung auf die Natur und die damit scheinbar gegebene natürliche Zweigeschlechtlichkeit lässt Castigliones Text Canossa die Dichotomie von Männlichkeit und Weiblichkeit und damit die herrschende Ordnung wiederherzustellen und zu festigen suchen. Neben der körperlichen actio ist es die Kleidung, die – obwohl explizit kulturhistorischen Moden unterworfen und nicht auf einen ›natürlichen‹ Geschmack zurückzuführen76 – ebenfalls der Selbstdarstellung ›als Mann‹ dient: Federico Fregoso will, daß unser Hofmann in seiner gesamten Gewandung sauber und geschmackvoll sei und eine gewisse Gleichmäßigkeit bescheidenen Putzes zeige, nicht jedoch nach weiblicher oder eitler (feminile o vana) Art, auch nicht im einen mehr als im anderen, wie man etwa viele sieht, die so viel Eifer auf die Haartracht verwenden, daß sie alles übrige vergessen; andere machen sich einen Beruf aus den Zähnen oder aus dem Bart, aus Halbstiefeln, Baretten oder Hauben; und so geschieht es, daß die wenigen gepflegteren Dinge bei ihnen wie entliehen erscheinen, während alles andere, das nur töricht ist, als das ihnen Eigentümliche erkannt wird. Eine derartige Sitte soll unser Hofmann nach meinem Rat vermeiden; ich füge noch hinzu, daß er für sich selbst entscheiden muß, als was er erscheinen will, und so wie er eingeschätzt zu werden wünscht, soll er sich auch kleiden und damit bewirken, daß seine Gewänder ihn darin unterstützen, auch von denen, die ihn weder sprechen hören noch irgendeine Tätigkeit ausüben sehen, für das gehalten zu werden, was er will. ([A]ggiungendovi ancor che debba fra se stesso deliberar ciò che vol parere e di quella sorte che desidera esser estimato, della medesima vestirsi, e far che gli abiti lo aiutino ad esser tenuto per tale ancor da quelli che non l’odono parlare, né veggono far operazione alcuna.)77

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Castiglione, Das Buch vom Hofmann, I, 19, S. 44f. Andreas Reckwitz, Subjekt, Bielefeld 2008, S. 93. Es wird auf die unterschiedliche Mode in verschiedenen Regionen hingewiesen, und Federico Fregoso nennt als die wichtigste Regel, »daß man sich der Gewohnheit der Mehrzahl anpasse«. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, II, 26, S. 142. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, II, 27, S. 144f.

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Die Aufforderung, ein harmonisches, lässiges Ganzes zu zeigen, anstatt einzelne Körperteile durch besonderen Schmuck ›künstlich‹ zu betonen, lässt sich ebenso wie die vorhergehende Verwerfung eines weibischen, matten Mannes, dessen Körperteile »im Begriff sind, sich voneinander zu lösen« als Versuch der Durchsetzung einer gewissen Ordnung lesen, die immer wieder parodiert oder aufgelöst zu werden droht. Der Mann hat diese, mit dem ›guten‹, attischen, männlich konnotierten Redestil topisch verbundene Ordnung zu verkörpern und durch seinen männlichen (virilis), harten (durus) und muskulösen (nervosus) Körper zum Ausdruck zu bringen, wie dies schon Patricia Parker anhand einschlägiger Texte von der römischen Antike bis in die europäische Frühe Neuzeit gezeigt hat.78 Verworfen wird dagegen der ›effeminierte‹, weichliche, überbordende Stil, der als Bedrohung jedoch immer latent bleibt. Der Hofmann lässt sich in Bezug auf die actio als Anleitung zur Selbstkontrolle lesen, die, um einen perfekten, männlichen Körper zu erhalten, alles Unmännliche, Weiche, Lockere, Unordentliche oder Übertriebene unterdrücken muss. Die Anweisung, selbst zu entscheiden, »als was er erscheinen« und »wie er eingeschätzt zu werden wünscht«, gibt dem angesprochenen Hofmann keine Entscheidungsfreiheit, sondern sorgt im Gegenteil durch die Androhung des rigorosen Ausschlusses nicht intelligibler Subjektformen aus der heterosexuellen Ordnung dafür, dass sich der Hofmann in die gegebene Ordnung einfügt. Innerhalb dieser Ordnung wird dem Hofmann jedoch die Handlungsfähigkeit zuerkannt, sich rhetorisch-strategisch nicht nur ›als Mann‹, sondern als vollkommener Hofmann vor einem bestimmten Publikum zu zeigen, wozu ihm die actio im Allgemeinen und der selbstreflexive, strategische Einsatz der Kleidung als eigenes Zeichensystem im Besonderen dient. Ideale Weiblichkeit: Die Hofdame Im dritten Buch kommt das Gespräch auf die vollkommene Hofdame. Ähnlich wie Cicero ein Redner-Ideal aufstellt, das in der Realität kaum zu finden ist und diese vermeintliche Unerreichbarkeit mit seinen Gesprächspartnern reflektiert, stellt auch Castiglione ein Ideal des Hofmanns und der Hofdame auf, dessen Idealität von den Anwesenden als unerreichbar kritisiert wird. Allerdings fällt auf, dass die Idealität des Entwurfs der Hofdame sehr viel ausführlicher diskutiert wird als die des Hofmanns. Bereits das Vorhaben, überhaupt ein Weiblichkeitsideal zu entwerfen, scheint nicht selbstverständlich zu sein. In der Diskussion, warum es angemessen sei, kostbare Redezeit auf die – als Frau generell unter dem Verdacht der Unvollkommenheit stehende – Hofdame zu ver(sch)wenden, anstatt ausführlicher beim Hofmann zu verweilen, dient die Idealität des Hofdamen-Entwurfs als Argument, die Hofdame theoriefähig zu machen. Die Idealität sowohl des Hofmanns als auch der Hofdame bietet den Raum für einen ausführlichen literarischen Entwurf, ohne

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Vgl. Parker, Virile Style. Vgl. Kapitel III.2 (Einleitung).

die Existenz einer solchen Frau oder eines solchen Mannes in der Realität belegen zu müssen. Die Erreichbarkeit des männlichen Ideals scheint dagegen eher als die des weiblichen Ideals gegeben:79 Um die Erreichbarkeit des weiblichen Ideals zu demonstrieren, muss mit großem Aufwand auf eine Vielzahl an exempla berühmter Frauen aus der Geschichte zurückgegriffen werden.80

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Zumindest vertritt der ›Frauenfeind‹ Gasparo Pallavicino diese Ansicht, die wiederholt diskutiert wird: »Nach meinem Dafürhalten wird das Beschreiten [des Wegs zum Ideal] den Männern schwierig sein, den Frauen aber unmöglich.« Castiglione, Das Buch vom Hofmann, IV, 72, S. 411. An die Diskussion über die der Hofdame idealerweise eigenen literarischen, musischen und künstlerischen Kenntnisse sowie ihr Geschick, sich in einem Gespräch anmutig in Szene zu setzen, zu gehen, zu gestikulieren, zu sprechen und zu tanzen, wird die im Rahmen der Querelle des femmes die aktuelle Debatte angehängt, welchen Wert die Frau überhaupt im Vergleich zum Mann habe. Gasparo Pallavicino übernimmt dabei den misogynen Part, indem er indirekt behauptet, dass Frauen »unvollkommene Geschöpfe und folglich von geringerem Wert als die Männer und nicht derselben Tugenden wie diese fähig seien«, indem er die Frau gar als »Fehler oder Irrtum der Natur« entwirft und ihr insbesondere vorwirft, von Natur aus unkeusch zu sein. (Castiglione, Das Buch vom Hofmann, III, 11, S. 254) Allerdings bleiben seine wiederholten misogynen Äußerungen niemals unwidersprochen stehen. Sowohl die anwesenden Frauen als auch die Männer widersprechen ihm heftig. Dabei beschränken sich die Frauen wie Emilia Pia auf empörte Einwürfe, stattdessen tritt ein Mann, Giuliano de’ Medici, auf und übernimmt die Aufgabe, die Frau zu verteidigen. Er vertritt die Auffassung, dass Frauen und Männer gleichwertig sind und Frauen über ebensoviel Verstand und Fähigkeiten verfügen wie Männer. Zwar werden sie als körperlich schwächer und weniger mutig beschrieben, jedoch als geistig ebenbürtig. Daneben betreibt er großen Aufwand, um die Frau als keusch darzustellen und sie damit von einem misogynen Hauptvorwurf zu befreien. Diesen Vorwurf (der Unkeuschheit) sowie die dazugehörigen geschlechtsspezifischen Moralvorstellungen begründet er nicht in der weiblichen ›Natur‹ wie Gasparo Pallavicino, sondern entlarvt sie als kulturhistorische Zuschreibungen, die der willkürlich privilegierten Position des Mannes in der gesellschaftlichen Ordnung geschuldet sind. Es seien die Männer gewesen, die Gesetze gemacht hätten wie dasjenige, dass ein »zügelloses Leben bei uns [Männern] keinerlei Laster, Fehler oder Unehre bedeute, den Frauen aber in höchstem Maße zu Schimpf und Schande gereiche« (II, 90, S. 224). Und auch Gasparo Pallavicinos Argument, jede – per se unvollkommene – Frau wolle lieber ein – per se vollkommener – Mann sein, widerlegt Giuliano de’ Medici mit dem Hinweis auf die kulturhistorische männliche Hegemonie: »Die Armen [Frauen] werden nicht deswegen wünschen, Männer zu sein, um vollkommener zu werden, sondern um Freiheit zu haben und jene Herrschaft zu fliehen, die die Männer sich aus eigener Machtvollkommenheit über sie angemaßt haben.« (III, 16, S. 260) Giuliano de’ Medici untermauert seine Argumentation durch die Anführung vieler exempla berühmter Frauen aus der Antike bis zu seiner Gegenwart. Über eine Vielzahl von Seiten erstreckt sich diese Aufzählung tugendhafter und gebildeter Frauen in der Tradition von Boccaccios De claris mulieribus (ca. 1361–1375): Von Herrscherinnen, Poetinnen, Literatinnen und auch Rednerinnen, die »Rechtshändel geführt und sehr beredt vor Richtern angeklagt und verteidigt haben« (III, 13, S. 257), ist die Rede – zum Beispiel von Cornelia, der Mutter der Gracchen, Aspasia und Diotima. Während eine Aufzählung berühmter Männer nicht notwendig zu sein scheint, um die Erreichbarkeit des Hofmann-Ideals zu illustrieren, scheint die

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Das männliche Ideal und das weibliche Ideal haben viele Überschneidungen, die vor allem darin bestehen, mit Würde (gravità) und Bescheidenheit (modestia), mit Grazie und Lässigkeit aufzutreten. Die urbanitas 81, der aus der Antike stammende Zusammenschluss von Eleganz, Leichtigkeit und Unterhaltsamkeit im Gespräch, zu der Castiglione noch die Liebenswürdigkeit und Artigkeit hinzuzählt, ist zu erreichen, indem beide Geschlechter niemals den mittleren Weg (mediocrità)82 verlassen. Daneben obliegt es dem Mann, Ritterlichkeit zu zeigen und der Frau zu huldigen, während die Frau vor allem über ihre Schönheit, Keuschheit und nicht zuletzt Konversationskunst definiert wird. Der Hofdame wird, wie bereits erwähnt, ein anderer ›Hauptberuf‹ als der des Hofmanns zugeschrieben.83 Abweichend von der Tradition zeichnet Castiglione die Frau nicht in der Rolle der Mutter, Tochter oder Ehefrau, die »nichts anderes als zu kochen und zu spinnen versteht« – wobei diese wirkmächtige Zuschreibung explizit erwähnt und ihr widersprochen wird.84 Der »Hauptberuf der Dame« besteht vielmehr darin, daß der Dame, die bei Hofe lebt, nach meiner Meinung vor allem eine gewisse gefällige Freundlichkeit angemessen sein muß, mit deren Hilfe sie jede Art von Menschen durch angenehme und ehrenhafte (grati ed onesti) Gespräche höflich zu unterhalten weiß, passend zu Zeit und Ort und Eigenschaft jener Person, mit der sie spricht.85

Der weibliche ›Hauptberuf‹ ist also ein klassisch rhetorischer: Mit dem Ziel der delectatio obliegt es der Frau, das – vor allem äußere – decorum der Rede einzuhalten. Ihre kommunikative Aufgabe ist die ›Sympathiegewinnung‹: Durch ihre Fähigkeit als ideale Gesprächspartnerin wird sie »von der ganzen Welt geliebt«, ja sogar »ver-

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Masse der angeführten Beispiele unerlässlich, um die Erreichbarkeit des HofdamenIdeals zu belegen. Da diese weiblichen Vorbilder nicht im kulturellen Gedächtnis der Anwesenden präsent sind, erscheint die Erinnerung an sie als ein politischer Akt. Vgl. Burke, Die Geschicke des ›Hofmann‹, S. 42f. Zur urbanitas vgl. Fauser, Das Gespräch im 18. Jahrhundert, S. 160ff. »Es ist also etwas durchaus Sicheres, sich in der Art seines Lebens und Sprechens stets mit einem gewissen anständigen Mittelmaß zu beherrschen«. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, II, 41, S. 165. Giuliano de’ Medici: »Obwohl Signor Gasparo gesagt hat, daß dieselben Regeln, die für den Hofmann gegeben sind, auch für die Dame gelten, bin ich anderer Meinung. Mögen auch manche Eigenschaften gemeinsam und sowohl für den Mann als auch für die Frau notwendig sein, so gibt es doch einige, die sich mehr für die Frau als für den Mann schicken, und andere für den Mann angemessene, denen die Frau völlig abgeneigt sein muß.« Castiglione, Das Buch vom Hofmann, III, 4, S. 245. Was das Kochen und Spinnen betrifft, vertritt Nicoló Frisio die Meinung: »Das ist aber gerade ihre Aufgabe.« Castiglione, Das Buch vom Hofmann, II, 99, S. 234. Giuliano de’ Medici betont dagegen die soziale Differenz zwischen Frauen und schreibt der Hofdame – also der adeligen, gebildeten Dame bei Hofe mit viel Muße – andere ›Hauptaufgaben‹ zu als den Frauen niederer Schichten, die einem Haus vorzustehen oder zu arbeiten haben. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, III, 5, S. 246.

ehrt« und dem idealen Hofmann vergleichbar.86 Das Passende und Schickliche, sowie die Ausrichtung der Konversation auf den Gesprächspartner oder die Gesprächspartnerin werden bei der weiblichen Rhetorik stärker betont. Daneben wird der weiblichen actio eine besondere Relevanz zugesprochen, die sich explizit von der des Mannes unterscheiden soll: vor allem aber scheint es mir, daß die Frau in Sitten, Gewohnheiten, Worten, Gebärden und im Betragen vom Mann sehr verschieden sein muß. Denn wie es sich für diesen schickt, eine gewisse gesetzte feste Männlichkeit (una certa virilità soda e ferma) zu zeigen, so steht es der Frau gut an, eine weiche und feine Zärtlichkeit (una tenerezza molle e delicata) zu haben, mit einer Art von weiblicher Lieblichkeit (dolcezza feminile) in jeder Bewegung, die sie beim Gehen, Stehen und Sprechen oder wobei es auch sein mag, stets als Dame erscheinen (parer donna) läßt, ohne irgendwelche Ähnlichkeit mit dem Mann.87

Die Befolgung der Anweisung, »stets als Dame zu erscheinen«, impliziert die vor einem Publikum kontinuierlich wiederholte und sichtbare Performanz von ›Frausein‹. Diese Performanz von Weiblichkeit kann nur im Unterschied zu der von Männlichkeit definiert werden, wobei eine feste, gesetzte Männlichkeit und eine weiche, zarte Weiblichkeit in Opposition gesetzt werden. Nicht nur beim Sprechen hat die actio der Frau diese weiche, zarte, liebliche Weiblichkeit zu zeigen, sondern überall und ständig, in ihrem generellen »Betragen« – so wird die actio zu einer allgemeinen Performanz im Alltag ausgeweitet. Begründet wird die geschlechtsspezifische Differenzierung der actio durch das decorum, also eine kulturhistorische Vereinbarung darüber, ›was sich schickt‹. Es ist bemerkenswert, dass dieses decorum gerade nicht auf eine transzendentale Ebene rekurriert, sondern an historische und regionale Kontexte gebunden bleibt.88 Geschlecht erscheint damit nicht als ›Natur‹, sondern als kontinuierliche, kulturell und ästhetisch geformte Performanz. Dass es sich bei dieser Performanz um eine strategische Selbstdarstellung, die auf ein bestimmtes Publikum ausgerichtet ist, handelt, lässt sich einer Passage entnehmen, die von der richtigen Art, sich dem Liebhaber zu zeigen, erzählt. Giuliano de’ Medici weist darauf hin, dass Frauen sich auf verschiedene Weise zeigen können und, da »die Wünsche der Männer« so verschieden seien, es nicht die eine ideale Art gebe. Zum Beispiel gebe es viele Männer, die, wenn sie eine Dame von ernster Schönheit sehen, die beim Gehen, Stehen, Sprechen, Scherzen und allem, was sie tut, ihr ganzes Benehmen stets so abstimmt, daß sie eine gewisse Ehrfurcht bei dem, der sie betrachtet, erweckt, sich erschrecken und ihr nicht zu dienen wagen.89

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Castiglione, Das Buch vom Hofmann, III, 6, S. 249. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, III, 4, S. 245. Vgl. Rita Casale, Genealogie des Geschmacks. Ein Beitrag zur Geschichte der ästhetischen Erziehung. In: Michel Foucault: Pädagogische Lektüren, hg. von Markus RiegerLadich, Norbert Ricken, Wiesbaden 2004, S. 225–242, S. 238f. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, III, 59, S. 309.

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Die Beispiele, die Giuliano de’ Medici aufführt, werden wiederholt nach dem gleichen Muster beschrieben: Die Dame entwirft ein bestimmtes Bild von sich (etwa das ernster Schönheit, verführerischer Zartheit, Offenherzigkeit oder erhabener Strenge), zeigt dieses Bild in ihrer actio (»beim Gehen, Stehen, Sprechen, Scherzen und allem, was sie tut«, »in Worten, Bewegungen und Blicken«, »in Blicken, Worten und Bewegungen«, »in Blicken, Worten und Benehmen«) und tut dies, um eine bestimmte Wirkung auf ihren Verehrer zu erzielen (um Ehrfurcht zu erregen, um Liebe zu erwecken oder um widerspenstige Männer zu verführen), worauf die Verehrer dann jeweils reagieren.90 Im Liebesdiskurs, der wichtigsten und am ausführlichsten beschriebenen Art der weiblichen Kommunikation,91 ist die weibliche Selbstinszenierung auf den Mann ausgerichtet. Der weibliche Selbstentwurf zeigt sich in einer strategisch geformten actio mit einem dezidierten, auf den Mann fokussierten Wirkungsziel. Obwohl die weibliche Performanz, wie hier gezeigt, als eine strategische, zielgerichtete beschrieben wird, bleibt es nicht bei der Aufforderung zur sichtbaren und wirkungsorientierten Selbstpräsentation in der Konversation. Die Frau soll über Tugenden verfügen, die für die wirkungsorientierte Konversation verzichtbar erscheinen, jedoch ethisch-moralisch bedeutsam sind. Die Frau soll nicht nur tugendhaft scheinen, sondern es sein. Obwohl Züchtigkeit, Hochherzigkeit, Mäßigung, Willensstärke, Klugheit und die anderen Tugenden für die Unterhaltung nichts zu bedeuten scheinen, soll sie doch mit allen geschmückt sein, nicht so sehr wegen der Unterhaltung, obgleich sie auch dazu dienen können, als um tugendhaft zu sein, und damit diese Tugenden sie so machen, daß sie geehrt zu werden verdient, und jede ihrer Handlungen mit ihnen durchsetzt sei.92

Diese Tugenden können also offensichtlich durchaus im Sinne eines in der Rede aktualisierten rhetorischen ēthos eingesetzt werden, so dass die Frau in der Unterhaltung zugleich immer durch ihre Worte und ihre actio den Schein von Züchtigkeit, Hochherzigkeit, Mäßigung und so weiter erweckt. Giuliano de’ Medici schlägt hier jedoch nicht nur den strategischen Einsatz eines tugendhaften ›Anscheins‹ in der Unterhaltung vor, sondern verlangt die Verankerung der Tugenden im Sein. Die Tugenden werden also nicht nur als rhetorisches Überzeugungsmittel eingesetzt, sondern ethisch im Ideal der femina bona verankert.

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Castiglione, Das Buch vom Hofmann, III, 59, S. 309f. Neben der Hauptaufgabe, »sich mit jeder Person über jeden Gegenstand vernünftig unterhalten« zu können, ist eine besondere Aufgabe der Frau, »daß sie mehr als andere das zu wissen hat, was zu den Gesprächen über die Liebe gehört« (Castiglione, Das Buch vom Hofmann, III, 53, S. 301). Denn der Mann wendet die Mittel der Rede an, um der Frau seine Liebe zu gestehen, und die vollkommene Frau muss darauf zu antworten wissen. Das Thema wird ausführlich erörtert. Zum Eros als Grundbedingung für die civile conversatione im Cortegiano vgl. Mugheddu, Die ›civil conversatione‹ des Decameron und ihre Nachfolger, S. 293–298. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, III, 9, S. 252.

Ihrer Hauptaufgabe als rhetorisch versierte Gesprächspartnerin entsprechend wird für die Frau ein Bildungsprogramm formuliert, damit sie Gesprächsinhalte setzen und anmutig-nonchalant das Gespräch führen kann. Wie der Hofmann nicht nur bestimmte Kenntnisse erwerben, sondern ebenso Übungen ausführen muss, so wird auch die Hofdame zu beidem angehalten. Signifikant ist, dass die Frau zwar die gleichen Kenntnisse wie der Mann (in Literatur, Musik und Malerei) erwerben muss, ihr allerdings andere körperliche Übungen als dem Mann vorgeschrieben werden. Die männlich konnotierten Übungen wie die Handhabung von Waffen, das Jagen oder Ballspielen werden für die Frau explizit ausgeschlossen – obwohl, wie ein Gesprächsteilnehmer bemerkt, Frauen diese in früheren Zeiten betrieben hätten. Giuliano de’ Medici unternimmt allerdings Anstrengungen, diese einst scheinbar geschlechtsneutralen Körperpraktiken als für die Frau ›unanständig‹ zu markieren und zu verwerfen. Dagegen setzt er sein geschlechtsspezifisches Bildungsprogramm, das dezidiert ›weibliche‹ Körperübungen (eserzisi del corpo) beinhaltet und damit zu einer kontinuierlichen Performanz von Weiblichkeit führt. Durch die Debatte zwischen den verschiedenen Gesprächsteilnehmern, die über die adäquaten Übungen für die Hofdame in der Vergangenheit und in der Gegenwart, im In- und Ausland diskutieren, macht der Text deutlich, dass es sich um konventionelle, kulturhistorisch variable Regeln handelt, die Frauen bestimmte Übungen zuschreibt und sie von anderen abhält. Da das actio-Ideal dem Mann Festigkeit und der Frau Weichheit abfordert, so die bereits zitierte Prämisse Giuliano de’ Medicis, dienen die Übungen dazu, dieses Ideal im Körper verankern. So möchte Medici nicht nur, daß sie [die Hofdame] diese kräftigen und rauhen männlichen Übungen (esercizi virili cosí robusti ed asperi) nicht pflege, sondern ich wünsche, daß sie auch die einer Frau anstehenden rücksichtsvoll und mit jenem geschmeidigen Zartgefühl betreibe, das sich, wie wir gesagt haben, für sie schickt (con riguardo e con quella molle delicatura che avemo detto convenirsele).93

Zu ›weiblichen Übungen‹ gehören Tanzen, Singen, Musizieren, und zwar jeweils in einer Art und Weise, die nicht die technische Beherrschung, sondern die anmutige, ästhetische Ausführung in den Vordergrund stellt. Nicht ihre Kompetenz soll die Frau herausstreichen, sondern ihre Schönheit. Das decorum – die kulturhistorische Vereinbarung, dass sich Zartheit und Weichheit für die Frau schickt – soll in jeder Übung durch die kontinuierlich wiederholte Praxis eingeübt und verkörpert werden. Die Übungsanleitungen dienen damit der Verkörperung eines kulturellen Ideals. Der weiblichen Schönheit wird eine besondere Relevanz zugeschrieben, die Folgen für eine verschärft geforderte Ästhetisierung der weiblichen actio hat. Da die

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Schönheit, so wird argumentiert, wichtiger für die Frau als für den Mann sei,94 müsse die actio der Frau dazu dienen, ihre Schönheit zu vermehren – und zwar dem Lichte entsprechend, in dem sie erscheinen will. Die Schönheit soll »durch Bewegungen, Worte und Gewänder«95 unterstützt werden – eine an das ebenso koexpressive actio-Programm der alten Rhetorik erinnernde Aufzählung. Die Kleidung spielt bei der weiblichen actio eine besondere Rolle. Auch bei der Dame wird die Kleidung in ihrer rhetorischen Funktion eingesetzt, die Frau muss diejenigen Kleider auswählen, die »am geeignetsten für die Vorhaben sind, die sie jeweils zu unternehmen beabsichtigt«96, dabei ist allerdings die dissimulatio artis unbedingt zu beachten: Die Dame solle stets zeigen, »daß sie keinerlei Fleiß und Mühe darauf verwende.«97 Die sprezzatura in der Kleidung wird zwar für beide Geschlechter explizit erwähnt, es ist allerdings kein Zufall, dass der weibliche Putz als topisches Beispiel der Künstelei (affettazione), des Gegensatzes der sprezzatura, aufgerufen wird. Die weibliche maskenhafte, dick aufgetragene Schminke wird als Paradebeispiel der künstlichen Verschönerungsmittel herangezogen. Der sichtbaren Künstlichkeit wird allerdings keine vermeintliche ›Natürlichkeit‹ vorgezogen, sondern eine nicht-sichtbare, verborgene Kunst. Dies wird wiederum am Beispiel der Frau expliziert: Diejenige wirke anmutig, der man nicht ansehen kann, ob sie sich herrichtet oder nicht, deren Gesichtsfarbe sich von Natur verfärbt, die ihre Haare wie zufällig schmückt und ihre Bewegungen einfach und natürlich unternimmt – »ohne Eifer und Mühe zu zeigen«: »Das ist jene lässige Echtheit, die den menschlichen Augen und Herzen höchst willkommen ist, da sie ja immer fürchten, durch Kunst getäuscht zu werden.«98 Ersetzt man ›lässige Echtheit‹ durch die damit gemeinte ›verborgene Kunst‹, wird der innere Widerspruch dieser Äußerung umso deutlicher, den der Text jedoch unkommentiert lässt und nicht weiter problematisiert. Das Buch vom Hofmann bleibt bei dieser paradoxen Haltung, die der actio-Konzeption bereits in der alten Rhetorik innewohnt: Wer die Kunst lehrt, wie Körperzeichen strategisch einzusetzen sind, kann nicht gleichzeitig auf eine unverfälschte körperliche Kommunikation abzielen – wohl aber darauf, dem Publikum die Kunst zu verbergen. Wenn auch der Topos des weiblichen Putzes aufgerufen wird, der mit dem künstlichen Schein, der Verstellung und Unwahrheit verbunden ist, ist in der Renaissance doch die ›Täuschung‹ nicht ausschließlich weiblich konnotiert, ebenso wie sie nicht ausschließlich negativ konnotiert ist. Dies zeigt sich gerade bei der actio der beiden Geschlechter im Liebesdiskurs: Wenn die weibliche actio mit den »Wegen des Zuganges zur Seele« verglichen wird, wenn die liebende Frau

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Nach der Meinung Giuliano de’ Medicis »ist ihr aber die Schönheit notwendiger als dem Hofmann; denn der Dame, der die Schönheit fehlt, fehlt wahrlich viel«. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, III, 4, S. 245. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, III, 8, S. 251. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, III, 8, S. 251. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, III, 8, S. 251. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, I, 40, S. 74.

dem Geliebten »durch Gesicht und Gehör, die Blicke ihrer Augen, das Bild ihres Antlitzes, Stimme und Worte entsendet, die […] Zeugnis für ihre Liebe ablegen«99, wird die weibliche Körpersprache als unverstellbares, ›wahres‹ Zeichen dargestellt. Doch entgegnet Morello da Ortona: »Blicke und Worte können falsche Zeugnisse sein und sind es oft«100. Und auf die Frage, wie die Dame den wahren Liebenden von dem unaufrichtigen unterscheiden kann, antwortet Giuliano de’ Medici: »Ich weiß es nicht, weil die Männer heutzutage so schlau sind, unzählige Täuschungen anzuwenden, und oft weinen, wenn sie wohl große Lust zu lachen haben.«101 Täuschen können beide Geschlechter, und die Zeichen des Körpers werden nicht als Garanten der Wahrheit eingesetzt. Fazit Die Auseinandersetzung mit Ciceros Ideal des orators als vir bonus führt, übertragen auf die höfische Kommunikationssituation, zu einem zugleich ethischen und ästhetischen Ideal des cortegiano als vir bonus. Diese höfische Kommunikationssituation, das Gespräch, macht eine theoretische Einbeziehung der Hofdame als femina bona möglich. Wie der vollkommene Mann und die ideale Frau zu sprechen haben, wie sie sich zu zeigen haben, wird in Castigliones Buch vom Hofmann als Gesprächsgegenstand vielstimmig verhandelt und zugleich durch die Spielform der Unterhaltung vermittelt. In diesem Entwurf einer Gesprächsrhetorik scheint eine egalitäre Redesituation zwischen den Geschlechtern auf, wenn sie auch nicht auf der Ebene der Gesprächsführung eingelöst wird. Bemerkenswert ist jedoch, dass die Hofdame als Rednerin allererst denkbar wird. Das Buch vom Hofmann hält eben nicht nur die Rede des Mannes, die Rede unter Männern oder die Rede des Mannes mit der Frau für diskurswürdig, sondern entwirft ausführlich ein Ideal der Frau als Rednerin. Angesichts der kulturell wirkmächtigen männlichen Codierung des Redner-Ideals ist die Übertragung der rhetorischen Aufgabe auf die Hofdame, jederzeit mit jedermann angemessen reden zu können, Aufsehen erregend. Mit der Formulierung eines geschlechtsspezifischen Redner-Ideals wird die Geschlechterdifferenz nicht nur beschrieben, sondern als intentionale Aufgabe an den Mann und die Frau vermittelt. Während die adelige Herkunft, die literarischen, künstlerischen und musischen Kenntnisse, viele »Tugenden des Herzens« sowie die Anforderung, sprezzatura und grazia im Auftreten zu zeigen, gleichermaßen für den Mann wie für die Frau gelten, sind es neben der spezifisch weiblichen, ›zarteren‹ Performanz die Schönheit und die Bewahrung ihres kostbaren guten Rufs, die für die Frau als Besonderheiten herausgestellt werden. Für beide Geschlechter wird ein ›self-fashioning‹ vorgeschlagen, das ein Wissen über die kulturhistorische Bedingt-

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Castiglione, Das Buch vom Hofmann, IV, 63, S. 400. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, IV, 63, S. 400. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, III, 54, S. 302.

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heit der möglichen zu verkörpernden Rollen – und zwar auch der Geschlechterrollen – zu beinhalten scheint. Wie die Verkörperung einer weiblichen und einer männlichen Rolle gedacht werden könnte, zeigt das Beispiel des fürstlichen Körpers: Der Fürst weiß von sich, dass er »außer schon Fürst zu sein, auch noch die Form des Fürsten haben soll«. Damit bewegt er sich in den engen Grenzen dessen, was in der »Würde eines Fürsten« liegt und verfügt nicht über die Freiheit, sich außerhalb dieser Grenzen zu bewegen – außer er maskiert sich.102 Castigliones Hofmann vermittelt die Form, die sich der Mann als Hofmann und die Frau als Hofdame geben sollten, und beschreibt die Grenzen der angemessen Performanz für jedes Geschlecht, und zwar in Abgrenzung vom anderen Geschlecht. Die geschlechtsspezifische Form des Auftretens wird als eine kontinuierliche, nicht auf die spezielle Redesituation begrenzte, sichtbare Selbstdarstellung beschrieben, in der die wirkungsorientierte körperliche actio eine tonangebende Rolle spielt. Wirkmächtige geschlechtsspezifische Ausschlüsse aus der alten Rhetorik wie die Markierung ›feiner‹, ›weicher‹ und ›weibischer‹ Stimmen und Gesten als nicht rhetorikfähig werden übernommen, ohne sie angesichts der neuen Funktion der idealen Hofdame, die zugleich formvollendet zu konversieren sowie zart und weich zu wirken hat, einer kritischen Revision zu unterziehen. Das Buch vom Hofmann nimmt die Bildung des Hofmanns und der Hofdame in den Blick, wobei ein relevanter Unterschied hervorzuheben ist: Während das Bildungsprogramm für die Hofdame zwar die gleichen Kenntnisse wie für den Mann (in Literatur, Musik und Malerei) vorsieht, werden ihr andere körperliche Übungen vorgeschrieben: Weiblichkeit ist zu tun. Die männliche ›Rauhheit‹ und weibliche ›Zartheit‹, die einander idealtypisch gegenüber gestellt werden, sind nicht einfach vorhanden, sondern sollen durch spezifische Übungen sowie in der Konversation eingeübt werden. Die Hofdame wird nicht nur aufgefordert, spezifisch weibliche Übungen wie Tanzen und Singen zu betreiben, sondern diese Übungen auch auf eine weibliche Art auszuführen, die die ästhetische Aufführung in den Vordergrund stellt, anstatt technische Kompetenz zu beweisen. Verbunden ist mit der Darstellung dieser Übungen der implizite Imperativ, diese Übungen kontinuierlich und mit Fleiß zu wiederholen, um grazia und sprezzatura gleichsam zu verkörpern. Markus Fauser hat in der Geschichte der Konversationstheorie Castigliones Il libro del Cortegiano als einen wirkmächtigen Meilenstein ausgemacht, indem er bei Castiglione erstmals eine (umfangreiche) ›Rhetorik des Gesprächs‹ ausgebildet sieht.103 Ziel dieses Kapitels war es zu zeigen, dass diese ›Rhetorik des Gesprächs‹ von Beginn an gegendert ist und wie sie den Geschlechtern explizit unterschiedliche Aufgaben und Verhaltensformen zuteilt.

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Castiglione, Das Buch vom Hofmann, II, 11, S. 221. Fauser, Das Gespräch im 18. Jahrhundert, S. 162.

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Bildungsmittel weiblicher Rhetorik: Harsdörffers Frauenzimmer Gesprächspiele

Castigliones Cortegiano ist nicht der erste Text, der gemischtgeschlechtliche Gespräche inszeniert, vielmehr greift er auf Boccaccios berühmten Decamerone (1348–1353) zurück.104 Schon bei Boccaccio findet sich eine Runde von mehreren Männern und Frauen, die sich an einen locus amoenus auf dem Land zurückzieht, um sich dort zu unterhalten, wobei der Inhalt der Gespräche, das Erzählen von Novellen, von den späteren Gesprächspielen in der Folge des Cortegiano nicht übernommen wird.105 Auf diese italienische Tradition der Gesprächspiele bezieht sich noch Georg Philipp Harsdörffer in seinen Frauenzimmer Gesprächspielen 106 (1641–1649), darunter auch explizit auf den Cortegiano.107 Die Gesprächspiele, die Harsdörffer im Rückgriff

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Die Tradition in der Folge Boccaccios scheint so wirkmächtig zu sein, dass Castiglione ein ganzes Kapitel darauf verwendet, sich von seinem Vorläufer abzugrenzen. Vgl. Castiglione, Das Buch vom Hofmann, Widmung, 2, S. 4–8. Vgl. Rosmarie Zeller, Spiel und Konversation im Barock. Untersuchungen zu Harsdörffers ›Gesprächspielen‹, Berlin, New York 1974, S. 81. Georg Philipp Harsdörffer, Frauenzimmer Gesprächspiele, 8 Bde., Nürnberg: Wolfgang Endtern 1641–1649, ND hg. von Irmgard Böttcher, Tübingen 1968f. Die Seitenangabe erfolgt nach dem Original, bei unpaginierten Seiten in eckigen Klammern nach dem Neudruck. Harsdörffer bezieht sich explizit auf das Spiel »von den Tugenden eines löblichen Hofmanns« des »Balthasar Castiglion«. In einem Gesprächspiel werden Adel, Bescheidenheit, Höflichkeit und Verstand als herausragende Eigenschaften des Hofmanns hervorgehoben sowie seine körperliche und intellektuelle Bildung von Jugend an betont, die bei Castiglione so bestimmenden Begriffe der grazia und sprezzatura jedoch unerwähnt gelassen. Kam der actio, dem anmutigen, lässigen Auftreten bei Hof eine herausragende Relevanz zu, scheint sie in dem von Harsdörffer beschriebenen Leben außerhalb des Hofs nicht die gleiche Bedeutung zu haben. So sagt Cassandra: »Die guten Geberden/ und holdseligen Reden lassen sich fast nicht erlernen. Es ist eine absonderliche Gabe/ sich angenehm machen/ welche auch offtmals geringen Leuten widerfährt.« Während Castiglione die anmutige actio als alleiniges Kennzeichen des Adels entworfen hat, wird sie bei dem bürgerliche Kreise einbeziehenden Harsdörffer aus ihrer aristokratischen Verankerung gelöst. Ebenso wenig geht Harsdörffer auf die dezidierte Geschlechtsspezifi k der bei Castiglione beschriebenen actio ein. Harsdörffer, Frauenzimmer Gesprächspiele, III, S. 136–142; vgl. zu den auf Castiglione zurückgeführten Gesprächspielen auch III, S. 101. Zu Harsdörffers weiteren italienischen Vorbildern und deren Frauen involvierenden Strategien, vor allem zu Scipione Bargaglis Delle lodi dell’accademia (1569), Girolamo Bargaglis Dialogo de’ giuochi che nelle vegghie sanesi si usano di fare (1574), Stefano Guazzos La civil conversatione (1574) vgl. Italo Michele Battafarano, Harsdörffers italianisierender Versuch, durch die Integration der Frau das literarische Leben zu verfeinern. In: Georg Philipp Harsdörffer: Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter, hg. von Battafarano, Bern u. a. 1991, S. 267–286. Zu den französischen Vorbildern, vor allem Nicolas Farets L’Honneste Homme, ou l’art de plaire à la Court (1630), dessen Gegenstück von Jacques Dubosc, L’Honneste Femme (1643), sowie François de Grenailles L’Honneste Fille (1639–40) und Harsdörffers Adaption des honnête femme-Ideals vgl. Jean-Daniel

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auf die italienischen Schriften in Deutschland einführt, stellen eine »neue Art von gesellschaftlicher Unterhaltung« dar, in dem nicht nur »Frauen eine grundlegende Rolle«108 spielen, sondern auch Frauen verschiedener sozialer Schichten. Harsdörffer löst sich von dem höfischen Vorbild und formuliert seine Gesprächspiele für den wohlerzogenen Menschen überhaupt. Die äußere Form der Spiele ähnelt sich: Gespielt wird wiederum an einem locus amoenus (bei Castiglione am idealisierten Hof von Urbino in dem durch die ›Liebeskette‹ der Herzogin geschützten Raum und bei Harsdörffer wohlgemerkt nicht am Hof, sondern auf dem Land). Bei beiden werden gemischtgeschlechtliche Gesprächsrunden dargestellt, während bei Castiglione deutlich mehr Hofmänner als Hofdamen anwesend sind, nehmen bei Harsdörffer jeweils drei Herren und drei Damen am Gespräch teil.109 Es wird ein Spielleiter beziehungsweise eine Spielleiterin gewählt (bei Harsdörffer »Anfänger« oder »Anfängerin« genannt, denen reihum der »Spielstab« übergeben wird), dem/der es obliegt, die Themen vorzuschlagen und die Teilhabe der Mitspieler/innen zu regulieren. Und es bestehen bestimmte Regeln, die die Unterhaltung zu einem Spiel machen.110 Die an den Frauenzimmer Gesprächspielen teilnehmenden weiblichen Figuren tragen lebhaft inhaltlich zum Gespräch bei, sie setzen Themen, stellen Fragen und beantworten sie, auch wenn sie aufgrund ihrer mangelhaften wissenschaftlichen Kenntnisse nicht als gleich starke Gesprächspartnerinnen gezeichnet werden. In ihrer sprachwissenschaftlichen Analyse der Frauenzimmer Gesprächspiele stellt Christl Griesshaber-Weninger fest, dass die weiblichen Figuren weniger Re-

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Krebs, Harsdörffers Frauenzimmer-Gesprächspiele: Konversation als Erziehung zur ›honnêteté‹. In: Über die deutsche Höflichkeit: Entwicklung der Kommunikationsvorstellungen in den Schriften über Umgangsformen in den deutschsprachigen Ländern, hg. von Alain Montandon, Bern u. a. 1991, S. 43–60 sowie Krebs, Harsdörffer als Vermittler des ›honnêteté‹-Ideals. In: Georg Philipp Harsdörffer: Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter, hg. von Italo Michele Battafarano, Bern u. a. 1991, S. 287–311. Krebs sieht in Harsdörffers Anbindung an italienische und französische Vorbilder nicht nur die Leistung eines kulturellen Transfers, sondern auch »einen Transfer innerhalb des eigenen Kulturkreises, wobei bürgerlich-gelehrte Substanz mit adlig-höfischer Lebensform bereichert« (S. 44) werden sollte. Rosmarie Zeller, Die Rolle der Frau im Gesprächspiel und in der Konversation. In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter, hg. von Wolfgang Adam, Wiesbaden 1997, S. 531–541, S. 532. Die Gesprächsteilnehmer/innen tragen sprechende Namen: Angelica von Keuschewitz, eine adelige Jungfrau; Julia von Freudenstein, eine kluge Matrone; Cassandra Schönlebin, eine adelige Jungfrau; Reymund Discretin, ein gereister und belesener Student [später ein gereister Hofjunker]; Vespasian von Lustgau, ein alter verständiger Hofmann; Degenwert von Ruhmeck, ein gelehrter Soldat. Während Castiglione eine adelige Gesprächsrunde am Hof entwirft, findet sich bei Harsdörffers Gesprächsteilnehmer/innen eine soziale Mischung. Die Frauenzimmer Gesprächspiele sprechen mittlere und gehobene bürgerliche Kreise, Patrizier und den niederen Adel an. Vgl. Zeller, Spiel und Konversation im Barock, S. 85.

deanteile haben, mehr Bitten und Fragen äußern, sich gegenseitig unterstützen, ihr Wissen eher herunterspielen, sich in der Konversation unterordnen, wohingegen die männlichen Figuren autoritativ sprechen, belehren und länger reden – und interpretiert dies vor dem Hintergrund der Erkenntnisse der feministischen Sprachwissenschaft als ein geschlechtsspezifisches Sprechverhalten, das noch in den 1980er Jahren nachwirke.111 Sie stellt die These auf, dass Frauen in Schriften der progressiven Frauenbelehrung, in die sie Harsdörffers Frauenzimmer Gesprächspiele einordnet, angeleitet werden, »sich erfolgreich, d. h. auf von Männern sanktionierte Weise am Diskurs zu beteiligen«, womit der Wirkungsradius weiblicher Rede einerseits erweitert werde, andererseits »männlicher Kontrolle unterstehe[]«.112 Griesshaber-Weninger setzt dabei unreflektiert das ›Gespräch‹ des Barock und der Gegenwart gleich, indem sie die Erkenntnisse der feministischen Sprachwissenschaft der 1970er und 80er Jahre auf die Gesprächspiele überträgt, und verkennt deren historisch-rhetorische Funktion. So kritisiert sie insbesondere den weiblichen »Mechanismus der Selbstabwertung«, ohne die Tradition der Bescheidenheitsbekundungen für die captatio benevolentiae zu bemerken. Sie übersieht, dass auch die männlichen Gesprächsteilnehmer, wie es sich in der barocken rhetorischen Kultur gehört, Bescheidenheit demonstrieren und lässt dabei unbeachtet, dass die weiblichen Bekundungen der Unwissenheit in dem historischen Bildungsgefälle begründet sind, das die Frauenzimmer Gesprächspiele gerade zu nivellieren suchen. Ich möchte dagegen gerade die Konzeption der barocken Gespräche als ebenso kurzweilige wie erzieherisch nützliche Spiele betonen, die der Frau nicht nur die Möglichkeit eröffnen, ihr rhetorisches Können zu zeigen, sondern es allererst zu erwerben. Diese pädagogische Nützlichkeit fügt Harsdörffer dem hochreglementierten Gesprächspiel hinzu, das in der italienischen Tradition doch vorrangig Unterhaltung garantieren soll, wohingegen er gerade die Einbeziehung von Frauen als Teilnehmerinnen an den Gesprächspielen mit eben jener Tradition begründet. So schreibt er in der Vorrede des dritten Teils: Das Frauenzimmer ist bey diesen Gesprächspielen eingeführet zu Folg/ der offt angezogenen Italiänischen Scribenten/113 welcher Erfindungen sonderlich dahinzielen/ wie in dergleichen Zusammenkunfften die Zeit mit nützlicher Kurtzweil zugebracht werden möge. Was für wichtige Ursachen aber könnten so holdselige Gesellschafterin/ von der Verstand- und Sprachübung ausschliessen? Sollte deren Gegenwart ägerlich seyn/ welcher der erste Mensch im Stand seiner Unschuld nicht ermanglen können? Dörffen sie ihre angearte Freundlichkeit/ und behände Klugheit niemals hören lassen? Fürwar es

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Christl Griesshaber-Weninger, Harsdörffers ›Frauenzimmer Gesprächsspiele‹ als geschlechtsspezifische Verhaltensfibel: Ein Vergleich mit heutigen Kommunikationsstrukturen. In: Women in German Yearbook, 9, 1993, S. 49–70. Griesshaber-Weninger, Harsdörffers ›Frauenzimmer Gesprächsspiele‹ als geschlechtsspezifische Verhaltensfibel, S. 64. Hier verweist Harsdörffer in einer Randnotiz auf eine Rede Scipione Bargaglis, Delle lodi dell’accademia (1569), die von Frauen an den Sienesischen Akademien berichtet.

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ist ihnen den Weg deß Verstands zu gehen nicht verbotten/ man wolle sie dann von der Gemeinschaft anderer Menschen absondern/ und sie für Sinn- und Redlose Bilder halten/ Wie der Ruhm Weibliches Geschlechts Anna Maria Schurmanns114 in einem besonderlichen Büchlein Kunstrichtig erwiesen/ und mit ihren Exempeln Anna Römers/ Dorothea Eleonora von Rosenthal/ Maria Elisabeth von Hohendorff in offentlichen Schriften wircklich bewäret haben. Welche die Unwissenheit für deß Frauenvolcks sicherste Tugend achten/ stehen in irzigem Wahn. Die Geschicklichkeit ist ein sondere Gnade/ so GOTT den Menschen ertheilet/ und nicht in seinem sondern deß Mahomets Gesetz verbotten; sie leitet von dem Bösen zu dem Guten; mässiget die befindliche Schwachheiten/ und beherschet die Begierden: Gestalt auß allen Geschichten erhellet/ daß gelehrte Frauen und Jungfrauen/ benebens Erweisung hohes Verstands auch waares Tugendlob erhalten. Was Socrates von den Spiegeln/ das kann man auch von der Geschickligkeit sagen: die Schönen sollen sich selber befl eissigen/ ihre Schönheit zu vermehren; die anderen ihre Ungestalte zu vermindern. Ja/ wann der Mensch allein wegen seines Verstandes/ und nicht vom eusserlichen Ansehen/ für einen Menschen zu achten ist/ so ist sonderlichen auff desselben Schmuk und Zierde zu dencken/ und heißt es recht: Red daß ich dich sehe.115

Harsdörffers ausführliche Rechtfertigung der Teilnahme von Frauen an den Gesprächspielen deutet darauf hin, dass diese in der deutschen Gesprächspraxis eben nicht selbstverständlich ist. Er legitimiert den Einbezug von Frauen durch die aus der Querelle des femmes bekannte Beweisführung der Bildungsfähigkeit der Frau: Exempla werden herangezogen, um die Lernfähigkeit von Frauen zu belegen, und der Vorwurf contra feminam, die Bildung gefährde die Tugend, wird widerlegt, indem Bildung als gottgewollter Weg zur Tugend entworfen wird. Bildung erscheint dabei als ein Projekt der performativen Vervollkommnung des eigenen Selbst, wenn dazu aufgerufen wird, »sich selber zu befleissigen«, in der und durch die Rede die »Geschickligkeit« zu schulen und sich Wissen und Fähigkeiten anzueignen. Mit dem berühmten, Sokrates zugeschriebenen Zitat ›Rede, damit ich dich sehe!‹116 erheben die Gesprächspiele den Anspruch, die Spieler/innen durch die Gespräche zum Menschen zu bilden. Das heißt, dass der/die solchermaßen zu einer rhetorischen Selbstsetzung Befähigte allererst als Mensch ›sichtbar‹ wird. Die bislang vorrangig über äußere und nicht innere Werte definierte Frau wird einbezogen in dieses Projekt der rhetorischen Selbstsetzung, indem die Vervollkommnung der als ›eigentlich‹ markierten inneren Schönheit über eine Analogie an die Vervollkommnung der äußeren Schönheit angebunden wird. Die Differenz von Innen und Außen, von

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Anna Maria Schurmann (1607–1678), die in allen Frauenzimmer-Lexika hochgelobte und wohl bekannteste (holländisch-)deutsche Gelehrte, belegt in ihrer Harsdörffer bekannten Dissertatio inter Annam Mariam Schurmanniam et Andream Rivetum de capacitate ingenii muliebris ad scientias (1638) die These, dass es einer christlichen Frau wohl ansteht, sich mit den Wissenschaften zu beschäftigen. Harsdörffer, Frauenzimmer Gesprächspiele, III, unpag. Vorrede [S. 15ff.] [Hervorhebung von L.T.E.]. Zur Rezeption und Verbreitung des seit der Spätantike Sokrates zugeschriebenen Ausspruchs vgl. Meyer-Kalkus, Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert, S. 12.

Verstand und Schönheit, die der Text aufmacht, wird durch das ›Rede, damit ich dich sehe!‹ wieder zusammengebunden, das eine Sichtbarmachung des Inneren im Äußeren verspricht und so auch die Frau als Bildungssubjekt anspricht. Das didaktische Anliegen Harsdörffers richtet sich darauf, in den Gesprächen und durch die Gespräche Bildung gerade auch für Frauen verfügbar zu machen.117 Zu fragen ist nun, inwiefern diese Bildung eine rhetorische Ausbildung – auch der actio – beinhaltet und welche Techniken der Text zur Erlernung rhetorischer Praktiken vermittelt. Zunächst ist der Ausgangspunkt zu skizzieren: Während die weiblichen Figuren am Hof von Urbino als hochgebildet beschrieben werden – so die Herzogin oder die als ›Lehrmeisterin‹ bezeichnete Emilia Pia –, geht Harsdörffer explizit von ungebildeteren Gesprächsteilnehmerinnen in Deutschland118 aus und setzt deren Bildung gerade als eines der beiden maßgeblichen Ziele des Gesprächs. Das Gespräch wird nämlich als »nützliche Kurtzweil« definiert, die sich mit der Horaz’schen Formel des prodesse et delectare erklären lässt: Die Gesprächspiele sollen die Mitspieler/innen erstens unterrichten und sie zweitens unterhalten.119 Das in den acht Bänden der Frauenzimmer Gesprächspiele vermittelte inhaltliche Wissen, das bekanntlich geradezu ›enzyklopädisch‹120 zu nennen ist, muss, so will ich hinzufügen, durch die Ausbildung und Übung einer mündlichen Kompetenz ergänzt werden. Denn das Wissen allein, dies hat bereits die alte Rhetorik vermittelt, nützt

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Karin A. Wurst untersucht in einer frühen, feministischen Lektüre Harsdörffers Frauenbildungskonzept, wirft ihm jedoch vor, unter dem Deckmantel einer frauenfreundlichen Haltung Frauen erneut Bildungsschranken aufzuerlegen, da er die Gespräche auf die gesellige Freizeit sowie auf einen populärwissenschaftlichen Bereich beschränke. Dabei übersieht Wurst die Relevanz der im 17. Jahrhundert u. a. als otium oder socialitas bezeichnete Geselligkeit, die keinen nebensächlichen ›Freizeitcharakter‹ hat, sondern als notwendiges Gegenstück von negotium einen »substantiellen Bereich der Lebensorganisation in der frühmodernen Gesellschaft« umfasst (Wolfgang Adam, Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter. Einführung. In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter, hg. von Adam, Wiesbaden 1997, S. 1–16). Was die populärwissenschaftliche Ausrichtung betrifft, so kann diese eben als Ziel der Geselligkeit genannt werden, die keine ›Pedanten‹, sondern ›Laien‹ ansprechen will. Das (aus der alten Rhetorik herrührende) ideale Maß der Mitte in der Unterhaltung übersetzt Wurst, die Tradition verkennend, abwertend als »Mittelmaß« und führt die Einbeziehung der ungebildeten, von der Lateinschule und Universität ausgeschlossenen Frau auf diesen ›mittelmäßigen‹, ›dilettantischen‹ Wissenschaftsbegriff zurück. Karin A. Wurst, Die Frau als Mitspielerin und Leserin in Georg Philipp Harsdörffers ›Frauenzimmer Gesprächspielen‹. In: Daphnis, 21, 1992, S. 615–639. Vespasian bemerkt, dass »unser Frauenzimmer in Weltlichen Schriften nicht so belesen/ als in Welschland und Frankreich« sei. Harsdörffer, Frauenzimmer Gesprächspiele, III, S. 101f. Vgl. Zeller, Spiel und Konversation im Barock, S. 64. Rosmarie Zeller sieht gerade in Harsdörffers »Willen zur Enzyklopädie«, in seiner Absicht, in den Gesprächspielen möglichst viel Wissen seiner Zeit auszubreiten, den maßgeblichen Unterschied zu Castiglione, der ein begrenztes Thema verfolge. Zeller, Spiel und Konversation im Barock, S. 86.

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nur, wenn es auch ›angemessen‹ vorgebracht werden kann. Der Wissenserwerb geht mit der Übung, sich in der Konversation ›gut‹ auszudrücken, Hand in Hand. Indem Gesprächspiele zugleich eine »Verstand- und Redeübung«121 darstellen, so Harsdörffers eigene Bezeichnung, – vermitteln sie eben auch die zur mündlichen Rede gehörende angemessene actio. Die Rede selbst ist dabei Mittel und Ziel der Bildung. Nach Harsdörffer ist das Gespräch »die nutzlichste und anständigste« Form der Wissensvermittlung.122 Dabei geht es im Gespräch eben nicht nur, wie ich zeigen möchte, um die sprachlich adäquate Darstellung eines Inhalts nach den Regeln des Spiels, sondern auch um das körperliche Auftreten, um die actio, mit der Inhalte vorgetragen werden. Dies geht soweit, dass nicht nur die Rede, sondern auch die actio Mittel und Ziel der Bildung ist: Es ist eine alte Streitfrage: Ob der mündliche oder schriftliche Unterricht der Jugend vorträglicher sey: Das Aug und das Ohr sind gleichsam die Thore/ vermittelst welcher alle Wissenschaft durch die redenden und stummen Lehrmeistere in unsren Sinn eingeführet werden. Die Rede ist begleitet mit beweglichen Geberden/ mit Verwendung der Augen/ mit Erregung der Lippen/ mit Behandlung der Hände/ Erhöhung deß Haubts/ Erhebung der Stirne/ und des gantzen Leibes nachdrükklicher Begeisterung und Beyhülffe. Hingegen ist der todte Buchstab ohne Bericht/ ohne Eifer und Wortklang/ der in begebenen Zweiffel keine Erörterung leisten kan. Gleichwie das Sigel seine Gleichheit dem Wachs eindrukket; also senket des Menschen Rede Freude und Traurigkeit/ Lieb und Haß/ Zorn und Freundschaft/ und eine jede Neigung/ so der Redner bey sich fühlet/ in unser Gemüt. […] Im Gegenstand ist die Schrift mit mehr Bedacht zu Papier gesetzet/ und wird mit mehrn Nachdenken zu Sinne gefasset/ als die flüchtige Rede/ welche vielmals unsre Augen blendet/ daß wir uns mehr von des Redners Geberden/ als seinen Worten bewegen lassen.123

Indem das Harsdörffer’sche actio-Modell Gestik und Mimik als Instrument der affektiven Beeinflussung eines Publikums entwirft, steht es in der Tradition der

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Harsdörffer, Frauenzimmer Gesprächspiele, VIII, unpag. Zuschrift [S. 11]. »Unter vielen Lehrarten ist für die nutzlichste und anständigste erachtet worden die jenige/ welche in Gesprächen bestehet: Weil der Verstand dardurch alles Zwangs fürgeschriebener Lehren entbunden/ sich in seiner eingeschaffnen Freyheit befindet nachzusinnen/ seine Gedanken zu eröffnen/ fürwesendes zu betrachten/ und gleichsam zu einem Richter aufgeworfen wird/ der unterredenden Meinungen zu entscheiden/ eines oder des andern angehörten Ursachen beyzufallen/ oder die daraus entstandene Zweiffel/ aus uns angeborner Begierde zu lernen/ beyzubringen/ und zu erörtern. Ich will nicht sagen von der Lieblichkeit der Stimme/ den höflichen Geberden/ den Verwendungen der Augen/ den Bewegungen der Lippen/ der Behandlung der Hände/ &c. Welches alles so viel lebendiger beredet/ als der tode Buchstaben/ sondern daß der vielfältige Nutzen der Gespräche in allen Wissenschaften daher abzunehmen/ weil solche von den ältesten und auch von den neusten Scribenten beharrlich gebrauchet worden […].« Harsdörffer, Frauenzimmer Gesprächspiele, VIII, unpag. Zuschrift [S. 9f.]. Harsdörffer, Frauenzimmer Gesprächspiele, VII, unpag. Vorrede [S. 35f.].

alten Rhetorik.124 Der actio wird eine besondere, die Worte übersteigende Macht zugestanden, das Publikum zu bewegen und für den Wissenserwerb sinnlich zu begeistern. Dass die actio auch ein signifikanter Bestandteil der praktischen Ausführung der Gesprächspiele ist, wird deutlich in einer der Definitionen, worin die Gesprächspiele bestehen: Die Spiele lassen sich nicht nur je nach den wissenschaftlichen Voraussetzungen in schwere, mittelschwere und leichte Spiele einteilen, oder in Fragen, Aufgaben oder Erzählungen, sondern auch »in Worten oder in Werken und Geberden«125 unterteilen. Indem die Frauenzimmer Gesprächspiele ihre Leser/ innen nun dazu animieren, die Anleitungen für die eigene Konversation zu nutzen und sie zu erweitern, vermitteln sie eine ›kommunikative Verhaltenskompetenz‹, die inhaltliche ebenso wie sicht- und hörbare rhetorische Techniken umfasst: Der Text soll explizit in die Praxis umgesetzt werden.126 Die actio wird dabei nicht als naturgegeben, sondern als erlernbar konzipiert:

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Dies hat bereits Elmar Locher erkannt: Locher, Harsdörffers Deutkunst. In: Georg Philipp Harsdörffer: Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter, hg. von Italo Michele Battafarano, Bern u. a. 1991, S. 243–265, S. 244. Vgl. zu »nicht-verbalen Kommunikationsformen« in den Gesprächspielen auch: Italo Michele Battafarano, Harsdörffers ›Frauenzimmer Gesprächspiele‹: Frühneuzeitliche Zeichen- und (Sinn-)Bildsprachen in Italien und Deutschland. In: Die Sprache der Zeichen und Bilder, hg. von Volker Kapp, Marburg 1990, S. 77–89. Locher und Battafarano nehmen beide die in den Frauenzimmer Gesprächspielen geschilderte Sinnbildkunst und die dazugehörige Deutkunst in den Blick, die für eine Untersuchung der actio insofern von Relevanz sind, als darin Haltung, Gestik, Mimik und Kleidung der sinnbildlichen Figuren als »der stummen Seulen Rede« betrachtet und gedeutet wird (Harsdörffer, Frauenzimmer Gesprächspiele, VII, S. 38). Dafür erfolgt eine inventarisierende Auflistung der einzelnen actio-Elemente von Kopf bis Fuß, die jedoch kaum geschlechtsspezifische Aussagen beinhalten (vgl. IV, S. 276–297). Obwohl Haltung, Gestik, Mimik und Kleidung in den Sinnbildern ebenso als Zeichensystem betrachtet werden wie in der rhetorischen actio, möchte ich auf einen Unterschied hinweisen, der darin besteht, dass in Bezug auf die Sinnbildkunst die Körperzeichen als untrüglich und wahr beschrieben werden (es lässt sich »eines jeden Hertz leichtlich aus den Augen und Geberden ersehen«, VII, S. 71), in Bezug auf die Sittenlehre und die actio in Gesellschaft jedoch als konventionelle Zeichen (vgl. VII, S. 393). Während die Sinnbildkunst darauf angewiesen ist, dass bestimmte Gesten und bestimmte Bedeutungen fest verknüpft sind, weiß die Sitten- und actio-Lehre von der historischen und regionalen Konventionalität von Gesten. Harsdörffer, Frauenzimmer Gesprächspiele, VIII, S. 46. Vgl. Markus Hundt, ›Spracharbeit‹ im 17. Jahrhundert. Studien zu Georg Philipp Harsdörffer, Justus Georg Schottelius und Christian Gueintz, Berlin, New York 2000, S. 423, S. 425. Anders als Hundt, der die »Vermittlung einer kommunikativen Verhaltenskompetenz« insofern als eine die rhetorische übersteigende Bildung auffasst, da sie »nicht allein« das Inventar rhetorischer Techniken beinhalte, sondern »in umfassenderer Weise auf das Wissen um die situations- und textsortenadäquate Verwendung von Sprache« gerichtet sei, möchte ich darauf hinweisen, dass gerade dieses Wissen um ein situationsspezifisches decorum der Rhetorik inhärent ist.

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D[egenwert]: Der Geberden sind zweyerley; natürliche und erlernte/ oder zufällige. Die natürlichen sind unsres Leibs Ebenmaß zugeeignet; die erlernten/ werden von andern abgesehen/ oder von den Dantzmeistern gelehret/ und werden nach den Sitten des Landes gerichtet. Der Mensch äffet einem andern unvermerkter Weise nach/ gleichwie der Aff den Menschen. […] Diesem nach sage ich/ daß die Geberden zwar mit uns geboren/ nachmals durch die Auferziehung geändert werden.127

Bemerkenswert ist, dass Degenwert den erlernbaren Gebärden das weitaus größere Interesse entgegenbringt. Der Hinweis, die ›natürlichen‹ Gebärden seien auf des »Leibs Ebenmaß«, also die körperliche Symmetrie, zurückzuführen, lässt auf die rhetorische Provenienz dieser Unterscheidung zwischen ars und natura schließen. Auch in der alten Rhetorik wird ein wohlproportionierter, nicht verwachsener Körper als Grundvoraussetzung einer vollkommenen actio bestimmt, wohingegen alles Weitere einer umfassenden Ausbildung zu verdanken ist. Was die erlernbaren Gebärden betrifft, stellt Degenwert drei Techniken vor, sich diese anzueignen: die imitatio, durch die Gestik (und Mimik) sowohl intentional ›von anderen abgesehen‹ als auch nicht-intentional ›unvermerkt nachgeäfft‹ werden kann, die körperliche Einübung einer angemessenen actio durch den Tanzmeister128 sowie die Anpassung an regionale Konventionen. Es ist eine weibliche Figur, Julia, die die Relevanz der imitatio für die Aneignung einer angemessenen actio betont: Was wir nun vermeinen/ das einem andern wol anstehet/ das thun wir nach: und wie man eine Sprache durch die Übung leichter lernet/ als durch die Lehrsätze und Regeln: also lernen wir auch von denen/ mit welchen wir umgehen/ gute oder böse Sitten/ wanngleich kein mündlicher Unterricht darzukommet.129

Damit erscheint eine angemessen wirkende actio als ein Projekt der Selbstarbeit, das auch von der Frau ohne den Zugang zu einem institutionalisierten Rhetorikunterricht unternommen werden kann, da ihr sowohl die imitatio in gemischtgeschlechtlichen Gesprächsrunden möglich als auch der Tanzunterricht zugänglich ist. Im geselligen Umgang, das heißt in einer das höfliche Auftreten umfassenden Gesprächssituation, bildet sich die Frau, orientiert an gesellschaftlichen Vorbildern und Konventionen, – auch in körperlicher Hinsicht – selbst. Die Übung der imitatio scheint dabei sowohl ein intentionales Moment zu beinhalten, indem aufgrund eines Meinungsbildungsprozesses eine bestimmte actio nachgeahmt wird, als auch ein nicht-intentionales Moment, indem die Übung keinen explizit gemachten Regeln folgt. Dass dieser Selbstentwurf auf eine spezifisch weibliche Weise erfolgen sollte, wird – anders als bei Castiglione – in den Frauenzimmer Gesprächspielen nicht explizit. Welche Gebärden als »gute oder böse Sitten«, also angemessen oder unangemessen gelten, wird nicht wie in der alten Rhetorik aufgezählt und bewer-

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Harsdörffer, Frauenzimmer Gesprächspiele, VII, S. 394. Vgl. zu Rhetorik und Tanz: Kapitel IV.5.5 (Körperübungen für körperlichen Anstand). Harsdörffer, Frauenzimmer Gesprächspiele, VII, S. 393.

tet. Julia antwortet auf die Frage nach der Angemessenheit der actio, dasjenige sei »wol- und übelständig/ was uns also zu seyn bedunket« – in verschiedenen Ländern herrschten verschiedene Sitten und verschiedene Individuen hätten verschiedene Vorlieben.130 Obwohl auch universell gültige Grenzen gesetzt werden – niemals kann beispielsweise ein Schulterzucken gefallen –, erscheint der in ›Angesicht, Stimm und Geberden‹ sichtbare Anstand als eine konventionell beziehungsweise individuell zu lösende Aufgabe, die zudem nicht für die Geschlechter separat ausformuliert wird.131 Die Relevanz von praktischen Übungen gerade für die Ausbildung der actio lässt sich anhand des dem fünften Teil angehängten ›Freudenspiels‹ über »Die Redkunst«132 illustrieren. In dem Stück, das alle Bereiche der officia-Rhetorik sinnbildlich lehren will, darunter auch die actio, treten Figuren mit sprechenden Namen auf: Die Figur Sittraut, eine unschuldig verurteilte Ehegattin, verkörpert die actio – sie wird »genennt/ als ob sie ihren Sitten trauet«. Sittraut hat zwei Kinder, die für den sicht- und den hörbaren Teil der actio stehen: Siegstab, »dann die Stimme Siegreich ist« und Handnod, »die nothwendige Hand«. Kurioser noch ist allerdings der Name des Landes, in dem Sittraut ihre Kinder auf- und erzieht: Übland oder Übungsland – »[d]ann die Redkunst ohne Übung eine tode und leblose Sach ist«.133 Während die anderen officia nicht explizit der Übung, der exercitatio, bedürfen, ist es gerade die actio (dargestellt in Form der Familie von Sittraut, Siegreich und Handnod), die sich notwendigerweise auf diesem Feld beweisen muss. ›Übung‹ und ›Anleitung‹ sind zentrale Begriffe in den Harsdörffer’schen Gesprächspielen. Nicht zuletzt sind die Frauenzimmer Gesprächspiele selbst mit einer Anleitung zur Nachahmung, mit einer Aufforderung zur imitatio versehen. Wie der Mann und die Frau zu sprechen haben, ist nicht nur Gesprächsgegenstand. Die Gesprächspiele beinhalten den Imperativ, spielend zu lernen und im nachahmenden Gesprächspiel selbst rhetorische Kompetenzen zu erwerben und einzuüben. Diese – im Vergleich zu Castigliones Cortegiano neue – Appellstruktur wird in einer Leseranrede Harsdörffers im ersten Teil der Gesprächspiele sichtbar. Harsdörffer schreibt, daß ich allein Anleitung geben wollen/ und den Weg weisen/ wie bey Ehr- und Tugendliebenden Gesellschaften freund- und fruchtbarliche Gespreche aufzubringen/ und nach Beschaffenheit aus eines jeden Sinnreichen Vermögen fortzusetzen. Eingedenk/ daß gute Gesprech gute Sitten erhalten und handhabe/ gleichwie böse selbe verderben. Sprichst du/ solche Kurtzweil ist deutschem Frauenzimmer zu schwer/ ungewont und verdrieslich: So bitt Ich/ du wollest von derselben hohen Verstand nicht urtheilen: son-

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Harsdörffer, Frauenzimmer Gesprächspiele, VII, S. 393f. Eine bestimmte actio wird als grundsätzlich falsch bezeichnet: »Ungestalte Geberden/ als da sind/ das Haubt krümmen/ die Achsel zu jedem Wort einziehen/ andern in die Rede fallen/ &c. kan niemals für höflich gehalten werden«. Harsdörffer, Frauenzimmer Gesprächspiele, VII, S. 393f. Harsdörffer, Frauenzimmer Gesprächspiele, V, S. 326–443. Harsdörffer, Frauenzimmer Gesprächspiele, V, S. 408.

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dern bedenken/ was jederzeit für übertreffliches und Tugendberühmtes Frauenvolk in allen Historien belobet/ und noch heut zu Tag aller Orten sich befindet.134

Als kontinuierliche Übung können die Gesprächspiele als ein Bildungsprozess verstanden werden, in dem auch ungeübte Frauen Gesprächsrhetorik sukzessive einüben. Gerade den weiblichen Figuren wird wiederholt in den Mund gelegt, dass es sich um einen Prozess, eine zeitliche Entwicklung handele – und damit das Argument entkräftet, dass Frauen aufgrund ihrer geringeren Bildung oder intellektuellen Fähigkeiten nicht dazu in der Lage seien, an den Gesprächen teilzunehmen. So wird in einer Unterhaltung über die nötigen Fähigkeiten der Teilnehmer/innen von Gesprächspielen festgehalten, dass neben Verstand, Allgemeinbildung, Lehr- oder Lernbegierde auch noch, wie Julia sagt, »die natürliche Fähigkeit/ alles leichtlich zu fassen/ zu verstehen und zu beantworten« vonnöten sei. Allerdings setzt sie dieser potentiell exklusiven Erklärung sogleich hinzu: »Mit denen/ welche solche Beschaffenheit nicht haben/ kan man sich gedulten/ und zu dem Anfang mit leichten Spielen/ üben; Dardurch sie nach und nach sich in die schweren werden schikken lernen.«135 Das Verständnis der Gesprächspiele als Bildungsprozess – nicht als Bühne zur Darbietung rhetorischer Meisterleistungen von gebildeten Adeligen wie in Castigliones Cortegiano – deutet auf eine Konzeption derselben als invitatorische Gespräche hin. Es geht, hierin wiederholt sich Harsdöffer mehrfach, darum, solche Spiele zu finden, die von der heterogenen Gesellschaft »einmütig« angenommen werden.136 Alle Teilnehmer/innen sollen idealerweise von ihrem Bildungsgrad her in der Lage sein, an dem Gespräch teilzunehmen, und alle sollen sich dafür interessieren. »Kunst und Glück« bedürfe es, stellt Julia fest, ein Gesprächsspiel zu finden, das »von einmütiger Gesellschaft« akzeptiert werde.137 Bei Gesprächspielen geht es gerade nicht wie in der alten Rhetorik um eine agonale Vertretung der eigenen Interessen (oder der des Klienten), sondern um eine invitatorische Rhetorik, die möglichst alle in der Gesprächsrunde einbezieht, gleich über welche individuellen Vorlieben und welche Bildung sie verfügen. Das ist der Grund, warum die Gesprächrhetorik auch der weniger gebildeten Frau offen steht. Der Unterschied einer auf die delectatio abzielenden, invitatorischen Gesprächsrhetorik und einer auf die

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Harsdörffer, Frauenzimmer Gesprächspiele, I, unpag. Vorbericht [S. 17]. Harsdörffer, Frauenzimmer Gesprächspiele, VIII, S. 41f. Die ›Einmütigkeit‹ wird wiederholt betont, vgl. u. a. Harsdörffer, Frauenzimmer Gesprächspiele, I, S. 150; III, S. 135. Harsdörffer, Frauenzimmer Gesprächspiele, III, S. 135. Als ideales Beispiel für eine solche gemeinnützige Spiele-Findung wird Emilia Pias Gesprächsspiel aus Castigliones Hofmann herangezogen: »V[espasian]: Zu solchem Ende hat Balthasar Castiglion fürgeschlagen/ daß alle/ so Gesprächspiele auf die Bahn bringen können und wollen/ absonderlich ihre Erfindungen sagen/ die andern aber eines oder mehr auß besagten wehlen sollten.« Harsdörffer, Frauenzimmer Gesprächspiele, III, S. 136.

affektive und persuasive Wirkung zielenden ›großen Rede‹ lässt sich vor der Folie von Johann Matthäus Meyfarts Teutsche Rhetorica oder Redekunst (1634) ersehen: Die Rhetorica ist ein Kunst, von einem vorgesetzten Ding zierlich zureden/ und künstlich zuuberreden. Es heisset aber zierlich reden/ nicht mit lustigem Gethön die Ohren füllen/ sondern mit weisen/ scharffen und durchdringenden Machtansprüchen: auch mit außerlesenen/ zu der Sach dienlichen und heilsamen Worten reden: und zwar also reden/ daß die jenigen/ an welche die Rede geschickt/ nach Gelegenheit der Zeit/ sittiglich und gewaltiglich uberredet werden.138

Im Gegensatz zu Reden geht es in Gesprächspielen nicht darum, Wissen einzusetzen, um zu überreden und dadurch Macht über die Überredeten zu gewinnen. Im Gegensatz zu Lehrdialogen geht es auch nicht darum, ein bestimmtes Wissen zielgerichtet zu vermitteln oder die Wahrheit zu finden. Vielmehr dient die Wissensvermittlung in Harsdörffers Gesprächspielen vornehmlich der Unterhaltung. Der Einbeziehung von Frauen schreibt Rosmarie Zeller dabei eine strategische Funktion für die Vermittlung von Wissen an ein Publikum zu, das weder Latein beherrscht noch wissenschaftliche Ansprüche stellt: »Die Einwürfe der Frauen, das Spiel sei zu schwer, sollten nicht als Abwertung, sondern als Vermittlungsstrategie gesehen werden.«139 Wenn sich beispielsweise Julia oder Angelica gegen den Gebrauch von Fremdwörtern wehrten, so zeuge dies nicht von Unbildung, sondern sie nähmen die richtige Position gegenüber pedantischen ›Schulfüchsen‹ ein. Sie dienten Harsdörffer dazu, die Grenzen des mittleren Maßes zwischen Gelehrsamkeit und Unwissenheit abzustecken.

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Johann Matthäus Meyfart, Teutsche Rhetorica oder Redekunst [1634], hg. von Erich Trunz, Tübingen 1977, I, S. 59f. Meyfarts Redekunst bezieht sich nicht auf die gesellige Rede zwischen Männern und Frauen, sondern auf die Rede des männlichen Gelehrten, Feldherrn, Fürsten oder Predigers. Die actio nimmt in Meyfarts Redekunst eine besonders relevante Rolle ein, teilt er doch die Rhetorik nicht in die klassischen fünf officia, sondern nur in zwei Teile, von denen allerdings der erste einen ungleich größeren Raum einnimmt: die Elocution (Tropen und Figuren) und die Pronunciation (Stimme und Gebärden). Was die Stimme betrifft, wiederholt Meyfart die aus der antiken Rhetorik bekannte geschlechtliche Konnotation des Ideals: »Eine zur Sattsamkeit/ nicht zum Exceß/ volle Stimm stehet Mannlich/ und bringet ein wackeres Ansehen: Dargegen eine leise/ zarte und weibische Stimme verräth einen Memmen.« (II, S. 15) Was die Gestik betrifft, so ist eine Verschiebung der geschlechtlichen Konnotationen zu erkennen – die antiken detaillierten Regeln für die Bewegungen der Finger haben ihre Gültigkeit verloren und erscheinen nun nicht nur übertrieben und »erfunden«, sondern auch geschlechtlich uneindeutig: »Ist aber etwas/ an welchen so wohl ein beredter Mann/ als weibischer Memme zuspüren/ so seyn es die Finger.« Meyfart zählt die Bedeutung einiger antiker Fingerhaltungen auf und fügt ablehnend hinzu: »Wer will/ mag diese besagte weibische Stücke glauben und seyn Heyl versuchen.« (II, S. 50) Zeller, Die Rolle der Frau im Gesprächspiel und in der Konversation, S. 535f. Die Rolle, allzu wissenschaftliche, ›pedantische‹ Ausführungen zu verhindern, kommt der Frau bereits in Castigliones Cortegiano zu, wie Zeller richtig bemerkt.

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Es ist die invitatorische Haltung, die ungebildete junge Menschen und eben auch Frauen einbezieht und auf die prozessuale Macht der Übung vertraut, die Harsdörffers Frauenzimmer Gesprächspiele auszeichnet. Die damit letztlich entworfene kulturelle Vision einer sich peu à peu konstituierenden Bildungsgleichheit und damit einhergehenden rhetorischen Ermächtigung von Frauen hat sich im historischen Rückblick jedoch nicht durchsetzen können.140 Aufgrund der vergleichsweise hohen Auflagen ist dennoch davon auszugehen, dass Harsdörffers Frauenzimmer Gesprächspiele in Deutschland einen gewissen Einfluss genommen haben. Dazu kommt, so Petra Dollinger, dass Harsdörffers und ähnliche Gesprächspiele in modifizierter Form bis ins frühe 20. Jahrhundert in ›preziösen‹ Salons anzutreffen waren.141 Zwar entstand der erste deutschsprachige musikalisch-literarische Salon im kriegserschütterten, zersplitterten Deutschland erst rund achtzig Jahre nach der Veröffentlichung der Frauenzimmer Gesprächspiele – 1723 von Christiane Mariane von Ziegler gegründet –, jedoch liest Dollinger die Frauenzimmer Gesprächspiele mit Recht als vorbildhaften »gedruckten Salon«, dessen Spielarten ebenso wie die damit zusammenhängende Bildungsfunktion sich in der Folgezeit modifizierten. Als in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, nicht zufällig fast gleichzeitig mit dem Aufblühen der deutschen Nationalliteratur, eine breitgestreute Salonkultur in Deutschland entstand, wurden die formalen rhetorischen und moralisierenden Sprachspiele, wie sie Harsdörffer propagiert hatte, nicht mehr als befriedigend empfunden. Im Mittelpunkt stand nun die Lektüre, standen Gesprächsspiele über Literatur. […] Aus Sprachspielen wurden literarische Interpretationsspiele, die Gespräche dienten der geistigen, seelischen Vervollkommnung.142

Nun wurde nicht mehr nur Höflichkeit und gewandte Sprache, sondern zunehmend Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit, Charakterfestigkeit und Aufrichtigkeit verlangt, damit dienten die Spiele »letztlich der Bildung der Persönlichkeitskultur«.143 Frauen ergreifen die Möglichkeit, sich im Umgang mit Menschen zu bilden, wie sich Männer durch das Studium der Wissenschaften bildeten. Dollinger stellt dar, wie der ›gedruckte Salon‹ Harsdörffers im 18. Jahrhundert zu einem weit verbreiteten geselligen Salonleben in Deutschland führte und schließlich in der Spätzeit der Salons und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als die Salons allmählich ausstarben,

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Rosmarie Zeller weist darauf hin, dass sich in Deutschland trotz des Publikumserfolgs der Frauenzimmer Gesprächspiele keine den französischen Preziösen ähnliche Bewegung entwickelt hat, in der erstmals Frauen (wie Madeleine de Scudéry) selbst als Vertreterinnen der Frauenbildung und Theoretikerinnen der Konversation hervortraten. Rosemarie Zeller, Die Bewegung der Preziösen und die Frauenbildung im 17. Jahrhundert. In: Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert, hg. von August Buck, Hamburg 1981, S. 457–465. Petra Dollinger, ›Frauenzimmer-Gesprächspiele‹. Salonkultur zwischen Literatur und Gesellschaftsspiel, München 1996, S. 8. Dollinger, ›Frauenzimmer-Gesprächspiele‹, S. 11. Dollinger, ›Frauenzimmer-Gesprächspiele‹, S. 14.

wieder zu – von Salonnièren verfassten und im ›Plauderton‹ gehaltenen – Anstandsbüchern in gedruckter Form zurückfand. Nun übernehmen die ›Salonschilderungen‹ in Anstandsbüchern eine didaktische Funktion. Während die Salonkultur, trotz ihrer Relevanz als ausgewiesener Ort der weiblichen Rede, mit dem Hinweis auf die bestehende Forschungsliteratur144 in dieser Arbeit ausgeklammert bleibt, soll auf die um 1800 entstehenden Anstandsbücher als ›gedruckter Salon‹ mit Nachdruck hingewiesen werden. Dass in diesen Anstandsbüchern keineswegs nur auf die ›geistige Vervollkommnung‹ geachtet wird, sondern ganz im Gegenteil die geschlechtsspezifische, angemessene actio im geselligen Gespräch wieder einen maßgeblichen Platz einnehmen wird, bleibt noch zu zeigen.145

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Renate Baader, Dames de lettres: Autorinnen der preziösen, hocharistokratischen und ›modernen‹ Salons (1649–1698): Mlle de Scudéry – Mlle de Montpenser – Mme d’Aulnoy, Stuttgart 1986; Astrid Köhler, Salonkultur im klassischen Weimar. Geselligkeit als Lebensform und literarisches Konzept, Stuttgart 1996; Brunhilde Wehinger, Conversation um 1800. Salonkultur und literarische Autorschaft bei Germaine de Staël, Berlin 2002; Verena von der Heyden-Rynsch, Europäische Salons. Höhepunkte einer versunkenen weiblichen Kultur, Darmstadt 1992; Petra Wilhelmy-Dollinger, Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert (1780–1914), Berlin 1989. Vgl. Kapitel IV.5.

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IV

Ansehen von Weiblichkeit: actio und Geschlechterdifferenz im 18. Jahrhundert

IV.1 Einleitung IV.1.1 Fragestellung und Vorgehen Die zentrale Relevanz des 18. Jahrhunderts für eine Untersuchung von actio und Geschlecht beruht auf der Annahme, dass im 18. Jahrhundert etwas geschieht, das im Hinblick auf eine geschlechtsspezifische actio neu ist und Folgen bis ins 20. Jahrhundert haben wird. Gemeint ist zum einen die tiefgreifende Transformation der Rhetorik im späten 18. Jahrhundert, die als ›Ende der Rhetorik‹ diskutiert wurde, und zum anderen die Herausbildung polarer Geschlechtscharaktere. Anhand exemplarischer Lektüren werde ich zeigen, wie die rhetorische actio-Lehre im Verlauf des 18. Jahrhunderts in verschiedene Textsorten eingeht und – während sich die traditionelle System-Rhetorik und die neuen eigenständigen actio-Rhetoriken weiterhin geschlechtsneutral entwerfen – in Anstands- und Erziehungstexten ›Geschlecht‹ in einem bemerkenswerten Umfang verhandelt und in die Ausformulierung geschlechtsspezifischer actio-Modelle einbezogen wird. Diese Texte leiten, wie gezeigt werden soll, zur Einübung geschlechtsspezifischer Praktiken des Auftretens und Redens vor Publikum an – mit dem Hinweis auf eine kontinuierliche gesellschaftliche Sichtbarkeit, in der die angemessene Performanz als Frau und als Mann keineswegs ausschließlich den neuen Leitwerten des 18. Jahrhunderts, der ›Authentizität‹ und der ›Natürlichkeit‹ folgt, sondern ebenso als rhetorisch-wirkungsorientierte Leistung erscheint. ›Natur‹ ist das neue Schlagwort dieses Jahrhunderts. Während Natürlichkeit von der Antike bis zum 17. Jahrhundert vor allem aus dem Verbergen der rhetorischen Kunst, einer wiederum hochrhetorischen dissimulatio artis, entstand und als ein der Glaubwürdigkeit dienendes Wirkungskriterium verhandelt wurde, avanciert die ›Natur‹ im 18. Jahrhundert zur »zentralen Autoritätsinstanz«, vor der sich jedwedes Sprechen und Verhalten rechtfertigen muss.1 Der Idealisierung einer ›natürlichen‹ Kommunikation fällt, so die These vom ›Ende der Rhetorik‹, die nun als ›unnatürlich‹ kritisierte Rhetorik zum Opfer. ›Natur‹ ist zugleich diejenige Seite der sich ausdifferenzierenden Dichotomie Kultur/Natur, die der Frau zugeordnet wird,

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Vgl. Beetz, Die Körpersprache im Wandel der deutschen Rhetorik vom 17. zum 18. Jahrhundert, S. 56.

im Gegensatz zum Mann, der der Kultur verpflichtet wird. Die Geschlechterideologie des späten 18. Jahrhunderts, die in einer Vielzahl von Texten die Dichotomie Mann/Kultur/Vernunft/Öffentlichkeit und Frau/Natur/Gefühl/Privatheit ontologisch zu begründen versucht, hat Folgen für ein Nachdenken über Rhetorik und Geschlecht. »Was sie auch tun mag, man fühlt, daß sie in der Öffentlichkeit nicht an ihrem Platz ist«, schreibt Jean-Jacques Rousseau über die Frau im Allgemeinen und die öffentlich das Wort ergreifende Schauspielerin im Besonderen.2 Eine Frau, die (zumal als Rednerin) in der Öffentlichkeit auftrete, verstoße gegen ihre eigene Natur. Während schon Schriftstellerinnen, Journalistinnen oder Herausgeberinnen von Frauenzeitschriften, die im 18. Jahrhundert mit ihren Publikationen ›sichtbar‹ werden, in Widerspruch zu ihrer ›häuslichen Bestimmung‹ geraten und sich genötigt sehen, ihre öffentliche Wortergreifung zu rechtfertigen, gelten für die als Rednerin auftretende Frau verschärfte Bedingungen: Sie wird tatsächlich mit ihrem geschlechtlichen Körper sichtbar. Sie stellt sich zur Schau, zieht Blicke auf sich und ›veröffentlicht‹ ihren Körper. Die sich als Rednerin zeigende Frau wird nicht nur topisch mit der ›öffentlichen Frau‹, der Prostituierten, gleichgesetzt, sondern sie verstößt auch gegen die ihr naturhaft zugeordnete Kardinalstugend der Bescheidenheit, die ein öffentliches Auftreten der Frau per se, so Rousseau, als »unschicklich«3 ausweist. Die in der Geschlechterideologie des 18. Jahrhunderts geforderte natürliche Herzenssprache, häusliche Gebundenheit und schamhafte Bescheidenheit verbieten, so scheint es auf den ersten Blick, der Frau jeglichen Redeauftritt in der Öffentlichkeit. Neue Forschungspositionen Will man nicht nur den Ausschluss von Frauen aus der Rhetorik in den Blick bekommen, sondern auch nach ihrer diskursiven Einbeziehung, ihrer rhetorischen Bildung, ihren rhetorischen Strategien fragen, ergibt sich eine andere Blickrichtung. Zum einen richtet sich das Interesse auf die Rede in einer ›Halböffentlichkeit‹, den gesellschaftlichen Zusammenkünften in häuslicher Umgebung, die im ›geselligen Jahrhundert‹ einen hohen Stellenwert für die Konstitution der Aufklärung hatten. Während die einseitige Erforschung von Rhetorik als öffentlicher Rede den Fokus auf Institutionen wie Katheder, Kanzel, Akademien, Logen und Gesellschaften gerichtet hat, zu denen Frauen implizit oder explizit keinen Zugang hatten, betont die aktuelle gender-orientierte Forschung heute die große Bedeutung der für das späte 18. Jahrhundert spezifischen Geselligkeit als ›Semiöffentlichkeit‹ – und zwar nicht nur der institutionalisierten aufklärerischen Gesellschaften und 2

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Jean-Jacques Rousseau, Brief an Herrn d’Alembert über seinen Artikel ›Genf‹ im VII. Band der Enzyklopädie und insbesondere über den Plan, ein Schauspielhaus in dieser Stadt zu errichten (1758). In: Rousseau, Schriften, hg. von Henning Ritter, Bd. 1, München, Wien 1978, S. 333–474, S. 423. Rousseau, Brief an Herrn d’Alembert, S. 423, vgl. S. 418.

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Vereine, sondern gerade auch der informellen Kreise. 4 Indem ich das gesellige Gespräch als rhetorische Situation werte, kommen die hier einbezogenen Frauen in den Blick. Damit knüpfe ich an neuere Forschungspositionen an, die eine strikte Trennung von ›öffentlich‹ und ›privat‹ im 18. Jahrhundert kritisieren und die damit verbundenen geschlechtlichen Codierungen hinterfragen (1.3 und 1.4). Des Weiteren wird durch die Erschließung neuen Quellenmaterials die Analyse nicht auf systematische Rhetoriken begrenzt, sondern ich befrage solche ›Gebrauchstexte‹, die eine Aussage darüber treffen, wie die Frau sich auf eine wirkungsorientierte Weise zeigen sollte – wie etwa Frauenzimmer-Lexika, Rhetoriken für Frauen, Anstandslehren, Moralische Wochenschriften, Erziehungsbücher und Tanzlehren. Erkenntnisleitend ist ein Perspektivenwechsel in der historischen Geschlechterforschung zum 18. Jahrhundert, die nicht mehr vorrangig nach dem Ausschluss der Frau aus ›Öffentlichkeit‹, Bildung und Geselligkeit fragt, sondern Strategien der Aneignung in den Mittelpunkt stellt.5 Gerade in Bezug auf die Anstandsliteratur, die ab 1800

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Vgl. Brigitte Schnegg, Geschlechterkonstellationen in der Geselligkeit der Aufklärung. In: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, 52/1, 2002, S. 386–398. Schnegg schreibt, die Aufklärung als soziales Milieu konstituiere sich »primär im gesellschaftlichen Nahbereich der ›privaten‹, informellen Beziehungs- und Freundschaftsnetze. Hier entstanden die Voraussetzungen für die Bildung von formalisierten geselligen Strukturen, von Gesellschaften und Vereinen.« (S. 390) Schnegg kritisiert die einseitige Ausrichtung der Geselligkeitsforschung zum 18. Jahrhundert auf institutionalisierte Formen der Geselligkeit, die eine rein männliche Vorstellung der Aufklärung ergäbe. Die quantitativ ebenso bedeutende informelle Geselligkeit sei dagegen in ihrer Bedeutung bislang unterschätzt worden. »Die weibliche Präsenz war im informellen Kontext ebenso verbreitet wie selbstverständlich. Frauen traten als Gastgeberinnen auf, sie partizipierten an gesellschaftlichen Anlässen, an Vorlese-, Theater- und Diskussionsabenden; sie waren Gesprächspartnerinnen und Freundinnen und beteiligten sich als Briefeschreiberinnen an der Kommunikation innerhalb der aufgeklärten Öffentlichkeit.« (S. 390f.) Daraus ist keine simple Gleichsetzung von informeller Geselligkeit und weiblicher Partizipation abzuleiten. »Frauen waren auch in den informellen Formationen nicht immer anwesend und umgekehrt waren sie auch nicht von allen Sozietäten ausgeschlossen.« (S. 391). Obwohl Schnegg in den genannten Punkten zuzustimmen ist, möchte ich kurz auf die Problematik von Schneggs Begriff einer ›informellen‹ Geselligkeit hinweisen, die den Eindruck einer regellosen, familiären, umgangssprachlichen Kommunikation erweckt. Im Gegenteil ist die Konversation in geselligen Zusammenkünften, wie sie in Anstandsbüchern entworfen wird, eine hochreflektierte, geregelte und wirkungsorientierte Form der Rede. Vgl. Anne Fleig, Vom Ausschluß zur Aneignung. Neue Positionen der Geschlechterforschung zur Aufklärung. In: Das achtzehnte Jahrhundert, 26/1, 2002, S. 79–89. Fleig legt in ihrem konzisen Forschungsbericht dar, dass »sich die These vom Ausschluß der Frauen nicht selten als Sichtblende« erwiesen hat (S. 81), indem Normen und Werte mit Praktiken gleichgesetzt worden seien und Aussagen über die naturhafte Bestimmung der Geschlechter den Blick auf tatsächliche Handlungsräume verstellt hätten. Neuere Arbeiten vollzögen dagegen einen Perspektivenwechsel, der »eine differenziertere Untersuchung der Werke und Lebenswelten von Frauen zwischen Häuslichkeit und Öffentlichkeit, Theater, gebildeter Geselligkeit und höfischer Unterhaltungskultur ebenso

zunehmend von Autorinnen verfasst wird, lässt sich der für andere Genres konstatierte Befund belegen, dass Frauen sich in den herrschenden Diskurs einschreiben.6 Damit kann ich die Ergebnisse einer literaturwissenschaftlichen Gender- und Rhetorikforschung ergänzen, die aufgrund ihres Fokusses auf literarische Diskurse argumentiert, dass die ›natürlich‹ sprechende Frau im 18. Jahrhundert erneut aus der Rhetorik ausschlossen wird (1.2). Indem ich Quellen wie Anstandsbücher erschließe, die für eine rhetorische Körpererziehung eintreten, stehen Texte im Mittelpunkt, die keineswegs ein weibliches ›Natur-Sprechen‹ entwerfen, sondern die Frau als kunstgerechte Rednerin für gesellige Redesituationen ausbilden. Eben diese Texte sprechen auch gegen die These vom ›Ende der Rhetorik‹, das sowohl die literaturwissenschaftliche wie auch die rhetorikgeschichtliche Forschung lange behauptet hat.7 Zwar verwehrt sich die Rhetorikgeschichtsschreibung schon länger gegen eine starre Abgrenzung eines ›rhetorischen Zeitalters‹ vor 1750 und eines ›ästhetischen Zeitalters‹ nach 1750 mit dem Hinweis auf eine »Art rhetorischer Gegengeschichte im ästhetischen Zeitalter«8, und jüngere Forschungen sprechen nicht mehr vom ›Ende‹, sondern von ›Transformationen‹ der Rhetorik, jedoch bleiben hier in der Regel geschlechtsspezifische Fragestellungen unbeantwortet, die ich zentral stelle (1.2).9

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erlaubt wie zwischen Professionalisierung des Schreibens und weiblicher Bestimmung.« (S. 82) Fleigs Forschungsansätze zur Literaturgeschichtsschreibung kann ich auf die Rhetorikgeschichte übertragen. Ähnlich argumentieren: Julia Frindte, Siegrid Westphal, Handlungsspielräume von Frauen um 1800. In: Handlungsspielräume von Frauen um 1800, hg. von Frindte, Westphal, Heidelberg 2005, S. 3–16; Claudia Opitz, Ulrike Weckel, Einleitung. In: Ordnung, Politik und Geselligkeit der Geschlechter im 18. Jahrhundert, hg. von Opitz, Weckel, Göttingen 1998, S. 7–21; Claudia Opitz, Ulrike Weckel, Elke Kleinau, Einleitung. In: Tugend, Vernunft und Gefühl. Geschlechterdiskurse der Aufklärung und weibliche Lebenswelten, hg. von Opitz, Weckel, Kleinau, Münster u. a. 2000, S. 1–11. Ulrike Weckel, Zwischen Häuslichkeit und Öffentlichkeit. Die ersten deutschen Frauenzeitschriften im späten 18. Jahrhundert und ihr Publikum, Tübingen 1998, S. 13. »Von der deutschen Literaturgeschichte her scheint es sinnvoll, weiterhin in der Phase der Rhetorikkritik und -umschrift bis etwa 1740 das ›Ende der Rhetorik‹ mit dem Komplex ›Affekt-Ausdruck‹ als Schwellenkriterium zu sehen.« Rüdiger Campe, Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1990, S. 491. Helmut Schanze, Probleme einer ›Geschichte der Rhetorik‹. In: Perspektiven der Rhetorik, hg. von Wolfgang Haubrichs, Göttingen 1981, S. 13–23, S. 17, S. 21. Eine Publikation, die sich mit der actio im 18. Jahrhundert aus einer dezidiert rhetorischen und zugleich gender-orientierten Sicht beschäftigt, fehlt bislang. Dennoch können Anregungen aus anderen gender-orientierten Forschungsperspektiven aufgenommen werden: Vgl. die kunsthistorischen Beiträge von Ellen Spickernagel, Zur Anmut erzogen – Weibliche Körpersprache im 18. Jahrhundert. In: ›Wissen heißt leben…‹ Beiträge zur Bildungsgeschichte von Frauen im 18. und 19. Jahrhundert, hg. von Ilse Brehmer u. a., Düsseldorf 1983, S. 305–319, sowie von Ilsebill Barta, Der disziplinierte Körper. Bürgerliche Körpersprache und ihre geschlechtsspezifische Differenzierung am Ende des

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Genus: Geschlecht und Gattung Übergreifend stellt sich die Frage: Inwiefern gehen die im Verlauf des 18. Jahrhunderts ›erfundenen‹, ausbuchstabierten und festgeschriebenen Geschlechtscharaktere in die Darstellung der actio ein, inwiefern verbindet sich rhetorisches Wissen und Wissen von Geschlecht? Vor dem Hintergrund der paradigmatischen Veränderungen im 18. Jahrhundert frage ich danach, welche Rolle die Kategorie ›Geschlecht‹ in der Selbstdefinition der Rhetorik spielt und suche nach Spuren, ob und inwiefern weibliches Sprechen in die rhetorische (actio-)Theorie eingebunden wird und wo Zugänge zu einer rhetorischen Bildung für Frauen bestanden haben mögen. Im Vergleich zur alten Rhetorik hat sich die Bandbreite der rhetorischen Gattungen im 18. Jahrhundert erheblich erweitert. Nicht alle sind gleichermaßen für

18. Jahrhunderts. In: Frauen – Bilder – Männer – Mythen. Kunsthistorische Beiträge, hg. von Barta u. a., Berlin 1987, S. 84–106. Vgl. die sozialhistorischen Beiträge von Ulrike Döcker, Die Ordnung der bürgerlichen Welt. Verhaltensideale und soziale Praktiken im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M., New York 1994, sowie Kirsten O. Frieling, Ausdruck macht Eindruck: Bürgerliche Körperpraktiken in sozialer Kommunikation um 1800, Frankfurt a. M. 2003. Vgl. den kulturhistorischen Beitrag von Johanna Schulz, ›Bei dem Gange gehörig gerade.‹ Zur Ambivalenz des Haltungsideals für Bürgerinnen. In: Der aufrechte Gang. Zur Symbolik einer Körperhaltung, hg. von Bernd Jürgen Warneken, Tübingen 1990, S. 24–34. Vgl. den volkskundlichen Beitrag von Esther Schönmann, Es allen recht machen, sich selbst vergessen. Einübung weiblicher Verhaltensweisen in Anstandsbüchern vor 1930. In: Jahrbuch für Volkskunde, 13, 1990, S. 75–88. Vgl. den kurzen diskursanalytischen Aufsatz von Sigrid Schade, ›Anmut‹: weder Natur noch Kunst. Zur Formation einer Körpersprache im 18. Jahrhundert. In: Anschlüsse. Versuche nach Michel Foucault, hg. von Gesa Dane u. a., Tübingen 1985, S. 69–79. Während diese gender-orientierten Ansätze zur Körpersprache die rhetorische Tradition der actio und das männlich codierte oratorische Redner-Ideal unberücksichtigt lassen, fragen die rhetorikwissenschaftlichen Beiträge zur actio nicht nach der Kategorie ›Geschlecht‹: So erwähnt Manfred Beetz in seinem instruktiven Artikel zwar Differenzkriterien wie Stand und Alter in ihrer Bedeutung für die im 18. Jahrhundert extrem ausdifferenzierte actio, reflektiert jedoch mit keinem Wort, daß ›die Körpersprache im Wandel der deutschen Rhetorik vom 17. zum 18. Jahrhundert‹ eben nur diejenige des männlichen Redners ist. Vgl. Beetz, Die Körpersprache im Wandel der deutschen Rhetorik vom 17. zum 18. Jahrhundert. Sich ihres Ausschlusses bewusst sind immerhin Volker Saftien und Franz-Hubert Robling: Saftien schließt seine ansonsten gender-›neutrale‹ Skizze einer Epochengeschichte der actio mit der Bemerkung, dass weitere Forschungen »auch noch mehr schichtenspezifisch, geschlechtsspezifisch und altersspezifisch differenzieren könnte[n]« (S. 215), und Robling nimmt explizit nur ein männliches Rednerideal in der Zeit um 1800 in den Blick: Aus »Platzgründen« »[u]nterbleiben muß auch eine Behandlung der Rednerin« (S. 2). Vgl. Volker Saftien, Rhetorische Mimik und Gestik. Konturen epochenspezifischen Verhaltens. In: Archiv für Kulturgeschichte, 77, 1995, S. 197–216; Franz-Hubert Robling, Aspekte des Rednerideals in der Zeit um 1800. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch, 20, 2001, S. 1–17. Auch in seiner umfangreichen Studie zum Rednerideal findet Robling keinen Platz für die Rednerin – abgesehen von einem fünfseitigen Exkurs, vgl. Robling, Redner und Rhetorik. Studie zur Begriffs- und Ideengeschichte des Rednerideals, S. 141–146.

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eine gender-orientierte Untersuchung von actio-Modellen geeignet. Die Rhetorik wurde seit ihren Anfängen stetig neuen Zielsetzungen und Aufgaben angepasst, um für spezifische Redesituationen wirkungsorientierte Verhaltensmuster anbieten zu können, was sich seit der Frühen Neuzeit in einem sich beschleunigenden Prozess der Ausdifferenzierung der rhetorischen Gattungen niederschlägt. Die politische Entscheidungsrede ist in den deutschsprachigen Rhetoriken des 18. Jahrhunderts kaum noch vertreten, die juristische Rede gänzlich verschwunden, da in der ständischen Gesellschaft des territorialstaatlichen Absolutismus die klassischen Felder der öffentlichen Rede, Parlament und Gerichtshof fehlen.10 Nur die klassische Lobrede hat sich erhalten, daneben findet sich eine Vielzahl der Rhetorik verpflichteter Veröffentlichungen zur Homiletik, zur Epistolographie, zum Lehrvortrag und – mit einem Schwerpunkt auf der actio – zur Schauspielkunst und zur Konversation. Zwar ließe sich auch die Homiletik über Aussagen zu einer spezifisch männlichen Redner-Performanz auf der Kanzel befragen, aber es kann kaum von einem öffentlichen Auftreten von Frauen als Rednerinnen in der Kirche ausgegangen werden, weshalb ich zu dieser Gattung nur den kuriosen Umstand anmerken will, dass einige rare Predigttexte von Frauen im deutschsprachigen Raum veröffentlicht wurden.11

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Vgl. Ottmers, Rhetorik, S. 42; Peter Philipp Riedl, Öffentliche Rede in der Zeitenwende. Deutsche Literatur und Geschichte um 1800, Tübingen 1997, S. 2. Vgl. R. Roberts, Predigten von einem Frauenzimmer verfasset. Aus dem Englischen, Leipzig: Böhme, Bd. 1: 1775, Bd. 2: 1776, sowie dazu die Rezension von G. W. Petersen. In: Allgemeine deutsche Bibliothek, 29/2, 1776, S. 429–431. Die meisten Predigten in den beiden Bänden stammen nicht zufällig von einer Engländerin, Miss Roberts, übersetzt von einer Miss Dewerell, dazu kommen einige von einer deutschen Verfasserin, die – leider, wie der Rezensent anmerkt – anonym bleibt. Petersen fragt sich zunächst, ob es sich bei dem sensationellen Titel um eine Art ›Marketinggag‹ handele, ist die weibliche Autorschaft einer Predigt doch offenbar etwas höchst Ungewöhnliches und daher Aufsehen Erregendes. Dann fährt er mit der rhetorischen Frage fort: »Doch warum könnten sie [die Predigten] nicht aus einer weiblichen Feder geflossen seyn? Warum sollte nicht ein fähiges, geistreiches, empfindungsvolles Frauenzimmer, das die Bibel, das theologische Bücher und moralische Schriften gelesen, das die Welt kennt, und dem das moralische Herz kein unbekanntes Land ist, eine gute Predigt verfertigen können? Ja! Glauben wir behaupten zu können, und noch eine vernünftigere, erbaulichere, bessere als mancher [schulmeisterliche] Pastor […].« (S. 429) Ein solches Bild umfassender weiblicher Gelehrsamkeit kann im späten 18. Jahrhundert nicht bestehen bleiben ohne das Korrektiv größtmöglicher Bescheidenheit und den Hinweis auf die eigentliche Bestimmung der Frau. Der Rezensent zitiert daher aus der Vorrede: Die »Verfasserin hat aber bey Kenntnissen, mit denen vielleicht manche andre ihres Geschlechts würde zu schimmern suchen, nie etwas mehreres zu seyn sich beeifert, als eine folgsame Mutter, und eine treue und zärtliche Gattin, die in der Erfüllung ihrer Pflichten ihre Ehre, Glück und Freude sucht, auf den Ruhm der Talente des Geistes aber völlig Verzicht thut.« (S. 430) Vgl. zur Rhetorik der englischen Quäkerinnen: Jennifer Richards, Alison Thorne, Introduction. In: Rhetoric, Women and Politics in Early Modern England,

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Was die Epistolographie betrifft, so scheint diese gerade in Bezug auf die Kategorie ›Geschlecht‹ aufschlussreich. Der Brief ist im 18. Jahrhundert nicht nur das bürgerliche, sondern auch das weibliche Kommunikationsmittel schlechthin – er trägt maßgeblich zur Ausformulierung, Erprobung und Verbreitung der bürgerlichen Geschlechterideologie bei. Auch wenn im Brief der Körper an die Schrift gebunden wird, Busen beben und Tränen fließen, und auch wenn der Brief keineswegs nur ›schriftlich‹ und nur ›privat‹, sondern eingebunden in ein ›öffentliches‹ Tauschen und lautes Vorlesen ist, bleiben die dort getroffenen Aussagen über eine geschlechtsspezifische actio rar. Daher soll hier nur kurz auf die umfangreiche Forschungsliteratur zum Brief im 18. Jahrhundert verwiesen werden.12 Zugleich ist ein Forschungsbedarf in Hinblick auf die rhetorische Epistolographie und Geschlecht zu vermerken: Während ausführlich dargestellt wurde, wie die Entrhetorisierung des Briefes, seine Funktion als Medium einer scheinbar authentischen, entregelten und subjektiven Selbstaussprache und als Ideal einer ›natürlichen Schreibart‹ gerade die Frau zum Briefeschreiben zu prädestinieren scheinen, ist die Vielzahl der gleichzeitig erscheinenden Briefsteller dagegen kaum erforscht. »Paradoxerweise hat die Entrhetorisierung des Briefes nicht zum Verschwinden der Briefsteller geführt – im Gegenteil«13, schreibt Clemens Ottmers, und hinzuzufügen ist, dass die Epistolographie derjenige Bereich der Rhetorik ist, der die Frau am nachdrücklichsten einbezieht: mit einer bemerkenswerten Anzahl von Briefstellern speziell für Frauen.14

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hg. von Richards, Thorne, London, New York 2007, S. 1–24, 17f. und im selben Band Hilary Hinds, Embodied Rhetoric: Quaker Public Discourse in the 1650s, S. 191–211. Vgl. Beatrix Niemeyer, Der Brief als weibliches Bildungsmedium im 18. Jahrhundert. In: Geschichte der Frauen- und Mädchenbildung, Bd. 1: Vom Mittelalter bis zur Aufklärung, Frankfurt, hg. von Elke Kleinau, Claudia Opitz, New York 1996, S. 440–452; vgl. Anita Runge, Lieselotte Steinbrügge (Hg.), Die Frau im Dialog: Studien zu Theorie und Geschichte des Briefes, Stuttgart 1991. Vgl. einführend: Robert Vellusig, Schriftliche Gespräche. Briefkultur im 18. Jahrhundert, Wien, Köln, Weimar 2000 und Angelika Ebrecht, Regina Nörtemann, Herta Schwarz (Hg.), Brieftheorie des 18. Jahrhunderts. Texte, Kommentare, Essays, Stuttgart 1990. Ottmers, Rhetorik, S. 39. Vgl. folgende Briefsteller, die sich explizit und ausschließlich an ein weibliches Publikum wenden: August Bohse [Ps. Talander], Des Galanten Frauenzimmers Secretariat-Kunst […], Leipzig 1692 [Neuauflagen: 1696, 1703, 1710]; Christoph Ludwig Pfeiffer, Briefe für das Frauenzimmer, zur Nachahmung einer natürlichen reinen und aufgeweckten Schreibart wie auch zur Verbesserung der Sitten und des Wohlstandes, 2 Bde., Frankfurt, Leipzig 1758 [2. Aufl., Bamberg 1759]; Christian Gottlieb Steinberg, Kurze Anweisung für Frauenzimmer, regelmäßig zu schreiben, Breslau 1768 [2. Aufl., Breslau 1780]; Johann Christoph Rasche, Praktische Anweisung zu Briefen an Frauenzimmer, nebst beygefügten Muster, Nürnberg 1775; Anonym, Anweisung zum Briefwechsel des Frauenzimmers mit Frauenzimmern, Nürnberg 1777; Anonym, Anleitung zum Briefwechsel des Frauenzimmers mit Mannspersonen, Nürnberg 1777; Friedrich August Schröter, Teutsche Sprachlehre für das schöne Geschlecht, in Briefen. Nebst einem Anhang, die Einrichtung der Briefe betreffend, Erfurt 1789; [Heinrich August] K[erndörffe]r, Leipziger Briefsteller für Frauenzimmer als eine Anleitung zu einem guten, schriftlichen Vor-

Obwohl die sich im 18. Jahrhundert konstituierende Schauspieltheorie rhetorisches Wissen von der actio adaptiert und propagiert,15 wird der Redner umso nachdrücklicher von der fiktiven Rolle des Schauspielers unterschieden.16 Trotz des Wissens um die fließenden Übergänge zwischen Rede- und Schauspielkunst und der Präsenz von Frauen auf der Bühne soll diese Form der Rede nur am Rande erwähnt werden, stellt doch die Schauspielerin eine – bereits breit erforschte – Sonderfigur dar, deren Lebenswandel, Erwerbstätigkeit und öffentliches Auftreten einen ganz eigenen Diskurs motiviert hat.17 Hingewiesen werden soll nur auf eine oratorisch-theatralische Besonderheit: ›Redeauftritte‹ (im eigentlichen Sinne) von Schauspielerinnen. Verschiedene Reden zur Eröffnung und zum Schluss eines Theaters, einer Theatersaison oder eines Theaterabends, die von Schauspielerinnen vorgetragen wurden, sind aus dem 18. Jahrhundert erhalten. Üblicherweise wird in gebundener Rede zu Beginn einer Spielzeit an das Publikum plädiert, Stücke und Schauspieler mit Wohlwollen zu betrachten, und zum Ende einer Spielzeit dem Publikum Dank ausgesprochen. Bei diesen dem rhetorischen genus der Lob-

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trage in Briefen, Leipzig 1799. Die Liste ließe sich für das 19. Jahrhundert noch umfangreicher fortsetzen. Daneben existiert eine Vielzahl an Briefstellern, die dazu anleiten, Briefe an Frauen zu schreiben, sowie eine große Zahl an Briefstellern, die sich »an die Liebenden beiderlei Geschlechts« richten. Vgl. Joachim Dyck, Jutta Sandstede, Quellenbibliographie zur Rhetorik, Homiletik und Epistolographie des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum, Stuttgart, Bad Cannstatt 1996. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts bildet sich die Spielpraxis der Komödianten in der Auseinandersetzung mit der rhetorischen actio-Lehre zu einer eigenständigen Schauspielkunst. Vgl. Wolfgang F. Bender, Vom ›tollen Handwerk‹ zur Kunstübung. Zur ›Gramatik‹ der Schauspielkunst. In: Schauspielkunst im 18. Jahrhundert, hg. von Bender, Stuttgart 1992, S. 7–50. Alexander Košenina stellt die These auf, dass sich während des 18. Jahrhunderts die Auffassungen von der Körpersprache in den Bereichen der Rhetorik und Schauspielkunst massiv wandelt: »Während die älteren Lehrgebäude der Rhetorik und der politischen Verstellungskunst unter der Kritik der Aufklärung zunehmend verfallen, beginnt für die Schauspielkunst erst jetzt die entscheidende Phase ihrer theoretischen Grundlegung und Emanzipation. Es entsteht dabei die paradoxe Situation, dass die auf der Weltbühne öffentlich geschmähte Künstlichkeit auf dem Theater eingesetzt wird, um dort für das allgemein geforderte Ideal der Aufrichtigkeit und Natürlichkeit mit artifiziellen Mitteln zu werben. Erst nach dieser empfindsamen Läuterung beginnt man in der Weimarer Theaterästhetik die klassische Künstlichkeit wieder zu respektieren und schließlich programmatisch zu fordern. Die Grundparadoxie von Natürlichkeit und Verstellung wirkt also auf die Theorie der Schauspielkunst selbst zurück«. Košenina, Anthropologie und Schauspielkunst, S. 17. Beetz, Die Körpersprache im Wandel der deutschen Rhetorik vom 17. zum 18. Jahrhundert, S. 56. Vgl. Ursula Geitner (Hg.), Schauspielerinnen. Der theatralische Eintritt der Frau in die Moderne, Bielefeld 1988; Ortrud Gutjahr, Gesellschaftsfähigkeit und gesellige Rolle der Schauspielerin im 18. Jahrhundert. In: Gesellige Vernunft. Zur Kultur der literarischen Aufklärung. Festschrift für Wolfgang Mauser zum 65. Geburtstag, hg. von Gutjahr, Würzburg 1993, S. 83–109; Ruth B. Emde, Schauspielerinnen im Europa des 18. Jahrhunderts. Ihr Leben, ihre Schriften, ihr Publikum, Amsterdam, Atlanta 1997.

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rede zuzurechnenden Reden treten die Schauspielerinnen nicht in ihrer dramatischen Rollengestalt auf, sondern als ›sie selbst‹, etwa als Schauspielerin Madame Hensel, die mit ihrer Theatertruppe die Spielstätte an ihrem Geburtsort verlassen muss und darüber wirkungsvoll in Tränen zerfließt.18 Eine weitere Redesituation, in der sich Schauspielerinnen rhetorisch hervortun, ist die klassische Lobrede auf den Herrscher anlässlich von Geburtstagsfesten und Eröffnungen an den königlichen Theater- und Opernhäusern.19 Sowohl bei den Theaterreden als auch bei den Lobreden haben die Schauspielerinnen die Texte selten selbst verfasst – Produktion und Performanz der Rede fallen auseinander. Doch steht nicht der Autor der Texte im Vordergrund: Der Verfasser der Theaterreden wird überhaupt nicht oder nur in Fußnoten genannt und in den Drucklegungen der Lobreden treten der Dichter und die Sprecherin im Titel gleichberechtigt nebeneinander – ein Beleg für die eindrucksvolle Relevanz der actio. So können die Schauspielerinnen als die ersten ›bürgerlichen Rednerinnen‹ vor großem Publikum bezeichnet werden. Was die Formulierung von geschlechtsspezifischen actio-Modellen betrifft, so ist die letztgenannte rhetorische Gattung, die Konversation, am aussagekräftigsten und soll daher im Zentrum meiner Untersuchung zum 18. Jahrhundert stehen.20 18

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Vgl. Rede beym Schlusse des Theaters in Zelle, von Madame Hensel gehalten. Am 18. Decembr. 1769, o. O. o. J.; Zwey Epilogen gesprochen von Madame Hensel während des Aufenthalts der Hannöverischen Gesellschaft, Wetzlar: Georg Ernst Winkler 1771; Abschieds-Rede, gehalten von Madam Seyler, als sie ihr geliebtes Dresden verließ. Den 13den März 1777, Dresden: Hilschersche Buchhandlung 1777; Rede von Madame Ackermann gehalten in Dresden den 3. August 1783, bey der Bellomischen SchauspielerGesellschaft, o. O. o. J. Vgl. Rede zur Feier des allerhöchsten Geburtsfestes seiner Majestät des Königs Friedrich Wilhelm III. Gedichtet von May, und gesprochen im königlichen Opernhause von Madame Schroeck. Berlin, den 3. August 1827, o. O. o. J.; Rede zur Feier des allerhöchsten Geburtsfestes seiner Majestät des Königs Friedrich Wilhelm III. gedichtet von Herklots, und gesprochen auf dem Königl. Schloss-Theater zu Charlottenburg von Madame Wolff. Den 3. August 1827, o. O. o. J.; Rede, gedichtet von Friedrich Förster. Bei der Wieder-Eröffnung der Königlichen Theater gesprochen von der königlichen HofSchauspielerin Madame Crelinger im königlichen Schauspielhause am 25. Juni 1840, Berlin: L.W. Krause 1840. Zur Unterscheidung von Rhetorik, Poetik und Konversationskunst vgl. Claudia HennSchmölders, Ars conversationis. Zur Geschichte des sprachlichen Umgangs. In: arcadia. Zeitschrift für vergleichende Literaturwissenschaft, 10, 1975, S. 16–33 sowie Claudia Schmölders (Hg.), Die Kunst des Gesprächs. Texte zur Geschichte der europäischen Konversationstheorie, München 1979. Zur Unterscheidung von Rede und Gespräch in der antiken rhetorischen Theorie sowie zur Entwicklung einer eigenen Gesprächstheorie im 18. Jahrhundert und deren rhetorischen Anleihen vgl. Fauser, Das Gespräch im 18. Jahrhundert, S. 147–300, sowie dessen zusammenfassenden Überblick: Rhetorik, Gespräch, Geselligkeit: Deutsche Umgangsliteratur des 18. Jahrhunderts. In: Carleton Germanic Papers, 23, 1995, S. 21–42. Zur Problematik der Unterscheidung von Konversation, Diskurs, Gespräch und Dialog – weniger aus einem rhetorischen Blickwinkel, dafür mit aktuellen Literaturhinweisen – vgl. Rüdiger Schnell, Einleitung. In: Konversationskultur in der Vormoderne. Geschlechter im geselligen Gespräch, hg. von Schnell,

Dies liegt zum einen daran, dass Frauen an der bürgerlichen Unterhaltung nicht nur teilnehmen, sondern als unverzichtbare Gesprächspartnerinnen gelten, und zum anderen an der besonderen Relevanz der actio, die für die gesellige Gesprächssituation konstatiert wird. Die im Redeauftritt der Konversation zur Schau gestellte Körperbeherrschung dient als Ausweis bürgerlicher Bildungswilligkeit und als distinktive Praktik in der Binnendifferenzierung des Bürgertums ebenso wie zur Abgrenzung von der Adels- und zur Volkskultur.21 Mit der geselligen Konversation – hier nicht verstanden als alltägliches Gespräch, sondern als Zusammenfallen einer regelgeleiteten Unterhaltung und der nonverbalen Kunst des Umgangs mit dem Ziel der delectatio – vergrößert sich das Feld der Rhetorik im Zeichen aufklärerischer Geselligkeit über die bisherigen Gattungsgrenzen hinaus.22 Seit der Frühen Neuzeit, zu erinnern ist hier wieder an Baldesar Castigliones Il libro del Cortegiano (1528), ist das Gespräch Gegenstand der Rhetorik, einhergehend mit einer Aufwertung der actio.23 Wird die Wirkungsbezogenheit und Publikumsorientiertheit der Rede als ausschlaggebendes Moment einer ›rhetorischen Situation‹ verstanden, so lassen sich die nach den Regeln der Rhetorik-, Erziehungs- und Anstandsbücher konversierenden Frauen durchaus als ›Rednerinnen‹ bezeichnen, auch ohne eine (vollständige und systematische) rhetorische Bildung genossen zu haben oder eine officia-Systemrhetorik zu beherrschen.

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Köln, Weimar, Wien 2008, S. 1–30. Zum Dialog als Redeform im Unterschied zum Dialog als Redegattung in ihren spezifisch historischen Ausprägungen vgl. Klaus W. Hempfer, Zur Einführung. In: Der Dialog im Diskursfeld seiner Zeit. Von der Antike bis zur Aufklärung, hg. von Hempfer, Anita Traninger, Stuttgart 2010, S. 9–21. Vgl. Döcker, Die Ordnung der bürgerlichen Welt, S. 16f. Die Konversation ist wiederum vom Dialog zu unterscheiden, der einem zentralen Programmpunkt der Aufklärung dient, der Popularisierung von Wissen; vgl. Joachim Dyck, ›Rede, daß ich dich sehe.‹ Rhetorik im Deutschland des 18. Jahrhunderts. In: Von der Kunst der Rede und Beredsamkeit, hg. von Gert Ueding, Thomas Vogel, Tübingen 1998, S. 70–89, S. 79; vgl. Peter D. Krause, Vorwort des Herausgebers. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch, 20, 2001, S. vii-x, S. viii. Markus Fauser unterscheidet Gespräch (Dialog) und Konversation nach ihren widerstreitenden rhetorischen Wirkungszielen: docere und delectare. Dabei überwiege in der französisch beeinflussten Auffassung der idealen Konversation die delectatio, die aufgrund ihres schnellen Themenwechsels mit dem Ziel der Abwechslung den Raum für Lehrreiches begrenzt. Für manche deutsche Aufklärer dagegen habe das Lehrgespräch im Vordergrund gestanden: »Von Thomasius bis Garve wurde das ideale Gespräch der Aufklärung in der Diskussion gefunden, das ideale Ziel der Konversation, die delectatio, war Nebensache.« Fauser, Das Gespräch im 18. Jahrhundert, S. 180, vgl. S. 164ff. Von einer ausformulierten »Rhetorik des Gesprächs« in der Antike kann Markus Fauser zufolge nicht ausgegangen werden, im Gegenteil: »[E]ine eigenständige Theorie des Gesprächs fehlt, und das hat sicher dazu beigetragen, daß beide Formen nie zusammengesehen wurden, Rhetorik immer nur als eine Technik des öffentlichen Auftritts erschien.« Eine »Rhetorik des Gesprächs« sieht Fauser vielmehr mit Castigliones Hofmann begründet, dessen Konzeption rednerischer Geselligkeit vorbildhaft für die Lehrbücher des 18. Jahrhunderts geworden sei. Fauser, Das Gespräch im 18. Jahrhundert, S. 157, S. 162.

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Eben solche Rhetorik-, Erziehungs- und Anstandslehren, die das körperliche Auftreten von Rednern und Rednerinnen in geselligen Redesituationen be- und vorschreiben, nimmt meine Arbeit in diesem Kapitel in den Blick. Dabei ist es mir ein durchaus forschungspolitisches Anliegen, auch Erziehungs- und Anstandsbücher in der Tradition der Rhetoriklehre zu sehen, anstatt sie von der Rhetorik abzugrenzen. Aus einer gender-orientierten Perspektive erscheint es mir vielversprechender, die Grenzen der Rhetorik auszuweiten, anstatt sie einzuschränken. Mir ist bewusst, dass ich dabei eine Tradition konstruiere, wobei die Überführung des Wissens um die actio von der Rhetorik in die Erziehungs- und Anstandslehre keineswegs ohne Brüche und Transformationen vonstatten geht. Doch erst die Ausweitung der Grenzen der Rhetorik ermöglicht es, weibliche Rede im 18. Jahrhundert nicht als private, sondern als rhetorische zu perspektivieren und ebenso die Ausbildung zu dieser Rede gerade in ihrer Körperbezogenheit auf ihre rhetorischen Qualitäten zu untersuchen. Das Kapitel gliedert sich in vier Teile, denen jeweils ein Textkonvolut zugrunde liegt, das auf besondere Weise geschlechtsspezifisches Wissen über die actio vermittelt.24 Der erste Teil geht einführend auf Positionen der Frühaufklärung ein, die die Figur der Rednerin intelligibel machen: Frauenzimmerlexika und Reden (IV.2). Der zweite Teil (IV.3) fasst Texte zusammen, die der klassischen System-Rhetorik am nächsten stehen: Rhetoriken und actio-Abhandlungen. Im dritten Teil (IV.4) werden Texte verbunden, die – ebenso wie Rhetoriken und Anstandsbücher – mit einem pädagogischen Anspruch auftreten, jedoch in einem engeren Sinne zur Erziehungsliteratur zu rechnen sind. In größerem Umfang werden actio-Vorschriften für Frauen nicht in Rhetoriklehrbüchern oder Erziehungslehren, wie erwartet werden könnte, sondern in Sitten- und Anstandsbüchern formuliert, wie ich im letzten Teil (IV.5) zeige.

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Dabei soll auf die textsortenspezifische Konstruktion von ›Männlichkeit‹ und ›Weiblichkeit‹ hingewiesen werden: »Je nach Kommunikationsfunktion bzw. je nach Gebrauchsfunktion produziert ein Text andere Zuschreibungsmuster für Mann und Frau.« Rüdiger Schnell, Text und Geschlecht. Eine Einleitung. In: Text und Geschlecht. Mann und Frau in Eheschriften der frühen Neuzeit, hg. von Schnell, Frankfurt a. M. 1997, S. 9–46, S. 25. Vgl. Rüdiger Schnell, Frauendiskurs, Männerdiskurs, Ehediskurs: Textsorten und Geschlechterkonzepte in Mittelalter und Früher Neuzeit, Frankfurt a. M., New York 1998. Die Auswahl einiger Texte aus einer unüberschaubaren Fülle bleibt zwangsläufig subjektiv, zufällig und damit angreifbar. Ausgewählt wurden zeitgenössisch stark rezipierte Texte, in denen die actio verhandelt wird, ergänzt um solche weniger verbreiteten Texte, die aus einer gender-Perspektive besonders aussagekräftig erscheinen.

IV.1.2 Die actio in der Rhetorik des 18. Jahrhunderts Transformationen der Rhetorik Um Aussagen über die actio in der rhetorischen Kultur des 18. Jahrhunderts positionieren zu können, soll kurz auf die in der Rhetorik-Forschung kontrovers diskutierte Frage nach dem ›Ende der Rhetorik‹ eingegangen werden. Konsens ist, dass sich im 18. Jahrhundert ein tiefgreifender Wandel in der Rhetorik vollzogen hat. Dieser Wandel wurde in der älteren Forschung als Zusammenbruch, Verfall oder gar Ende der Rhetorik bezeichnet und auf das späte 18. Jahrhundert oder frühe 19. Jahrhundert datiert. Die Ursachen sind zahlreich und auf verschiedenen Ebenen angesiedelt, um mit Peter Krause nur einige zu nennen: »fehlender Republikanismus, ethischer Rigorismus, Ablösung der Regelpoetik durch die Genieästhetik, Wechsel des Geschmacks, bürgerliche Kultur der Innerlichkeit, Ästhetik des Scheins, Eskapismus, intentionsloser Idealismus und Zerstörung der Vernunft, beschleunigte Literarisierung, Verdrängung des Lateins als Schulsprache…« – keine dieser Begründungen reicht Krause zufolge aus, und manche heben sich gegenseitig auf.25 Dass keineswegs von einem Verschwinden der Rhetorik geredet werden kann, scheint allein die Quantität der im 18. Jahrhundert erscheinenden Publikationen im Bereich der Rhetorik zu beweisen. Joachim Dyck und Jutta Sandstede haben mit ihrer dreibändigen Quellenbibliographie zur Rhetorik, Homiletik und Epistolographie des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum gezeigt, dass die Zahl rhetorischer Publikationen von 1700 bis 1800 im Vergleich zum Barock gemessen am jährlichen Durchschnitt sogar angestiegen ist. Darauf baut Dyck seine These einer ›Renaissance‹ der Rhetorik im 18. Jahrhundert auf und weist die Rede vom ›Verschwinden‹ oder ›Tod‹ der Rhetorik als »antiquiert« und »nicht auf der Höhe der wissenschaft-

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Krause, Vorwort des Herausgebers, S. viii. Nur auf drei der bekanntesten Positionen soll kurz hingewiesen werden: Walter Jens sieht den ›Verfall‹ der Rhetorik im späten 18. Jahrhundert in der eskapistischen Ideologie des Bürgertums begründet, das aufgrund mangelnder politischer Einflussmöglichkeiten die primär wirkungsorientierte Rhetorik ablehne und sich in ein ›reines Reich der Kunst‹, die Ästhetik, flüchte. Walter Jens, Rhetorik. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, hg. von Werner Kohlschmidt, Wolfgang Mohr, Bd. 3, 2., neu bearb. Aufl., Berlin, New York: de Gruyter 1977, S. 432–465. Manfred Fuhrmann erklärt den ›Niedergang‹ der Rhetorik mit einer massiven Veränderung des Bildungswesens: Durch die erstarkenden Nationalsprachen sei die lateinischen Sprache verdrängt und damit die Notwendigkeit des rhetorischen Unterrichts beschnitten worden, der vor allem den Zweck gehabt habe, das Lateinische einzuüben. Dem wurde widersprochen, dass der Geltungsverlust des Lateins eher Symptom als Ursache des Untergangs der Rhetorik war. Vgl. Manfred Fuhrmann, Rhetorik und öffentliche Rede. Über die Ursachen des Verfalls der Rhetorik im ausgehenden 18. Jahrhundert, Konstanz 1983. Klaus Dockhorn hatte dagegen die These einer Ubiquität der Rhetorik im 18. Jahrhundert aufgestellt, die von einer produktiven Kontinuität einer (allerdings anthropologisch konzipierten) Rhetorik ausgeht. Klaus Dockhorn, Macht und Wirkung der Rhetorik. Vier Aufsätze zur Ideengeschichte der Vormoderne, Bad Homburg, Berlin, Zürich 1968, S. 49–95.

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lichen Erkenntnisse« ab.26 Wie Dietmar Till richtig bemerkt, zählt Dyck jedoch nur die absoluten Zahlen der Veröffentlichungen, ohne deren relativen Anteil an der Buchproduktion des 18. Jahrhunderts zu berücksichtigen, die mehr als das Doppelte des 17. Jahrhunderts betrug.27 Unterscheidet man zudem zwischen den disziplinären Wissenssektoren, fällt auf, dass sich der Anteil an Publikationen im Bereich der systematischen Rhetorik und Poetik verringert, dafür Ästhetik, Stilistik und vor allem die Epistolographie stark zulegen. Nach Till kann das bibliographierte Material gerade für die Gegenthese Dycks in Anspruch genommen werden: »den nachhaltigen Funktionsverlust der rhetorischen Theoriebildung und die Transformation rhetorischen Wissens in andere, sich neu ausdifferenzierende Fachdisziplinen«28 – namentlich die Ästhetik, daneben auch die Anthropologie, Psychologie, Schauspielkunst und Pädagogik. Es kann also weder vom ›Tod‹ noch von einer ›Renaissance‹ der Rhetorik die Rede sein, vielmehr geht es heute darum, die ›Transformationen‹29 der Rhetorik in den Blick zu nehmen. Diese Transformationen finden Peter Krause zufolge in einem Spannungsfeld von Kontinuität und Diskontinuität statt, weshalb »Brüche, Überlagerungen, Fortschritte und Rückschritte, Verzögerungen, Aufstauungen, schnelle Expansionen« für die Entwicklung der Rhetorik im 18. Jahrhundert geradezu kennzeichnend seien.30 Damit geht es auch nicht mehr um die Rhetorik.31 Die Rhetorik als einzigartige kulturprägende Disziplin mit universalem Bildungsanspruch geht unter. Das traditionelle Lehrgebäude der Rhetorik verschwindet zunächst an den Universitäten, wo Lehrstühle der Eloquenz gegen andere, zum Beispiel der Ästhetik, ausgetauscht werden, später in den Gymnasien, wo der Schul-actus durch den Abituraufsatz ersetzt wird. Während die Aufsatzlehre Reste der rhetorischen Aufbau- und Argumentationstheorie im Schriftlichen bewahrt, scheint gerade die körperliche Beredsamkeit aus den Lehrplänen verdrängt zu werden.32 Zugleich differenziert

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Joachim Dyck, Einleitung. In: Dyck, Jutta Sandstede, Quellenbibliographie zur Rhetorik, Homiletik und Epistolographie des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum, 3 Bde., Stuttgart, Bad Cannstatt 1996, Bd. 1, S. ix-xxviii, S. ix. Vgl. Till, Transformationen der Rhetorik, S. 11–14. Till, Transformationen der Rhetorik, S. 14; vgl. Carsten Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche, Stuttgart, Weimar 1995, S. 53. Vgl. Schanze, Transformationen der Rhetorik. Wege der Rhetorikgeschichte um 1800; Till, Transformationen der Rhetorik. Krause, Vorwort des Herausgebers, S. vii. Vgl. Karl-Heinz Göttert, ›Die Rhetorik blühte noch‹: Zur Einschätzung des Vortrags in Heinrich Laubes Schriften zum Parlament und zum Theater. In: Rhetorica movet: Studies in historical and modern rhetoric in honour of Heinrich F. Plett, hg. von Peter L. Oesterreich, Thomas O. Sloane, Leiden, Boston, Köln 1999, S. 343–357, S. 343. Vgl. Manfred Fuhrmann, Rhetorik von 1500–2000. Kontinuität und Wandel. In: Von der Kunst der Rede und Beredsamkeit, hg. von Gert Ueding, Thomas Vogel, Tübingen 1998, S. 9–28, S. 19. Allerdings blieb durch die »etwa die Hälfte des Stundenplans beanspruchenden alten Sprachen« weiterhin die Lektüre von Cicero und Demosthenes ver-

sich die actio als eine selbstständige Disziplin im späten 18. Jahrhundert aus. Zudem geht sie in die sich neu entwickelnde Lehre von der Schauspielkunst ein, so dass Karl-Heinz Göttert zu der Annahme kommt, die körperliche Beredsamkeit sei vielleicht der wichtigste Aspekt der Rhetorik überhaupt, der vom 18. ins 19. Jahrhundert ›hinübergerettet‹ und weiterhin auf hohem Niveau verhandelt wird.33 Konkurrierende Kommunikationsmodelle: Natürlicher ›Ausdruck‹ und rhetorische actio Für die Transformationen der Rhetorik im Bereich der actio ist das Aufkommen eines neuen Kommunikationsmodells prägend: Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts wird die rhetorisch konzipierte Körpersprache wenn nicht ersetzt, wie Ursula Geitner behauptet,34 so doch teilweise verdrängt durch das Konzept eines ›natürlichen Ausdrucks‹.35 Im Gegensatz zum rhetorischen Kommunikationsmodell, das auf einer Arbitrarität der Zeichen beruht, bezieht sich das Ausdrucksmodell auf ein ›natürliches‹ Zeichen. Während der körperliche Redeauftritt (actio) in der rhetorischen Tradition als ein erlernbares, konventionelles Zeichensystem betrachtet wurde, geht das neue Ausdrucksmodell davon aus, dass innere Bewegungen (Gedanken und Gefühle) natürlich, unmittelbar und mühelos auf der Oberfläche des Körpers in Mimik, Gestik, Haltung und Stimme sichtbar werden. Den Unterschied zwischen dem Ausdrucksmodell und dem rhetorischen Modell verdeutlicht Geitner: Die Vorstellung der Restitution einfacher und natürlicher Kommunikationsverhältnisse wird eine der zentralen aufklärerischen Utopien. Mit dem Konzept des Ausdrucks soll sich ein Weg dorthin bahnen lassen: Ausdruck meint nämlich gerade nicht elocutio im rhetorischen Sinne, sondern – dem entgegengesetzt – eine von naïveté bestimmte Übersetzung des ›Innen‹ der Gedanken, Meinungen und Motive und Absichten, der Gefühle und Empfindungen ins ›Außen‹ der Zeichen, Wörter und Gesten. Einem so begriffenen Ausdruck wird ein Verstehen an die Seite gestellt, welches mit Hilfe von Intuition und Gefühl – unter Ausblendung des Sachverhalts, daß Zeichenverwendung immer Opazität impliziert – erfaßt, was sich im Gegenüber ereignet. […] Sollen die natürlichen Zeichen der Körpersprache unverfälscht Kunde geben von dem, was das Bewußtsein bewegt […], so bleibt für dasjenige, was die Rhetorik seit altersher an der Körperspra-

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traut. Doch »spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich auch das Gymnasium bis auf undeutliche Spuren von der rhetorischen Tradition verabschiedet« (S. 19). Göttert, ›Die Rhetorik blühte noch‹, S. 355f. Vgl. Košenina, Anthropologie und Schauspielkunst. Ursula Geitner, ›Die Beredsamkeit des Leibes‹. Zur Unterscheidung von Bewußtsein und Kommunikation im 18. Jahrhundert. In: Das Achtzehnte Jahrhundert, 14, 1990, S. 181–195. Dass auch der ›natürliche Ausdruck‹ wiederum als eine Rhetorik der Antirhetorik gelesen werden kann, ist selbstverständlich. Vgl. Günther Heeg, Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M., Basel 2000, S. 128f. Vgl. kritisch zur Theoriegeschichte der rhetorica contra rhetoricam: Till, Transformationen der Rhetorik, S. 26–32.

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che interessierte, kaum Platz mehr. Ganz anders nämlich als die Ausdruckskonzeption bestimmt die Beredsamkeit des Leibes ihre entscheidenden Prämissen: Die rhetorische Körpersprache rechnet nicht mit einer idealen und unmittelbaren körpersprachlichen Kommunikation, sondern, dem vollständig entgegen, mit prinzipieller Mittelbarkeit, einer Mittelbarkeit, die sowohl die unhintergehbare Unerreichbarkeit und Opazität des ›Innen‹ als auch die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit reflektierten und technisch perfektionierbaren Zeichengebrauchs voraussetzt.36

Der Rhetorik wird im Rückgriff auf Rousseau die ›Entstellung‹ einer ursprünglichen, unmittelbaren und ›natürlichen‹ Kommunikation angelastet.37 Gegen den rhetorisch geprägten Naturbegriff, der als dissimulatio artis zu verstehen war, wird der neue Naturbegriff als moralische Kategorie eingeführt.38 Dass hier gerade die ›äußere‹ Beredsamkeit, die actio, in Kritik gerät, ist nahe liegend. Die rhetorische eloquentia corporis wird mit dem Verdacht auf Verstellung, Blendung, Lüge und Betrug konfrontiert, und die ›natürliche‹ Körpersprache im Sinne einer ›Naturkommunikation‹ als Garant von Wahrheit und Authentizität eingesetzt. Vor dem Hintergrund des Ausdrucksparadigmas des 18. Jahrhunderts ist es jedoch bemerkenswert, dass die rhetorische actio keineswegs verschwindet, sondern vielmehr in eigenständigen actio-Rhetoriken umfangreich beschrieben wird. Dies belegt ein Beispiel wie Hermann Heimark Cludius’ Grundriß der körperlichen Beredsamkeit (1792)39 und eine dazugehörige Rezension, die im folgenden Jahr in der

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Geitner, ›Die Beredsamkeit des Leibes‹, S. 182f. Vgl. Geitner, Die Sprache der Verstellung; Heeg, Das Phantasma der natürlichen Gestalt; Košenina, Anthropologie und Schauspielkunst. Vgl. Geitner, Die Sprache der Verstellung, S. 6. Dietmar Till hat darauf hingewiesen, dass nicht erst Ästhetik und Anthropologie im späten 18. Jahrhundert ein die Rhetorik derart beschneidendes Modell ›natürlicher‹ Kommunikation propagieren, sondern schon um 1700 innerhalb der Rhetorik beziehungsweise der Rhetoriklehrbücher selbst eine Transformation stattfinde: ars und natura, in der antiken Rhetorik in einem organischen Verhältnis verbunden, entwickeln sich seit der Frühaufklärung zu unvereinbaren Gegensätzen. In dieser Dichotomie sind Natur und Natürlichkeit positiv besetzt, wohingegen die Kunst als Künstlichkeit abgewertet wird. Während Affekte in der antiken Theorie zwar im Sinne einer Selbstaffektation des Redners durchaus erwünscht waren, werden sie nun notwendig, um ›von Herz zu Herz‹ auf ein Publikum wirken zu können. Die antike Systemrhetorik, die ars, wird von einer bewusst kunstlosen Affektrhetorik abgelöst, die ihre Wirkung nun gerade ohne Anwendung der rhetorischen Regeln erzeugen will. Eine solche ›Naturrhetorik‹ geht einher mit der Vorstellung, dass der Affekt des Redners sich im Stil der Rede unmittelbar abzeichnet und ohne Kenntnis oder Befolgung der Rhetoriktheorie ›beredsam‹ wirkt. Auch wenn diese ›Naturrhetorik‹ wiederum als eine Art Rhetorik – als persuasive, dem Geschmack des Publikums angemessene Redeweise – verstanden werden kann, beraubt sie, so Till, doch die klassische Rhetorik eines zentralen Teils, nämlich der ars, des kunstvollen Regelsystems, das für Quintilian das Zentrum der Rhetorik ausmachte. Vgl. Till, Affekt contra ars. Wege der Rhetorikgeschichte um 1700. In: Rhetorica. A Journal of the History of Rhetoric, 24, 2006, S. 337–369. Hermann Heimark Cludius, Grundriß der körperlichen Beredsamkeit. Für Liebhaber

Zeitschrift Neue allgemeine deutsche Bibliothek erscheint. Der Rezensent spendet Cludius nichts als »Dank und Beyfall«, behebt dieser doch einen »Mangel«, nämlich eine lang vermisste theoretische Abhandlung über die actio in deutscher Sprache: Ihr Bedürfnis wird indeß wohl keiner bezweifeln; und das Muster der Alten nicht nur, denen dieser Theil der Redekunst so vorzüglich wichtig war, sondern unter den Neuern […] mußte längst schon den Mangel eines theoretischen, und, so viel sichs thun läßt, praktischen Unterrichts in der declamatorischen und mimischen Kunst bemerkbar machen. 40

Der Bezug zur antiken Rhetorik wird explizit hergestellt, ja sogar zu überbieten versucht, indem der Rezensent feststellt, dass Cludius die actio-Theorie erstmals ausgearbeitet habe, die in den antiken Rhetoriken »fast ganz« fehle. 41 Die Relevanz einer solchen Theorie scheint er dennoch gegen imaginäre Gegner mit Nachdruck formulieren zu müssen: Unstreitig aber ist die Kunst des vollkommensten Vortrages von Werth, wie Niemand in Abrede seyn wird, so lange man sinnliche Cultur für Etwas hält. Und es ist Niemand, in welchem Stande er sey, dem körperliche Beredsamkeit nicht Ehre macht. Ohne sie können wir auf andre wenig wirken. Von dem richtigen und schönen Vortrage der Empfindungen und Gedanken, in Sprache, Stimme, Ton, Modulation, Anstand und Gebehrdung hängt oft mehr, als von dem, was wir selbst fühlen oder denken, mehr, als von der in Worte gekleideten Wahrheit unsrer Gedanken und Stärke, unsrer Affekten, der Eindruck ab, den wir auf andre machen, und von welchem wieder der Erfolg abhängig ist. Schauspielern und Rednern aber ist dieses Studium vorzüglich wichtig. 42

Diese Rezension wird hier so ausführlich zitiert, da sie zum Ende des 18. Jahrhunderts eine Position markiert, die in krassem Widerspruch zu der seit Mitte des 18. Jahrhunderts dominierenden Vorstellung eines natürlichen Affektausdruckes steht. Zunächst einmal werden Bürger gleich welchen Standes, Redner und Schauspieler in eine Reihe gestellt, die allesamt von einer »Kunst des vollkommensten Vortrags« profitieren. Dann ist von einer »Kunst« die Rede, die benötigt wird, um »Eindruck« auf andere zu machen – und das bedeutet, dass hier nicht von einer ›natürlichen‹ Zeichenrelation ausgegangen wird, die die inneren Gedanken und Gefühle unmittelbar äußerlich ausdrückt und lesbar macht. Der »richtige und schöne Vortrag der Gedanken und Gefühle« ist offenbar nicht der unmittelbare Ausdruck von dem, »was wir selbst fühlen und denken«. Vielmehr wird von einem Spalt zwischen Ausdruck und ›wahren‹ innerlichen Gefühlen und Gedanken ausgegangen, eine Lücke, die die Kunst der actio füllt. Und schließlich wird in

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der schönen Künste, Redner und Schauspieler. Ein Versuch, Hamburg: Carl Ernst Bohn 1792. Kr., Rezension zu: Cludius, Grundriß der körperlichen Beredsamkeit (1792). In: Neue allgemeine deutsche Bibliothek, 5/1, 1793, S. 79–89, S. 79. Kr., Rezension zu: Cludius, Grundriß der körperlichen Beredsamkeit (1792), S. 80. Kr., Rezension zu: Cludius, Grundriß der körperlichen Beredsamkeit (1792), S. 80.

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offensichtlichem Anschluss an die Klugheitslehre die gelungene Selbstpräsentation mit Erfolg verknüpft. Cludius’ Grundriß der körperlichen Beredsamkeit ist kein Einzelfall. Die Sichtung von Rhetoriklehren des 17. und 18. Jahrhunderts gibt durchweg eine Hochschätzung der actio zu erkennen. Die actio wird nun als äußerlicher oder mündlicher Vortrag, als körperliche Beredsamkeit (eloquentia corporis) oder als Action (der körperliche) und Pronunciation oder Declamation (der stimmliche Teil der actio) bezeichnet. Manfred Beetz hat in seinem einschlägigen Aufsatz zum Wandel der Körpersprache in der deutschen Rhetorik vom 17. zum 18. Jahrhundert darauf hingewiesen, dass Johann Matthäus Meyfart, Johannes Riemer, Christian Weise, Johann Christoph Gottsched, Christoph Weissenborn, Carl Friedrich Bahrdt und Hermann Heymart Cludius und andere mit Nachdruck betonen, wie wichtig die körperliche Eloquenz für den Erfolg des Redners sei. Allen gemein sei außerdem der explizite Bezug auf die Antike, auf Demosthenes, Cicero und Quintilian. 43 Eine bemerkenswerte Kontinuität sowie eine unerwartete Identität von rhetorischer und theatralischer eloquentia corporis belegt auch Dene Barnett in seiner Studie The Art of Gesture. The Practices and Principles of 18th Century Acting. 44 Barnett zeigt anhand der von ihm zitierten Texte aus Rhetorik und Schauspielkunst, die sich alle auf rhetorische Traditionen berufen, ein Verständnis der Gestik als erlernbare, hochreflektierte Kunst, deren Technik und Vorschriften den rhetorischen Stilbegriffen der Klarheit, der Schönheit, des Schmucks und der Angemessenheit folgen. Ursula Geitner wendet dagegen ein, dass genau eine solche Verbindung zwischen Schauspielkunst und alltäglicher Beredsamkeit des Leibes dem Naturbegriff des 18. Jahrhunderts massiv widerspricht, denn »gegen das Paradigma natürlicher ›Zeichensetzung‹ setzten diese Texte die Empfehlung einer Rückbesinnung auf die Angebote der Rhetorik«45, auf ein Angebot also, das gerade eher verkümmere als aufblühe. An Barnetts Studie, die dazu verführe, eine Kontinuität oder gar Renaissance alltäglich praktizierter eloquentia corporis bis zum Ende des 18. oder bis zum beginnenden 19. Jahrhunderts anzunehmen, kritisiert Geitner die Textgrundlage, die zu klein und zudem nicht repräsentativ, weil nämlich rückwärtsgewandt sei. Als Beispiel dieser ›nicht repräsentativen‹ Literatur nennt Geitner eben jenen in der Neuen allgemeinen deutschen Bibliothek hochgelobten Cludius, der gegen die seinerzeit verbindlichen Natur- und Identitätspostulate entweder geradezu rebellisch oder einfach vormodern anschreibe.46 Geitner gibt zwar schon eine ›subkutane‹

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Vgl. Beetz, Die Körpersprache im Wandel der deutschen Rhetorik vom 17. zum 18. Jahrhundert, S. 39f. Dene Barnett, The Art of Gesture. The Practices and Principles of 18th Century Acting, Heidelberg 1987. Vgl. auch Barnett, Die Aufführungspraxis der Schauspielkunst im 18. Jahrhundert. In: Schauspielkunst im 18. Jahrhundert, hg. von Wolfgang F. Bender, Stuttgart 1992, S. 113–132. Geitner, ›Die Beredsamkeit des Leibes‹, S. 186. Geitner, ›Die Beredsamkeit des Leibes‹, S. 186.

Kontinuität rhetorischer Tradition zu, betont aber deren Umgebung zunehmender und umfassender Rhetorikfeindlichkeit. 47 Statt an der Verbindlichkeit des Natürlichkeits-Paradigmas zu zweifeln oder eine widersprüchliche Gleichzeitigkeit von Ablehnung der und Rückbesinnung auf die Rhetorik anzuerkennen, besteht Geitner auf dem ›Niedergang der Rhetorik‹, und zwar gerade der rhetorischen actio im 18. Jahrhundert, die dem modernen Ausdruckskonzept einer natürlichen, unmittelbaren Körpersprache weichen müsse. Ich möchte mich hier Manfred Beetz’ Kritik an Geitner anschließen. Beetz beschreibt in seinem Artikel zur Körpersprache im 18. Jahrhundert einleuchtend, wie sich unter dem Diktat der ›Natur‹ als zentrale Rechtfertigungsinstanz rhetorische Theoretiker ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in zwei Lager einordnen lassen: in »eine Fraktion, die eher auf eine Entrhetorisierung zielt, und in eine zweite, die – von Geitner weniger ernst genommen – den Modellierungsaspekt rhetorischen Agierens weiterführt, dies jedoch unter neuen empirischen Erkenntnissen. Mit ihnen versuchen Cludius und Maaß, Kunst wiederum als Natur erscheinen zu lassen.«48 Mit einer solchen Theorie eines Nebeneinanders zweier sich widersprechender Aussageformationen ist es möglich, sowohl die eigenständigen actio-Theorien des späten 18. Jahrhunderts von Engel, Cludius, Pfannenberg u. a. als auch die ästhetische Behandlung der actio bei Sulzer neben der vorherrschenden Ausdruckstheorie ernst zu nehmen, anstatt sie auszublenden. 49 Je nach Auswahl der Texte kann in der »Zeit um 1800, in der Spuren des Rückzugs und neue Tendenzen eng nebeneinander liegen, […] beinahe jede Aussage zur Rhetorik durch eine andere widerlegt werden« – eine Tatsache, die ich, ohne den Anschein von Beliebigkeit erwecken zu wollen, mit Peter Krause »faszinierend« finde.50 Sie fordert dazu heraus, eben die Brüche und Transformationen der rhetorischen Entwicklung in den Blick zu nehmen. Indem ich gerade die Anstandsliteratur stark mache und als eine Erbin rhetorischen actio-Wissens verstehe, kann ich Beetz Argumentation stützen. Denn mit der Anstandsliteratur, die ab dem späten 18. Jahrhundert durch das gesamte 19. Jahrhundert hindurch bis in die Gegenwart eine weite Verbreitung gefunden hat, wird die Textgrundlage, die der rhetorischen Tradition der Vermittlung einer strategischen, persuasiven Körperbeherrschung verpflichtet ist, ungleich größer. Zugleich nimmt sie explizit mehr Frauen als ›Rednerinnen‹ in den Blick.51

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Geitner, ›Die Beredsamkeit des Leibes‹, S. 184. Beetz, Die Körpersprache im Wandel der deutschen Rhetorik vom 17. zum 18. Jahrhundert, S. 56. Vgl. Beetz, Die Körpersprache im Wandel der deutschen Rhetorik vom 17. zum 18. Jahrhundert, S. 59. Krause, Vorwort des Herausgebers, S. x. Dies belegt auf frappierende Weise die Durchsicht von Montandons Bibliographie zu Anstandsbüchern des 18. Jahrhunderts, die auf den ersten Blick deutlich mehr Publikationen für und von Frauen verzeichnet als Dycks und Sandstedes Bibliographie zur Rhetorik, Homiletik und Epistolographie für den gleichen Zeitraum. Vgl. Alain Mon-

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Actio und Geschlecht im 18. Jahrhundert Wie Du o Doris! sey mein Leben, Frey, unverstelt, und ganz Natur, Gefällig, ohn ein matt Bestreben, Und reitzend durch sich selber nur.52

Vor diesem Hintergrund miteinander konkurrierender Paradigmen möchte ich mich der Kategorie ›Geschlecht‹ zuwenden, deren Beziehung zur actio im Zentrum meines Interesses steht. Doerte Bischoff hat (mit Bezugnahme auf Geitners Sprache der Verstellung) die These aufgestellt, dass mit der zunehmenden Entrhetorisierung und Abgrenzung von der galanten höfischen Rhetorik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die weibliche Stimme und Körpersprache als Inbegriff einer natürlichen Redeweise geradezu ins Zentrum des empfindsamen Diskurses rückt.53 Die weibliche Körpersprache, Tränen, das plötzliche Erröten, Zittern und Beben, werden als unwillkürliche, ›natürliche‹ Zeichen einer naiven, unschuldigen Weiblichkeit imaginiert.54 Die emotionale, scheinbar ›natürliche‹ eloquentia cordis soll die dem Vorwurf der strategischen Verstellung unterlegene eloquentia corporis ersetzen. Bischoff führt die Imagination dieses ›natürlichen‹ Zeichens durch das Weibliche zurück auf den Ausschluss der Frau aus der Rhetorik: »Die Marginalisierung weiblicher Rede in der klassischen Rhetorik sowie der Ausschluß von Mädchen und Frauen von rhetorischer Unterweisung scheint nun gerade die Voraussetzung für ihre Aufwertung innerhalb eines antirhetorischen Programms.«55 Die diskursive Aufwertung der weiblichen Natur-actio sei jedoch nicht als eine schlichte Umkehrung der vormaligen Privilegierung einer männlichen rhetorischen actio zu verstehen. Einem solchen Eindruck stünde erstens die weiterhin mangelnde Repräsentanz von Frauen im öffentlichen Raum entgegen, die durch die Festschreibung des Weiblichen auf das Natürliche und Emotionale forciert werde: »Indem weibliche Rede als Sprache des Herzens kodiert wird, wird zugleich der Ausschluß der Frauen von allen Podien öffentlicher Rede zementiert.«56 Zweitens zeugt die antirhetorische Argumentationsweise davon, dass es sich nicht um eine Privilegierung weiblicher actio handelt, die an die Stelle eines vormals männlichen Ideals treten

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tandon (Hg.), Bibliographie des traités du savoir-vivre en Europe du Moyen Age à nos jours, Bd. 1: France, Angleterre, Allemagne, Clermont-Ferrand 1995. [Vermutlich: Christophorus Josephus] Sucro, zit. n. Carl Friedrich Tröltsch, Die Frauenzimmerschule oder sittliche Grundsätze zum Unterricht des schönen Geschlechts wie sich selbiges bey allen Vorfallenheiten in der Welt auf eine bescheidene Art zu betragen habe. Zur Bildung eines edlen Herzens und Führung eines klugen Wandels, Frankfurt und Leipzig: Göbhardt 1766, S. 122. Bischoff, Die schöne Stimme und der versehrte Körper. Ovids Philomela und die ›eloquentia corporis‹ im Diskurs der Empfindsamkeit, S. 260. Vgl. Geitner, Die Sprache der Verstellung, S. 293f. Vgl. Heeg, Das Phantasma der natürlichen Gestalt, S. 35ff. Bischoff, Die schöne Stimme und der versehrte Körper, S. 260. Bischoff, Die schöne Stimme und der versehrte Körper, S. 271.

könne. Denn die weibliche actio werde eben nicht als neues Redeideal in einem rhetorischen Sinn sichtbar gemacht, sondern als eine »nicht-mediale Natursprache« entworfen, »deren Einsatz dadurch unsichtbar gemacht wird, daß sie als ›Wiederfinden‹ eines verlorenen Ursprungs und nicht als Durchsetzung veränderter diskursiver Sinn- und Interpretationsfiguren erscheint«.57 Von einer Neutralisierung des gegenderten actio-Konzepts oder gar einer Umwertung der traditionellen Hierarchisierung könne also nicht die Rede sein, kommt Bischoff zum Schluss, vielmehr verstärke die Idealisierung des Weiblichen als Figuration von Natur wiederum die Marginalisierung weiblicher Artikulation in Politik und Rhetorik. Während Bischoffs These für den literarischen Diskurs der Empfindsamkeit zuzustimmen ist, muss sie mit einem Blick auf zeitgleiche pädagogische Diskurse, insbesondere der Anstandsliteratur, um Gegenstimmen ergänzt werden. Der Ausschluss von allen rhetorischen Podien ist ebenso wie der Kurzschluss von Weiblichkeit und Natur/Körpersprache anhand der Lektüre der ›Gebrauchstexte‹ aus Rhetorik, Anstandslehre und Erziehungswissenschaft zu hinterfragen – insbesondere, wenn die Konversation als semiöffentliche rhetorische Gattung miteinbezogen wird. In dieser der Rhetorik verpflichteten Anweisungsliteratur wird Weiblichkeit gerade nicht mit natürlicher Körpersprache kurzgeschlossen, sondern erscheint die Frau als der Unterweisung im Bereich der eloquentia corporis besonders bedürftig. Diese Unterweisung folgt einerseits der rhetorischen Tradition in der Vermittlung der actio durch Übungen wie die imitatio und Übungsreden (vor dem Spiegel), erzieht die Frau zu einer mit jeglicher naïveté gänzlich unvereinbaren Selbstbeobachtung und ermöglicht ihr so den wirkungsorientierten Einsatz der eloquentia corporis. Andererseits verlangt sie – paradoxerweise – ein möglichst ›natürliches‹ Auftreten. Die Gebrauchstexte machen – offenbar anders als die literarischen Texte – eben gerade das Paradox sichtbar, das in einer anerzogenen Performanz von Natürlichkeit besteht. So behauptet sich in einer widersprüchlichen Gleichzeitigkeit mit der empfindsamen Idealisierung eines ›natürlichen Ausdrucks‹ eine traditionellere Rhetorik der körperlichen Beredsamkeit. IV.1.3 Polarisierung der Geschlechtscharaktere Das 18. Jahrhundert wird von der Genderforschung als ein außerordentlicher Zeitraum verstanden, in dem die Geschlechterdifferenz wenn nicht neu ›erfunden‹, so doch in ungewöhnlicher Intensität verhandelt wird. Historische, sozio-kulturell entstandene Unterschiede der Geschlechter werden auf naturgegebene Differenzen zurückgeführt, legitimiert und stabilisiert. Die deutsche Forschungsdiskussion maßgeblich geprägt hat Karin Hausens These von der »Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹«58. Hausen argumentiert, dass sich in enzyklopädischen,

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Bischoff, Die schöne Stimme und der versehrte Körper, S. 265. Hausen, Die Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹.

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medizinischen, pädagogischen, anthropologischen und psychologischen Texten – und hier wären rhetorische und literarische Texte hinzuzufügen59 – des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts ein ›neues‹ Aussagesystem abzugrenzen beginnt, in dem für Mann und Frau polar entgegengesetzte »Gattungsmerkmale« als »ein Gemisch aus Biologie, Bestimmung und Wesen« festgelegt werden.60 Diese polaren ›Geschlechtscharaktere‹ werden laut Hausen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts regelrecht ›erfunden‹61, bleiben über das 19. Jahrhundert bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wirksam und werden »nicht zuletzt durch Medizin, Anthropologie, Psychologie und schließlich Psychoanalyse ›wissenschaftlich‹ fundiert« und popularisiert.62 Hausen zeigt auf, dass die Definition der ›Geschlechtscharaktere‹ im späten 18. Jahrhundert insofern eine spezifische neue Qualität hat, als diese »als Kombination von Biologie und Bestimmung aus der Natur abgeleitet und zugleich als Wesensmerkmal in das Innere des Menschen verlegt« werden.63 Neben dieser Naturalisierung sei ein Wechsel des Bezugssystems neu: Wurden zuvor Aussagen über Männer und Frauen mit Bezug auf ihren Stand und den diesem Stand entsprechenden Tugenden getroffen, treten im späten 18. Jahrhundert, so Hausen, Charakterdefinitionen an die Stelle der Standesdefinitionen.64 Dem bürgerlichen Mann wird nun ›qua Natur‹ Rationalität und Aktivität zugeschrieben, der bürgerlichen Frau dagegen Emotionalität und Passivität. Damit erscheinen Männer und Frauen für unterschiedliche soziale Bereiche geradezu prädestiniert: Dem Mann wird die öffentliche, politische Sphäre als Wirkungsort zugeschrieben, der Frau dagegen der private häusliche Bereich, der Mann erwirbt den Lebensunterhalt, die Frau versorgt zärtlich die Familie, der Mann ist kulturell produktiv, die Frau natürlich reproduktiv. Hausen hat die Polarisierung der Geschlechtscharaktere durch die industriellkapitalistische Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben begründet, die die vormalige Wirtschaftsform des ›ganzen Hauses‹ im späten 18. Jahrhundert ablöst. Die Geschlechterideologie naturalisiert diese Dissoziation der Tätigkeitsbereiche, indem sie die sich ergänzende Gegensätzlichkeit von Arbeit und Familie, von Mann

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Tatsächlich erwähnt Hausen keine literarischen Texte. Diese wären jedoch als maßgebliche Verhandlungsorte von Geschlecht im 18. Jahrhundert hinzuzufügen, vgl. Elisabeth Bronfen, Nachwort. In: Die schöne Seele oder die Entdeckung der Weiblichkeit. Ein Lesebuch, hg. von Bronfen, München 1996, S. 372–416, und Silvia Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt a. M. 1979. Hausen, Die Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹, S. 367. Hausen, Die Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹, S. 369. Hausen, Die Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹, S. 369. Hausen, Die Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹, S. 369f. Vgl. Hausen, Die Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹, S. 370. Die Polarisierung der Geschlechtscharaktere bezieht sich zunächst allein auf das gebildete Bürgertum, von dem und für das sie entwickelt wurde. Vgl. S. 383.

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und Frau, nicht nur notwendig, sondern natürlich und ideal erscheinen lässt, und dient zugleich der Absicherung patriarchaler Herrschaft.65 Brita Rang merkt kritisch zu Hausens Aufsatz an, dass die dualistische Festlegung eines männlichen und weiblichen Geschlechtscharakters nicht etwa, wie von Hausen nahe gelegt, »etwas allgemein und ungebrochen Akzeptiertes und Praktiziertes« gewesen sei, sondern es im Gegenteil »Protest, Widerstände, Gegenargumente« gegeben habe, die nicht außer Acht gelassen werden dürften.66 Ihrer Meinung nach wurden Geschlechtscharaktere im späten 18. Jahrhundert nicht ›erfunden‹, sondern mit verstärkter Mühe festgehalten – denn nicht das dualistische Denken der Geschlechter sei neu, sondern die Kritikmöglichkeiten an diesem Denken durch das moderne Naturrecht. Die Quantität und Intensität der Aussagen über Geschlechtscharaktere sprechen nach Rang gerade nicht dafür, dass hier etwas vollständige Gültigkeit habe, sondern beschwören etwas, »dem nicht mehr voll vertraut wird, das gegen kritische Einwände verteidigt werden muß, kurz: das seine unbeschränkte Selbstverständlichkeit bereits eingebüßt hat.«67

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Vgl. Hausen, Die Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹, S. 375–378. In der bürgerlichen Familie wird die weibliche Abhängigkeit fortgeschrieben und naturalisiert – trotz oder gerade aufgrund der aufklärerischen Naturrechtsdiskussion. Denn indem in der bürgerlichen Aufklärung die Abhängigkeit von einem absolutistischen Herrscher als gottgewollt in Frage gestellt und Gleichheit und Freiheit programmatisch verlangt werden, steht auch die traditionell als gottgewollt gedeutete Herrschaft des Ehemanns über die Ehefrau zur Disposition. Da jedoch nun die ›Natur‹ – und nicht mehr Gott – die privilegierte Begründung für eine Unterordnung der Frau hergibt, werden patriarchale Machtverhältnisse stabilisiert. Nicht nur wird die Frau als rational unterlegen dargestellt, zudem wird ihr ein Unterwerfungs- und Aufopferungswille von Natur aus bescheinigt. Brita Rang, Zur Geschichte des dualistischen Denkens über Mann und Frau. Kritische Anmerkungen zu den Thesen von Karin Hausen zur Herausbildung der Geschlechtscharaktere im 18. und 19. Jahrhundert. In: Frauenmacht in der Geschichte. Beiträge des Historikerinnentreffens 1985 zur Frauengeschichtsforschung, hg. von Jutta Dalhoff, Uschi Frey, Ingrid Schöll, Düsseldorf 1986, S. 194–204, S. 196. Rang, Zur Geschichte des dualistischen Denkens über Mann und Frau, S. 198f. Rang setzt die Entstehung eines dualistischen Verständnisses der Geschlechter dagegen in der frühen Neuzeit an, in der im Rückgriff auf antike philosophische und klassische medizinische Schriften, auf das römische Recht und die Scholastiker (zum Teil widersprüchliche) Aussagen über die Natur der Frau und des Mannes gemacht wurden. Zwar hat Rang recht, auf eine »Vorgeschichte« der polaren Geschlechtscharaktere in der frühen Neuzeit hinzuweisen, aber ich würde doch mit Thomas Laqueur, der ebenfalls den medizinischen Diskurs untersucht hat, eine spezifische Wende im 18. Jahrhundert verorten, weil bis dahin zwar die Vorstellung von zwei genders, aber nur von einem geschlechtlichen Körper (»one-sex-body«) bestanden hat. Die bis dahin graduelle Situierung der Geschlechter innerhalb der kosmologischen Ordnung wird erst im 18. Jahrhundert durch eine biologisch-antagonistische Sicht der Geschlechter ersetzt. Vgl. Thomas Laqueur, Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt a. M. 1992.

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Neue Positionen ergänzen Hausens Thesen insofern, als sie die Differenz zwischen Diskursen, Normen und Werten und tatsächlichen Handlungsräumen betonen68 – beispielsweise sei die diskursiv auf ihre Häuslichkeit festgeschriebene Frau keineswegs, so Anne Fleig, »Gefangene ihrer eigenen vier Wände« gewesen.69 Ulrike Weckel weist darauf hin, dass Bürgerhäuser »mitnichten geschlossene häusliche Kreise, sondern vielmehr Orte reger Geselligkeit« waren.70 Nicht zuletzt sorgt ein erneutes Nachdenken über die ehemals unreflektiert mit dem Haus gleichgesetzte private Sphäre und die Pluralisierung des Begriffs ›Öffentlichkeiten‹, der nun auch eine ›Semiöffentlichkeit‹ oder ›Gegenöffentlichkeit‹ zulässt, für die »›Verflüssigung‹ der umstrittenen Grenzziehung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit«71 und den diesbezüglichen geschlechtlichen Konnotationen. IV.1.4 ›Öffentliche‹ und ›private‹ Rede Welthändel und Rechtssachen sollen niemals ein Gegenstand seyn, welcher die Neugierde eines Frauenzimmers erreget.72

Im Geschlechterdiskurs des späten 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts ist kaum eine Aussage so folgenreich für eine weibliche Rhetorik wie die, dass Frauen ›natürlicherweise‹ in die Sphäre des Hauses, nicht aber in die Öffentlichkeit gehören. Der von Habermas konstatierte Strukturwandel im 18. Jahrhundert von einer höfischen ›repräsentativen Öffentlichkeit‹, in der Frauen noch präsent waren, zu einer bürgerlichen Öffentlichkeit der ›zum Publikum versammelten Privatleute‹ geht einher mit einem zunehmenden Ausschluss von Frauen.73 Noch im frühen 18. Jahrhundert

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Dabei soll keine Unabhängigkeit zwischen Diskursen und ›Realität‹ suggeriert werden, sondern lediglich vor einer unreflektierten Gleichsetzung gewarnt werden. Die hier verhandelten Texte werden als kulturelle Entwürfe von Idealen verstanden, die keine direkten Rückschlüsse auf die ›Realität‹ des in den Texten propagierten Verhaltens erlauben. Gleichwohl sind es eben vornehmlich Texte, die Konstruktionen von ›Realität‹ sichtbar werden lassen. Fleig, Vom Ausschluss zur Aneignung. Neue Positionen der Geschlechterforschung zur Aufklärung, S. 81. Weckel, Zwischen Häuslichkeit und Öffentlichkeit, S. 12. Vgl. den ausführlichen Forschungsbericht zum Postulat der Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit und dessen Konsequenzen für die Ordnung der Geschlechter im 18. Jahrhundert: ebd., S. 1–16. Claudia Opitz, Um-Ordnungen der Geschlechter. Einführung in die Geschlechtergeschichte, Tübingen 2005, S. 167. »Diese gehören nur vor diejenigen hohen Personen weiblichen Geschlechts, welche GOTT zum Regiment berufen hat. Geringe, oder gewöhnliche Personen, machen sich damit sehr oft unerträglich, und lächerlich.« Tröltsch, Die Frauenzimmerschule, S. 123. Vgl. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, mit einem Vorwort zur Neuauflage, Frankfurt a. M. 1990. Habermas bemerkt selbst, dass Frauen – im Gegensatz zu ihrer Teilhabe an der literarischen Öffentlichkeit – von der politischen Öffentlichkeit »faktisch wie juristisch ausgeschlossen« gewesen seien (S. 121).

wurde die literarische bürgerliche Öffentlichkeit von gebildeten Frauen und Männern gemeinsam hergestellt: Beide Geschlechter kamen zusammen als lesendes, schreibendes, zuhörendes und in den Freundeskreisen, häuslichen Zirkeln und Salons auch redendes bürgerliches Publikum, um sich ihres neuen, dem Stil des absolutistischen Hofes entgegengesetzten Lebensentwurfes zu vergewissern. Nur dort, wo sich die bürgerliche Öffentlichkeit des institutionellen Rahmens der Clubs, Vereine und Geheimgesellschaften bediente, blieben Frauen offenbar häufiger, wenngleich keineswegs prinzipiell, ausgeschlossen. Prinzipiell ferngehalten sahen sich Frauen erst, als sich im späteren 18. Jahrhundert die bürgerliche Öffentlichkeit weiterentwickelte. Bürgerliche Öffentlichkeit verstand sich nun als kritische öffentliche Meinung und hielt sich für berechtigt, im vernünftigen Austausch der Meinungen allgemeine gesellschaftliche Interessen zu definieren und für die Politik des Fürsten verbindlich zu setzen. Seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts reklamierte die bürgerliche Öffentlichkeit über bürgerliche Freiheitsrechte hinaus auch die Öffentlichkeit von Parlaments- und Gerichtsverhandlungen und schließlich auch das Wahlrecht und damit politische Partizipationsrechte. In dieser auf Kontrolle über und Teilhabe an der politischen Macht ausgerichteten politischen Seite der bürgerlichen Öffentlichkeit waren Frauen nicht integriert und anerkannt.74

Dies hat Folgen für die Formen der Rede, die Frauen offen stehen – und für die Redegattungen, die in diesem Kapitel im Mittelpunkt stehen werden. Habe ich mich im Kapitel zur antiken Rhetorik vorwiegend auf das genus deliberativum und genus iudicale konzentriert, wird nun eine Sonderform des genus demonstrativum, die Konversation, in den Mittelpunkt rücken.75 Wie ich dargelegt habe, wird der ideale römische Redner als engagierter Bürger, Politiker und Jurist entworfen; Ort der Rede ist der Senat, die Volksversammlung oder das Gericht; und die Rede wird von den Rhetoriken als eine agonale ›Kampfhandlung‹ beschrieben. Die Rhetorik als Bildungsinstitution zielt darauf, Subjekte zu produzieren, die sich mit rhetorischen Mitteln sichtbar, öffentlich, vor einem Massenpublikum Geltung verschaffen können. Öffentlichkeit ist mit Sichtbarkeit verbunden, der Redner muss sich als vir bonus zeigen: In dieser idealen, agonalen Redesituation inszeniert sich der Redner als rechtschaffener, glaubwürdiger, männlicher vir bonus und verbirgt zugleich den Inszenierungscharakter der actio, indem er vermeidet, dem Publikum als Schauspieler zu erscheinen. Wie bereits erwähnt fehlen im deutschsprachigen Raum des 18. Jahrhunderts die klassischen Foren öffentlicher Rede, Parlament und

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Karin Hausen, Überlegungen zum geschlechtsspezifischen Strukturwandel der Öffentlichkeit. In: Differenz und Gleichheit. Menschenrechte haben (k)ein Geschlecht, hg. von Ute Gerhard u. a., Frankfurt a. M. 1990, S. 268–282, S. 273. »Lediglich graduell unterschieden hat das Gespräch viel mit der dritten Redegattung, der Lobrede gemein«, schreibt Markus Fauser: Sowohl Lobrede als auch Gespräch zielten nicht auf Entscheidung, sondern seien Selbstzweck, insofern steht die delectatio an erster Stelle. Von besonderer Relevanz sei bei beiden Gattungen das ēthos und die urbanitas: Redner oder Rednerin müssen durch feinen Witz, eleganten Stil und kultiviertes Auftreten die Sympathie ihres Publikums gewinnen. Fauser, Das Gespräch im 18. Jahrhundert, S. 156f.

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Gerichtshof, stattdessen fallen außer dem Theater das Katheder und die Kanzel in den Blick, zu denen Frauen keinen Zugang hatten. Das Theater dagegen ist im 18. Jahrhundert eine der raren Möglichkeiten für Frauen, öffentlich in Erscheinung zu treten und das Wort zu ergreifen. Doch diese öffentliche Selbstdarstellung wird vor dem Hintergrund der bürgerlichen Geschlechterideologie zum »Skandal«76. Rousseaus Polemik im Brief an d’Alembert ist topisch: Eine Schauspielerin, die sich öffentlich und zudem gegen Geld zeige, gleiche einer Prostituierten.77 Denn ihr öffentliches Auftreten kollidiert mit der bürgerlichen weiblichen Haupttugend ›Bescheidenheit‹. Begibt sich eine Frau in die Öffentlichkeit, so Rousseau, und versucht, »die männliche und feste Sicherheit des Mannes« zu imitieren, pervertiert

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Ursula Geitner, Vom Trieb, eine öffentliche Person zu sein. Weiblichkeit und Öffentlichkeit um 1800. In: ›Öffentlichkeit‹ im 18. Jahrhundert, hg. von Hans-Wolf Jäger, Göttingen 1997, S. 77–90, S. 80. »Ich kehre jetzt zu unseren Schauspielerinnen zurück und frage: Wie kann ein Stand, dessen einzige Beschäftigung es ist, sich öffentlich und, was noch schlimmer ist, gegen Geld zu zeigen, sich für ehrbaren Frauen schicken und sich mit ihrer Bescheidenheit und ihren guten Sitten vertragen? Muß man sich noch über die sittlichen Unterschiede der Geschlechter streiten, damit deutlicher wird, wie unwahrscheinlich es ist, daß eine Frau, die sich für Geld zur Schau stellt, sich nicht auch bald für Geld zur Verfügung stellt und sich nicht versuchen läßt, das Verlangen, das sie mit so viel Mühe erregt, auch zu befriedigen?« Rousseau, Brief an Herrn d’Alembert, S. 425f. Rousseau verurteilt den Stand der Schauspieler insgesamt als einen »Stand der Zügellosigkeit und der schlechten Sitten« und richtet sich mit diesem Argument gegen die Einrichtung eines Theaters in Genf, von der er u. a. befürchtet, dass sie die ehrbaren geselligen Zirkel, in denen sich Männer und Frauen getrennt treffen und unterhalten, verdrängen würde. Die deutsche Rezeption des Briefs an Herrn d’Alembert, so skizziert Ursula Geitner (»Die Frau als Schauspielerin. Auskünfte einer Metapher«), nutzt Rousseaus Argumente zum einen für einen Angriff gegen Schauspielerinnen und zum anderen, um ein spezifisch bürgerliches, an Konzepte der naïveté und des Ausdrucks gebundenes Weiblichkeitsmodell als ursprüngliche Natur auszugeben. Beides wird in einer Unzahl an Traktaten breit entfaltet und überkreuzt sich insofern, als die Schauspielerin eben jenes Weiblichkeitsmodell augenscheinlich widerlegt, indem sie nicht nur öffentlich auftritt und ihren eigenen Lebensunterhalt verdient, sondern auch das propagierte Modell eines unmittelbaren, unwillkürlichen Ausdrucks des Inneren durch Mimik und Gestik mit ihrer einstudierten eloquentia corporis irritiert. Wenn schamhaftes Erröten, Verstummen und Erbleichen, wenn das verschämte Niederschlagen der Lider nicht authentische Zeichen der weiblichen Natur sind, sondern willkürlich auf der Bühne vorgespielt werden können, lässt die Schauspielerin jenes Ideal unverstellter, ursprünglicher und wahrer Kommunikation fragwürdig werden, als dessen Garantin Rousseau die bürgerliche Frau eingesetzt hatte. »Die Schauspielkunst verlangt, darin der rhetorischen eloquentia corporis, der körperlichen Beredsamkeit, und der Verstellungskunst vergleichbar, die willentliche, reflektierte ›Regierung‹ der Mienen und Gebärden, des Ausdrucks insgesamt. Damit ist die postulierte notwendige identische Beziehung von Innen und Außen, Sein und Schein, Natur und natürlichem Ausdruck fundamental gestört. Auch die Zeichen der weiblichen Physiognomie und Rede werden von nun an dem Verdacht der Verstellung und der Lüge ausgesetzt: Sie können natürlich scheinen und es doch nicht sein.« (S. 268f.)

sie diese automatisch zur »Unverschämtheit«.78 Das gleiche – für ein Auftreten in der Öffentlichkeit notwendige – Selbstbewusstsein, das für den Mann schicklich ist, wird bei der Frau grundsätzlich mit ›Unbescheidenheit‹ gleichgesetzt und damit nicht nur »unschicklich«79, sondern sogar unnatürlich. Denn »Schüchternheit, Schamhaftigkeit, Bescheidenheit« liegen, wie Rousseau zu begründen sucht, in der Natur der Frau.80 Eine Frau, die sich wie die Schauspielerin auf die Bühne stellt, Aufmerksamkeit, Gefallen und Applaus zu provozieren sucht, ihre Stimme zu hören und ihren Körper zu sehen gibt, handelt dieser Argumentation zufolge gegen die eigene Natur. Begreift man die rhetorische Rede ausschließlich als öffentliche Rede vor großem Publikum, können Frauen – mit Ausnahme der Schauspielerin – als Rednerinnen im 18. Jahrhundert nicht in den Blick kommen. Eine solche RhetorikDefinition greift für eine Untersuchung, die nach gender-spezifischen Anweisungen zur actio fragt, zu kurz. Zum einen ist die Trennlinie zwischen Öffentlichkeit und Privatheit selbst zu hinterfragen: Wie Habermas bemerkt, verläuft diese »Linie zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit […] mitten durchs Haus. Die Privatleute treten aus der Intimität ihres Wohnzimmers in die Öffentlichkeit des Salons hinaus«81. Habermas nennt dies eine »publikumsbezogene Privatheit«82 . Weder kann diese ›Privatheit‹ als machtfreier, nichtpolitischer Raum verstanden werden, noch erscheinen die beiden Räume in den alltäglichen Praktiken als strikt getrennt. Vielmehr, so hat Ulrike Döcker anhand der Analyse von Umgangslehren festgestellt, ist die Aufspaltung der bürgerlichen Existenz in eine private und in eine öffentliche Rolle nicht geeignet, »die kulturellen Praktiken des Mittelstandes analytisch zu fassen, denn die ›öffentlichen‹ Aktivitäten bestimmen Form und Funktion der ›privaten‹ Aktivitäten, und diese bringen wiederum die Möglichkeiten und Fähigkeit der ›öffentlichen‹ Auftritte des Bürgers (und der Bürgerin) hervor.«83 Zum zweiten ist die Eingrenzung der Rhetorik auf die ›öffentliche‹ Rede zu hinterfragen.84 Vielmehr sind die neben den ›öffentlichen‹ Orten der Rede beste-

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Rousseau, Brief an Herrn d’Alembert, S. 423. Rousseau, Brief an Herrn d’Alembert, S. 423. Rousseau, Brief an Herrn d’Alembert, S. 423. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 109. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 107. Döcker, Die Ordnung der bürgerlichen Welt, S. 278. Auf diesen Forschungsstand weisen auch Claudia Opitz und Ulrike Weckel hin: »Inzwischen haben zahlreiche Untersuchungen gezeigt, daß die Konstruktion zweier separater Sphären keineswegs als adäquate Beschreibung gesellschaftlicher Wirklichkeit gelten kann. Weder waren die Geschlechter je eindeutig nur einem der beiden Gesellschaftskreise [Häuslichkeit/Öffentlichkeit] zugeordnet, noch konnten diese klar gegeneinander abgegrenzt werden. Man könnte mitunter sogar von der Öffentlichkeit des Privaten sprechen.« Opitz, Weckel, Einleitung, S. 14. Schon 1985 schrieb Regula Venske in ihren wegweisenden »Thesen zu einer feministi-

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henden ›privaten‹ Foren in den Vordergrund zu rücken: gesellige Zirkel und Salons, in denen es nicht nur zugelassen, sondern erwünscht ist, dass Frauen zu Wort kommen.85 Bezieht man Schriften zum geselligen Umgang, zur Konversation und zum Anstand mit ein, kommen Rednerinnen in den Blick. So kritisiert Carl Christian Schramm schon 1741 die Begrenzung rhetorischer Theoriebildung und praktischer Anleitung auf die öffentliche Rede und denkt dabei sogar an die Einbeziehung der Frau: Alle Buchläden sind voll von Anweisungen zum Reden. Nur handeln sie nicht von derjenigen Art zu sprechen, welche zu wissen wir im gemeinen Leben alle Augenblick bedürfen: sondern sie legen meistentheils bloß das aus, was die Gelehrten in gebundner, oder ungebundener Rede auf Cathedern, oder Cantzeln, eine oder mehr Stunden lang gebrauchen; Allein was nützet dieses beydes Soldaten, Leuten vom Hofe, Bürgern und denen, so auf dem Lande wohnen, wenn sie nicht zugleich sich der Gelehrten Beredsamkeit gewidmet haben? Und was soll vollends das arme Frauenzimmer machen, das durchgehends, wenige ausgenommen, zum nehen, spinnen und kochen verdammet ist, gleichwohl aber im alltäglichen Leben so nöthig hat, ohne Plauderey geschickt zu reden, als der größte Gelehrte?86

Inwiefern die Konversation (vom alltäglichen Gespräch ganz zu schweigen) Teil der Redekunst ist, ist im 18. Jahrhundert nicht unumstritten. Johann Andreas Fabricius definiert 1724 zwei Ziele der Beredsamkeit, dass »die glückseeligkeit des menschlichen geschlechts befördert und der umgang unter ihnen angenehm gemacht werde«87. Während die Beredsamkeit ihr erstes Ziel mit der Gelehrsamkeit und der Sprache generell teile, stelle das zweite ein Spezifikum der Beredsamkeit dar, indem durch den geschickten Ausdruck die eigenen Gedanken und Gefühle auch beim Gegenüber erweckt werden können.88 Diese beiden Ziele kommen durchaus nicht nur in öffentlichen Reden zum Tragen, vielmehr verstehe sich von selbst, so

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schen Rhetorik«, die »Rekonstruktion einer weiblichen Rhetorik« werde diese »zunächst als Rhetorik des Privaten zu verstehen haben und sich geschichtlich zu beschränken haben auf die Zeit etwa seit dem 18. Jahrhundert, d. h. der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und der für sie kennzeichnenden Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit« (S. 151). Dabei zielte Venske vor allem auf eine Einbeziehung der Frauen zur Verfügung stehenden schriftlichen Artikulationsmedien wie Roman, Journal, Almanach und Brief und hatte weniger die Foren mündlicher Rhetorik im Sinn. Vgl. Schnegg, Geschlechterkonstellationen in der Geselligkeit der Aufklärung. Carl Christian Schramm, Die Kunst im gemeinen Leben 1.) Wohl zu dencken, 2.) Vernünftig zu reden, 3.) Weißlich zu scherzen und wo es nöthig ist 4.) Klüglich zu schweigen, Leipzig, Budißin: Richter 1741, unpag. Vorrede. Johann Andreas Fabricius, Philosophische Oratorie, Das ist: Vernünftige anleitung zur gelehrten und galanten Beredsamkeit, wie sich selbige so wohl in öffentlichen reden, als auch im täglichen umgang, bey allerhand materien, auf mancherley art, durch eine glückliche erfindung, nette expreßion und ordnung zeigen müsse, mit auserlesenen exempeln erläutert, und mit einem register versehen, Leipzig: Bey denen Cörnerischen Erben 1724, ND Kronberg i. Ts. 1974, S. 2. Vgl. Fabricius, Philosophische Oratorie, S. 4.

Fabricius, »daß die beredsamkeit sich auch im umgange zeigen müsse, weil eben daselbst die meiste gelegenheit sich zeiget, die glückseeligkeit und das vergnügen der menschlichen gesellschaft zu befördern und seine gedancken auszudrücken.«89 Dass eine hergebrachte Rhetorik sich auf die öffentliche Rede konzentriert, wird implizit kritisiert, indem Fabricius die Beredsamkeit auf seine Lebensverhältnisse bezieht: »Wir reden am allermeisten im gemeinen leben, also brauchen wir dazu eine Oratorie am allernöthigsten«, heißt es hier einleuchtend.90 Ohne die Kunst der Beredsamkeit könne die Konversation nicht vollkommen sein, vielmehr entrüstet sich Fabricius, »alle unsere conversation und wissenschaft, würde ein rechtes Babel seyn, wann wir nicht durch die Oratorie, zum vernünftigen ausdruck unserer gedancken angeführt würden und also durch vernünftiges reden uns von unvernünftigen menschen und albernen wäschern unterscheiden könten«.91 Fast wortgleich mit Fabricius wird auch im Zedler’schen Lexikon von 1741 die Grenze zwischen gelehrter und ungelehrter, nicht zwischen öffentlicher und privater Beredsamkeit gezogen. Die Redekunst sei eine vernünftige Anweisung zur Beredsamkeit, das ist, zu der Geschicklichkeit, solche Wörter zu gebrauchen, welche mit unsern Gedancken genau überein kommen, und in solcher Ordnung mit solcher Art seine Gedancken fürzustellen, daß in denen, die unsere Worte hören oder lesen, eben die Gedancken und Regungen entstehen, die wir ihnen beybringen wollen, damit die Glückseligkeit des menschlichen Geschlechts befördert, und der Umgang unter ihnen angenehm gemacht werde.92

Und weiter: »Aus diesem flüsset von selbsten, daß die Beredsamkeit sich auch im Umgange zeigen müsse, weil eben daselbst die meiste Gelegenheit sich findet, die Glückseligkeit und das Vergnügen der menschlichen Gesellschaft zu befördern, und seine Gedancken auszudrücken.«93 Nach Zedler ist dementsprechend nicht die öffentliche Rede, sondern gerade der private Umgang vornehmlicher Ort der Beredsamkeit. Dagegen zeigt sich Sulzer 1778 durch die bereits in der antiken Rhetorik angelegte Bandbreite zwischen öffentlicher und privater Rede irritiert. Recht umständlich führt er in seinen Artikel »Redekunst; Rhetorik« ein und stellt zunächst fest, dass, obwohl von allen Künsten die Beredsamkeit in der Antike ihre ausführlichste theoretische Ausformulierung gefunden habe, er dennoch nach der Lektüre von Aristoteles, Cicero und Quintilian in Verlegenheit gewesen sei, diesen Artikel zu verfassen, was wohl auf die unvollständige Bestimmung des Begriffs ›Beredsamkeit‹ selbst zurückzuführen sei. Im Folgenden unterscheidet und bestimmt Sulzer ›vier 89 90 91 92

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Fabricius, Philosophische Oratorie, S. 5. Fabricius, Philosophische Oratorie, S. 409 Fabricius, Philosophische Oratorie, S. 5. Johann Heinrich Zedler, Rede-Kunst. In: Großes vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 30, Leipzig, Halle 1741, ND Graz 1998, Sp. 1605–1608, Sp. 1605. Zedler, Rede-Kunst, Sp. 1606.

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Gestalten‹ der Rede: die gemeine Rede, die Wohlredenheit, die Beredsamkeit und die Poesie.94 Diese seien zwar nur graduell voneinander zu trennen, hätten jedoch jeweils ihre Eigenheit. Die Beredsamkeit sei die eigentliche Redekunst, die gemeine Rede gehöre nicht zur Redekunst, aber die Wohlredenheit schon: Sie sei ein Sonderfall, da es zwar darum gehe, wie man die Dinge richtig ausdrücke, nicht aber, wie man die fünf officia anzuwenden habe. In seinem Bemühen, die Beredsamkeit als ›Kunst‹ zu legitimieren, wertet Sulzer die ›bloße Wohlredenheit‹ als nachrangig im Vergleich zur ›eigentlichen‹ Beredsamkeit ab, wie sich im Artikel »Beredsamkeit« zeigt: Von der bloßen Wolredenheit geht die Beredsamkeit in ihren Absichten ab. Jene sucht blos zu gefallen oder zu ergötzen; sie sieht ihren Gegenstand blos von der angenehmen und belustigenden Seite an, mischt allerhand fremde Zierrathen zu ihrer besondern Absicht in dieselbe; da diese allemal den bestimmten Zwek hat, zu unterrichten, oder zu überzeugen, oder zu rühren. Die Zierrathen, die sie braucht, müssen blos zu Erreichung dieser Absichten dienen. Sie geht tief in die Betrachtung der Dinge hinein, so weit die innern Sinnen einzudringen vermögend sind; da jene sich mehr an dem Äußerlichen derselben hält. Ohne durchdringenden Verstand kann man nicht beredt seyn; aber die bloße Wolredenheit besitzen auch Menschen, die selten die wahre innere Beschaffenheit der Dinge einsehen. Das Talent, alles, was man sich vorstellt, leicht und angenehm auszudrüken, ist das einzige, was die Wolredenheit erfodert; es ist aber nur ein geringer Theil dessen, was zur Beredsamkeit gehört.95

Sulzer schreibt der Wohlredenheit nur das Ziel delectare zu, wobei docere und movere auf die Beredsamkeit entfallen. Die philosophisch anmutende Beredsamkeit dient der Wahrheitsfindung, während sich die Wohlredenheit mit Äußerlichkeiten begnügt und dementsprechend auch für weniger Gebildete »ohne durchdringenden

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Johann Georg Sulzer, Redekunst; Rhetorik. In: Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt, Bd. 2, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1774, S. 959–962, S. 959. Johann Georg Sulzer, Beredsamkeit. In: Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt, Bd. 1, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1771, S. 146–153, S. 146f. Während Sulzer die ›bloße Wohlredenheit‹ in seinem Bemühen, die Rhetorik als Kunst zu profilieren, abwertet, wertet sie Immanuel Kant mit dem Ziel, die ars oratoria als »Kunst, sich der Schwächen der Menschen zu seinen Absichten zu bedienen« gerade auf. »Die Beredsamkeit, sofern darunter die Kunst zu überreden, d. i. durch den schönen Schein zu hintergehen (als ars oratoria), und nicht als bloße Wohlredenheit (Eloquenz und Stil) verstanden wird, ist eine Dialektik, die von der Dichtkunst nur so viel entlehnt, als nötig ist, die Gemüter, vor der Beurteilung, für den Redner zu dessen Vorteil zu gewinnen, und dieser die Freiheit zu benehmen; kann also weder für die Gerichtsschranken, noch für die Kanzeln angeraten werden.« Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft. In: Kant, Werke in zehn Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. VIII, Darmstadt 1983, S. 233–620, S. 430f. Vgl. auch: Ingo Stöckmann, Wohlredenheit. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 9, Tübingen 2009, Sp. 1405–1409.

Verstand« (wie etwa wohlberedte Frauen, so ließe sich hinzufügen) offen steht. Folgerichtig bezieht Sulzer auch die Konversation nicht in die Beredsamkeit ein: Eine förmliche Rede, das »Hauptwerk der Beredsamkeit«, unterscheide sich von einem »unterhaltenden angenehmen Geschwätz« durch ihren Ton, der »einen gewissen Grad der Würde, Größe und Wärme haben müsse, der der Feyerlichkeit der Veranlassung angemessen ist.«96 Diese ›Feierlichkeit der Veranlassung‹ verweist eben auf eine ›öffentliche‹ Redesituation, die eine gewisse historische und politische Relevanz suggeriert. Die Abwertung des delectare-Ziels und damit der Wohlredenheit ist gerade im Vergleich zu dem in der frühen Aufklärung so prominenten Ziel der menschlichen Glückseligkeit und des angenehmen Umgangs irritierend. Ob die zunehmende Partizipation von ›wohlberedten‹ Frauen in der bürgerlichen Salon-Öffentlichkeit eine Rolle bei der Devaluation der Wohlredenheit, ihrer Abschiebung auf die untergeordnete Umgangslehre und damit ihrem sukzessiven Ausschluss aus der Rhetorik als Wissenschaft und Kunst spielt, sei dahingestellt.97 Ingrid Lohmann hat einen Zusammenhang zwischen der Differenzierung von Privatheit und Öffentlichkeit und der im späten 18. Jahrhundert aufkommenden Differenzierung zwischen Wohlredenheit und Beredsamkeit aufgezeigt sowie auf die gender-Implikationen dieses Zusammenhangs hingewiesen: Wohlredenheit und Beredsamkeit wurden als rhetorische Dimensionen von Privatsphäre und öffentlicher Sphäre zueinander in Beziehung gesetzt. In der literarischen Öffentlichkeit um 1800 galt Beredtheit den Gebildeten untereinander als Ausweis; hier waren, ähnlich wie in der repräsentativen Öffentlichkeit der höfischen Feudalgesellschaft, Frauen noch präsent. Zwar wurde Öffentlichkeit durch Gespräch und Rede überhaupt erst erzeugt, aber zugleich spiegelte sich in der konzeptionellen Differenzierung zwischen Wohlredenheit und Beredsamkeit auch der Ausschluß der Frauen aus der politischen Öffentlichkeit wider: Nur die auf bestimmte Ausschnitte des geselligen Lebens (die Privatheit der Familie, des Hauses, die gesellige Konversation) bezogene Wohlredenheit blieb ihnen verstattet. Diese Beschränkung gehörte zur widersprüchlichen Struktur der Vergesellschaftung der Rhetorik im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert. Sie hatte ihre Entsprechung in dem Sachverhalt, daß das höhere Bildungswesen, soweit öffentlich, ein Knabenschulwesen war und daß umgekehrt an höheren Töchterschulen zwar zur Wohlredenheit, aber nicht zur Beredsamkeit gebildet wurde.98

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Johann Georg Sulzer, Rede. In: Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt, Bd. 2, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1774, S. 953–959, S. 956. Regula Venske hält es für signifi kant, dass eben diejenigen Bereiche der Rhetorik, die Frauen offen stehen, gerade keine Aufwertung erfahren, wie sie anhand des Beispiels Brief darstellt, der bemerkenswerterweise trotz der aufblühenden Briefkultur eben nicht zur »Top-Gattung« aufgestiegen sei. Venske, Thesen zu einer feministischen Rhetorik, S. 153. Ingrid Lohmann, Bildung, bürgerliche Öffentlichkeit und Beredsamkeit. Zur pädagogischen Transformation der Rhetorik zwischen 1750 und 1850, Münster, New York 1993, S. 6. Lohmann bemerkt, dass die Forschungsfragen, wie sich die Bildung zur Wohlredenheit für Mädchen und Frauen im einzelnen dargestellt hat, welche Ansätze es gab,

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Zwar ist Lohmann in ihrem Befund generell zuzustimmen, eine solche Unterscheidung privater (weiblicher) Wohlredenheit und öffentlicher (männlicher) Beredsamkeit muss allerdings nicht dazu führen, die zeitgenössische Differenzierung zwischen Beredsamkeit und Wohlredenheit sowie die ihr implizite Abwertung der Wohlredenheit beizubehalten. Letztlich beschränkt auch Lohmann ihre Untersuchung nach dem Hinweis auf weibliche Wohlredenheit auf die ›eigentliche‹ Beredsamkeit, und nimmt damit explizit in Kauf, sich ausschließlich auf die rhetorische Erziehung und Betätigung von Jungen und Männern zu beziehen.99 Die Forschung auf eine ›eigentliche‹ Rhetorik, die Beredsamkeit, zu konzentrieren, und eine ›sekundäre‹ Wohlredenheit – und damit zugleich die dieser Wohlredenheit fähigen Frauen – zu vernachlässigen, heißt jedoch, die den Dichotomien öffentlich-privat und männlich-weiblich kulturell eingeschriebenen Hierarchien zu reproduzieren. Dies ist eben dann der Fall, wenn die »verbale Privatpersuasion« aus dem Forschungsgegenstand Rhetorik ausgeschlossen wird, und das Rhetorische, wie dies beispielsweise Peter Philipp Riedl oder Peter L. Oesterreich tun, als »persuasive Rede in der lebensweltlichen Öffentlichkeit«100 definiert wird. Aus einem genderorientierten Blickwinkel lohnt es sich also gerade, auch die Wohlredenheit in die Forschung einzubeziehen. Nicht zuletzt ist noch einmal auf die Bedeutungsvielfalt des Begriffs ›öffentliche‹ Rede hinzuweisen und ein eigener Schwerpunkt zu setzen. Lucian Hölscher stellt fest, dass im deutschen Sprachgebrauch etwa seit der Mitte des 17. Jahrhunderts das Attribut ›öffentlich‹ seine alten Bedeutungen ›offen, für jedermann zugänglich‹ sowie ›evident, sichtbar, offenbar‹ gegen die neue Bedeutung ›staatlich‹ weitgehend abgelegt habe, allerdings blieben die alten Bedeutungen latent.101 In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts komme es dann zu einer weiteren Bedeutung von ›öffentlich‹: ›auf ein ideelles, sozial offenes Publikum bezogen‹. Festzuhalten ist also, dass vor und neben einer ›politischen‹ Bedeutung des Terminus eine ›perzeptiv-visuelle‹ Konnotation des Begriffes ›öffentlich‹ gegeben war und ist, die für den ›öffentlichen‹ Redeauftritt von besonderer Relevanz ist. Wenn ich von ›öffentlicher‹ Rede spreche, stelle ich eben diese Sichtbarkeit und diesen Publikumsbezug der Redenden in den Vordergrund. Dabei zeichnet sich die Performanz der Rede nicht nur auf der Kanzel oder dem Katheder, sondern eben auch in scheinbar ›privaten‹

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diese Beschränkung zu überschreiten, welche Beiträge Frauen ihrerseits zur rhetorischen Theoriebildung und zur Entstehung einer neuen Redekultur leisteten, noch unbeantwortet sind. Lohmann, Bildung, bürgerliche Öffentlichkeit und Beredsamkeit, S. 6. Peter L. Oesterreich, Fundamentalrhetorik. Untersuchungen zu Person und Rede in der Öffentlichkeit, Hamburg 1990, S. 46; vgl. Riedl, Öffentliche Rede in der Zeitenwende. Deutsche Literatur und Geschichte um 1800, S. 13. Vgl. Lucian Hölscher, Die Öffentlichkeit begegnet sich selbst. Zur Struktur öffentlichen Redens im 18. Jahrhundert zwischen Diskurs- und Sozialgeschichte. In: ›Öffentlichkeit‹ im 18. Jahrhundert, hg. von Hans-Wolf Jäger, Göttingen 1997, S. 11–31.

Redesituationen durch ihre zielgerichtete Inblicknahme des Publikums und Inblicknahme durch ein Publikum (wie zahlreich es auch sein mag) aus. Damit kann ich auch Reden von Frauen als ›öffentlich‹ bezeichnen, die vor einem ›privaten‹, geselligen Publikum stattfinden, ohne dass es sich um eine ›politische‹ Redesituation handeln müsste. Die untersuchten Rhetoriken und Anstandsbücher legen eben dies nahe: Der gesellige Umgang wird als eine rhetorische Selbstdarstellung (ēthos) unter den argusäugigen Blicken eines überaus kritischen Publikums beschrieben. Spezifische und begrenzte Redesituationen sind unter dieser Dauerbeobachtung kaum vorstellbar, vielmehr scheinen die allgegenwärtigen Blicke der Gesellschaft auf die Redner/innen die rhetorische Situation auf den gesamten Alltag auszudehnen. Dabei werden besonders Frauen in den ›gesellschaftlichen‹ Blick genommen, denen es obliegt, das decorum nicht nur einzuhalten, sondern geradezu zu verkörpern, wird ihnen doch der Anstand von Natur aus zugeschrieben. Durch ihre actio müssen sie ihr ›Ansehen‹ gewinnen, das sichtbare Resultat ihrer Performanz in der öffentlichen Meinung.

IV.2 Das Frauenzimmer als Rednerin: Positionen der Frühaufklärung Bevor Rhetoriken, Erziehungstexte und Anstandslehren aus dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts im Mittelpunkt der Analyse von actio und Geschlecht im 18. Jahrhundert stehen werden, soll in diesem Kapitel ein kurzer Blick auf die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts geworfen werden, in dem die frühaufklärerischen Überlegungen zur intellektuellen Befähigung und Bildbarkeit der Frau den Boden für das Lob gelehrter – und eben auch rhetorisch gelehrter und auftretender – Frauen bereiten. Die so genannte ›Frühaufklärung‹ ist aufgrund der naturrechtlichen Betonung der Gleichheit aller Menschen, der Vorstellung einer natürlichen Vernunftbegabung auch des weiblichen Geschlechts sowie des Lobs für gelehrte Frauen oftmals im Vergleich zur ›Hoch- und Spätaufklärung‹ als eine ›frauenfreundlichere‹ Zeit beschrieben worden. Diese Zuschreibung wird in der neueren Forschung kontrovers diskutiert. Claudia Opitz und Ulrike Weckel halten die Annahme der frühaufklärerischen ›Frauenfreundlichkeit‹ für einen ›Kurzschluss‹ der Forschung: Von Egalität könne auch in solchen gynophilen Schriften keine Rede sein. Es wäre jedoch erst noch genauer zu untersuchen, inwieweit die Geschlechterdifferenz auch den radikalsten Egalitätstheoretikern derart selbstverständlich war, daß ein geschlechtsspezifischer doppelter Maßstab implizit immer bereits mitgedacht war. So lag etwa dem frühaufklärerischen Lob für gelehrte Frauen ein wesentlich großzügigerer Begriff von Gelehrsamkeit zugrunde als er auf Männer Anwendung fand.102

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Opitz, Weckel, Einleitung, S. 9f. Tatsächlich werden Frauen in der Frühaufklärung bereits als ›gelehrt‹ bezeichnet, wenn sie im Vergleich zu ihren Geschlechtsgenossinnen über eine überdurchschnittliche Bildung – insbesondere in den alten Sprachen – ver-

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Umgekehrt habe die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts sich verfestigende Dreifachbestimmung der Frau als Gattin, Hausfrau und Mutter diese zu Expertinnen auf ›ihren‹ Gebieten gemacht, eine aus heutiger Sicht zwar restriktive Setzung, die allerdings deutlich mehr Ratgeberinnen und Erzieherinnen in der Öffentlichkeit produzierte als die Zeiten egalitärer Geschlechterkonzeptionen.103 Nun ist die ›Frauenfreundlichkeit‹ keine (Bewertungs-)Kategorie, die für meine Arbeit relevant ist. Die Frage stellt sich allerdings, ob in der Frühaufklärung der Frau andere, positiv besetzte Identitätsangebote – wie das der Rednerin – gemacht werden, die in der Spätaufklärung undenkbar werden. Eine Textgattung, die Aufschlüsse zu dieser Frage liefern kann, sind die so genannten ›Frauenzimmer-Lexika‹. Ebenso wie Georg Philipp Harsdörffer vertreten die Autoren der Frauenzimmer-Lexika die Auffassung, dass die Frau wie der Mann vernunftbegabt und bildungsfähig sei. Anschließend an meine Lektüre der Frauenzimmer-Gesprächspiele (1641–1649), deren invitatorischer Gestus ungebildete junge Menschen (d. h. auch Frauen) einbezieht und auf die Macht beständiger Übung zur (Aus-)Bildung rhetorischer Subjekte vertraut, möchte ich die Bildungsvision der Frauenzimmer-Lexika betonen: »Das jung Frauenzimmer zur Nacheiferung auf das nachdrücklichste erwecken«104, ist ihr erklärtes Ziel. Bemerkenswert ist nun, dass keine Textgattung so viele Rednerinnen – historische und zeitgenössische – kennt wie die Frauenzimmer-Lexika des 17. und vor allem des frühen 18. Jahrhunderts. Doch die in den Frauenzimmer-Lexika entworfene Vision einer sich peu à peu erfüllenden Bildungsgleichheit und damit einhergehenden rhetorischen Ermächtigung von Frauen hat sich im historischen Rückblick nicht durchsetzen können, wie die zunehmende Verachtung der gelehrten Frau im Verlauf des 18. Jahrhunderts und schließlich die Festschreibung auf ihre ›natürliche‹ Funktion als Gattin, Hausfrau und Mutter zeigen. Während die Frauenzimmer-Lexika für eine kurze Zeit die ›Rednerin‹ als angemessen agierendes Subjekt intelligibel machen, bleiben in anderen Textgattungen diejenigen Argumentationsweisen und Topoi in Kraft, mit denen die Frau wiederum aus der Redekunst und einem für das 18. Jahrhundert ganz speziellen Ort ihrer möglichen Betätigung, den Rednergesellschaften, ausgeschlossen wird. Exemplarisch lese ich dazu eine Scherzrede von Jacob Wilhelm Blaufus, der 1745 die Vorzüge des Frauenzimmers vor den Mannspersonen in der Beredsamkeit vor der Teutschen Gesellschaft in Jena satirisch preist. Erst die Zusammenschau von ›Frauenlob‹ und ›Frauenschelte‹ eröffnet einen Blick auf jenen Fundus widersprüchlicher Argumentationsweisen und Topoi, der, so meine These,

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fügen, wenn sie besonders belesen sind oder dichten. Männer dagegen gelten erst als ›gelehrt‹, nachdem sie eine fundierte akademische Ausbildung genossen und wissenschaftlich oder literarisch publiziert haben. Opitz, Weckel, Einleitung, S. 9f. Peter Paul Finauer, Allgemeines Historisches Verzeichnis gelehrter Frauenzimmer, Bd. 1, München: Johann Christoph Mayr 1761, unpag. Vorrede.

›das Frauenzimmer als Rednerin‹ in der Frühaufklärung letztlich nicht als sozialhistorisches Subjekt, sondern als rhetorisches Gedankenspiel sichtbar werden lässt. IV.2.1 »Nacheiferung«: Aufruf zur imitatio historischer Rednerinnen in Frauenzimmer-Lexika Während die Geschichtsschreibung der Rhetorik einen Kanon männlicher Vorbilder, das heißt berühmter Redner wie Demosthenes, Perikles, Antonius, Gracchus, Crassus und Cicero aufgestellt und tradiert hat, sind weibliche Vorbilder nicht in diesen Katalog eingegangen. Ein Gegenbild bieten die Kataloge gelehrter Frauen, die vom Anfang des 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts erscheinen und die eine signifikante Anzahl rhetorisch gebildeter Frauen vorstellen und als nachahmenswerte Vorbilder ausweisen. Diese Frauenzimmer-Lexika versammeln kurze Biographien von gelehrten Frauen und die dazugehörigen bibliographischen Quellenangaben. Obwohl sie eine aussagekräftige Quelle über historische Rednerinnen bieten, sind sie bislang von der gender-orientierten Rhetorikforschung nicht wahrgenommen worden.105 In diesem Kapitel soll jedoch nicht die Suche nach Frauen in der Geschichte der Rhetorik im Vordergrund stehen, sondern die Frage gestellt werden, wie die Frauenzimmer-Lexika Rednerinnen repräsentieren, welche Bildungsvorstellung sie damit verknüpfen und welches rhetorische Wissen sie Frauen zuschreiben. Während es Kataloge berühmter Frauen schon in der Renaissance gegeben hat, die bekanntesten Beispiele sind Giovanni Boccaccios De claris mulieribus (ca. 1361– 105

Die Forschungsliteratur zu Frauenzimmer-Lexika ist wenig umfangreich und bislang ohne Fokus auf die weibliche Rhetorik. Einen Überblick über die deutschsprachigen beziehungsweise von deutschsprachigen Autoren auf Latein verfassten Kataloge bieten: Jean M. Woods, Maria Fürstenwald, ›Das gelehrte Frauenzimmer‹. Kataloge der Schriftstellerinnen, Künstlerinnen und gelehrten Frauen von 1606 bis zur Gegenwart. In: Woods, Fürstenwald, Schriftstellerinnen, Künstlerinnen und gelehrte Frauen des deutschen Barock. Ein Lexikon, Stuttgart 1984, S. xii-xxiv. Brita Rang liefert in einem instruktiven Artikel eine systematische Zusammenschau der aus ganz Europa stammenden Enzyklopädien. Dabei zeigt sie nicht nur die (üblicherweise informellen) Wege des Wissenserwerbs von Frauen und deren (vornehmlich adelige, wohlhabende) soziokulturelle Herkunft und familiären Hintergründe (ein Großteil der Frauen war verheiratet und bestätigt nicht das im späteren 18. Jahrhundert propagierte Bild der isolierten, asozialen, hysterischen Gelehrten) auf, sondern fragt auch, mit welchen Wissenschaften sich gelehrte Frauen vornehmlich beschäftigt haben und ob im Laufe der Zeit Verschiebungen in ihrem Wissensinteresse sichtbar werden. Brita Rang, ›Jus fasque esse in rempublicam litterariam foemina adscribi‹. Gelehrt(inn)en-Enzyklopädien des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Paedagogica Historica, 28/3, 1992, S. 511–549. Eine Skizze ihres Dissertationsvorhabens zu Frauenzimmer-Lexika mit wenigen weiteren Literaturhinweise zu aktuelleren Aufsätzen, die sich mit jeweils einem Lexikon auseinandersetzen, gibt: Karin Schmidt-Kohberg, Repräsentationen gelehrter Frauen in ›Frauenzimmer-Lexika‹ des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Nonne, Königin und Kurtisane. Wissen, Bildung und Gelehrsamkeit von Frauen in der Frühen Neuzeit, hg. von Michaela Hohkamp, Gabriele Jancke, Königstein i. Taunus 2004, S. 135–152.

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1375) und Christine de Pisans Livre de la Cité des Dames (1405/1407), liegt der Unterschied zu den ab dem 17. Jahrhundert erscheinenden Sammlungen von gelehrten Frauen darin, dass weniger auf die admiratio der berühmten Frauen abgezielt werde als auf die imitatio der gelehrten Frauen, wie Brita Rang hervorhebt: Das Konzept der ›exempla‹ war mit einer eigenen Dynamik aufgeladen: Die Autoren stellten ihre gelehrten Frauen als ›Vorgängerinnen‹ vor, d. h. als Vorbilder, denen nicht nur nachzueifern, sondern auch wirklich gleichzukommen sei. ›Imitatio‹ war das Stichwort.106

Gerade die imitatio bietet eine Möglichkeit für Frauen, (rhetorisches) Wissen außerhalb von ihnen nicht zugänglichen Bildungsinstitutionen zu erlangen. Die Forderung, Frauen Bildung zu verschaffen, zusammen mit der Begründung, dass Frauen ebenso wie Männer vernunftbegabt seien, bestimmen vor dem Hintergrund der Querelle des femmes die Vorworte der bio-bibliographischen Enzyklopädien.107 Die Vielzahl der exempla wird als Beleg für die Bildbarkeit der Frau eingesetzt. Die exempla stammen aus allen Zeiten (von der Antike bis zur damaligen Gegenwart), aus

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Rang, Gelehrt(inn)en-Enzyklopädien des 17. und 18. Jahrhunderts, S. 515. Das früheste deutschsprachige Beispiel ist: Johann Frawenlob, Die Lobwürdige Gesellschafft der Gelehrten Weiber/ Das ist: Kurtze/ Historische Beschreibung/ der fürnembsten gelehrten/ verständigen und Kunsterfahrnen Weibspersonen/ die in der Welt biß auff diese Zeit gelebet haben. Auß unterschiedlichen glaubwürdigen Historicis, so wohl auch eigenen Erfahrung/ zusammen getragen/ nach dem Alphabet mit Fleiß verzeichnet/ und Männiglich zur Nachrichtung/ in Druck gegeben, o. O. 1631. Frawenlob, der in seiner Vorrede Eltern zur Ausbildung ihrer Töchter in den Künsten, Sprachen und der Heiligen Schrift anhält, beendet seine Exempelsammlung mit den Worten: »Auß diesen Exempeln ist leicht zu ermessen/ daß nicht weniger Weibspersonen Ingenia haben/ dann die Männer/ wann sie nur excoliret, und zu den Studiis unnd Lernung guter Künste gehalten werden/ dieweil man sihet/ daß sie mit Scharffsinnigkeit offt die Mannspersonen ubertreffen.« (S. 33) Fünfundsiebzig Jahre später argumentiert Johann Caspar Eberti ganz ähnlich: »[S]o hat man gemeinet es sey schon gewonnen/ und am besten/ wenn man den Frauens-Personen die Bücher alle aus den Händen schlüge: denn entweder sie brächten es nicht weit, oder sie müßbraucheten ihre Gelehrsamkeit. Alleine wo geschiehet beydes mehr als unter den Männern/ wie viele tausend Sudler hat es/ und wie viele gottlose Gemüther giebt es unter denen/ so den Nahmen der Gelehrten führen? daher stehe in der festen Meynung/ daß das meiste versehen/ in der Auferziehung liege und alles was ein Mann löbliches verrichten kann/ von Weibes-Bildern eben könne vollbracht werden/ wenn sie nur recht und bey Zeiten dazu angehalten werden […] und die unzehlichen Exempel bestätigen es zur Gnüge.« Johann Caspar Eberti, Eröffnetes Cabinet Deß Gelehrten Frauen-Zimmers/ Darinnen Die Berühmtesten dieses Geschlechtes umbständlich vorgestellet werden, Frankfurt, Leipzig: Rohrlach 1706, ND hg. von Elisabeth Gössmann, München 2004, unpag. Vorrede. Diese Argumentationsweise findet sich noch 1761 bei Peter Paul Finauer: »Das Vorurtheil der Erziehung ist es! das gemeiniglich die Frauenzimmer von dergleichen Übungen abhält, folgsam nicht ein natürliches Unvermögen schuld daran ist, daß man nicht so viele Werke der Scharfsinnigkeit von diesem Geschlechte aufzuweisen hat.« Finauer, Allgemeines Historisches Verzeichnis gelehrter Frauenzimmer, unpag. Vorrede.

der ›ganzen Welt‹ und aus den verschiedensten Disziplinen (vor allem aus Fremdsprachen, Literatur, Musik und Ästhetik). In vielen Frauenzimmer-Lexika sind sie alphabetisch geordnet, in manchen nach den Herkunftsländern der gelehrten Frauen108, in einem nach den Disziplinen, in denen sich die Frauen bewiesen haben109, und in einem anderen nach den Jahrhunderten, in denen sie gelebt haben110. Fast alle der vertretenen gelehrten Frauen haben wissenschaftliche oder literarische Texte veröffentlicht. Ihre Schriften sind nicht nur der Anhaltspunkt, die gelehrten Frauen in der Geschichte überhaupt aufzuspüren, sondern werden auch als Beweis ihrer Gelehrtheit und Beleg ihrer historischen Existenz aufgeführt.111 Zusätzlich werden weitere Quellen wie Biographien, Augenzeugenberichte oder Lobgedichte

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Die Herkunftsländer der Gelehrten scheinen von großem Interesse gewesen zu sein. Während die meisten Frauenzimmer-Lexika alphabetisch geordnet sind, folgt z. B. Johann Gerhard Meuschen, Courieuse Schau-Bühne Durchläuchtigst-Gelahrter Dames: Als Kayser-, König-, Cuhr- und Fürstinnen auch anderer hohen Durchläuchtigen Seelen aus Asia, Africa und Europa, Voriger und itziger Zeit, Frankfurt, Leipzig: Johan Bielcke 1706, einer geographischen Ordnungsweise: Beginnend mit den alten Reichen folgen schließlich gelehrte Frauen u. a. aus Italien, Frankreich, Spanien, England, Schweden, Polen, Ungarn und den deutschen Fürstentümern. Auch die alphabetisch geordneten Enzyklopädien verzeichnen internationale Exempel gelehrter Frauen, wobei das Herkunftsland beziehungsweise die Stadt, in der die Frauen lebten und lehrten, grundsätzlich erwähnt wird. Dazu kommen regionale Enzyklopädien wie Johann Caspar Eberti, Schlesiens Hoch- und Wohlgelehrtes Frauen-Zimmer, Breslau: Rohrlach 1727, ND hg. von Elisabeth Gössmann, München 2004. Die geographischen Details, mit denen die Frauen verortet werden, scheinen erstens zur Beglaubigung der Biographien eingesetzt zu werden, zumal die Zeit, in der die Frauen gelebt haben, oftmals unbekannt bleibt, und zweitens als patriotischer Gleichwertigkeits- oder Überbietungsnachweis gegenüber anderen Ländern zu fungieren. Vgl. zu dieser Überbietungsrhetorik das Vorwort von Christian Franz Paullini, Das Hoch- und Wohl-gelahrte Teutsche Frauen-Zimmer, Frankfurt, Leipzig: Johann Christoph Stößel 1705; sowie Paullini, Hoch- und Wohlgelahrtes Teutsches Frauenzimmer/ Abermahl durch Hinzusetzung unterschiedlicher Gelehrter/ Wie auch Etlicher Ausländischer Damen hin und wieder um ein merckliches vermehret, Frankfurt, Leipzig: Johann Christoph Stößel 1712. Georg Christian Lehms listet beispielsweise in seiner Vorrede nacheinander gelehrte Frauen der Theologie, Jurisprudenz, Medizin, Philosophie, Mathematik, Geschichte/ Genealogie/Geo-graphie, Oratorie, Musik und Malerei auf, um dann zur Poesie zu kommen, um die es ihm im Hauptteil geht. Unter der ›Oratorie‹ sind immerhin sechzehn Frauen verzeichnet. Georg Christian Lehms, Teutschlands Galante Poetinnen mit ihren sinnreichen und netten Proben; Nebst einem Anhang ausländischer Dames/ so sich gleichfalls durch schöne Poesien bey der curieusen Welt bekannt gemacht, und einer Vorrede, daß das Weibliche Geschlecht so geschickt zum Studieren/ als das Männliche, Frankfurt a. M.: Hocker 1715, ND hg. von Winfried von Borell, Darmstadt 1966, unpag. Vorrede. [Paulin Erdt,] Philotheens Frauenzimmer-Akademie. Für Liebhaberinnen der Gelehrsamkeit. Aus dem Französischen übersetzt von der Frau von *** mit Erlaubniß des Obern, Augsburg: Veith 1783. Vgl. Rang, Gelehrt(inn)en-Enzyklopädien des 17. und 18. Jahrhunderts, S. 541.

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über das Leben und Schaffen der Frauen verzeichnet, so dass die bibliographischen Angaben oftmals länger ausfallen als die biographischen. Repräsentation historischer Rednerinnen Damit sich also eine Rednerin in einem Frauenzimmer-Lexikon finden kann, muss sie nicht nur öffentlich in Erscheinung getreten sein, sondern auch eine Rede veröffentlicht haben, und (oder) es müssen andere für wert befunden haben, über sie zu schreiben. Daher ist die Rhetorik erwartungsgemäß nicht diejenige Disziplin, mit der sich die meisten gelehrten Frauen hervorgetan haben.112 Dennoch lassen sich bei genauerem Hinsehen viele Rednerinnen unter den gelehrten Frauen ausfindig machen. Dazu zählen in erster Linie die aus den antiken kanonischen Texten bekannten Rhetorikerinnen Aspasia und Hortensia. Aspasia wird von Eberti als eine »gute Poetin/ liebliche Rednerin/ und vortreffliche Weltweisin/ dannenhero sie auch Sophistria acutissima & Rhetorices Magistra eloquentissima genennet wird«113, eingeführt. Finauer rühmt Aspasias Leistung als eine, die dem gesamten weiblichen Geschlecht »zur Ehre gereicht«, hat doch »Socrates die Weltweißheit und Perikles die Beredsamkeit von der Aspasia gelernet«.114 Amaranthes nennt die Lehrerin des Perikles und Sokrates eine berühmte »Sophistria und Eloquentiae Magistra«, fügt allerdings hinzu, dass sie ihre Redekunst missbraucht habe, indem sie Perikles nicht nur zur Ehe, sondern durch ihr »schmeichelndes Zureden« auch zu den unglücklichen Kriegen gegen die Peloponneser und Samier überredet habe. So überblendet Amaranthes in seiner As-

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In der Forschungsliteratur wird die Rhetorik bei der quantitativen Zuordnung der gelehrten Frauen zu einzelnen Disziplinen üblicherweise nicht gesondert verzeichnet. Nach Brita Rang stellen die in den freien Künsten gebildeten Frauen mit ca. 20% die größte Gruppe dar. Es folgen mit ebenfalls fast 20% theologisch gelehrte Frauen, die in der Exegese geschult waren oder religiöse Erbauungstexte verfassten. Ungefährt 15% werden als Universal-Gelehrte dargestellt. Weniger als 10% beschäftigten sich mit Medizin und Geburtshilfe. Noch weniger gelehrte Frauen finden sich in der Mathematik, Astronomie und Geschichtsschreibung. Vgl. Rang, Gelehrt(inn)en-Enzyklopädien des 17. und 18. Jahrhunderts, S. 539. Auch Woods und Fürstenwald verzeichnen die Redekunst nicht als eigenständigen Grund für die Aufnahme von gelehrten Frauen in die von ihnen untersuchen Frauenkataloge, vgl. Woods, Fürstenwald, ›Das gelehrte Frauenzimmer‹, S. xxi. Dagegen unterscheidet Schmidt-Kohberg zwischen wissenschaftlichen ›Kenntnissen‹ und ›Handlungen‹ und notiert so diejenigen Frauen gesondert, die nicht nur Texte veröffentlichten, sondern auch öffentlich redeten, lehrten oder disputierten. Schmidt-Kohberg, Repräsentationen gelehrter Frauen in ›Frauenzimmer-Lexika‹ des 17. und 18. Jahrhunderts, S. 145–148. Eberti, Eröffnetes Cabinet Deß Gelehrten Frauen-Zimmers, S. 33. Von Frawenlob wird Aspasia nur als Philosophin, nicht als Rhetorikerin dargestellt: Frawenlob, Die Lobwürdige Gesellschafft der Gelehrten Weiber, S. 5. Finauer, Allgemeines Historisches Verzeichnis gelehrter Frauenzimmer, unpag. Vorrede und S. 22.

pasia-Darstellung den Topos weiblicher, verführerischer, schmeichelnder Rede mit dem ebenso weit verbreiteten wie negativen Topos der Rhetorik als ruchlose Kunst der Überredung.115 Die meisten Frauenzimmer-Lexika stellen jedoch Aspasia als berühmte Rednerin vor und verschweigen dabei die in den antiken Quellen tradierte kritische Haltung gegenüber einer (zumal ausländischen) Frau als Redelehrerin.116 Damit verschaffen sie Aspasia eine aufgewertete Position als Vorbild weiblicher Rede und greifen so verschiebend in den Prozess der Kanonisierung selbst ein. Hortensia ist eine ebenso berühmte, jedoch weniger zwiespältige Rednerin. Frawenlob und Eberti berichten, sie sei »ein gelehrtes und trefflich beredtes Frauenzimmer gewesen/ sie hat öffentlich für dem Rath zu Rom/ zur Vertheidigung der Weiber [denen ein großer Tribut aufgelegt worden]/ ihre Sache [in einer geschickten Oration] so artlich und zierlich fürgebracht/ daß Quintilianus unnd Valerius Maximus sie nicht gnug rühmen können.«117 Überaus bemerkenswert ist Frawenlobs Überzeugung, dass Hortensia selbst den besten Redner der Antike, Demosthenes, übertroffen habe: »Sie hat es in der Wohlredenheit dem Demostheni zuvor gethan«.118 Eine Rednerin überflügelt Demosthenes! Eberti, der Frawenlob ansonsten fast wörtlich zitiert, zweifelt dessen Hortensia-Lob denn auch als eine mögliche 115

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Amaranthes [d. i. Gottlieb Siegmund Corvinus], Nutzbares, galantes und curiöses Frauenzimmer-Lexicon […], Leipzig: Gleditsch 1715, ND hg. von Manfred Lemmer, Frankfurt a. M. 1980, S. 114f. Die gebildete und beredsame Aspasia aus Milet soll die Redelehrerin ihres Ehemannes Perikles und von Sokrates gewesen sein. Offenbar hat Aspasia auch für Perikles Reden verfasst und Plutarch zufolge übte sie großen Einfluss auf dessen Politik aus (Plutarch, Fünf Doppelbiographien: griechisch und deutsch, übers. von Konrat Ziegler und Walter Wuhrmann, ausgew. von Manfred Fuhrmann, Zürich, München 1994, Teil 1, S. 568– 573). In verschiedenen Komödien wird Aspasia dagegen als Hure und Bordellbesitzerin bezeichnet, eine Anklage gegen sie wegen Gottlosigkeit und Kuppelei kann Perikles nur mit Mühe abwenden. Inwiefern diese Polemik als Angriff gegen Perikles’ politische Karriere dienen sollte oder eine abwertende Reaktion auf Aspasias ungewöhnliches, öffentliches Auftreten war, kann nur vermutet werden. Zur diskursiven Darstellung und Positionierung von Aspasia in den Texten von Plutarch, Aeschines, Xenophon und Platon vgl. Susan Jarrat, Rory Ong, Aspasia, Rhetoric, Gender, and Colonial Ideology. In: Reclaiming Rhetorica. Women in the Rhetorical Tradition, hg. von Andrea Lunsford, Pittsburgh, London 1995, S. 9–24. Frawenlob, Die Lobwürdige Gesellschafft der Gelehrten Weiber, S. 18. Hinzufügungen in eckigen Klammern zitiert nach: Eberti, Eröffnetes Cabinet Deß Gelehrten FrauenZimmers, S. 192. Frawenlob, Die Lobwürdige Gesellschafft der Gelehrten Weiber, S. 18. Frawenlob macht keine bibliographischen Angaben, aber Lehms gibt als Quelle des Hortensia-Demosthenes-Vergleichs Vives an. Vgl. Juan Luis Vives, De institutione Feminae Christianae, Liber primus, hg. von C. Fantazzi und C. Mattheussen, Leiden, New York, Köln 1996, S. 32. Dort heißt es allerdings nur, Hortensias Rede sei von späteren Zeitaltern nicht nur mit Bewunderung und Lob aufgenommen, sondern auch zur Nachahmung empfohlen worden, wie es mit den Schriften von Cicero und Demosthenes geschehen sei. Davon, dass Hortensia Demosthenes übertroffen habe, ist indes nicht die Rede. Dieser Vergleich ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass Frawenlob als einziger Verfasser der

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»Schmeicheley« an.119 Doch der Vergleich wird weiter tradiert: Sowohl Lehms als auch Amaranthes vergleichen Hortensia mit Demosthenes, wenn auch zurückhaltender: Hortensia solle »es fast dem berühmten Griechischen Oratori Demostheni zuvor gethan haben«.120 Signifikant ist, dass Frauenzimmer-Lexika des 17. und 18. Jahrhunderts überhaupt diskutieren, ob eine Frau den berühmtesten Redner übertroffen haben könnte. Allein dass es für die Verfasser denkbar ist, Hortensia mit Demosthenes zu vergleichen, gleicht einer Kampfansage an die traditionelle Rhetorikgeschichtsschreibung. Dass Hortensia, über die uns nicht zufällig nur wenige, indirekte Quellen überliefert sind,121 eine derartige Um- und Aufwertung erfahren kann, beruht weniger auf einer ›objektiven‹ Relektüre antiker Quellen (die keinen Vergleich mit Demosthenes anstellen), sondern offenbar auf dem Bestreben, einen weiblichen Gegenkanon zu dem klassischen Kanon der besten Redner der Rhetorikgeschichte zu entwerfen. Damit kann der Hortensia-DemosthenesVergleich als implizite Kritik an der männlich dominierten Kanonisierung selbst gelesen werden. Daneben gibt es eine Vielzahl antiker Frauen, deren rhetorische Fähigkeiten gelobt, gerühmt und gepriesen werden: Cornelia Graccha, »[e]ine edle und gelehrte Römische Matrone, von grosser Beredsamkeit«, »hat nicht nur ihre eigenen Söhne, sondern auch andere jungen Römer, so häuffig ihre Lectiones besuchten, informiret […], wodurch sie sich ein unsterbliche Lob erworben«122 . Sie »ist so beredt gewesen/ daß sich jederman uber sie verwundert«123. Constantia ist ein »uberauß gelehrtes/ gewaltig beredtes/ unnd trefflich belesenes Weib gewesen«124, Cornificia konnte griechisch und lateinisch »überaus nette reden«125, Lelia Sabina, die Tochter des Bürgermeisters von Rom, Sillae, ist »trefflich beredt gewesen« und hat Griechisch und Lateinisch »zu Rom öffentlich gelesen/ hat auch viele Orationas geschrieben«126. Von der Römerin Cäsarissa, Frau des Cäsar, ist bekannt, »daß sie in der Wohlredenheit und Weltweisheit sehr geübet war gewesen« und »eine zierliche Rede von ihr, die sie ihrem Vater zu Ehre gehalten« ist überliefert.127 Lucceia, »eine berühmte

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Frauenzimmer-Lexika versucht, nicht nur zu beweisen, dass Frauen ebenso viel Verstand hätten wie Männer, sondern sie diese oftmals überträfen. Eberti, Eröffnetes Cabinet Deß Gelehrten Frauen-Zimmers, S. 192. Amaranthes, Nutzbares, galantes und curiöses Frauenzimmer-Lexicon, S. 864. Bei Lehms heißt es fast wortgleich, Hortensia »soll es in der Wohlredenheit so gar dem berühmten Demostheni zuvor getan haben«. Lehms, Teutschlands Galante Poetinnen, unpag. Vorrede. Vgl. Kapitel III.4.2. Amaranthes, Nutzbares, galantes und curiöses Frauenzimmer-Lexicon, S. 373f. Vgl. ähnlich: Finauer, Allgemeines Historisches Verzeichnis gelehrter Frauenzimmer, S. 72f. Frawenlob, Die Lobwürdige Gesellschafft der Gelehrten Weiber, S. 11. Frawenlob, Die Lobwürdige Gesellschafft der Gelehrten Weiber, S. 10. Eberti, Eröffnetes Cabinet Deß Gelehrten Frauen-Zimmers, S. 111. Frawenlob, Die Lobwürdige Gesellschafft der Gelehrten Weiber, S. 21. Finauer, Allgemeines Historisches Verzeichnis gelehrter Frauenzimmer, S. 50.

römische Comödiantinn, war eine gute Poetinn und vortreffliche Rednerinn. Sie soll, wie uns Plinius berichtet, bis in das hunterte Jahr ihres Alters Comödien geschrieben, und solche auf öffentlicher Schaubühne mit allgemeinem Beyfalle des Volkes aufgeführet haben.«128 Kaum etwas erfahren wir über die Redeinhalte, nur wenig über die Redeanlässe wie Lobreden oder Erziehungsreden und nicht mehr als unspezifisches Lob über den tatsächlichen Redeauftritt (die actio). Es ist mehr die beeindruckende Quantität der Rednerinnen und ihre Katalogisierung an sich, die allein durch die Aufzählung die Rednerinnen in einen Raum des Möglichen holt. In fast allen Lexika verzeichnet ist die als christliche Märtyrerin in die Geschichte eingegangene Katharina von Alexandrien, die um 300 n. Chr. lebte. Sie wird als überaus gelehrt in der Philosophie, in den freien Künsten und in der Theologie beschrieben. In einem Disput mit fünfzig der gelehrtesten Männer kann sie diese vom Christentum überzeugen und wird dafür vom Kaiser Maximian zu einem grausamen Tod verurteilt. Eberti berichtet zwar, dass Katharina die fünfzig berühmten Philosophen »mit disputiren zu Schanden gemacht/ sie überzeuget/ und es so weit gebracht/ daß sie sich alle zu ihrer Religion gewendet«, meldet aber zugleich Zweifel an, »wiewohl sehr viele diese gantze Erzehlung vor ein Getichte halten wollen.«129 Andere Lexika zweifeln nicht an der historischen Stichhaltigkeit von Katharinas Geschichte, betonen aber ähnlich wie Eberti die unsägliche Niederlage der fünfzig Philosophen, die von einer Frau im Redekampf besiegt wurden. So berichtet Meuschen von der Blamage der Philosophen, die Katharina »mit vielen Gründen persuadiret/ deren Einwürffe sie aber alle refutiret/ und diese Welt-Weisen mit Schimpff und Schande abzuziehen gezwungen«130 habe. Anhand von kulturgeschichtlichen Repräsentationen Katharinas hat Doerte Bischoff gezeigt, wie durch eine zunehmende Allegorisierung Katharinas als Verkörperung christlicher Beredsamkeit und ihren damit einhergehenden Ausschluss aus den Reihen realer Redner ein homogener Kanon männlicher Redner wiederhergestellt wird.131 Die Legendenbildung um Katharinas Martyrium, eine besonders gewaltsame Zerstückelung durch das Rad, liest Bischoff als eine Erinnerung an die Zergliederung und Selektion, die der Herstellung eines solchen homogenen Kanons inhärent ist. Dagegen wird Katharina in den Frauenzimmer-Lexika ausdrücklich als historisches, gelehrtes Subjekt und nicht als entindividualisierte, allegorische Verkörperung dargestellt. Während der persuasive Triumph von Katharina – der wohl als Grund für ihre überaus grausame Ermordung gelesen werden kann – ausführlich beschrieben

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Finauer, Allgemeines Historisches Verzeichnis gelehrter Frauenzimmer, S. 136. Eberti, Eröffnetes Cabinet Deß Gelehrten Frauen-Zimmers, S. 81. Meuschen, Courieuse Schau-Bühne Durchläuchtigst-Gelahrter Dames, S. 22f. Vgl. auch Finauer, Allgemeines Historisches Verzeichnis gelehrter Frauenzimmer, S. 55f. Doerte Bischoff, Legendäre Begabung, verstümmelte Geschichte – die Heilige Katharina und die Redekunst. In: Mitsprache, Rederecht, Stimmgewalt. Genderkritische Strategien und Transformationen der Rhetorik, hg. von Bischoff, Martina WagnerEgelhaaf, Heidelberg 2006, S. 255–279.

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wird, interessiert die Lexika die Art ihres Martyriums nicht. Die FrauenzimmerLexika holen Katharina in den Kanon zurück, indem sie ihre Gelehrsamkeit und insbesondere ihren rhetorischen Sieg im Wettstreit betonen. Das Beispiel von Katharina zeigt, dass es gerade die in der alten Rhetorik angelegte agonale Redesituation ist, die eine als Rednerin auftretende Frau zum Skandalon macht: Fokussiert wird, wie solche Ausnahmefrauen auf männliche Redner treffen und aus dem Rhetorik-Wettstreit ein Geschlechter-Wettstreit wird. Verlieren die Männer gegen die Frau, sind sie »Schimpff und Schande« preisgegeben. Grundsätzlich wird die Konkurrenzsituation zwischen einer Frau und Männern, nie jedoch zwischen mehreren Frauen dargestellt, mag dies daran liegen, dass solche Ausnahmefrauen tatsächlich eher auf Männer im öffentlichen Leben trafen oder dass die Verfasser eben diesen unerhörten Wettstreit zwischen den Geschlechtern in den Vordergrund rücken wollten. So findet sich die Konstellation des rhetorischen Wettkampfs, den eine Frau gegen mehrere Männer ausficht, auch in der Darstellung einer weiteren Rednerin der Renaissance: Fidelis Cassandra war eine »vortrefliche Rednerin«, die um 1487 in Venedig lebte und an der Universität von Padua öffentlich aufgetreten ist. Sie hat sich nicht gescheuet auf offentlicher Catheder zu Padua mit den gelehrtesten Männern zu disputiren/ und ihre Argumenta mit gegen Beweißthümern zu rücke zu treiben. Ihre Oration so sie zu Padua für Betrutium Lambertum Canonicum Concordiensem offentlich hielt und zu Modena von Dominico Roconciolo Anno 1487 gedruckt ist/ weiß der gelehrte Angelus Politianus nicht genungsam [sic] auszurühmen.132

Jener Politianus und mit ihm Frawenlob und Eberti nennen Fidelis Cassandra »eine Zierde gantz Italiens« und drücken ihr die höchste Bewunderung aus. Signifikant ist, dass keine Aussagen über den Inhalt jenes Disputs zwischen Cassandra und ihren Gegenspielern gemacht werden. Stattdessen wird auf die Öffentlichkeit der Performanz der Rede gleich zweimal hingewiesen. Dass gerade der öffentliche Auftritt einer Frau – an einem von männlichen Gelehrten besetzten Ort – als äußerst ungewöhnliches Geschehen wahrgenommen wird, lässt sich aus der halb bewundernd, halb verwundert anmutenden Formulierung ex negativo schließen, Cassandra habe sich ›nicht gescheuet‹, öffentlich zu reden. Wie schwierig ein öffentliches Auftreten für Frauen an Universitäten gewesen sein mag, belegt auch die Kurzbiographie der in den Rechtswissenschaften gelehrten Novella aus Bologna, die ihre Vorlesungen nur hinter einem Vorhang halten durfte, um ihr Publikum nicht durch ihre Schönheit zu verwirren.133 Dass das öffentliche und zumal überzeugende Auftreten einer Frau als Rednerin selten selbstverständlich war, zeigt nicht zuletzt die Darstellung

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Eberti, Eröffnetes Cabinet Deß Gelehrten Frauen-Zimmers, S. 78f. Vgl. Frawenlob, Die Lobwürdige Gesellschafft der Gelehrten Weiber, S. 7. Vgl. Lehms, Teutschlands Galante Poetinnen, unpag. Vorrede. Vgl. Finauer, Allgemeines Historisches Verzeichnis gelehrter Frauenzimmer, S. 53ff. Eberti, Eröffnetes Cabinet Deß Gelehrten Frauen-Zimmers, S. 136.

von Nicolosa aus Bologna. Sie »war in der Rhetorica sehr gelehrt/ und eine vortrefliche Rednerin/ welches die schöne und artige Oration ausweiset/ welche sie für dem Päbstischen Nuncio nicht ohne Verwunderung der Zuhörenden mit großen Ruhme gehalten.«134 Die überraschte Reaktion des Publikums, das von einer Rednerin keine glänzende Rede erwartet, wird extra – nicht ohne triumphierenden Unterton – erwähnt. So dient gerade die Enttäuschung der gängigen Erwartungshaltung dem Ruhm der Rednerin. In einem späteren Frauenzimmer-Lexikon, Philotheens Frauenzimmer-Akademie von 1783, wird der Auftritt von Laura Maria Catharina Bassi besonders hervorgehoben. Bemerkenswert ist, dass obwohl Bassi ihre Dissertation in einer öffentlichen Disputation gegen Einwände von Männern verteidigt, die Situation im Vergleich zu den früheren Frauenzimmer-Lexika merkwürdig konkurrenzfrei beschrieben wird. Es erscheint mir bezeichnend, dass mit dem Verschwinden der Frauenzimmer-Lexika im Rahmen der zunehmenden Ablehnung gelehrter Frauen die Schilderung der Konkurrenz zwischen den Geschlechtern abgemildert beziehungsweise ausgelassen wird. Bassi wird dargestellt als eine Jungfer von neunzehn Jahren, welche vielen gelehrten Männern zur Bewunderung war. Diese junge Person wurde nicht nur von den Gelehrten, sondern auch von dem Adel und den Auswärtigen öfters in ihrem Hause besucht. Sie verlegte sich besonders auf die Naturlehre, auf die Zergliederungskunst, auf die Metaphysik, und andere philosophische Gelehrsamkeit. Zu der lateinischen Sprache erwarb sie sich eine ausserordentliche Fertigkeit, und am siebenzehnten April 1732. hielt sie eine öffentliche Disputation über den ganzen Umfang der Weltweisheit unter dem Vorsitze ihres bisherigen Lehrmeisters […]. Jedermann war es erlaubt Gegengründe wider die ausgesetzten Sätze einzuwenden, welchen sie mit sonderbarer Gegenwart des Geistes geantwortet, und die nachdrücklichsten Gründe mit größter Einsicht entgegen gesetzet hat. Sie wurde nach vollendetem Versuche von allen zum Mitgliede der Akademie der Wissenschaften ernannt, und sie hatte die Ehre von der Philosophischen Facultät zu Bologna den Doctorshut zu erhalten, welchem die Erlaubniß, öffentlich zu lehren, anerkannt war. Sie dankte für die Ehre in einer vortrefflichen Rede, die sie hiezu verfasset hatte.135

Ganz ohne in Konkurrenz zu Männern zu treten und mit dem vorrangigen Ziel der delectatio scheint die Lobrede – anders als das Streitgespräch – diejenige Gattung zu sein, die der Frau am ehesten angemessen ist. So ist festzustellen, dass die meisten in den Enzyklopädien verzeichneten zeitgenössischen Rednerinnen solche sind, die Lobreden halten. Zum Beispiel war Anna Margareta Bredalina, eine gelehrte Dänische Dame, […] in der Oratorie sehr wohl versiret/ hatte ein herrliches Ingenium, und vortreffliches Gedächtnüß/ welches sie mit einer schönen und wohl elaborirten Oration erwieß/ die sie dem Könige Christiano V. der Anno 1670. seinem Herrn Vater Friderico III. in der Regierung nachfolgete/ zu Ehren Glückwünschend

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Eberti, Eröffnetes Cabinet Deß Gelehrten Frauen-Zimmers, S. 265. Vgl. Frawenlob, Die Lobwürdige Gesellschafft der Gelehrten Weiber, S. 27. [Erdt], Philotheens Frauenzimmer-Akademie, S. xxivf.

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memoriter recitirte/ welche so hoch aestimiret ward/ daß sie Anno 1671. hernachmahls zu Coppenhagen in 4to gedrucket wurde.136

Anna Margareta Bredalina, eine der wenigen rhetorisch gebildeten Frauen des 17. Jahrhunderts, tritt nicht mehr an einer Universität, wo sie in Konkurrenz zu gelehrten Männern steht, sondern als Lobrednerin bei einer Krönungszeremonie in Erscheinung. Anders als die im späten 18. Jahrhundert oftmals auftretenden Schauspielerinnen, die bei fürstlichen und königlichen Festen Lobreden vortragen, hat Bredalina ihre Rede offensichtlich nicht nur rezitiert, sondern mit rhetorischer Kenntnis auch selbst verfasst.137 Während der Stil und die memoria von Anna Margareta Bredalina besonders hervorgehoben werden, wird ihre actio wie üblich nicht eigens beschrieben. Eine der wenigen Rednerinnen, deren actio als bemerkenswert notiert wird, ist Genebria, eine gelehrte Frau aus Verona, die um das Jahr 1460 lebte. »Überdieß war sie auch geschickt eine gute Rednerinn abzugeben; und zwar mit einem sonderbaren Ansehen, indem sie an annehmlicher und zierlicher Aussprache viele der besten Redner ihrer Zeit übertroffen.«138 Sowohl die Vergänglichkeit des ereignishaften Redeauftritts als auch die Bewertung der actio als sekundäres Produktionsstadium der Rede kann für die selten zu findenden Anmerkungen über die actio verantwortlich gemacht werden. Aufruf zur imitatio historischer Rednerinnen Brita Rang hat betont, dass die Frauenzimmer-Lexika auf eine imitatio der vorgestellten gelehrten Frauen abzielen. An dieser Stelle ist auf die Problematik hinzuweisen, die speziell mit einer rhetorischen imitatio verbunden ist. In der alten Rhetorik bezeichnet die imitatio den Prozess, in dem ein junger Redner sich an 136

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Eberti, Eröffnetes Cabinet Deß Gelehrten Frauen-Zimmers, S. 60f. Vgl. zu Bredalina: Finauer, Allgemeines Historisches Verzeichnis gelehrter Frauenzimmer, S. 45; Lehms, Teutschlands Galante Poetinnen, unpag. Vorrede; Paullini, Hoch- und Wohl-gelahrtes Teutsches Frauenzimmer, S. 35. Weitere Lobreden haben u. a. gehalten: »Juliana Jußwynin hat sich in schönen Hochzeit- und Leich-Reden geübet« und »Clara von Knospendorff hat sich in unterschiedenen wohl ausgearbeiteten Panegyricis hervorgethan.« Lehms, Teutschlands Galante Poetinnen, unpag. Vorrede; zu Clara von Knospendorff vgl. auch Paullini, Das Hoch- und Wohl-gelahrte Teutsche Frauen-Zimmer, S. 82. Baptista, die Frau des Grafen Guido von Urbino, hat eine Lobrede auf den Papst Martin V. verfasst. Die beiden Töchter des Lehrers Karl Patin aus Padua, Charlotta Catharina und Charlotta Gabrielis waren beide gelehrt, sprachen Griechisch und Lateinisch. Von der Älteren »wurde im Jahre 1683 eine nette und zierliche Rede von dem Entsatz der Stadt Wien verfertiget, welche sie dem Kaiser Leopold gewiedmet, so auch nachmals gedruckt worden, und wobey ihr Bildniß zugleich herausgekommen« und die Jüngere verfasste eine »Lobrede auf den grossen Ludwig den XIVten, welche sie in der Akademie der Ricovrati zu Padua gehalten«. Finauer, Allgemeines Historisches Verzeichnis gelehrter Frauenzimmer, S. 25, S. 163f. Vgl. Kapitel IV.1.1. Finauer, Allgemeines Historisches Verzeichnis gelehrter Frauenzimmer, S. 101.

einem älteren, erfahreneren Redner orientiert und sich kontinuierlich in der Nachahmung ausgewählter stimmlicher, gestischer und mimischer Züge übt, um sich angleichend zu vervollkommnen. Es geht dabei um eine Praktik, die durch direkte Anschauung und Nachahmung gerade ein Defizit von Texten ausgleichen soll, denen unterstellt wird, die actio niemals mit Worten adäquat beschreiben und vollständig in Regeln fassen zu können. Auch wenn die Frauenzimmer-Lexika der Frau nun exempla historischer Rednerinnen vor Augen führen und damit die imitatio eines gleichgeschlechtlichen Vorbilds anregen, handelt es sich doch um Texte, die gerade in Hinblick auf die actio kaum Aussagen treffen und kaum zu einer vollendeten eloquentia corporis anleiten können. Solange also keine zeitgenössischen weiblichen Vorbilder sichtbar werden, bleibt die imitatio auf der Grundlage eines Textes – und hier unterscheidet sich die rhetorische von der dichterischen imitatio – problematisch. Den Unterschied zwischen dem Lernen aus Büchern und dem aus direkter Anschauung betont eine andere Textsorte des frühen 18. Jahrhunderts, die Anstandsliteratur. So findet sich in einer Galanten Frauenzimmer-Moral von 1722 der Hinweis, nur wenn die Frau unter Leute gehe, Übung im Konversieren und Umgang erhalte, könne sie ihre Rede und actio vervollkommnen. Eine als klug und gebildet dargestellte Figur, Sophronie, kritisiert, dass Frauen so spät in die Gesellschaft eingeführt würden, da sie doch von den Vorbildern im Gespräch vieles – und zwar gerade in Bezug auf die actio – lernen könnten: Das habe ich, redete hierauf Sophronie, aus der Erfahrung gelernt, daß Conversation mit gescheiden Leuten unter die vornehmsten Mittel zu einer anständigen Conduite zu gelangen mit gehöret. Man nimmt doch unvermerckt die Rede, Minen und Gebehrden derjenigen Personen an sich, mit denen man offt umgeht, man siehet, was hie und da passiret, man regardirt diß und jenes, und hat den Vortheil, vor sich selbst daraus allerhand gute Reguln zu ziehn. Kurz: Man lernet die Welt kennen, und in derselben vernünfftig leben. Weiß ich also nicht, ob es nicht eine der größten Capricen und Fehler bey der Education einem Frauenzimmer zu verwehren, daß es nicht dann und wann in honnette Compagnie gehen, oder auch wohl nicht einmahl mit ihres gleichen conversiren solle, wenn sie schon die schönste Gelegenheit dazu hat. Die Leute werden sie bey Unterlassung dessen entweder vor einfältig, oder vor hochmüthig und Bauren-stolz halten, und sie wird später zu einer rechten und unaffectirten Aufführung gelangen.139

Bücher sind für eine solche Übung kein Ersatz, wie aus der sich anschließenden Diskussion dreier konversierender Damen hervorgeht. Diese Übungsanleitung zielt

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Anonym, Galante Frauenzimmer-Moral, Oder: Die kluge Conduite Des Honnetten Frauenzimmers in einer Entrevue zwischen Drey Demoiselles, über außerlesene und recht schöne Frantzösische Maximen gezeiget, Leipzig: Martini 1722, S. 39. Die drei Frauen Sophronie, Chloris und Rosalie aus der Stadt Simeniens ziehen sich an einen klassischen locus amoenus, auf ein Landgut, zurück, um einen Dialog über die kluge und tugendhafte Aufführung der Frau zu führen. Die eloquente Sophronie vermittelt ihrer jüngeren Verwandten Chloris »per Discours diese und jene gute Lehre«, alle Frauen profitieren von der Konversation.

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allerdings auf die ›private‹ Konversation, die »Rede, Minen und Gebehrden« schult, nicht auf die ›öffentliche‹ Rede, um die es den Frauenzimmer-Lexika ausschließlich geht. Die Frauenzimmer-Lexika erheben zwar den Anspruch, die Frau zur Nachahmung gebildeter exempla anzuleiten, aber ihre Wirkung dürfte im Bereich der Rhetorik weniger in einer konkreten praktischen Nachahmung bestanden haben als in einem Gedankenspiel. Indem sie eine kritische Arbeit am Kanon betreiben, indem sie einen weiblichen Gegenkanon aufstellen, machen sie die öffentlich auftretende Rednerin in einem zuvor nie da gewesenen Umfang sichtbar und damit intelligibel. Das Verschwinden der Frauenzimmer-Lexika Die meisten Kataloge gelehrter Frauen werden vom 17. bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts veröffentlicht. Im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts wächst die Ablehnung weiblicher Gelehrsamkeit. Während kaum noch Frauenzimmer-Lexika erscheinen, nimmt die pädagogische Literatur über Frauenbildung gegen Ende des 18. Jahrhunderts sprunghaft zu, die für eine ausschließlich auf die Funktion der Frau als Gattin, Mutter und Hausvorsteherin ausgerichtete praktische Ausbildung wirbt. Das Erscheinen von Rousseaus breit rezipiertem Erziehungsroman Emile oder von der Erziehung 1762 wird gemeinhin als historischer Einschnitt gesehen, nach dem (insbesondere durch die restriktive Interpretation der Philanthropen) höhere Bildung für Frauen als ›unweiblich‹ propagiert wird.140 Der Abschied vom Bildungsideal des gelehrten Frauenzimmers lässt sich beispielhaft an Amaranthes’ Nutzbarem, galanten und curiösen Frauenzimmer-Lexicon (1715) ablesen, das keine reine ›Gelehrtinnen-Enzyklopädie‹ ist, sondern ein auf den weiblichen Alltag zugeschnittenes Wissen vermitteln will.141 Der im Lexi-

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Vgl. Christiane Brokmann-Nooren, Weibliche Bildung im 18. Jahrhundert: ›gelehrtes Frauenzimmer‹ und ›gefällige Gattin‹, Oldenburg 1994, S. 14. An dieser Stelle mag der vollständige Titel aufschlussreich sein: Nutzbares, galantes und curiöses Frauenzimmer-Lexicon, Worinnen nicht nur Der Frauenzimmer geistlich- und weltliche Orden, Ämter, Würden, Ehren-Stellen, Professionen und Gewerbe, Privilegia und Rechtliche Wohlthaten, Hochzeiten und Trauer-Solennitäten, Gerade und Erb-Stücken, Nahmen und Thaten der Göttinnen, Heroinen, gelehrter Weibes-Bilder, Künstlerinnen, Prophetinnen, Affter-Prophetinnen, Märtyrinnen, Poetinnen, Ketzerinnen, Quackerinnen, Schwärmerinnen und anderer Sectirischen und begeisterten Weibes-Personen, Zauberinnen und Hexen, auch anderer beruffener, curiöser und merckens-würdiger Weibes-Bilder, Trachten und Moden, Küchen-Tafel-Wochenstuben-Wäsch-Nehe-Hauß-Speisekammer-Keller-Kinder-Putz, Geräthe und Vorrath, Juwelen und Schmuck, Galanterie, Seidne, Wollne und andere Zeuge, so zu ihrer Kleidung und Putz dienlich, Rauch- und Peltzwerck, HaarPutz und Auffsatz, Schmincken, kostbare Olitäten und Seiffen, Bücher-Vorrath, Künste und Wissenschafften, Nahmen, Stamm-Nahmen und besondere Benennungen, absonderliche Gewohnheiten und Gebräuche, Eigenschaften, sonderbare Redens-Arten und Termini, Abergläubisches Wesen, Tändeleyen und Sprüchwörter, Häußliche Verrichtungen, Divertissements, Spiele und andere Ergötzlichkeiten, allgemeine Zufälle, Beschwerungen und Gebrechen der Weiber, Jungfern und kleinen Kinder, Gesinde-Ordnung und Arbeit, weibliche

kon angesammelte Stoff ist, wie der Herausgeber Amaranthes in seiner Vorrede behauptet, »Inbegriff alles desjenigen, was zum weibl. Geschlechte gehöret«142 . In alphabetischer Reihenfolge stehen neben einer großen Anzahl von Biographien gelehrter Frauen jede Menge Kochrezepte und Einträge zu juristischen Fragen, zur Körperpflege, zu Mode, Kindererziehung, medizinischem Grundwissen, häuslicher Inneneinrichtung, Brauchtum und Aberglauben. Von der Königin ›Elisabeth‹ geht es alphabetisch geordnet zur ›Ente mit Sauerkraut im Backofen‹ und über das ›Erbrechen schwangerer Weiber‹ zu den ›Erinnyen‹. Amaranthes Frauenzimmer-Lexicon ist ein äußerst beliebtes Nachschlagewerk 143 und erlebt (wohl gerade aufgrund seiner Mischung von ›Gelehrtinnen‹-Biographien mit lebenspraktischen Tipps) noch zwei Neuauflagen – allerdings erheblich verändert, wie Bärbel Cöppicus-Wex erläutert:144 Die zweite Auflage von 1739 teilt die allgemein wachsende Kritik an weiblicher Bildung und hebt die Versorgung der Küche und des Gartens als beste Wissenschaft der Frau hervor.145 Während dementsprechend im Vorwort keine gelehrten Frauen mehr angesprochen werden, finden sich die exempla noch im Text. In der dritten Auflage von 1773 werden die exempla fast gänzlich aus dem Text getilgt.146 Im Vorwort der neuen Herausgeber wird die zeittypische Auffassung vertreten, Gelehrsamkeit von Frauen führe zur Vernachlässigung des Hauswesens. Von den ehemals drei weiblichen Bildungsidealen – erstens das ›haushältige und sorgfältige Frauenzimmer‹, das hauswirtschaftliche Fähigkeiten in Anlehnung an die Hausväterliteratur in den Vordergrund stellt, zweitens das ›galante und curi-

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Straffen und absonderliche Züchtigungen, und alles dasjenige, was einem Frauenzimmer vorkommen kann, und ihm nöthig zu wissen, Sondern auch Ein vollkommenes und auf die allerneueste Art verfertigtes Koch-Torten- und Gebackens-Buch, Samt denen dazu gehörigen Rissen, Taffel-Auffsätzen und Küchen-Zettuln, Ordentlich nach dem Alphabeth kurtz und deutlich abgefasst und erkläret zu finden, Dem weiblichen Geschlechte insgesamt zu sonderbaren Nutzen, Nachricht und Ergötzlichkeit auff Begehren ausgestelltet von Amaranthes. Amaranthes, Nutzbares, galantes und curiöses Frauenzimmer-Lexicon, Vorrede S. 4v. Für seine weite Verbreitung steht auch, dass das Frauenzimmer-Lexicon in mehreren Frauen-Leselisten der Moralischen Wochenschriften als verbindliche Lektüre vorgeschlagen wird. So in der Liste der Züricher Discourse der Mahlern (1723), des Hamburger Patrioten (1724) und der Vernünftigen Tadlerinnen (1725), vgl. Manfred Lemmer, Nachwort. In: Amaranthes, Nutzbares, galantes und curiöses Frauenzimmer-Lexicon, S. 1–32, S. 7. Vgl. zu den folgenden inhaltlichen Veränderungen der Neuauflagen: Bärbel CöppicusWex, Der Verlust der Alternative. Zur Disqualifizierung weiblicher Bildungsideale im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts am Beispiel zweier Ausgaben des ›Nutzbaren, galanten und curiösen Frauenzimmer-Lexikons‹. In: Tugend, Vernunft und Gefühl. Geschlechterdiskurse der Aufklärung und weibliche Lebenswelten, hg. von Claudia Opitz, Ulrike Weckel, Elke Kleinau, Münster u. a. 2000, S. 271–285, hier: S. 273f.; Woods, Fürstenwald, ›Das gelehrte Frauenzimmer‹, S. XXI und Lemmer, Nachwort, S. 31f. Amaranthes, Nutzbares, galantes und curiöses Frauenzimmer-Lexicon […], Frankfurt, Leipzig: Gleditsch 1739. Amaranthes, Nutzbares, galantes und curiöses Frauenzimmer-Lexicon […], Leipzig: Gleditsch 1773.

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öse Frauenzimmer‹, das nach französischem Vorbild verfeinerte Bildung und Umgangsformen verbindet, sowie drittens das ›gelehrte Frauenzimmer‹, das sich an den exempla weiblicher Gelehrsamkeit der italienischen Renaissance orientiert – bleibt nur ersteres übrig.147 Peter Paul Finauer ist der Letzte, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert noch einen ›klassischen‹ Frauenzimmerkatalog veröffentlicht und dabei nicht nur als Chronist, sondern auch als Pädagoge auftritt. 1761 erscheint sein Allgemeines Historisches Verzeichnis gelehrter Frauen-Zimmer, in dem Finauer nicht nur Wissen wiedergeben, sondern explizit zur Nachahmung anregen will: Meine Absicht aber ist nicht nur sammentliche gelehrte Frauenzimmer, welche bishero in verschiedenen Büchern zerstreiter zu finden waren, in eine einzelne Sammlung zu bringen; sondern auch das jung Frauenzimmer zur Nacheiferung auf das nachdrücklichste zu erwecken, und dasselbe auf jenen Ehrenweg zu führen, auf welchem schon so viele aus ihrem Geschlechte mit unsterblichen Verdiensten gewandert sind.148

Doch der Begriff des ›gelehrten Frauenzimmers‹ hat sich schon überlebt. Nach 1800 erscheinen die Kataloge gebildeter Frauen nur noch selten und nicht mehr mit dem Aufruf zur Nachahmung. Festzuhalten bleibt, dass die Frauenzimmer-Lexika während des kurzen Zeitraums vom Anfang des 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts ein Wissen über rhetorisch versierte Frauen zusammenstellen und verfügbar machen, das es vorher nicht in dieser Konzentration gegeben hat, und das bereits im späten 18. Jahrhundert wieder dem Vergessen anheim fällt. IV.2.2 »Redner im Reifrocke«: Eine Scherzrede über die Vorzüge weiblicher Rhetorik 1745 hält Jacob Wilhelm Blaufus vor der Teutschen Gesellschaft in Jena zwei Scherzreden, von denen die erste vorgibt, die Vorzüge des Frauenzimmers vor den Mannspersonen in der Beredsamkeit zu preisen.149 Doch dieses vermeintliche Lob

147 148 149

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Vgl. Cöppicus-Wex, Der Verlust der Alternative, S. 273f. Finauer, Allgemeines Historisches Verzeichnis gelehrter Frauenzimmer, unpag. Vorrede. Jacob Wilhelm Blaufus, Zwo Scherzreden, unter welchen die Erste Die Vorzüge des Frauenzimmers vor den Mannspersonen in der Beredsamkeit, die Andere aber Die Vorzüge der Mannspersonen vor dem Frauenzimmer in der Galanterie den witzigen Menschfreunden anpreiset, in der teutschen Gesellschaft in Jena gehalten, Jena: Marggraf 1745. Die Teutsche Gesellschaft in Jena wurde 1728 von Johann Andreas Fabricius für »Liebhaber der Teutschen Sprache« gegründet, um sich in der »guten teutschen Schreibart«, der Beredsamkeit und Poesie zu üben und diese zu fördern. Im Mittelpunkt stehen »Proben der Beredsamkeit«, die durch die Mitglieder kritisch beurteilt werden. Blaufus, »der Weltweisheit Doctor« und Adjunct der Philosophischen Fakultät zu Jena, war ordentliches Mitglied. Die abgedruckte Anrede seiner Scherzreden, »Hochedelgebohrener Herr Aufseher, Vortrefliche Gesellschaft, Allerseits höchst- und hochzuehrende Herren!« lässt eine ausschließlich männliche Zuhörerschaft vermuten. Die Aufnahme einer »hohen weiblichen Standesperson« in die Teutsche Gesellschaft wurde am 12. Februar

des Frauenzimmers als Rednerin ist ironisch zu verstehen: Blaufus tritt in seiner Rednergesellschaft keineswegs als »Lobredner«150 des weiblichen Geschlechts auf. Anstatt zu belegen, dass die Frau den Mann in der Beredsamkeit übertrifft, wie Blaufus ironisch ankündigt, bestätigt er die männliche Autorität in der Rhetorik. Indem Blaufus die traditionelle Vorherrschaft der männlichen Beredsamkeit parodistisch umkehrt, gibt er die Frau als »Redner im Reifrocke«151 vielmehr der Lächerlichkeit preis. Während die Frauenzimmer-Lexika reale Frauen aufzählen, die in einem Rede-Wettstreit ihre männlichen Gegner besiegt haben sollen, um die rhetorische Befähigung der Frau zu belegen, nutzt Blaufus die Argumente der Querelle des femmes als Findeort für seine Scherzrede über die angebliche Vorherrschaft der Frau, um eben ihren Status als unterlegene Sprecherin zu zementieren. In seiner Captatio benevolentiae spricht Blaufus alle Männer als Liebhaber des schönen Geschlechts an und unterstellt den gebildeten Anwesenden, dass sie nicht nur die körperliche Schönheit der Frauen, sondern, und dies wird als Besonderheit markiert, auch deren Verstand und Witz, Vorstellungskraft und Denkvermögen verehrten. Insofern seien sie als Publikum für seine Aufsehen erregende These prädestiniert, kündigt Blaufus ironisch an: »Vor Ihnen also will ich mich getrauen zu erweisen, daß das Frauenzimmer um die schönsten Wissenschaften sich verdienter gemacht habe, als die Mannspersonen, daß sie in der Beredsamkeit prächtige Vorzüge vor diesen habe.«152 Gemeint ist indes das Gegenteil, und so erscheint auch das Lob weiblicher Vernunft in zweifelhaftem Licht. Blaufus nimmt die aus der Querelle des femmes bekannten Argumente und Gegenargumente zur weiblichen Bildungsfähigkeit auf: Er gibt den Vorwurf wieder, dass Frauen nicht vernunftbegabt und dementsprechend auch nicht für die Wissenschaft geschaffen seien, und widerspricht ihm (scheinbar) mit den (aus den Frauenzimmer-Lexika) bekannten exempla: Aspasia, Sappho, Hipparchia, aber auch die Zeitgenössin Anna Maria Schurmann werden genannt. Letztere wird als eine Ausnahme dargestellt, die jedoch eher die Regel (nicht vernunftbegabter Frauen) bestätigt: »Dieser allein hat die Gottheit alles das verliehen, was sie vielen tausenden ihres Geschlechtes einzeln versagt hat. Ihre Stärke im Denken, ihre Kenntniß in den Sprachen, ihre gründliche Weltweisheit, ihre gekünstelte Gottesgelahrheit […]« – und besonders ihre »Beredsamkeit«.153 Denn Anna Maria Schurmann hat Erfolg als Rednerin: »Alle

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1737 einhellig und grundsätzlich abgelehnt. In den erneuerten Statuten von 1753 werden sieben »gelehrte Frauenzimmer« (darunter wohl eine Schwester von Blaufus) als Mitglieder erwähnt, in den Matrikeln allerdings nicht als solche namentlich ausgewiesen. Zu den Zielen und der Mitgliederstruktur der Gesellschaft vgl. Felicitas Marwinski, Der Deutschen Gesellschaft zu Jena ansehnlicher Bücherschatz. Bestandsverzeichnis mit Chronologie zur Gesellschaftsgeschichte und Mitgliederübersicht, Jena 1999. Blaufus, Zwo Scherzreden, S. 11. Blaufus, Zwo Scherzreden, S. 24. Blaufus, Zwo Scherzreden, S. 6. Blaufus, Zwo Scherzreden, S. 7.

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Gemüther bewog sie zu ihrem Beyfall. Könige und Königinnen, Hohe und Niedrige, Gelehrte und Ungelehrte machte sie zu ihren Verehrern.«154 Dass es Blaufus mit der Anführung seiner exempla jedoch gerade nicht Ernst ist, zeigt die Wende, die er seiner Rede gibt: Was für erwünschte Gelegenheit würde ich hier nicht haben, meine Rede in eine Abhandlung von den geschickten Rednerinnen zu verwandeln; wie verdient könnte ich mich hier nicht sowohl um das schöne Geschlecht, als um die Geschichte der Beredsamkeit machen? Aber die Wichtigkeit meines Hauptsatzes verbietet mir alle Ausschweifungen [...].155

Und so wendet sich Blaufus von den »Realien«, die bezeugen, dass es beredte Frauen in der Geschichte gegeben hat, ab und dem satirischen Beweis, dass die Frau den Mann in der Beredsamkeit übertrifft, zu. In diesem Rahmen übernehmen die exempla also gerade das Gegenteil ihrer Funktion in den Frauenzimmer-Lexika: Sie dienen nicht als Beleg für die Existenz gebildeter Frauen und daraus folgend für die Bildungsfähigkeit der Frau, sondern als Ausnahmen, die die Regel der geringen Bildbarkeit (und Beredsamkeit) der Frau bestätigen. Bevor Blaufus auf den angeblichen Vorteil der Frau in der Beredsamkeit zu sprechen kommt, ruft er noch einmal die klassischen Pflichten des Redners ins Gedächtnis: »Der Redner muß bewegen; Er soll überreden; Er muß sich zu einem Meister über die Leidenschaften seiner Zuhörer machen können […].«156 Vor dem Hintergrund dieses ganz auf die persuasive und affektive Wirkung bezogenen Rhetorikverständnisses stellt Blaufus nun die Frau als Meisterrednerin dar. Ganz anders lässt sich zum Vergleich das Rhetorikverständnis von Quintilian an, der sie als »Wissenschaft, gut zu reden (bene dicendi scientiam)«157 bestimmt. Damit ist für Quintilian nicht jeder, der redet, auch ein Redner, sondern nur derjenige, der die rhetorische Lehre empfangen hat.158 Nur wenn die Rhetorik nicht als Wissenschaft oder Kunst, sondern eben durch ihre Wirkung definiert wird, ist die Frau – ironisch oder nicht – als Rednerin denkbar. Die verführerisch-wirksame Rede, die der Frau topisch zugschrieben wird, ist eben nicht die rhetorisch-gelehrte Rede. Blaufus’ erste These bezieht ihre Bedeutung (und auch ihren Witz) aus ihrer Inszenierung als ›Ursprungserzählung‹: »[U]nter den Bewohnern der Welt sey der erste Redner ein Weib gewesen«. Es ist Eva, die als »Ursprung der Beredsamkeit« vorgeführt wird.159 Eva, selbst von dem »Sophist« Schlange »überzeugt«, wirkt persuasiv auf Adam ein, dessen Herz und Leidenschaften ihrer Rede Folge leisten.160

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Blaufus, Zwo Scherzreden, S. 7. Blaufus, Zwo Scherzreden, S. 8. Blaufus, Zwo Scherzreden, S. 9. Quint. Inst. II, 15, 38. Vgl. Quint. Inst. II, 14, 5. Blaufus, Zwo Scherzreden, S. 9. Blaufus, Zwo Scherzreden, S. 9f.

Während diese Urszene verführerischer Weiblichkeit üblicherweise Anlass zu misogynen Äußerungen bietet, entsteht der Witz an Blaufus’ Darstellung gerade dadurch, dass er Evas Sündenfall scheinbar ethisch-neutral als exzellente Redeleistung beschreibt. Tatsächlich greift er einen alten Topos auf, der die weibliche (Körper-) Rede als verführerisch, schmeichelhaft, betrügerisch und falsch fasst.161 Die Komik verstärkt sich durch eine Persiflage der Gewichtigkeit aller ›ersten Male‹, so stellt er seine eigene Leistung, als Erster Eva als erste Rednerin entdeckt zu haben, in eine Reihe mit so wenig erhabenen Beispielen wie der Entdeckung der ersten Kutsche, des ersten Regenrocks oder der ersten Haube. »Aber nein, meine Herren, ich binn nicht aufgetreten mich zu loben, sondern die weiblichen Geschöpfe, die sind meine Helden, und ich binn ihr Lobredner«, schließt Blaufus ironisch die Behandlung dieser ersten These und sagt damit genau ihr Gegenteil. In einem zweiten Schritt macht sich Blaufus auf die Suche nach ›Evas Töchtern‹. Ist das Spezifikum der Beredsamkeit zu ›bewegen‹, dann, so Blaufus’ Schlussfolgerung, gelte es auch außerhalb der klassischen rhetorischen Orte nach Rednerinnen zu suchen: Verlassen Sie aber die Hörsäle der Redner von unserm Geschlechte, besuchen Sie die Kirchen, die Märkte, die Heerstraßen, alle diese sind Logen von der Gesellschaft der Rednerinnen, Sie werden mit Erstaunen wahrnehmen, wie vollkommen, wie nachdrücklich, wie leicht sie bewegen.162

Markiert wird diese ›bewegende‹ weibliche Rede besonders durch den Einsatz von Stimme und Körpersprache: Ohne ihre Stimme zu »überschreyen«, gelinge es der Frau, sich selbst vor der größten Geräuschkulisse durchzusetzen, unterstützt durch die »Sprache der Minen« und die der »Bewegungen der Glieder«. »Das Augenwinken, das Aufheben oder Fallenlassen der Hände, die Beugung des Fächers gegen die Brust, das Anschlagen der Finger auf das Gesangbuch« wird zur weiblichen eloquentia corporis gezählt, die ganz ohne verbale Rede ›wirkt‹.163 Die eigentliche weibliche actio, die die Rede begleitende Stimmführung, Gestik und Mimik, streicht Blaufus erst recht als maßgebliches rhetorisches Überzeugungsmittel der Frau heraus:

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Georg Schultze widmet der schmeichelnden weiblichen Beredsamkeit seine Dissertatio academica mit dem Titel De blanda mulierum rhetorica (1678). Darin setzt er sich mit Georg Richters Axiom aus dem Jahr 1614 auseinander, dem zufolge die Frau durch sanfte Rede, reizende Mimik, liebenswürdige Gestik, anmutiges Verhalten, Bitten und Tränen vieles erreichen könne, das Männern selbst mit Waffengewalt unmöglich sei. Neben zahlreichen Belegen für die schmeichelnde Art der weiblichen Beredsamkeit weist Schultze auf Eva als Inbegriff der tadelnswürdigen, täuschenden »Weiberrhetorik« hin: »Wann nach den Fall Adae und Evae der falschen und listigen Weiber-Zunge glatt ist/ und ihre Wort schmeichelhafft und überzuckert/ ihre glatte Geberden lieblich und das Hertze offtermahls in bösen falsch und betrüglich ist.« Zit. n. Elisabeth Gössmann, Das Wohlgelahrte Frauenzimmer, München 1984, S. 125. Blaufus, Zwo Scherzreden, S. 12. Blaufus, Zwo Scherzreden, S. 12f.

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Sprechen sie aber, bewegen sie mit Worten, so sehen wir allezeit, wie die geschicktesten Bewegungen des Leibes ihre Rede begleiten; wie sie eben dadurch die Herzen gewinnen, und sich bey dem Ruhme geschickter Rednerinnen erhalten. Wie geschickt wissen sie die Natur in ihren Stellungen auszudrücken, ungezwungen, nachdrücklich, an gehörigem Orte, kurtz: so, als es Demosthenen nimmermehr hat machen können, wissen sie ihre Glieder zu bewegen. Wie viele Mühe kostet es aber einem angehenden Redner von unserm Geschlechte, ehe er die Regeln von den guten Stellungen und Bewegungen auszuüben weiß, ehe er seine Glieder lenken lernet? […] Das Frauenzimmer braucht keine Unterweisung […].164

Der Frau wird eine wirksame actio ganz von Natur aus zugeschrieben. Gerade die kunst- und regellose weibliche Rede wirke ›natürlich‹ und damit glaubwürdig, wohingegen die langjährige rhetorische Ausbildung des Mannes angeblich ›Fehler‹ und ›unanständige Stellungen‹ produziere. Die scheinbar positive Bewertung der weiblich-kunstlosen Rede erscheint jedoch im Kontext einer kunstvollen Rede vor akademischem, männlichem Publikum (wie Blaufus’ Scherzrede eine ist) in ironischem Licht. In der Teutschen Gesellschaft, die sich die Beherrschung der deutschen Sprache und der Rhetorik zum Ziel gesetzt hat, kann vielmehr davon ausgegangen werden, dass die männliche Kunst als der weiblichen Natur überlegen gilt. Erst nachdem Blaufus auf die weibliche Körpersprache eingegangen ist, kommt er auf den weiblichen Redestil zu sprechen, den er als besonders lebendig schildert. »Sie sind wortreich, an Erfindungen fruchtbar; ihre ganze Natur ist zur Beredsamkeit geschickter als die Natur der Männer; sie gerathen eher in Affekt, sie sprechen mit mehrerer Heftigkeit«165. Die Redesituationen, an denen Blaufus diese scheinbar positive Lebendigkeit des Redestils festmacht, sind jedoch solche des Klatsches, Spottes und Fenstertratsches, die auch dieses Lob der Lebendigkeit als ironisches markieren. Signifikant ist Blaufus’ Begründung für die lebhafte Beredsamkeit der Frauen: »[D]a von dem Tage ihrer Geburt an ihre größte Bemühung ist, ihre Einbildungskraft rege zu machen, da alle ihre Unternehmungen dahin gehen, wie sie gefallen mögen, da sie beständig die Wege zu den Herzen der Menschen suchen.«166 Dieses übertrieben erscheinende Bestreben, gefallen zu wollen, wird der Frau topisch zugeschrieben und wiederholt als Motor eines wirkungsorientierten Auftretens dargestellt, ein Topos, der sich noch in Rousseaus Erziehungslehre oder in den späteren Anstandslehren findet.167 Der Topos weiblicher Gefallsucht dient jedoch gerade nicht dazu, eine scheinbar natürliche Wirkungsorientierung der Frau mit einer besonderen rhetorischen Begabung zu verknüpfen, sondern im Gegenteil dazu, den Ausschluss der Frau aus der Rhetorik zu zementieren, indem die Frau nicht als besonders persuasiv, sondern als besonders eigennützig und irrational markiert wird, stellt sie doch das ›Gefallen‹ an ihrer Person der ›Sache‹ voran.

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Blaufus, Zwo Scherzreden, S. 14f. Blaufus, Zwo Scherzreden, S. 16. Blaufus, Zwo Scherzreden, S. 16. Vgl. Kapitel IV.4.3 und Kapitel IV.5.4.

Während der ideale Redner seine Redekunst für eine gewichtige Sache einsetzt, wird die Rednerin scheinbar nur davon angetrieben, selbst zu gefallen oder sich anderweitig selbst zu nutzen. Diesen Kontrast baut Blaufus noch einmal durch die Gegenüberstellung der Frau als Rednerin mit den höchsten Autoritäten der alten Rhetorik auf. Zugeschrieben wird der Frau durch diese Kontrastierung nicht nur die weiblich-verführerische, naturgegeben-unausgebildete und eigennützig-irrationale Rede, sondern auch die inhaltlich leere, unbedeutende, private: Während die großen Redner der Antike ihre Redekunst nutzten, um die Republik zu retten, setze eine Rednerin wie Venus ihre Eloquenz ein, um Mars ins Bett zu bekommen. Während sich die antiken Redner im Schweiße ihres Angesichts abgemüht hätten, ihr Publikum zu bewegen und zu überzeugen, könne die Frau mit kaum zwei (verführerischen) Worten alles bewirken. In einer ironisch-pathetischen Apostrophe ruft Blaufus aus: »Stellet euch nun dagegen, Hortensius und Galba, Aeschines und Perikles, Antonius und Gracchus, Crassus und Cicero! und nehmet den Unterschied wahr zwischen euren Reden und den Reden des Frauenzimmers.«168 Der Unterschied zwischen der männlichen und der weiblichen Rede, der in Blaufus’ Rede durchgehend heraufbeschworen wird, fällt jedoch gerade nicht, wie ironischerweise suggeriert, zu Gunsten der Frau aus. Diese Differenz männlicher und weiblicher Rede sucht Blaufus am Schluss seiner Scherzrede noch einmal durch die Berufung auf die Natur zu befestigen. Die Frauen seien die besseren Rednerinnen, »da ihnen alles natürlich läßt, weil ihre Beredsamkeit eine Tochter der Natur ist. Ihr Geschmack ist von je her gereinigter gewesen, als der unsrige. Sie sind mit der Natur mehr zufrieden gewesen, als wir, sie haben niemahls so viel gekünstelt«.169 Den Vorschlag zweier Akademiker, Frauen die »Profession der Beredsamkeit auf den hohen Schulen« zugänglich machen zu wollen, lehnt Blaufus mit eben dem Verweis auf die ohnehin vorteilhafte weibliche Natur ab. Vielmehr persifliert er das weibliche Bildungsideal, das in den Frauenzimmer-Lexika zum Ausdruck kommt, durch den Vorschlag, die Männer in die »Schulen der Frauenzimmer« zu schicken, damit sie »von ihnen die Mittel lernten, ihre Einbildungskraft rege zu machen und die Natur auszudrücken: [damit] sie sich von den rednerischen Lehrgebäuden entfernten, und Sektirer des schönen Geschlechts würden.«170 Jedes Zimmer, in dem sich eine Frau aufhalte, sei eine Schule der Beredsamkeit. Dass diese Aufhebung der Grenzen zwischen weiblicher, privater, ungelehrter Wohlredenheit und männlicher, öffentlicher, gelehrter Beredsamkeit nur eine scheinbare ist, die dazu dient, die genannten Grenzen und Gegensätze gerade zu schärfen, sollte deutlich geworden sein.

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Blaufus, Zwo Scherzreden, S. 18f. Blaufus, Zwo Scherzreden, S. 19f. Blaufus, Zwo Scherzreden, S. 21.

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Der ›Federkrieg‹ um die Scherzrede Blaufus’ Scherzrede trifft auf Widerstand und wird zum Anlass einer umfangreichen publizierten Debatte: Der Jenaer Doktorand Gottlieb Friedrich Amandus Trautmann sieht sich unter dem Pseudonym eines ›ehrlichen Teutschen‹ zur Veröffentlichung einer Vertheidigung des artigen Geschlechtes wider die erste Scherzrede genötigt, woraufhin Blaufus erbost eine Abgenöthigte Antwort in den Druck gibt und Trautmann wiederum mit einer Kurzen Beantwortung der alzuhöflichen Antwort reagiert.171 Die Publikationen überbieten sich mit zunehmend spitzfindigen Anschuldigungen und Verteidigungen, die überwiegend die philosophische und sprachliche Kompetenz der beiden ›Herren Gegner‹ zum Thema machen. Das Frauenzimmer als Rednerin gerät dabei zusehends in den Hintergrund. Anlass der Vertheidigung des artigen Geschlechtes von Trautmann ist jedoch dessen Empörung über Blaufus’ Unterstellung, die Frau sei beredsamer (im Sinne von schwatzhafter und verführerischer) als der Mann. Trautmann will zwar nicht die rhetorische Kompetenz aller Frauen beweisen, aber sie zum einen von den ihnen zugeschriebenen Überredungs- und Verführungskünsten freisprechen und zum anderen einzelnen herausragenden Frauen durchaus rhetorische Verdienste zusprechen. Blaufus hat seine herbe ›Frauenschelte‹ als Scherzrede vorgetragen, die oftmals im Dunkeln lässt, was ernst und was ironisch gemeint ist. Damit hat er in dieser kontroversen Thematik nicht zufällig ein recht unangreifbares rhetorisches Mittel ergriffen. Eine Scherzrede entzieht sich gemeinhin Kritiken insofern, als der Kritiker am Ende als einer dasteht, der keinen Spaß versteht. Trautmanns naive Kritik gibt tatsächlich den Anschein, als sei er einer ironischen Auslegung von Blaufus’ Scherzrede intellektuell nicht gewachsen (wie ihm dies Blaufus in seiner Abgenöthigten Antwort auch vorwirft). Andererseits kann seine Art, Blaufus ganz wörtlich zu lesen, auch als Strategie verstanden werden, einer sich in ihrer ironischen Doppeldeutigkeit stets entziehenden Scherzrede zu begegnen. Für diese Lesart spricht die Selbstinszenierung Trautmanns als ›ehrlicher Teutscher‹, der explizit antirhetorisch agiert. Trautmann will nicht unter dem »falschen Deckmantel« 171

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Gottlieb Friedrich Amandus Trautmann, Abgenöthigte Vertheidigung des artigen Geschlechtes wider die erste Scherzrede welche von dem Herrn M. Jacob Wilhelm B** unter der Auffschrift die Vorzüge des Frauenzimmers vor den Manns-Personen in der Beredsamkeit den witzigen Menschen-Freunden angepriesen in der hochlöblichen teutschen Gesellschaft in Jena gehalten […], verfertiget und vor die vernünftigen Verehrer des schönen Geschlechtes herausgegeben von Einem ehrlichen Teutschen, Jena: Marggraf 1746. Jacob Wilhelm Blaufus, Abgenöthigte Antwort auf Gottlieb Friedrich Amandus Trautmanns [...] abgenöthigte Verthaidigung des artigen Geschlechtes: nebst einer Zueignungsschrift an denselben, o. O. o. J. [ca. 1746]. Gottlieb Friedrich Amandus Trautmann, Kurze Beantwortung der alzuhöflichen Antwort des Herrn M. Jacob Wilhelm Blaufuß Welche er auf die abgenöthigte Vertheidigung des artigen Geschlechts herausgegeben hat, Nebst einer Vorrede an dem Leser, einen Danksagungs-Schreiben an ermeldeten Herrn M. Blaufuß und einen Anhang verschiedener neuer Fehler Desselben, Frankfurt, Leipzig: o. V. 1747.

der Rhetorik auftreten, will »kein Redner« sein, sondern »frei und öffentlich« der »Wahrheit« zu ihrem Recht verhelfen.172 So nimmt Trautmann beispielsweise Blaufus’ ironische Stilisierung der weiblichen Schwatzhaftigkeit als wahre Beredsamkeit wörtlich und kritisiert, Blaufus lege »den schönen Kindern eine schwatzhafte, keinesweges aber beredte Zunge bey«173. Schwatzhafte Personen gebe es allerdings bei beiderlei Geschlecht. Trautmann will es nicht gelten lassen, dass Blaufus so gelehrte Frauen und hervorragende Rednerinnen wie Anna Maria Schurmann zusammen mit schwatzhaften Mägden »in eine Brühe wirft«.174 Er wehrt sich schlicht gegen die topische Vereinnahmung des gesamten weiblichen Geschlechts und führt soziale Differenzkriterien dagegen auf. Ein weiterer Streitpunkt ist der, dass Blaufus der Frau unterstellt, schneller als der Mann ›in Affect‹ zu kommen und dies (ironisch) als rhetorischen Vorteil ausgibt. Trautmann sucht dagegen nachzuweisen, dass eben eine schnelle und unkontrollierte Ergriffenheit durch den Affekt als Fehler in der Redekunst gelte.175 Dies ist natürlich auch Blaufus bewusst, der das Adjektiv »männlich« explizit als Hinweis auf eine »Stärke in der Denkungskraft und in der Herrschaft über seine Affekten« versteht.176 In seiner Antwort bleibt Blaufus dabei, dass die stärkeren und schneller hervorzurufenden Affekte der Frau zu einer ›natürlichen Eloquenz‹ verhelfen würden.177 Damit verstärkt Blaufus letztlich die Differenz zwischen einer natürlichen, unbeherrschten, affektiven weiblichen Eloquenz und einer kunstvollen, beherrschten, zielgerichteten männlichen Rhetorik.178 Zudem bekräftigt er, dass die Frau über keine rationalen ›Erkenntnisse‹ verfüge, die sie in ihrer Rede vertreten könne, sondern lediglich ihre Neigungen und Affekte mitteile.179 Weibliche Rede erscheint also nicht nur, sondern ausschließlich als affektive Rede, hat sie doch ansonsten keinerlei ›Inhalt‹. Insbesondere über die actio streiten sich die beiden Gegner. Trautmann zufolge gehören Mimik und Gestik nicht eigentlich zur Beredsamkeit. »Denn eine Rede muss durch die Stimme, keinesweges aber durch die Geberden geschehen, denn solches thun nur die Stummen in der Türkey. Wird man diese nun wohl Redner heißen?«180 Statt einer Differenz in der Gestik zwischen Mann und Frau setzt Trautmann also die zwischen zwei Nationen. Dabei lässt Trautmann keinen Unter-

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Vgl. Trautmann, Abgenöthigte Vertheidigung des artigen Geschlechtes, S. 17ff. Trautmann, Abgenöthigte Vertheidigung des artigen Geschlechtes, S. 33. Vgl. Trautmann, Abgenöthigte Vertheidigung des artigen Geschlechtes, S. 34. Vgl. Trautmann, Abgenöthigte Vertheidigung des artigen Geschlechtes, S. 44. Blaufus, Abgenöthigte Antwort, S. 20. Vgl. Blaufus, Abgenöthigte Antwort, S. 25. Auf diesen Unterschied zwischen natürlicher Eloquenz und kunstvoller Rhetorik wird wiederum hingewiesen in Trautmann, Kurze Beantwortung der allzu höflichen Antwort, S. 28. Vgl. Blaufus, Abgenöthigte Antwort, S. 20. Trautmann, Abgenöthigte Vertheidigung des artigen Geschlechtes, S. 39.

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schied gelten zwischen bedeutsamen Bewegungen der Glieder (wie bei der rhetorischen Gestikulation) und unbedeutsamen (wie beim Holzhacken) oder pantomimischen (wie wohl bei den ›stummen Türken‹) – und schießt damit über sein Ziel, die ›gestisch geschwätzige‹ Frau zu verteidigen, hinaus. In seiner Antwort beruft sich Blaufus auf die Autorität nicht etwa der actio-Lehre bei Cicero und Quintilian, sondern der Moralischen Wochenschriften, auf den Spectator und insbesondere die Discourse der Mahlern. In einer dortigen Definition wird nicht nur die Gebärde als zeichenhafte ›Universalsprache‹ bestimmt, sondern außerdem erklärt, »das Frauenzimmer bediene sich solcher Sprache vollkommener als die Männer«.181 So etabliert Blaufus zum wiederholten Mal (und auch in Bezug auf die actio) ›Geschlecht‹ als maßgebliche und vorherrschende Differenzkategorie – entgegen Trautmanns Versuch, anderen Differenzkategorien wie Stand und Nationalität Gewicht zu verleihen beziehungsweise eine Differenzierung innerhalb der Kategorie ›Geschlecht‹ (zwischen verschiedenen Frauen) zu bewirken. Fazit Geht man von der Frühaufklärung als einer ›frauenfreundlicheren‹ Zeit aus, hätte eine invitatorische Darstellungsweise weiblicher Rednerinnen angenommen werden können, die sich vom weiteren Verlauf der Aufklärung dezidiert unterscheidet. Festzuhalten ist eine Gleichzeitigkeit exklusiver und inklusiver Äußerungen über die Frau als Rednerin, wobei die Textgattung (Frauenzimmer-Lexika oder Rede in akademischem Kontext) bestimmend ist. Während der Höhepunkt der Frauenzimmer-Lexika nach dem ersten Viertel des 18. Jahrhunderts bereits wieder abebbt, aber noch bis zum Ende des Jahrhunderts vereinzelte enzyklopädische Lobpreisungen des gelehrten Frauenzimmers erscheinen, hält Blaufus in der Mitte des Jahrhunderts seine Rede. Die Themenwahl der Scherzrede kann auch als Antwort auf eine ›Bedrohung‹ männlicher Privilegien gelesen werden, suchen doch Frauen Zugang sowohl zur Teutschen Gesellschaft als auch zu Universitäten. Blaufus’ Ablehnung einer rhetorischen Ausbildung für Frauen weist die Idee weiblicher Bildungsfähigkeit und den Anspruch auf Bildungszugang für Frauen wieder in ihre Schranken. Seine Charakterisierung weiblicher Rede als ungebildet, unbe181

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Vgl. Blaufus, Abgenöthigte Antwort, S. 22, mit Bezugnahme auf: Dürer, VIII. Discours [Von der Sprache der Gebehrden]. In: Die Discourse der Mahlern, hg. von Johann Jakob Bodmer, Johann Jakob Breitinger, 4. Teil, Zürich: Bodmerische Druckerei 1723, ND Hildesheim 1969, S. 45–52, S. 45f. Dort heißt es an das Frauenzimmer gerichtet: »Gleich wie eure Leiber schöner und zarter sind als der Männer, also sind eure Neigungen lebhaffter und empfindlicher; darum redet ihr auch die Sprache der Grimatzen vollkomner. Die Männer reden öffter allein mit der Zunge, ihr Hertze stimmet mit den Worten nicht überein, ihre Bewegungen sind stumm oder gaucklerisch: Ihr redet allezeit mit einer Passion, die euch fürchten machet, daß die Sprache der Worten zu schwach seye, eure Gedancken auszudrücken; ihr bedienet euch neben derselben der Sprache der Gebehrden.«

deutend, inhaltsleer, irrational, unkontrolliert, affektiv und sexuell-verführerisch dient als Argument für die männliche Exklusivität von Rednergesellschaften wie der Teutschen Gesellschaft. Rhetorik und Beredsamkeit werden auf rein männlich besetzte Orte begrenzt, während weibliche Rede auf nicht-rhetorische Räume wie Straßen und Märkte beschränkt wird. Doch festzuhalten ist auch: Das Frauenzimmer als Rednerin ist in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts tatsächlich denkbar – wenn eben auch weniger als sozialhistorisches Subjekt denn als rhetorisches Gedankenspiel. Die im folgenden Kapitel analysierte dezidiert männliche, vernunftgesteuerte, akademische Redekunst Gottscheds ist ebenso wie die scheinbar geschlechtsneutrale Argumentation der actio-Rhetoriken auch vor diesem Hintergrund zu sehen: Rednerinnen sind im 18. Jahrhundert keineswegs so undenkbar wie in der Antike.

IV.3 Geschlechtsneutrale Aktion? Actio in Rhetoriken Vor dem Hintergrund der frühaufklärerischen – umstrittenen, jedoch möglichen – ›Denkbarkeit‹ des Frauenzimmers als Rednerin stellt sich die Frage, inwiefern Redner-Ideale und actio-Konzeptionen in der rhetorischen Theoriebildung im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts davon beeinflusst werden. In diesem Kapitel wird eine Auswahl solcher Texte untersucht, die der klassischen Systemrhetorik am nächsten stehen, bevor in den folgenden Kapiteln Erziehungslehren und Anstandslehren befragt werden. Mit Gottscheds Ausführlicher Redekunst (1736) wird eine frühe und wirkmächtige Position in den Blick genommen, die an die alte Rhetorik anknüpft und zugleich deren Aktualisierung anstrebt (3.1). Gottsched greift die schon in der Antike formulierten Aspekte von natura, ars, exercitatio und imitatio in Bezug auf die actio auf, wobei nach der geschlechtlichen Codierung dieses actio-Konzepts und des damit verbundenen Rednerideals zu fragen ist. Bleibt die actio bei Gottsched Teil der officia-Rhetorik, so löst sie sich am Ende des Jahrhunderts zunehmend aus dem System der Rhetorik. Die neuen actio-Abhandlungen, die im Umfeld der sich formierenden Schauspielkunst entstehen, sprechen durchaus auch Schauspielerinnen an (3.2). Hier könnte eine geschlechtsspezifische Ausformulierung der actioTheorie erwartet werden – haben Schauspielerinnen und Schauspieler doch auf der Bühne nicht nur je nach Geschlecht verschiedene Affekte zu zeigen, sondern Affekte auch verschieden stark darzustellen, wie ein Seitenblick auf Lessings Hamburgische Dramaturgie (1767) belegen wird. Zum Schluss des Kapitels wird die wohl einzige deutschsprachige Rhetorik fürs Frauenzimmer (1768) auf eine geschlechtsspezifische Darstellungsweise der actio hin untersucht (3.3).

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IV.3.1 Wiederbelebung der Tradition: Gottscheds ›männliche‹ Rhetorik Johann Christoph Gottscheds Ausführliche Redekunst, Nach Anleitung der alten Griechen und Römer, wie auch der neuern Ausländer, in zweenen Theilen verfasset, ist eine der bekanntesten deutschsprachigen Rhetoriken des 18. Jahrhunderts, die aus dem 1729 veröffentlichten Grundriß zu einer vernunfftmäßigen Redekunst hervorgeht, 1736 erstmals unter dem Titel Ausführliche Redekunst publiziert und 1739, 1743, 1750 und 1759 neu aufgelegt wird sowie in gekürzten Versionen bis zum Ende des Jahrhunderts in Europa zirkuliert.182 Wie der Titel betont, bezieht sich Gottsched explizit auf die alte Rhetorik, zugleich wird sein Bestreben deutlich, mit der Ausführlichen Redekunst eine aktualisierte, in der Ratio begründete deutschsprachige Rhetorik zu fördern.183 Indem Gottsched die Übereinstimmung mit antiken Autoritäten behauptet, begründet er eine anthropologische Konstante: Der Redner will beim Publikum Beifall und Glauben bewirken, der Mann will wirken. Darum seien zwischen den einzelnen Auflagen der Redekunst nur unerhebliche Veränderungen vonnöten gewesen, so Gottsched: Meine Grundregeln waren nämlich auf die menschliche Natur, auf die Absichten eines jeden vernünftigen Redners gerichtet, und stimmeten mit den Vorschriften und Beyspielen der größten Männer des griechischen und römischen Alterthums überein. Sie konnten also, auch nach der sorgfältigsten Prüfung, keiner Änderung nöthig haben: es wäre denn, daß sich die menschliche Natur ändern; oder irgendwo Redner aufstehen sollten, die gar nicht die Absicht hätten, bey ihren Zuhörern Beyfall und Glauben zu finden.184

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Johann Christoph Gottsched, Ausführliche Redekunst, Nach Anleitung der alten Griechen und Römer, wie auch der neuern Ausländer, in zweenen Theilen verfasset; und itzo mit den Zeugnissen der Alten und Exempeln der größten deutschen Redner erläutert. Statt einer Einleitung ist das alte Gespräch, von den Ursachen der verfallenen Beredsamkeit, vorgesetzet, 5. Aufl., Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf 1759, ND in: Gottsched, Ausgewählte Werke, hg. v. P. M. Mitchell, Bd. 7.1: Ausführliche Redekunst, Erster, allgemeiner Theil, Bd. 7.2: Ausführliche Redekunst, Besondrer Theil, Bd. 7.3: Ausführliche Redekunst, Anhang, Variantenverzeichnis, Nachwort, Bd. 7.4: Ausführliche Redekunst, Kommentar, Berlin, New York 1975–1981; Gottsched, Grundriß zu einer Vernunfftmäßigen Redekunst Mehrentheils nach Anleitung der alten Griechen und Römer entworfen und zum Gebrauch seiner Zuhörer ans Licht gestellet von M. Joh. Christoph Gottscheden des Colleg. U. L. F. in Leipzig Collegiaten, Hannover: Nicolaus Förster und Sohn 1729. Vgl. zu den Folgeauflagen: Dyck, Sandstede, Quellenbibliographie zur Rhetorik, Homiletik und Epistolographie des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum, Bd. 1, S. 434. Vgl. zur europäischen Rezeption: Conley, Rhetoric in the European Tradition, S. 206. Vgl. einführend zu Gottscheds Ausführlicher Redekunst im Kontext der Rhetorik der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (Johann Andreas Fabricius, Friedrich Andreas Hallbauer): Joachim Knape, Johann Christoph Gottsched: ›Ausführliche Redekunst‹. Vernunft und humanistisch inspirierte Systemerneuerung. In: Knape, Allgemeine Rhetorik. Stationen der Theoriegeschichte, Stuttgart 2000, S. 261–294. Gottsched, Ausführliche Redekunst, Bd. 7.1, S. 6.

Aus den rhetorischen Texten der Antike entnimmt Gottsched nicht nur die Orientierung an der persuasiven Wirkung und die umfassende Systematik, u. a. der fünf officia, sondern – dies ist meine These – auch die Darstellung der Rhetorik als explizit männliche Kunst. Gottsched beschreibt die Redekunst dezidiert als eine »ernstliche, männliche und philosophische Kunst«185. Diese Männlichkeit, die in der antiken Definition der Rhetorik ebenso stark herausgestellt wird, verliert in den actio-Rhetoriken des späten 18. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung. Insofern möchte ich Gottscheds stark an der alten Rhetorik orientierte Redekunst als Beispiel einer ›männlichen Rhetorik‹ im 18. Jahrhundert anführen, die die Wirkmächtigkeit der antiken Modelle, und zwar nicht nur der rhetorischen Systematik, sondern auch der damit verknüpften gender-Vorstellungen aufzeigt. Allerdings enthält sich Gottsched – und dies ist im Vergleich zu den antiken Vorbildern neu – einer expliziten Ablehnung weiblicher Rede. Während in der antiken Rhetorik, wie gezeigt, das Weibliche, Weibische und Weichliche als konstitutives Gegenteil einer männlichen Rhetorik angeführt und ostentativ verworfen wird, setzt Gottsched seine dezidiert männliche Redekunst in einen Gegensatz zu einer kindischen186 oder pöbelhaften – weniger jedoch in Gegensatz zu einer weiblichen – Redeweise. Gottscheds Redekunst bleibt auf den akademischen Gebrauch beschränkt. Ohne auf alltägliche Redesituationen wie die Konversation eingehen zu müssen, bleibt sie damit auch auf ein männliches Zielpublikum beschränkt. Denn Gottsched unterscheidet mit Nachdruck die (männlich konnotierte) Wissenschaft der Beredsamkeit – das ist die ›wahre Redekunst‹ – und die nachrangige Wohlredenheit. Während erstere, geleitet durch Regeln, Vernunft und Moral, nur dem akademisch ausgebildeten Mann, dem »Gelehrten« offen steht, erstreckt sich letztere auch auf die »Unstudirten«, die durch Natur, Umgang und Übung einige Kenntnisse erworben haben (und eventuell auch Frauen umfassen könnten).187 Nur in der Beredsamkeit,

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Gottsched, Ausführliche Redekunst, Bd. 7.1, S. 90. Im Zentrum der Beredsamkeit steht nach Gottsched die persuasive Wissenschaft und praktische Fähigkeit der Beeinflussung des Publikums (Beredsamkeit). Damit meine Beredsamkeit mehr als nur die ›Reinigkeit‹ oder ›Schönheit‹ der Sprache (Wohlredenheit), wie Gottsched eine falsche Vorstellung identifiziert, die dazu beigetragen habe, »eine so ernstliche, männliche und philosophische Kunst, als die Redekunst ist, in ein mageres, kindisches und grammatisches Wortspiel« zu verwandeln. Gottsched, Ausführliche Redekunst, Bd. 7.1, S. 90. An anderer Stelle distanziert sich Gottsched von der »waschhaften Menge unsrer heutigen Sophisten«, die mit ihren »kindischen Einfällen« das Lob der Einfältigen fänden: »Wer Kindern gefallen will, der kann sie mit Puppen und glänzenden Glasscherben vergnügen: Männer hingegen wollen durch wahrhaftige Güter gewonnen werden.« Johann Christoph Gottsched, Akademische Rede, daß ein Redner ein ehrlicher Mann seyn muß. In: Gottsched, Ausgewählte Werke, hg. von P. M. Mitchell, Bd. 9,2: Gesammelte Reden, Berlin, New York 1976, S. 509–518, S. 517. Gottsched, Ausführliche Redekunst, Bd. 7.1, S. 103.

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dieser ›wahren Redekunst‹, treten Männlichkeit, Rechtschaffenheit, Ehrlichkeit, Verstand und Gelehrtheit in eine Allianz.188 Gottsched entwirft die Ausführliche Redekunst als ein Lehrwerk für Universitäten, das ergänzt wird durch die kompaktere, erschwinglichere Akademische Redekunst für Studenten sowie durch die Vorübungen zur Beredsamkeit, die Gottsched für Gymnasien und andere Schulen entwickelte.189 Damit tritt Gottsched – angelehnt an das pädagogische Konzept Quintilians – für eine umfassende rhetorische Bildung ein, die in der Kindheit beginnen und in den verschiedenen Bildungsinstitutionen fortgesetzt werden soll. Es ist kaum nötig, noch einmal darauf hinzuweisen, dass es sich hier ausschließlich um die Ausbildung heranwachsender männlicher Redner handelt. Frauen tauchen in Gottscheds Rhetorik, wie schon in seinen antiken Vorbildern, nur am Rande, etwa als Amme oder Mutter auf. Was die rhetorische Erziehung betrifft, so plädiert Gottsched im Sinne von Quintilian, dass Kinder von klein auf in ihrer häuslichen Umgebung eine gebildete Sprache wahrnehmen sollten. Besser noch als Wärterinnen seien hierfür die Mütter geeignet, stellt Gottsched ganz im Einklang mit der sich im 18. Jahrhundert herausbildenden neuen Position der Mutter als Mittelpunkt der Kernfamilie fest.190 Während Quintilian, auf den sich Gottsched hier augenscheinlich bezieht, eine wohlberedte und (gar philosophisch) gebildete Amme fordert, damit ihr Vorsprechen den Spracherwerb des Kleinkinds nicht negativ beeinflusst, scheint die Bildung einer Amme aus dem ›Pöbel‹ jenseits des Gottsched’schen Vorstellungsvermögens zu liegen.191

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Vgl. dazu auch Gottsched, Akademische Rede, daß ein Redner ein ehrlicher Mann seyn muß, S. 510. Vgl. Johann Christoph Gottsched, Vorübungen der Beredsamkeit, zum Gebrauche der Gymnasien und größern Schulen, Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf 1754 (2. Aufl., Leipzig 1756, 3. Aufl., Leipzig 1764). Johann Christoph Gottsched, Akademische Redekunst, Zum Gebrauche der Vorlesungen auf hohen Schulen als ein bequemes Handbuch eingerichtet und mit den schönsten Zeugnissen der Alten erläutert, Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf 1759. Zu diesen grundlegenden didaktischen Theoriewerken kommen noch praktische Beispielreden in den Proben der Beredsamkeit (1738) und Gesamleten Reden (1749). Um die rhetorischen Texte zu Gottscheds weiteren mit Sprache befassten Texten in Bezug zu setzen, sei nur kurz auf Gottscheds Critische Dichtkunst (1729) und die Grammatik Deutsche Sprachkunst (1748) verwiesen. Nach Friedrich A. Kittler findet im 18. Jahrhundert eine Neucodierung von Mütterlichkeit statt, indem das Verwandtschaftssystem ›Kernfamilie‹ das der ›Sippe‹ ablöst und damit die Mutter in den Vordergrund rückt. Friedrich A. Kittler, Dichter – Mutter – Kind, München 1991. Die daraus resultierende Rollenteilung in der bürgerlichen Kernfamilie wirkt polarisierend auf die Geschlechtercharaktere, die Weiblichkeit mit Natur und Reproduktion im privaten Raum und Männlichkeit mit kultureller Produktivität im öffentlichen Raum verbinden. Die rhetorische Rolle der Mutter liegt nun darin, ihre Kinder (sowie den männlichen Dichter oder Redner) zum Sprechen zu bringen: »Mutter Natur schweigt, auf daß andere von ihr und für sie sprechen.« Friedrich A. Kittler, Aufschreibesysteme 1800/1900, 3., überarb. Aufl., München 1995, S. 35f. Vgl. auch Kapitel IV.1.3. Vgl. Quint. Inst. I, 1, 4ff.

Daher zieht er ein anderes topisches Beispiel, Cornelia, die standesgemäße Mutter der Gracchen, heran, um seine zeitspezifische Bevorzugung der Mutter mit antiken Vorbildern zu begründen: Am allerbesten aber wäre es, wenn sie [die Knaben], wie die Graccher in Rom, von ihren eigenen Müttern erzogen, und so wenig, als es möglich wäre, in den Händen und im Umgange des Gesindes gelassen würden. Denn was können sie von diesem anders, als eine gemeinere Sprache, viel pöbelhafte Vorurtheile, und böse Sitten lernen?192

Die Kategorie des ›Standes‹ ist der des ›Geschlechts‹ vorrangig. Nicht die sprachliche Kompetenz von Frauen wird hier diskutiert, sondern die von Menschen (Männern und Frauen) niederer Stände generell negiert. Was die actio betrifft, sollen die kleinen Knaben bereits frühzeitig ihr Gedächtnis und ihr Auftreten üben, indem sie kleine Glückwünsche und auswendig gelernte Reden auf Latein oder Deutsch vortragen. In Bezug auf die Stimme warnt Gottsched hier vor allem vor einem singenden Tonfall, den die Leseschule falsch vermittele, und in Bezug auf die Körperbewegungen wird gefordert, dass die Knaben früh einem Tanzmeister übergeben werden, der »ihnen zeigen [muß], wie sie die Füße setzen, den Leib gerade führen, den Kopf empor tragen, die Hände bewegen; und in allerley Umständen einem jeden, durch geschickte Beugung des Leibes, ihre Ehrerbietung bezeugen sollen.«193 Außerdem verweist Gottsched auf die Relevanz der imitatio und fordert von dem heranwachsenden Redner ganz im Sinne Ciceros und Quintilians, »die besten Redner seiner Zeit und seines Ortes [zu] hören« und all dasjenige, was gefällt, zu merken und nachzuahmen.194 Produkt dieser Erziehung ist ein Redner, der ganz dem antiken vir bonus-Ideal entspricht. Unter einem Redner versteht Gottsched »einen gelehrten und rechtschaffenen Mann, der die wahre Beredsamkeit besitzt.«195 Er kann sein Publikum »von allem, was er will, überreden«, zielt aber, so Gottscheds ethische Fundierung des Ideals, »auf nichts, als auf Wahrheit und Tugend«.196 Abgegrenzt wird dieser vir bonus gegen Sophisten, Schwätzer, Windmacher, Plauderer und bloße Stilisten – also gegen diejenigen, die viele Worte mit wenig Inhalt machen und schöne Oberflächen statt philosophischen Tiefgang liefern. Gottsched greift hier die topische Kritik an der sophistischen Rhetorik auf und aktualisiert sie durch zeitgenössische Figuren aus der geselligen Praxis wie den ›Plauderer‹. Der vir bonus dagegen müsse charakterlich über Scharfsinnigkeit, Einbildungskraft und Witz,

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Gottsched, Ausführliche Redekunst, Bd. 7.1, S. 114. Gottsched, Ausführliche Redekunst, Bd. 7.1, S. 115. Die Relevanz des Tanzes als körperliche Grundausbildung für eine spätere formvollendete actio wird, anders als in der alten Rhetorik, seit dem frühen 18. Jahrhundert betont. Vgl. Kapitel IV.5.5 (Körperübungen für körperlichen Anstand). Gottsched, Ausführliche Redekunst, Bd. 7.1, S. 120. Gottsched, Ausführliche Redekunst, Bd. 7.1, S. 102. Gottsched, Akademische Rede, daß ein Redner ein ehrlicher Mann seyn muß, S. 510.

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Gedächtnis, ein unerschrockenes Gemüt verfügen, und nicht zuletzt sei eine »wohlgebildete Gestalt«, eine »zierliche Aussprache« und eine »männliche und gravitätische Stellung des ganzen Leibes« vonnöten. Gerade die actio ist damit der Bereich der Redekunst, in der die Männlichkeit der Rede beziehungsweise des Redners zum Ausdruck kommt: Es muß kein Fehler an seinem Körper seyn, der in die Augen fällt; das ist, er muß weder lahm, noch höckericht, weder blind, noch einäugicht, noch so sehr schielend seyn, daß man solches in der Ferne merken könnte. Hat er aber außer dem allen auch eine ansehnliche Länge, und eine angenehme Gesichtsbildung: so ist das desto besser für ihn. Alcibiades ist die schönste Mannsperson seiner Zeit in Athen gewesen; und darum hat er mit seinen Reden so viel Beyfall gefunden. Wohlgebildete Leute sieht man gern an; auch wenn sie reden, so finden sie viel leichter Gehör und Beyfall, als andere: zumal, wenn sie auch alles mit anständigen Minen, und mit einer ernsthaften Leutseligkeit vorzubringen wissen. Doch sind die hautpsächlichsten guten Eigenschaften eines Redners im Äußerlichen, eine laute und anmuthige Stimme, eine deutliche und zierliche Aussprache, und eine lebhafte Erhebung und Senkung des Tones in derselben, die den Sachen, Worten und Gemüthsbewegungen gemäß ist. Endlich brauchet er auch eine männliche und gravitätische Stellung des ganzen Leibes, nebst den freyen und anständigen Bewegungen desselben.197

Die Schönheit ist auch für den Mann eine maßgebliche Eigenschaft, die Einfluss auf die Überzeugungskraft hat. Wichtiger noch – am ›hauptsächlichsten‹ – ist jedoch nicht die naturgegebene Schönheit, sondern die ausgebildete actio. »Mit dem bloßen Naturelle, darauf man es gemeiniglich allein ankommen lässt, ist es gewiß nicht ausgerichtet.«198 Stattdessen bedarf der Redner Regeln und der Nachahmung guter Muster. Dennoch formuliert Gottsched seine Forderungen ex negativo: Der Redner dürfe sich ›nicht schämen‹, er dürfe ›nicht saumselig‹ sein, Übungen auch im Bereich der actio durchzuführen. Diese Formulierungen scheinen darauf hinzuweisen, dass es zur Entstehungszeit der Redekunst (noch) nicht selbstverständlich ist, Übungen der actio zu fordern – die verstärkte Ausrichtung der Rhetorik auf die Performanz setzt in Deutschland erst am Ende des 18. Jahrhunderts ein.199 Stimme Gottsched thematisiert die actio in seiner Ausführlichen Redekunst an zwei Stellen: In Bezug auf den Entwurf des idealen Redners und im Rahmen des fünften officium. Dort wird, wie seit der Rhetorica ad Herennium üblich, zwischen vox und motus unterschieden: »Vom guten Vortrage einer Rede überhaupt, und im Absehen auf die Aussprache insbesondere« und »Von den guten Stellungen und Bewegungen eines Redners«. Die Stimme, so Gottsched, müsse laut, klar und rein sein, nicht

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Gottsched, Ausführliche Redekunst, Bd. 7.1, S. 113. Gottsched, Ausführliche Redekunst, Bd. 7.1, S. 416. Vgl. Conley, Rhetoric in the European Tradition, S. 213–216.

rauh, dumpfig, grob. Dass die Stimme männlich zu sein habe, wird nicht erwähnt, nur »eine gar zu helle Kehle, die mehr schreyet, als spricht« wird abgelehnt.200 Nicht zuletzt braucht der Redner »eine starke Lunge und einen langen Athem«201. Die Hauptregel bei der Aussprache ist der Abwechslungsreichtum – das heißt, dass die Stimme passend zu den Sachen, den Umständen, den Affekten und Personen, von denen gesprochen wird, sowie den Teilen der Rede eingesetzt wird. Den Teilen der Rede angemessen beginnt der Redner mit einer sanften, mäßigen Stimme, geht zum lauter und erhabener ausgesprochenen Hauptteil über, erklärt deutlich und langsam, trägt dann die Beweise »recht männlich, munter und nachdrücklich« vor, die Einwände präsentiert er mit einer fremden, deren Entkräftung mit einer lebhaften Aussprache und die Affekte nun mit der allerstärksten, allerheftigsten Stimme, die ihm zur Verfügung steht. Es folgt eine genaue Beschreibung aller Affekte und der jeweiligen Stimmführung, die diese Affekte ausdrücken kann. Schließlich muss die Stimmführung auch dem Publikum angepasst werden, wobei soziale Kriterien zum Tragen kommen: Wer etwa vor großen Herren aus vollem Hals schreit, wird als unbescheiden gelten. Überdeutlich weist Gottsched auf die zu vermeidenden negativen Aspekte hin, die mehr Raum einnehmen als die positiven: Stimmfehler werden als ›sehr unangenehm‹, ›verdrüsslich‹, ›ärgerlich‹, ›ekelhaft‹, ›überdrüssig‹ beschrieben, und nicht zuletzt wird der ›Ekel‹ recht deutlich geweckt, wenn Redner ›zuweilen Blut auswerfen‹.202 Die abschreckende Darstellungsweise der Negativbeispiele verweist wie in der alten Rhetorik auf die normative Anlage der Redekunst: Das (männliche) rhetorische Subjekt wird durch Vorschriften und Ausschlussverfahren erzeugt. Gestik und Mimik Die Zuhörer eines Redners haben nicht nur Ohren, sondern auch Augen: daher muß der Redner nicht nur jene, sondern auch diese zu befriedigen, zu vergnügen und einzunehmen wissen, wenn er seinen Endzweck glücklich erreichen will. Die Alten nannten diese Geschicklichkeit die stumme Wohlredenheit, oder die Beredsamkeit des Leibes.203

Während die Stimmführung sich als Bestandteil der Rhetorik erhalten hat, sieht Gottsched die körperliche actio vernachlässigt: »In neuern Zeiten ist diese Kunst sehr in Verfall gerathen, und in einigen Ländern fast gar aus der Beredsamkeit verbannet worden«204 . So finde die eloquentia corporis in England zu wenig, in Italien zu viel und nur in Frankreich eine angemessene Berücksichtigung. Im Theater sehe man, wie viel Eindruck die Gestik mache, insofern solle sich der Redner dieses

200 201 202 203 204

Gottsched, Ausführliche Redekunst, Bd. 7.1, S. 417. Gottsched, Ausführliche Redekunst, Bd. 7.1, S. 418. Vgl. Gottsched, Ausführliche Redekunst, Bd. 7.1, S. 418f. Gottsched, Ausführliche Redekunst, Bd. 7.1, S. 434. Gottsched, Ausführliche Redekunst, Bd. 7.1, S. 435.

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Überzeugungsmittels nicht berauben. Dennoch stellt Gottsched wenige Regeln für die körperliche actio auf und fordert vielmehr, dass der Redner seinem Naturelle [folget], und suchet selbiges, so viel ihm möglich ist, aufzuwecken und zu verbessern. Ich rede hier von dem Naturelle, und zwar nicht ohne Grund: denn die natürlichen Gaben thun auch in diesem Stücke sehr viel. Ein wohlgewachsener Körper, ein wohlgebildetes Antlitz, eine ungezwungene Freyheit in Minen und Gebärden, sind freylich eine herrliche Sache dabey: diese aber kann sich niemand geben.205

Eine angemessene Gestik und Mimik, so Gottsched weiter, ergäben sich von selbst, wenn der Redner von der Wahrheit des Gesprochenen überzeugt sei. Daneben sei zu beachten, dass von klein auf die Haltung und Bewegung in Tanzstunden geübt und durch die Achtsamkeit der Eltern kontrolliert werden sollte. Das ›Naturell‹ ergibt sich also durch die Habitualisierung von Körperhaltungen und Gebärden und wird als Ergebnis eines Prozesses der Naturalisierung erkenntlich. Trotz der Hervorhebung des ›Naturells‹ für die actio beginnt Gottsched, »die Gliedmaßen des Leibes und ihre Bewegungen selbst nach und nach durchzugehen«206. Die Haltung des Kopfes ist besonders wichtig und wird wieder einmal charakterisiert durch ihre Männlichkeit: die angemessene, lebendige, aber nicht zu bewegte Kopfhaltung ist korrekt, wenn sie »nur allezeit mit einer gewissen ernsthaften und männlichen Art geschieht«207. Der Redner muss sein Publikum gerade ansehen, nur »wenn er große Standespersonen anzureden hätte, so kann er sie [seine Augen] wohl in währender Beugung, bescheiden zur Erde schlagen«208. Der Redner soll freundlich wirken und je nach Gegenstand auch eine muntere Miene aufsetzen, allein immer lustig und halblächelnd auszusehen, das wollte ich keinem rathen. […] Ein ernsthaftes Gesicht steht einem wackern Redner weit männlicher an, und machet den Zuhörern einen bessern Begriff von seinem gesetzten und rechtschaffenen Gemüthe, als wenn er sich durch eine gar zu lächelnde Mine, der Leichtsinnigkeit halber verdächtig machte.209

Auffällig ist, dass zum wiederholten Male ›Männlichkeit‹ in einem Zuge mit ›Ernsthaftigkeit‹, oftmals in engem Zusammenhang mit ›Würde (gravitas)‹ und ›Nachdruck‹ genannt wird. Diese Begriffe scheinen die Würde des idealen Redners zu umschreiben, der von Gottsched nicht anders als männlich gedacht werden kann. Dass die männlich konnotierte, dem Redner-Ideal traditionell eingeschriebene Würde, die in der Performanz der Rede zum Ausdruck zu bringen ist, eine Hürde für den Entwurf eines weiblichen Redner-Ideals bildet, zeigen die Versuche in An-

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242

Gottsched, Ausführliche Redekunst, Bd. 7.1, S. 436. Gottsched, Ausführliche Redekunst, Bd. 7.1, S. 438. Gottsched, Ausführliche Redekunst, Bd. 7.1, S. 438. Gottsched, Ausführliche Redekunst, Bd. 7.1, S. 439. Gottsched, Ausführliche Redekunst, Bd. 7.1, S. 440.

standsratgebern um 1800, auch der Frau eine gewisse Würde und Ernsthaftigkeit (›Solidität‹) zuzuschreiben.210 Nicht zuletzt betont Gottsched die Relevanz der Kleidung, die an einem Redner ›öffentlich ins Auge fällt‹: Wir wollen hiermit nicht behaupten, daß ein Redner in einem prächtigen Anzuge erscheinen müsse. Nein, ein ordentliches und reines Kleid, eine saubere Wäsche, und ein nach der Sitte der ernsthaften Männer eingerichtetes, eignes oder falsches Haar, ist hier schon genug. Steht aber der Redner ganz frey, so muß er sich glatter Strümpfe und reiner Schuhe befleißigen. Cicero hat sich dieser äußerlichen Reinlichkeit so sehr beflissen, daß ihm seine Feinde solche oft für einen weibischen Putz angerechnet haben.211

Bemerkenswert ist, dass Gottsched auch hier die geschlechtlichen Anspielungen in antiken Texten wahrnimmt und sie durch seine (unkommentierte) Zitierweise fortschreibt. Allerdings mutet das Zitat eher distanziert an, ist doch eine Verbrüderung Gottscheds mit den Feinden Ciceros kaum zu erwarten. Gottsched selbst greift nie zu solchen abwertenden Vergleichen der Extreme der ›guten‹, männlichen Rhetorik mit dem Weiblichen. Offenbar muss die topische Verbindung von überbordendem Putz und Weiblichkeit nicht mehr reflexartig aufgerufen werden. Dies belegt auch der Artikel »Wohlanständigkeit« aus dem Zedler’schen Universallexicon von 1741, worin die Regel Ciceros, »es soll die Kleidung nicht weibisch seyn«, mit dem aufmüpfigen Argument außer Kraft gesetzt wird: »Denn sie mag weibisch seyn, oder männlich seyn, so muß man sie mittragen, wenn die meisten unsers Standes solche belieben.«212 Die Orientierung an der ›Mode‹ der Mehrheit der Standesgenossen führt zu einem expliziten Aussetzen der hergebrachten gender-Codierungen. Während der Redner und die Redekunst dezidiert männlich codiert bleiben, wird das Weibliche nicht mehr unhinterfragt als das ›Andere‹ der männlichen Rhetorik gesetzt. Darin unterscheidet sich Gottscheds Redekunst von der alten Rhetorik. Als Grund für diesen Unterschied könnte durchaus die frühaufklärerische Hochschätzung gelehrter Frauen herangezogen werden, zu denen Gottscheds eigene rhetorisch versierte Frau, Luise Adelgunde Victoria Kulmus hinzuzuzählen wäre.213 Dennoch bleibt vor dem Hintergrund von Blaufus’ Scherzrede, die die 210 211 212

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Vgl. Kapitel IV.5.4 (»Gesetztheit für alle«). Gottsched, Ausführliche Redekunst, Bd. 7.1, S. 437. Johann Heinrich Zedler, Wohlanständigkeit. In: Zedler, Großes vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 58, Leipzig, Halle 1748, ND Graz 1998, Sp. 82–92, Sp. 84. Ohne eine biographische Erklärung für Gottscheds Zurückhaltung in Bezug auf die Ausgrenzung weiblicher Rede allzu stark machen zu wollen, sei lediglich angemerkt, dass seine gelehrte Ehefrau Luise Adelgunde Victoria Kulmus sich als Übersetzerin und Verfasserin von Reden hervorgetan hat: So übersetzt sie einen fingierten, antikisierten Redewettstreit um die Frage, welche der Wissenschaften (Weltweisheit, Historie, Poesie, Beredsamkeit) die größten Vorzüge habe. Bemerkenswert ist, dass trotz der weiblichen Autorschaft die Rede männlich codiert bleibt: Es reden ausschließlich männliche Redner, die sich mit »Meine Herren« an ein männliches Publikum richten. Vgl. Der

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anhaltende Wirkmächtigkeit geschlechtlicher Zuschreibungen in Bezug auf die Rhetorik belegt, eine solche Erklärung spekulativ. Bemerkenswert ist jedoch die Tatsache, dass solche traditionellen Geschlechterzuschreibungen, wie Zedlers Artikel belegt, einmal auf eine kritische Ebene des Diskurses gebracht, durchaus außer Kraft gesetzt werden können. IV.3.2 Universalistische Entwürfe: Die Herausbildung der actio als selbstständige Disziplin Geschlechtsneutrale Aktion Es würde uns fürwahr keine Schande machen, wenn wir auf die Sprachorgane unserer Jugend wenigstens so viel wendeten, als auf ihre Arme und Füsse; wenn wir ihnen neben den Lehrern im Tanzen auch Lehrer im Sprechen gäben. Schwerlich wird es jedoch vor dem Jahre 2440 dahin kommen, und die wenigen Personen, die das Bedürfnis und die Lust empfinden, sich einen richtigen und schönen Vortrag zu erwerben, werden noch lange mit den grössten Schwierigkeiten zu kämpfen haben.214

Diese lakonisch-pessimistische Prognose aus dem Jahr 1792 (deren großzügig gesetztes Verfallsdatum auch heute noch nicht abgelaufen ist) greift eine in vielen Texten um 1800 formulierte Kritik an der Vernachlässigung der Rhetorik – und insbesondere der actio – in Deutschland auf.215 Es ist gerade die actio, die am Ende

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Sieg der Beredsamkeit aus dem Französischen der Frau von Gomez, übers. von Luise Adelgunde Victoria Kulmus, Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf 1735. Die französische Vorlage (Triomphe de l’Eloquence) stammt von 1730. In einem folgenden Werk, L. A. V. Gottsched, Triumph der Weltweisheit, nach Art des französischen Sieges der Beredsamkeit der Frau von Gomez, nebst einem Anhange dreyer Reden, Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf 1739, verfasst sie selbst einen Redewettstreit, in dem diesmal die Philosophie triumphiert. In der Vorrede schreibt L. A. V. Gottsched, sie habe 1736 in Leipzig die Gelegenheit gehabt, »täglich die gründlichsten Regeln und Exempel der Beredsamkeit zu hören« und daraufhin den Beschluss gefasst, dieses Werk zu schreiben. Die Kunst der Beredsamkeit, schreibt Gottsched, schätze sie hoch und habe »aus dem Lesen der größten Redner neuer und alter Zeiten, allemal ein außerordentliches Vergnügen geschöpfet«. Allerdings schreibe sie persönlich der Philosophie den ersten Rang unter den Künsten zu. Auch dieser Redewettstreit findet im alten Rom statt, die Redner sind (ebenso wie in den angehängten Reden zu verschiedenen Themen, die nicht in der Antike platziert werden) wiederum männlich. Auch wenn sich L. A. V. Gottsched die Kunst der Rede aneignet, bleibt die Position des Redners männlich codiert. Anonym, Rezension zu: Franke, Über Declamation (1789) und Schocher, Soll die Rede auf immer ein dunkler Gesang bleiben (1791). In: Allgemeine Literatur-Zeitung, 3/226, 1792, Sp. 437–440, Sp. 438. So lautet eine in zeitgenössischen Texten vielfach formulierte These, dass der Buchdruck den Niedergang der Kunst der mündlichen Rede verursacht habe, vgl. bspw. Gustav Anton von Seckendorf, Vorlesungen über Deklamation und Mimik, 2 Bde., Braunschweig: Friedrich Vieweg 1816, Bd. 1, S. 12. Andere Texte, wie Cludius’ Grundriß der körperlichen Beredsamkeit (S. 39), behaupten dagegen, dass die letzte Hälfte des 18. Jahrhunderts,

des 18. Jahrhunderts ein besonderes Interesse auf sich zieht und noch einmal zu rhetoriktheoretischen »Auseinandersetzungen auf hohem Niveau«216 führt. Als selbstständige Disziplin löst sich die actio-Lehre zunehmend aus der officia-Systemrhetorik. Die Theorien der ›Produktion‹ von Texten und ihrer ›Performanz‹, die die alte Rhetorik vereint hatte, fallen auseinander.217 Die Diskussion über die Deklamation (Stimmführung) und die Aktion (Mimik und Gestik) wird zunächst im Kontext der Nationaltheaterbewegung in der zu begründenden Schauspielkunst geführt und durch die neuen Wissenschaften der Psychologie und Ästhetik beeinflusst. Diese eigenständigen actio-Abhandlungen – beispielhaft seien hier Johann Jakob Engels Ideen zu einer Mimik (1785), Hermann Heimark Cludius’ Grundriß der körperlichen Beredsamkeit (1792) und Johann Gottfried Pfannenbergs Über die rednerische Action (1796) genannt – liefern eine Beschreibung der actio als ein gigantisches, universelles Zeichenarsenal.218 Eben diese Universalität ist es, die nachhaltig irritiert. Denn das, was die späteren Anstandsbücher zu ihrem vorherrschenden Thema machen – die Differenzierung der einzelnen Redner nach Stand, Beruf, Alter, Charakter und Geschlecht, denen eine unterschiedliche actio zugeordnet wird – kommt kaum zum Tragen. Vielmehr interessieren sich die actio-Abhandlungen für die Katalogisierung und Systematisierung einer ungeheuren Bandbreite von Affekten und die detaillierte Beobachtung und Beschreibung des dazugehörigen

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nach dem Mittelalter, in dem das antike Wissen über die actio verloren ging, die Zeit der Wiederentdeckung der actio sei. Göttert, Geschichte der Stimme, S. 245. Vgl. Till, Transformationen der Rhetorik, S. 45. Vgl. Johann Friedrich Löwen, Kurzgefaßte Grundsätze von der Beredsamkeit des Leibes, Hamburg: Herteli 1755; Thomas Sheridans A course of lectures on elocution (1762) erscheint auf Deutsch unter dem Titel: Über die Declamation oder den mündlichen Vortrag in Prosa und Versen, nach dem Englischen des Herrn Thomas Sheridan, mit einigen Zusätzen herausgegeben von Renatus Gotthelf Löbel, Leipzig: Weygand [o. J.]; Johann Jakob Engel, Ideen zu einer Mimik, mit erläuternden Kupfertafeln, 2 Bde., Berlin: August Mylius 1785f.; Cludius, Grundriß der körperlichen Beredsamkeit; Johann Gottfried Pfannenberg, Über die rednerische Action, mit erläuternden Beispielen; vorzüglich für studirende Jünglinge, Leipzig: Friedrich August Leo 1796; Seckendorf, Vorlesungen über Deklamation und Mimik. Ausschließlich zur stimmlichen actio (Deklamation) vgl. Gottfried Bernhardt Franke, Über Declamation, 2 Bde., Göttingen: Dieterich 1789 und 1794; Christian Gotthold Schocher, Soll die Rede auf immer ein dunkler Gesang bleiben, und können ihre Arten, Gänge und Beugungen nicht anschaunlich gemacht, und nach Art der Tonkunst gezeichnet werden, Leipzig: August Lebrecht Reinicke 1791; Theodor Heinsius, Der angehende Deklamator, oder theoretische und praktische Anleitung zur Bildung des mündlichen Vortrags. Für Schulen bearbeitet von Dr. Theodor Heinsius, ordentl. Professor am Berlinischen Gymnasium, 2., gänzlich verbesserte und vermehrte Ausg., Leipzig: Gerhard Fleischer der Jüngere 1815; Gilbert Austin, Die Kunst der rednerischen und theatralischen Declamation nach älteren und neuern Grundsätzen über die Stimme, den Gestichtsausdruck und die Gesticulation aufgestellt und durch 152 Figuren erläutert für öffentliche Redner, Schauspieler und Künstler, Leipzig: Baumgärtner 1818.

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Körperausdrucks. In einer Zeit, die in ihren literarischen und philosophischen Texten einen immensen Aufwand betreibt, die Differenz der Geschlechter zu beschreiben und in der Natur zu begründen,219 überrascht die Geschlechtsneutralität der actio-Rhetoriken, die sich zwar für jeden noch so seltenen Affekt und dessen Ausdruck interessieren, für die Verschiedenartigkeit dieses Ausdrucks bei Rednern und Rednerinnen, Schauspielern und Schauspielerinnen jedoch nur wenige Worte übrig haben. Die Annahme, dass das in der alten Rhetorik angelegte Moment des Geschlechts, das in der actio-Lehre verhandelt wird, in ähnlichem, wenn nicht noch größerem Umfang aufgegriffen und ausbuchstabiert würde, erfüllt sich nicht. Im Gegenteil entwerfen sich die actio-Schriften als geschlechtsneutral. Dabei richten sich die actio-Abhandlungen, anders als etwa Gottsched, der in Anlehnung an die alte Rhetorik ausschließlich den männlichen Redner im Blick hatte und die Rhetorik selbst als spezifisch männliche Kunst entworfen hat, nicht nur an den männlichen Redner und Schauspieler. Engel und Cludius sprechen explizit auch die Schauspielerin an. Dass dies um 1800 nicht selbstverständlich ist, zeigt eine Rezension in der Allgemeinen Literatur-Zeitung von 1810, die Cludius’ späteren Abriß der Vortragskunst kritisiert: Nicht passend, wie uns dünkt, hat der Vf. die Bestimmung dieses Abrisses auch auf eine anderweitige Benutzung von Menschen aus allen Klassen, insonderheit von Schauspielern und Frauenzimmern, denen an jeder schönen Ausbildung gelegen sey, ausgedehnt, für welchen Behuf doch zweckmäßiger eine ganz andere Form der Darstellung hätte gewählt werden sollen.220

Sowohl die Art der actio als auch die Art der Vermittlung müsste nach dem zeitgenössischen Verständnis, wie es diese Rezension belegt, für den Mann und die Frau differenziert werden.221 Dies wirft die Frage auf, wie die actio-Abhandlungen ihr Desinteresse an der Kategorie ›Geschlecht‹ begründen, inwiefern dabei eine Diskrepanz von Theorie und Praxis zu konstatieren ist und in welche Aporien sich die Texte dadurch begeben. Engels Theorie der körperlichen Beredsamkeit: Ausdruck der Seele im Körper Johann Jakob Engels Ideen zu einer Mimik (1785/86) enthalten in Form fingierter Briefe eine Theorie der körperlichen Beredsamkeit – entwickelt an der Schauspielkunst und wirkmächtig über den Theaterkontext hinaus. Nach einer kurzen Be219 220

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Vgl. Kapitel IV.1.3. Anonym, Rezension zu: Cludius, Abriß der Vortragskunst (1810). In: Allgemeine Literatur-Zeitung, 2/225, 1810, Sp. 849–853, Sp. 849. Ebenso wie der spätere Abriß der Vortragskunst, der neben der rednerischen Aktion auch die »benachbarten« Künste Schauspielkunst und Tanz verhandelt, richtet sich der frühere Grundriß der Beredsamkeit explizit auch an Schauspielerinnen. Dass zudem Schauspieler und Redner in einem Zug angesprochen werden, kann vor dem Hintergrund des Ausdrucksparadigmas geradezu als Skandalon gesehen werden.

schreibung von Engels Konzeption der actio – im Wesentlichen verweise ich hier auf die Forschungsliteratur222 –, soll die im Kontext dieser Arbeit relevante Frage in den Vordergrund gestellt werden, inwiefern und mit welcher Begründung Engel bestimmte Differenzkategorien (darunter auch die Kategorie ›Geschlecht‹) explizit ausschließt, um das Projekt der Mimik zu verwirklichen. Engel beruft sich auf die Autorität Lessings, um sein Vorhaben zu legitimieren, ein Standardwerk zur körperlichen Beredsamkeit des Schauspielers zu verfassen. »[J]etzt, wo sich unsre Schaubühne anfängt zu bilden«, gebe es zwar Schauspieler, aber keine ausformulierte Schauspielkunst, kritisiert Engel in Bezug auf die Entstehung des Nationaltheaters und auf Lessings angekündigte, jedoch unvollendet gebliebene Schrift über die körperliche Beredsamkeit des Schauspielers.223 Eine sol-

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Alexander Košenina analysiert Engels Mimik als ausdruckspsychologische Fortführung von Lessings wirkungsästhetischen Ansätzen und betont gerade dessen Ablösung von der rhetorischen Tradition. Košenina, Anthropologie und Schauspielkkunst, S. 152–184. Doris Bachmann-Medick betrachtet die Engel’sche Mimik aus handlungstheoretischer Sicht als Theorie expressiver Praktiken sozialer Darstellung und Repräsentation. Doris Bachmann-Medick, Die Ästhetische Ordnung des Handelns. Moralphilosophie und Ästhetik in der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1989, insb. S. 78–161. Bachmann-Medick, Mimik und Gebärden als sozial-ästhetische Handlungsweisen in der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts. In: Über die deutsche Höflichkeit: Entwicklung der Kommunikationsvorstellungen in den Schriften über Umgangsformen in den deutschsprachigen Ländern, hg. von Alain Montandon, Bern u. a. 1991, S. 141–157. Claudia Jeschke geht dem Einfluss der sich entwickelnden Tanztheorie auf die Wandlung des Bewegungsverständnisses im späten 18. Jahrhundert nach und betont vor allem die Dynamik und Prozessualität der Darstellung bei Engel. Claudia Jeschke, Noverre, Lessing, Engel. Zur Theorie der Körperbewegung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Schauspielkunst im 18. Jahrhundert, hg. von Wolfgang F. Bender, Stuttgart 1992, S. 85–111. Günther Heeg untersucht Engels Herstellungsverfahren einer ›natürlichen‹ Einheit von Referent, Signifi kat und Signifi kant in der Theorie des ›natürlichen Ausdrucks‹ und dessen Konsequenzen für die Schauspielkunst. Heeg, Das Phantasma der natürlichen Gestalt, S. 303–345. Engel, Ideen zu einer Mimik, Bd. 1, S. 6. Vgl. Gotthold Ephraim Lessing, Entwürfe zu einer Abhandlung ›Der Schauspieler‹. In: Lessing, Werke, hg. von Herbert G. Göpfert u. a., Bd. 4: Dramaturgische Schriften, Darmstadt 1996, S. 724–733. Der Titel von Lessings Fragment Der Schauspieler. Ein Werk worinne die Grundsätze der ganzen körperlichen Beredsamkeit entwickelt werden (um 1754/55) macht deutlich, dass Lessing für seine zu begründende Theorie einer Schauspielkunst auf die rhetorische Tradition der eloquentia corporis zurückgreift. Die Beredsamkeit definiert Lessing als »die Kunst einem andern seine Gedanken so mitzuteilen, daß sie einen verlangten Eindruck auf ihn machen.« (S. 732) Diese ganz auf eine Wirkungsintention gerichtete Kunst bedarf des Körpers, um den gewünschten Eindruck zu erwecken. Lessing unterscheidet zunächst einmal zwischen dem, was ausgesagt wird (die »geistige Beredsamkeit«), und dem, wie es ausgesagt werden soll (die »körperliche Beredsamkeit«), wobei ihn nur letzteres interessiert. In Bezug auf die körperliche Beredsamkeit differenziert Lessing gemäß dem klassischen rhetorischen System zwischen der »Lehre von der Action« und der »Lehre von der Pronunciation«, die jeweils den Gesichts- beziehungsweise den Gehörsinn ansprächen. Die ›Action‹ – körperliche Bewegungen, die bezeichnenderweise »oratorische

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che Kunst werde jedoch benötigt, damit der Schauspieler Gedanken und Gefühle nicht nur durch Worte, sondern auch durch Stimmführung, Gestik und Mimik auf der Bühne so deutlich ›auszudrücken‹ in der Lage ist, dass sie das Publikum identifizieren kann.224 Die Mimik wird als Kunst definiert, die »den Ausdruck der Seele im Körper zu beobachten« hat – und zwar untersucht sie nicht wie die Physiognomik konstante äußerliche Züge, die als Zeichen eines bestimmten Charakters verstanden werden, sondern »die vorübergehenden körperlichen Bewegungen«, die die verschiedenen seelischen Zustände und Prozesse anzeigen.225 Es sind gerade die prozessualen Übergänge zwischen einzelnen Empfindungen, die Engel interessieren, der detailliert die Abfolge der entstehenden, sich verwandelnden und sich mischenden Affektausdrücke beschreibt. Damit lassen sich an Engels Mimik zwei wesentliche Veränderungen der actio-Theorie festmachen: Anders als in der Antike und in der Frühen Neuzeit geht es den Theoretikern der körperlichen Beredsamkeit am Ende des 18. Jahrhunderts zum einen um die Erforschung eines psychosomatischen Kausalzusammenhangs der Körperzeichen und zum zweiten um die dynamische Verlaufsform des psychischen und physischen Ausdrucks.226 Der »Ausdruck der Seele im Körper« ist – hier schließt sich Engel Lessing an – nicht nur als Abbildung innerer Zustände am äußeren Körper zu denken, umgekehrt kann auch der körperliche Ausdruck die Seele beeinflussen. Damit wird der aus der alten Rhetorik bekannte Gedanke der Selbstinduktion aufgegriffen und zur Begründung der Verflochtenheit seelischen und körperlichen Ausdrucks genutzt. Engel zitiert Lessing: Ich glaube, wenn der Schauspieler alle äußerlichen Kennzeichen und Merkmale, alle Abänderungen des Körpers, von welchen man aus der Erfahrung gelernt hat, daß sie etwas Gewisses ausdrucken, nachzumachen weiß, so wird sich seine Seele durch den Eindruck, der durch die Sinne auf sie geschieht von selbst in den Stand setzen, der seinen Bewegungen, Stellungen und Tönen gemäß ist.227

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Bewegungen« genannt werden, – zerfällt wiederum in »Bewegungen des Körpers überhaupt«, wozu die Körperhaltung in Bewegung und in Ruhe zählt, sowie in »Bewegungen seiner Glieder«, wobei Lessing besonders die Bewegungen des Gesichts (»Mienen«) und der Hände (»Chironomie«) nennt (S. 724f.). Dabei unterscheidet sich der Schauspieler von dem Pantomimen, der die verbale Sprache durch Körpersprache ersetzt, während der Schauspieler sie ergänzt. Dem Pantomimen wird das Prinzip der ›Malerei‹ mit dem Körper und der Schauspielkunst das des körperlichen ›Ausdrucks‹ zugeordnet. Vgl. Engel, Ideen zu einer Mimik, Bd. 1, S. 29, S. 59f. Zu Engels Auseinandersetzung mit der Pantomimik vgl. Bachmann-Medick, Die Ästhetische Ordnung des Handelns, S. 84ff. Engel, Ideen zu einer Mimik, Bd. 1, S. 6f. Vgl. Beetz, Die Körpersprache im Wandel der deutschen Rhetorik vom 17. zum 18. Jahrhundert, S. 9f. Vgl. Engel, Ideen zu einer Mimik, Bd. 1, S. 9f. Engel zitiert hier zustimmend Lessing, der sich wiederum von Rémond de Saint Albine absetzt.

Eine Schauspielkunst kann und muss also beim Körper ansetzen: Die erlernten äußerlichen, körperlichen Bewegungen, Stellungen und Töne wirken auf die Seele zurück. Indem die Schauspielkunst feste, universelle Regeln entwirft, wie der Körper die Seele ›wahr‹ und ›schön‹228 ausdrücken kann, und indem der Schauspieler diese Regeln durch beständige Übung verkörpert, kann, so Engels Anspruch, die Natur übertroffen und die angestrebte Vollkommenheit des Ausdrucks erreicht werden. Damit setzen sich Engel und Lessing explizit gegen die zeitgenössische Annahme (von Rémond de Sainte Albine) ab, »daß äußerliche Modifikationen des Körpers natürliche Folgen von der innern Beschaffenheit der Seele sind, die sich von selbst und ohne Mühe ergeben«.229 Dies sei zwar manchmal, aber eben nicht immer der Fall. Nach Engels Ansicht bringt es ein Schauspieler, der sich nur auf seine Empfindungen verlässt, höchstens dazu, »daß er die Natur völlig erreiche. Aber Nachahmung, Darstellung der Natur ist, wie man schon oft erinnert hat und noch immer von neuem zu erinnern Ursache findet, ein Grundsatz, der nirgends hinreicht.«230 Die Natur wird als zufällig, unbeständig und unperfekt entworfen, und der Kunst die Aufgabe beigelegt, »die Fehler der Natur zu verbessern«.231 Diese Aufgabe ist zu bewältigen, indem die Kunst von den vollkommenen Ausnahmeerscheinungen der Natur auf allgemeine Regeln für Gestik und Mimik schließt. Die seelischen Bewegungen determinieren den Körperausdruck demnach nicht, sondern der ›denkende‹ und ›fühlende‹ Schauspieler hat die Aufgabe, die mimischen Zeichen aufeinander abgestimmt und gemäß den Regeln der Kunst zu zeigen. Die Schauspielkunst zielt also auf eine Präzisierung, Regulierung und bewusste Nutzung der ›natürlichen‹ Gestik und Mimik. Der Naturnachahmungsgrundsatz wird durch den Grundsatz des ›vervollkommneten‹, und dennoch ›natürlichen‹ Ausdrucks abgelöst,232 wobei eben die Angemessenheit und »Präcision des Ausdrucks« eine größtmögliche Natürlichkeitsillusion vermittelt: Werke der Kunst jeder Art müssen als die vollkommensten Produkte der Natur erscheinen, die unter Millionen möglicher Würfe in der That einmal fallen könnten, aber nach

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›Schönheit‹ und ›Wahrheit‹ sind zwei maßgebliche Kriterien, nach denen der Körperausdruck beurteilt wird, wobei Engel eine bisherige Bevorzugung der ›Schönheit‹ kritisiert (vergangene Lehren – z. B. von Riccoboni und Hogarth – seien auf »nichts, als auf Grazie, Würde, Schönheit, Anstand« abgestellt, woraus das »Seelen- und Bedeutungslose«, das »Puppenmäßige« und das »Tragen des Körpers nach Tanzmeistermanier« entsprungen sei) und sich auf die ›Wahrheit‹ des Ausdrucks konzentriert. Engel, Ideen zu einer Mimik, Bd. 1, S. 73f. Engel, Ideen zu einer Mimik, Bd. 1, S. 8. Engel zitiert hier Lessing, der Saint Albine kritisiert. Engel, Ideen zu einer Mimik, Bd. 1, S. 16f. Engel, Ideen zu einer Mimik, Bd. 1, S. 17. »Denn auch im Ton der Sprache und in der Bewegung der Glieder versieht und verfehlt, schwächt oder übertreibt die Natur, selbst bey dem Besten [Schauspieler], so Manches« (S. 19). Vgl. Bachmann-Medick, Die Ästhetische Ordnung des Handelns, S. 108.

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aller Wahrscheinlichkeit so leicht nie fallen werden. – Wenn Worte, Ton, Bewegung, auf das vollkommenste unter einander, und alle aufs vollkommenste mit Leidenschaft, Situation und Charakter übereinstimmen; dann erst entsteht der höchste mögliche Grad der Wahrheit, und durch diese Wahrheit die höchste mögliche Täuschung. 233

Diese Ästhetisierung und Präzisierung des Ausdrucks unterscheidet, so Doris Bachmann-Medick, Engel vom »zeitgenössisch vorherrschenden Zuschnitt der Natürlichkeitsforderung auf empfindsame Nachahmung der Natur«.234 Engel ist sich der im Kontext der Genieästhetik vorherrschenden Ablehnung von Regeln für das äußerliche Auftreten wohl bewusst und versucht den erwarteten Widerspruch zu entkräften, die regelgeleitete körperliche Beredsamkeit werde »allemal kalt, steif, ängstlich bleiben«235. Engel widerspricht, indem er eine zeitliche Dimension, die Prozessualität der Verkörperung, betont: Mit der Zeit und durch die ausdauernde Übung würden die einst durch Regeln gelernten Handlungen zu »Fertigkeiten«, die der Körper mit Leichtigkeit und ohne Aufmerksamkeit darauf verwenden zu müssen beherrscht.236 Engel stellt also eine Habitualisierung von Regeln in Aussicht, durch die am Ende ein »Meister« entstehe, der den »bloßen Naturalist« überflügelt.237 Die Frage ist nun, inwiefern die Geschlechterdifferenz für Engels Theorie des präzisierten körperlichen Ausdrucks eine Rolle spielt. Nachdem Engel ausführlich begründet hat, dass eine Theorie der Mimik nützlich und dass sie machbar ist, schränkt er sie in folgendem maßgeblichen Punkt explizit wieder ein: Nicht die auf den »National- und persönlichen Charakter, auf Stand, Alter, Geschlecht, auf hundert andere Umstände«238 zurückzuführenden Besonderheiten der Gestik und Mimik sollen seiner Theorie zugrunde liegen, sondern es komme ihm allein auf »dieses Wesentliche, dieses Natürliche, welches nach Absonderung aller Verschiedenheit unter den Menschen übrig bleibt«239 an. Um den antizipierten Einwand, dass »eine und dieselbige Veränderung der Seele von verschiedenen Menschen unendlich verschieden ausgedrukt werde, ohne daß darum der eine Ausdruck besser als der andere sey«240, ausräumen zu können, nimmt Engel die größtmögliche Verallgemeinerung in Kauf. Dieses Wesentliche, auf das sich Engel konzentrieren will, wäre beispielsweise – um die Problematik einer solchen Verallgemeinerung sichtbar zu machen –, dass alle Menschen sich als Zeichen von Hochachtung kleiner machen: ob sie sich nun verbeugen oder knicksen, ob sie vor einem Niederen nur mit dem

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Engel, Ideen zu einer Mimik, Bd. 1, S. 20. Bachmann-Medick, Mimik und Gebärden als sozial-ästhetische Handlungsweisen in der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts, S. 147. Engel, Ideen zu einer Mimik, Bd. 1, S. 20. Vgl. Engel, Ideen zu einer Mimik, Bd. 1, S. 21. Engel, Ideen zu einer Mimik, Bd. 1, S. 22. Engel, Ideen zu einer Mimik, Bd. 1, S. 31. Engel, Ideen zu einer Mimik, Bd. 1, S. 39. Engel, Ideen zu einer Mimik, Bd. 1, S. 31.

Kopf nicken oder sich vor einem Herrscher in den Staub werfen. »Ich schließe«, sagt Engel, »daß dieses Zeichen [der Verkürzung des Körpers] natürlich, wesentlich seyn muß, weil es allgemein ist; weil es bey allen Nationen, Ständen, Geschlechtern, Charaktern, obgleich mit verschiedenen Abänderungen, Statt findet.«241 Die Herausstellung eines solchen ›Wesentlichen‹, das die unterschiedlichsten Gesten zusammenzufassen in der Lage sein soll, widerspricht im Grunde radikal den ansonsten durch ihren Detailreichtum bestechenden Beschreibungen der einzelnen Gebärden in Engels Mimik. Dabei stellt Engel nicht in Abrede, dass es in der Praxis Unterschiede im Körperausdruck – zum Beispiel zwischen Mann und Frau – gibt, und zwar Unterschiede in dem, was ausgedrückt werden soll (Gesinnungen, Empfindungen, Moral), Unterschiede im Medium des Ausdrucks (dem Körperbau) sowie Unterschiede in der Art und Weise des Ausdrucks: So wie der Charakter ganzer Nationen den Ausdruk abändert, so auch der besondere Charakter der Geschlechter und Alter, und der individuelle jedes einzelnen Menschen. Die unterscheidenden Grundbestimmungen seiner moralischen Natur und das Eigne in Bau und Organisation seines Körpers modificiren seine Gesinnungen und die Ausdrücke derselben auf mancherley Art, ohne sie gleichwohl im Wesen zu ändern.242

Obwohl Engel wiederholt explizit auf diese »Abänderungen«, »Unterschiede« und »Modifikationen« im Körperausdruck durch die Verschiedenheit der Redner/innen und der Redesituationen aufmerksam macht, bindet er sie nicht in seine actioTheorie ein. Sie stehen dem Ziel entgegen, die Schauspielkunst als Wissenschaft zu begründen, »eine Art von wissenschaftlicher, systematischer Form« für sie zu finden und »allgemeine Grundsätze« zu entwickeln. Mit der Absicht, allgemeine, geschlechtsneutrale, überzeitliche und interkulturell gültige Regeln zu destillieren, strebt Engel »eine ganz andere Art von Kenntnis« an – nämlich nicht »nur historische Kenntnis«, sondern eine »philosophische«.243 Es ist gerade diese abstrahierende ›wissenschaftliche‹ Zielsetzung, die Engels Mimik zur Begründung ihrer Indifferenz gegenüber konkreten, praktischen Unterschieden verhilft. Die Kategorie ›Geschlecht‹ hingegen fällt einem Ausschlussverfahren zum Opfer, das die ›Mimik‹ allererst als ›reine‹ Wissenschaft244 konstituiert. Die Methode, aus der Beobachtung eines Individuums alles »zu Specielle« wegzustreichen und den Rest als »Wesen« zu behaupten, operiert mit den Dichotomien des Wesentlichen und Zufälligen, des Allgemeinen und Besonderen und des Natürlichen und Willkürlichen.245 Die den Dichotomien kulturell eingeschriebene 241 242 243 244

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Engel, Ideen zu einer Mimik, Bd. 1, S. 35. Engel, Ideen zu einer Mimik, Bd. 1, S. 36. Engel, Ideen zu einer Mimik, Bd. 1, S. 40. Zur Konstitution von ›hard science‹ durch die Auslagerung von Geschlechtlichkeit aus der Wissenschaft im Namen der ›Reinheit‹ vgl. Christina von Braun, Inge Stephan, Gender @ Wissen. Einführung. In: Gender @ Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien, hg. von Braun, Stephan, Köln, Weimar, Wien 2005, S. 7–45, S. 9ff. Engel, Ideen zu einer Mimik, Bd. 1, S. 39f.

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Hierarchie erlaubt die Vernachlässigung des jeweils zweiten Teils, ohne auf Kosten der ›Wissenschaftlichkeit‹ zu gehen. Die nahe liegende These, dass die Dichotomie Mann/Frau den oben genannten eingeschrieben ist und die Geschlechterdifferenz insofern vernachlässigt werden kann, als der männliche Körperausdruck als Norm gesetzt und der weibliche als Abweichung weggestrichen würde, greift jedoch zu kurz – insofern zumindest nicht die Männlichkeit der Norm besonders betont wird. Auch die Überlegung, dass die Kategorie ›Geschlecht‹ in dieser Aufzählung der Seite der Konvention, des Willkürlichen und Zufälligen zugeschlagen wird – Geschlecht also wie eine Art modischer Dresscode erscheint –, wäre fortschrittlich gedacht, lässt sich jedoch bei Engel nicht belegen. Vielmehr verstrickt sich der Text in Aporien: Der Schauspieler oder die Schauspielerin sollten neben dem allgemeinen, psychologischen Wissen vom Affektausdruck auch über ein besonderes, sozialkulturelles Wissen verfügen. Engel schreibt: Ich leugne nicht, daß die eine Art von Kenntnis dem Schauspieler nicht eben so unentbehrlich, wie die andere sey: aber was hinderte ihn, jede derselben besonders zu erlangen? Die Kenntnis der Stände und Alter – denn von den Geschlechtern ist kaum die Rede mehr, da Verkleidungen nur selten vorfallen, und auf unsern Bühnen nicht mehr, wie auf den alten, auch die weiblichen Rollen mit Männern besetzt sind: – also die Kenntnis jener und aller besondern Arten von Charakteren durch ausgebreitetern Umgang mit der Welt; entfernterer Nationen und Zeitalter aus Geschichtsbüchern, aus Reisebeschreibungen.246

Festzuhalten bleibt, dass Engel das Geschlecht zwar explizit zu den Differenzkategorien zählt, die die actio modifizieren, aber offenbar davon ausgeht, dass, wenn Männer männliche Rollen und Frauen weibliche Rollen spielen, natürlicherweise die Körpersprache männlich oder weiblich ausfiele. Insofern erscheint ihm die Kategorie ›Geschlecht‹ schlichtweg unproblematisch. Während sich Schauspieler/ innen zumindest durch Umgang oder Lektüre ›Kenntnisse‹ der Besonderheiten ihrer Rollen in Hinblick auf Stand, Nationalität usw. verschaffen müssen, ist von der Kategorie ›Geschlecht‹ »keine Rede mehr«, so selbstverständlich erscheint ihr angemessener Ausdruck.247 Was die genannten Differenzkategorien betrifft, so bringt ihnen Engel nicht jeweils das gleiche (Des-)Interesse entgegen. Engel erwähnt zwar kurz ›Geschlecht‹ und ›Alter‹ als mögliche Differenzkriterien, die dominierenden Kategorien scheinen jedoch ›Nationalität‹ und ›Stand‹ zu sein, für die Engel explizite Beispiele bringt: Der Europäer entblößt, um Achtung auszudrücken, zur Begrüßung sein Haupt, der Orientale hält es bedeckt248; die vornehmen Stände übertreiben ihre Gestik in al-

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Engel, Ideen zu einer Mimik, Bd. 1, S. 41. Dass eine dem Geschlecht angemessene Redeweise keineswegs so selbstverständlich funktioniert, wird der folgende Exkurs über Lessings Forderungen an die Schauspielerin Madame Hensel, weiblicher zu spielen, zeigen. Engel weist darauf hin, dass es sich bei diesen Begrüßungsgesten um »willkürliche« Zei-

lem maßlos, wohingegen der »Landmann, dieser unverdorbene Sohn der Natur«249, sich seinen Empfindungen ›angemessener‹ und in seiner Gestik zurückhaltender verhält. Der Verweis auf die sozio-kulturellen Modifikationen der actio ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass es in der Spätaufklärung, geschult durch Reiseberichte, verstärkt zu einer Betonung der Kulturgebundenheit körpersprachlicher Zeichenkonventionen kommt.250 Auch die soziale Determination der Körpersprache spielt, so Beetz, nicht nur durchgängig vom Beginn des 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts eine maßgebliche Rolle in der Rhetoriklehre einer hierarchisch strukturierten Gesellschaft, sondern gehört auch in den Rhetoriken der Spätaufklärung weiterhin zu den Grundregeln.251 Die Kategorie ›Geschlecht‹ findet bei Engel so wenig Berücksichtigung, obwohl in den Ideen zu einer Mimik explizit Schauspielerinnen mit einbezogen sind. Die vermeintliche ›Geschlechtsneutralität‹ ist also in diesem Fall nicht der Abwesenheit historischer Rednerinnen geschuldet, denn Schauspielerinnen treten im zeitgenössischen Theater auf und werden (wenn auch in geringerem Umfang) durch Beispiele und Abbildungen in Engels Theorie repräsentiert. Geht es darum, einen spezifischen Körperausdruck genauer zu beschreiben, scheint sich die Praxis in die Theorie einzuschleichen und der Kategorie ›Geschlecht‹ (neben anderen Differenzkategorien) durchaus Aufmerksamkeit zuzukommen: Man denke sich nur, wie verschieden ist das Lachen und der Zorn einer alten Jungfer, eines raschen, feurigen Mädchens, eines Laffen, eines geistvollen Mannes, eine Phlegmatikers! Wie verschieden druckt sich der Stolz einer Schönen, einer Häßlichen, die sich klug, gelehrt, vornehm oder reich dünkt, einer alten Tante, eines Kaufmanns, eines Landpastors, der Herr im Dorfe ist, eines Mönchs, eines Vogts, eines Landjunkers aus.252

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chen handelt, die kulturell determiniert seien, wohingegen er sich in seiner Mimik ganz den »natürlichen« Zeichen widmen will. Engel, Ideen zu einer Mimik, Bd. 1, S. 38. Vgl. Beetz, Die Körpersprache im Wandel der deutschen Rhetorik vom 17. zum 18. Jahrhundert, S. 52. Vgl. Beetz, Die Körpersprache im Wandel der deutschen Rhetorik vom 17. zum 18. Jahrhundert, S. 43. Doris Bachmann-Medicks These, eines »Umschlagen[s]« der popularphilosophischen Theorie des Umgangs in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, bei dem die »standesmäßige Determination des Verhaltens mehr und mehr abgelöst [werde] durch eine individuell-psychologische Gestaltungsfreiheit der Umgangsformen, die – zumindest der Absicht nach – die Ständegrenzen sprengen könnte« (Bachmann-Medick, Mimik und Gebärden als sozial-ästhetische Handlungsweisen in der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts, S. 151), ist daher mit Manfred Beetz nur bedingt zuzustimmen: »Nicht zu übersehen bleibt aber, daß die Grundregeln des sozialen aptum auch von den Rhetoriklehren der Spätaufklärung nicht gänzlich aufgekündigt werden.« Beetz, Die Körpersprache im Wandel der deutschen Rhetorik vom 17. zum 18. Jahrhundert, S. 52. J. J. Engel [ohne weitere Angabe], zit. n. Heinsius, Der angehende Deklamator, S. 60.

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Auch die jeweilige Zuordnung eines bestimmten Affekts zu einer männlichen oder weiblichen Figur scheint durchaus bewusst getroffen, wie ein genauerer Blick auf die einzelnen Abbildungen in Engels Ideen zu einer Mimik zeigt. So findet sich unter den stehenden, untätigen Figuren ein Mann »mit stolzem Charakter«, der durch einen zurückgeworfenen Kopf, eine hoch in die Weste gesteckte Hand und die andere in die Hüfte gestemmte Faust sowie durch einen raumgreifenden Stand gekennzeichnet wird.253 Eine Frau, wie stolz sie auch sein mag, würde dagegen um 1800 in der gleichen Pose schwer zu finden sein: Abgesehen davon, dass sie kaum eine Weste trüge, würde sie sich niemals den Arm in die Hüfte gestemmt und derartig breitbeinig und raumgreifend aufgestellt zeigen.254 Wie anhand einer berühmten Stichserie Daniel Chodowieckis von 1779/1780 zu beobachten ist, die ideale bürgerliche Haltungen von Männern und Frauen entwirft und propagiert, wird am Ende des 18. Jahrhunderts eine enorme Einschränkung des bürgerlichweiblichen Bewegungsradius idealisiert.255 Während die höfische Frau auf Stichen wie ›Der Grus‹ oder ›Die Unterredung‹ aktiv und mit ausladenden Gesten auf gleicher Augenhöhe mit ihrem männlichen Partner kommuniziert, ist es frappierend, wie stark der bürgerliche Mann in der Körpersprache zurückgenommen, die bürgerliche Frau jedoch zur gänzlich passiven, kaum Raum einnehmenden und einer ausdrucksstarken Gestik beschnittenen Empfängerin von Grüßen und Zuhörerin von Reden wird. Eine zornig ausschreitende Frau erscheint vor diesem Hintergrund – zumindest als Ideal – undenkbar.

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Vgl. Engel, Ideen zu einer Mimik, Bd. 1, S. 111f. (Fig. 3). Zur Einschränkung des weiblichen Bewegungsradius vgl. Kapitel IV.5.4 (»Reduzierung der Gestik«). Daniel Chodowiecki erlangte große Popularität durch seine Stichserie »Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens« für den Göttinger Taschen-Calender von 1778 und 1779, angestoßen und kommentiert vom Herausgeber Georg Christoph Lichtenberg. Chodowiecki kontrastiert in seiner Stichfolge die Körperhaltung von (›affektierten‹, lächerlichen) aristokratischen und (›natürlichen‹, idealisierten) bürgerlichen Paaren. Die bürgerlichen Leitbilder, insbesondere ausgezeichnet durch Beherrschung, Nüchternheit, Bescheidenheit, Trieb- und Affektregulierung, sollten für das sich herausbildende Bürgertum normbildend wirken. Vgl. zu der geschlechtsspezifischen Körpersprache in Chodowieskis Stichen insb. Barta, Der disziplinierte Körper. Bürgerliche Körpersprache und ihre geschlechtsspezifische Differenzierung am Ende des 18. Jahrhunderts. Des Weiteren vgl. Werner Busch, Daniel Chodowieckis ›Natürliche und affectirte Handlungen des Lebens‹. In: Daniel Chodowiecki (1726 – 1801): Kupferstecher, Illustrator, Kaufmann, hg. von Ernst Hinrichs, Klaus Zernack, Tübingen 1997, S. 77–99; Thomas Kichner, Chodowiecki, Lavater und die Physiognomiedebatte in Berlin. In: Daniel Chodowiecki (1726–1801): Kupferstecher, Illustrator, Kaufmann, hg. von Ernst Hinrichs, Klaus Zernack, Tübingen 1997, S. 101–142; Anette Lache, Le modeste et le fanfaron – Das bescheidene Wesen und der Windbeutel. Das Prinzip Aufrecht im Werk Daniel Chodowieckis. In: Der aufrechte Gang. Zur Symbolik einer Körperhaltung, hg. von Bernd Jürgen Warneken, Tübingen 1990, S. 35–41; Spickernagel, Zur Anmut erzogen – Weibliche Körpersprache im 18. Jahrhundert.

Die nächste Abbildung in der Mimik zeigt eine Frau, die mit gerader Kopfhaltung, vor dem Bauch verschränkten Armen sowie geringem Abstand zwischen den Füßen einen »sanften, aber darum nicht schwachen, nicht trägen Charakter« verkörpert.256 Dass dieser Charakter als ›typisch weiblich‹ empfunden wird, zeigt Engels Bemerkung: »Ich beschreibe, wie Sie leicht merken, die Lieblingsattitude unserer Damen, die von Natur sanfter als das stärkere Geschlecht sind, oder wohl dann und wann auch nur durch Kunst sanfter scheinen.«257 Ob Engel diese Unterschiede in der Natur oder der Kunst/Konvention begründet sieht, lässt der Text offen. Bemerkenswert – und ganz im Gegensatz zu den antiken Rhetoriken – ist seine Abstinenz von jeglicher Wertung: Engel stellt keine normativen Regeln weiblicher und männlicher actio auf. Die Beispiele machen jedoch deutlich, dass die Geschlechterdifferenz auch in den vermeintlich neutralen Ausdrucksbeschreibungen greift. Warum Engel so wertungsneutral formulieren kann, mag auch an dem Umstand liegen, dass die Schauspielkunst Engel zufolge zwar Gedanken und Gefühle ›ausdrücken‹ will, jedoch »völlig außerhalb von auf Erfolg zielenden Überzeugungsstrategien«258, wie Göttert bemerkt. Während Lessing in seinem Fragment Der Schauspieler die Beredsamkeit als »die Kunst einem andern seine Gedanken so mitzuteilen, daß sie einen verlangten Eindruck auf ihn machen«259, definiert und die Schauspielkunst so auf die rhetorische, ganz auf eine Wirkungsintention ausgerichtete eloquentia corporis baut, äußert sich Engel kaum über die Wirkung auf ein Publikum. Vielmehr beobachtet Engel den oder die Schauspieler/ in mit einem psychologisch zu nennenden Interesse. Die Körpersprache, so Engel, könne Aufschlüsse über die Seele liefern, die selbst nicht unmittelbar sichtbar, aber durch den »Spiegel« beziehungsweise »Schleier« des Körpers erkennbar werden könne.260 Der Fokus ist insofern ein gänzlich anderer: Da nicht die Wirkung einer Person auf eine andere oder auf ein Publikum analysiert und in Regeln gefasst werden soll, sondern die Psychologie des Ausdrucks von Gedanken und Empfindungen, kann die in der Praxis unbedingt zu berücksichtigende, der Statusrelation und dem Geschlecht angemessene actio weniger Beachtung finden. Die Frau kann den gleichen Affekt vielleicht auf die gleiche Art wie der Mann ausdrücken – zum Beispiel

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Engel, Ideen zu einer Mimik, Bd. 1, S. 112 (Fig. 4). Engel, Ideen zu einer Mimik, Bd. 1, S. 112. Göttert, Geschichte der Stimme, S. 248. Lessing, Entwürfe zu einer Abhandlung ›Der Schauspieler‹, S. 732. Engel fasst den Körper als Spiegel oder – seiner Meinung nach noch treffender: als Schleier der Seele auf, durch dessen feine Textur und leichte, bewegliche Falten man die Beschaffenheit der Seele ›erraten‹ könne. Insofern kann das Studium des Körperausdrucks auch als Schlüssel der Psychologie gelten: »Wir kennen die Natur nur durch ihre Wirkungen, und sicher würden wir manchen Aufschluß mehr über sie erhalten, wenn wir diese Art ihrer Wirkungen, die mannichfaltigen Ausdrücke ihrer Ideen und Bewegungen im Körper, fleissiger beobachten wollten.« Engel, Ideen zu einer Mimik, Bd. 1, S. 24.

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den Stolz mit in die Hüfte gestemmtem Arm und breitbeinigem Stand –, solange nicht die Wirkung auf ein Publikum im Vordergrund steht, dessen konventionelle Erwartungshaltung unter anderem fordert, ›sanfter zu scheinen‹. Dass die gleiche Darstellung des gleichen Affekts von einem Mann als angemessen, aber von einer Frau als unangemessen bewertet werden kann, soll der folgende Exkurs zu Lessing zeigen. Dass Engels methodische Trennung von Allgemeinem und Besonderem insofern ein Konstrukt ist, das kaum seine Entsprechung in der Praxis finden kann, liegt auf der Hand. Exkurs: Lessings Schauspielerin Lessings Kritik am Bühnenauftritt der Schauspielerin Friederike Sophie Hensel zeigt die gender-Problematik der sich aufs ›Wesentliche‹ konzentrierenden Ausdruckskonzeption von Engel: Die Schauspielerin soll nicht nur andere Affekte als ein Mann an den Tag legen, sie soll den gleichen Affekt auch anders darstellen. Während die erste Forderung sich vor allem an die Verfasser dramatischer Texte richtet, zielt die zweite ganz allein auf die actio der Schauspielerin. Madame Hensel, die nach Lessing »ohnstreitig eine der besten Aktricen ist, welche das deutsche Theater jemals gehabt hat«, spielt im Eröffnungsstück des Hamburger Nationaltheaters, Olint und Sophronia von Johann Friedrich Cronegk, die heidnische Perserkönigin Clorinde.261 Lessing lobt im vierten Stück der Hamburgischen Dramaturgie vom 12. Mai 1767 ihre ausgezeichnete actio mit Worten, die eine Verwandtschaft der oratorischen und schauspielerischen actio anzeigen: Hensels »Deklamation« zeichnet sich durch die virtutes elocutionis, durch Klarheit, Deutlichkeit und Schönheit aus, ihr Ton sowie ihre Gestik und Körperhaltung sind ebenso abwechslungsreich wie dem Inhalt angemessen, und sie versteht es, jeden Affekt so zum Ausdruck zu bringen, dass der Zuschauer davon ebenso ergriffen wird.262 Lessing beschreibt ihr freies und edles Auftreten als Clorinde, ihren feurigen, beseelten Ton, ihr überströmendes, mitleidiges Herz, ihre entschlossen

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Hensel war nicht nur Ensemblemitglied des Hamburger Nationaltheaters, sondern auch an dessen Gründung 1767 insofern beteiligt, als der Kaufmann und spätere Prinzipal Abel Seyler mit dem Theater eine Bühne für die von ihm verehrte Schauspielerin schaffen wollte, die ihn Jahre später, 1772, heiratete. »[D]as Theater, das wir heute ausschließlich mit Lessing assoziieren, war ursprünglich ein Forum für die berühmte Schauspielerin Hensel«, zu dem Lessing als Dramatiker und Kritiker hinzugerufen wurde, schreibt Susanne T. Kord, Tugend im Rampenlicht: Friederike Sophie Hensel als Schauspielerin und Dramatikerin. In: The German Quarterly, 66/1, 1993, S. 1–19, S. 3. »Ihr besonderer Vorzug ist eine sehr richtige Deklamation; ein falscher Accent wird ihr schwerlich entwischen; sie weiß den verworrensten, holprigsten, dunkelsten Vers mit einer Leichtigkeit, mit einer Präcision zu sagen, daß er durch ihre Stimme die deutlichste Erklärung, den vollständigsten Kommentar erhält. Sie verbindet damit nicht selten ein Raffinement, welches entweder von einer sehr glücklichen Empfindung, oder von einer sehr richtigen Beurteilung zeuget.« Gotthold Ephraim Lessing, Hamburgische Drama-

wirkende Liebe, um dann – einen abrupten Wechsel in ihrer actio betonend – fortzufahren: »Aber wie unerwartet, wie überraschend brach sie auf einmal ab und veränderte auf einmal Stimme und Blick und die ganze Haltung des Körpers«, um seufzend, mit niedergeschlagenen Augen »in dem furchtsamen gezogenen Tone der Verwirrung« zu sprechen: »Ich liebe dich, Olint«. Lessing ist begeistert von dieser Aufführung ihrer Weiblichkeit: Sie entschloß sich als Heldin, ihre Liebe zu gestehen, und gestand sie als ein zärtliches, schamhaftes Weib. So Kriegerin als sie war, so gewöhnt sonst in allem zu männlichen Sitten: behielt das Weibliche doch hier die Oberhand.263

Dass die Sprache der Weiblichkeit, die gesenkten Lider, der furchtsame, zärtliche, schamhafte, verwirrte Ton, Lessing weit mehr einnimmt als ihre zuvor bewiesene feurige, heldenhafte, ›männliche‹ Darstellungskraft, zeigt der Fortgang der Kritik im fünften Stück. Dabei wirft Lessing in erster Linie dem Autor des Stücks, Cronegk, vor, seine Figuren »ganz außer aller Natur«264 gestaltet zu haben, in zweiter Linie kritisiert er jedoch auch die Schauspielerin, die die Textvorlage hätte ›verfeinern‹ und ›mäßigen‹ sollen, wie sie es mit ihrer meisterhaften weiblichen Darstellung des Liebesbekenntnisses getan hatte.265 Lessing macht sich über die Unweiblichkeit der herrischen Figur Clorinde lustig: Als Clorinde erkennt, dass Olint sie nicht liebt, sondern heimlich die christliche Jungfrau Sophronia verehrt, beginnt sie ihm zu drohen – anstatt aufgrund dieser mangelnden Gegenliebe selbst zu ›zittern‹. Die anfängliche Sympathie, die der Zuschauer (und zwar nur in Ermangelung einer liebenswürdigeren Identifikationsfigur, wie Lessing deutlich macht) Clorinde, diesem »Dragoner von Weibe«, entgegenbringe, schlage in Gleichgültigkeit und Ekel um, wenn Cronegk »Clorinden in dem wahren Tone einer besoffenen Marquetenderin rasen zu lassen« fortfährt.266 Eine solche drohende, wilde Weiblichkeit erscheint Lessing nicht nur ›unnatürlich‹, sondern auch »lächerlich«.267 Das einzige, was die Schauspielerin zu seinem [Cronegks] Besten noch tun könnte, wäre vielleicht dieses, wenn sie sich von seinem wilden Feuer nicht so ganz hinreißen ließe, wenn sie ein wenig an sich hielte, wenn sie die äußerste Wut nicht mit der äußersten Anstrengung der Stimme, nicht mit den gewaltsamsten Gebärden ausdrückte.268

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turgie. In: Lessing, Werke, hg. von Herbert G. Göpfert u. a., Bd. 4: Dramaturgische Schriften, Darmstadt 1996, S. 229–720, 4. St., S. 252. Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 4. St., S. 253. Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 5. St., S. 254. Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 5. St., S. 253f. »Es ist unstreitig, daß die Schauspielerin durch diese meisterhafte Absetzung der Worte ›Ich liebe dich, Olint, –‹ der Stelle eine Schönheit gab, von dem sich der Dichter, bei dem alles in dem nämlichen Flusse von Worten daherrauscht, nicht das geringste Verdienst beimessen kann.« Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 5. St., S. 254f. Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 5. St., S. 254. Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 5. St., S. 255.

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Diese Ermahnung, mit der Darstellung von Affekten ökonomisch umzugehen und mit Mäßigung zu reden – und das bedeutet an dieser Stelle zugleich: ›weiblicher‹ zu reden – widerspricht dem actio-Gebot, die Macht der Worte durch die Mittel der Stimmführung, Gestik und Mimik zu unterstützen und zu verstärken. Lessing fordert dagegen von der Schauspielerin, sich auf einen weiblichen Aktionsradius zu beschränken und das ›wilde Feuer‹ des Texts nicht in ein ›wildes Feuer‹ der Gestik und Mimik zu übersetzen. Damit löst Lessing die actio von der Textvorlage beziehungsweise von dem Redeinhalt und fordert eine textunabhängige Performanz von Weiblichkeit (und zwar von einer bestimmten, empfindsamen Version von Weiblichkeit). In Lessings Kritik lassen sich zwei Argumentationsstränge ausmachen, einer aus dem Bereich der Rhetorik und einer aus dem Bereich der Geschlechterordnung. Das rhetorische Gebot lautet, salopp formuliert, nicht andauernd zu schreien. Abwechslungsreichtum ist die oberste Regel der Rhetorik, zumal der actio-Lehre, und gerade die starken Affekte, die laute Stimme und großen Gesten, dürfen nur wohldosiert eingesetzt werden. Das Gebot zur Geschlechterordnung lautet, sich als Schauspielerin gemäß der ›Natur des Weiblichen‹ aufzuführen. Die weibliche ›Natur‹ ist durch einen furchtsamen, zärtlichen, verwirrten Tonfall, durch Zittern und schamhaft gesenkte Augenlider darzustellen – wie sich gezeigt hat. Ein bedrohlicher weiblicher Dragoner dagegen bringt mit seinen aktiven Liebesansprüchen und der entsprechenden actio, einer lauten Stimme und massiven Gebärden, die ›natürliche Ordnung‹ der Geschlechter durcheinander und gibt sich schließlich der Lächerlichkeit preis. Auch die Androhung von Lächerlichkeit ist aus der alten Rhetorik bekannt, wo sie die Grenzen der geschlechtlich eindeutigen und angemessenen Aufführung des Redners markierte. Wie Lessings Kritik deutlich macht, droht sie auch der Schauspielerin, sofern sie ihre actio nicht an geschlechtsspezifische Erwartungen des Publikums anpasst und eine spezifische Form von Weiblichkeit auf die Bühne bringt. Actio-Rhetoriken Am Ende des 18. Jahrhunderts mehren sich die actio-spezifischen Veröffentlichungen. Unter Berufung auf Lessings Ansätze einer Theorie der ganzen körperlichen Beredsamkeit und Engels Mimik entwickelt Hermann Heimark Cludius 1792 seinen Grundriß der körperlichen Beredsamkeit. Für Liebhaber der schönen Künste, Redner und Schauspieler, wobei die schönen Künste als Oberbegriff fungieren, während Rhetorik und Schauspielkunst als zwei – nun gleichrangige Bereiche der neuen, umfassenderen Disziplin der Ästhetik verhandelt werden.269 1796 folgt das Lehrbuch von Johann Gottfried Pfannenberg Über die rednerische Action, mit erläu-

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Vgl. Kapp, Die Lehre von der actio als Schlüssel zum Verständnis der Kultur der frühen Neuzeit, S. 43. Volker Kapp weist darauf hin, dass die Rhetorik damit ihre Vorrangstel-

ternden Beispielen; vorzüglich für studirende Jünglinge, das sich, theoretisch weniger differenziert, gänzlich auf die oratorische Praxis konzentriert. Beide Schriften verfolgen eine pädagogische Zielsetzung und sind für die Lehre in akademischen Vorlesungen und an Schulen gedacht, d. h. zugleich – jedoch nicht selbstverständlich –, dass ausschließlich männliche Schüler angesprochen werden. Obwohl Cludius bemerkt, dass ein »angenehmer und geistvoller Ausdruck« an allen gebildeten Menschen – und zwar explizit auch an »Frauenzimmern« – lobenswert sei, richten sich die Rhetoriken allein an angehende männliche Redner, die in der Schule, auf der Kanzel oder im Rat ihre Stimme erheben (werden).270 Trotz Cludius’ Prämisse, »[e]s ist niemand, in welchem Stande er sey, dem körperliche Beredsamkeit nicht Ehre macht«271, redet er im Folgenden durchgehend ›Jünglinge‹ als Rezipienten an – ebenso wie Pfannenberg, der sein männliches Zielpublikum bereits im Titel erwähnt. Diese Diskrepanz – dass die rhetorische Ausbildung von Mädchen und Frauen für wünschenswert gehalten wird, jedoch de facto Jungen und Männern vorbehalten bleibt – wird in der Schulpädagogik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchaus bemerkt. So tadelt der Inspektor der Königlichen Realschule zu Berlin, Andreas Jakob Hecker, 1783 die pädagogische Praxis seiner Zeit, indem er sie mit der vermeintlich fortschrittlicheren Antike vergleicht: Es scheint, dass auch jungen Frauenzimmern diese Schulen [der Redekunst in der Antike] offen gestanden, wie sich aus der Geschichte der Tochter des Virginius beym Livius und aus andern Nachrichten muthmaßen lässt. – Gewiß ein lauter Tadel für unsre Zeiten, die vor jenen so viel voraus haben wollen und doch ihre Töchter in der Wohlredenheit nicht anders unterrichten, als junge Sperlinge von den alten unterrichtet werden.272

Hecker zieht die – wenn es um die Frage rhetorischer Ausbildung für Frauen geht: topische – Mutter der Gracchen heran, die er als vorbildliche Redelehrerin ihrer Söhne lobt: »Möchte doch auch unser Zeitalter sich bemühen, solche Mütter zu bilden; wie viele solcher Söhne würden wir nicht von der mütterlichen Unverdrossenheit und von dem weiblichen Witze zu erwarten haben!«273 So wird das Ziel, Mädchen und Frauen in den rhetorischen Unterricht einzubinden, wieder an die

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lung als Bezugsrahmen eingebüßt hat und mit ihrer Unterordnung unter die Ästhetik auch eine Aufwertung der Schauspielkunst einhergeht. »Wird ein angenehmer und geistvoller Ausdruck nicht an einem Frauenzimmer gelobt?« Cludius, Grundriß der körperlichen Beredsamkeit, S. VIII. Die Redesituationen, auf die die actio-Rhetoriken vorbereiten wollen, sind öffentliche feierliche Vorträge, Predigten, (Schul-)Schauspiele, Bewillkommnungsreden, Ratsreden oder abgeschlossene Erzählungen im Gespräch. Vgl. Pfannenberg, Über die rednerische Action, S. 94. Cludius, Grundriß der körperlichen Beredsamkeit, S. IX. Andreas Jakob Hecker, Gedanken über die beste Art des Vortrags der Rhetorik und der Bildung populärer Volksredner auf Schulen, Berlin: Georg Ludwig Winters Witwe 1783, S. 9. Bei Heckers Annahme, die antiken Redeschulen hätten Frauen offengestanden, handelt es sich um eine irritierende Fehllektüre. Hecker, Gedanken über die beste Art des Vortrags der Rhetorik, S. 10.

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männliche Rhetorik-Ausbildung zurückgekoppelt. Dennoch hebt sich ein solcher Aufruf zur akademischen Unterrichtung von Mädchen und Frauen in der Redekunst bemerkenswert von der üblichen elterlichen Privaterziehung der Töchter ab. Sowohl Cludius als auch Pfannenberg beobachten nun bei ihren Schülern eine äußerst mangelhafte actio, die nicht nur der Verbesserung durch Übung, sondern allererst durch eine Theorie bedürfe, die es bislang nicht, so Cludius, beziehungsweise nicht für Schüler verständlich und erschwinglich, so Pfannenberg, gebe.274 Im Rückgriff auf die Antike wollen Cludius und Pfannenberg gerade die actio wiederentdecken, aufwerten und vermitteln. Hatte bereits Engel die zeitkritische Diagnose gestellt, dass es in der Antike etwas gegeben habe (eine Schauspielkunst), das nun verloren sei, jedoch neu begründet werden müsse, knüpft auch Cludius explizit an antike Traditionen – die Wertschätzung der actio – an, um seine actio-Theorie zu fundieren: Schon der »größte Redner der Griechen« habe bezeugt, »der Vortrag sey das wichtigste, ohne den die aufs gründlichste und affektvollste ausgearbeitete Rede wenig ausrichten würde«.275 Das »Ganze der körperlichen Beredsamkeit« sei jedoch weder in den älteren umfangreichen Rhetoriken noch in den neueren, sich auf die actio konzentrierenden Schriften von Engel, Franke oder Sheridan erfasst, stellt Cludius fest.276 Dem Streben nach einer Verwissenschaftlichung der körperlichen Beredsamkeit und ihrer Etablierung als einer der schönen Künste entspricht nicht nur die

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Sowohl Cludius, der promovierte protestantische Pastor und Schulmann als auch Pfannenberg, der Rektor der Hauptschule zu Dessau haben einen pädagogischen Hintergrund. Cludius beklagt den schulischen Verfall der Beredsamkeit in seiner Gegenwart: »In dem jetzigen [Jahrhundert] wurden erst die Komödien eingestellet, dann die wöchentlichen Deklamationen, und endlich auch die Actus; indem man diese für unnütz, und jene für schädlich erklärte«, nicht zuletzt bleibe, weil die Lehrpläne durch neue Wissenschaften so überfüllt seien, schlichtweg keine Zeit für die actio-Übungen (S. XIIIff.). Noch 1815 bemängelt Dr. Theodor Heinsius, ordentlicher Professor am Berlinischen Gymnasium, dass zwar den Deklamationsübungen in höheren und niederen Schulen »fast in allen Lehrplänen bestimmte Stunden in der Woche« zugewiesen würden, die Übungen jedoch, um es zu einer Kunst in der Deklamation zu bringen, mit mehr Zeit und ernsthafter betrieben werden müssten. Weder Lehrer noch Schüler brächten den actio-Übungen den rechten Respekt entgegen. Die Lehrer pausierten, während die Schüler mechanisch etwas notdürftig auswendig Gelerntes vortrügen. Heinsius, Der angehende Deklamator, S. V. Cludius, Grundriß der körperlichen Beredsamkeit, S. XIIf. Zu Engel [in Bezug auf Lessing] vgl. Engel, Ideen zu einer Mimik, Bd. 1, S. 4. Cludius, Grundriß der körperlichen Beredsamkeit, S. VII. Cludius’ bemerkenswerte Kenntnisse der alten Rhetorik zeigen sich u. a. durch die kundige Zitation antiker Texte, insbesondere teils seitenlanger Ausführungen von Quintilian. Nach Cludius’ Verständnis der Rhetorikgeschichte ist die Theorie und Kunst der actio im Mittelalter in Vergessenheit geraten, dann durch die Anknüpfung an antike rhetorische Traditionen im 17. Jahrhundert mit der Einführung deklamatorischer Übungen, actus oratorii und von Schauspielen an Gymnasien wiederbelebt worden, in seiner Gegenwart jedoch im Verfall begriffen.

systematische Gliederung277 des Grundriß der körperlichen Beredsamkeit, die durch Paragraphen und Zitate von Autoritäten einen wissenschaftlichen Anstrich erhält, sondern auch der Wunsch, zum Zwecke der Genauigkeit und Vollständigkeit eine Notation der körperlichen Beredsamkeit entwerfen zu können. Cludius zweifelt zwar an der Umsetzbarkeit einer Notation von Mimik und Gestik, da schon eine für die – der musikalischen Notation näher stehende – Stimmführung fehle. Trotzdem entwirft er die Vision einer Tabulatur für Stirn, Augen, Nase, Mund und Wangen, die mit Violin-, Diskant-, Alt-, Tenor- und Bassschlüssel notiert werden sollen, zusammen mit Ziffern als Generalbass, die die Stellung des Körpers und die Bewegungen der Arme, Beine usw. anzeigen.278 Da die verbale Sprache als zu

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Der systematische Aufbau des Grundriß besteht in vier Kapiteln: Das erste definiert die (körperliche) Beredsamkeit, das zweite und dritte behandelt jeweils die Grammatik, Dialektik, Eloquenz und Rhetorik der »Tonsprache« beziehungsweise der »Geberdensprache«, und das vierte Kapitel, »Vom Halten einer Rede«, berücksichtigt den gesamten Redeauftritt im Rahmen verschiedener Redesituationen sowie des zeitlichen Verlaufs der Rede vom Anfang bis zum Schluss. Mit der bemerkenswerten Systematisierung durch Grammatik, Dialektik, Eloquenz und Rhetorik will Cludius die Körpersprache analog zur Verbalsprache untersuchen. Unter der Kategorie der ›Eloquenz‹, die bekanntlich nicht im Trivium enthalten ist, wird die Ästhetik des Ausdrucks verhandelt. Der Körper-Ausdruck der Seele wird nach Cludius’ Modell bestimmt durch jeweils (!) unvermischte und vermischte Gemütsbewegungen, Spannungen (Affekte), Abspannungen (Leidenschaften) und Beunruhigungen, diese können noch einmal kombiniert werden mit Veränderung des Körperausdrucks durch Charakterzüge sowie bestimmte Zustände (wie etwa Krankheit, Alter, Frost, Wahnsinn). Mit seiner Idee einer künstlerisch unterstützten Notation der Aktion steht Cludius im späten 18. Jahrhundert nicht allein. Ebenso wie Cludius bedauert auch Sulzer, dass die Sprache nicht genügend Worte zur Verfügung stelle, um alle Gebärden genau zu beschreiben. Die bislang (auch in antiken Rhetoriken) vermeintlich unvollständige Behandlung der Gebärdensprache führt Sulzer zu einem ausführlichen Entwurf eines Forschungsprojekts für eine Kunstakademie: die Herstellung eines künstlerischen Gebärden-Katalogs, der alle möglichen ›redenden Figuren‹ in einem ersten Schritt künstlerisch darstellen und in einem zweiten Schritt beobachtend beschreiben sollte – mit der dazugehörigen »Kunstsprache und Terminologie«. Ein solcher Katalog wäre mit naturwissenschaftlichen Katalogen von Pflanzen oder Insekten vergleichbar. »Dieses würde den Weg bahnen, dem Redner, dem Schauspieler, dem Mahler und dem Tänzer den wichtigsten Theil der Kunst zu erleichtern.« Johann Georg Sulzer, Gebehrden (Schöne Künste). In: Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt, 2 Bde., Bd. 1, 2. Aufl., Leipzig: Weidmanns Erben und Reich, 1778, S. 194–197, S. 195. Der Deklamator Christian Gotthold Schocher kündigt 1791 den (nie vollendeten) Plan an, ein Notationssystem der stimmlichen actio zu entwerfen. Schocher tritt mit dem Anspruch auf, mit dieser Notation gänzlich neue Wege zu beschreiten, wozu gehöre, sich zunächst einmal von der übermächtigen Autorität der antiken Rhetoriktradition frei zu machen. Dementsprechend trägt sein erstes Kapitel den Leitsatz als Überschrift: »Wir müssen die Alten in der Declamation nicht blos anstaunen.« (S. 2) Am Beispiel von Demosthenes und Cicero erläutert Schocher, dass sich die Griechen und Römer den stimmlichen Vortrag betreffend nicht gerade mit Ruhm bekleckert, sondern ihr weni-

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ungenau zur Beschreibung der Gestik und Mimik wahrgenommen wird, müsste ein Künstler – vorzugsweise der bekannte Stecher Chodowiecki – zunächst die mimischen und gestischen Grundfiguren zeichnen. Diese Vorstellung einer Notation der actio zeigt, dass die actio nicht mehr unter dem Dach der officia-Rhetorik wahrgenommen wird, sondern sich als Teil einer Theorie der Künste verselbstständigt. Sie lässt zugleich einen neuen Wunsch nach der Messbarkeit und optischen Darstellbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse sichtbar werden. Cludius geht wie Engel von einer Analogie von Innen und Außen, Seele und Körper aus, die wechselseitig bedingt ist. Jedem Zustande unserer Seele gemäss bildet sich in unserm Körper, besonders in unserm Gesichte, ein analoger Zustand; so wie umgekehrt die Lage, Stellung, Bewegung unseres Körpers, und unsere Geberde auf unsere Seele zurückwirkt, und sie analog modificirt.279

Die rhetorische Beredsamkeit definiert Engel dabei als die Kunst, »durch vollkommenen sinnlichvernünftigen Ausdruck Andern unsere Gedanken und Empfindungen mitzutheilen, sie zu überzeugen, zu rühren und zu bewegen.«280 Die verbale Sprache könne besser abwesende, nichtsinnliche Gegenstände und Begriffe genau angeben, und die Körpersprache könne besser Empfindungen und Affek-

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ges Wissen von den Schauspielern Satyrus und Roscius übernommen hätten, die zwar ihr anrüchiges Fach der Täuschung und Verstellung praktisch beherrschten, aber kaum theoretische Regeln weitergeben könnten. Seither habe das Wissen über die stimmliche actio sogar noch abgenommen. Erst durch die ›Versinnlichung‹ nach Schochers Notationsmethode – »Versinnlichung, das ist, sie [die Töne] dem Auge in Bildern darzustellen, um hierdurch dem Verstande eine Richtung zu geben« (S. 9) – werde die stimmliche Vortragskunst zu »einer regelmäßigen Kunst« (S. 10), »einer wirklichen Kunst« (S. 13), ja einer »Kunst von gleichsam mathematischer Gewißheit«, »mit der neue, gebahnte und lichtvolle Pfade« aufklärerisch betreten würden. (S. 17) Schocher, Soll die Rede auf immer ein dunkler Gesang bleiben, und können ihre Arten, Gänge und Beugungen nicht anschaunlich gemacht, und nach Art der Tonkunst gezeichnet werden. Die hehre Zielsetzung scheint nicht mit der Realität übereingekommen zu sein, wie sowohl die Nichtausführung der angekündigten Notation als auch eine Rezension vermuten lassen, die kritisiert, Schocher sei es nicht gelungen, »uns den mindesten deutlichen Begriff von seiner neuen Methode zu machen«. Der Rezensent hält die Erfindung einer Notation der actio schlichtweg für »unmöglich«. Anonym, Rezension zu: Franke, Über Declamation (1789) und Schocher, Soll die Rede auf immer ein dunkler Gesang bleiben (1791), Sp. 438. Cludius, Grundriß der körperlichen Beredsamkeit, S. 227f. Pfannenberg definiert die actio als »den Ausdruck der innern Gedanken und Empfindungen […], wozu die Stellung des Leibes, Bewegung des Kopfs, der Arme und Hände, der Augen und des Gesichts gehört« (S. 38). Wie Cludius versteht auch Pfannenberg die Körpersprache als eine Herzenssprache: Die actio übernimmt die Aufgabe, im Vortrag nicht nur den Verstand, sondern auch die Empfindungen und die Einbildungskraft anzusprechen. Gerade da der Redner nicht nur ›Belehrung‹ und ›Überzeugung‹, sondern auch ›Rührung‹ bezweckt, muss er die ›kalte Sprache des Verstandes verschönern‹, indem er auf seine actio achtet. Vgl. Pfannenberg, Über die rednerische Action, S. 12. Cludius, Grundriß der körperlichen Beredsamkeit, S. 11.

te ausdrücken. Dies läuft darauf hinaus, dass Cludius eine ›Verstandessprache‹ und eine ›Herzenssprache‹ unterscheidet und durch die Kunst der Beredsamkeit zusammenbindet: Die Beredsamkeit muss also beyde vereinigen, die Sprache des Verstandes (die Wortsprache […]) und die Sprache des Herzens (Sprache der Empfindungen, Geberdensprache […]). Denn diese ist ohne jene zu unbestimmt und mangelhaft; und jene ohne diese zu leblos und unwürksam.281

Mit diesem Argument legitimiert Cludius die Beschäftigung mit der actio, die der Rede eben ›Lebendigkeit‹ und ›Wirkung‹ verleiht. Anders als Engel bezieht sich Cludius damit verstärkt auf die erfolgsstrategischen Wirkungsabsichten des Redners, für die er der actio die zentrale Rolle zuschreibt: Von dem richtigen und schönen Vortrage der Empfindungen und Gedanken, in Sprache, Stimme, Ton, Modulation, Anstand und Gebehrdung hängt mehr, als von dem was wir selbst fühlen oder denken, mehr als von der in Worte gekleideten Wahrheit unserer Gedanken und Stärke unsrer Affekten, der Eindruck ab, den wir auf andere machen, von welchem wieder der Erfolg abhängig ist.282

Mit diesem Fokus auf die Persuasion korrespondiert die Wahl der Begrifflichkeit, die actio nicht als ›Ausdruck‹, sondern als ›körperliche Beredsamkeit‹ zu verhandeln, denn die Zweckgebundenheit der Rede ist eine genuin rhetorische Zielsetzung. Nicht die psychologische Entsprechung beziehungsweise prozessuale Beeinflussung von Innerem und Äußerem steht im Vordergrund, sondern die sichtbare, ästhetische Darstellung des Inneren durch den Körper zum Zwecke des Erfolgs. Auch wenn die ›Richtigkeit‹ neben der ›Schönheit‹ im Vortrag weiterhin (pro forma) eine Rolle spielt, unterscheidet die Gewichtung, dass die actio mehr zähle als die Wahrheit der Gefühle und Gedanken, Cludius’ Ansatz maßgeblich von dem Engels. Cludius schreibt dem Redner das Ziel zu, sich bemerkbar machen, glänzen und wirken zu wollen: »Wer als Redner gross werden, entweder glänzen oder Nutzen stiften will, darf gewiss sein Äuseres nicht unbeachtet und ungebildet lassen.«283 Wie Cludius, der untersucht, wie der Redner ›Beifall finden wird‹, beschreibt auch Pfannenberg, wie der Redner ›dauerhafte Wirkung‹ erreicht und ›nicht unschicklich‹ wirkt. Eine zeitgenössischen Kritik in der Allgemeinen Literatur-Zeitung an Pfannenbergs Über die rednerische Action zeigt, dass diese Rückkehr zur rhetorischen Wirkungsabsicht, die bei Pfannenberg ebenso wie bei Cludius zu beobachten ist, nicht unwidersprochen bleibt. Der Rezensent bemängelt, dass Pfannenberg die actio nicht als Vervollständigung des ästhetischen Ausdrucks behandelt habe. Die Ästhetik – und nicht die Rhetorik – ist im zeitgenössischen Verständnis diejenige Wissenschaft, in deren Rahmen die rednerische actio hätte verhandelt werden müs-

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Cludius, Grundriß der körperlichen Beredsamkeit, S. 12. Cludius, Grundriß der körperlichen Beredsamkeit, S. XIf. Cludius, Grundriß der körperlichen Beredsamkeit, S. XIII.

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sen, denn die »beiden Hauptpunkte, um welche sich die ganze Abhandlung drehen müsste, [sollten sein,] dass die Action ausdrucksvoll und schön seyn müsse«284 . Stattdessen, so beanstandet der Rezensent, führe Pfannenberg »alle seine Regeln auf den Effect zurück, den der Redner bey seinen Zuhörern hervorbringen wird«. Während der Rhetorik so eine manipulative Wirkungsbezogenheit unterstellt wird, wird ihr eine ästhetische Kunst gegenübergestellt, die ihren Zweck allein in sich selbst findet.285 Anstatt einen »objectiven« Begriff von der Schönheit der Aktion zu vermitteln, wie es wünschenswert wäre, schlage Pfannenberg fälschlicherweise vor, die actio an nationalen Charakteristika auszurichten, »um des Beyfalls seiner Zuhörer gewiss zu seyn«, kritisiert die Rezension weiter.286 Eine ›objektive Ästhetik‹ wird also in Opposition zur Berücksichtigung von Differenzkategorien wie ›Nationalität‹ (und hinzuzufügen wäre die des Geschlechts) gestellt. Andersherum könnte formuliert werden, dass in dem Moment, in dem es auf die Wirkung ankommt, die Beachtung von Differenzkategorien ins Gewicht fällt, ja sogar notwendig wird. Der vierte Teil des Grundriß der Beredsamkeit, »Vom Halten einer Rede«, ist derjenige, der sich im Gegensatz zu den Teilen zur »Deklamatorik« und »Mimik« am engsten an die alte Rhetorik anschließt, indem er das innere und äußere aptum der Rede behandelt, und der zugleich die geschlechtliche Erscheinung des Redners nicht völlig außer Acht lässt.287 Dieser Teil enthält einen Paragraphen zum ›Auftreten‹, der eben jene sozialen und geschlechtlichen Parameter aufzählt, die im Hinblick auf die erwünschte Wirkung auf ein Publikum als notwendig erachtet werden. Zunächst hat die Verbeugung des Redners, 1) wie sie sich für einen freien feinerzogenen und gebildeten Mann schickt; aber auch 2) dem Charakter den der Redner trägt, seiner bürgerlichen Würde, und seinem innern Werthe, gemäß; 3) der Würde der Zuhörer und dem Verhältnisse derselben zu ihm, angemessen [zu sein].288

Dies wird – für den männlichen Redner – weiter differenziert und dabei das jeweils Angemessene normiert:

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Anonym, Rezension zu: Pfannenberg, Über die rednerische Action (1796). In: Allgemeine Literatur-Zeitung, 1/102, 1798, Sp. 812–814, Sp. 812. Dieses Begriffspaar, oft auch als »wahr und schön« oder »richtig und schön« bezeichnet, gehört zu den Grundforderungen der ästhetischen Verhandlungen der körperlichen Beredsamkeit, so auch bei Engel und Cludius. Die Übereinstimmung des Zeichens mit dem Bezeichneten, des Körperausdrucks mit der seelischen Bewegung, wird als ›Wahrheit‹ verstanden, wobei nur das ›Wahre‹ auch zugleich ›schön‹ sein kann. Vgl. Geitner, ›Die Beredsamkeit des Leibes‹, S. 181. Anonym, Rezension zu: Pfannenberg, Über die rednerische Action (1796), Sp. 812f. Cludius, Grundriß der körperlichen Beredsamkeit, S. 372–424, »4r Theil: Vom Halten einer Rede« – »Kapitel 1: Vom Auftreten«; »Kapitel 2: Vom Anzuge des Redners«; »Kapitel 3: Von verschiedenen beim Halten einer Rede zu nehmenden Rücksichten«; »Kapitel 4: Vom Eingange«; »Kapitel 5: Von der Rede selbst«; »Kapitel 6: Vom Schlusse der Rede«. Cludius, Grundriß der körperlichen Beredsamkeit, S. 373.

Der Ausdruck des Gesichts und der Anstand sey angemessen 1) dem Alter, Stande, und Charakter des Redners. Dem Jünglinge steht Bescheidenheit, dem Manne Festigkeit, dem Vornehmen Herablassung, dem Grossen Würde am besten an. 2) seinem Verhältnisse zu denen, vor welchen er reden will. […] 3) der Sache, die er vortragen will.289

Bemerkenswert ist allerdings die geringe Gewichtung der Forderung einer geschlechtsspezifischen Angemessenheit des Redeauftritts. Im Zentrum des Interesses von Cludius’ umfangreichen Ausführungen zur actio steht vielmehr der Ausdruck eines bestimmten Affekts in verschiedenen Intensitäten (›Graden‹) sowie der Übergang und die Mischung zwischen Affekten. Daneben verweist Cludius zwar schon, aber eben nur kurz und unspezifisch, auf die Modification, welche sie [die Affekte] durch Geschlecht, Alter, Stand, Zustand und Laune erhalten. Man nehme z. B. wie sich Hochachtung ausdrückt bei einem Kinde, Jünglinge, Manne, Greise, Mädchen; bei einem ernsthaften, oder leichtsinnigen, klugen oder einfältigen, stolzen oder demütigen, natürlichen oder verschrobenen Menschen; im natürlichen Zustande, oder in Schwachheit, Krankheit, Frost, Hitze, Raserei. – Hier sieht man eine unendliche Mannigfaltigkeit!290

Eben diese ›unendliche Mannigfaltigkeit‹ gilt es offenbar im Interesse einer an Wissenschaftlichkeit und Systematik orientierten Darstellung auszublenden. Während das Zusammenwirken der Stimme und der Aktion bei einzelnen Affekten sowie die Übergänge zwischen den Affekten und die Mischungen von Affekten ausführlich erörtert werden, heißt es in Bezug auf die Differenzkategorien wie Geschlecht und Alter nur lapidar: »Derselbige Affekt nimt sich anders aus bei einem Mädchen, als bei einem Jünglinge, bei einem Weibe, als bei einem Manne.«291 Des Weiteren unterscheidet Cludius nach Temperament, nach persönlichen Eigenschaften, nach Stand und Erziehung (»Dasselbe Gefühl wird die Hofdame anders ausdrücken, als die Viehmagd; der rohe Soldat anders, als der gebildete Kaufmann oder Gelehrte«292), nach dem Zustand der Person (z. B. Krankheit), nach Veranlassung und Laune. In dieser Aufzählung wird die Kategorie ›Geschlecht‹ zwar als erster Punkt genannt, aber kurz und knapp abgehandelt. Ihr wird keine besondere Relevanz beigemessen. Die gleiche Beobachtung ist bei Pfannenberg zu machen: Zwar dient mal der topische ›Bauer‹ zur Abgrenzung der Rede des bürgerlichen Mannes – ansonsten wird das Rednersubjekt keineswegs so stark durch den Ausschluss nichtrhetorischer Subjekte konturiert wie etwa in der alten Rhetorik. Obwohl sich das Buch an Jünglinge richtet und männliche Redner ausbilden will, wird weder die Männlichkeit des Redners in der Form idealisiert wie in der Antike (oder im Anschluss daran bei Gottsched), noch wird die ›gute Rede‹ von der ›schlechten‹ durch eine

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Cludius, Grundriß der körperlichen Beredsamkeit, S. 374f. Cludius, Grundriß der körperlichen Beredsamkeit, S. 325. Cludius, Grundriß der körperlichen Beredsamkeit, S. 253. Cludius, Grundriß der körperlichen Beredsamkeit, S. 254.

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geschlechtsspezifische Metaphorik abgegrenzt. Um 1800, in einer Zeit, in der in anderen Diskursen ›Geschlecht‹ eine maßgebliche Rolle spielt, bleiben die actioRhetoriken, die von der sichtbaren körperlichen Aufführung einer Rede sprechen, irritierend geschlechtsneutral. Dass sich Cludius und Pfannenberg dermaßen wenig für eine geschlechtsdifferenzierte actio im Redeauftritt interessieren, scheint nicht zuletzt der These von der Polarisierung der Geschlechtscharaktere in ihrer Generalität zuwider zu laufen, da in beiden actio-Rhetoriken nicht etwa einzelne Affekte wie zum Beispiel die »langsamen, heimlich in sich selbst gekehrten« – wie vermutet werden könnte – weiblich konnotiert und die »raschen, ausbrechenden« männlich konnotiert werden.293 Vielmehr bewirkt die umfassende, scheinbar geschlechtsneutrale Katalogisierung und Systematisierung der Affekte den Anschein, dass jeglicher Affekt bei allen Figuren, gleich welchen Geschlechts, denkbar ist. Die actio-Rhetoriken argumentieren damit weit weniger normativ als etwa die späteren Anstandsbücher, die eine Auswahl an bestimmten, männlich oder weiblich konnotierten Affekten treffen und diese geschlechtsdifferenziert als ›Anstand‹, als körperlich sichtbare Tugend, vorschreiben. Redner und Schauspieler Zu den Redesituationen, die die Theorie der körperlichen Beredsamkeit erfasst, zählt Cludius nicht die ›künstlerischen‹ wie Gesang, Tanz und Lyrik, sondern die ›alltagssprachlichen‹ wie das schauspielerische Rezitieren oder oratorische Deklamieren. Redner und Schauspieler brauchten das Studium der actio in besonderem Maße. Allerdings hält Cludius durchaus fest, dass zwischen theatralischer und oratorischer Deklamation ein großer Unterschied besteht. Während der Schauspieler verschiedene Charaktere und die ganze Bandbreite ihrer Empfindungen in allen möglichen Graden und Mischungen vorstellen müsse, die in unterschiedlichen Situationen akut entstehen, spiele der Redner nur sich selbst, zeige nur die guten, würdigen und schönen Empfindungen und erscheine gut vorbereitet vor einem Publikum, das er ›rühren‹ und ›bewegen‹ wolle.294 Vor diesem Publikum darf der Redner nur »Anstand und Würde«295 zeigen. »Unanständigkeit in der Deklamation, als Nachlässigkeit, Andern nachsprechen u. s. f. verräth [dagegen] schlechte Sitten«296. ›Andern nachsprechen‹, also beim Vortrag Stimmen zu imitieren, gilt für den Redner (oder Vorleser) als unangemessen. Es ist signifikant, dass hier als Beispiele besonders unpassender Imitationen solche angeführt werden, die eine geschlechtliche und soziale Differenz anzeigen:

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Geschlechtscharakter. In: Conversations-Lexikon oder Handwörterbuch für die gebildeten Stände, Bd. 4, 3. Aufl., Leipzig, Altenburg 1815, S. 211, zit. n. Hausen, Die Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹, S. 366. Vgl. Cludius, Grundriß der körperlichen Beredsamkeit, S. 217. Cludius, Grundriß der körperlichen Beredsamkeit, S. 218. Cludius, Grundriß der körperlichen Beredsamkeit, S. 218.

Was würden wir doch von dem sagen, der uns ein Schauspiel vorläse, und, wenn ein Mädchen redete in Diskant, ein altes Weib in quäkendem Alt, ein grober Bauer mit rauer Kehle u. s. f. spräche?297

Diese Zusammenstellung ›nichtrhetorischer‹ Stimmen erinnert an die Warnung Quintilians, der Knabe dürfe niemals unpassende Vorbilder imitieren und »mit dünner Weiberstimme unmännlich säuseln oder wie ein Greis zittern«.298 Vielmehr ist die ›Würde‹ darzustellen, die der Redner-Rolle damit erneut eingeschrieben wird: »Der Redner spielt seine eigene Rolle und muss jederzeit eine würdige spielen«299. Diese Würde scheint nicht nur mit der Imitation generell (zumal wenn diese als Geschlechterverwirrung parodistische Züge annimmt) unvereinbar zu sein, sondern auch mit traditionell nicht in der Redner-Position vorgesehen Subjekten wie Mädchen, Frauen und Bauern. Während diese als Figuren im Schauspiel auftreten, scheinen sie nach wie vor von der Redner-Rolle ausgeschlossen zu sein. Im Theater geht es weniger um die Erzeugung von Geltung und Ansehen, insofern der Schauspieler nicht wie der Redner ›für sich‹ spricht. Zwar wollen Redner und Schauspieler jeweils Beifall erhalten; was im Theater Gehör findet und Ansehen stiftet, ist jedoch nicht das Gleiche wie auf der Rednerbühne oder in der Gesellschaft. Es geht auf der Rednerbühne nicht nur darum, ob man Affekte richtig zeigt, sondern ob man die richtigen Affekte zeigt – und zwar aus einer stark eingegrenzten, für den Redner als angemessen befundenen Palette. Dies hat Konsequenzen für die Einbeziehung von Weiblichkeit in die Theorie. Wenn Würde die primäre mit der Redner-Rolle verbundene Eigenschaft ist, die dargestellt werden soll, ist fraglich, ob die Frau ›Würde‹ gleichermaßen verkörpern kann wie der traditionell mit dieser Eigenschaft konnotierte Mann. Ars und natura Angesichts des zentralen Natürlichkeitspostulats der Aufklärung stellt sich die Frage, wie sich die auf eine wirkungsorientierte Präzisierung und Regulierung der körperlichen Beredsamkeit bedachten actio-Rhetoriken zum Begriff der ›Natürlichkeit‹ positionieren (lassen). Cludius und Pfannenberg beschränken sich nicht auf eine ›Theorie‹ der körperlichen Beredsamkeit, sondern geben pädagogische Anleitungen zur Redepraxis. Cludius macht ausführliche Angaben, wie rhetorische Übungen mit steigendem Schwierigkeitsgrad aufzubauen sind.300 Am Schluss steht

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Cludius, Grundriß der körperlichen Beredsamkeit, S. 209. Quint. Inst. I, 11, 1f. Cludius, Grundriß der körperlichen Beredsamkeit, S. XXXV. Cludius sieht eine Stufenfolge vor: Der Jüngling soll zuerst laut lesen, damit seine richtige und angenehme Aussprache und Akzentuierung korrigiert werden kann. Dann soll ihm anhand verschiedener Textsorten – Briefe, Erzählungen, Geschichten, Gespräche, Aufsätze und Reden – die jeweils angemessene Stilhöhe gezeigt werden. Anschließend soll die Deklamation mit der Aktion verbunden werden und wieder anhand verschie-

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die Königsdisziplin, der freie Vortrag einer Rede »mit allem, was zur körperlichen Beredsamkeit gehört«.301 In Verbindung mit einer ganzheitlichen, psychologisch vorgehenden Kritik des Lehrers führe dieses Vorgehen zur »Bildung«302 des Jünglings. Gerade auch diese pädagogische Ausrichtung steht einem Verständnis einer Körpersprache, die natürlicher Ausdruck der Seele sein will, entgegen. Cludius, den Ursula Geitner für rückwärtsgewandt oder geradezu rebellisch hält303, wendet sich explizit gegen das Argument, »dass den Redner und den Schauspieler, wie den Dichter, allein die Natur bilde«304 . Stattdessen bemerkt er ganz im Einklang mit der alten Rhetorik: »Bei jeder Kunst kommt es 1) auf natürliche Anlagen 2) auf den geschickten Gebrauch derselben und 3) auf Übung an.«305 Pfannenberg tut sich schwerer mit der Einbeziehung (oder Ausblendung) der – Geitners Auffassung zufolge verbindlichen – Natur- und Identitätspostulate seiner Zeit. Die Darstellung der Rhetorikgeschichte dient ihm eher zu einer Anklage der zunehmenden ›Verkünstelung‹ der actio und der eigenen Abgrenzung dagegen, denn nun müsse »alles Gekünstelte, Gesuchte und Zwangvolle« abgelehnt und das »Natürliche, Gefällige, Geist und Herz« gesucht werden: Der Geschmack der Zeiten sei ein anderer.306 Das Wort Natur wird hier nicht der Kunst entgegengesetzt, sondern ich verstehe darunter eine gereinigte, edel dargestellte Natur. […] Und so wie man die Regeln, wornach die körperlichen Kräfte entweder einzeln für sich, oder im Zusammenhange wirken, ebenfalls mit dem Namen der Natur belegt, so begreift Kunst die rechte Anwendung dieser Regeln, oder die durch Übung erworbene Geschicklichkeit, etwas zu einer bestimmten Absicht dazustellen. Sie ordnet die Theile zum Ganzen regelmäßig an, und verbindet sie schicklich zusammen. Sagt man nun, die Aktion müsse Sache der Natur sein, so heißt das so viel: es muß dadurch etwas so wahr und mit so vieler Leichtigkeit und Anmuth dargestellt werden, als es die Beschaffenheit der Materie erlaubt, und eine gute Bildung des Menschen fodert.307

Was die ›gute Bildung‹ betrifft, so scheint Pfannenberg trotz seines unscharfen Begriffs von ›Natur‹308 besonders die traditionsreiche rhetorische Übung der imitatio

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dener Textsorten durchgespielt – d. h. (im Sinne einer Steigerung) gelesen, rezitiert und vorgetragen – werden. Cludius, Grundriß der körperlichen Beredsamkeit, S. XL. Cludius, Grundriß der körperlichen Beredsamkeit, S. XLI. Geitner, ›Die Beredsamkeit des Leibes‹, S. 186. Cludius, Grundriß der körperlichen Beredsamkeit, S. XXV. Cludius, Grundriß der körperlichen Beredsamkeit, S. XXVIIf. Pfannenberg, Über die rednerische Action, S. 33. Pfannenberg, Über die rednerische Action, S. 223f. Bereits der zeitgenössische Rezensent bemerkt kritisch, dass in Pfannenbergs Über die rednerische Action »die Natur nicht gehörig von der Kunst unterschieden wird. Dass die Action die Kunst sey, den schönen Schein einer Gemüthstimmung durch Gebehrden und Mienen zu vollenden, hat sich der Vf. nirgends deutlich gedacht; daher er von der Kunst häufig so spricht als ob sie Natur wäre.« Anonym, Rezension zu: Pfannenberg, Über die rednerische Action (1796), Sp. 813.

suspekt zu sein – widerspricht sie doch zunächst einmal dem Ideal der ›Natursprache‹. Denn die imitatio, die äußerliche Nachahmung eines Vorbilds, setzt nicht bei der ›Herzensbildung‹ an, von der erwartet werden könnte, ›natürlicherweise‹ eine perfekte actio hervorzubringen, sondern sie setzt auf der Darstellungsebene an. Zwar sollte der junge Schüler zwischen vierzehn und zwanzig Jahren schon einen ausgewählten großen Redner nachahmen – allerdings, so betont Pfannenberg das Moment der Individualität, habe jeder Mensch »sein Eigenthümliches und Besonderes«309, das nicht verdeckt werden dürfe. Pfannenberg reflektiert, dass der Schüler jünger als der erfahrene Redner und sein Körper anders gebildet sei und leitet von diesen ›Natürlichkeiten‹ Unterschiede in der actio ab: Müssen nicht Vorstellungsart, Körperbau, Temperament, lokale Umstände und andere Dinge Natürlichkeiten erzeugen, die von denen anderer Menschen abweichen? Hieraus erhellet denn deutlich, daß es mit der Nachahmung eine schwere und mißliche Sache sei.310

Weder hat die alte Rhetorik diesen Unterschied problematisiert, noch hat sie die Befürchtung gehegt, dass »die Vermischung unsers Eigenthümlichen mit dem des andern ein unharmonisches oder übel zusammenhängendes Ganzes wird«311. Dennoch empfiehlt Pfannenberg den Schülern die traditionelle Übung. Ist schon die imitatio an sich nicht ›natürlich‹, so versucht Pfannenberg die ›Natürlichkeit‹ sowohl den zu imitierenden Vorbildern einzuschreiben als auch der ausgewählten imitierten actio. Zu den vorbildhaften Rednern seiner Gegenwart zählt Pfannenberg solche »würdigen Männer«, die durch ihre »ungekünstelte, natürlich schöne Beredsamkeit« gefallen.312 Und was die actio betrifft, so sollten die Schüler, das Gute, das andere an sich haben, nur insofern nachahmen, als sie sich ihrer Natur nach, in ihnen wieder finden. Eine Abweichung von dem, was dem eigenen Ich nur besonders ansteht, schwächt oder zerstört sonst ganz und gar die Eindrücke, die man auf andere machen könnte. Also bleibt nur eine freie und verständige Nachahmung, die aus Beobachtung mit Reflexion über sich selbst entsteht [...].313

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Pfannenberg, Über die rednerische Action, S. 40. Pfannenberg, Über die rednerische Action, S. 44. Pfannenberg, Über die rednerische Action, S. 46. Gerade diese Problematisierung wäre, übertragen auf die Kategorie ›Geschlecht‹ bedeutsam: Sie hieße, dass eine Rednerin nur eine ebenfalls weibliche Rednerin zum Vorbild wählen könnte – oder andersherum gesagt, dass eine Rednerin, die einen vorbildhaften Redner imitiert, unpassende Körperausdrücke kombinieren und einen unharmonischen Gesamteindruck machen würde. Über diese Problematik macht der Text, der sich ausschließlich an männliche Schüler richtet, jedoch keine Aussagen. Pfannenberg, Über die rednerische Action, S. 35. Pfannenberg nennt explizit: »Saurin, Mosheim, Jerusalem, Spalding, Cramer, Patzke, Sturm, Koppe, Wunster, Schlegel, Werenfels, Többer, Zollikofer, Zöllner usw.« Pfannenberg, Über die rednerische Action, S. 45.

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Der Schüler dürfe nicht ›sklavisch‹ nachahmen, sondern solle sich bemühen, »das ihm Gesagte und Vorgestellte so zu copiren, daß er dabei ohne Zwang seiner Manier folgt, und desto natürlicher seine Äusserungen und Geberden hervorzubringen.«314 Wie diese paradoxe Kombination aus Kopie und Individualität zu einer umso natürlicheren actio führen kann, ist fraglich. Deutlich wird der Versuch, die rhetorische Übungstradition mit dem gegenwärtigen Natürlichkeitsparadigma auszusöhnen, wobei sich der Text in Aporien verstrickt. Eine weitere Übung, die neben der imitatio ebenfalls auf der Darstellungsebene ansetzt, ist die Selbstkorrektur vor dem Spiegel. Auch hier argumentiert der Text widersprüchlich: Würde die richtige Empfindung immer den richtigen Ausdruck hervorbringen, brauchte es keine Korrektur vor dem Spiegel. Pfannenberg sucht die ›Wahrheit‹ der Natur dennoch mit Übungen vor dem Spiegel wieder herzustellen, indem er die Kunst verbirgt: Der Redner hat daher besonders darauf zu sehen, daß Aufrichtigkeit, Wahrheit in seinen Geberden herrschen. Er sollte von Tugend und Laster und überhaupt von keiner menschlichen interessanten Angelegenheit reden, ohne selbst alles richtig zu empfinden; dann würde man auch übereinstimmende Züge davon in seinem Gesicht erkennen. Und bestraft ihn sein Spiegel oder ein gefälliger, der Sache kundiger Freund, der Lügen; so sollte er durch Kunst, aber freilich ohne Absicht verrathende merkbare Kunst, das verbessern, was seinen Reden an Nachdruck und Gewicht fehlt, und ihnen den Stempel der Wahrheit nimmt, oder wenigstens von Gleichgültigkeit zeugt.315

Die Widersprüchlichkeit einer solchen Empfehlung lässt sich auf den Status eines Rhetorikratgebers zurückführen, der einerseits ein Kommunikationsideal wiedergibt, nämlich dass sich die Empfindungen während der Rede natürlicherweise durch den Körper ausdrücken, und andererseits pragmatisch an einer Wirklichkeit orientiert ist, in der oft weder ›richtig‹ empfunden noch ›wahrhaftig‹ ausgedrückt wird. Die actio-Ratgeber stellen mit ihrem Rückgriff auf die wirkungsorientierte Rhetorik in dieser Hinsicht einen Gegendiskurs zum Natürlichkeitsparadigma dar. Ausblick Noch 1816 ist trotz einer zunehmenden Zahl von Schauspielerinnen, Deklamatricen und Pantomiminnen keine geschlechtsspezifische Theorie der körperlichen Beredsamkeit in Sicht. Gustav Anton von Seckendorf stellt in seinen zweibändigen Vorlesungen über Deklamation und Mimik die zeitkritische Diagnose: Den Unterschied des Weiblichen vom Männlichen im mimischen Ausdruck nachzuweisen, wird so bald noch nicht gelingen. Aber auffallend genug, dass man zu sagen pflegt: Leidenschaften entstellen die Züge der Weiber mehr als die der Männer. Dies ist auffallend, denn man kann nicht zugleich sagen, dass Männer zur Leidenschaft mehr geneigt

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Pfannenberg, Über die rednerische Action, S. 39. Pfannenberg, Über die rednerische Action, S. 143.

sind als Weiber und dass man daher mehr gewöhnt wäre an ihnen Leidenschaften zu sehen. […] Vielmehr ist’s wahr, dass Weiber zu Leidenschaften geneigter als Männer, aber gebundener in diesen selbst sind. Brechen sie daher die Bande, so übertreiben sie ihre Natur und werden Zerrbilder, in denen sie sich selbst zerstören ohne männlich zu erscheinen und nach Aussen zu wirken.316

Wie auch immer diese uneindeutige Aussage zu verstehen ist, bleibt eine Sensibilisierung für die Geschlechtsspezifik der actio festzuhalten. Seckendorf argumentiert aus der wirkungsorientierten Perspektive eines Publikums: Die Frau ist nicht weniger leidenschaftlich als der Mann, jedoch wirkt ihre Leidenschaftlichkeit anders – nämlich ›entstellend‹. Wenn Frauen jedoch zu Leidenschaften geneigter sind und zwar ›von Natur aus‹, dann dürfte ihre Darstellung von Leidenschaftlichkeit eigentlich nicht ›als Übertreibung der Natur‹, also ›unnatürlich‹ wirken. Paradoxerweise scheint jedoch genau dies der Fall zu sein, was Seckendorf durch eine ominöse ›Gebundenheit‹ der Frau (an disziplinierende Normen sanfter Weiblichkeit?) zu begründen sucht. Von ›Natur‹ aus ›gebundener‹ (zurückhaltend-weiblicher?), erscheint ihre Darstellung von Leidenschaft als Zerrbild ihrer Weiblichkeit. Die Darstellung von Leidenschaft und von Weiblichkeit schließt sich damit gegenseitig aus und schränkt das weibliche Aktionsspektrum erheblich ein – und zwar, das ist wichtig, durch das Argument der Wirkungsorientierung. Will die Frau überhaupt (in einem positiven Sinn) ›wirken‹, kann sie das nur, wenn sie zugleich ›weiblich‹ wirkt. Jede andere Darstellungsform ergäbe ein geschlechtlich uneindeutiges ›Zerrbild‹, kein mit rhetorischer Wirkmächtigkeit ausgestattetes Subjekt. Wie die Frau in ihrem Redeauftritt zugleich ihre Weiblichkeit aufzuführen hat (und wie der Mann Männlichkeit), darüber geben die in Bezug auf die Darstellung der einzelnen Affekte so ausführlich wie systematisch unterrichtenden actio-Rhetoriken jedoch keine Auskunft. IV.3.3 Einzelfall: Eine Redekunst fürs Frauenzimmer Im Jahr 1768 erscheint in Regensburg die wohl einzige deutschsprachige Redekunst fürs Frauenzimmer des 18. Jahrhunderts.317 Die anonym verfasste Rhetorik stammt aus Frankreich und wird ins Deutsche übersetzt. Die Herkunft der Redekunst fürs Frauenzimmer ist kein Zufall: In Frankreich bildet sich am Anfang des 17. Jahrhunderts mit der höfischen Gesellschaft und dem Salonwesen eine spezifische Gesprächskultur heraus, die eine zwanglose, zweckfreie, scheinbar nachlässige und galante Konversation zusammen mit der körperlichen Inszenierung des bon air umfasst und die in den aristokratischen Salons von Frauen wie Madame de Rambouillet oder Mademoiselle de Scudéry in Vollendung praktiziert wird. Mlle de

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Seckendorf, Vorlesungen über Deklamation und Mimik, Bd. 2, S. 92. Anonym, Die Redekunst fürs Frauenzimmer, aus dem Französischen übersetzt, Regensburg: Johann Leopold Montag 1768.

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Scudéry, die ab 1650 einen preziösen Salon führt, tritt dabei nicht nur als gebildete Gesprächsteilnehmerin, sondern auch als erste weibliche Theoretikerin der geselligen Konversation in Erscheinung.318 So steht die Redekunst fürs Frauenzimmer in einer Tradition aus Frankreich, die weiblichem Wissen um die Kunst der Rede weniger distanziert gegenübersteht als die deutsche.319 In der deutschen zeitgenössischen Kritik kommt dieser Einzelfall einer Rhetorik speziell für Frauen schlecht weg. Eine Rezension in der Allgemeinen neuen deutschen Bibliothek erklärt, dass und warum Frauen andere Rhetoriken brauchten: Eine ›Frauen-Rhetorik‹ müsse vor allem auf die Nützlichkeit im allgemeinen Le-

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Die Konversation spielt sowohl in Madeleine de Scudérys je zehnbändigen Romanen Artamène ou le grand Cyrus (1649–1653) und Clélie, histoire romaine (1654–1660), als auch in den ebenso umfangreichen späteren Conversations und Entretiens (1680–1692) eine wichtige Rolle. Vgl. Delphine Denis, La muse galante. Poétique de la conversation dans l’œuvre de Madeleine de Scudéry, Paris 1997; Baader, Dames de Lettres. Autorinnen des preziösen, hocharistokratischen und ›modernen‹ Salons (1649–1698): Mlle de Scudéry – Mlle de Montpensier – Mme d’Aulnoy; vgl. insbesondere zur Umdeutung und Reinterpretation von Scudérys Konversationstheorie im deutschen ›galanten Diskurs‹ um 1700: Florian Gelzer, Konversation und Geselligkeit im ›galanten Diskurs‹ (1680–1730). In: Konversationskultur in der Vormoderne. Geschlechter im geselligen Gespräch, hg. von Rüdiger Schnell, Köln, Weimar, Wien 2008, S. 473–524. Den Kulturtransfer mit besonderer Rücksicht auf die (Gesprächs-)Rhetorik und Geschlecht zwischen Frankreich und Deutschland zu untersuchen, wäre eine zukünftige Forschungsaufgabe, die diese Arbeit nicht leisten kann. Einen Anfang machen: Anna Eder, Das liebenswürdige Geschwätz meines Geschlechtes. Frauengespräche in Texten italienischer, französischer und deutscher Autorinnen. Von Vittoria Colonna bis Johanna Schopenhauer, Frankfurt a. M. 1997. Eder untersucht textimmanente Frauengespräche in Sonetten und Canzonen italienischer Petrarkistinnen und in Romanen französischer Schriftstellerinnen des 17. Jahrhunderts als literarisches Verfahren und belegt deren Einfluss auf deutsche Romane und Erzählungen des 18. Jahrhunderts, allerdings ohne einen rhetorischen Blickwinkel auf die Frauengespräche einzunehmen. Gerhard R. Kaiser, Olaf Müller (Hg.), Germaine de Staël und ihr erstes deutsches Publikum. Literaturpolitik und Kulturtransfer um 1800, Heidelberg 2008. Der Band beleuchtet als Beispiel wechselseitiger produktiver Rezeption Mme de Staël sowohl als »Objekt des französisch-deutschen« als auch als »Agentin des deutsch-französischen Kulturtransfers«. Ohne gender-Bezug, jedoch forschungsprogrammatisch in Bezug auf Konversationsbücher, Anstandslehren und Rhetoriken aufschlussreich: Martina Drescher, Robert Dion, Konversationsbücher als Instanzen des Kulturtransfers. In: Französisch-deutscher Kulturtransfer im ›Ancien Régime‹, hg. von Günter Berger, Franziska Sick, Tübingen 2002, S. 187–207. Zum Begriff ›Kulturtransfer‹ sowie der darin enthaltenen Forschungsprogrammatik, die weniger die parallele und heterogene Hervorbringung von Wissen in den Blick nimmt, sondern zahlreiche Verknüpfungen und Übergänge untersucht, vgl. die Einführung der Herausgeber Hans-Jürgen Lüsebrink, Rolf Reichardt, Kulturtransfer im Epochenumbruch Frankreich-Deutschland 1770–1815, Leipzig 1997, S. 9–26; Joseph Jurt, Das wissenschaftliche Paradigma des Kulturtransfers. In: Französischdeutscher Kulturtransfer im ›Ancien Régime‹, hg. von Günter Berger, Franziska Sick, Tübingen 2002, S. 15–38.

ben ausgerichtet sein.320 Frauen führten Konversationen, schrieben Briefe und sollten über literarischen ›Geschmack‹ verfügen, heißt es, – aber hielten keine Reden. Doch bevor die zeitgemäße kritische Reaktion auf die Redekunst fürs Frauenzimmer untersucht wird, soll die Konzeption und Argumentation dieser geschlechtsspezifischen Rhetorik vorgestellt werden. Die Redekunst fürs Frauenzimmer ist dem Aufbau nach eine klassische Rhetorik: Im ersten Teil werden die drei genera orationis benannt, dann die fünf officia beschrieben, wobei auf die actio die weitaus größte Seitenzahl entfällt. Es folgen vier partes orationis, die drei Stilarten und ein Exkurs zur ›lustigen Schreibart‹, der Spötterei321. Im zweiten Teil werden ausführlich einige ausgewählte Figuren vorgestellt. Im Vorwort eignet der galante Verfasser die Rhetorik einer Dame zu, die diese »so eifrig von mir verlanget« habe.322 Madame, ein Name wird nicht genannt, scheint außerordentlich gebildet gewesen zu sein, wie mehrere Hinweise auf ihre Plutarch-Lektüre oder auf eine bereits für sie verfasste Grammatik zeigen.323 Um den Beifall seines weiblichen Publikums zu gewinnen, setzt sich der Verfasser das Ziel, viele Beispiele vorzubringen, um damit abstrakte Regeln verständlich zu ma-

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Anonym, Rezension zu: Die Redekunst fürs Frauenzimmer (1768). In: Allgemeine Deutsche Bibliothek, 7/2, 1768, S. 274–275. Offenbar hat Madame Einfluss auf die Konzeption des Rhetorikbüchleins genommen, was die Hinzufügung des ›lustigen Stils‹ betrifft. »Ich gestehe es Ihnen, Madame, da es mir nicht eingefallen wäre, Ihnen von der Spötterey etwas zu sagen, wenn sie nicht gespottet hätten, daß ich in dieser Redekunst davon zu handeln vergessen hätte, als ich Ihnen den Plan dazu zeigete. Wenn ich also spotten wollte, so könnte ich Ihnen sagen, daß Sie mir Gelegenheit dazu gegeben haben, ob Sie gleich davon völlig sicher zu seyn scheinen.« Anonym, Die Redekunst fürs Frauenzimmer, S. 102. Das Scherzen, die raillerie, nimmt insbesondere in der französischen Konversationstheorie (z. B. bei Mlle de Scudéry) einen wichtigen Raum ein, womit die – in der Systematik der alten Rhetorik so nicht vorgegebene – Sonderstellung dieses Kapitels in der Rhetorik fürs Frauenzimmer zu erklären ist. Die Fähigkeit zum Scherzen und harmlosen, niemals verletzenden Spott dient der Erzeugung einer ›gewissen Fröhlichkeit‹ der Konversation, die niemals ins allzu Ernste oder Langweilige abgleiten sollte. Vgl. dazu Gelzer, Konversation und Geselligkeit im ›galanten Diskurs‹ (1680–1730), S. 485f. Anonym, Die Redekunst fürs Frauenzimmer, S. 3. Wie allgemein üblich gibt auch dieser Verfasser an, sein Werk zunächst nur für die Augen seiner Herrin und nicht für ein öffentliches Publikum verfasst zu haben, weshalb er auch durchgängig nur Madame – und nicht eine breitere Leserschaft – anredet. Explizit geht es dem Verfasser nicht um den Beifall »des Publicums«, nicht darum, »was die hundert Mäuler des Rufs geben«, sondern nur um Madames Beifall. Der Titel des französischen Originals ließ sich nicht ermitteln. Vielleicht hieß die Redekunst im Original »pour Madame«, dann bezöge sich der Titel mehr auf die Widmung an eine spezifische Frau als auf eine breitere Ausrichtung der Rhetorik ›ans Frauenzimmer‹ generell, wie der deutsche Titel vermuten lässt. »Erinnern Sie sich nicht eines Streites Madame, den Phocius hatte, und den Sie im Plutarch gekannt haben?« (Anonym, Die Redekunst fürs Frauenzimmer, S. 18) »Ich würde mich nicht unterstanden haben, Madame, Ihnen diese Alten anzuführen, wenn Sie nicht einige davon den Namen nach, die andern aber aus der Übersetzung des Plutarchs kenneten.« (S. 106)

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chen, sowie die berühmtesten Schriftsteller – aus der Antike ebenso wie aus der französischen Gegenwart324 – zu zitieren, um seinen Ratgeber unterhaltsam zu gestalten. Docere und delectare gleichermaßen berücksichtigend, betont der Verfasser: Ich habe endlich nicht vergessen, Ihnen diese Redekunst durch Anführung schöner Beyspiele, und durch eingestreuete lustige Stellen, in gewissen Materien, die an und für sich schläfrig sind, angenehm zu machen, um mir dadurch Ihren Beyfall zu erwerben.325

Diese Vorgehensweise dient nicht nur der Verständlichkeit und der Kurzweil, sondern hat einen geschlechtsspezifischen Hintergrund: Offenbar wird von einer gebildeten Frau nicht die gleiche ausdauernde Herangehensweise an eine ›trockene‹ wissenschaftliche Materie und an die »scholastischen Figuren«326 erwartet wie von einem gebildeten Mann. Immer wieder ist der Verfasser besorgt, Madame mit seinen Ausführungen ekeln, langweilen oder überfordern zu können. Dennoch wählt er keine von klassischen Rhetoriken maßgeblich abweichende Darstellungsform. Weder wird eine spezifische inhaltliche Auswahl getroffen, um die Redekunst an die Lebensumstände einer Madame anzupassen, noch werden Begriffe oder Zusammenhänge vereinfacht. Vielmehr hält sich der galante Verfasser äußerst konservativ an das hergebrachte rhetorische System und entschuldigt sich wiederholt für die umfangreiche, abstrakte und systematische Materie: Obgleich die Gegenstände, wovon man reden kann, weitläuftig sind, so haben sie doch die Alten auf drey Gattungen gesetzt, welche sie die gerichtliche, die erweisende und die rathschlagende Gattung genennet haben. Werden Sie nicht etwa über diese Worte verdrüßlich, die ein wenig nach der Schule schmecken; ich will mir Mühe geben, Ihnen den Geschmack zu benehmen, der den Personen Ihres Geschlechts eben nicht sonderlich gefällt.327

Nicht der Stoff wird an das weibliche Publikum angepasst, sondern die Art und Weise, wie der Stoff vermittelt wird. Weibliche Metaphern Neben dem Versprechen, die Lektüre durch Beispiele verständlich und durch lustige Anekdoten unterhaltsam zu gestalten, ist bemerkenswert, dass viele der Beispiele, Vergleiche, Metaphern und Allegorien, die der Verfasser wählt, die Rhetorik selbst als Frau figurieren und den Redeschmuck als weibliche Kleidung. Sowohl die Bekleidungsmetapher als auch die Figuration der Rhetorik als (weiblicher) Körper

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Neben Aristoteles, Cicero, Quintilian, Juvenal, Catull, Plutarch etc. zitiert der Verfasser u. a. Honoré de Balzac, François de la Rochefoucauld, Honoré d’Urfé und Madeleine de Scudéry. Die Rhetorik, um die es dem Verfasser geht, ist nicht nur eine Kunst der mündlichen Rede, sondern gerade auch der literarischen Produktion und Rezeption. Anonym, Die Redekunst fürs Frauenzimmer, S. 6. Anonym, Die Redekunst fürs Frauenzimmer, S. 125. Anonym, Die Redekunst fürs Frauenzimmer, S. 12f.

sind topisch – die wiederholte Ausstellung dieser Figuren legt jedoch nahe, dass sie mit Bedacht gewählt wurden, um die Rhetorik der ausnahmsweise weiblichen Adressatin näher zu bringen. Die Bildlichkeit der Metaphern greift zum Teil konkrete Bilder aus der zeitgenössischen Lebenswelt von Madame auf und erscheint so in besonderem Maße geeignet, ihr die Begriffe ›vor Augen zu führen‹ (sub oculuos subiecto). Der Verfasser entwirft die Rhetorik als vornehme, keusche, vernünftige und schöne Frau, die durchaus dazu in der Lage gewesen sein mag, die Sympathie von Madame zu erwecken (oder gar auf galante Weise mit ihr gleichgesetzt zu werden). Man muß also die Beredsamkeit als eine vornehme Prinzessin ansehen, der man sich bey schlechten Gelegenheiten nicht bedienen muß. Sie ist zu keusch, als daß sie bey allerhand Gegenständen sollte gemisbrauchet werden; und zu vernünftig, als daß sie ihre Zierrathen anwenden solle, Ungeheuer zu verschönern, und ihre Blumen, das Laster zu schmücken.328

Während die Redekunst mit weiblichen Tugenden und einem weiblichen Leib ausgestattet wird, bleibt der Redner dagegen männlich imaginiert und wird in ein libidinös aufgeladenes Verhältnis zur ›Dame Rhetorik‹ gesetzt. Zu den weiblich codierten Figurationen gehört auch die Bekleidungsmetaphorik. Die – immer weibliche – Kleidung dient mehrfach als Metapher für den rhetorischen Schmuck, so auch in der Darstellung der drei Stilarten. Der hohe Stil wird mit einer übertrieben glänzenden Verzierung der weiblichen Kleidung gleichgesetzt, während der mittlere Stil durch den männlichen Körper figuriert wird: Die Beredsamkeit, die zu sehr geschmückt ist, wird bisweilen lächerlich, und erinnert mich an den Rock einer gewissen Frau, der so mit Gold und Silber beschweret war, daß sie ein Mann fragte, welcher Goldschmidt ihn gemacht hätte. Es ist auch nicht genug, daß der Körper einer Rede fleischicht sey, er muß auch Nerven und Muskeln haben, und mit der lebhaften Farbe gefärbet seyn, welche nicht von der spanischen Schminke herkommt, sondern vom Blute und von der Gesundheit. […] Diese [mittlere] Schreibart ist männlich, nervös und hasset alles affektirte Wesen.329

Den topischen Vergleich der ›guten‹ Rede mit dem muskulösen, sehnigen, männlichen Körper330 ergänzt der Verfasser durch eine zeitgenössische Anekdote vom überladen geschmückten Rock. Weiblich konnotierte Oberfläche und männlich konnotierte Tiefe werden einander gegenüber gestellt. Eben diese Praxis der Ergänzungen der alten Rhetorik durch zeitgenössische Beispiele (u. a. aus der aktuellen Mode) führt dazu, konventionalisierte topische Ausdrücke spielerisch ›beim Wort zu nehmen‹ und deren rhetorische Beschaffen-

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Anonym, Die Redekunst fürs Frauenzimmer, S. 45. Anonym, Die Redekunst fürs Frauenzimmer, S. 92ff. Vgl. zu dieser topischen Engführung eines ›guten‹, attischen, männlich konnotierten Stils mit dem männlichen (virilis), harten (durus) und muskulösen (nervosus) Körper: Parker, Virile Style; sowie Kapitel III.2 (»Einleitung«).

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heit auszustellen. Dabei wird nicht nur die sinnbildhafte Logik demontiert, es kann auch die implizite geschlechtsspezifische Markierung durchbrochen werden. Ein solcher witziger Umgang mit der hergebrachten Metaphorik findet sich zum Beispiel, um die Angemessenheit der Teile einer Rede in Bezug aufeinander bildlich darzustellen und vor dem Fehler zu warnen, einer kleinen Rede einen großen Anfang voranzustellen: Wenn man von den Werken des Plato, sagt der Herr von Balzac, die großen Eingänge und seine beschwerlichen Ausschweifungen wegnähme, so würden sie den kleinen ausgekleideten Weibern ähnlich seyn, welche, wenn sie ihren Kopfputz und ihre hohen Schuhe abgeleget haben, nur noch die Hälfte von sich selbst sind.331

Der Witz dieses amüsanten zeitgenössischen Zitats entsteht vor allem dadurch, dass nicht wie üblich von der Bekleidung (einer Sache in Worte und einer Frau in prächtige Kleider) die Rede ist, sondern von der Entkleidung und Verkleinerung der Frau. Die Umkehrung der Schmuck-Metapher scheint den Vorgang der Metaphorisierung selbst ins Lächerliche zu ziehen. Noch eine zeitgenössische Kleidungs-Analogie überwindet die traditionelle Geschlechterzuschreibung in der Metaphorik – an die Darstellung des mittleren Stils fügt der Verfasser folgendes Beispiel aus seiner Lebenswelt an: Allein ob diese [mittlere] Schreibart gleich nicht so geputzt ist, als die, wovon ich geredt habe [der hohe Stil], so hat sie doch ihre Annehmlichkeiten. Wie viel Bürgermädchen, die in Griset gekleidet sind, siehet man nicht, die liebenswürdiger sind, als Prinzeßinnen, die mit prächtigen Kleidern gezieret sind.332

Hier wird die weibliche Kleidung einmal nicht in Anspruch genommen, um die Ränder der ›guten‹, männlichen Rhetorik zu figurieren, sondern der schlichte, bürgerlich-weibliche Aufzug steht für den angemessenen, mittleren Redestil. Die Grenze wird nicht zwischen den Geschlechtern, sondern zwischen den Ständen eines Geschlechts, des weiblichen, gezogen. Während der männliche, muskulöse und sehnige Körper als Findeort für die gute, inhaltlich prägnante und in sich geschlossene Rede dient, verschwindet der weibliche Körper hinter dem Schmuck der Kleidung, die je nach Standeszugehörigkeit entweder als Findeort für die schlechte, überbordende Rede oder – und das ist neu – die gute, durch Natürlichkeit bestechende Rede dienen kann.

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Anonym, Die Redekunst fürs Frauenzimmer, S. 72. Es folgt eine Bezugnahme auf Gesprächssituationen der galanten Liebesrede, die Madames Lebenssituation betreffen könnten: »Allein, Madame, wenn die langen Eingänge in der Redekunst verbothen sind, so sind sie doch in der Liebe erlaubt, und in der schönen Galanterie kann ein Liebhaber, um seine Liebste zu einer Erklärung vorzubereiten, lange Zeit durch seine Blicke und Seufzer vorspielen, ehe er ihr sagt, ich liebe.« (S. 73) Anonym, Die Redekunst fürs Frauenzimmer, S. 95.

Galante Rhetorik Zu der Art und Weise der Anpassung des Stoffes an das weibliche Publikum gehört auch die Galanterie des Verfassers, der ein ums andere Mal Liebeserklärungen und Komplimente an Madame, Beschreibungen seiner eigenen unglücklichen Situation, nicht erhört zu werden, sowie Seitenhiebe auf andere Galane einflicht und sich geistreich darauf versteht, diese galanten Bemerkungen zur Bebilderung der rhetorischen Mittel zu benutzen. Die Abfassung eines Rhetorikratgebers bietet dem Verfasser nicht nur die Gelegenheit, zwischen den Zeilen seine Liebe zu Madame zu bekunden, sondern die Mittel der Rhetorik werden ostentativ als Werkzeuge der Verführungsrede eingesetzt und die Liebesbekundungen als genuin rhetorische ausgestellt. Die galante Beschreibung der Rhetorik und die Rhetorizität der Galanterie fallen zusammen. Verfasser, Adressatin und Rhetorik treten dabei in ein amouröses Wechselverhältnis, bei dem die Adressatin ein Mittel ist, über Rhetorik und die Rhetorik ein Mittel ist, über die Adressatin zu sprechen. So nutzt der Verfasser die Beschreibung der Apostrophe, einer Gedankenfigur, mit der die Abwendung des Redners vom Publikum und die Zuwendung zu Abwesendem bezeichnet wird, um (durch die Anrede der Apostrophe, die wiederum aufgefordert wird, Madame anzureden) seine Liebe zu Madame als rhetorisches Spiel zu inszenieren. Daß ich Ihnen diese Beyspiele anführe, Madame, geschieht blos zu Ihrem Vergnügen, und nicht zu Ihrem Unterrichte: denn wie oft haben Sie sich dieser Figur nicht bedienet, wenn Sie die Liebe angeredet, und sie herausgefodert haben, Ihnen jemals ihre Verletzungen empfinden zu lassen? Ich setze nur noch hinzu, daß man alles in der Welt durch diese Figur anreden könne; so daß ich auch die Apostrophe selbst hier anreden und sagen kann: […] Du, der du alles anredest, rede doch auch Madonten an, und schäme dich nicht, sie zu unterhalten, weil auch Könige über eine solche Ehre eyfersichtig seyn würden: du must sie aber blos belustigen wollen, denn sie ist gelehrter als du; laß dir also ja nicht einfallen, ihr Unterricht geben zu wollen.333

Wiederholt führt diese amouröse Verflechtung dazu, Madame in eine Beziehung zu den beschriebenen rhetorischen Figuren zu setzen, Vergleiche zwischen der Frau und der Rhetorik anzustellen. Rhetorische Figuren werden als weibliche Figuren gedacht und darüber wird eine Engführung der Frau mit der Figur möglich, zum Beispiel auch und gerade dann, wenn der Verfasser die Nichtkongruenz von Madame und der Prosopopoiia, jener Figur, mit der der Redner den Toten oder Abwesenden ein Gesicht und damit eine Stimme verleiht, behauptet. Allein, schönste Madame, ich bemerke, daß diese Figur nicht allzu viel Ähnlichkeit mit Ihnen hat. […] Oder um mich besser zu erklären, daß diese Figur und Ihre Augen nebst ihren verschiedenen Wirkungen einander gar nicht ähnlich sind: denn sie weckt

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Anonym, Die Redekunst fürs Frauenzimmer, S. 176.

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durch redende Bezauberungen die Todten wieder auf: Ihre Augen hingegen bringen die Lebendigen durch geheime Bezauberungen um.334

Während den rhetorischen Figuren Apostrophe und Prosopopoiia hier eine Stimme verliehen wird, ist es die Frau, die zum Verstummen gebracht wird. Madames Augen bezaubern nicht ›redend‹, sondern ›geheim‹, das heißt ›stumm‹. Ihr verstummter Körper dient als Findeort (Topos) der Rhetorik. Obwohl anzunehmen wäre, dass eine Rhetorik ihre Adressat/innen ermächtigen sollte, selbst überzeugend zu reden, bietet die Redekunst fürs Frauenzimmer zunächst eine Bühne für den Verfasser, um Madame galante Reden zu halten und damit seine eigene rhetorische Kennerschaft zu beweisen. Die Seele der Rede: actio Während diese galante Figuration der Rhetorik als Frau/Madame die Körperlichkeit der Rede vor Augen führt, bleiben die Ausführungen zur actio – ebenso wie zu den anderen officia – recht oberflächlich und auf die Wiedergabe antiker Vorgaben beschränkt. Spezifisch männliche oder weibliche Vorschriften werden nicht gemacht, stattdessen folgt die altbekannte Anweisung zum rechten Maß der Mitte: Die Stimme dürfe nicht zu laut oder leise, zu hoch oder tief, zu schnell oder langsam und nicht zu gleichförmig sein. Stimme, Gestik und Mimik müssen sich nach dem Gegenstand richten. Zu Gebärden, Haltung und Bewegung vermerkt der Verfasser: Dieses ist ein Theil, den man die Seele der Rede nennen kann, weil sie ohne denselben kalt und unbelebt seyn würde. Er bestehet in angenehmen und natürlichen Manieren, in einer freyen Stellung und in den Bewegungen der Hand und des Arms, welche den Reden gemäß eingerichtet werden müssen.335

Diese äußerst unscharfe Beschreibung336, die weder eine Auflistung der einzelnen Körperteile und ihrer jeweiligen Funktionalisierung im Verlauf der Rede noch eine detaillierte Beschreibung einzelner Gesten enthält, wird ergänzt durch die bekannte Warnung vor zu starken Bewegungen und die Aufforderung, Gefühle und Gesinnungen vor allem durch die Mimik zu zeigen. Es folgen die topischen Erwähnungen des Horaz’schen si vis me flere und der Demosthenes-Anekdote, dass die actio den ersten, zweiten und dritten Rang für das Gelingen einer Rede einnehme.337 Hinzugefügt wird ein Zitat von de la Rochefoucauld, dass der unwissendste,

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Anonym, Die Redekunst fürs Frauenzimmer, S. 180. Anonym, Die Redekunst fürs Frauenzimmer, S. 64f. Diese oberflächliche Beschreibung der actio scheint vor allem der Kürze aller Darstellungen der einzelnen officia geschuldet zu sein und weniger der Unkenntnis des Verfassers, der an anderen Stellen umfangreiche Kenntnisse von Cicero und Quintilian beweist. Balzac wird unterstellt, die Redewendung von den ›geschwätzigen Händen‹ erfunden zu haben, die allerdings auf Cicero und Quintilian zurückgeht, vgl. Cic. Off. 59; Quint. Inst. XI, 3, 122.

aber leidenschaftliche Mensch besser überreden könne als der rhetorisch geschulte ohne Leidenschaft. Was der Frau in der Redekunst über die actio vermittelt wird, enthält also keine geschlechtsspezifischen Aktualisierungen. Auch das ist eine Erkenntnis, die weniger belegt, dass zur Entstehungszeit von einer geschlechtsneutralen actio ausgegangen werden kann, sondern die eher die Frage aufwirft, warum die an anderer Stelle durchaus einbezogenen zeitgenössischen Ergänzungen nicht auf die Konzeption der actio übertragen werden – zumal die actio nicht nur auf die öffentliche Rede, sondern auch auf die Konversation bezogen werden kann, an der Frauen ja rege teilnehmen.338 Es scheint der Redekunst fürs Frauenzimmer eher darum zu gehen, ein Wissen über die (alte) Rhetorik zu vermitteln, als zu einer auf Nützlichkeit im alltäglichen Leben bezogenen Redepraxis zu ermächtigen. Darum wird auch die alte Rhetorik zusammen mit ihrem geschlechtsneutralen Selbstentwurf fortgeschrieben. Eine deutsche Kritik an der Redekunst fürs Frauenzimmer Der Ort in der Rhetorik, an dem die Kategorie ›Geschlecht‹ traditionell ausführlich verhandelt wird, ist die Lehre vom äußeren aptum, von der Anpassung der Rede an den Redner/die Rednerin und an ein (auch geschlechtlich) heterogenes Publikum. Auch der Verfasser der Redekunst fürs Frauenzimmer erläutert, dass die Rede nicht nur zu Zeit und Ort, sondern auch zum Publikum passen müsse. Sein Beispiel: Ein Künstler in Äthiopien müsse die Venus schwarz malen, »um sich nach dem Geschmacke der Mohren zu richten, bey welchen diese Farbe die höchste Schönheit ist. Also muß auch eine Rede mit den Personen, mit welchen man redt, in einem richtigen Verhältnisse stehen.«339 Der Verfasser erwähnt weiter, dass Schriftsteller beachten müssten, eine jede Person nach ihrem Stand reden zu lassen. Die an dieser Stelle zu erwartende Rede über das Geschlecht wird jedoch übergangen. Dabei ließe sich diese Regel durchaus auf die Abfassung der Redekunst fürs Frauenzimmer anwenden. Um im Bild zu bleiben, hätte angenommen werden können, dass der Verfasser eine ›schwarze‹ Redekunst entwirft, eine, die dem ›anderen‹ Geschlecht ebenso angemessen ist, wie die Venus dem ›anderen‹ Volk. Die Redekunst fürs Frauenzimmer stellt jedoch eher den Versuch dar, die – klassische und sich selbst als geschlechtsneutral begreifende – Kunst der Rhetorik einer Frau zuzueignen, als dass sie den Anspruch erhebt, eine geschlechtsspezifische Redekunst zu entwer-

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Der actio-Teil unterscheidet nicht explizit zwischen Redeauftritten in der Öffentlichkeit oder in Gesellschaften, ebenso wenig wie die Redekunst fürs Frauenzimmer generell zwischen literarischer und oratorischer Beredsamkeit oder Rhetorik und Konversation differenziert. Wenn auch die Redekunst in der Hauptsache die alte officia-Rhetorik wiedergibt, die sich auf den öffentlichen Redeauftritt bezog, so zeigen Beispiele aus der Literatur und Konversation eine beiläufige Ausweitung der Redekunst auf diese Bereiche. Anonym, Die Redekunst fürs Frauenzimmer, S. 85.

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fen, die auf die sozialhistorischen Möglichkeiten der Frau, das Wort zu ergreifen, zugeschnitten wäre. Genau dies wird jedoch in einer Rezension in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek kritisiert: Eine Redekunst fürs Frauenzimmer müßte noch wohl besser eingerichtet, und mit größerer Wahl und Rücksicht auf dasjenige, was diesem Geschlechte in der That nützlich seyn kann, ausgearbeitet werden. Die Bildung des Geschmaks und die Schreibart würde ohne Zweifel das Vorzüglichste seyn, worauf man in einer solchen Anweisung sein Augenmerk zu richten hätte. Denn, was kann einem Frauenzimmer eine Rhetorik nach dem gewöhnlichen Leisten helfen, die von dem Bau einer ordentlichen Rede, von der Eintheilung derselben in die gerichtliche und andere Gattungen, von der Stellung der Beweise, u. s. w. und von allen Tropen und Figuren, nebst ihren für das schöne Geschlecht fürchterlichen Namen, handelt?340

Die Rezension stellt zunächst das Projekt einer Redekunst für die Frau ganz allgemein in Frage. Sie beruft sich auf die Kategorie der Nützlichkeit und verurteilt die Vermittlung von Wissen, das dieser Kategorie nicht untergeordnet ist. Die für den Mann bestehende Möglichkeit der zweckfreien Bildung wird der Frau nicht eingeräumt, ebenso wenig wie ihr schlechterdings ein Interesse an der angeblich für sie ›fürchterlichen‹, ›verdrießlichen‹ Wissenschaft (und ihren Fachtermini) zugestanden wird. Auf die sozialhistorischen Lebensumstände der Frau bezogen beschränkt sich der Umfang der Rhetorik auf die Geschmacksbildung, die etwa für die angenehme Konversation vonnöten ist, und die Ausbildung des Schreibstils, der für die Abfassung von Briefen, des weiblichen Mediums schlechthin, hilfreich ist. Der öffentliche Redeauftritt gehört nicht zu den weiblichen Äußerungsmöglichkeiten, und so betont die Rezension noch einmal, dass in einer ›guten‹ Redekunst fürs Frauenzimmer stattdessen »von Briefen, Erzählungen, Gesprächen« die Rede hätte sein müssen.341 Die Rezension erkennt zwar an, dass der galante französische Verfasser »manches artige Kompliment« gemacht, sich kurz gefasst und seine Regeln »durch Beyspiele zu beleben, und weniger verdrießlich zu machen« versucht habe, aber der Vorwurf einer für die Frau unangemessenen Wissensvermittlung bleibt bestehen.342 Die Frau – so wird deutlich – braucht nach diesem Urteil keine oder eine andere Rhetorik.

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Anonym, Rezension zu: Die Redekunst fürs Frauenzimmer (1768), S. 274. Anonym, Rezension zu: Die Redekunst fürs Frauenzimmer (1768), S. 274. Anonym, Rezension zu: Die Redekunst fürs Frauenzimmer (1768), S. 274.

IV.4 Praktische Bildung: Actio in Erziehungsliteratur IV.4.1 Im pädagogischen Jahrhundert: Erwachendes Interesse an Mädchenbildung In den klassischen Systemrhetoriken – sogar in derjenigen ›fürs Frauenzimmer‹ – und in den selbstständigen actio-Abhandlungen lassen sich kaum Hinweise auf eine geschlechtsspezifische Erziehung zu einem weiblichen Redeauftritt ausmachen: Während Gottsched weiterhin von einem betont männlichen Rednerideal ausgeht, klammert Engel zugunsten der ›Wissenschaftlichkeit‹ die Kategorie ›Geschlecht‹ bewusst aus, und die Redekunst fürs Frauenzimmer nimmt zwar eine geschlechtsspezifische Modifizierung der Vermittlungsweise vor, lässt die traditionellen Inhalte jedoch unverändert. Hätte erwartet werden können, dass sich die frühaufklärerischen Bemühungen um die Repräsentation historischer Rednerinnen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, zumindest aber die Verhandlung eines neuen, sich polarisierenden Geschlechterbildes in Literatur und Philosophie sowie eine zunehmende Zahl an öffentlich redenden Schauspielerinnen in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts auf eine geschlechtsspezifische Formulierung der actio in Texten, die sich auf die traditionelle Rhetorik beziehen, auswirken, so trifft dies nicht zu. Die Frage ist, ob sich dies in Erziehungstexten des 18. Jahrhunderts anders verhält, ist es doch neben der Ästhetik vor allem die Pädagogik, die im Zuge der Transformation der Rhetorik im 18. Jahrhundert die Rhetorik beerbt, und nimmt doch die Pädagogik im letzten Drittel des Jahrhunderts zunehmend die Erziehung von Mädchen in den Blick. Nie zuvor war das Interesse an Fragen der Erziehung und Bildung so groß wie im so genannten ›pädagogischen Jahrhundert‹, in dessen Verlauf sich die Pädagogik als neue Wissenschaft etabliert.343 Während die Vielzahl an Publikationen zur Erziehung und Bildung zunächst nur Jungen betrifft, erscheint im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts eine rapide steigende Zahl von Schriften zur Mädchenerziehung.344 Dabei interessiert mich, ob und wie die aufkommende Erziehungsliteratur für Mädchen in irgendeiner Form eine rhetorische Erziehung vermittelt. Drei breit rezipierte, wirkmächtige Texte über Mädchenerziehung sollen im Folgenden (erstmals) auf die rhetorische Erziehung von Mädchen hin untersucht werden. Bereits im späten 17. Jahrhundert veröffentlicht François Fénelon den Traité de l’ éducation des filles (1681/87)345, der in Deutschland während der ersten Hälfte des

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Der erste Lehrstuhl für Pädagogik wurde an der Universität Halle 1779 mit Ernst Christian Trapp besetzt. Vgl. Lohmann, Bildung, bürgerliche Öffentlichkeit und Beredsamkeit, S. 35. »Von 1760 an nimmt die Bildungsfrage in Bezug auf beide Geschlechter einen zentralen Platz innerhalb des Projekts der Aufklärung ein. Während zwischen 1715 und 1759 nur 51 Werke über Erziehung erschienen waren, waren es zwischen 1760 und 1790 schon 161.« Martine Sonnet, Mädchenerziehung. In: Geschichte der Frauen, Bd. 3: Frühe Neuzeit, hg. von Georges Duby, Michelle Perrot, Frankfurt a. M. 1997, S. 119–150, S. 126. François Fénelon, Über Mädchenerziehung. Traité de l’éducation des fi lles, ungekürzte Ausgabe, übers. und hg. von Charlotte Richartz, Bochum 1963.

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18. Jahrhunderts als bekannteste Schrift über Mädchenerziehung kursiert (4.2).346 Rousseaus Erziehungsroman Emile ou de l’ éducation (1762)347 wird »gemeinhin als der Einschnitt in die Entwicklungsgeschichte der weiblichen Bildung gesehen« (4.3).348 Nach dem Erscheinen von Rousseaus Emile nimmt die Anzahl der Veröffentlichungen zur Mädchenbildung auch in Deutschland sprunghaft zu. Joachim Heinrich Campes Väterlicher Rath für meine Tochter (1789)349 wird »für die nächsten Jahrzehnte das am meisten gelesene Buch über Mädchenerziehung« (4.4).350 Im Anschluss an diese stark rezipierten Erziehungsschriften mit ihren Konzeptionen weiblichen Sprechens folgt ein Exkurs, in dem ein weibliches ›Gegensprechen‹ vorgestellt werden soll: »Die Gesprächigkeit der Frauen« (1805) von einer Erzieherin mit dem Pseudonym Adéle (4.5).351 Dass anhand dieser vier Texte keine umfassende These zur rhetorischen Erziehung von Mädchen und Frauen im 18. Jahrhundert aufgestellt werden kann, liegt auf der Hand.352 Dennoch bieten die Schlaglichter auf die wirkmächtigen Texte aussagekräftige Anhaltspunkte für die Analyse der Anstandslehren, die actio und Geschlecht in weit größerem Umfang verhandeln. Die Forschungsliteratur zur Mädchenbildung hat darauf hingewiesen, dass Erziehungsratgeber für Mädchen – anders als die für Jungen – nicht die zu vermittelnden wissenschaftlichen Kenntnisse in den Vordergrund stellen, sondern die Aus-

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Vgl. Irene Hardach-Pinke, Erziehung und Unterricht durch Gouvernanten. In: Geschichte der Frauen- und Mädchenbildung, Bd. 1: Vom Mittelalter bis zur Aufklärung, hg. von Elke Kleinau, Claudia Opitz, Frankfurt, New York 1996, S. 409–427, S. 420. Jean-Jacques Rousseau, Emile ou de l’éducation. In: Rousseau: Œuvres Complètes, Bd. IV, hg. von Bernard Gagnebin, Marcel Raymond, Paris 1969, S. 239–868; Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, hg., eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Martin Rang, übers. von Eleonore Sckommodau, Stuttgart 1963. Die Übersetzung beruht auf der Erstausgabe: Émile, ou de l’éducation, Paris: Jean Néaulme 1762. Im Folgenden zitiere ich nach der deutschen Übersetzung und gebe in den Fußnoten nur ausgewählte, für meine Argumentation zentrale Sätze nach der französischen Werkausgabe an. Christiane Brokmann-Nooren, Weibliche Bildung im 18. Jahrhundert: ›gelehrtes Frauenzimmer‹ und ›gefällige Gattin‹, Oldenburg 1994, S. 14. Joachim Heinrich Campe, Väterlicher Rath für meine Tochter. Ein Gegenstück zum Theophron. Der erwachsenern weiblichen Jugend gewidmet, Braunschweig: Verlag der Schulbuchhandlung 1789. James C. Albisetti, Mädchen- und Frauenbildung im 19. Jahrhundert, Bad Heilbronn 2007, S. 28. Adéle, Die Gesprächigkeit der Frauen. In: Journal für deutsche Frauen, 2/5, 1805, S. 97– 110. Diese Forschungslücke kann meine Arbeit nicht schließen. Auf den Forschungsbedarf hat bereits Ingrid Lohmann hingewiesen: Die Fragen, wie sich die Bildung zur Wohlredenheit für Mädchen und Frauen im einzelnen dargestellt hat, welche Ansätze es gab, über die Wohlredenheit hinaus die Beredsamkeit anzustreben, welche Beiträge Frauen ihrerseits zur rhetorischen Theoriebildung und zur Entstehung einer neuen Redekultur leisteten, seien noch unbeantwortet. Lohmann, Bildung, bürgerliche Öffentlichkeit und Beredsamkeit, S. 6.

bildung des Geschlechtscharakters.353 »Im Zentrum weiblicher Bildung steht nicht Wissen, sondern Wesen«, fasst Pia Schmid diese Tendenz pointiert zusammen.354 Die Erziehungsschriften beschreiben den idealen weiblichen Geschlechtscharakter ihrer Zeit und halten darüber hinaus zur Einübung und Verkörperung dieses Ideals an. Bescheiden, keusch, häuslich, ordnungsliebend, sparsam, sanft und unterwürfig soll die junge Frau aus ihrer Erziehung hervorgehen und mit diesen charakterlichen Eigenschaften für ihre ›weibliche Bestimmung‹ als Gattin, Hausfrau und Mutter gewappnet sein. Dass diese scheinbar natürlich vorhandene ›weibliche Bestimmung‹ allererst mit und in der Erziehungslehre durchgesetzt werden muss, betont James Albisetti: Zwei Hauptthemen dominieren die Ratgeberliteratur über weibliche Bildung, welche im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert veröffentlicht wurde: eine tiefe Furcht vor einer Verbildung der Mädchen und die Überzeugung, dass Frauen für ihre natürliche Bestimmung, Ehefrauen, Mütter und Hausfrauen zu sein, eine formale Vorbereitung erhalten sollten. Die Häufigkeit, mit der sich diese Themen wiederholen, belegt, dass die männlichen Autoren dieser Zeit kein vollkommenes Vertrauen in die Potentiale von ›Natur‹ oder ›natürlichem Gesetz‹ hatten und Frauen den ihnen angemessenen Platz in der Gesellschaft zuweisen.355

Die Angst vor ›Verbildung‹ korrespondiert mit einer tiefen Abneigung gegenüber weiblicher Gelehrsamkeit in der Spätaufklärung.356 Während im späten 18. Jahrhundert auch für den Mann der trockene ›Bücherverstand‹, das ›Pedantentum‹ abgelehnt und stattdessen eine ›Herzensbildung‹ sowie eine praktische Ausrichtung des Wissenserwerbs gefordert werden, ist die weibliche Gelehrsamkeit »Unnatur« und »Abscheu der Natur« zugleich, wie Johann Gottfried Herder an Caroline Flachsland 1770 schreibt.357 Begründet wird dies zum einen damit, dass Frauen

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Vgl. Elke Kleinau, Claudia Opitz (Hg.), Geschichte der Frauen- und Mädchenbildung, Bd. 1: Vom Mittelalter bis zur Aufklärung, Frankfurt, New York 1996; Christine Mayer, Erziehung und Schulbildung für Mädchen. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. II: 18. Jahrhundert, hg. von Notker Hammerstein, Ulrich Herrmann, München 2005, S. 188–211. Pia Schmid, Weib oder Mensch, Wesen oder Wissen? Bürgerliche Theorien zur weiblichen Bildung um 1800. In: Geschichte der Frauen- und Mädchenbildung, Bd. 1: Vom Mittelalter bis zur Aufklärung, hg. von Elke Kleinau, Claudia Opitz, Frankfurt, New York 1996, S. 327–345, S. 337. Albisetti, Mädchen- und Frauenbildung im 19. Jahrhundert, S. 32. Die Frühaufklärung stand dagegen weiblicher Gelehrsamkeit sehr viel aufgeschlossener gegenüber. Vgl. zur Ablehnung der weiblichen Gelehrsamkeit im Verlauf des 18. Jahrhunderts: Ulrike Weckel, Der Fieberfrost des Freiherrn. Zur Polemik gegen weibliche Gelehrsamkeit und ihre Folgen für die Geselligkeit der Geschlechter. In: Geschichte der Frauen- und Mädchenbildung, Bd. 1: Vom Mittelalter bis zur Aufklärung, hg. von Elke Kleinau, Claudia Opitz, Frankfurt, New York 1996, S. 360–372. Johann Gottfried Herder, Brief an Caroline Flachsland vom 20. September 1770. In: Herders Briefwechsel mit Caroline Flachsland, hg. von Hans Schauer, 2 Bde., Bd. 1: August 1770 bis Dezember 1771, Weimar 1926, S. 44–54, S. 46f.

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von Natur aus unfähig seien, den gleichen Stoff in dem Ausmaß zu lernen und zu begreifen wie Männer, und zum anderen, dass sie aufgrund ihrer natürlichen weiblichen Bestimmung gewisse Fächer schlichtweg nicht erlernen sollten.358 Aller Unterricht muss immer auf die Brauchbarkeit für den weiblichen Beruf als Ehefrau, Mutter und Hausfrau ausgerichtet sein, alle darüber hinausgehenden Studienbemühungen hingegen, die sich beispielsweise mit Theologie, Jura, Medizin und alten Sprachen befassen, gelten als eitel und gefallsüchtig, werden lächerlich gemacht und mit Polemiken und Parodien bedacht.359 Mädchenbildung wird insofern restriktiv gedacht: »Bildung für Frauen findet ihre Begründung nicht in sich selbst im Sinne eines Menschenrechts auf Bildung«, sondern wird dem Prinzip der Verwertbarkeit unterworfen.360 Es handelt sich um eine ›praktische‹ Bildung, die ebenso nützlich wie auf eine bestimmte weibliche Praxis hin entworfen ist. Dass zu dem für Mädchen nützlichen Unterricht weder Latein noch Griechisch zählt, ist, wie James Albisetti für das frühe 19. Jahrhundert feststellt, derartig selbstverständlich, dass kaum jemand eine Begründung auch nur für nötig hielt. Die allgemeine Auffassung war anscheinend nicht, dass Mädchen nicht fähig seien, Lateinisch und Griechisch zu lernen, sondern dass sie diese Sprachen innerhalb ihres Aufgabenbereiches als Ehefrauen, Mütter und Hausfrauen nicht gebrauchen konnten. Diese besondere Betonung der Nützlichkeit für das Alltagsleben widersprach den Begründungen, die allgemein dafür

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Vgl. Albisetti, Mädchen- und Frauenbildung im 19. Jahrhundert, S. 43. Allerdings finden sich auch Gegenstimmen zum dominanten Diskurs: Theodor Gottlieb Hippel strebt in seinem allerdings nicht so breit rezipierten Plädoyer Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber (1792) eine radikale Gleichberechtigung an, hält die Koedukation bis zur Pubertät für sinnvoll und möchte Frauen den Zugang zu Kanzel, Lehrstuhl, Politik und Staatsdienst verschaffen. Mary Wollstonecraft, breiter als Hippel rezipiert, zielt mit ihrer berühmten Publikation Vindication of the Rights of Women (1792) auf eine rechtliche und politische Gleichberechtigung von Frauen und betont ihr Recht auf Bildung als Voraussetzung für Gleichheit, Würde und Achtung. Auch Wollstonecraft befürwortet das Studium der Politik für Frauen und ihre Beteiligung an der Regierung. Pia Schmid stellt heraus, dass der Staat kein Interesse an diesen Gegenargumenten und an einer damit verbundenen politischen Einflussnahme von Frauen hat. Vgl. Schmid, Weib oder Mensch, Wesen oder Wissen? Bürgerliche Theorien zur weiblichen Bildung um 1800. Topisch sind solche Parodien, die gelehrte Frauen als ›unweibliche Frauen‹, also inmitten ihres gänzlich vernachlässigten Haushalts oder als ›vermännlichte Frau‹ zeigen – in »manchen Texten nimmt ihre Vermännlichung sogar körperliche Formen an, haben gelehrte Frauen grobe Züge, krumme Nasen und Bartwuchs«. Weckel, Der Fieberfrost des Freiherrn, S. 363. Eine weibliche Strategie im Umgang mit dieser Polemik ist es, sich die Bildung nicht anmerken lassen, wie die Göttinger Professorentochter Therese Heyne an ihre Freundin Luise Mejer schreibt: »Wie würden viele junge Herrn vor mir zurük prallen wenn sie mich bei so einen Buche sähn; ich will wetten man merkt mir meine art lectüre in zehn Unterredungen nicht an, ich nehm mich wohl in acht mirs merken zu lassen, ich mögte um alles in der Welt nicht für gelehrt gehalten sein«. Zit. n. Weckel, Der Fieberfrost des Freiherrn, S. 369. Schmid, Weib oder Mensch, Wesen oder Wissen?, S. 327.

angeführt wurden, Jungen die Alten Sprachen lernen zu lassen, nämlich als Einführung in die westliche Kultur und als Einübung geistiger Disziplin durch deren Grammatik.361

Dass zu dem für Mädchen angemessenen Unterricht auch nicht die – für Jungen gerade durch die alten Sprachen vermittelte – Rhetorik zählt, scheint ebenso selbstverständlich. Dennoch ist eine Spurensuche lohnend: Wenn es auch eine umfassende, systematische rhetorische Ausbildung für Mädchen im 18. Jahrhundert nicht gegeben hat, soll doch in diesem Kapitel gefragt werden, ob und inwiefern die genannten zentralen Schriften zur Mädchenerziehung auch rhetorisches Wissen und rhetorische Fertigkeiten (speziell im Bereich der actio) vermitteln. Welche Formen rhetorischen Wissens und rhetorischer Praxis gestehen die Erziehungsschriften der Frau zu und wie begründen sie dies? Welche Auffassung einer ›natürlichen‹, spezifisch weiblichen Sprechweise liegt ihren Anforderungen für einen rhetorischen Unterricht zugrunde? Was ist das Ziel einer rhetorischen Erziehung von Frauen? Diesen Fragen ist bislang weder von der Rhetorikgeschichtsschreibung noch von der Forschungsliteratur zur Mädchen- und Frauenbildung nachgegangen worden. Erstere beschränkt sich – wenn sie den gender-Aspekt überhaupt wahrnimmt – auf die Feststellung, »rhetorische Erziehung war – wie abendländische Erziehung überhaupt – vorwiegend Erziehung durch Männer für Männer«362 , wie Lonni Bahmer im Historischen Wörterbuch der Rhetorik schreibt. Letztere folgt in der Regel den maßgeblichen Themen in den Erziehungsratgebern, die sich vor allem auf die ›Bestimmung des Weibes‹ als Hausfrau, Gattin und Mutter konzentrieren. Bevor die erzieherischen Schriften Fénelons, Rousseaus und Campes unter dieser Fragestellung näher in den Blick genommen werden, ist darauf hinzuweisen, dass ich bewusst den weiter gefassten Begriff ›rhetorische Erziehung‹ anstatt ›Rhetorikunterricht‹ verwende.363 Während Mädchen und Frauen sicherlich keinen ›Rhetorikunterricht‹ im Sinne eines Unterrichtsfaches erhalten haben, das im Übrigen auch für Jungen im späten 18. Jahrhundert zunehmend verschwindet und spätestens 1816 aus dem Lehrplan der preußischen Gymnasien gestrichen wird, will ich untersuchen, ob ihnen eine (wie auch immer begrenzte) Art ›rhetorischer Erziehung‹ – die wohl weniger die Beredsamkeit, sondern vielmehr die Wohlredenheit betrifft – zugestanden wird.364 Dabei nehme ich nicht Lehrpläne und Bildungsin-

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Albisetti, Mädchen- und Frauenbildung im 19. Jahrhundert, S. 41. Bahmer, Ockel, Erziehung, rhetorische, Sp. 1439. Vgl. zu meiner Auseinandersetzung mit dem Begriff der ›rhetorischen Erziehung‹ Kapitel III.3.3. Vgl. zur Stellung der Rhetorik im Bildungswesen des 18. Jahrhundert: Lohmann, Bildung, bürgerliche Öffentlichkeit und Beredsamkeit, S. 68ff.; sowie Dietmar Till, Rhetorik und Stilistik der deutschsprachigen Länder in der Zeit der Aufklärung. In: Rhetorik und Stilistik. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung, hg. von Ulla Fix, Andreas Gardt, Joachim Knape, Bd. 1, Berlin, New York 2008, S. 112– 130, insb. S. 114–118.

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stitutionen in den Blick, sondern Texte, die erzieherische Vorstellungen formulieren.365 Nicht um eine Realgeschichte rhetorischer Bildung kann es also gehen, son365

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Da es mir, wie gesagt, nicht um eine Realgeschichte weiblicher Bildung geht, biete ich hier nur einen kurzen Überblick über Institutionen der Mädchenbildung an. Die Institutionen, die Jungen eine rhetorische Erziehung vermitteln – Lateinschulen, Akademien und Universitäten –, stehen Mädchen und Frauen im 18. Jahrhundert nicht offen. Sie werden überwiegend im Hause, in vermögenden Familien oftmals zusammen mit den Söhnen durch Hauslehrer und Gouvernanten, ansonsten durch die mütterliche Anleitung und Übernahme häuslicher Pflichten unterrichtet. Hof- beziehungsweise Hauslehrer und Gouvernanten werden im 18. Jahrhundert vielfach im Hausunterricht des Adels und höheren Bürgertums eingesetzt. Mit etwa 7 Jahren kommen die Jungen von der Gouvernante zum Hauslehrer und die Mädchen bleiben bei der Gouvernante. »Die Lerninhalte des höfischen Unterrichts wie Konversationsfähigkeit in modernen Fremdsprachen, Musik, Kunst, Literatur und Körpertraining durch Tanz wurden in der häuslichen und schulischen Mädchenerziehung dort übernommen, wo Eltern eine ›höhere‹ Töchterbildung anstrebten, die über die Elementarfächer – Lesen, Schreiben, Religion – hinausging.« (Vgl. Hardach-Pinke, Erziehung und Unterricht durch Gouvernanten, S. 413) Damit bleibt auch der höfische Repräsentationscharakter der höheren Töchterbildung immanent. Indem bürgerliche Frauen und Männer in einer vom Adel geprägten Öffentlichkeit auftreten, ohne darauf angemessen vorbereitet zu sein, ergibt sich ein Nachholbedarf in der Schulung des ›äußeren Anstands‹. So gehören auch Erziehungsaufgaben, die auf eine gelungene actio im Gespräch zielen, zu denen der Gouvernante: Dazu zählen »ständige Ermahnungen, ›die Brust heraus, den Kopf in die Höhe, die Füße auswärts‹« (S. 417) zu halten, insgesamt eine gute Körperhaltung und -bewegung zu zeigen sowie Konversation zu üben. Was die institutionelle Mädchenbildung betrifft, so sind zwischen den sich entwickelnden Mädchenschuleinrichtungen starke regionale, konfessionelle und ständische Unterschiede zu berücksichtigen. Die ältesten Mädchenschulen werden von verschiedenen katholischen Frauenorden seit dem 16. Jahrhundert geführt, die im 18. Jahrhundert zahlreiche neue Institute gründen und die sich vor allem an die städtische Oberschicht richten. Keine dieser Schulen hat einen festen Lehrplan, eine vorgeschriebene Mindestanzahl von Schuljahren oder kontrollierte Lehrer/innen/ ausbildung – die einem Vergleich mit den Lateinschulen für Jungen standgehalten hätten (vgl. Albisetti, Mädchen- und Frauenbildung im 19. Jahrhundert, S. 46). Vorbildlich für die protestantische höhere Mädchenbildung sind die Schulgründungen August Hermann Franckes in Halle, der – angeregt durch Fénelons Traitée de l’ éducation des filles u. a. 1698 das Gynaeceum für adelige und begüterte bürgerliche Töchter gründet (vgl. Mayer, Erziehung und Schulbildung für Mädchen, S. 188f.) Dazu kommen von Pietisten sowie von Philanthropen unterhaltene Schulen. Erst in der Zeit zwischen 1800 und 1870 erfolgt eine starke Ausweitung der Mädchenschulbildung, in der die Zahl der über das Volksschulniveau hinausgehenden Mädchenschulen wächst, ebenso wie das Niveau generell gehoben und akademisch orientierte Fächer gegenüber dem Handarbeitsunterricht bevorzugt werden. Königliche, private und städtische Mädchenschulen entstehen. Die Klientel stammt überwiegend aus Adel, Besitz- und Bildungsbürgertum (vgl. Martina Käthner, Elke Kleinau, Höhere Töchterschulen um 1800. In: Geschichte der Frauenund Mädchenbildung, hg. von Elke Kleinau, Claudia Opitz, Bd. 1: Vom Mittelalter bis zur Aufklärung, Frankfurt, New York 1996, S. 393–408). Eine dieser privaten Schulen ist das Institut der Pädagogin Betty Gleim (1781–1827), dessen Lehrplan hier als Beispiel für die bruchstückhafte Vermittlung rhetorischen Wissens kurz vorgestellt werden soll. In der Oberklasse sind von wöchentlich 30 Stunden immerhin 2 der deutschen Gram-

dern um Lektüren solcher Aussagen, die eine Erziehung zum Sprechen in privaten oder öffentlichen Redesituationen unter Einbeziehung der Performanz des Körpers betreffen. IV.4.2 Perspicuitas, brevitas, latinitas: Fénelons Anforderungen an eine weibliche Rhetorik Neue Ansätze zur Mädchenerziehung entstehen in Frankreich bereits gegen Ende des 17. Jahrhunderts: »Die ersten damals vorgeschlagenen Studienprogramme schlossen zwar den Erwerb abstrakter Kenntnisse aus (die alten Sprachen, die Rhetorik und die Philosophie blieben den Männern vorbehalten), aber ihnen kommt das Verdienst zu, den Frauen einen gewissen Bildungsgrad zuzugestehen«, schreibt Martine Sonnet über die ersten französischen Bildungsprogramme für Mädchen.366 Die auch in Deutschland bekannteste Schrift dieser Zeit ist François de Salignac de La Mothe Fénelons Traité de l’ éducation des filles (1681/1687).367 Der Reformpädagoge August Hermann Francke lässt Von der Erziehung der Töchter 1698 ins Deutsche übersetzen.368 Die Erziehungsschrift gründet sich auf die Feststellung, nichts

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matik, 2 der Lektüre klassischer Schriftsteller, 2 dem Schönschreiben und 4 dem Französischen – und in der Mittelklasse 3 der deutschen, 3 der französischen Sprache, 4 dem Schreiben, 1 dem Stil (nur mündlich) und Übungen im ausdrucksvollen Vorlesen gewidmet (vgl. August Kippenberg, Betty Gleim. Ein Lebens- und Charakterbild, Bremen 1882, S. 13, zit. n. Käthner, Kleinau, Höhere Töchterschulen um 1800, S. 407). In ihrer Schrift Erziehung und Unterricht des weiblichen Geschlechts (1810) führt Gleim kurz in ihren Unterrichtsstoff ein: Unter den Unterrichtsgegenständen zählt Gleim als erstes die Sprachkunde auf, die sie in Ton- und Wortlehre, Sprachzeichenlehre, Empirische WortVerbindungslehre, Grammatik und schließlich in Stilistik und Poetik unterteilt. Unter Stilistik und Poetik versteht Gleim: »Correctheit und Schönheit im mündlichen und schriftlichen Vortrage. Sie wird erlangt, durch die Lectüre classischer Producte; durch die Kenntniß der Theorie des Styls, der Wohlredenheit und Dichtkunst, vorzüglich aber durch häufige und mannichfaltige Übungen, seine Gedanken richtig und schön auszudrücken.« Betty Gleim, Erziehung und Unterricht des weiblichen Geschlechts, Leipzig: Göschen 1810, ND hg. von Ruth Bleckwenn, Paderborn 1989, S. 72. Ganz gemäß der rhetorischen Tradition gehören hier praecepta und exempla zum theoretischen Unterricht, der durch eine ausführliche exercitatio ergänzt wird. Besonders in den ersten zwei Jahren ist die sprachliche Ausbildung im Lehrplan relativ stark gewichtet, insofern erhalten hier Mädchen eine gewisse, wenn auch sehr kurze rhetorische Ausbildung, die allerdings auf die ›Wohlredenheit‹, nicht die ›Beredsamkeit‹ abzielt. Sonnet, Mädchenerziehung, S. 124. De l’ éducation wurde 1681 verfasst und erst 1687 gedruckt. Vgl. Bernard von Koskull, Fénelon. Persönlichkeit und Wirken, München 1951, S. 130. Von Koskull zufolge war De l’ éducation ursprünglich nicht für den Druck vorgesehen, sondern entstand auf Wunsch der Duchesse de Beauvilliers, die neben mehreren Söhnen acht Töchter hatte, für die Fénelons Erziehungsratgeber vorgesehen war. Von der Erziehung der Töchter. Aus dem Französischen übersetzet Durch den Hn. Abt von Fenelon Jetzo Ertz-Bischoff von Cammerich. Mit einer Vorrede August Hermann Franckens, Halle: Fritsch 1698. Mehrere weitere Übersetzungen des Traité erscheinen in

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sei bislang mehr vernachlässigt worden als die Mädchenerziehung, und macht sich daran, diesen Mangel mit praktischen Ratschlägen zu beheben. Zwar zählt eine weibliche Rhetorik nicht zu den ersten Erziehungszielen Fénelons, im Vordergrund steht vielmehr die Forderung, eine (adelige) Frau müsse ihre häuslichen Angelegenheiten zu führen verstehen.369 Der Hausvorsteherin wird ein recht umfangreicher Aufgabenkanon auferlegt (Erziehung der Kinder, Aufsicht über die Dienerschaft, sparsames Rechnungswesen im Haushalt, Regelung der Pachtverträge, Einziehung der Einkünfte), der neben Kenntnissen in den Grundrechenarten, den wichtigsten Rechtsgrundsätzen und der Verwaltung auch grammatische und rhetorische Kenntnisse wünschenswert macht. So verlangt der gelehrte Geistliche Fénelon, ein Kenner der klassischen Rhetorik, eine sprachliche Ausbildung von Mädchen, die durchaus als rhetorische verstanden werden kann.370 Was die frühkindliche Spracherziehung betrifft, ist Fénelon der Meinung, Kinder beiderlei Geschlechts müssten davor bewahrt werden, zu viel zu reden über

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der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Irene Hardach-Pinke vermutet, dass sich sowohl deutsche wie französische Gouvernanten auf Fénelons Werk über Mädchenerziehung stützten. Vgl. Hardach-Pinke, Erziehung und Unterricht durch Gouvernanten, S. 420. Noch 1888 wird Fénelons Erziehungsschrift rezipiert: Über die Erziehung der Mädchen. Für den Schulgebrauch und das Privatstudium bearbeitet und mit einer Einleitung und erläuternden Anmerkungen versehen von Fr. Schieffer, Regierungs- und Schulrat, Paderborn: Schöningh 1888 (= Sammlung der bedeutendsten pädagogischen Schriften aus alter und neuer Zeit 2). Der Herausgeber Schieffer vergleicht die Umstände der Fénelon’schen Erziehung mit den gegenwärtigen: »Wer heute an Mädchenerziehung denkt, stellt sich unwillkürlich Klassenunterricht und Massenerziehung vor. Diese Vorstellung muss bei Lesung der Fénelonschen Schriften beiseite gehalten werden« (S. XIV). Mit offenkundigem Bedauern über deren Verlust schaut Schieffer auf die Mädchenerziehung zu Hause zurück, die nicht aufgrund mangelnder Schulen, sondern aus Prinzip erfolgt sei – denn »die Lebensaufgabe des Weibes ist Häuslichkeit und Mütterlichkeit« (S. XVI). Heide Wunder erinnert daran, »daß in den Augen der Zeitgenossen einerseits die Hauswirtschaft eine hoch komplexe ›Wissenschaft‹ darstellte und andererseits ›Wissenschaft‹ im modernen Verständnis noch keineswegs die gesellschaftliche Bedeutung wie heute besaß«, womit der der Frau zugeschriebene häusliche Tätigkeitsbereich aufzuwerten ist. Heide Wunder, Geschlechtsspezifische Erziehung in der frühen Neuzeit. In: Zivilisationsprozesse. Zu Erziehungsschriften in der Vormoderne, hg. von Rüdiger Schnell, Köln, Weimar, Wien 2004, S. 239–253, S. 247. Fénelon, der spätere Prinzenerzieher und Erzbischof von Cambrai, ist in der antiken Rhetorik bewandert, wie seine Schrift Dialogues sur l’ éloquence (1685) belegt, ins Deutsche übersetzt von Johann Christoph Schlüter, Fenelon’s Dialogen über die Beredsamkeit im Allgemeinen und über die Kanzel-Beredsamkeit insbesondere, Münster: Peter Waldeck 1803. Darin empfiehlt Fénelon die Beredsamkeit nach antikem Vorbild für den Geistlichen, denn die Beredsamkeit sei die Kunst, von der Wahrheit zu überzeugen und zugleich die Herzen der Hörer zu erwärmen. Letzteres geschehe vor allem durch die actio: »In der Art, wie man etwas sagt, zeigt sich die Art, wie man empfindet, und das ist es, was den Zuhörer mehr rührt.« (S. 74) Gerade der Prediger müsse sein Publikum rühren können: Die Tränen des Volkes seien der Beifall für den Kanzelredner.

Dinge, von denen sie noch nichts verstünden, kurz zu ›schwatzen‹ oder zu ›plappern‹. Gerade bei Mädchen sei auf diese Begrenzung des Sprechens besonders zu achten, gehöre das Plappern doch zu den typischen Fehlern ihres Geschlechts. Dies ist eine topische Aussage über die angeblich angeborene weibliche Schwatzhaftigkeit, mit der Fénelon jedoch nicht etwa den Ausschluss von Mädchen und Frauen von rhetorischer Unterrichtung und Betätigung begründet, sondern aus der er sein Erziehungsprogramm ableitet, das diesem weiblichen Sprechverhalten entgegenwirken will. Deshalb müssten die Erziehungspersonen, also auch die Ammen und Mütter, es sich zur Aufgabe machen, kurz und bestimmt zu reden. Der feine Verstand zeigt sich darin, daß er jede unnütze Rede unterlässt und viel mit wenig Worten sagt, während die meisten Frauen mit vielen Worten wenig sagen. Die Leichtigkeit im Reden und die Lebhaftigkeit der Phantasie erscheinen ihnen geistreich. Sie wählen nicht zwischen dem, was ihnen einfällt, sie ordnen ihre Gedanken nicht nach der Beziehung zu den Dingen, welche sie darzulegen haben, sie machen aus allem, was sie sagen, einen Gegenstand der Leidenschaft, und Leidenschaft braucht viele Worte. Man kann von einer Frau keine rechte Tüchtigkeit erwarten, wenn man sie nicht dazu bringt, zusammenhängend zu denken, ihre Gedanken zu prüfen, sie in bündiger Art darzulegen und dann zu schweigen.371

Implizit verlangt Fénelon damit eine rhetorische Ausbildung von Frauen, und zwar von Müttern und Töchtern. Denn hier wird von Mädchen und Frauen eine rhetorische inventio (die Wahl der Gedanken), eine dispositio (die Ordnung der Gedanken) und eine elocutio (die sprachliche Ausgestaltung der Gedanken), die einer angemessenen Stillage und den rhetorischen Tugenden der brevitas und claritas entspricht, gefordert. Das Ideal der brevitas taucht mehrfach auf, so auch in der grammatischen Ausbildung von Mädchen. Anders als der Grammatikunterricht für Jungen, der anhand der lateinischen Grammatik auf das systematische Erkennen und Anwenden von Regeln zielt, besteht der für Mädchen in einer praktischen, korrigierenden Ausbildung der Muttersprache: »Man halte sie nur ohne Pedanterie an, nicht die Tempora zu verwechseln, treffende Ausdrücke zu gebrauchen und ihre Gedanken klar, geordnet, kurz und genau auszudrücken.«372 Hier begegnen uns rhetorische Tugenden, perspicuitas, compositio, brevitas, latinitas, die Fénelon schon vom frühkindlichen Alter an besonders Mädchen einprägen will. Bezeichnend ist, dass eine wichtige rhetorische Tugend fehlt: der Redeschmuck, ornatus. Kann dies einerseits mit der Redesituation des Gesprächs begründet werden, für dessen mittlere Stillage kaum Redeschmuck vonnöten ist, erscheint andererseits die geschlechtsspezifische Begründung nahe zu liegen, dass die rhetorische Erziehung von Mädchen grundsätzlich nicht auf eine Ausschmückung der – ohnehin der Üppigkeit verdächtigen – weiblichen Rede zielt, sondern auf deren Begrenzung.

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Fénelon, Über Mädchenerziehung, S. 69. Fénelon, Über Mädchenerziehung, S. 84.

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Die plappernde Frau muss rhetorisch diszipliniert werden – um letztlich wiederum ihren eigenen Erziehungsauftrag wahrnehmen zu können und als Muster ihrer Söhne zu fungieren. Dadurch wird man sie in die Lage versetzen, später auch ihre eigenen Kinder ohne jedes Studium gut reden zu lehren. Man weiß, daß im alten Rom die Mutter der Gracchen durch eine wohldurchdachte Erziehung viel dazu beitrug, die Beredsamkeit ihrer Söhne auszubilden, welche bekanntlich bedeutende Männer geworden sind.373

Diese topische Argumentation findet sich wieder in deutschen Erziehungstexten des 18. Jahrhunderts, die wiederholt eine möglichst ›natürliche‹ und zugleich kurze, geordnete Sprache von Müttern im Umgang mit ihren Kindern einfordern.374 Neben der Disziplinierung des (mütterlichen und kindlichen) Plapperns zielt Fénelon auf eine Begrenzung des weiblichen Sprechens generell: [Ein] Mädchen soll nur eines wirklichen Bedürfnisses wegen reden, und zwar im Tone des Zweifels und der Ehrerbietung. Von Dingen, welche außerhalb des gewöhnlichen Verständnisses der Mädchen sind, soll es gar nicht reden, selbst wenn es darüber unterrichtet ist.375

Deutlich wird, dass es gar nicht darum geht, gemäß rhetorischer Regeln über Sachen, mit denen man sich auskennt, zu reden, sondern die Grenzen des »gewöhnlichen Verständnisses« dessen einzuhalten sind, was Mädchen wissen und worüber sie reden sollen. Maßstab ist also nicht das innere, sondern einzig das äußere decorum. Reden darf das Mädchen nur innerhalb dieser Grenzen, die – und dies ist für eine weibliche Rhetorik maßgeblich – geschlechtsspezifisch und sozio-kulturell vorgegeben sind. Die Einhaltung dieser Grenzen ist auch äußerlich, durch die actio, sichtbar zu machen: Ein Mädchen kann so viel Wissen und rhetorische Fähigkeiten

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Fénelon, Über Mädchenerziehung, S. 84f. Beispielhaft erscheint folgende Äußerung des Philanthropen Johann Stuve: »Sollte es erstlich wol wirklich so allgemein seyn, daß die Mütter oder ihre Stellvertreterinnen in jenem einfachen natürlichen Tone […] mit ihren Kindern sich unterhalten? Es scheinet mir nicht so. Man spielt, tändelt mit dem Kinde, plappert, singt ihm vor, macht allerlei Possen, es zu vergnügen u. s. w. aber seltener siehet man eine weibliche Person, die auf eine schlichte vernünftige Art, mit einem sanften heitern Ernst sich mit den kleinen Geschöpfen unterhält. […] Andere Mütter sind eifrig genug für die Geistesbildung ihrer Kinder besorgt, plaudern, räsonniren und moralisiren ihnen, leider! nur mehr als zu viel vor – und diese mögen wol noch verkehrter als jene zu Werke gehen, denn es ist bekanntlich nichts schädlicher für die Bildung der Geisteskraft, als Kindern zuviel vorzuschwatzen, und die junge Seele dadurch in ihrer ersten Entwickelung gleichsam zu betäuben, oder stumpf zu machen.« Johann Stuve, Ueber die Notwendigkeit, Kindern zu anschauender und lebendiger Erkenntniß zu verhelfen und die Art, wie man dies anzufangen habe. In: Joachim Heinrich Campe, Allgemeine Revision, Zehnter Theil (1788), S. 407, zit. n. Silke Köstler-Holste, Natürliches Sprechen im belehrenden Schreiben. J.H. Campes ›Robinson der Jüngere‹ (1779/80), Tübingen 2004, S. 44. Fénelon, Über Mädchenerziehung, S. 76.

haben, wie es will, die ihm konventionell auferlegte persona soll »Zweifel und Ehrerbietung« ausdrücken. Was eine junge Frau wirklich auszeichnet, ist nach Fénelon eben nicht eine anmutige Rhetorik: »Gedächtnis, Lebhaftigkeit, gefällige Wendungen, Leichtigkeit in anmutiger Rede« – denn »sie wird alle diese Vorzüge mit einer großen Zahl anderer Frauen von geringer Einsicht und sehr schlechtem Rufe gemein haben«. Stattdessen gilt: »[W]enn sie zu schweigen und eine Angelegenheit zu führen weiß, wird dieser seltene Vorzug sie in ihrem Geschlecht auszeichnen.«376 Eine Frau, die sich durch eine gefällige Rhetorik auszeichnet, wird nicht von rednerischem Erfolg gekrönt, sondern eines schlechten Rufs bezichtigt. Für weibliche Rhetorik wird ein eigenes Maß aufgestellt, welches offenkundig ein anderes ist als das männliche. Obwohl Fénelon mit der alten Rhetorik vertraut ist, wie nicht nur die Erwähnung von Cornelia, der rhetorisch bewanderten und erzieherisch tätigen Mutter der Gracchen zeigt, ist es bemerkenswert, wie wenig er von dem antiken rhetorischen Wissen für Mädchen verfügbar machen will. Nur ausgewählten wenigen Mädchen, nämlich »nur Mädchen von tüchtigem Verstand und bescheidenem Wesen«, will Fénelon erlauben, Latein zu lernen, solange sie sich nicht damit brüsten, sondern es bescheiden in aller Stille verwenden. Diesen wenigen bescheidenen Mädchen würde Fénelon sogar, »jedoch mit strenger Auswahl, die Lektüre rhetorischer und poetischer Werke gestatten«.377 Doch solche rhetorisch gebildeten Mädchen bleiben – zudem durch ihre Bescheidenheit stillgestellte – ›Ausnahmen‹. Ansonsten irritiert das paradoxe Ideal, »ohne jedes Studium gut [zu] reden«, das in Bezug auf weibliche Bildung immer wieder auftaucht und wofür die Mutter der Gracchen steht. Solange der Frau ein plapperndes, listiges378, überemotionales, angeberisches Wesen zugeschrieben wird und dagegen das Ideal einer schweigenden oder kurz angebundenen, tüchtigen, bescheidenen Frau entworfen wird, gerät ihr jeglicher Wissensdurst, und gerade der rhetorische, der immer auch mit einer gewissen Selbstdarstellung verbunden ist, zum Vorwurf. Eine eloquente Äußerung steht unter dem Generalverdacht der Unbescheidenheit und »eitle[n] Wichtigtuerei«379. Insofern erweckt Fénelons Erziehungsschrift oftmals den Eindruck, die Begrenzung weiblichen Wissens(durstes), die »engen Schranken«380, weit mehr in den Vorder-

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Fénelon, Über Mädchenerziehung, S. 76f. Fénelon, Über Mädchenerziehung, S. 87. Fénelon geht von einer angeborenen »List« der Frauen aus, ihrer berechnenden Anpassungsfähigkeit, die schnell in »Verstellung« umschlage. Fénelons Erziehungsvorschläge bezwecken dementsprechend, den Mädchen die scheinbar natürliche Anlage zu List und Verstellung auszutreiben und sie zu einem moralischen, leidenschaftslosen Leben anzuleiten. Fénelon, Über Mädchenerziehung, S. 87. »Aber eine bildungsbeflissene Frau wird der Ansicht sein, daß man damit ihrer Wißbegier zu enge Schranken ziehe. Jedoch mit Unrecht: Sie kennt eben die Wichtigkeit und den Umfang dessen nicht, worin sie nach meinem Plane belehrt werden muß.« Fénelon, Über Mädchenerziehung, S. 77.

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grund zu stellen als die tatsächliche Wissensvermittlung. Trotz des überraschenden Bekenntnisses zu einem Grundmaß rhetorischer Ausbildung für Frauen wird doch weit ausführlicher behandelt, wie und worüber Frauen nicht reden sollen, als wie sie lernen können, »klar, geordnet, kurz und genau« zu reden. IV.4.3 Gefallenwollen: Rousseaus Ideal einer weiblichen Rhetorik Im fünften und letzten Buch seines Erziehungsromans Emile oder Über die Erziehung ergänzt Jean-Jacques Rousseau seine bis dahin ausschließlich auf den Mann ausgerichtete Erziehungsgeschichte um Überlegungen, die die Erziehung der Frau betreffen.381 In dem »Sophie oder die Frau« betitelten Buch entwirft Rousseau zunächst die ideale Frau als komplementäre Ergänzung des Mannes, um dann Sophie, die spätere Ehefrau Emiles, als Verkörperung dieses Ideals vorzustellen. Während der Mann, so Rousseau, in erster Linie Mensch sei und nur »in gewissen Augenblicken Mann«, sei die Frau »ihr ganzes Leben lang Frau« – sie wird über ihre Geschlechtlichkeit definiert.382 Die so konzipierte Geschlechterdifferenz hat Folgen für Rousseaus Erziehungskonzeption, wie sie Pia Schmid bündig zusammenfasst: »Während Emile zum Menschen erzogen wird, wird Sophie zur Frau dieses Menschen erzogen«383. Rousseaus wohlbekannte Zielsetzung weiblicher Erziehung lautet: So muß sich die ganze Erziehung der Frauen im Hinblick auf die Männer vollziehen. Ihnen gefallen, ihnen nützlich sein, sich von ihnen lieben und achten lassen, sie großziehen, solange sie jung sind, als Männer für sie sorgen, sie beraten, sie trösten, ihnen ein angenehmes und süßes Dasein bereiten: das sind die Pflichten der Frauen zu allen Zeiten, das ist es, was man sie von Kindheit an lehren muß.384

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Rousseaus Emile oder Über die Erziehung wurde zwar – dem Untertitel entsprechend – als Erziehungslehre rezipiert, jedoch bemerken bereits die Kommentatoren in Joachim Heinrich Campes Allgemeiner Revision (Bde. XII-XV, 1789–1791), dass Rousseau keine Handlungsanweisungen gebe, sondern in literarischer Form ein Denken über Erziehung lehre. Vgl. Ulrich Herrmann, Pädagogisches Denken. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. II: 18. Jahrhundert, hg. von Notker Hammerstein, Ulrich Herrmann, München 2005, S. 97–133, S. 103. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 726. Nachdem der fünfte Teil des Emile lange aus der pädagogischen Rezeption Rousseaus ausgeklammert blieb, hat eine Vielzahl feministischer Lektüren in den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die Geschlechterkonstruktion Rousseaus herausgearbeitet – allerdings ohne einen Fokus auf die rhetorische Erziehung. Vgl. zusammenfassend: Pia Schmid, Rousseau Revisited. Geschlecht als Kategorie in der Geschichte der Erziehung. In: Zeitschrift für Pädagogik, 38, 1992, S. 839–854; Karin Priem, Das Frauenbild Jean-Jacques Rousseaus in der deutschsprachigen feministischen Kritik. In: Seminar: Der pädagogische Rousseau, hg. von Otto Hansmann, Bd. II, Weinheim 1996, S. 280–294. Schmid, Weib oder Mensch, Wesen oder Wissen?, S. 329. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 733.

Deutlicher und unverhüllter, schreibt Silvia Bovenschen, sei die supplementäre Bestimmung des Weiblichen wohl nie zuvor artikuliert worden.385 Bovenschen sieht die Bedeutung von Rousseaus Emile für den Geschlechterdiskurs im Wandel vom frühaufklärerischen Entwurf des ›gelehrten Frauenzimmers‹ zum Bild der Empfindsamen: Emile markiert den Paradigmenwechsel von einer egalitäts- zu einer ergänzungstheoretisch formulierten ›Ordnung der Geschlechter‹. In dem Maße, wie die Frau als Gegensatz und untergeordnete Ergänzung des Mannes beschrieben wird, wie sie auf ihre Rolle als sorgende Mutter oder häusliche Geliebte des Mannes festgelegt wird, erscheinen weibliche Gelehrsamkeit und Eloquenz, ebenso wie weibliches Auftreten in der Öffentlichkeit umso unpassender. Anders als Fénelon, der für die Mutter eine gewisse rhetorische Ausbildung fordert, um sie in die sprachliche Erziehung ihrer Kinder einzubinden, sieht Rousseau für die Mutter nur die körperlich-nährende Funktion vor. »So wie die Mutter die natürliche Amme ist, ist der natürliche Erzieher der Vater.«386 Vehement richtet sich Rousseau gegen die zeitgenössische Erziehungspraxis, nach der ein Kind seine ersten sechs bis sieben Jahre unter Frauen verbringt, die es mit ihrer Plapperei verderben, »sein Gedächtnis mit Worten belasten, die es nicht versteht«387, ja es »mit unnützen Worten überschütte[n]«388. Eine solche weibliche Umgebung behindere die sprachliche, ja rhetorische Entwicklung: Ein Mann, der im Boudoir sprechen gelernt hat, wird an der Spitze eines Bataillons schwer zu verstehen sein und bei einem Volksaufstand wenig Eindruck machen. Lehrt die Kinder zunächst mit Männern reden, dann werden sie wissen, wie sie mit Frauen zu sprechen haben, wann es sein muß.389

Die strenge Trennung weiblicher und männlicher gesellschaftlicher Räume findet ihre Entsprechung in der Konzeption eines männlichen und weiblichen Sprechens, wobei der weibliche, plappernde, sinnlose Einfluss auf die Spracherziehung durch den männlichen Erzieher ersetzt werden muss. Dementsprechend lässt Rousseau sein Musterkind Emile auch als Waise aufwachsen und eliminiert damit jedwedes weibliches Sprechen in der Erziehung. Bevor ich weiter auf Rousseaus Konzeption weiblichen Sprechens eingehe, möchte ich zunächst auf die Rolle des Erziehers hinweisen, den Rousseau, so meine These, als einen Redner auftreten lässt, der zur empfindsamen Antirhetorik aufruft. Es ist bemerkenswert, mit welchen expliziten Rückgriffen auf die antike Beredsamkeit und deren rhetorische Mittel der Erzieher arbeitet und die Rhetorik für seine Erziehungslehre nutzbar macht. Dabei wird sowohl die im 18. Jahrhundert andauernde Macht der alten Rhetorik sichtbar als auch ihre Zurückdrängung durch das

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Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit, S. 165. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 130. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 129. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 173. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 177.

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Konzept der ›natürlichen Sprache‹. Indem ich von der Rhetorik des Erziehers ausgehe, um dann die Ausrichtung weiblichen Sprechens auf die ›natürliche‹ Körpersprache zu zeigen, wird letztere in einem anderen, nämlich dezidiert rhetorischen Kontext lesbar, das die inneren Widersprüche des Textes zutage treten lässt. Am Ende des vierten Buchs von Emile reflektiert die Erzählinstanz, Emiles Erzieher, ausführlich über einen Wechsel ihrer Erziehungsmethoden, der durch die Geschlechtsreife Emiles notwendig wird. Während der Erzieher bis zu diesem Moment Einfluss auf seinen Zögling ausgeübt hat, indem er ihn in Unwissenheit gehalten hat, droht Emile nun durch seine unkontrollierte Sexualität seinem Erzieher zu entgleiten – sofern es diesem nicht gelingt, Emile durch Aufklärung zu eigenverantwortlichem Handeln zu erziehen.390 Diese Aufklärung verlangt eine »neue Methode der Belehrung«391: die, wie ich sie nenne, ›Erziehungs-Rede‹. Der Erzieher will Emile dazu bringen, ihm selbst – und nicht dem erwachenden Sexualtrieb – Gehör zu schenken, er will Emile überzeugen, dass seine Erziehungsmaximen die richtigen sind, er will an Emiles Gefühle appellieren und er will Emile nicht zuletzt damit zum Handeln bewegen. Diese rhetorische Zielsetzung wird nun mit rhetorischen Mitteln verfolgt, über die die Erzählinstanz ausführlich Auskunft erteilt. Keinesfalls darf die Erziehungs-Rede in einer »beiläufige[n] Unterhaltung«392 erfolgen, vielmehr ist die Aufklärung Emiles eine aufwändig strategisch vorbereitete, zielgerichtete Redesituation. Keinesfalls darf die Erziehungs-Rede »in gleichgültiger Weise unterschiedslos und wahllos an jedermann«393 gerichtet sein, also das rhetorische Gebot der Ausrichtung auf ein spezielles Publikum missachten. Keinesfalls darf die Aufklärungs-Rede »bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit«394 gehalten werden, sondern nur, wenn das kairos, die Abstimmung einer Rede auf den richtigen Moment, gewahrt ist. Keinesfalls darf schließlich die Rede eine reine Vernunftrede sein, denn das wäre die wirkungslose räsonierende Rede eines Pedanten. Nicht nur die Vernunft, auch die Seele und das Herz, so Rousseau, müssen von dem guten Erzieher (und hinzufügen ließe sich: Redner) angesprochen werden, und Herz und Seele werden nicht nur durch den Inhalt der Rede, sondern besonders durch den körperlichen Redeauftritt, durch die actio, erreicht: »Der Eindruck des Worts ist immer schwach, und zum Herzen kann man weit besser durch die Augen als durch die Ohren sprechen.«395 Gerade für die visuell wirkungsvolle actio führt Rousseau die antike Beredsamkeit als Vorbild an: Was die Alten mit Beredsamkeit erreicht haben, grenzt ans Wunderbare; aber diese Beredsamkeit bestand nicht nur in schönen, wohlgesetzten Reden, und niemals war sie von

390 391 392 393 394 395

294

Vgl. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 647. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 647. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 650. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 650. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 651. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 653.

größerer Wirkung als dann, wenn der Redner am wenigsten sprach. Die lebhaftesten Äußerungen drückten sich nicht durch Worte aus, sondern durch Zeichen; man sprach sie nicht aus, man zeigte sie.396

Das äußerst wirksame Zeigen von Bedeutungen wird hier ganz wörtlich gemeint, in dem Vor-Augen-Führen von Zeichen – wie die Wunden und Narben von Kriegern der Antike, die »ohne Worte« deren Heldentaten bezeugen, wie Rousseau mehrfach betont. Aber auch die »Sprache der Zeichen«397, die im alten Rom Machtverhältnisse durch Kleidung, Gebäude und Orte demonstriert, findet Rousseaus Bewunderung: »Alles bei ihnen war Aufmachung, Schaustellung, Zeremonie, und alles beeindruckte die Herzen der Bürger.«398 Rousseaus Rezeption der alten Rhetorik zeigt eine bemerkenswerte Ausrichtung auf gerade diese gezielte Inszenierung des Redeauftritts und der Redesituation, die die Sichtbarkeit des Redners und darüber die Wirkung auf das Publikum erzeugt. Beides, sichtbare Körper-Zeichen und Worte, werden in der idealen Aufklärungs-Rede des Erziehers verbunden. Um das überraschende Ausmaß des Rousseau’schen Rückgriffs auf klassische rhetorische Mittel kenntlich zu machen, zitiere ich ausführlich: Ich werde mich also […] wohl hüten, plötzlich in Emiles Zimmer zu treten, um ihm voller Ernst eine lange Rede über das zu halten, worüber ich ihn aufklären will. Ich werde erst einmal seine Einbildungskraft anregen; ich werde Zeit, Ort, Gegenstände so wählen, daß sie dem von mir beabsichtigten Eindruck am günstigsten sind, ich werde sozusagen die ganze Natur zum Zeugen unsrer Gespräche und das ewige Wesen, dessen Werk sie ist, zum Zeugen der Wahrhaftigkeit meiner Reden aufrufen; ich werde es zum Richter zwischen Emile und mir nehmen; ich werde den Ort, an dem wir uns befinden – die Felder, die Wälder, die Berge um uns herum –, zum Denkmal seiner und meiner Gelöbnisse nehmen; ich werde in meine Blicke, meinen Tonfall, meine Gebärden die Begeisterung und das Feuer legen, das ich ihm einflößen will. Dann werde ich zu ihm sprechen, und er wird mich anhören, ich werde gerührt sein, und er wird davon gerührt werden. Durchdrungen von der Heiligkeit meiner Pflicht, lasse ich ihm die seine ehrfürchtiger erscheinen; ich werde die Kraft meiner Beweisführung durch Bilder und Metaphern beleben; meine Rede wird sich nicht des langen und breiten in Maximen ergehen, sondern voll sein von überquellenden Gefühlen; sie wird ernst sein und voller Sentenzen, mein Herz aber wird nie genug gesagt haben. Jetzt, wenn ich ihm alles vor Augen führe, was ich für ihn getan habe, so als hätte ich es für mich selbst getan, wird er in meiner zärtlichen Zuneigung den Grund für all meine Fürsorge erkennen. Wie werde ich ihn überraschen und aufregen, wenn ich plötzlich den Ton ändere! […] Auf diese Weise verschafft man sich bei einem jungen Menschen Gehör und prägt alles, was man ihm sagt, in den Grund seines Herzens ein.399

396 397 398 399

Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 655. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 656. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 656. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 657f.

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Der Erzieher zeigt sich als Redner. Er bedient sich keineswegs einer ›natürlichen‹, empfindsamen, ungelernten, spontanen Affektrede, sondern stellt explizit aus, wie er rhetorische Überzeugungsmittel strategisch einsetzt, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Zu diesen Überzeugungsmitteln gehören neben denen der argumentatio und elocutio u. a. die Wahl von Redezeit und Ort – wohlgemerkt in der freien Natur mit der Natur als ›Zeugin‹. Diese sonderbare Verknüpfung von Rhetorik und Natur, die hier gerade durch die Wahl des Redeorts sichtbar wird, erstreckt sich weiter auf die actio, die die gezielt eingesetzten Affekte als natürliche sichtbar machen soll. Wenn die Erzählinstanz sagt, »ich werde gerührt sein, und er wird davon gerührt werden«400, lässt die Satzkonstruktion im Futur, das die allgemeine Gültigkeit und Wiederholbarkeit der Erziehungsrede ausdrücken soll, erkennen, dass die eigene Rührung eine geplante ist, und liefert damit die Anleitung zur bereits in der Antike geforderten und im 18. Jahrhundert umso wichtigeren Selbst-Affektation. Es ist die actio, die maßgeblichen Anteil an der Persuasion des Zöglings durch vorgeführte Affekte hat: die genannten »Blicke«, der »Tonfall«, die »Gebärden« zeugen von dem »Feuer« der Begeisterung für die pädagogischen Ideale, von dem, um eine antike Metapher aufzugreifen, der ›Funke‹ auf den Zögling ›überspringen‹ soll. 401 Affekte der Freundschaft, der Großherzigkeit und Dankbarkeit sollen in Emile »entzünde[t]«402 werden, nicht nur indem der Erzieher mit rührenden Worten zu ihm spricht, sondern auch indem der Erzieher das pathos körperlich ausagiert: »Ich werde ihn an mich pressen und ihn mit Tränen der Rührung übergießen«403. Bis hin zu den Tränen setzt damit der Erzieher das si vis me flere404 des Horaz um, das Gebot, selbst zu weinen, um andere zu Tränen zu rühren. Doch das Futur erinnert weiterhin daran, dass hier alles andere als eine spontane Herzensrede gehalten wird. Im Gegenteil handelt es sich um eine gezielte Inszenierung getreu dem bereits zitierten Motto, dass zum Herzen besser durch die Augen als durch die Ohren gesprochen werde. 405 Emile erfährt im ›mannbaren‹ Alter eine Erziehung durch einen Erzieher, der als Redner agiert und ihn mit allen zur Verfügung stehenden persuasiven Techniken, besonders aber mit seiner affektiven, sichtbaren actio, von der Richtigkeit der Erziehungsmaximen als auch von der Notwendigkeit der fortgesetzten Autorität des Erziehers zu überreden sucht, um ihn selbst zum Handeln gemäß dieser Maximen zu bewegen. 406

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Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 658. Vgl. zur Metaphorik des Funkens und Feuers für die Affektübertragung in der alten Rhetorik Kapitel III.4.3. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 658. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 658. Vgl. Jürgen Stenzel, ›Si vis me flere...‹ – ›Musa iocosa mea‹. Zwei poetologische Argumente in der deutschen Diskussion des 17. und 18. Jahrhunderts. In: DVjs, 48, 1974, S. 650–671. Vgl. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 653. Meine Lektüre unterstützt die These von Ingrid Lohmann, dass die Rhetorik im

Nun ist die Tatsache, dass der Text die rhetorischen Künste des Erziehers so explizit macht, gerade deshalb bemerkenswert, weil Rousseau für Emile eine Rede vorsieht, die eben das Gegenteil der rhetorischen Kunst darstellt und stattdessen eine offene, wahrhaftig-natürliche Herzensrede zum Vorbild hat. Die Rede des Erziehers ist eben nicht als rhetorisches Muster für Emile gedacht. Eine imitatio der persuasiven Künste seines Erziehers scheint keineswegs intendiert, denn Emile soll ganz anders sprechen. Wenn Emile in Gesellschaft kommt, redet er idealerweise wenig und nur über vernünftige Dinge, er verkündet schmucklos seine Meinung, verhält sich unauffällig und zeigt sich – dies wird betont – ›offen‹ (also unverstellt). Emile würde weder disputieren, noch widersprechen, weder schmeicheln noch schwatzen. 407 Er will gefallen, weil er seine Mitmenschen liebt, ist jedoch nicht galant, sondern aufrichtig zuvorkommend, nicht höflich, sondern herzlich. Durch ihre Schlichtheit und Unverstelltheit unterscheidet sich seine offenherzige Rede maßgeblich von der höfischen Rhetorik. Sein Umgang in der Gesellschaft, von seinen sprachlichen Umgangsformen bis hin zu seinem Auftreten, seiner Haltung und Kleidung, soll einfach, natürlich und wahrhaftig sein. Der Erzieher schreibt dieser ›offenen Rede‹ einen natürlichen Ursprung zu – das Herz, nicht die Kunst spricht: Man sieht, daß dies alles keinen großen Aufwand an Vorschriften meinerseits erfordert und nur das Resultat seiner ersten Erziehung ist. Man macht uns ein großes Geheimnis aus der Lebensart in der Gesellschaft, so als ob man in dem Alter, da man sie sich aneignet, sie nicht natürlicherweise annähme und ihre obersten Gesetze nicht in einem aufrichtigen Herzen zu suchen hätte!408

Nur wer nicht über die »wahre Höflichkeit«, die aus dem Wohlwollen gegenüber seinen Mitmenschen resultiert, verfüge, sei gezwungen, »ihren äußeren Schein zu Kunstfertigkeit herabzuwürdigen«. 409 Wenn Höflichkeit ›natürlich‹ ist, sind rhetorische Umgangslehren obsolet beziehungsweise ›nur‹ oberflächliche Kunst. »Man muß nicht künstlich sein, um zu gefallen, es genügt, gut zu sein.«410 Hier wird ein Plädoyer für eine ›aufrichtige‹, ›wahrhaftige‹, ›authentische‹, ungelernte AffektRhetorik gehalten, die sich gegen jegliche Art von Schulrhetorik richtet. Das rhetorische Ideal des Zöglings und das rhetorische Vermögen des Erziehers klaffen weit auseinander, ohne dass der Text diese Widersprüchlichkeit thematisieren würde. Eine Voraussetzung für Emiles ›offene‹ Rede kann gar nicht genug betont werden: Emile wird dazu erzogen, sich autonom, abseits und unabhängig von der Ge-

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18. Jahrhundert zwar als Unterrichtsfach abgeschafft wurde, aber als »zumindest implizites Prinzip der Wissensentwicklung im Unterricht und der unterrichtlichen Gestaltung« erhalten blieb, kurz: »die Rhetorik wurde aufgehoben in Unterrichtsmethode«. Lohmann, Bildung, bürgerliche Öffentlichkeit und Beredsamkeit, S. 9. Vgl. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 683. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 687. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 687. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 687.

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sellschaft zu bewegen. Er kann nur deshalb ›offen‹ reden, weil er nicht auf seine positive Wirkung beim gesellschaftlichen Publikum angewiesen ist. Ein maßgeblicher Unterschied zwischen Emile und Sophie liegt in Hinsicht auf eine geschlechtsspezifische Rede darin, dass Emile zwar durchaus gefallen will – wie jeder, der seine Mitmenschen liebt, so Rousseau –, dass er sich jedoch nicht abhängig von der gesellschaftlichen Meinung über ihn machen darf. Während Emile als freier Mensch aufwachsen soll und sich »wenig Sorgen machen [muss], ob er wohl von ihnen [den anderen Menschen] hoch angesehen wird«411, ist es Sophies oberste (rhetorische) Aufgabe und geschlechtliche Bestimmung zu gefallen. Rousseau stellt programmatisch fest, »daß die Frau eigens dazu geschaffen ist, dem Mann zu gefallen«412 . In diesem Kontext besonders relevant ist, dass Sophie nicht nur dem Mann gefallen muss, sich also über den männlichen Blick erst als Frau konstituiert, sondern dass sie der ganzen Gesellschaft gefallen muss. Die Frage, wie die Frau zugleich ›offen‹ reden kann und vom gesellschaftlichem Applaus abhängig ist, offenbart eklatante Widersprüche des Rousseau’schen Texts. Weil es Aufgabe der Frau ist, der Gesellschaft zu gefallen, muss ihr gesamtes Auftreten insofern ein rhetorisches sein, als es immer auf ein Publikum gerichtet ist, das es (von sich als Frau) zu überzeugen gilt. Entscheidend für das Erreichen ihres Ziels zu gefallen ist nicht, über bestimmte weibliche Tugenden zu verfügen, sondern diese weiblichen Tugenden auch sicht- und hörbar vor einem bestimmten Publikum in Szene setzen zu können. Allein schon durch das Gesetz der Natur sind die Frauen ebenso wie die Kinder dem Urteil der Männer ausgesetzt – es genügt nicht, daß sie achtenswert sind, sie müssen geachtet werden; es genügt nicht, daß sie schön sind, sie müssen gefallen; es genügt nicht, daß sie sittsam sind, sie müssen als sittsam anerkannt werden; ihre Ehre liegt nicht nur in ihrem Verhalten, sondern in ihrem Ruf, und es ist unmöglich, daß eine Frau, die es zulässt, als ehrlos zu gelten, jemals ehrbar ist. Der rechtschaffene Mann hängt nur von sich selber ab und kann der öffentlichen Meinung trotzen; aber die rechtschaffene Frau hat damit nur die Hälfte ihrer Aufgaben erfüllt, und was man über sie denkt, ist nicht weniger bedeutend für sie als das, was sie wirklich ist. Daraus folgt, daß die Methode ihrer Erziehung in dieser Hinsicht der unsrigen entgegengesetzt sein muß: die Meinung der Gesellschaft ist für die Männer das Grab der Tugend, für die Frauen aber ihr Thron. 413

Die Frau erscheint völlig abhängig von ihrem Ruf, das heißt von der Meinung ihres Publikums, der Gesellschaft. Signifikant ist, dass die Frau nicht als passives Opfer

411 412 413

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Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 686. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 721. »[L]a femme est faite spécialement pour plaire à l’homme«: Rousseau, Emile ou de l’éducation, S. 693. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 733. »Par la loi même de la nature les femmes, tant pour elles que pour leurs enfans, sont à la merci des jugemens des hommes: il ne suffit pas qu’elles soient estimables, il faut qu’elles soient estimées; il ne leur suffit pas d’être belles, il faut qu’elles plaisent; il ne leur suffit pas d’être sages, il faut qu’elles soient reconnues pour telles; leur honneur n’est pas seulement dans leur conduite mais dans leur réputation [...].« Rousseau, Emile ou de l’éducation, S. 702.

ihres Rufs dargestellt wird, sondern als aktive Gestalterin desselben. Die Anerkennung der Gesellschaft wird als eine rhetorisch zu lösende »Aufgabe« dargestellt. Die Verantwortung für ihren Ruf wird damit auf die Frau selbst übertragen, deren strategische, rhetorische Selbstdarstellung – ihr ēthos – entscheidend für die Anerkennung und die Achtung der Gesellschaft ist. Ihr ēthos liegt nicht außerhalb der rhetorischen Kunst, sondern wird erst durch diese erzeugt. Zu ›gefallen‹ bedeutet also beispielsweise nicht nur, sittsam zu sein, sondern sich vor einem Publikum überzeugend als sittsame Frau zu zeigen. Die »Augen andrer« werden neben dem eigenen Gewissen zum maßgeblichen Indikator für weibliche Tugend. Sichtbar wird die Tugend eben durch die Wohlanständigkeit, die »den Frauen die gewissenhafteste Achtsamkeit über ihr Verhalten, ihr Benehmen und ihre Haltung vorschreibt.«414 Dass ein solchermaßen strategisch ausgerichtetes Verhalten wohl kaum mit dem Ideal eines ›natürlichen Ausdrucks‹ übereinkommen kann, braucht kaum betont zu werden. Dies gehört zu den Aporien des Texts. Die Frage ist nun, inwiefern die ›natürliche Erziehung‹ Rousseaus die Frau befähigen soll, ihre spezifisch weibliche Aufgabe, die Zustimmung ihres Publikums zu erwecken, zu lösen. Zunächst einmal sieht Rousseau vor, dass Mädchen durch die Erziehung von klein auf an einen ununterbrochenen Zwang zu schicklichem Verhalten gewöhnt werden, bis der Zwang zur gewohnheitsmäßigen Gefügigkeit, ja zum Charakterzug der Sanftmut führt. Die untergeordnete Stellung der Frau in der Gesellschaft korrespondiert mit der, so schließt Rousseau, ›natürlichen‹ Anlage der Frau, sich äußerem Zwang sanftmütig zu beugen (und wird damit zugleich legitimiert). Aus diesem gewohnheitsmäßigen Zwang entsteht eine Gefügigkeit, deren die Frauen ihr ganzes Leben lang bedürfen, da sie niemals aufhören, unterworfen zu sein, sei es einem Mann oder dem Urteil der Männer, und es ihnen nie erlaubt ist, sich über dieses Urteil zu erheben. 415

Dieser »Zwang […] der Schicklichkeit«416 erfordert eine absolute Unterwerfung unter die Meinung anderer. Das ›Urteil der Männer‹ beziehungsweise der Gesellschaft erscheint als eine externe Kontrollinstanz, die die Frau durch ihre Erziehung verinnerlichen muss, um eine kontinuierliche, lebenslange Selbstkontrolle ausbilden zu können. Diese externe Kontrollinstanz der gesellschaftlichen Meinung korrespondiert gewissermaßen mit einem inneren Wunsch zu gefallen, den Rousseau als spezifisch weiblich und naturgegeben entwirft. Aufgabe der Erziehung des Mädchens ist es, das weibliche ›Gefallenwollen‹ zu bestärken und zu üben. 417 Dies steht im Gegen-

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Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 727. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 744. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 742. Vgl. Verena Ehrich-Haefeli, Rousseaus Sophie und ihre deutschen Schwestern. In: Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption, hg. von Herbert Jaumann, Berlin, New York 1995, S. 115–162, S. 131f.

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satz zu der Erziehung des Jungen: Emile wird in der Einsamkeit auf dem Land dazu erzogen, erwachsen und autark zu werden, ohne sich abhängig von der Meinung der Gesellschaft zu machen. Sophies Erziehung dagegen unterstützt die angeblich in der Natur der Frau liegende Sehnsucht nach einer Bestätigung von außen. Von klein auf, so Rousseau, liebten Mädchen Spiegel, Schmuck, Stoffe, Puppen, alles, um zu üben, wie sie sich später selbst herausputzen und in ihrer Umwelt Gefallen erwecken können. 418 Dieses weibliche Gefallenwollen bezieht sich sowohl auf die Kleidung als auch auf die gesamte actio, wie Rousseau beschreibt. Auf die Kleidung der jungen Frau geht Rousseau besonders ausführlich ein, sie muss den Regeln der dissimulatio artis folgen, also kunstvoll wirken, ihre eigene Kunst aber verbergen: Man kann durch Aufmachung brillieren, aber man gefällt nur durch seine Person. Unsere Kleider sind nicht wir selbst. Oft wirken sie entstellend, weil sie so gesucht sind; oft dagegen heben sie die Wirkung der Frau, die sie trägt, um so mehr hervor, je unauffälliger sie selbst sind. 419

Immer wieder wird der Unterschied von brillieren beziehungsweise glänzen auf der einen und gefallen auf der anderen Seite aufgerufen und dem Gegensatz von künstlich und natürlich beigeordnet. Gewünscht ist das eher mittlere Maß des ›natürlichen‹ Gefallens – dass dessen Herstellung ebensoviel ›Kunst‹ bedarf, nur in einer anderen ›Stillage‹, wird nicht explizit gemacht. Neben der möglichst schlichten Kleidung, die allerdings im Unterschied zum sich darin befindenden Körper immer noch eine äußere Hülle ist, wird auch die restliche actio als maßgebliches Mittel zu gefallen beschrieben. Das erste, was junge Mädchen beim Heranwachsen bemerken, ist, daß all diese künstliche Anmut [der Kleidung] ihnen nicht genügt, wenn sie keine haben, die ihnen selbst zu eigen ist. Schönheit kann man sich niemals selbst geben, und man ist auch nicht so rasch imstande, Koketterie zu lernen; aber man kann schon versuchen, seinen Gesten Anmut, seiner Stimme einen einschmeichelnden Ton zu verleihen, seine Haltung einstudieren, leichtfüßig einhergehen, sich liebenswürdig geben und überall ins vorteilhafteste Licht rücken. Die Stimme bekommt Klang, wird fester und erhält ihr eigenes Timbre; die Arme entwickeln sich, der Gang wird selbstbewusster und man merkt, daß es, wie immer man auch gekleidet sein mag, eine Kunst gibt, die Blicke auf sich zu ziehen. 420

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»Fast von Geburt an sind kleine Mädchen putzsüchtig«. »Und tatsächlich lernen fast alle kleinen Mädchen mit Widerwillen lesen und schreiben, aber sie lernen immer gern, wie man die Nadel führt. Sie sehen sich schon als Erwachsene und denken voller Lust daran, daß diese Fertigkeit ihnen eines Tages dazu dienen wird, sich herauszuputzen.« Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 734, S. 739. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 747f. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 750f. »On ne peut jamais se donner la beauté, et l’on n’est pas sitôt en état d’acquérir la coquéterie; mais on peut déja chercher à donner un tour agréable à ses gestes, un accent fl ateur à sa voix, à composer son maintien, à marcher avec légéreté, à prendre des attitudes gracieuses et à choisir par tout ses

Beides, Kleidung und eloquentia corporis dienen dazu, Blicke auf sich zu ziehen. In diesen Blicken erhält die Frau die Bestätigung, dass sie ihr Ziel, als anmutige, liebenswürdige Frau zu erscheinen und dem Publikum zu gefallen, erreicht hat. Dabei gelingt Rousseau das Kunststück, die einstudierte Gestik, Haltung und Stimmführung als ›natürlich‹ erscheinen zu lassen, indem er sie in einen Gegensatz zu der ›künstlichen Anmut‹ der Kleidung setzt, die als fremde, künstliche Hülle dem Körper übergestülpt wird, wohingegen die geübte anmutige actio zu zweiten Natur wird: Stimme, Arme und Gang ›entwickeln sich‹, der Körper formt sich und ihre actio ist der Frau schließlich ›selbst zu eigen‹, also nicht mehr äußerlich oder bewusst, sondern verkörpert und ›authentisch‹. Dies wird auch deutlich, wenn Rousseau Sophies actio beschreibt: Ihre »natürliche[n] Talente« hat sie – ohne »viel Kunst« – gepflegt, indem sie sich »begnügt« hat, »ihre hübsche Stimme im richtigen und gefälligen Gesang zu üben, ihre Füßchen federleicht und graziös zu setzen, in jeder Situation ihre Reverenz frei und ungehemmt zu machen«. 421 Die Übungen zur actio werden zwar en passant erwähnt, jedoch nicht – wie in der alten Rhetorik oder der Anstandslehre um 1800 – als aufwändiger, lebenslanger Lern- und Übungsprozess beschrieben, sondern als marginale ›Pflege‹ eines angeblich bereits vorhandenen, natürlichen Talents. Neben Kleidung und eloquentia corporis ist es die Rede selbst, die Frauen gefallen lässt: Die Redegabe steht in der Kunst zu gefallen an erster Stelle; durch sie allein kann man die Reize vermehren, mit denen die Sinne durch die Gewohnheit vertraut sind. Der Geist belebt nicht nur den Körper, er erneuert ihn auch in gewisser Beziehung; durch die Wechselfolge von Gefühlen und Ideen beseelt und verändert er die Physiognomie, und durch die Dinge, die er uns sagen läßt, läßt er die immer wache Aufmerksamkeit lange Zeit mit dem gleichen Interesse beim gleichen Gegenstand verweilen. Aus all diesen Gründen, glaube ich, lernen die jungen Mädchen so rasch anmutig zu plaudern, lernen, ihren Worten, selbst bevor sie sie nachempfinden, einen besonderen Tonfall zu geben; aus diesem Grunde hören die Männer ihnen schon so früh gern zu, selbst bevor die Mädchen sie verstehen; die Männer warten gespannt auf den ersten Augenblick dieses Verständnisses, um sich dann in ihr Gefühl einzuschleichen. Frauen haben eine wendige Zunge; sie sprechen früher, mit größerer Leichtigkeit, und liebenswürdiger als Männer. Man beschuldigt sie auch, eher zu reden: das muß so sein, und ich würde diesen Tadel gern in Lob umwandeln; bei ihnen sind Mund und Augen aus dem gleichen Grund gleich aktiv. Der Mann sagt, was er weiß, die Frau, was gefällt; der Mann braucht Kenntnisse zum Reden, die Frau Geschmack; der Mann muß nützliche Dinge zum Thema nehmen, die Frau die angenehmen. Ihre Reden müssen nur eines gemeinsam haben: die Wahrheit. So darf man das Geplauder der Mädchen nicht wie das der Knaben mit der gestrengen Frage: Wozu ist das nutze? eindämmen, sondern mit jener anderen, die nicht weniger schwer zu beantworten ist: Was für einen Eindruck soll das machen?422

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avantages. [...] [I]l ya un art de se faire regarder [...].« Rousseau, Emile ou de l’éducation, S. 715. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 790. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 754f. »Le talent de parler tient le prémier

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Auch hier zeigt sich wieder das Paradox des Natürlichen: Wenn sich, wie Rousseau behauptet, Gefühle und Ideen natürlicherweise in der Physiognomie ausdrücken, wie kann ein Mädchen dann etwas ausdrücken, das es gar nicht versteht, zu dem es also gar keine Gefühle und Ideen haben kann? Der Punkt ist, dass es Rousseau gar nicht darum geht, ob das Mädchen etwas angemessen ausdrückt, weil es die Sache versteht – sondern weil es gefallen will. In einer tautologischen Argumentation ist das Gefallenwollen nicht nur die Begründung für weibliche Rede, sondern auch Inhalt und Ziel weiblicher Rede. Mit dieser Vorgabe schaut sich Rousseau die sprachliche Entwicklung weiblicher und männlicher Kinder an und (er-)findet die entsprechenden Argumente für eine natürliche Differenz: der Junge oder Mann redet sachorientiert und das Mädchen oder die Frau redet beziehungsorientiert. Der Mann spricht kenntnisreich und steuert nützliche Dinge zum Gespräch hinzu, die Frau spricht mit Geschmack und macht das Gespräch angenehm, der Mann redet, die Frau plaudert. Beiden Geschlechtern werden unterschiedliche Aufgaben für den Gesprächsverlauf zugewiesen, wobei die der Frauen zwar nicht unwichtig, aber im Vergleich zu denen der Männer eindeutig untergeordnet sind. Dies ist eine bis in die Gegenwart überaus wirkmächtige Aussage über geschlechtsspezifische Redeweisen423, die bei Rousseau in einem Erziehungsprogramm gipfelt, das diese Differenz zum einen naturalisiert und zum anderen erzieherisch fördert und bestärkt. Die Mädchenerziehung befördert das rhetorische Ziel, durch die Rede zu gefallen, mit der Fragestellung, was für einen Eindruck die Rede machen solle. Damit richtet sich die Rede grundsätzlich auf eine erwünschte Publikumsreaktion aus. Anders als die Leitfrage an die männliche Rede, wozu die Rede nützlich sein solle, bezieht die Leitfrage an die weibliche Rede die actio sehr viel stärker ein. Denn die actio wird wohl der Nützlichkeit des Redeinhalts wenig hinzufügen können, dem Eindruck der Rede beim Publikum jedoch umso mehr. Die actio ist dementsprechend für die Frau von besonderer Relevanz. Des Weiteren bestärkt die Rousseau’sche Mädchenerziehung das Ziel, durch die Rede zu gefallen, mit einem »Gesetz« für Mädchen: »denen, mit denen sie reden, niemals anderes als Angenehmes zu sagen« 424 . Dieses erste ›Gesetz‹ wird ergänzt durch ein zweites: niemals zu lügen. Dass die geforderte »Wahrheit oh-

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rang dans l’art de plaire [...]. Les femmes ont la langue fléxible; elles parlent plus tôt, plus aisément et plus agréablement que les hommes; on les accuse aussi de parler davantage: cela doit être, et je changerois volontiers ce reproche en éloge: la bouche et les yeux ont chez elles la même activité et par la même raison. L’homme dit ce qu’il sait, la femme dit ce qui plait [...]. On ne doit donc pas contenir le babil des fi lles comme celui des garçons par cette interrogation dure: à quoi cela est-il bon? mais par cette autre à laquelle il n’est pas plus aisé de répondre: quel effet cela fera-t-il?« Rousseau, Emile ou de l’éducation, S. 718f. Vgl. Kapitel V.2.2. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 755.

ne Unhöflichkeit«425 problematisch ist, erkennt Rousseau selbst. In der Mitte des 18. Jahrhunderts haben sich ›Höflichkeit‹ und ›Wahrhaftigkeit‹ als Gegensätze etabliert. Wenig überraschend ruft Rousseau wiederum die Natur zur Hilfe, um die paradoxe Gleichzeitigkeit von Wahrhaftigkeit und Höflichkeit speziell in der weiblichen Rede zu ermöglichen. Rousseau argumentiert, dass Frauen von Natur aus höflich seien, da sie ja auch von Natur aus gefallen wollten. Im Umgang mit den Menschen bemerke ich allgemein, daß die Höflichkeit der Männer eher Dienstfertigkeit ist, die der Frauen aber eher eine Freundlichkeit. Dieser Unterschied kommt nicht aus der Konvention, sondern von der Natur. Der Mann scheint eher dienen zu wollen, die Frau will gefallen. Daraus folgt, daß, wie immer es auch um den Charakter der Frauen bestellt sein mag, ihre Höflichkeit nicht so falsch ist wie die unsere [...]. 426

So entwirft Rousseau auch Sophie als eine Frau, die Wahrheit und Höflichkeit problemlos verbinden kann, indem sie einfach von Herzen spricht – und dieses Herz von Natur aus freundlich ist. Die naive Sophie hat wenig Erfahrung in der Gesellschaft, ein »glückliches Naturell dient ihr besser als jede Kunst«427 und ihr Geist, der durch elterliche Unterredungen und kaum Lektüre 428 nur wenig geübt ist, »genügt […], um den Leuten, die sich mit ihr unterhalten, angenehm zu sein.« 429 Sie entspricht Rousseaus Weiblichkeitsideal, was die Konversation betrifft, dahingehend, dass sie »einen wirklichen Wunsch zu gefallen« hegt. 430 Sophie will nicht nur Höflichkeitskonventionen Genüge tun, ›triviale Komplimente‹ austauschen, ›galantes Geschwätz‹ anhören oder ›Phrasen drechseln‹, wie Rousseau aufzählt, sondern sie lässt »ihr Herz sprechen«.431 Die weibliche Herzenssprache ist ein Ideal, das allerdings nicht mit Emiles ›offener‹ Rede gleichgesetzt werden darf. Denn während es Emile erlaubt ist, sich sachlich und direkt mitzuteilen, ist es Sophies Aufgabe, anderen Angenehmes mitzuteilen und sich selbst dem ›Zwang des Schicklichen‹ zu unterwerfen. Diese Unterwerfung impliziert eine grundsätzlich hierarchische Kommunikationsstruktur, in der der Mann sagen darf, was er will, und die Frau sagen muss, was Andere hören wollen. Rousseau kann nicht leugnen, dass Anderen Angenehmes mitzuteilen

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Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 756. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 756. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 798. François Fénelons Télémaque ist das einzige Buch, das Sophie liest. Es fällt ihr zufällig in die Hände und ist insofern für den Romanfortgang wichtig, als Sophie durch die Abenteuer des Telemach das Idealbild eines jungen Mannes entwickelt, das sie in Emile wieder findet. Fénelons Abenteuer-, Reise- und Bildungsroman Les Aventures de Télémaque, fils d’Ulysse (1693, veröffentlicht 1699) war außerordentlich weit verbreitet. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 793. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 798. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 798. »[E]lle laisse parler son cœur«: Rousseau, Emile ou de l’éducation, S. 753.

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schlichtweg nicht alle Kommunikationsziele der Frau abdecken kann. Wie kann die Frau formulieren, was sie selbst will, ohne zu missfallen? Da die Frau dazu geschaffen ist, zu gefallen und sich zu unterwerfen, muß sie sich dem Mann liebenswert zeigen und ihn nicht herausfordern, ihre Macht liegt in ihren Reizen, und mit ihnen muß sie ihn zwingen, seine eigene Kraft zu entdecken und zu gebrauchen. 432

Die Antwort ist: Die Frau sagt nicht, was sie will, sie zeigt dem Mann, was sie wollen könnte. Die weibliche Rede ist eine indirekte Rede – die sich körpersprachlicher Zeichen bedient, um ihre Wünsche dem Mann zu suggerieren, ohne sie offen auszusprechen. Kurz: die weiblichen Techniken der Persuasion sind Verführung, List, Schmeichelei und Tränen. Die Frau herrscht nicht durch ihre offene Überzeugungskraft, sondern durch »List«, »Sanftmut« und »Gefälligkeit; ihre Anordnungen sind Schmeicheleien, ihre Drohungen sind Tränen«.433 Diese Rede erhält die ›Ordnung der Geschlechter‹ – die männliche Aktivität und weibliche Passivität – scheinbar intakt, sie überlässt dem Mann die alleinige Macht zu handeln und übergibt der Frau die rhetorische Macht, ihn zum Handeln zu bewegen. Rousseau entwirft die Rhetorik der List explizit als einen Machtausgleich in der Geschlechterordnung, indem die rhetorische List der Frau die physische Überlegenheit des Mannes aufwiegen soll. »Diese besondere Schläue, die dem weiblichen Geschlecht mitgegeben wurde, ist eine sehr angemessene Entschädigung für die Kraft, die ihm fehlt«434 . Als »ein dem weiblichen Geschlecht natürliches Talent«435 ist die List, wie alles Natürliche, nicht an sich schlecht. Die Frauen sind falsch, sagt man uns. Sie werden es. Die Gabe, die ihnen eigen ist, ist die Geschicklichkeit und nicht die Falschheit: folgen sie den wahren Neigungen ihres Geschlechts, sind sie nicht falsch, selbst wenn sie lügen. Warum befragt ihr ihren Mund, da nicht er es ist, der sprechen soll? Befragt ihre Augen, die Färbung ihres Gesichts, ihr Atmen, ihre verängstigte Miene, ihren kraftlosen Widerstand: das ist die Sprache, die die Natur ihnen gibt, um euch zu antworten. Der Mund sagt immer nein und muß es sagen; aber der Ton, in dem er es sagt, ist nicht immer der gleiche, und dieser Ton kann nicht lügen. 436

So nimmt Rousseau die Körpersprache, die Augen, die Mimik, Gestik und Stimmführung, zugleich für zwei entgegen gesetzte Argumente in Anspruch: einerseits

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Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 721. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 817. »L’empire de la femme est un empire de douceur, d’addresse et de complaisance, ses ordres sont des caresses, ses menaces sont des pleurs.« Rousseau, Emile ou de l’éducation, S. 766. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 747. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 745. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 772. »La bouche dit toujours non, et doit le dire; mais l’accent qu’elle y joint n’est pas toujours le même, et cet accent ne sait point mentir.« Rousseau, Emile ou de l’éducation, S. 734.

authentisch, unverstellt und natürlich zu sprechen und andererseits strategisch, listig und persuasiv: Alles, was ihr Geschlecht aus sich nicht vollbringen kann, was ihm aber angenehm oder notwendig ist, muß sie uns durch ihre Kunst wollen lassen; so muß sie den Geist des Mannes gründlich erforschen […]. Sie muß durch ihre Reden, ihre Blicke und Gebärden die Empfindungen der Männer ergründen. Sie muß ihnen durch ihre Reden, ihre Handlungen, Blicke und Gebärden die Gefühle einzuflößen verstehen, an denen ihr liegt, ohne daß es nicht einmal den Anschein hat, als täte sie es bewußt. Die Männer können besser über das menschliche Herz philosophieren, die Frau aber kann besser im menschlichen Herzen lesen. 437

Indem die Frau ihre, so Rousseau, ›naturgegebene‹ Beobachtungsgabe dazu nutzt, ihr Zielpublikum, den Mann, zu analysieren und ihre actio ganz auf ihn ausrichtet, gelingt es ihr, ihm ›Gefühle einzuflößen‹, das heißt, ihn im wahrsten Sinne zu ›bewegen‹ – nämlich das zu tun, was sie will. Wichtig ist wiederum die dissimulatio artis, denn die listige Rede darf sich nicht als solche zu erkennen geben. »Wie sehr kommt es für sie darauf an, daß sie das Herz eines Mannes rühren lernt, ohne daß sie an ihn zu denken scheint!«438 Die natürliche List der Frau impliziert, dass es ihr gelingt, zugleich ihre List zu verbergen. Damit folgt die Sprache der List, so sagt Christine Garbe, der Ökonomie der Scham: Ebenso wenig, wie die Frau ein ›Zuviel‹ an körperlichen Reizen entdecken dürfe, um im Spiel des Begehrens durch ihr schamhaftes Äußeres die Eroberungsphantasien des Mannes umso mehr zu reizen, ebenso wenig dürfe sie verbal ihre eigenen Wünsche entdecken.439 Der in der indirekten Rede verschleierte Ausdruck ihrer Wünsche muss wiederum verschleiert werden: »Die schamhafte Frau verschleiert ihren Schleier und wirkt deshalb naiv und unschuldig; sie ist es aber mitnichten. Rousseau selbst beschreibt sie vielmehr als raffiniert, subtil und kokett.«440 Diese paradoxe Anordnung löst der Text nicht auf: die dissimulatio artis wird zugleich gefordert und entlarvt.

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Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 776. »Il faut qu’elle apprenne à pénétrer leurs sentimens par leurs discours, par leurs actions, par leurs regards, par leurs gestes. Il faut que par ses discours, par ses actions, par ses regards, par ses gestes elle sache leur donner les sentimens qu’il lui plait, sans même paroitre y songer.« Rousseau, Emile ou de l’éducation, S. 737. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 772f. Garbes zeichentheoretischer Ansatz unterscheidet sich von meinem rhetorischen. Während ich die kunstvolle Verschleierung weiblicher ›Wünsche‹ in die Tradition der dissimulatio artis stelle und als rhetorische Strategie lese, kommt Garbe zum Schluss: »Die listige Frau beherrscht die Kunst, ihre ›Neigungen‹ mitzuteilen, ›ohne sie zu enthüllen‹. Im Konzept der Schamhaftigkeit verdichtet sich also der […] weibliche Modus der Kommunikation – ein Modus, für den die Differenz zwischen Gesagtem und Gemeintem, zwischen Signifi kant und Signifi kat konstitutiv ist.« Christine Garbe, Die ›weibliche‹ List im ›männlichen‹ Text. Jean-Jacques Rousseau in der feministischen Kritik, Stuttgart, Weimar 1992, S. 95. Garbe, Die ›weibliche‹ List im ›männlichen‹ Text, S. 100.

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Rousseau entwirft eine Art Geschlechter-Vertrag, in dem die Frau nur durch ihre indirekte, einschmeichelnde, omnipräsente Einflussnahme auf den Mann zu herrschen vermag, der Mann sich freiwillig der Sanftheit der Frau unterwirft. Was geschieht jedoch, wenn dieser Vertrag von einer der beiden Seiten gekündigt wird? Welche Handlungsfreiheit gibt der Text den Geschlechtern? Wenn der Mann den Vertrag verletzt, indem er auf die indirekte Rede einer sanften Frau nicht achtet, mag er wohl als unvernünftig oder barbarisch 441 gelten, was angesichts seiner weitaus geringeren Abhängigkeit von der gesellschaftlichen Meinung allerdings zu verschmerzen sein dürfte – weitere Repressionen bleiben jedoch aus. Wenn sich die Frau dagegen auf männlichen Feldern bewegt, indem sie beispielsweise eigene wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht, ihrer kritischen Meinung über literarische Texte öffentlich Ausdruck verleiht und für ihre Rede Anerkennung einfordert, so wird sie für ihre Vertragsverletzung bestraft, indem sie der Lächerlichkeit und folgerichtig der gesellschaftlichen Ächtung preisgegeben wird. Eine gelehrte Frau, die sich öffentlich – und das heißt wohlgemerkt auch: direkt und sachlich – äußerte, würde nicht nur zur »Geißel ihres Mannes«, sondern gar selbst »zum Mann«442 . Eine Verkehrung seiner Ordnung geschlechtsdifferenzierter Redeweisen mit ihrer impliziten Machtverteilung malt Rousseau plakativ an die Wand: Es entstünde nichts als »Elend, Ärgernis und Schande«443. Der angebliche Machtausgleich zwischen den Geschlechtern durch die Sprache der List ist nur ein sehr begrenzter: Solange der Frau das Gefallenwollen als natürliche Eigenschaft und oberste Tugend – zusammen mit Schamhaftigkeit und Bescheidenheit – zugeschrieben wird, ist sie aus allen öffentlichen Räumen ausgeschlossen, in denen es nicht um eine beziehungsorientierte Rede zum Gefallen anderer, sondern um die Bekanntmachung eigener Meinungen oder gar um die direkte rhetorische Durchsetzung eigener Interessen geht. »Ihre Würde ist es, nicht gekannt zu sein«444, behauptet Rousseau, – ein Satz, der eine massive Einschränkung weiblicher Rhetorik nach sich zieht.

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Vgl. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 782. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 819. »Es ist ein großer Unterschied, ob man sich das Recht zu befehlen anmaßt oder den, der befiehlt, beherrscht. Die Herrschaft der Frau ist die Herrschaft der Sanftmut, der Geschicklichkeit und der Gefälligkeit; ihre Anordnungen sind Schmeicheleien, ihre Drohungen sind Tränen. Sie soll im Haus regieren wie ein Staatsminister, indem sie sich befehlen läßt, was sie tun will. […] [V]erkennt sie jedoch die Stimme des Oberhauptes, will sie seine Rechte usurpieren und selbst befehlen, so entsteht nie anderes aus dieser verkehrten Ordnung als Elend, Ärgernis und Schande.« Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 817. Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. 819. »Sa dignité est d’être ignorée«: Rousseau, Emile ou de l’éducation, S. 768.

IV.4.4 Bescheidenheit: Campes Einschränkung weiblicher Rhetorik Die Rezeption von Rousseaus Bildungstheorie und ebenso seiner Geschlechterideologie übt einen starken Einfluss auf die pädagogischen Reformer im Umkreis der Philanthropen aus, insbesondere auf Joachim Heinrich Campe. Der Lehrer, Schulleiter (zeitweise am Philanthropinum in Dessau) und Schulreformer hat als Erziehungsschriftsteller bereits einigen Erfolg mit Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend (1783), bevor er ähnlich wie Rousseau, der seinem Emile eine Sophie hinzufügt, ein Supplement zur weiblichen Erziehung veröffentlicht: Väterlicher Rath für meine Tochter. Ein Gegenstück zum Theophron. Der erwachsenern weiblichen Jugend gewidmet erscheint 1789.445 Campes Väterlicher Rath avanciert mit 10 Auflagen zwischen 1789 und 1832, zahlreichen Raubdrucken sowie Übersetzungen in weitere Sprachen zum Beststeller und beeinflusst die Diskussion der Zeit über Mädchenbildung erheblich. Die Bestimmung der Frau ist nach Campe eine doppelte: Als Mensch und als Frau. Was das Menschsein betrifft, fasst sich Campe kurz, was das Frausein betrifft, wird er ausführlich. Die Frau als Frau hat drei Aufgaben: Ehefrau, Mutter, Hausfrau. Alles, was ein Mädchen lernen kann, ist auf diese ›weibliche Bestimmung‹ ausgerichtet, hier zeigt sich der Einfluss Rousseaus. Anders als bei Rousseau steht bei Campe jedoch nicht die Aufgabe der Frau als zärtliche Gattin/ Geliebte, sondern als tüchtige Hausfrau im Vordergrund. Campe schreibt für Töchter der bürgerlichen Mittelschicht, konkret spricht er seine eigene Tochter Philippine Charlotte an, die mit fünfzehn Jahren ins heiratsfähige Alter kommt. 446 Die »eigentliche Bestimmung des Weibes« zu definieren und seine Tochter dazu anzuleiten, »ihrer Bestimmung nachzuleben«447, ist das Ziel des Väterlichen Raths, und darauf verwendet Campe 230 der 266 Seiten seines ersten Teils zur Töchtererziehung. 448 Die Ausführlichkeit und die Vehemenz, mit der der weibliche Geschlechtscharakter beschrieben und begründet wird, offenbart, dass hier nicht nur ein Konsens wiedergegeben wird, sondern weibliches Verhalten al-

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Campe befasste sich intensiv mit Rousseaus Mädchenerziehung im Emile, den die Philanthropen in der von Campe initiierten und herausgegebenen Allgemeinen Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens. Von einer Gesellschaft praktischer Erzieher (in 16 Bänden 1785–1792) in deutscher Übersetzung veröffentlichten und kommentierten. Wie Rousseau strebt Campe statt einer ›Kinderzucht‹ die ›naturgemäße Entwicklung‹ des Kindes an. Vgl. Michaela Jonach, Väterliche Ratschläge für bürgerliche Töchter. Mädchenerziehung und Weiblichkeitsideologie bei Joachim Heinrich Campe und JeanJacques Rousseau, Frankfurt a. M. u. a. 1997, zum Einfluss Rousseaus auf Campe bes. S. 17 u. 60. Vgl. Campe, Väterlicher Rath für meine Tochter, S. VII. Anders als Rousseaus Emile und Sophie führt Campes Tochter Charlotte also kein adeliges Landleben. Campe, Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 39. Gezählt hat Weckel, Der Fieberfrost des Freiherrn, S. 360. Der zweite Teil des Väterlichen Raths vermittelt generelle »Menschenkenntnis« und den angemessenen Umgang mit verschiedenen Typen von Menschen.

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lererst definiert und zudem einstudiert werden muss. Der Erziehungsratgeber stellt dementsprechend nicht nur den weiblichen Geschlechtscharakter dar, sondern leitet auch zur angemessenen Performanz ›als Frau‹ an. Diese Anleitung wird durch Beispiele, Erzählungen und väterliche Erfahrungsberichte begründet, aber auch mit unverhohlenen Drohungen durchgesetzt: Bei mangelnder Performanz von Weiblichkeit droht der Verlust von Gesundheit, der Verlust von Zuneigung, der Verlust von Würde. Campe argumentiert, die Natur habe es so eingerichtet, dass der Mann der Herrscher über die Frau sein soll – »er die Eiche, sie der Efeu«449 –, und die Gesellschaft befördere dies. Campe erklärt die Erziehung zu einer Vollstreckungsgehilfin der Natur, die im gesellschaftlichen Auftrag die scheinbar natürlichen unterschiedlichen Anlagen zwischen Mann und Frau zur vollkommenen Differenz ausbildet. Die Erziehung hat dafür Sorge zu tragen, dass der von Natur aus gegebene und von der Gesellschaft erwünschte Geschlechtscharakter auch hinreichend ›performed‹ wird. Dass die Frau dabei schlecht wegkommt und ihre Erziehung durchaus eine gewaltsame Note trägt, zeigen Campes Kapitel über die »ungünstige[n] Verhältnisse des Weibes zur menschlichen Gesellschaft« und seine Aufzählung der »Mittel zur Verbesserung dieser ungünstigen Verhältnisse und zur Erreichung jener [weiblichen] Bestimmung«, eine Verbesserung, die unter anderem durch »Abhärtung« und »Gewöhnung an Abhängigkeit« zu erreichen ist. Affektkontrolle, Entsagung und Selbstverleugnung sollen es der Frau ermöglichen, ihre untergeordnete Stellung zu ertragen und die dazugehörigen Aufgaben zu bewältigen. So dient Campes Ratgeber der Durchsetzung der bürgerlichen Geschlechterordnung. Ziel der Campe’schen Erziehung ist es also, den Geschlechtscharakter auszubilden und der Frau die nötigen Kenntnisse für die Haushaltsführung sowie Menschenkenntnis für den gesellschaftlichen Umgang zu vermitteln. Ästhetische und sprachliche Bildung lehnt Campe dagegen für die Frau ab. Im Gegenteil malt er in buntesten Farben aus, wie die Hauswirtschaft und die Kinder verkämen, sollte sich die Frau ausgedehnter Lektüre oder gar schriftstellerischen Tätigkeiten widmen. Ein Mädchen dürfe keine Fremdsprachen lernen, nur wenig lesen, nur wenige der schönen Künste ausüben – weil sie all das als bürgerliche Hausfrau nicht brauche. Daneben beeinträchtigen die schönen Künste durch das viele Sitzen die Gesundheit, ihre Ausübung »verzärtelt das Empfindungsvermögen, überspannt und schwächt die Nerven«. Die solchermaßen ästhetisch gebildete Frau, deren Hör- und Sehsinn geschult ist, sei dann verdorben für die gänzlich unästhetischen »Hauptörter ihrer verdienstlichen weiblichen Existenz«, die Kinderstube und die Küche. 450 Der ›Gemütscharakter‹, den Campe als spezifisch weiblichen entwirft, beinhaltet folgende Tugenden: Reinheit des Herzens, wahre und aufgeklärte Frömmigkeit, Schamhaftigkeit und Keuschheit, Bescheidenheit, Befreiung von Eitel-

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Campe, Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 21. Campe, Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 40.

keit, Freundlichkeit und Herzensgüte (Frohsinn, Geduld, Sanftmut, Biegsamkeit, Selbstverleugnung), Bedächtigkeit, Ordnungsliebe, Sparsamkeit, Häuslichkeit und Gewöhnung an die Abhängigkeit. Besonders auf die Bescheidenheit, diese »Krone weiblichen Charakters«451 möchte ich einen ausführlicheren Blick werfen, da sie eine herausragende Rolle in der Unterdrückung jeglicher offenkundig rhetorischen Betätigung der Frau spielt. Die Konsequenz der Bescheidenheitsforderung ist für die Frau in rhetorischer Hinsicht massiv: Weibliche Bescheidenheit und öffentliche Redeauftritte schließen sich schlichtweg aus. Ich erinnere daran, dass die Bescheidenheit in der antiken Rhetoriktheorie zur captatio benevolentiae eingesetzt wird und keineswegs weiblich gegendert ist. 452 Im Gegenteil zeichnet sie den höflichen Redner aus, der seinem Publikum Anzeichen von Bescheidenheit bis hin zu Scham zu sehen gibt, um dessen Neigungen zu gewinnen. Im 18. Jahrhundert hingegen ist die Bescheidenheit keine geschlechtsneutrale Tugend mehr – im Gegenteil: sie ist »eine der ersten und nothwendigsten Tugenden des Weibes«453. Die Frage stellt sich, mit welcher Begründung die Bescheidenheit einen so außergewöhnlichen Platz im weiblichen Tugendkanon des 18. Jahrhunderts einnimmt. Bescheidenheit ist immer eine Frage der Verhältnismäßigkeit: Campe versucht den schmalen Grat zu bestimmen, der für die Frau zwischen legitimem Selbstwertgefühl und Unbescheidenheit verläuft. Den eigenen Wert zu betonen – und damit Gefahr zu laufen, unbescheiden zu wirken – sei für die Frau, so Campe, in Anbetracht ihrer Schwäche, ihrer Abhängigkeit, ihrer Unselbstständigkeit und ihrer geringeren Ausbildung deutlich problematischer als für den Mann. Campe schließt daraus, dass »das Weib die Tugend der Bescheidenheit billiger und vernünftiger Weise noch weiter treiben sollte, als der Mann«454 . Campe begründet, warum die Frau lieber allzu viel Bescheidenheit an den Tag legen sollte, als zu wenig: Darum, weil es der Wille der Natur ist, dieweil sie das Weib schwächer machte, als den Mann, offenbar auch wollte, daß sie bescheidener und geschmeidiger wäre, als dieser; darum, weil die Verdienste eines Weibes, wenn sie an sich auch noch so große und glänzende sind, doch vergleichungsweise von engern Schranken eingeschlossen werden, ins Große weder wirken können noch sollen, also auch dem weiblichen Stolze und den weiblichen Ansprüchen weder zur Rechtfertigung, noch zur Entschuldigung dienen können; darum, weil der Abstich zwischen ungeheuern Ansprüchen und unverhältnißmäßig geringen und kleinlichen Verdiensten für jeden vernünftigen Beurtheiler einen höchstwiderlichen und unausstehlichen Anblick macht, der das Weib in den Augen desselben nothwendig herabsetzen und es zum Gegenstande wo nicht seiner Verachtung, doch seines Mitleids machen muß; darum, weil besonders der Gatte einer so prätensionsreichen Dame zwischen zweien Übeln die unglückliche Wahl hat, entweder selbst bis an das Ende seiner Tage ein geplagter und entmannter Mann zu seyn, oder seiner

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Campe, Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 172. Vgl. zur Bescheidenheit in der alten Rhetorik Kapitel III.4.3 sowie in der Anstandsliteratur Kapitel IV.5.4 (Bescheidenheit, die weibliche Zier). Campe, Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 173. Campe, Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 167.

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theuern Hälfte von Zeit zu Zeit das schwindelnde Köpfchen zurecht zu setzen und sie zum Gefühl ihrer Kleinheit und ihrer Schwäche zurückzuführen; darum endlich, weil eine solche Dame selbst, wenn es ihr auch gelingen sollte, die Rechte des Mannes zu plündern, dennoch ein sehr unzufriedenes und mismüthiges Leben führen muß, weil sie, den Tribut von Worten und Reverenzen abgerechnet, in der ganzen menschlichen Gesellschaft keine Anerkennung ihrer Ansprüche, keine Befriedigung ihres Stolzes, sondern überall demüthigende Beschränkungen ihres Ehrgeizes, überall kräftigen Widerstand und überall Hohngelächter findet [...]455.

Recht viel Aufwand treibt Campe hier, um der Frau die Bescheidenheit auf den Leib zu schreiben. Campes erste Begründung seiner Bescheidenheitsforderung beginnt mit der Setzung, dass Frauen von Natur aus geringere körperliche und geistige Leistungen erbringen könnten als der Mann. Der Mann wird mit geistiger Größe, die Frau mit Kleinheit gleichgesetzt. Dass diese Setzung nicht so recht aufgeht und eher einem Wunschzustand gleicht, verursacht Campe Begründungsnot. Dies macht sowohl die Doppelung des Verbs deutlich, dass »Frauen ins Große weder können noch sollen«, als auch die Drohung, dass eine Frau, »wenn es ihr auch gelingen sollte«, Größeres zu leisten als der Mann, dennoch unglücklich bleibe, weil ihr für ihre Leistungen keinerlei gesellschaftliche Anerkennung zuteil werden könne. Der Verdacht kommt auf, dass weibliche Größe im Bereich des Möglichen liegt. Weil die Größe aber dem Mann zusteht und der Frau das Gegenteil, »entmannt« eine »große« Frau notwendigerweise ihren Mann. Mit der Bescheidenheits-Vorschrift verhindert ›Mann‹ weibliche Konkurrenz. Campe belässt es nicht bei einem Rat oder einer Regel, sondern setzt starke Adjektive zur Abschreckung ein. Die unbescheidene Frau bietet einen »höchstwiderlichen und unausstehlichen Anblick«, die ›Augen der Gesellschaft‹ sind es, unter die sie nur bescheiden, nicht aber anspruchsvoll treten darf. Gefordert wird eine sichtbare Performanz der Bescheidenheit. Die geforderte Sichtbarkeit bringt allerdings sofort die Gefahr der Verstellung ins Spiel: Die wahre Bescheidenheit dürfe nicht mit der ›falschen Larve der Bescheidenheit‹ verwechselt werden. Nicht das affectirte Niederschlagen und Niedersenken der Augen und des Kopfes, welches gemeiniglich weiter nichts als eine Einladung für die Blicke der Umstehenden ist, sich auf die Reize oder den Putz der Dame um so viel freier und ungestörter zu heften; nicht das taubenmäßige Drehen und Verkürzen des Halses, welches in der Regel weiter keine andere Absicht hat, als eine schöne Wellenlinie hervorzubringen und den Busen etwas stärker hervorzudrängen; nicht die anscheinende Nachläßigkeit im Putz, welche oft viel gesuchter und absichtsvoller, als der regelmäßige Anzug ist, nicht das sanfte Lispeln oder Girren einer schmelzenden Stimme, welche in der Gesellschaft wie ein leiser Zephir säuselt und flüstert, und ausser der Gesellschaft gegen Mann und Gesinde oft wie ein Orkan heult; nicht das prätensionsvolle Ablehnen gewisser Kenntnisse und Verdienste durch ein: ich kann nicht darüber urtheilen, aber – oder durch ein: wie käme unser eine dazu, das zu wissen, das zu verstehen, das zu besitzen u. s. w. welches gewöhnlich nichts anders sagen will, als: ich kann allerdings hierüber besser urtheilen,

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Campe, Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 172f.

als Andere, ich weiß und verstehe dieses allerdings besser, habe hiervon allerdings mehr aufzuweisen, als Andere; nicht diese falsche Larve der Bescheidenheit, sage ich, durch welche der Menschenkenner so leicht hindurchschaut, sondern die Gesinnung […]! Wo diese im Herzen ist, da äussert sie sich auch ganz von selbst, ohne alles Studium, nicht durch die eben beschriebene Schönthuerei […]. 456

Diese bemerkenswerte Passage macht deutlich, dass die scheinbar ›wahren‹ Körperzeichen, die einst gerade die Wahrhaftigkeit und Natürlichkeit der Gefühlskommunikation verbürgt haben, ihren Charakter als ›natürliche Zeichen‹ verloren haben. Die stereotype Aufzählung von Bescheidenheits-Zeichen der actio – die spezifische Bewegung der Augen, des Kopfes, des Halses, der Brust und die Führung der Stimme – zeigt, dass diese Zeichen zu einem verfügbaren, strategisch einsetzbaren actioKatalog geworden sind, der dem Verdacht der Künstlichkeit unterliegt. Campe verlegt die Bescheidenheit ins Herz und schreibt der ›Herzenssprache‹ erneut einen unhintergehbaren natürlichen Ausdruck zu. Es bleibt das Paradox bestehen, dass weibliche Bescheidenheit sichtbar nach außen abgebildet werden muss, ohne dafür auf die traditionellen Mittel der actio-Rhetorik zurückgreifen zu dürfen. Wie bereits erwähnt, wendet sich Campe mit seinem Bescheidenheitsanspruch insbesondere gegen die Zurschaustellung weiblicher Bildung.457 Weibliche Bescheidenheit und Gelehrsamkeit schließen sich aus: Während literarische und wissenschaftliche Bildung für den Mann, so Campe, etwas überaus Löbliches und Wünschenswertes sei, sei sie für die Frau jedoch etwas Zweckwidriges und Schädliches. 458 Campe nimmt eine folgenschwere Setzung vor: Er formuliert Weiblichkeit und Gelehrsamkeit als drastische Antithese. »Gelehrsamkeit und Weiblichkeit, Trieb zu jener und Neigung zu häuslichen Verpflichtungen, starke Belesenheit und hausmütterliche Sorgfalt, Schriftstellerarbeiten und Haushaltungskunst, Recensentenlob und weibliche Bescheidenheit«459 bilden jeweils den schärfsten Gegensatz. Die beiden obersten Regeln der Performanz von Weiblichkeit, sich aus der Öffentlichkeit rauszuhalten und Bescheidenheit zu zeigen, können nun mal per definitionem von der Gelehrten, die ihr Wissen öffentlich machen, oder der Schriftstellerin, die ihre Bücher veröffentlichen will, nicht eingehalten werden. Auch Campe lässt den topischen Vergleich einer Frau, die in der Öffentlichkeit auftritt, mit einer ›öffentlichen Frau‹, einer Prostituierten, nicht aus. »Sie, welche um den Beifall eines ganzen Publicums buhlt, sollte ihre höchste Glückseligkeit in dem Beifall und in

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Campe, Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 174f. Campe verweilt bei dem Gegenstand der weiblichen Gelehrsamkeit überdurchschnittlich lange und bemerkt dies schließlich selbst: »Wundere dich übrigens nicht, meine Tochter, daß ich deine Aufmerksamkeit bei dieser Materie so lange festzuhalten suche. Die Sache betrifft eine epidemische Seuche unsers Zeitalters, vor der ich dich nicht genug warnen und verwahren zu können glaube.« Campe, Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 53. Vgl. Campe, Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 44. Campe, Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 51.

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der Liebe ihres Gatten suchen?«460 Campe glaubt nicht an die Möglichkeit, »daß ein Weib sich mit Publico vermählen und demohngeachtet nur einem einzigen Manne angehören könne.«461 Eine solche Frau zerstöre ihren Ruf ebenso wie ihr Lebensglück und ihre Gesundheit. Drastische Drohungen scheinen Campe geboten, um die Frau, die dennoch nach Gelehrsamkeit strebt, von ihrem Wunsch abzubringen. Eine solche Frau würde Gefahr laufen, an Leib und Nerven zu erkranken und für ihren unbotmäßigen Wunsch mit ihrer »ganzen irdischen Glückseligkeit […] zu büßen«462 . Gebildete Frauen müssen »der Natur durch bittere Leiden, für die Übertretung ihrer Gesetze, eine schwere Genugthuung leisten«463. Schweres verbales Geschütz wird hier aufgefahren, um die Frau in den Grenzen ihres angeblich ›natürlichen‹ Geschlechtscharakters zu halten. Der Text macht die gewaltsame Durchsetzung der gesetzten ›Natur‹ lesbar. Dass in Campes Erziehungskonzept die Rhetorik, sofern es sich um eine öffentlich eingesetzte Kunst beziehungsweise Wissenschaft handelt, keinen Raum hat, ist deutlich geworden. Obwohl Campe zu erkennen gibt, dass er selbst »in Ansehung der Poesie und der Beredsamkeit«464 recht bewandert sei, verliert er kein Wort über eine Ausbildung seiner Tochter in der Beredsamkeit. Wenn nun der Frau jegliche öffentliche Verlautbarung verboten ist, da dies grundsätzlich mit ihrem bescheidenen Geschlechtscharakter und ihren Aufgaben als Gattin, Mutter und Hausfrau als unvereinbar gilt, stellt sich die Frage, welche Rede Campe der Frau überhaupt zuschreibt: Es ist eine Rede im Privaten und sie zielt auf die ›sanfte Überredung‹ des Ehemannes. Der Ehemann – nicht wie bei Rousseau die Gesellschaft – ist das einzige Publikum der Frau: der »Werth und Verdienst der Gattin« liegt »in den Augen ihres vernünftigen Gemahls«465. Im Gegensatz zur öffentlich auftretenden Schriftstellerin, »welche um den Beifall eines ganzen Publicums buhlt, sollte ihre höchste Glückseligkeit in dem Beifall und in der Liebe ihres Gatten« bestehen. 466 Die Rede vor einem größeren heterogenen Publikum ist eine andere als die Rede vor einer Einzelperson. Damit die Frau den Beifall ihres Ehemannes gewinnen kann, muss sie ihre Rede ganz auf ihren Mann ausrichten können. Um die größtmögliche Wirkung zu erzielen, bedarf die Frau der Menschenkenntnis467: Sie soll versuchen,

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Campe, Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 69. Campe, Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 69. Campe, Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 50f. Campe, Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 51. Campe, Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 114. Campe, Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 39. Campe, Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 69. Dieser »Menschenkenntnis nebst den darauf gegründeten Klugheitslehren« widmet Campe den zweiten Teil seines Väterlichen Raths. Darin entwirft er – ähnlich Knigges Umgang mit Menschen – verschiedene »Menschenarten« und Verhaltensregeln für den Umgang mit denselben.

mit spähenden Blicken in die tiefste Tiefe seines oft verschlossenen Herzens einzudringen, seine herrschenden Neigungen, wie jede seiner Schwächen zu erforschen; durch sie muß ihre eheliche und häusliche Staatsklugheit die rechte Art und Weise finden, wie der Mann, unter diesen und unter jenen Umständen, in dieser und in jener Laune behandelt seyn will […], [und sie muss ihm bei unvorsichtigen Entscheidungen] als ein treuer Schutzengel zur Seite stehn, und durch ihre sanfte, einschmeichelnde Überredung ihn noch zu rechter Zeit zurückzuhalten wissen. 468

Während in der antiken Rhetorik die Kenntnis der Affekte des Publikums zwar eine durchaus nötige Voraussetzung ist, stehen doch die sprachlichen Mittel der Überredung im Vordergrund. Dies gilt offenbar nicht für die Frau, wie sie Campe im Sinn hat: Kennt sie den Mann, folgt die entsprechende Rhetorik von allein. Campe verwendet weit mehr Eifer darauf zu beschreiben, wie die Frau den Mann psychologisch untersuchen und durch das Mittel der Beobachtung ausspähen soll, als wie sie ihn überreden soll. Ebenso wenig Aufmerksamkeit wie die verbale Redekunst erhält die körperliche Beredsamkeit. Das Tanzen übernimmt hier eine erzieherische Aufgabe – allerdings nur in Maßen unterrichtet –, damit, so Campe, seine Tochter »von dieser gefährlichen Kunst nur so viel lernen möge[], als zu einer edlen Stellung und Haltung des Körpers, zu einem leichten und angenehmen Gange« 469 nötig sei. Sofern in Campes Väterlichem Rath also überhaupt eine ›rhetorische Lehre‹ enthalten sein sollte, und man nicht nur den Ausschluss von Frauen aus jeglicher rhetorischen, öffentlichen Betätigung konstatieren will, dann ist es die Lehre einer weibliche Rhetorik der »sanften, einschmeichelnden Überredung«, die mit mildem ēthos überzeugt, mit angenehmem Äußeren gefällt, die aufgrund fundierter psychologischer Erkenntnis zielgerichtet vorgeht, die sich grundsätzlich im Privaten, im Haus, vollzieht, und einem Publikum gilt, das nur aus einer Person besteht: dem Mann. IV.4.5 Gesprächigkeit: Einspruch einer Gouvernante Sowohl Fénelon als auch Rousseau greifen, wie ich gezeigt habe, wiederholt einen Topos weiblicher Rede auf, der sich durch die Erziehungsliteratur des 18. Jahrhunderts zieht: den Topos weiblicher Geschwätzigkeit. 470 Die genannten Erziehungs-

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Campe, Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 87. Campe, Väterlicher Rath für meine Tochter, S. 128. Die Geschwätzigkeit ist im 18. Jahrhundert eindeutig weiblich gegendert und ein beliebtes didaktisches Thema in den Moralischen Wochenschriften: »Ein Mann seyn, und schwazzen, ist ein eben so grosser Widerspruch, als ein Weib seyn und schweigen können«, heißt es in der moralisierenden Fabel »Die Schwäzzerinn«, die den traurigen Lebensweg und Untergang der schwatzenden Dorinde zur Warnung darstellt. Dorinde findet einen Mann, dem aber seine Männlichkeit aufgrund seiner Schwatzhaftigkeit abgesprochen wird (»in seinem Wesen [war] sehr viel Weibisches«), und den Dorinde im Schwatzen aufgrund ihrer weiblichen Sprechwerkzeuge immer noch übertrifft (»ihre

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schriften warnen eindringlich vor den Gefahren, die eine geschwätzige Mutter, Amme oder Erzieherin für die Erziehung ihres Kindes (zumal Sohnes) darstellt und zielen darauf, die weibliche Geschwätzigkeit zu begrenzen. Dagegen möchte ich zum Abschluss dieses Kapitels den Artikel einer französischstämmigen Erzieherin mit dem Pseudonym »Adéle« behandeln, der unter dem Titel »Die Gesprächigkeit der Frauen« 1805 im Journal für deutsche Frauen erschienen ist.471 Zwar stellt der Artikel keine Erziehungsschrift dar, gehört also nicht im engeren Sinne in dieses Kapitel, allerdings sind die Moralischen Wochenschriften für ihren belehrendunterhaltsamen Ton und ihre erzieherische Funktion bekannt. Damit bietet sich Adéles Artikel als ein Exkurs an, mit dem ein weibliches Gegensprechen vorgeführt werden kann. Adéle ist sich der Brisanz ihres topischen Stoffes bewusst, sei doch die weibliche »Gesprächigkeit« »tausendmal belächelt, bewitzelt, auch wol verspottet worden«. 472 Dagegen bringt sie eine rhetorisch geschulte Verteidigungsrede vor, in der sie sich zugleich selbst – nicht ohne Witz und Ironie – immer wieder gegen den möglichen Vorwurf der Geschwätzigkeit verteidigt. Zunächst ist Adéles Wortwahl als eine rhetorische Strategie zu verstehen, vermeidet sie doch mit ihrem Leitbegriff ›Gesprächigkeit‹ den negativ konnotierten Begriff der ›Geschwätzigkeit‹, welcher zugleich als Negativfolie bestehen bleibt und die weibliche ›Gesprächigkeit‹ als ihr ›Zuviel‹ begrenzt. Mit dem Terminus ›Gesprächigkeit der Frauen‹ führt Adéle einen unbelasteten Begriff ein, der sich für eine positive Konnotation anbietet, bringt er doch Gespräche und Geselligkeit zusammen. 473 Adéles Argumentationsgang versucht also nicht, dem Topos der weiblichen

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Zunge war geläufiger, ihre Kehle unbefangener, und ihre Organen gewandter«). Zwar gebe es auch männliche Schwätzer, der weiblichen Natur liege aber das Schwatzen näher, argumentiert der Text. Anonym, Die Schwäzzerinn. In: Amaliens Erholungsstunden: Teutschlands Töchtern geweiht, 2/4, 1791, S. 34–41. In den fast siebzig Jahre zuvor erschienenen Discoursen der Mahlern wehren sich die ›Mahlerinnen‹ noch gegen eben dieses Vorurteil, dass Frauen schwatzhafter als Männer seien, und Holbein kommt zum Schluss, dass es Schwätzer beiderlei Geschlechts gebe. Trotz der kritischen Positionierung zum Topos weiblicher Geschwätzigkeit zeigt auch dieser Artikel auf, dass die Geschwätzigkeit traditionell weiblich gegendert wird und belegt zudem die Relevanz des Topos (die ›Mahlerinnen‹ klagen das Vorurteil der weiblichen Geschwätzigkeit als das misogyne Argument par excellence an). Vgl. Holbein, IV. Discours. In: Die Discourse der Mahlern, hg. von Johann Jakob Bodmer, Johann Jakob Breitinger, 3. Teil, Zürich: Lindinner 1722, ND Hildesheim 1969, S. 25–32. Das Journal für deutsche Frauen wurde 1805 verantwortet von Christoph Martin Wieland, Friedrich Schiller, Friedrich Rochlitz und Johann Gottfried Seume und verlegt bei Göschen in Leipzig. Vgl. Weckel, Zwischen Häuslichkeit und Öffentlichkeit. Die ersten deutschen Frauenzeitschriften im späten 18. Jahrhundert und ihr Publikum, S. 308. Adéle, Die Gesprächigkeit der Frauen, S. 97. Der Begriff ›Gesprächigkeit‹ bedeutet »die Fertigkeit, sich gern mit andern freundschaftlich zu unterreden«. Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 2, Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf 1796, S. 633.

›Geschwätzigkeit‹ generell zu widersprechen und darauf zu bestehen, dass Frauen nicht mehr redeten als Männer. Vielmehr verschiebt sie diesen Topos, indem sie ›Geschwätzigkeit‹ als ›Gesprächigkeit‹ umdeklariert, den Begriffsinhalt damit von negativen Konnotationen befreit und ihn sich aneignet. Adéle verteidigt die Gesprächigkeit als eine nützliche »Gabe der Natur«474 an Frauen, die sowohl der Kindeserziehung als auch der geselligen Unterhaltung dienlich sei. In Form einer klassischen refutatio greift sie zwei Vorurteile gegenüber weiblicher ›Geschwätzigkeit‹ explizit auf und entkräftet sie: Erstens, dass geschwätzige Frauen sprunghaft die Themen wechselten und zweitens, dass sie in einem fort über Dinge sprächen, die nicht interessierten. Zum ersten Punkt beschreibt sie, wie das Kind, das in den ersten Lebensjahren nahezu ausschließlich unter Frauen aufwächst, durch das beständige Vorsprechen und Benennen von Gegenständen in seiner Umgebung selbst zum Sprechen sowie zum Empfinden angeregt würde, wobei die Sprunghaftigkeit geradezu nützlich sei, da sich das Kind ohnehin noch nicht lange auf einen Punkt konzentrieren könne. Weibliches Sprechen rückt hier unkritisch zusammen mit kindlichem Fassungsvermögen, dient dennoch als Argument für die Nützlichkeit weiblicher Gesprächigkeit. Zum zweiten Punkt erläutert Adéle, dass das Kind durch die beständige muntere Plauderei in seiner Umgebung angeregt, lebhaft und fröhlich wird – ähnlich wie Erwachsene durch eine angenehme Hintergrundmusik bei Tisch. Hier erscheint das weibliche Sprechen als ein Rauschen, eine bedeutungslose Verkettung von Signifikanten. Adéles Hauptargument zur Verteidigung der weiblichen Gesprächigkeit liegt in deren geselliger Funktion. Dazu skizziert die Autorin die Gesellschaft als eine nicht unbedingt ideale Umgebung, mit der sich der einzelne notwendig arrangieren und möglichst zum Wohle aller beitragen müsse. Dies geschieht indem »wir unsre Gedanken und Empfindungen Andern leicht, gewandt, bestimmt, und, wo möglich, angenehm, in Worten mittheilen«475. Nun dreht Adéle sozusagen den Spieß um, indem sie vom Vorwurf weiblicher Geschwätzigkeit zur Anklage männlicher Ungesprächigkeit kommt: man höre den Gelehrten […] – er sagt vielleicht gründliche, lehrreiche, treffliche Sachen, aber er sagt sie auf eine Weise, daß ihn kein Mensch verstehen, kein Mensch ihm folgen kann, mithin auch kein Mensch sie hören mag, als allenfalls sein gelehrter Mitbruder […]. Und wenn man auch so spricht, daß Einem der Andere folgen könnte, so muß er uns auch folgen wollen; und dazu ist doch unerläßlich […], daß man auch gewandt und angenehm spreche. Und das lernet man – gerade aus – nirgends, oder wenigstens nicht leichter und sicherer, als bei gesprächigen Frauen. 476

Das alte Ciceronische Argument für die Relevanz der actio – »[d]enn was nützt es, wenn man wohl sieht, was zu sagen ist, es dann aber nicht gewandt und ge-

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Adéle, Die Gesprächigkeit der Frauen, S. 97. Adéle, Die Gesprächigkeit der Frauen, S. 101. Adéle, Die Gesprächigkeit der Frauen, S. 102.

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winnend zu formulieren vermag?«477 – taucht hier wieder auf: und zwar, um vom weiblichen Sprechen, oder doch zumindest der erzieherischen Leistung weiblichen Sprechens, zu überzeugen. In der Gesellschaft, in der »von hohen Dingen und in hohem Tone […] nicht zu reden« ist, steht ein gebildeter Mann ohne angemessene leichte, unterhaltende actio »in peinlicher Verlegenheit« und bringt wiederum seine Umgebung in ebensolche Verlegenheit. 478 »Viele von solchen Männern ziehen sich dann zurück und sind stumm« – und überlassen das Feld den jüngeren Männern, die – hier wird der Topos weiblicher Geschwätzigkeit überraschenderweise auf »junge Herrn« übertragen – »nichts wissen, aber viel sprechen können«.479 Die rhetorische Überlegenheit des Mannes schmilzt angesichts der im Gespräch geforderten angenehmen, leichten und abwechslungsreichen Unterhaltung. Dieser Anforderung ist eben nicht die klassische Beredsamkeit (›von hohen Dingen in hohem Tone zu reden‹), sondern die weiblich codierte Redeweise, die ›Gesprächigkeit‹, angemessen. Die Gesellschaft – und damit das Gespräch – erscheint nun als weibliches Terrain. So heißt es im Damen Conversations-Lexikon von 1835 unter dem Stichwort ›Gesellschaft‹: Als verbindendes Element zwischen Haus und Öffentlichkeit bildete sich die Gesellschaft; sie ward, wie Ersteres, vorzugsweise der Wirkungskreis für Frauen. Zu keiner Zeit genügte dem Menschen der Familienkreis; er suchte ausgebreitetere Beziehungen, und fand sie in gesellschaftlichen Verbindungen. Der Zweck solcher Gesellschaften, denen nicht wissenschaftliche oder staatsbürgerliche Absichten zum Grunde liegen, ist das Vergnügen im Umgang mit Mehreren. 480

Anders als in Cortegianos Hofmann und Harsdörffers Frauenzimmer Gesprächspielen, wo zwar Frauen am Gespräch teilnehmen, die männlichen Gesprächspartner jedoch dominieren und das Gespräch an sich, wenn überhaupt, dann eher männlich codiert ist, scheint das gesellige Gespräch nach 1800 als »Wirkungskreis für Frauen« zunehmend weiblich codiert. Damit einher geht, wie sich noch zeigen wird, eine Abwertung, wie sie Knigge anklingen lässt, der im Gespräch die männlich-belehrende Rede (das docere) vermisst und sich nur widerwillig auf ein Gespräch mit dem alleinigen Ziel der delectatio einlässt, auf dass sich die Frau besser verstehe. 481 Der strukturiert aufgebaute und gewandt formulierte Text wird immer wieder selbstreferenziell, spricht doch eine Frau über weibliche Gesprächigkeit: »Dieser ganze Aufsatz über Gesprächigkeit ist ein Beweis von der meinigen«482 , schreibt Adéle und erlaubt sich mit expliziter Ankündigung eine kleine Ausschweifung vom Thema, bis sie wiederum bemerkt, »daß mich dieß gar zu weit von meiner 477 478 479 480 481 482

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Cic. Brut. 29, 110, vgl. Cic. Or. 17, 56. Adéle, Die Gesprächigkeit der Frauen, S. 103f. Adéle, Die Gesprächigkeit der Frauen, S. 104. K. v. W., Gesellschaft. In: Damen Conversations Lexikon, hg. von Carl Herloßsohn, Bd. 4, Adorf: Verlags-Bureau 1835, S. 405–413, S. 405f. Vgl. Kapitel IV.5.3. Adéle, Die Gesprächigkeit der Frauen, S. 104.

Bahn verschlägt«483, um den ursprünglichen Faden wieder aufzunehmen und sich schließlich selbst zur Kürze zu ermahnen: »Ich erschrecke! Wahrhaftig, ich darf nun nicht mehr ausreden, sondern nur anführen, daß ich noch davon sprechen wollte«484 . Wenn hier schon ein ironischer Unterton anklingt, so verstärkt sich dieser noch mit dem Schlusssatz: »Aber wirklich, ich muß abbrechen: sonst sagt man, ich sei eine Schwätzerin, und streite für meinen eigenen Hausgötzen, wo denn Dinte und Papier rein verloren wären!«485 Gerade diese ironische Selbstreferenzialität erlaubt Adéle, strategisch mit dem Topos weiblicher Geschwätzigkeit umzugehen, ja ihn außer Kraft zu setzen, obwohl er ihr im Grunde jegliche ausführliche Äußerung verbieten, ja sogar »strenges Schweigen und kränkendes Herabsehen auf ihre gesprächigern Schwestern«486 vorschreiben würde, wie sie dies an anderen Damen der Gesellschaft beobachtet. Stattdessen macht ihre Ironie sie unangreifbar – wer ihr hier noch pedantisch Geschwätzigkeit vorwerfen würde, gäbe sich selbst der Lächerlichkeit preis. Indem sie derartig ihr eigenes ēthos gegen einen impliziten Vorwurf der Geschwätzigkeit gesichert hat, kann sie ihre eigene Autorschaft legitimieren und den Topos in der oben beschriebenen Weise verschieben. Gerade vor dem Hintergrund des wiederholten Vorwurfs weiblicher Schwatzhaftigkeit überrascht, dass von den drei ausgewählten Erziehungstexten einzig Fénelon die vermeintlich defizitäre weibliche Rede zum Anlass einer rhetorischen Unterweisung nimmt. Ansonsten scheint der Topos weiblicher Geschwätzigkeit, wie dies bereits 1722 die ›Mahlerinnen‹ in den Discoursen der Mahlern vermuten, eher als Vorwand zu dienen, die Differenz der Geschlechter und die (nicht nur rhetorische) Unterlegenheit der Frau zu begründen.487 Rousseaus Emile und Campes Väterlicher Rath zeigen beide, wie in den Texten zur Erziehung eine polare Geschlechterdifferenz entworfen und dem öffentlich auftretenden Mann und der das Haus versorgenden Frau unterschiedliche Aufgaben zugewiesen werden – auch was die Gesprächsführung betrifft. Rousseau schreibt der Frau ein natürliches Gefal483 484 485 486 487

Adéle, Die Gesprächigkeit der Frauen, S. 108. Adéle, Die Gesprächigkeit der Frauen, S. 113. Adéle, Die Gesprächigkeit der Frauen, S. 113. Adéle, Die Gesprächigkeit der Frauen, S. 103. Vgl. Holbein, IV. Discours, S. 30. Die ›Mahlerinnen‹ an ›Ihr Herren Männer‹: »Wir wollen aber lieber diese falsche Anklage der Waschhafftigkeit, welche uns von euch gemacht wird, mit einem verächtlichen Stillschweigen übergehen, als durch eine längere Schutz-Schrifft uns nur dieses Fehlers gleichsam selbst schuldig geben; sondern darfür untersuchen, was euch möge bewogen haben, unserm Geschlecht diese Zulage zu machen. Ihr habt euch seit langer Zeit eines gewissen Rechtes über unser Geschlecht angemasset, und dasselbe zu erhalten, diese lieblose Meinung fest zu setzen getrachtet; Die Natur selbst habe dem weiblichen Geschlecht einen niedrigern Rang gegeben, und euch um einen Grad über selbiges erhoben; Ihr habet diesem ungerechten Wahn einen Schein und eine Farbe zu geben, allerley Schwachheiten dem Frauenvolck als eigen zugemessen, welche doch allein der einen und der andern particular sind, und welchen die Manns-Personen nicht weniger unterworfen sind. Die Schwatzhafftigkeit ist einer von diesen Fehlern […].«

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lenwollen zu, das als Antrieb des weiblichen Redeauftritts dafür sorgt, dass die Frau nicht nur tugendhaft sein, sondern auch so erscheinen will. Während dieses Modell der Frau durchaus eine rhetorische Aufgabe stellt, nämlich sich den Augen der Gesellschaft gezielt ›als etwas‹ zu zeigen, bricht Campe das Publikum der Frau auf eine einzige Person herunter, den Mann. Sowohl bei Rousseau als auch bei Campe ist es die Bescheidenheit als neue geschlechtsspezifische Königstugend, die den Redeauftritt der Frau auf die Herstellung von Konsens und die Darstellung weiblicher Tugend beschränkt, jegliche Äußerung in der Öffentlichkeit (in engerem Sinne) jedoch unterbindet. Mit dem Exkurs zu Adéles Hinterfragung des Topos weiblicher Geschwätzigkeit kann allerdings gezeigt werden, dass die normativen pädagogischen Entwürfe – und die darin verhandelten Geschlechterkonzeptionen – keineswegs mit der realen Praxis weiblicher Rede übereingestimmt haben müssen. Wie sich herausgestellt hat, ist in den Konzepten weiblicher Erziehung – so klein und unterschiedlich die Auswahl auch ist – im Vergleich zu den expliziten Übungsanleitungen in den Anstandslehren wenig über die praktische Ausbildung der actio von Frauen zu erfahren. Das hat auch seinen Grund: In der modernen Pädagogik seit Locke und Rousseau, die nicht auf ›Kinderzucht‹ und Anpassung abzielt, sondern Erziehung als Anleitung zur Selbstentwicklung ›vom Kinde aus‹ versteht, kann die körperliche Ausbildung des äußeren Anstands nicht im Mittelpunkt stehen. Vermittelt wird sie jedoch durchaus: In der Anstandsliteratur.

IV.5 Anstand im Leibe: Actio in der Anstandsliteratur IV.5.1 Von der Rhetorik zur Sittenlehre: Actio als körperlicher Anstand ›Anstand‹ ist um 1800 ein Begriff, der sich sowohl in der Rhetorik- als auch in der Anstandslehre findet und der maßgeblich auf die actio bezogen ist. ›Anstand‹ meint nicht in erster Linie, geltenden Moralbegriffen entsprechend zu handeln, sondern ›Anstand im Leibe‹ zu beweisen: Nicht der ›sittliche‹, sondern der ›körperliche Anstand‹ steht im Vordergrund. ›Anstand‹ bedeutet – zugespitzt formuliert – soviel wie ›angemessene actio‹. Rhetorisches Wissen über die actio geht in die bürgerliche Anstandsliteratur488 des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts ein, wo

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Zum Begriff ›Anstandsliteratur‹ vgl. Karl-Heinz Göttert, Anstandsliteratur. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 1, Tübingen 1992, Sp. 658–675; Günter Häntzschel, Anstandsliteratur. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. von Klaus Weimar u. a., Bd. 1, Berlin, New York 2007, S. 96–98. Quellenangaben finden sich in: Montandon (Hg.), Bibliographie des traités de savoir-vivre en Europe, Bd. 1. Zu Forschungsansätzen vgl. Thomas Pittrof, Umgangsliteratur in neuerer Sicht: Zum Aufriß eines Forschungsfeldes. In: IASL, Sonderheft 3, 1993, S. 63–112. Zur historischen Entwicklung der deutschen Anstandsliteratur vgl. zusammenfassend Karl-Heinz Göttert, Deutsche Umgangsliteratur des 18. Jahrhunderts im europäischen Kontext. In: Über die deutsche Höflichkeit: Entwicklung der Kommunikationsvorstel-

Haltung, Gestik, Mimik und Stimmführung unter dem Begriff ›Wohlanständigkeit‹, ›äußerer Anstand‹ oder ›körperlicher Anstand‹ verhandelt werden. Der actio beziehungsweise dem anständigen Auftreten in Gesellschaft wird in den Anstandslehren eine ungeheure Relevanz im alltäglichen Leben zugewiesen. Da sich der in den Anstandslehren beschriebene ›wohlanständige‹ Redeauftritt nicht auf die nur Männern ›angemessene‹ ›große Rede‹ bezieht, sondern auf den Umgang des und der Einzelnen in der Gesellschaft, ist es nahe liegend, wenn auch nicht selbstverständlich, dass die Frau in die Konversationslehre der Anstandsbücher einbezogen wird. Meine These ist, dass durch die Anstandsliteratur Teile der rhetorischen actioLehre, angepasst an die Praxis des geselligen Umgangs, um 1800 erstmalig explizit für bürgerliche Rednerinnen verfügbar werden. 489 Während die zeitgenössischen (actio-)Rhetoriken sich selbst als geschlechtsneutral entwerfen und universalistische actio-Modelle entwickeln, verhandeln die Anstandslehren geschlechtsdifferenzierte Modelle einer angemessenen weiblichen und männlichen actio. Anders als die Erziehungstexte, die – wie Fénelon in Form eines Traktats oder wie Rousseau in literarischer Form – ein Erziehungsideal darstellen, gehen die Anstandslehren pragmatischer vor und richten konkrete Anweisungen und Übungsaufgaben direkt an ihre Zöglinge. Die Anstandslehren sind damit in doppelter Hinsicht als

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lungen in den Schriften über Umgangsformen in den deutschsprachigen Ländern, hg. von Alain Montandon, Bern u. a. 1991, S. 101–115; sowie ausführlicher: Göttert, Kommunikationsideale. Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie; Werner Schneiders, Knigge im Kontext. Zur Geschichte des Schicklichen. In: Adolph Freiherr Knigge: Neue Studien, hg. von Harro Zimmermann, Bremen 1998, S. 32–42; Emilio Bonfatti, Verhaltenslehrbücher und Verhaltensideale. In: Deutsche Literatur: Eine Sozialgeschichte, Bd. 3: 1572–1740, hg. von Harald Steinhagen, Reinbek bei Hamburg 1985, S. 74–87. Speziell zum Nonverbalen in (vorrangig englischen) Anstandslehren vgl. Hübler, Das Konzept ›Körper‹ in den Sprach- und Kommunikationswissenschaften, Kapitel 5: »Konversations- und Anstandslehren: Die Zivilisierung des Nonverbalen«, S. 171–218. Zur Geschlechterdifferenz in Anstandslehren vgl. Günter Häntzschel (Hg.), Bildung und Kultur bürgerlicher Frauen 1850–1918. Eine Quellendokumentation aus Anstandsbüchern und Lebenshilfen für Mädchen und Frauen als Beitrag zur weiblichen literarischen Sozialisation, Tübingen 1986; Döcker, Die Ordnung der bürgerlichen Welt. Verhaltensideale und soziale Praktiken im 19. Jahrhundert. Während sich Häntzschel und Döcker vor allem auf das 19. Jahrhundert beziehen, behandelt Frieling den auch für diese Arbeit relevanten Zeitraum um 1800: Frieling, Ausdruck macht Eindruck: Bürgerliche Körperpraktiken in sozialer Kommunikation um 1800. Obwohl ich auf den in den drei letztgenannten Publikationen herausgearbeiteten gender-Aspekten aufbauen kann, unterscheidet sich meine Arbeit von diesen insofern, dass sie erstmals auf rhetorische Ursprünge und Aspekte des Anstands eingeht. »Was die rhetorischen Kategorien in diesem Vorgang an begrifflicher Schärfe einbüßen, das gewinnen sie an gesellschaftlicher Bedeutung.« Diese These Volker Kapps zur Übernahme rhetorischen Wissens in Konversationslehren der frühen Neuzeit könnte ebenso für die Übernahme rhetorischen Wissens über die actio in die bürgerlichen Anstandsbücher geltend gemacht werden. Kapp, Die Lehre von der actio als Schlüssel zum Verständnis der Kultur der frühen Neuzeit, S. 46.

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Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit von Relevanz: Sie tradieren, popularisieren und habitualisieren rhetorisches Wissen über die actio (nunmehr gänzlich aus dem rhetorischen System gelöst), und sie entwerfen erstmals explizit geschlechtsspezifische actio-Modelle. Die actio war schon in der alten Rhetorik mit dem decorum, dem Angemessenen, Schicklichen, eng verbunden: Quintilian betont, dass »gerade beim Vortrag das Schickliche besonders ins Auge fällt«. 490 Das Schickliche ist sichtbar, der ›äußere Mensch‹ wird beobachtet und daraus werden Rückschlüsse auf den ›inneren Menschen‹ gezogen. Um dieses Äußere adäquat beschreiben zu können, um Regeln für Haltung, Gestik, Mimik (und auch Stimmführung) vorgeben zu können, greifen die Anstandslehren auf das rhetorische Wissen der actio-Lehre zurück. Ebenso wie die Rhetorik geht die Anstandslehre produktions- und wirkungsorientiert vor. Der sichtbare körperliche Redeauftritt zielt auf eine Wirkung ab. Die Anstandslehren fragen: Wie muss das Äußere eines Menschen beschaffen sein, wie muss sich der Redner (oder die Rednerin) zeigen, damit er (oder sie) Beifall, Zuneigung und Achtung erhält? Die ungeheure Bedeutung, die die Anstandslehren dem Äußeren beimessen, indem sie davon ausgehen, dass die äußere Erscheinung eines Menschen seine Umwelt entweder für ihn einnehmen oder aber provozieren und gegen ihn aufbringen kann, ist uns heute in ihrer Radikalität fremd. Jeder Mensch wird für sein Äußeres selbst verantwortlich gemacht und das Äußere wird in den Dienst einer funktionierenden bürgerlichen Gesellschaft gestellt. Als Folie für die Analysen der Anstandslehren sollen in Kapitel 5.2 zunächst drei weit verbreitete Konzeptionen des Anstands – aus dem Zedler’schen Universallexikon, aus Johann Georg Sulzers Theorie der schönen Künste und aus Christian Garves Übersetzung von Ciceros De officiis – zeigen, was der Begriff im 18. Jahrhundert bedeuten kann, wie er geschlechtsspezifisch verhandelt wird und inwiefern Anstand und rhetorische actio engzuführen sind. Zedler definiert ›Wohlanständigkeit‹ als Übersetzung des lateinischen decorum und stellt explizit fest: »So ist ein anders das männliche, ein anders das weibliche Decorum.«491 Der Mann und die Frau haben sich durch Rede und actio unterschiedlich vor einem Publikum darzustellen, wobei Zedler die Regeln, nach denen dies zu geschehen hat, als konventionelle herausstreicht – bedingt durch kulturhistorische Moden und Gewohnheiten. Während Zedler den alltäglichen Umgang als Redesituation vor Augen hat, definiert Sulzer den Anstand als rhetorisches Wirkungsmittel in einer Rede mit gemäßigtem, heiter-ernsten Inhalt. Für diese Redesituation setzt Sulzer die »Mäßigung der Stimme und aller Bewegungen«492 zentral, die einen bescheiden, selbstsicher, gesetzt – und

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Quint. Inst. XI, 3, 177. Zedler, Wohlanständigkeit, Sp. 85. Johann Georg Sulzer, Anstand (Redekunst). In: Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt, Bd. 1, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1771, S. 71–72, S. 71.

nicht zuletzt männlich – wirkenden Redeauftritt garantieren soll. Heftige Affekte werden aus der Konzeption des rhetorischen Anstands explizit ausgeklammert: Es geht nicht darum, ein Publikum anzustacheln und zu bewegen. Vielmehr steht in gemäßigten Redesituationen das docere oder delectare im Vordergrund. Garves Cicero-Übersetzung schließlich definiert den Anstand als ›sinnlichen Eindruck auf das Auge‹493. Neben der im Vergleich mit dem lateinischen Original erstaunlichen Gewichtung der Sichtbarkeit des Anstands, betont auch Garve die Relevanz der Mäßigung und Selbstbeherrschung. Die bürgerliche Anstandsliteratur führt den Begriff des Anstands als gemäßigte, angemessene actio weiter aus – und zwar für eine spezifische Redesituation: die gesellige Konversation. In den Anstandslehren, die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts entstehen und ihre überaus populäre Fortsetzung im 19. und noch im 20. Jahrhundert erfahren, wird der Fokus vor allem auf zwei Dinge gerichtet: auf den geselligen Umgang des Bürgers in der Gesellschaft, der in der eben erwähnten gemäßigten, mittleren Stillage stattfindet, und auf den körperlichen Anstand, der vermehrt dazu dient, das ēthos des Redners oder der Rednerin anstatt den Redeinhalt sichtbar zu machen.494 Vor diesem Hintergrund ist die ›anständige‹ körperliche Selbstbeherrschung und Selbstdarstellung im Umgang mit anderen äußerst relevant. In der ›unterhaltsamen‹ Konversation spielt die Sichtbarkeit der körperlichen Performanz von Anstand eine enorme Rolle, die actio wird zum evidenten Ausweis bürgerlicher Tugend und zum Mittel, sich Beifall, Wohlwollen und Zuneigung des Publikums zu sichern sowie gesellschaftliche Geltung zu erlangen. Kapitel 5.3 nimmt die wohl bekannteste Umgangslehre in den Blick: Adolf von Knigges Über den Umgang mit Menschen (1788). Knigge rühmt sich, das erste Buch überhaupt verfasst zu haben, in dem Vorschriften zum Umgang mit »allen Klassen von Menschen« aufgeführt werden. 495 In Abgrenzung von höfischen Umgangslehren entwirft Knigge eine »Rhetorik des Gesprächs als genuin bürgerliche Gesellschaftsethik«. 496 Begreift man das Bürgertum um 1800 weniger als bestehende, statische, homogene Einheit, sondern als eine soziale Praxis, wird die ›anstän-

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Vgl. Christian Garve, Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen zu Cicero’s Büchern von den Pflichten, Anmerkungen zu dem Ersten Buche, neue verbesserte, vermehrte Ausg., Breslau: Wilhelm Gottlieb Korn 1787, ND in: Garve, Gesammelte Werke, hg. von Kurt Wölfel, Bd. X, Hildesheim, Zürich, New York 1986, S. 155. Die Anstandslehren verhandeln das ideale Verhältnis der Redeweise zum Geschlecht des Redners beziehungsweise der Rednerin, wobei Alter, Charakter und vor allem der Stand weiterhin ebenfalls eine Rolle spielen. Das in der Rhetoriktheorie unter dem decorum aufgeführte ideale Verhältnis von einem Teil der Rede und ihrem Ganzen, von dem Vortrag eines Redners und der Redesituation sowie von res und verba tritt dagegen in den Hintergrund. Damit steht das äußere aptum im Vordergrund. Adolph Freiherr Knigge, Über den Umgang mit Menschen, hg. von Karl-Heinz Göttert, Stuttgart 1991, S. 444 [Vorrede zur ersten Auflage] [Hervorh. von L.T.E.]. Markus Fauser, Rhetorik und Umgang. Topik des Gesprächs im 18. Jahrhundert. In: Über die deutsche Höflichkeit: Entwicklung der Kommunikationsvorstellungen in den

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dige‹ Selbstinszenierung als soziales Distinktionsmittel des Bürgers gegenüber Höher- oder Niedrigergestellten lesbar: »Das vermittelte Bewusstsein, man müsse als Angehöriger des Mittelstandes seinen Körper zu tragen wissen, kann als vorsichtige Inanspruchnahme kultureller Vormacht verstanden werden, denn seit Jahrhunderten haben elitäre Bildungsbücher Körperbeherrschung als Zeichen gesellschaftlicher Überlegenheit stilisiert.«497 Anstandsliteratur erscheint dann als bürgerliches Modell kollektiver Identitätsfindung und kultureller Selbstbehauptung im geselligen Umgang. Die Bürgerin ist jedoch in den Umgang unter ›Menschen‹ keineswegs gleichberechtigt einbezogen. Knigge richtet sich ausschließlich an das männliche bürgerliche Subjekt, das er zu unterrichten und zu ermächtigen sucht. Die Frau erscheint in dem gesonderten Kapitel »Über den Umgang mit Frauenzimmern« nur als Adressatin männlicher Rede.498 Die Position des Redners bleibt männlich gedacht, eine ›kollektive Identitätsfindung und kulturelle Selbstbehauptung‹ männlich konnotiert. Schon wenige Jahre später wird es zu einem zentralen Anliegen der Anstandsbücher, gerade auch die Frau als Rednerin anzusprechen und die Konversation beider Geschlechter umfassend darzustellen und zu regulieren.499 Solchen Anstandslehren, die das ideale Verhältnis der Redeweise zum Geschlecht des Redners beziehungsweise der Rednerin ausbreiten, widmet sich das Kapitel 5.4. Johann Christian Siede wendet sich 1790 bereits mit seiner Anstandslehre an beide Geschlechter, an den Weltmann und die Dame von feinem und großem Ton.500 Kurz darauf, 1797, veröffentlicht er zwei separate, geschlechtlich differenzierte Anstandsbücher: Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, der auf-

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Schriften über Umgangsformen in den deutschsprachigen Ländern, hg. von Alain Montandon, Bern u. a. 1991, S. 117–140, S. 123. Döcker, Die Ordnung der bürgerlichen Welt, S. 89f. Obwohl die Differenzkategorien ›Status‹ und ›Geschlecht‹ grundsätzlich verwoben sind, konzentriere ich mich (auch aufgrund des großen bearbeiteten Zeitraums und der damit verbundene Masse an Texten) auf die Kategorie ›Geschlecht‹ und gebe lediglich zur Kontextualisierung Hinweise auf die Statusdifferenzierung in den analysierten Texten. Zur sozialen Differenz, der Übernahme von Anstandsidealen aus dem Adel und der spezifischen Performanz von Bürgerlichkeit vgl. ausführlich Döcker sowie Frieling, Ausdruck macht Eindruck. Knigge, Über den Umgang mit Menschen, 2. Buch, 5. Kapitel: »Über den Umgang mit Frauenzimmern«, S. 192–209. Vgl. Frieling, Ausdruck macht Eindruck, S. 85f. Johann Christian Siede, Der Weltmann und die Dame von feinem und großem Ton. Ein Versuch, Halle: Johann Jacob Gebauer 1790. Dass die frühen Anstandslehren mit dem zeitgenössischen bürgerlichen Natürlichkeitsparadigma kollidieren, zeigt eine Rezension dieses Buches in der Allgemeinen deutschen Bibliothek, 116/1, 1794, S. 303f. Der Rezensent mit dem Kürzel Hg. schreibt: »Wenn nicht alles so äusserst ernsthaft vorgetragen wäre; so sollte man das ganze Buch für eine Satyre auf den feinen Weltton halten; aber nichts weniger!« – für so unzeitgemäß hält er die Regeln für hierarchiegetreue Verhaltensweisen und die Vorschriften für Damen, »wie sie jede ihrer Mienen und Gebehrden künstlich ordnen sollen«.

wachsenden männlichen Jugend geweiht sowie Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit der aufblühenden weiblichen Jugend geweiht.501 Hinter den minimalen Unterschieden der Titel verbergen sich krasse geschlechtliche Differenzierungen. Die im Verlauf des 18. Jahrhunderts polarisierten Geschlechtscharaktere gehen in die actio-Konzeptionen der Anstandslehren ein. Es bildet sich eine geschlechtsdifferenzierte Anstandsliteratur aus, die spezifische Modelle der Angemessenheit der weiblichen und männlichen actio entwickelt, normativ festschreibt und wirkmächtig verbreitet. Die anständige actio ist für die Frau wesentlich wichtiger als für den Mann – das wird in allen Anstandslehren, von Knigges Umgang mit Menschen bis Amalie von Wallenburgs Anstandslehre für das weibliche Geschlecht (1824), immer wieder betont.502 Die Frau hat sich auf das Genaueste an die Regeln des Anstandes zu halten, da bei Regelverletzungen ihr prekärer Ruf auf dem Spiel steht. »Aber am schwersten wird es verziehen, wenn eine Frau oder Jungfrau wider das Conventionelle verstößt, und bei ihr fällt es am meisten auf, weil man im Allgemeinen voraussetzt, daß sie sich darauf verstehen muß«503, heißt es bei Wallenburg. Der Frau obliegt es, das decorum nicht nur einzuhalten, sondern es geradezu zu verkörpern, wird ihr doch der Anstand von Natur aus zugeschrieben. Gerade in Bezug auf angebliche Verstöße gegen den Anstand wird deutlich, dass der weibliche Redeauftritt immer auf ein extrem kritisches Publikum bezogen ist. Als argusäugig und omnipräsent wird dieses Publikum beschrieben, das keinen ›Fehltritt‹ im übertragenen wie im buchstäblichen Sinne übersieht. Das Publikum erscheint nicht mehr als ein anwesender begrenzter Personenkreis, sondern als eine Öffentlichkeit: Wallenburg spricht davon, sich »öffentlich [zu] zeigen«504, und sich dem »Urtheile der Welt«505 zu stellen. Unter dem ›Adlerblick‹ der Gesellschaft muss die Frau ihr ›Ansehen‹, also die öffentliche Meinung über ihre sichtbare Selbstinszenierung, herstellen und verteidigen. Unter dieser Dauerbeobachtung wird jede Körperbewegung zeichenhaft,

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Johann Christian Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, der aufwachsenden männlichen Jugend geweiht. Nebst einem Anhange welcher noch einige Gesundheits-Lehren und einige von den höhern Regeln der guten Lebensart und der Etiquette enthält, Dessau: Heinrich Tänzer 1797. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit der aufblühenden weiblichen Jugend geweiht. Nebst einem Anhange welcher noch einige besondere Gesundheits- und Schönheits-Lehren und einige höhere Regeln der guten Lebensart und der Etiquette enthält, Dessau: Heinrich Tänzer 1797. Auf die gesteigerte Relevanz des Anstands für Frauen weist auch Frieling hin: »Dadurch, daß bei Frauen das rechte Benehmen aus der Natur heraus abgeleitet wird, wiegen ihre Verstöße schwerer als die der Männer.« Frieling, Ausdruck macht Eindruck, S. 90. Amalie Gräfin von Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht. Oder mütterlicher Rath für meine Julie über den sittlichen und körperlichen Anstand, Quedlinburg, Leipzig: Gottfried Basse 1824, S. 21. Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 40. Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 40.

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will jeder Auftritt etwas sagen, wird die rhetorische Situation auf den gesamten Alltag ausgedehnt. Anstand ist dementsprechend bei Wallenburg nicht mehr nur die anständige actio in einer spezifischen Redesituation, sondern wird zum dauerhaften körperlichen Habitus: »Das Bleibende, Beständige in der körperlichen Haltung eines Menschen, in der Art und Weise wie er sich durch sein Stehen, durch seinen Gang, durch sein Sitzen etc. unsern Blicken darstellt, das nennen wir Anstand.«506 Die Blicke des Publikums sind der Performanz des Anstands immer schon eingeschrieben. Jeglicher Anspruch auf Geltung bedarf einer externen Bestätigung durch Blicke. Sie kontrollieren und bestätigen die beständige, wiederholte Performanz nicht nur der ›anständigen‹ bürgerlichen Identität, sondern auch der Geschlechtsidentität im Butler’schen Sinn.507 Die Anstandslehren entwerfen nicht nur ein geschlechtsspezifisches Ideal, wie die männliche oder weibliche actio auszusehen hat, sie beschreiben auch, wie dieses Ideal erreicht werden sollte. Kapitel 5.5 fokussiert diese ›Übungsanleitungen‹ in den Anstandslehren um 1800. Dabei geht es nicht nur um die Vermittlung eines rationalen Wissens, sondern um die körperliche Einübung und Verankerung dieses Wissens. Techniken der Vermittlung und Einübung, die bereits aus der alten Rhetorik bekannt sind, werden so erstmals an die bürgerliche Frau weitergegeben. Die Übungsanleitungen zeigen, wie (Geschlechts-)Identität nach kulturellen Bildern konstituiert wird – und nicht etwa Vorgängiges ›ausdrückt‹. Dabei wird lesbar, wie die Anstandsbücher ein rhetorisches Subjekt (aus-)bilden, das durch seine Disziplinierung und die wiederholte Aufführung von Konventionen allererst hervorgebracht wird. Dieses Subjekt wird andererseits als intentionales Subjekt entworfen, das durch die Anstandsbücher ermächtigt wird, sich mit Erfolg in der Gesellschaft darzustellen. IV.5.2 Konzeptionen der ›Wohlanständigkeit‹ Anstand und Rhetorik Im 18. Jahrhundert geben die Begriffe ›Wohlanständigkeit‹, ›Wohlstand‹, später ›Anständigkeit‹ oder ›Anstand‹ den Begriff des decorum wieder, der in der Antike den Bereich des äußeren Betragens bezeichnet, abgegrenzt von dem moralischen Handeln (honestum) einerseits und von dem rechtlich-billigen Handeln (justum) andererseits.508 Grundlegend für diese Definition ist das erste Buch von Ciceros De officiis, auf das sich die Konzeptionen des Anstands im 18. Jahrhundert in der Regel beziehen. Als Grundlage der folgenden Analyse von Anstandslehren soll in diesem Kapitel zunächst der Blick auf drei weit verbreitete Konzeptionen des Anstands –

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Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 8. Vgl. Kapitel II. Vgl. Göttert, Anmerkungen. In: Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 428.

im Zedler’schen Universallexikon, in Sulzers Theorie der schönen Künste und in Garves Cicero-Übersetzung – zeigen, wie der Begriff im 18. Jahrhundert inhaltlich zu füllen ist, wie er in Bezug auf die Kategorie ›Geschlecht‹ verhandelt wird und inwiefern er in Bezug zur rhetorischen actio-Lehre gesetzt werden kann.509 Anstand als »Mode und Gewohnheit«: Zedler Im Zedler’schen Universallexicon von 1741 wird ›Wohlanständigkeit‹ als Übersetzung des lateinischen decorum definiert, allerdings setzt sich der Artikel gerade von Ciceros De officiis ab. Cicero habe, »wie man siehet, die Sache nicht recht überleget«, indem er die Begriffe von Anstand, Gerechtigkeit und Klugheit vermische. Vor allem aber irre Cicero in der Annahme, der Anstand sei in der Natur des Menschen begründet. Mit aller Vehemenz setzt sich der Artikel dafür ein, Anstand als eine konventionelle Kategorie zu betrachten. Anstand wird definiert als äußerliche

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Der folgende kurze Abriss einer Geschichte des Anstands orientiert sich an den Forschungsergebnissen von Karl-Heinz Göttert und mag als Folie für die spezifischen Anstandskonzepte von Zedler, Sulzer und Garve dienen. Bekanntlich wird die Rhetorik seit der frühen Neuzeit mit der höfischen Anstandslehre gekoppelt. Dabei geht vor allem das Bildungsideal der Rhetorik, das Konzept des vir bonus sowie das Ziel zu wirken beziehungsweise zu gefallen, die Regeln der actio und das sich auf die äußerliche Schicklichkeit beziehende decorum in die Anstandslehre ein. In der frühen Neuzeit werden honestum und decorum strikter voneinander getrennt, das äußere Benehmen (der Anstand) wird als eigenes Verhaltensideal etabliert und das moralisch Rechte tritt hinter das strategisch Richtige zurück. In den Vordergrund der Anstandslehre (beispielhaft ist Castigliones Hofmann) rückt die Frage nach der (moralisch neutralen) ›technischen‹ Beherrschbarkeit des äußeren Anstands in spezifischen Redesituationen. Dem Ideal der Anmut und des Verbergens der Kunst in der Renaissance folgt das Ideal der berechnenden Klugheit im Barock, wobei die Verstellungsmöglichkeiten ihr bislang extremstes egoistisches Gepräge erhalten. Ende des 17. Jh. kommt die Höflichkeit zum Konzept der Klugheit, statt purer Eigeninteressen wird nun ein Ausgleich im Kreis der honnêtes hommes verfolgt. Die Höflichkeit soll den Menschen nach außen so erscheinen lassen, wie er innerlich sein möchte – eine neue Version der rhetorischen Selbstinduktion. Zu einem Bruch mit der Tradition der Anstandsliteratur kommt es durch den Aufklärer Rousseau: Gegen die Höflichkeit und die Welt des Scheins setzt er das Ziel einer Rückkehr hinter die ›kulturelle Verformung‹, zurück zum ›natürlichen Ausdruck‹, wie er sich beim Kind oder beim Ungebildeten findet. In den Moralischen Wochenschriften wird ein neues Modell zwischenmenschlichen Umgangs auf der Basis der aufklärerischen Moral und altruistischen Anthropologie, die Kalkül durch Menschenliebe ersetzt, propagiert. Aus dieser Menschenliebe entsteht eine Gefälligkeit der Umgangsformen nun wie von selbst. »Das Ziel wird nun ein offenes, faires Verhalten, die Schicklichkeit erscheint als eine ›Sprache, in der die innere Höflichkeit des Herzens sich ausdrückt‹.« Das Ideal der Offenheit in der Aufklärung findet jedoch – gerade auch in Deutschland – viele Gegenstimmen, Abschwächungen und Kompromisse. Vgl. Göttert, Kommunikationsideale sowie Göttert, Anstandsliteratur, hier Sp. 670. Die Verhaltensideale für Frauen sind nicht in dem gleichen Maße untersucht worden, wie dies Göttert für die männlichen getan hat. Vgl. Döcker, Die Ordnung der bürgerlichen Welt, S. 27.

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Handlung, »welche nach den Regeln geschiehet, die durch die Mode und Gewohnheit derjenigen Menschen, die in einerley Stand mit uns leben, eingeführet worden, damit wir ihnen gefallen mögen.«510 Anderen Menschen (des gleichen Standes) zu gefallen, dient einerseits der Durchsetzung eigener Ziele, ist also eine Klugheitsregel, andererseits befördert es die menschliche »Glückseligkeit«, indem es hilft, die Rede verständlicher und den Umgang angenehmer zu gestalten. Aus dieser gesellschaftlich ausgerichteten Definition schließt Zedler, »daß die Beredsamkeit sich auch im Umgange zeigen müsse, weil eben daselbst die meiste Gelegenheit sich findet, die Glückseligkeit und das Vergnügen der menschlichen Gesellschaft zu befördern, und seine Gedancken auszudrücken.«511 Nicht die ›öffentliche Deklamation‹, sondern der gesellige Umgang ist dementsprechend der vornehmliche Ort wohlanständiger Redekunst. Als Ziel des Anstands kann also eine durchaus rhetorische Wirkungsabsicht, der Wille zu gefallen, bezeichnet werden. Dies muss äußerlich sichtbar geschehen, muss »in die Augen fallen«, da die Menschen nicht weise genug seien, die innerliche Vollkommenheit ohne äußeren Schein wahrzunehmen.512 Damit bedarf der Anstand immer eines Publikums, denn nur »die Beobachtung des Wohlstandes«513, nicht der Wohlstand selbst, kann die Gunst des Publikums und damit einen Nutzen für den Anständigen bewirken. Die Relevanz des Sichtbaren korrespondiert mit der Betonung des äußeren Anstands: Der Anstand »betrifft das äusserliche, womit sich jemand den Augen anderer darstellen muß, als in der Rede, in der Bewegung des Leibes, in den Geberden, in der Kleidung, und andern äusserlichen Umständen mehr.«514 Hier werden (abgesehen von der Stimme) eben die Mittel der actio aufgezählt, mit deren Hilfe der Redner oder die Rednerin in den Augen eines Publikums Gefallen bewirken will. Für dieses Wirkungsziel sind gewisse konventionelle Regeln notwendig, die erworben werden können, indem Personen gleichen Standes beobachtet und nachgeahmt werden. Die Konventionen des Anstands gelten nur innerhalb einer definierbaren sozialen Gruppe (Stand), in einer bestimmten Zeit (Mode) und an einem bestimmten Ort. Das Zedler’sche Konzept der Wohlanständigkeit beinhaltet eine radikale Bezugnahme auf und Anpassung an das jeweilige Publikum, wobei soziale Unterschiede stets mitgedacht werden: Zur Norm, nach der wir uns hierinnen zu richten, setzen wir in der Erklärung die Mode und Gewohnheit derjenigen Menschen, die in einerley Stande mit uns leben. Es kommt alles auf die Nachahmung anderer an, und wenn wir etwas als wohlanständig beobachten, wissen wir keine andere Ursache zu geben, als weil es so mode und gebräuchlich wäre. Der Endzweck des Wohlstandes weiset, daß wir uns in solcher Nachahmung nicht

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Zedler, Wohlanständigkeit, Sp. 83. Zedler, Rede-Kunst, Sp. 1606. Vgl. Zedler, Wohlanständigkeit, Sp. 86. Zedler, Wohlanständigkeit, Sp. 84. Zedler, Wohlanständigkeit, Sp. 84.

nach allen Leuten ohne Unterscheid [sic]; sondern nur nach denen, die mit uns in einerley Stande leben, und zwar nach den meisten, richten. Andere Leute sind entweder höher, oder geringer als wir, oder unsers gleichens.515

Lächerlich mache man sich sowohl, wenn man sich nach Menschen eines höheren oder niedrigeren Standes ausrichtet. Die actio wird an die Standesgesellschaft angepasst, und zwar an die Mehrheit. Individualität ist unerwünscht, Eigenheiten werden unterdrückt. Überaus deutlich wird hier wieder, wie das decorum durch die Androhung von Lächerlichkeit darauf angelegt wird, die Konventionen einer bestehenden Gesellschaftsordnung zu reproduzieren. Es dient dazu, durch das Praktizieren einer ähnlichen actio mit ›seinesgleichen‹ eine Gemeinschaft herzustellen, und sich dadurch nach unten und nach oben abzugrenzen. Der Standesunterschied ist nicht das einzige – aber das bei weitem wichtigste – Differenzkriterium, das der Artikel erwähnt. Daneben werden Geschlecht, Alter, Beruf und diverse Umstände beachtet. In Bezug auf die Kategorie ›Geschlecht‹ erwähnt der Artikel explizit Unterschiede für Männer und Frauen: So ist ein anders das männliche, ein anders das weibliche Decorum. Denn manches steht einem Frauenzimmer wohl an, welches sich vor eine Manns-Person gar nicht schicket, z. E. wenn sie sich putzet, allerhand Farben an sich trägt, in Gesellschaft wenig redet, bey Unglücks-Fällen sehr weinet [...].516

Nur kursorisch und eher anekdotisch wird dem Leser und der Leserin hier offensichtlich Bekanntes mitgeteilt. Abgesehen davon, dass Frauen weniger reden517 und ihnen stärkere Affekte zugestanden werden, reden sie auch über andere Themen, wie der Artikel behauptet. Denn die Wohlanständigkeit verlangt, dass die Gesprächsthemen an den jeweiligen Gesprächspartner oder die – explizit genannte – Gesprächspartnerin angepasst werden: »so muß man mit einem Frauenzimmer nicht von Staats-Sachen reden, es wäre denn, daß sie eine Wissenschaft davon hätte«518. Hier wird ein männlicher Leser des Artikels angesprochen, der für die Gesprächsführung verantwortlich ist und Rücksicht auf seine mit weniger Kenntnissen oder Geschmack ausgestattete Gesprächspartnerin nehmen muss. Auch wenn ihm die Gesprächsthemen langweilig oder ›schlecht‹ vorkommen – wie etwa, wenn vom Wetter oder »bey dem Frauenzimmer von Wochenliegen, Kindern, Mägden u. s. w.« die Rede ist – muss er gute Miene machen.519 Nun erscheinen diese Bemerkungen, die Frauen ganz offensichtlich zwar als Sprecherinnen, aber nicht als gleichwertige Rednerinnen in den Blick nehmen, wenig überraschend. Bemerkenswert ist dagegen, dass der Artikel überhaupt ein decorum für Frauen mitdenkt

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Zedler, Wohlanständigkeit, Sp. 85. Zedler, Wohlanständigkeit, Sp. 85. Hierbei ist zu bedenken, dass es als ›unanständig‹ gilt, zu viel oder zu wenig zu reden. Vgl. Zedler, Wohlanständigkeit, Sp. 84. Zedler, Wohlanständigkeit, Sp. 84. Zedler, Wohlanständigkeit, Sp. 84.

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und im Übrigen nicht – wie in der Antike – Weiblichkeit gerade als Überschreitung eines betont männlich gedachten decorum darstellt. So kritisiert der Artikel Ciceros Bemerkung, »es soll die Kleidung nicht weibisch seyn. Denn sie mag weibisch seyn, oder männlich sein, so muß man sie mittragen, wenn die meisten unsers Standes solche belieben.«520 Diese Kritik an Cicero zeigt zweierlei an: erstens, wie radikal der Zwang zur Anpassung an gesellschaftliche Konventionen gedacht wird, und zweitens, dass das Differenzkriterium des Standes – zumindest in den Texten vor 1800 – eine deutlich höhere Relevanz als das des Geschlechts hat. Dies ändert sich, soviel darf vorweg genommen werden, in den geschlechtsspezifischen Anstandslehren nach 1800.521 Anstand als rhetorisches Wirkungsmittel: Sulzer Dass für Johann Georg Sulzer der Anstand eine rhetorische Kategorie ist, geht schon aus dem Untertitel des Lemmas »Anstand (Redekunst)« hervor. Der Redekunst wiederum spricht Sulzer den ersten Rang unter den schönen Künsten zu – gerade in Anbetracht der ästhetischen Körpersprache.522 Damit wird das decorum zu einer ästhetischen Kategorie. So müssen etwa die Gebärden »nicht blos wahr, oder natürlich, sondern auch so, wie es einem wolerzogenen, gesetzten und wolgesitteten Menschen anständig ist, das ist, von Anstand und Geschmak begleitet seyn.«523 Während es im Zedler’schen Artikel maßgeblich um den gesellschaftlichen Umgang generell und nicht um die ›große Rede‹ im Besonderen geht, stellt Sulzer eben nicht den gesellschaftlichen Umgang, noch nicht einmal die Wohlredenheit, die nur unterhalten wolle, in den Vordergrund, sondern die wahre Beredsamkeit, die unterrichten, überzeugen und rühren will. Sulzer geht es um die – wenn nicht politische, so zumindest feierlich-öffentliche – Beredsamkeit, die »das vollkommenste Mittel, die Menschen verständiger, gesitteter, besser und glüklicher zu machen«524 sei. Der Anstand wird in diesem Zusammenhang als ein rhetorisches Wirkungsmittel definiert: Daß der Anstand eine große Kraft auf die Gemüther der Zuhörer habe, ist eine bekannte Sache; aber sie wird nicht allemal in genugsame Überlegung gezogen. Der Mangel desselben vermindert die Würkung der Rede so sehr, daß er sie beynahe ganz aufhebt.525

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Zedler, Wohlanständigkeit, Sp. 84. Vgl. Kapitel IV.5.4. Vgl. Beetz, Die Körpersprache im Wandel der deutschen Rhetorik vom 17. zum 18. Jahrhundert, S. 58f. Johann Georg Sulzer, Vortrag (Redende Künste). In: Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt, Bd. 2, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1771, S. 1242–1247, S. 1247. Sulzer, Beredsamkeit, S. 147. Sulzer, Anstand (Redekunst), S. 71.

Sehr viel näher am Vorbild der alten Rhetorik bestimmt er den Anstand als »Übereinstimmung der Stellung der Gebehrden und der Stimme des Redners in einer Rede von gemäßigtem Inhalt, mit dem Charakter der Rede.«526 Es handelt sich also – nicht wie im Zedler’schen Artikel, der vor allem das äußere aptum, die Anpassung an das Publikum und die Redesituation, behandelt – vorrangig um das innere aptum, die Anpassung an den Inhalt der Rede. Neu ist hier, dass nur die gemäßigte Rede und dementsprechend die zurückgenommene, kontrollierte actio nach Sulzer als anständig bezeichnet werden kann. Während das decorum in der Antike generell für eine dem Inhalt der Rede angemessene actio gestanden hat, schließt Sulzer explizit die Darstellung heftiger Affekte als nicht anständig aus.527 Gerade in Sulzers Artikel über den »Vortrag« (d. h. über die actio) wird deutlich, dass er Anstand geradezu synonym mit Mäßigung denkt. »Überhaupt ist eine gewisse Mäßigung der Leidenschaften, und ein gewisser Anstand in allen Bewegungen der Gliedmaaßen und veränderten Gesichtszügen, Menschen von ausgebildetem Geist und Herzen eigen.«528 Mit Nachdruck ruft Sulzer zur Mäßigung auf, die Kennzeichen gebildeter, kultivierter und gesitteter Menschen sei.529 Diese Mäßigung erscheint dabei männlich konnotiert, wenn Sulzer auf die Details einer anständigen actio eingeht: In einer Rede von ernsthaftem Inhalt zeiget sich der Anstand in einer ernsthaften und ruhigen Stellung, in mäßigen Bewegungen, einer männlichen und etwas langsamen Stimme, und einer geraden Kopfstellung und etwas niedergezogenen Augenbrahmen. Ist der Inhalt vergnügt, aber von gemäßigter Freude; so bestehet der Anstand in einer mäßig muntern Stellung, in angenehmen und sanften Bewegungen des Körpers, in einem etwas mehraufgerichteten Kopf, offenen und fröhlichen Bliken, und einer angenehmen hellen Stimme.530

Mit diesem selbstdisziplinierten, bürgerlich-gemäßigten körperlichen Anstand macht ein offensichtlich männlich gedachtes Rednersubjekt den heiteren Ernst531 des Redeinhalts sichtbar. Zwar könne der Redner, wenn es darum geht, die Herzen des Publikums anzusprechen, auch einmal die eigene innere Bewegung äußerlich

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Sulzer, Anstand (Redekunst), S. 71. »Der Anstand hat blos in dem gemäßigten Inhalt statt; denn wo dieser heftig ist, und starke Leidenschaften zum Grunde hat, daß der Vortrag feurig wird: da wird der vollkommensten Übereinstimmung des Vortrags mit dem Inhalt niemals der Name des Anstandes gegeben. Er bleibet dem gesetzten Wesen und einer ruhigen Gemüthsfassung eigen.« Sulzer, Anstand (Redekunst), S. 71. Sulzer, Vortrag (Redende Künste), S. 1247. »Überhaupt aber merke man sich, daß bey gesitteten Menschen alle Gebehrden, Bewegungen und Minen weit gemäßigter und weniger auffallend sind, als bey rohen und ungesitteten.« Sulzer, Vortrag (Redende Künste), S. 416. Sulzer, Anstand (Redekunst), S. 71. Der heitere Ernst oder die ernste Heiterkeit sind typische Kombinationen, die gerade auch in den bürgerlichen Anstandslehren für die Konversation beider Geschlechter gefordert werden. Vgl. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 30.

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zeigen – jedoch, hier folgt sofort die Einschränkung: immer nur so viel als »einem gesetzten Manne« würdig.532 Zu der Engführung von Anstand und Mäßigung gehört notwendig auch die (Inszenierung von) Bescheidenheit: Am allermeisten aber schadet ihm [dem Anstand] die Unbescheidenheit des Redners, wenn er seine Zuhörer mit dreisten Bliken gleichsam mustert, oder zu seiner Bewundrung auffodert [sic]; wenn er einen zu freyen oder gar kühnen Ton annimmt. Der Anstand will, daß der Redner seine Sache, und nicht seine Person sehen lasse; daß er bescheiden und gerade vor sich hin sehe, und wenn es nöthig ist, sich sanft und bescheiden gegen eine andere Seite hinwende. Doch muß er auch nicht zaghaft seyn, sondern ein mäßiges Zutrauen in seine Vorstellungen von sich bliken lassen. Er muß seine Zuhörer als eine Versammlung ansehen, welcher er Hochachtung schuldig ist, aber nicht als unerbittliche Richter, die ihn ungehört verurtheilen.533

Auch hier ist es das Ziel der Performanz des Anstands, die Blicke des Publikums auf sich ziehen, jedoch muss der Redner diesen Wunsch verbergen. Dass der Redner ›die Sache‹ und nicht ›sich‹ ›sehen lassen‹ soll, ist ein Topos, der die Anstandslehren jedoch nicht daran hindert, weit ausführlichere Anweisungen zu geben, wie man ›sich‹ anständig, standes- und geschlechtsgemäß zeigen soll. Anstand als »sinnlicher Eindruck auf das Auge«: Garves Cicero-Lektüre Christian Garve veröffentlicht 1783 seine Übersetzung von Ciceros De officiis ins Deutsche, zusammen mit einem umfangreichen Anmerkungsband.534 Garves Übersetzung belegt nicht nur das zeitgenössische Interesse an Ciceros Abhandlung, die den Umgang des Individuums in der Gesellschaft beschreibt, sie befördert auch deren weitere Verbreitung. So verteidigt Amalie von Wallenburg in ihrer Anstandslehre für Mädchen von 1824 die Relevanz des körperlichen Anstands, der »die sichtbare Beschaffenheit unseres Innern darstellt«535, indem sie Garves Cicero-Übersetzung als Autorität heranzieht: »Cicero, ein großer Römer, weiß ihn in seinem ersten Buche von den Pflichten, welches ich, von Garve übersetzt und umschrieben, gelesen habe, nicht nachdrücklich genug anzupreisen.«536 Die Wirkung von Garves Übersetzung der ciceronischen Anstands-Definition als äußerlich sichtbare Tugend ist demnach nicht zu unterschätzen:

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Sulzer, Vortrag (Redende Künste), S. 1247. Sulzer, Anstand (Redekunst), S. 72. Christian Garve, Abhandlung über die menschlichen Pflichten in drey Büchern aus dem Lateinischen des Marcus Tullius Cicero, neue verbesserte, vermehrte Ausg., Breslau: Wilhelm Gottlieb Korn 1787, ND in: Garve, Gesammelte Werke, hg. von Kurt Wölfel, Bd. IX, Hildesheim, Zürich, New York 1987; Garve, Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen zu Cicero’s Büchern von den Pflichten. Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 156f. Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 157.

Es ist also das Anständige eine Eigenschaft der Tugend: aber eine solche Eigenschaft, die nicht in ihrem innern Wesen verborgen, sondern gleichsam auf ihrer Oberfläche liegt, und jedermann in die Augen fällt. Anstand verhält sich gegen die Tugend ungefähr so, wie sich die Schönheit zur Gesundheit und zum richtigen Bau des Körpers verhält.537

Garve streicht in seiner Übersetzung die sichtbare Erscheinung des Anstands heraus. Der Anstand fällt »in die Augen«, während er bei Cicero (wie Heinz Gunermann übersetzt) nurmehr »greifbar zutage tritt (sit in promptu)«.538 Anständig ist, übersetzt Garve weiter, was mit der Natur übereinstimmt, indem es Mäßigung und Selbstbeherrschung zeigt, und »zugleich ein gefälliges Ansehen hat«539. Dieses ›Ansehen‹ ist etwas, das Garve in seiner Übersetzung deutlich stärker macht, als dies im lateinischen Text vorgesehen ist. Auch in seinem Kommentar hebt Garve eben diesen Punkt hervor: Die Ausübung der Tugenden »ausgedrückt im Gesichte, in den Stellungen des Körpers, im Reden und Betragen, setzt allem diesen gewisse gefällige Züge zu oder mildert die missfälligen, die sie sonst haben. Decorum pertinet ad honestum, sed ita, ut non recondita quadam ratione cernatur, sed sit in promptu. Das decorum ist die Außenseite der Tugend; es ist der sinnliche Eindruck, den sie auf das Auge macht: so wie das Wort honestum den geistigen Eindruck derselben, auf die Urtheilskraft und die moralische Empfindung, bezeichnet.540

Nachdem Garve das decorum als äußere, körperlich sichtbare und das honestum als innere, geistige Tugend unterschieden hat, fährt er fort, dass manche Tugenden deutlicher in die Augen fielen als andere, und dazu zählten diejenigen, die zur Haupttugend der Mäßigung (temperantia) gehörten. Zwar könne auch Klugheit oder Menschenliebe äußerlich sichtbar werden, aber die Mäßigung tue dies in besonderem Maße. Starke Affekte zu zeigen, wirke dagegen unästhetisch: Man sehe nur das Äußere der Personen an, die entweder von Zorn entbrannt, oder von Begierde lüstern, oder von Furcht betäubt, oder von unmäßiger Lust trunken sind. Stimme, Mienen, Geberden, Gang, Stellung, alles ist an ihnen verändert [und »verunstaltet«, wie Garve im Kommentar hinzufügt541]. Ist diese nicht ein Beweis, […] daß, um den wahren menschlichen Anstand in unsrer Aufführung zu erhalten, wir unsre

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Garve, Abhandlung über die menschlichen Pflichten, aus dem Lateinischen des Marcus Tullius Cicero, S. 80. Cic. De off. I, 95. Garve, Abhandlung über die menschlichen Pflichten, aus dem Lateinischen des Marcus Tullius Cicero, S. 81. Vgl. Cic. De off. I, 95: »ut id decorum velint esse, quod ita naturae consentaneum sit, ut in eo moderatio et temperantia appareat cum specie quadam liberali«. Garve, Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen zu Cicero’s Büchern von den Pflichten, S. 153. Garve, Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen zu Cicero’s Büchern von den Pflichten, S. 154.

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Affekten bändigen, Begierden einschränken, und unsre Vernunft stets wachsam und thätig erhalten müssen […]?542

Rationale Affektkontrolle und sichtbare Mäßigung gehört also zu den Grundzügen des Anstands. Denn wer sich nicht selbst beherrscht, sei roh, ungebildet und werde anderen Menschen anstößig. Der Anstand bestehe aber eben gerade darin, »daß wir niemanden anstößig werden«, sondern im Gegenteil den »Beyfall« der Gesellschaft erwirken. Insofern ist die Tugend des Anstands zugleich eine Pflicht, da sie von der Gesellschaft gefordert wird.543 In dem durch Selbstbeherrschung geregelten Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft ist es wichtig, diese Mäßigung sichtbar zu machen, um als gebildet und zivilisiert anerkannt zu werden. Die Wirkungsorientierung und Konzentration auf die äußerliche Darstellung wird allerdings (vor dem Hintergrund des impliziten Vorwurfs der Verstellung) begrenzt: Beydes sind Abwege: sich so sehr um die Art wie man andern in die Augen falle, bekümmern, daß man darüber den natürlichen Ausdruck seiner Gesinnungen vernachlässigt; – oder sich ganz so seinen Empfindungen und den Eingebungen der Umstände überlassen, daß man vergißt, wie man in den Augen andrer erscheine.544

Mit der Unterscheidung eines ›natürlichen Ausdrucks‹ und einer strategischen Selbstdarstellung kommt auch die Frage des Verhältnisses von ars und natura in den Blick. Hier hebt sich Garve von Cicero ab. Nicht immer funktioniere das Abbildungsverhältnis von Körper und Seele auf ideale Weise, wie Garve bemerkt: Körper unterschieden sich und könnten deutlicher oder undeutlicher ausdrücken, was in der Seele vor sich gehe, sie könnten »ein besseres oder schlechteres Werkzeug für die Seele« sein.545 Zum Beispiel gebe es solche »Leser, Redner, Acteurs«, deren Stimme alle Stimmungen und Gedanken ausdrückten, und solche Stimmen, die trotz des richtigen Gefühls ›falsch‹ ausdrückten. Daher sei es wichtig, die Stimme zu üben und sich nicht auf die Natur zu verlassen. Diesen Punkt, der eine Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis sichtbar macht, greift Garve später wieder auf: Die allgemeine Regel, natürlich zu seyn, hat Cicero wohl ausgeführt; die nothwendige Ausnahme, eine fehlerhafte, nur langsam zu verbessernde Natur, durch Kunst zu verbergen, hat er nur wenig berührt. Diese Ausnahme aber ist zum Wohlstande ebenso nothwendig, als die Regel selbst. Sie ist es eigentlich, welche den Exercitienmeister, und gewisse Modesitten nothwendig gemacht hat. Jener, soll die Fehler des Körpers ver-

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Garve, Abhandlung über die menschlichen Pflichten, aus dem Lateinischen des Marcus Tullius Cicero, S. 86. Vgl. Garve, Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen zu Cicero’s Büchern von den Pflichten, S. 152. Garve, Abhandlung über die menschlichen Pflichten, aus dem Lateinischen des Marcus Tullius Cicero, S. 110. Garve, Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen zu Cicero’s Büchern von den Pflichten, S. 169.

bessern oder verbergen lehren; diese, sollen dem Menschen wenigstens den Schein der unentbehrlichsten Tugenden, einer gewissen Mäßigung und Menschenliebe, geben.546 Es gehört also zur Artigkeit, noch das natürliche oder erworbene Talent, seinen Körper, besonders sein Gesicht, seine Stimme, seine Action, in seiner Gewalt zu haben, um durch sie diejenigen Ideen und Gesinnungen unverfälscht, und mit einer auffallenden Klarheit andern mittheilen zu können, welche dieser ihre Zuneigung verdienen.547

Damit ist Garve im Grunde bei der Rhetorik angekommen, denn genau hier, in der rhetorischen actio-Lehre, hat Cicero sehr wohl die »verdunkelt[en]«, »verworren[en]« und »überdeckt[en]« Äußerungen des Körpers beschrieben, denen erst die Kunst der actio zu Klarheit und Sichtbarkeit verhilft.548 Für den ›Wohlstand‹ ist es letztlich unerheblich, ob es sich um einen ›unverfälschten‹, natürlichen Ausdruck oder einen ›auffallend klaren‹, rhetorischen Zeichengebrauch handelt, so lange die actio nur angemessen, das heißt anständig, wirkt. Die Grenzen des Anstands bestimmt Garve (ganz im Einklang mit der alten Rhetorik) durch soziale Differenzierung und die Unterscheidung konkurrierender Männlichkeiten: ›Grobheit‹ und ›Affectation‹ verstoßen gegen den Anstand. Für die ›Grobheit‹ wird die »Plumpheit des Bauern«549 als Beispiel herangezogen, für die ›Affectation‹ nennt Garve kein Beispiel, unschwer wäre aber der Hofmann zu ergänzen. Weiter heißt es: »Affectation aber entsteht gemeiniglich aus Schwäche des Geistes. Selten sind herzhafte Männer affectirt. Blöde sind es fast immer.«550 Garve zieht grundsätzlich den Mann als beispielhaften Redner heran und entwirft den ›guten‹ Mann, indem er ihn gegen den ›schlechten‹ abgrenzt. Das Ideal ist ein Zustand der moderaten Geschäftigkeit: Aufrecht, mit klarem Blick, geradem, ausbalanciertem Gang, freien Bewegungen, einer Körperspannung ohne Überspannung, bewegt sich Garves vir bonus. Ciceros geschlechtsspezifische Äußerungen zum Anstand fasst Garve nur kurz und neutral zusammen, ohne sich zu positionieren oder weitere Anmerkungen in seinem umfangreichen Kommentar zu machen: »Es giebt eine männliche und eine weibliche Schönheit. Darnach muß sich auch der Putz und der Wohlstand jedes Geschlechts richten.«551 Eine Beschreibung, wie dieser Unterschied zu seiner Zeit auszusehen hat, hält Garve offenbar nicht für nö546 547 548 549

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Garve, Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen zu Cicero’s Büchern von den Pflichten, S. 206. Garve, Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen zu Cicero’s Büchern von den Pflichten, S. 170. Cic. De or. III, 215; vgl. Kapitel III.1.1. Garve, Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen zu Cicero’s Büchern von den Pflichten, S. 171. Unter ›Grobheit‹ ist die völlige Regellosigkeit in dem äußern Betragen, und unter ›Affectation‹ die zu exakte Regelmäßigkeit zu verstehen. Damit sind beides Verstöße gegen den mittleren Weg. Garve, Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen zu Cicero’s Büchern von den Pflichten, S. 172. Garve, Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen zu Cicero’s Büchern von den Pflichten, S. 148f.

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tig. Ciceros Unterscheidung zwischen weiblicher venustas und männlicher dignitas übersetzt Garve kommentarlos: »Es giebt eine doppelte Art der Schönheit: eine hohe und majestätische, die Ehrfurcht einprägt; und eine anmuthige und reitzende, die Liebe einflößt. Jene gehört für den Mann, diese für die Frau.«552 Diese beiden Arten des Anstands dürfen sich nicht vermischen: »Alles also, was sowohl im Putz als in den Geberden und Bewegungen des Körpers, zu ausgesucht, zu zierlich, zu sehr aufs Gefallen angelegt ist: das muß von der Person des Mannes wegbleiben.«553 Zwar ist in den genannten Konzeptionen des Anstands bereits (neben der für das Anstandskonzept weiterhin relevanten Sichtbarkeit und Mäßigung) die geschlechtliche (sowie standesgemäße) Angemessenheit angesprochen, eine Ausformulierung derjenigen Unterschiede, die dem männlichen und dem weiblichen Anstand zugeschrieben werden, erfolgt jedoch erst in den späteren Anstandslehren. IV.5.3 Über den Umgang mit Menschen und Frauenzimmern ›Der Knigge‹ gilt heute als Synonym des guten Umgangs – auch und gerade zwischen Mann und Frau. Adolf Freiherr von Knigges Über den Umgang mit Menschen (1788) erlebte unzählige Neuauflagen und – bis zur Unkenntlichkeit abweichende – Adaptionen das gesamte 19. Jahrhundert hindurch bis heute.554 Aktuelle Veröffentlichungen wie Der neue Knigge (2004), Business-Knigge (2007) oder Knigge heute (2008) enthalten kaum mehr als den Namen des Autors der berühmten Umgangslehre aus der deutschen Spätaufklärung.555 Die propagierten Verhaltensweisen und Verhaltensideale haben wenig mit Knigges einstiger Anleitung zur formvollendeten Selbstpräsentation des männlichen Bürgers im Blick der Gesellschaft gemein. Knigges Umgangslehre zählt noch nicht zu denjenigen späteren Anstandsbüchern, die eine geschlechtsdifferenzierte actio in den Mittelpunkt stellen, soll aber als deren einflussreicher Vorläufer in den Blick genommen werden. Über den Umgang mit Menschen beginnt mit der Schilderung eines Problems: Die besten inneren Qualitäten eines Individuums stehen oftmals in keinerlei Korrelation zur gesellschaftlichen Anerkennung. Was, wenn der redliche Bürger in der

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Garve, Abhandlung über die menschlichen Pflichten, aus dem Lateinischen des Marcus Tullius Cicero, S. 116. »Da es aber zwei Arten der Schönheit gibt, deren einer die Lieblichkeit, der anderen die Würde zugehört, so müssen wir die Lieblichkeit (venustas) der Frau, die Würde (dignitas) dem Manne für zukommend erachten.« Cic. De off. I, 130. Garve, Abhandlung über die menschlichen Pflichten, aus dem Lateinischen des Marcus Tullius Cicero, S. 116. Vgl. zur Rezeptionsgeschichte: Katherina Mitralexi, Über den Umgang mit Knigge. Zu Knigges ›Umgang mit Menschen‹ und dessen Rezeption und Veränderung im 19. und 20. Jahrhundert, Freiburg 1984. Vgl. Franziska von Au, Der neue Knigge. Sichere Umgangsformen für alle Situationen, München 2004. Anke Quittschau, Christina Tabernig, Business-Knigge. Die 100 wichtigsten Benimmregeln, Freiburg 2007. Silke Schneider-Flaig, Knigge heute. Gutes Benehmen und richtige Umgangsformen, München 2008.

Gesellschaft »übersehn«, was, wenn er »verkannt« wird?556 Dieses Problem wird als Beobachtung formuliert und zeugt von der enormen Relevanz der Visualität. »Wir sehen«, so beginnt das Buch, »die klügsten, verständigsten Menschen« im gemeinen Leben Fehler des Auftretens begehen. »Wir sehen«, wiederholt der Text jeweils zu Beginn der nächsten fünf Sätze, wie diese Menschen keine oder eine ungerechte Wirkung erfahren, wie sie verkannt werden, nicht gefallen. »Kurz!«, schließt diese geballte Demonstration visueller Evidenz, wir werden täglich gewahr, daß die klügsten und gelehrtesten Männer, wenn nicht zuweilen die untüchtigsten zu allen Weltgeschäften, doch wenigstens unglücklich genug sind, durch den Mangel einer gewissen Gewandtheit, zurückgesetzt zu bleiben, und daß die Geistreichsten, von der Natur mit allen innern und äußern Vorzügen beschenkt, oft am wenigsten zu gefallen, zu glänzen verstehen.557

Knigge nimmt zu Beginn seiner Umgangslehre die Sichtbarkeit alltäglichen Scheiterns in den Blick und stellt zugleich die alte rhetorische Frage nach der Wirkung. Es geht darum, wie der (nun in einen redlichen Bürger verwandelte) vir bonus sich als solcher darstellen kann.558

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Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 14. Knigge betont mehrfach, dass er vor allem für den Mann mittleren Standes schreibe, der über den Umgang mit allen Ständen und Klassen von Menschen unterrichtet werden soll. Der ›redliche‹ Bürger, der Biedermann des aufklärerischen 18. Jahrhunderts steht im Gegensatz zum gewandten, klugen Höfling des 17. Jahrhunderts. Mit dem Ideal der Redlichkeit hebt sich Knigge von den die Kunst der Verstellung propagierenden höfischen Verhaltenslehren ab, begibt sich jedoch zugleich in Aporien: So lange die menschliche Natur des Gesprächspartners als verderbt angesehen wird, ist das Streben nach innerer Vollkommenheit nicht so Erfolg versprechend wie die Konzentration auf den äußeren Schein. Vgl. Karl-Heinz Göttert, Nachwort. In: Adolph Freiherr Knigge, Über den Umgang mit Menschen, hg. von KarlHeinz Göttert, Stuttgart 1991, S. 455–477, S. 470. Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 11f. Vgl. Fauser, Rhetorik und Umgang, S. 123. Fauser weist darauf hin, dass die Verwandlung des Rednerideals vom honnête homme zum redlichen Bürger und die Ablehnung einzelner Elemente des alten Adelsideals eine neue Rhetorik des Umgangs – wie eben die von Knigge – erforderlich gemacht haben. Zum vir bonus-Ideal bei Knigge vgl. Gert Ueding, Rhetorische Konstellationen im Umgang mit Menschen. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik, 9/1, 1977, S. 27–52, S. 44f. Ueding stellt Knigge in eine Reihe mit Cicero, Quintilian, Castiglione und Gottsched und sieht die Anlehnung an rhetorische Traditionen vor allem in dem Erziehungsanspruch, der Ausprägung eines bürgerlichen vir bonus-Ideals, der Charakterdarstellung des Redners (ēthos) und der decorum-Lehre. »Da Rhetorik immer schon nicht allein die Kunst der richtigen und wahren Wirkung der Rede, sondern auch der des Redners in einem gesellschaftlichen Bereich gewesen ist«, so Ueding, »konnte die Kunst des Redners, mit seinem Publikum ›umzugehen‹, zu einer allgemeinen Kunst des ›Umgangs mit Menschen‹ erweitert werden.« (S. 51) In seiner Bemühung, große Linien von der Antike über den Humanismus bis zur Aufklärung zu ziehen, übergeht Ueding dabei die Brüche in der Ideengeschichte des vir bonus-Ideals, das historisch unterschiedliche soziale und geschlechtliche Hierarchisierungen beinhaltet.

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Die Lösung des Problems soll die Kunst des Umgangs liefern, das ist »die Kunst, sich bemerken, geltend, geachtet zu machen«559. Der Anspruch auf Geltung des männlichen, bürgerlichen Subjekts lässt sich nicht allein durch stille, innere Vervollkommnung, etwa in einer selbstgenügsamen, umfassenden humanistischen Bildung einlösen, sondern bedarf der externen Bestätigung. Durch diese Wendung nach außen, an ein Publikum, geriert sich das Subjekt als eines, dem die (rhetorische) Selbstinszenierung zum ›Ansehen‹ – ja allererst zur Sichtbarkeit – verhelfen muss. Damit wird Adolph Freiherr Knigges Umgangslehre als Anleitung zur rhetorischen Persönlichkeitsdarstellung lesbar. Doch die Kunst, sich als etwas darzustellen, birgt zugleich die Gefahr des Vorwurfs der Verstellung. Der gleich zu Beginn prominent diskutierte Satz – »Jeder Mensch gilt in dieser Welt nur so viel, als er sich selbst gelten macht«560 – trifft daher einerseits das zentrale Anliegen der Knigge’schen Umgangslehre, andererseits verwahrt sich diese davor, das Motto als Freifahrschein für Angeber und Betrüger zu verstehen. Der redliche Bürger soll sich nicht glänzender zeigen, als er ›ist‹, aber er soll sich dem Publikum von seiner glänzendsten Seite zeigen. Ausgehend von der Beobachtung dieses ›realen‹ Scheiterns – und nicht etwa von der Idealvorstellung einer gelingenden, offenen, natürlichen, unverstellten Kommunikation – entwirft Knigge seine Umgangslehre. Das Publikum – die Gesellschaft – wird nicht als wohlwollend, sondern allzu oft als lästerhaft, aufgeblasen, dumm, selbstverliebt, geschwätzig und oberflächlich dargestellt. Um dieses Publikum für sein eigenes »Fortkommen in der Welt« zu gewinnen, bedarf der Bürger einer »gewissen Geschmeidigkeit, Geselligkeit, Nachgiebigkeit, Duldung, zu rechter Zeit Verleugnung, Gewalt über heftige Leidenschaften, Wachsamkeit auf sich selber und Heiterkeit«561. Es ist diese geschmeidige Anpassung an jedwede Gesellschaft – nicht etwa Natürlichkeit oder Offenheit –, die als förderlich für die Karriere beschrieben wird. Die geforderte Anpassung erscheint, indem sie in einen Gegensatz zu sklavischer Unterwerfung oder gänzlicher Selbstverleugnung gesetzt wird, zugleich vereinbar mit der Aufforderung zu Redlichkeit und Wahrhaftigkeit: »Zeige Dich also mit einem gewissen bescheidnen Bewußtsein innerer Würde, und vor allen Dingen mit dem auf Deiner Stirn strahlenden Bewußtsein der Wahrheit und Redlichkeit!«562 Auf diese Aporien in Knigges Umgangsmodell, das zwischen Schein und Sein, zwischen der Notwendigkeit pluraler Interaktionsstile und der Forderung nach unbedingter Identität, zwischen Dis/Simulation und Authentizi-

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Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 14. Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 29–31. Knigge diskutiert das Für und Wider dieses umstrittenen Satzes. Seine bedingte Zustimmung bleibt bei weitem hinter der Kritik am ›Schein‹ zurück, die beispielsweise die Moralischen Wochenschriften der frühen Aufklärung vertreten haben. Vgl. Göttert, Nachwort. In: Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 424. Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 14f. Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 31.

tät, adeliger Klugheitstaktik und bürgerlicher Offenheit schwankt, wurde mehrfach hingewiesen.563 Knigge schließt sich eben nicht an das von Rousseau und den Moralischen Wochenschriften propagierte Kommunikationsideal der ›Offenheit‹ an, sondern explizit an den esprit de conduite des Ancien régime.564 Dies mag unter anderem daran liegen, dass die Umgangslehre nicht nur das Ziel einer »wechselseitige[n] Glückseligkeits-Beförderung«565 verfolgt. Das altruistische Ziel, »eignes und fremdes Glück zu bauen«, ist zwar der scheinbar übergeordnete Sinn in Knigges Beschreibung des menschlichen Umgangs, aber das weit egoistischer anmutende Ziel, »in der Welt fortzukommen«, steht eben doch an erster Stelle: [M]eine Bemerkung trifft Personen, die wahrlich allen guten Willen und treue Rechtschaffenheit mit mannigfaltigen, recht vorzüglichen Eigenschaften und dem eifrigen Bestreben, in der Welt fortzukommen, eignes und fremdes Glück zu bauen, verbinden, und die dennoch mit diesem allen verkannt, übersehn werden, zu gar nichts gelangen.566

Die Umgangslehre stellt sich in den Dienst eines männlichen Bürgers, dessen Selbstentwurf, wie auf den ersten Seiten sichtbar wird, auf einem enormen Geltungsdrang und dem Ziel eines – gesellschaftlichen und geschäftlichen – Aufstiegs basiert. Über den Umgang mit Menschen ist auch als Karriereratgeber zu lesen, der zeigt, wie durch eine gewisse ›anständige‹ Performanz und Selbstinszenierung ein beruflicher und gesellschaftlicher Aufstieg ermöglicht werden kann.567

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Vgl. Geitner, ›Die Beredsamkeit des Leibes‹, S. 190; Mitralexi, Über den Umgang mit Knigge, S. 1; Döcker, Die Ordnung der bürgerlichen Welt, S. 32; Thomas Pittrof, Knigges Aufklärung über den Umgang mit Menschen, München 1989. Vgl. Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 14. Dazu Karl-Heinz Göttert, Über den Umgang mit Menschen. Kritische Anmerkungen zu Knigge. In: Merkur, 42, 1988, S. 903–906. Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 160. Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 14. Relevant für den großen Erfolg von Knigges Umgangslehre ist die Tatsache, dass Knigge diese Selbstinszenierung eben nicht als imitatio der adeligen actio entwirft, sondern eine spezifisch bürgerliche actio behauptet. Dies geschieht gerade durch die Abgrenzung von der adeligen actio, die – ungewöhnlich scharf formuliert – keinesfalls nachgeahmt werden solle: »ihre lächerlichen Gebärden, Gewohnheiten und Gebrechen, ihr Stammeln, Lispeln, Achselzucken« zu kopieren, heiße den eigenen bürgerlichen Stand zu verleugnen. Emphatisch ruft Knigge dagegen zu einem bürgerlichen Selbstbewusstsein auf: »Handle selbstständig! Verleugne nicht Deine Grundsätze, Deinen Stand, Deine Geburt, Deine Erziehung, so werden Hohe und Niedre Dir ihre Achtung nicht versagen können!« Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 301. Vgl. dazu Beetz: »Bürgerliches Selbstbewußtsein bezieht seine Legitimation im Auftreten nicht mehr aus der Mimikry der geschliffenen Lebensart der Nobilität, sondern aus Naturanlagen, deren Ausbildung erst die relevanten Leistungsunterschiede unter Gleichberechtigten konstituiert.« Beetz, Die Körpersprache im Wandel der deutschen Rhetorik vom 17. zum 18. Jahrhundert, S. 45.

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Dass eine auf dieser Zielsetzung basierende Umgangslehre im 18. Jahrhundert nicht geschlechtsneutral sein kann, sondern ein spezifisch männliches Umgangsmodell entwirft, liegt nahe. Denn eine ›Karriere‹ (in beruflichem Sinn) steht der Bürgerin nicht offen. Explizit richtet sich Knigge ausschließlich an ein männliches Subjekt.568 Die Frau kommt nur als Gesprächspartnerin des Mannes in den Blick, sie wird nicht eigens als sprechendes Subjekt angesprochen. In einem separaten Absatz wirft Knigge die Frage auf, inwiefern die behandelten Regeln auch Gültigkeit für Frauen besäßen: Viele Vorschriften müsse man dann »teils gänzlich übergehn, teils modifizieren, teils andre an deren Stelle setzen«569. Knigge macht deutlich, dass für Frauen und Männer nicht die gleichen Umgangsregeln gelten. Dies liegt gerade daran, dass der Mann in der Welt fortkommen will und die Frau zu Hause bleiben soll. Jedes Geschlecht habe seinen »angewiesenen Würkungskreis«, der nicht verlassen werden solle, so Knigge:570 »[I]hre Existenz schränkt sich ein auf den häuslichen Zirkel, da hingegen des Mannes Lage ihn eigentlich fester an den Staat, an die große bürgerliche Gesellschaft knüpft.«571 Das Ziel, »auf andre zu würken«, erfordert je nach häuslichem oder öffentlichem »Würkungskreis« unterschiedliche rhetorische Tugenden für die Geschlechter. Dieser Gegenüberstellung von Öffentlichkeit und Häuslichkeit liegt jedoch keine Vorstellung des Hauses zugrunde, die den häuslichen Bereich als heimelige Keimzelle der Familie, als einen von beruflichen Kämpfen und von der Forderung nach Verstellung befreiten Rückzugsort imaginieren würde, in dem ›Natürlichkeit‹ und ›Offenheit‹ herrschen können. Es wäre ein Trugschluss anzunehmen, dass die Frau in einem scheinbar machtfreien häuslichen Bereich weniger Umgangsregeln oder dieselben Regeln weniger genau zu befolgen hätte, als der Mann, dessen Umgang in der Öffentlichkeit weit reichende ökonomische und politische Konsequenzen haben kann. Erstaunlicherweise ist das Gegenteil der Fall. Wie Knigge selbst bemerkt, hängen Frauen »viel mehr vom äußern Rufe ab, dürfen nicht so zuvorkommend im Umgang sein.

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Hierauf weist bereits Birgit Nübel, Knigge und seine Tochter Philippine oder Über den Umgang mit Frauenzimmern. In: Adolph Freiherr Knigge: Neue Studien, hg. von Harro Zimmermann, Bremen 1998, S. 58–65, S. 58, hin, die sich ansonsten auf Knigges pädagogische Schriften und Briefe zur Mädchenerziehung und sein persönliches Verhältnis zu seiner Tochter – später ebenfalls Autorin von Anstandsbüchern – bezieht. Dass Knigges Redner-Ideal, ebenso wie bereits das vir bonus-Ideal, Rednerinnen ausschließt, übersieht dagegen der Großteil der Forschungsliteratur gänzlich, beispielsweise Gert Ueding, der stattdessen Knigges humanistisches Ideal der Gleichheit lobt und dabei geschlechtliche wie soziale Differenzierungen großzügig übersieht. Vgl. Ueding, Rhetorische Konstellationen im Umgang mit Menschen, S. 35. Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 79. »Es geht selten gut im Hause, wenn die Gattin für ihren Gatten die Berichte ad serenissimum entwerfen und er dagegen, wenn Fremde eingeladen sind, die Kapaunen braten, Cremen machen, und die Töchter ankleiden helfen muß.« Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 171f. Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 80, vlg. auch S. 162, S. 170ff.

Man verzeiht ihnen von einer Seite weniger Unvorsichtigkeiten, und von der andern mehr Launen; ihre Schritte werden früher wichtig für sie, indes dem Knaben und Jünglinge manche Unvorsichtigkeit nachgesehen wird«572 . Von der Frau wird gefordert, die Regeln des Umgangs umso exakter zu befolgen. Wenn der Sinn von Umgangsregeln gerade darin besteht, sich Geltung zu verschaffen, um sein eigenes berufliches und gesellschaftliches Fortkommen zu sichern, dann ist es geradezu paradox, dass der Ruf, verstanden als das Resultat eines makellosen Umgangs in der öffentlichen Meinung, einer Frau wichtiger ist als der eines Mannes. Knigge bietet keine Erklärung, sondern wiederholt und bestärkt lediglich die Meinung, dass der Ruf der Frau wichtiger als der des Mannes ist.573 Dass der Drang, in der Öffentlichkeit Geltung zu erlangen, für eine Frau unpassend ist, zeigt sich in Knigges Exkurs über gelehrte Frauen. »Fieberfrost«574, so Knigge, verursachten gelehrte Frauenzimmer ihm, worin der Grund liegen mag, dass Knigge sich auf ihre karikaturhafte Darstellung konzentriert, anstatt Ratschläge für den Umgang mit ihnen zu erteilen. Unter den vierzig bis fünfzig zeitgenössischen deutschen Schriftstellerinnen, die Knigge bekannt sind, gebe es kaum sechs, die zugleich als Genies gelten könnten, liebenswürdige, edle Frauen seien und ihre häuslichen Pflichten nicht vernachlässigten. Knigges Argument lautet nicht, dass es keine weibliche Gelehrsamkeit geben könne – es gibt sie! –, sondern dass neben einer Minderheit von kaum sechs genialen Frauen ein Haufen von mittelmäßigen, pseudo-gelehrten Frauen mit unnatürlichen Geltungsansprüchen ohne hinreichende Kenntnisse von Dingen rede, die in einen von Natur aus männlichen Zuständigkeitsbereich fielen. Knigge sieht zwar den Einwand voraus, dass es wohl auch einen Haufen mittelmäßiger männlicher Literaten und Wissenschaftler gebe, sieht diese aber entschuldet durch ihre nachvollziehbare »Begierde nach Ruhm und Gewinn«575. Eben diese Entschuldigung, macht Knigge deutlich, könne aber für Frauen nicht zutreffen, verfolgten doch gelehrte Frauen eine Laufbahn, »welche weder die Natur, noch die bürgerliche Verfassung ihnen angewiesen hat«576. Eine Wissenschaftlerin, die ihren naturgegebenen häuslichen Tätigkeitsbereich vernachlässige, die sich wohl gar berechtigt glaube, »das Joch der männlichen Herrschaft abzuschütteln«, »erregt wahrlich, wo nicht Ekel, doch Mitleid«.577 Geltung, Ruhm

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Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 80. Kirsten O. Frieling erklärt die Beobachtung, dass Verstöße gegen den Anstand in den Anstandslehren leichter bei Männern als bei Frauen geduldet werden, dadurch, »daß bei Frauen das rechte Benehmen aus der Natur heraus abgeleitet wird«. Frieling, Ausdruck macht Eindruck, S. 90. Eine solche Zuschreibung qua Natur ist aber in Knigges Über den Umgang mit Menschen nicht zu beobachten, der vielmehr den sozialen Charakter der Umgangsregeln betont. Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 205. Vgl. dazu Weckel, Der Fieberfrost des Freiherrn. Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 207. Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 207. Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 206.

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und Gewinn werden der öffentlichen Sphäre zugerechnet und bleiben männlich konnotiert. Es ist nicht nur der der Frau zugeschriebene soziale Ort, das Haus, der einen weiblichen Geltungsdrang unnötig werden lässt, sondern Knigges Umgangslehre arbeitet daran, der Frau aufgrund ihres vermeintlichen Geschlechtscharakters jeglichen Wunsch wie Anspruch auf Geltung abzusprechen und ahndet Zuwiderhandlungen mit persönlicher Abneigung sowie gesellschaftlichem Ausschluss. Dies hat Auswirkungen auf die rhetorische Zielsetzung von Frauen und dementsprechend auch auf die rhetorischen Mittel, unter anderem die actio, diese zu erreichen. Wie in nachfolgenden Anstandslehren vermittelt wird, sollte der Mann nach Geltung, die Frau jedoch nach Zuneigung streben.578 Die actio wird allerdings in Über den Umgang mit Menschen – im Vergleich mit den nur kurze Zeit später erscheinenden und sich fast ausschließlich mit der actio befassenden Anstandslehren – nur am Rande verhandelt. Während Knigges Betonung der Sichtbarkeit und der äußeren Selbstinszenierung für die nachfolgenden Anstandslehren beispielhaft bleibt, werden diese die actio in deutlich größerem Umfang und systematischer in den Mittelpunkt rücken. Die eigentliche Aufmerksamkeit der Knigge’schen Umgangslehre liegt auf der Differenzierung des Publikums, in einer Zeit, die als Übergang von einer ständisch organisierten zu einer funktional differenzierten Gesellschaft gilt.579 Während Knigge dem einzelnen ein adäquates gesellschaftliches Handeln in verschiedenen Ständen, Funktionen, Rollen und Situationen ermöglichen will, stellen die späteren Anstandslehren die technische Beherrschbarkeit dieses Handelns, die ›anständige‹ actio, in den Vordergrund. Nur ein kurzes eigenständiges Kapitel findet sich in Knigges Umgangslehre über »Wohlredenheit und äußeren Anstand«, deren Beschreibung zunächst der rhetorischen Tradition der actio-Lehre folgt. Anstand bestehe in erster Linie in der Mäßigung leidenschaftlicher Affekte und der Wahrung von sichtbarer »Haltung und Harmonie im äußern Betragen«580. Der Anstand sei nicht angeboren, sondern müsse durch ein ausdauerndes Studium, Übung, Kenntnis seiner selbst und Achtsamkeit auf sich selbst erlangt und »zur andern Natur«581 gemacht werden. Dabei soll man sein Äußeres studieren, sein Gesicht in seiner Gewalt haben, nicht grimassieren, und wenn wir wissen, daß gewisse Mienen, zum Beispiel beim Lachen, unsrer

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Vgl. Kapitel IV.5.4 (Wie gefällt man allen? Fazit) Auf diese Übergangssituation am Ende des 18. Jahrhunderts weist insbesondere Thomas Pittrof in Anlehnung an Niklas Luhmann hin und liest Knigges Interaktionsvorschriften als Versuch einer Komplexitätsreduktion im Prozess der historischen Transformation von einer ständisch organisierten zu einer funktional differenzierten Gesellschaft. Knigge wolle dem Einzelnen ein adäquates gesellschaftliches Verhalten ermöglichen – ein Anspruch, der wie Pittrof bemerkt, mit dem Ideal einer aufgeklärten Moral kollidiert, den ›ganzen Menschen‹, also unabhängig von Stand, Status, Funktion und Rolle zu konzipieren. Vgl. Pittrof, Knigges Aufklärung über den Umgang mit Menschen. Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 60. Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 61.

Bildung ein widerwärtiges Ansehn geben, diese zu vermeiden suchen. Der Anstand und die Gebärdensprache sollen edel sein; man soll nicht bei unbedeutenden affektlosen Unterredungen, wie Personen aus der niedrigsten Volksklasse, mit Kopf, Armen und andern Gliedern herumfahren und um sich schlagen; man soll den Leuten gerade, aber bescheiden und sanft ins Gesicht sehn, sie nicht bei Ärmeln, Knöpfen und dergleichen zupfen. [...] [Des Weiteren soll man] seine Stimme in seiner Gewalt haben, nicht schreien und doch verständlich reden [...].582

Die kurze Darstellung der actio konzentriert sich auf eine ästhetische Selbstbeobachtung und -disziplinierung, die vor allem auf die Reduktion eines ›Zuviel‹ an Mimik und Gestik abzielt und einzig über den Blick gewinnen will. Überdeutlich wird in dieser Beschreibung die soziale Distinktion durch die actio, kaum ins Gewicht fällt dagegen eine geschlechtliche Differenzierung. Was dann folgt, ist allerdings nicht der traditionell vorgegebenen Anordnung von Stimme, Haltung, Gestik, Mimik, Kleidung583 verpflichtet, stattdessen führt der Text eine krude Sammlung von Benimm-Regeln an – im Gespräch, bei Tisch, beim Grüßen, beim Gehen, bei der Anrede, bei der Verabschiedung, bei Besuchen oder in der Kutsche –, die in ihrer zusammenhanglosen Folge und ihrem Detailreichtum geradezu grotesk wirken.584 Verbunden werden diese Vorschriften nur durch den Hinweis auf ihre Wirkung: »nur erinnere ich, daß diese kleinen Dinge in mancher Leute Augen keine kleinen Dinge sind, und daß oft unsre zeitliche Wohlfahrt in solcher Leute Handeln ist«585. Es ist eben der Blick des Publikums, die Art und Weise wie der Bürger »in mancher Leute Augen« erscheint, der diese Benimm-Regeln der actio zugehörig macht, die eine bestimmte Wirkung des Redners auf das Publikum bezweckt. Bezieht man das Aristotelische Diktum auf Knigges Umgangslehre, dass eine Rede auf drei Komponenten aufbaut – »einem Redner, einem Gegenstand, worüber er spricht, und einem Publikum; und der Zweck (telos) der Rede ist nur auf ihn, den Zuhörer, ausgerichtet«586 –, so wird hier das letzte rhetorische Ziel, die Frage der Wirkung auf ein Publikum, am differenziertesten entfaltet. Denn das Publikum wird dem zeitgenössischen Umgang eines männlichen Bürgers gemäß

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Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 61f. Ein Extra-Kapitel zur Kleidung (I, 1, 54) folgt, das den üblichen mittleren Weg vorschreibt: »Kleide Dich nicht unter und nicht über Deinen Stand; nicht über und nicht unter Dein Vermögen; nicht phantastisch; nicht bunt; nicht ohne Not prächtig, glänzend noch kostbar; aber reinlich, geschmackvoll und, wo Du Aufwand machen musst, da sei Dein Aufwand zugleich echt und schön! Zeichne Dich weder durch altväterische, noch jede neumodische Torheit nachahmende Kleidung aus!« Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 67. Beispielsweise wenn die Rede davon ist, Rücksichtnahme beim ›ekelhaften‹ Schlafen zu zweit unter einer Decke zu üben oder wenn verboten wird, einen geliehenen, gebrauchten Zahnstocher zurückzugeben. Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 60–63. Arist. Rhet. I, 3, 1358a/1358b (hier zit. n. der Übersetzung von Krapinger).

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auf das genaueste nach dem jeweiligen hierarchischen Verhältnis, nach der beruflichen Funktion und dem sozialem Stand im Vergleich zum Redner unterschieden. Das Kriterium ›Geschlecht‹ ist dabei nur ein Differenzierungsaspekt neben vielen. Zwischen Anweisungen zum Umgang unter Eheleuten, unter Verliebten, unter Freunden, zum Umgang zwischen Herr und Diener, Wirt und Gast, Geber und Nehmer, Lehrer und Schüler, zum Umgang mit Fürsten, Hofleuten, Vornehmen und Reichen sowie mit Geringeren, mit verschiedenen Ständen und Berufen, ja sogar mit Tieren, zum Umgang in verschiedenen Situationen etwa auf Reisen, auf Festen oder beim Tanz findet sich auch ein eigenes Kapitel »Über den Umgang mit Frauenzimmern«. Im Folgenden soll gefragt werden, welche Besonderheiten der Text für den ›Umgang mit Frauenzimmern‹ festhält und welche Rückschlüsse aus der Beschreibung des weiblichen Publikums auf eine etwaige weibliche actio gezogen werden können. Dabei wird auch darauf zu achten sein, inwiefern sich das Subjekt als männliches und bürgerliches im Umgang mit dem ›anderen‹ Geschlecht entwirft. »Die mehrsten Frauenzimmer wollen ohne Unterlaß angenehm unterhalten sein«, schreibt Knigge – und dies nicht ohne Abwertung, denn »der angenehme Gesellschafter ist ihnen oft mehr wert, als der würdige, verdienstvolle Mann, von dessen Lippen Weisheit strömt, wenn er redet, der aber lieber schweigen, als leere Worte sprechen mag.«587 Während die sinnvolle, rationale Rede männlich konnotiert wird, ist die sinnlose, geschwätzige weiblich konnotiert. Der Mann wird für eine harmonische, angenehme, unterhaltende Gesprächsführung verantwortlich gemacht. Die Art der Gesprächsführung, die Knigge (und vor ihm die höfischen Anstandslehren) als für den Mann angemessen entwerfen, ist eine, soviel darf vorweg genommen werden, die in heutigen Populärrhetoriken in weiten Teilen als weiblich markiert wird:588 Der Mann soll Gespräche fördern, mehr zuhören und fragen als sprechen, sich selbst kurz fassen und andere zu Wort kommen lassen, die Themen seines Gesprächs grundsätzlich nach den Interessen anderer ausrichten, auch Langwieriges und Langweiliges mit interessierter Miene verfolgen, Widerspruch gelassen ertragen, den Gesprächspartner oder die -partnerin grundsätzlich loben und bestätigen, sich vor Klatsch und Geschwätzigkeit hüten, Bescheidenheit zeigen, indem er weniger selbst glänzen, als andere zum Glänzen bringen will. Gerade die Metapher des ›Glanzes‹ macht die Problematik dieser strategischen Gesprächsführung deutlich: Denn einerseits steht die Gesprächsführung im Dienst der Kunst des Umgangs, der Lehre »zu gefallen, zu glänzen«589. Zugleich geht diese Lehre davon aus, dass jeder Redner gerne glänzen möchte, sich also der ›Glanz‹ in einer Gesprächssituation (anders als auf den römischen rostra, wo ein Redner einem großen Publikum frontal gegenübersteht, also als einziger glänzen soll) auf

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Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 197. Vgl. Kapitel V.2.2. Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 12.

alle Gesprächspartner verteilen muss. Der Redner darf und soll für sich in Anspruch nehmen, ein bisschen zu glänzen, und muss zugleich darauf achten, andere nicht zu überstrahlen und so zu ›verdunkeln‹, wie es in späteren Anstandslehren heißt.590 Ein Redner, der zu sehr glänzt, der sich mit anderen Worten zum alleinigen Mittelpunkt einer Gesellschaft macht, wird generell verurteilt. Gerade in einem großen Zirkel solle man nicht im Zentrum stehen und »mit aller Gewalt glänzen« wollen, denn diese übertriebene Erwartung an die Gesellschaft, Geltung und Anerkennung zu erfahren, werde in der Regel enttäuscht.591 Außerdem fordere ein zu großer Glanz verstärkt Kritik hervor: »Hängt man ein gar zu glänzendes Schild aus, so erweckt man dadurch die genauere Aufmerksamkeit; andre spüren den kleinen Fehlern nach, von denen kein Erdensohn frei ist, und so ist es auf einmal um unseren Glanz geschehn.«592 Signifikant ist, dass der ›Glanz‹ durchaus eine positive Konnotation behält. Die Verwandtschaft dieses Wortes mit der Oberfläche, dem Schein und Schmuck – im Gegensatz zu dem sanfteren ›Schimmern‹ oder ›Hindurchschimmern‹, das im zeitgenössischen Verständnis ein leichtes, natürliches Hervorleuchten innerer Qualitäten und somit Tiefe signalisiert – scheint Knigge nicht zu stören. Frauen, meint Knigge zu erkennen, wollten übrigens mehr noch als Männer glänzen, und er gesteht ihnen dies auch – leicht herablassend – zu: Wenn man übrigens die Kunst versteht, ihnen [den Frauen] Gelegenheit zu geben, zu glänzen, so bedarf man weiter keiner Unterhaltung, und man wird ihnen gewiß nicht unangenehm sein. – Ist das nicht bei allen Menschen mehr oder weniger der Fall? Gewiß! doch bei Weibern öfter, weil man wohl ohne Sünde ein wenig mehr Eitelkeit auf Rechnung ihres Geschlechts schreiben, als dem unsrigen schuld geben darf.593

Diese graduelle Abgrenzung des Mannes zur Frau markiert letztere als eine, die sich durch ein ›Zuviel‹, ein Abweichen vom idealen mittleren Weg auszeichnet, der damit zugleich als idealer, männlich-bürgerlicher aufgewertet wird. Am liebsten sprächen die an oberflächlicher Unterhaltung interessierten Frauen über sich selbst, hörten ihr eigenes Lob, wollten selber glänzen; Frauen seien eitel, launisch und neugierig, und dies alles, das ist wichtig, in höherem Maße als Männer. Zudem verstell-

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»Suche weniger selbst zu glänzen, als andern Gelegenheit zu geben, sich von vorteilhaften Seiten zu zeigen, wenn Du gelobt werden und gefallen willst. Die wenigsten Menschen vertragen ein Übergewicht von andern.« Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 34. Wenzel beschreibt den anständigen Mann: »Er will in keinem Falle glänzen, und legt es daher keinesweges darauf an, andere zu verdunkeln; ja, er mühet sich vielmehr, die Talente, die Geschicklichkeit, die guten Eigenschaften anderer hervorzulocken, und ihnen einen Spielraum zu verschaffen.« Wenzel, Der Mann von Welt, S. 57. Und Amalie von Wallenburg lobt später diejenige Frau, die ihren ›Glanz‹ bewusst verschleiert: »Keiner sieht sich in ihrer Nähe verdunkelt, Keiner verliert sich in dem Glanze, den sie um sich verbreitet.« Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 76. Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 66. Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 31. Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 197.

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ten sie sich von Natur aus, denn sie besitzen »in viel höherem Grade als wir [Männer], die Gabe, [ihre] wahren Gesinnungen und Empfindungen zu verbergen«594 . Neben der Art der Gesprächsführung macht die actio den Mann im Umgang mit der Frau zu einem attraktiven Gesprächspartner. Um diese genauer beschreiben zu können, wechselt Knigge die Perspektive und versucht, aus weiblicher Sicht zu beschreiben, was den Mann der Frau angenehm macht: »ich denke, das ist es ungefähr, was den Weibern an uns gefallen könnte«595. Was Männer zu beliebten Gesprächspartnern mache, liege weder in ihrem Äußern noch in ihrer besonderen Klugheit noch in Schmeicheleien, sondern in der actio, die sich – überraschenderweise – an die weibliche actio annähern müsse, ohne jedoch die Grenzen der Männlichkeit zu überschreiten. Der Mann soll sich nach Knigge an die weibliche actio anpassen, sich »in ihren Ton stimmen«, mit ihnen auf eine Art umgehen, »die nur von ihnen selbst erlernt werden kann«.596 Es gebe eine bestimmte, Frauen gefällige Art des Umgangs, an die sich Knigge mit äußerster Vorsicht annähert, indem er immer wieder das Maß der Mitte (zwischen männlich und weiblich konnotierten Eigenschaften) zu bestimmen sucht: »Ein kleiner Anstrich von weiblicher Sanftmut, die aber ja nicht in unmännliche Schwäche übergehen darf«, kleine, feine Gefälligkeiten ohne Aufsehen zu erregen, Aufmerksamkeiten ohne Gegenansprüche, Vertrautheit ohne Vertraulichkeit, sanfte Schwermut ohne Langeweile, »romanhafter Schwung«, der nicht in Süßlichkeit oder Abenteuerlust abgleitet, Bescheidenheit ohne Schüchternheit, Lebhaftigkeit ohne stürmisches Drängen.597 Was die Körper-

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Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 208. Die der Frau zugestandene weibliche Eitelkeit wird in den späteren Anstandslehren gründlich sublimiert: Die Priorisierung der Bescheidenheit als vornehmlich weibliche Tugend bedeutet das Ende des weiblichen ›Glanzes‹. Zwar wird auch der bürgerlichen Frau weiterhin topisch zugeschrieben, mehr als der Mann gefallen zu wollen, jedoch wird die Eitelkeit als unvereinbar mit dem weiblichen Tugendideal gesehen, und so muss die Frau ihr ›Gefallenwollen‹ unter einem Schleier aus sichtbarer Bescheidenheit verbergen. Vgl. Kapitel IV.5.4 (Wie gefällt man allen? Fazit). Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 194. Es ist erstaunlich, dass Knigge eine weibliche Perspektive auf Männer einnehmen kann, sich jedoch für unfähig hält, eine männliche Perspektive auf Frauen einzunehmen, wenn er zu begründen sucht, warum sich seine Umgangslehre ausschließlich an Männer richte und eine Umgangslehre für Frauen einzig von Frauen verfasst werden könne. Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 193. Der Grad der Anpassung spiegelt die hierarchische Relation zwischen den Gesprächsteilnehmern. Knigge verhandelt den ›Umgang mit Menschen‹ immer mit Bezug auf eine hierarchische Ordnung: Man redet mit Höheren oder Geringeren, mit Älteren oder mit Jüngeren, mit Männern oder Frauen usw. Je ›höher‹ das Gegenüber, desto mehr muss sich der Redner an ihn oder sie anpassen. ›Anderen zu gefallen‹ erfordert nach Knigge, sich anzupassen, sich selbst zurückzuhalten, andere zu loben, ihnen zu schmeicheln, nicht selbst zu glänzen, sondern andere glänzen zu lassen. Gerade gegenüber Frauen wird diese Anpassung für den Redner relevant, dem das Ziel zugeschrieben wird, als angenehmer Gesprächspartner aufzutreten und anerkannt zu werden. Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 194.

sprache betrifft, so erwartet Knigge vom gefälligen Mann »eine Art der Augensprache, die, sehr vom Liebäugeln unterschieden, von zarten, empfindungsvollen Herzen aufgefasst wird, ohne in Worte übersetzt werden zu dürfen«, sowie »körperliche Gewandtheit, Geschicktheit, Behendigkeit«.598 Bei aller Angleichung der männlichen an die weibliche actio wird eine Grenze zwischen den Geschlechtern nicht überschritten, sondern im Gegenteil deren dichotomische Verfassung bestätigt, die vor allem über die Gegenüberstellung von Stärke und Schwäche gestützt wird. Die weiblich konnotierte Sanftmut darf zwar auch der Mann im Umgang zeigen, nicht jedoch zusammen mit Schwäche, die ihn geschlechtlich uneindeutig und hierarchisch unterlegen erscheinen ließe. Wie in den antiken Rhetoriken funktioniert die Normierung des Umgangs auch bei Knigge über die Darstellung dessen, was ausgegrenzt werden muss, weil es gerade nicht dem Ideal entspricht: so zum Beispiel Widerwillen erregende »äußerst schwächliche, gebrechliche Männer«599. Knigges Argumentation beruft sich auf die ›Natur‹: Weil (auch die selbstständigsten und stärksten) Frauen bei Männern ›natürlicherweise‹ Schutz suchten, riefen schwächliche Männer bei Frauen Widerwillen hervor. Die Hierarchie der Geschlechter wird mit dieser Argumentationsweise erhalten und durch die actio im täglichen Umgang eingeübt, wiederholt und aufgeführt. Über die weibliche actio ist im Kapitel über den Umgang mit Frauen nur am Rande etwas zu erfahren. Knigge entwirft die Frau nicht als einem naturgegebenen Geschlechtscharakter unterworfen, der sich auf natürliche, unverstellte Weise äußert. Zwar verweist er wiederholt auf ›die Natur‹ der Frau, kann aber nicht über die alltägliche, eigene Beobachtung hinweg gehen, dass es sich bei Frauen um Subjekte handelt, die nicht unter einer einheitlichen weiblichen ›Natur‹ zu subsummieren sind. Zudem, so scheint Knigge zu beobachten, ist die Frau ebenso der Selbstdarstellung zugeneigt wie der Mann. Nicht ohne den Gestus der Herablassung stellt Knigge, der Experte für männliche Selbstdarstellung, fest, dass auch die Frau über ein eigenes Selbstbild verfügt, das sie aufführen und im Blick des Anderen bestätigt sehen will.600 Frauen kommen als Subjekte in den Blick, die sich als etwas zeigen wollen und dafür der externen Bestätigung bedürfen: Frauenzimmer haben zuweilen sonderbare Grillen; man weiß nicht immer, wie sie sich vorstellen, daß sie aussehen, wie sie gern aussehen mögten. Die eine affektiert Simplizität, Unschuld, Naivetät; die andre macht Anspruch an hohe Grazie, Adel und Würde, in Gang und Gebärde; die eine sähe es gern, wenn man sagte: ihr Gesicht verrate so viel Sanftmut; eine andre mögte männlich klug, entschlossen, geistvoll, erhaben aussehn; diese mögte mit ihren Blicken zu Boden stürzen können; jene mit ihren Augen alle

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Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 194. Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 195. Diese visuelle Bestätigung des eigenen Selbstentwurfs im Spiegel beziehungsweise im Blick des Anderen hat Jacques Lacan als Grundstruktur der Subjektivierung beschrieben. Vgl. Lacan, Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint; dazu das Kapitel III.4.2.

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Herzen wie Butter zerfließen machen; die eine will ein gesundes und frisches, die andre ein kränkliches, leidendes Ansehn habe. – Das sind nun kleine unschädliche Schwachheiten, nach denen man sich wohl richten kann.601

Knigges Beobachtung lässt eine bemerkenswerte Bandbreite weiblicher Identitätsangebote zwischen Aufklärung und Empfindsamkeit, Adel und Bürgerlichkeit, Männlichkeit und Weiblichkeit um 1800 erkennbar werden. Sie lässt durchblicken, dass nicht nur das männliche bürgerliche Subjekt in dieser vielzitierten ›Umbruchphase‹ am Ende des 18. Jahrhunderts vor der Aufgabe steht, sich in der Praxis von Geschlecht und Stand seiner selbst zu versichern. Vielmehr macht der Text deutlich, wie Frauen sich in einem bewussten Akt des Selbstentwurfs ein gewisses äußeres Ansehen zu geben suchen, wie sie durch ihre actio als etwas erscheinen wollen. Der Prozess der performativen Herstellung von Identität wird sichtbar. Knigges Beobachtung und die Aufforderung, sich nach den ›Grillen‹ weiblicher Selbstinszenierung zu richten, liest sich wie eine Spielanleitung: Die Frau stellt sich als etwas dar, der Mann erkennt ihre Kunst, lässt sich dieses Erkennen aber nicht anmerken. Er spielt mit, indem er ihre Darstellung anerkennt und sie dafür lobt. Die Herablassung, mit der Knigge dieses Spiel beobachtet, deckt sich nicht mit der Emphase, die er für männliche Strategien der Selbstdarstellung aufbringt. Dies mag daran liegen, dass ihm die Frau als habituell verstellt gilt, während Knigge für den Mann – trotz und neben allen Strategien im Umgang – Redlichkeit und Wahrhaftigkeit fordert. IV.5.4 Knigges Nachfolger/innen: Körperlicher Anstand für Männer und Frauen von Welt Anders als Knigge, der wie selbstverständlich ein männliches bürgerliches Subjekt angesprochen hat, dessen Umgang mit Frauen zwar erwähnt, die Kategorie ›Geschlecht‹ jedoch keineswegs in den Mittelpunkt gestellt hat, richten die folgenden Anstandslehren ihr Interesse verstärkt auf die Geschlechterdifferenz. Angesprochen werden nun gezielt Männer oder Frauen. Johann Christian Siede verfasst nach einigen Anstandslehren, die sich an beide Geschlechter richten, 1797 zwei selbstständige Anstandslehren für Männer und für Frauen: Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, der aufwachsenden männlichen Jugend geweiht sowie Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit der aufblühenden weiblichen Jugend geweiht.602 Professor Gottfried Immanuel Wenzels Der Mann von Welt oder Grundsätze und Regeln des Anstandes, der Grazie, der feinen Lebensart, und der wahren Höflichkeit, erstmalig

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Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 196f. Davor erschienen von Johann Christian Siede Der Weltmann und die Dame von feinem und großen Ton (1790) sowie: Handbuch für die äußere Bildung, oder Regeln des Anstandes, des Reizes, der Grazie und der feinen und guten Lebensart, nebst einem Anhange, welcher diätetische Regeln und Schönheitsmittel enthält, Berlin: bey Matzdorf 1791.

1801 erschienen und in über fünfzehn Neuauflagen durch das gesamte 19. Jahrhundert wieder aufgelegt, entwirft ein explizit männliches Anstandsmodell und richtet sich in einem Supplement an das »Frauenzimmer von Lebensart«.603 Amalie Gräfin von Wallenburgs Anstandslehre für das weibliche Geschlecht. Oder mütterlicher Rath für meine Julie über den sittlichen und körperlichen Anstand (1824) setzt den körperlichen Anstand für die Frau zentral. Zunehmend wird nicht nur zwischen dem Geschlecht der Adressaten und Adressatinnen von Anstandslehren unterschieden, es fällt auch das Geschlecht der Verfasser/innen ins Gewicht. Schon Knigge verteidigte seine ausschließliche Wendung an männliche Leser mit der Aussage, Umgangsregeln für Frauen zu übermitteln, sei eine Aufgabe für »weise Frauenzimmer allein«604, männliche Autoren seien dazu nicht in der Lage. Dieses Argument dient seit den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts als Legitimation für Autorinnen, Anstandslehren speziell für ›ihr‹ Geschlecht zu verfassen.605 Amalie Gräfin von Wallenburg verweist 1824 in ihrer Anstandslehre für das weibliche Geschlecht explizit darauf, dass die bestehenden Anstandslehren ausschließlich von männlichen Autoren geschrieben worden seien, und kritisiert, dass es diesen nicht gelungen sei, sich ganz in den weiblichen Charakter und unser Gefühlswesen hinein zu denken, darum findet man auch in ihren Büchern Vieles, was sie als Gesetz und Regel aufstellen, das wider den bessern Geschmack, gegen die zartere Empfindsamkeit, oft gegen die Natur und Wahrheit verstößt. Daher möchte ich behaupten, nur eine Frau kann die rechte Rathgeberin, Führerin und Freundin ihres Geschlechtsverwandten werden, und kein Mann.606

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Zugrunde liegt die Ausgabe Gottfried Immanuel Wenzel, Der Mann von Welt oder Grundsätze und Regeln des Anstandes, der Grazie, der feinen Lebensart, und der wahren Höflichkeit, 6. unveränderte Auflage, Pest: Conrad Adolf Hartleben 1817. Die Erstauflage erschien in Wien: Anton Doll 1801, die letzte wahrscheinlich 1910, vgl. dazu: Montandon (Hg.), Bibliographie des traités de savoir-vivre en Europe du Moyen Âge à nos jours, Bd. 1, S. 362. Wenzel nennt explizit Chesterfield, Knigge, Campe und Siede als seine Vorgänger. Wenzels Supplement zur anständigen Frau scheint im Wesentlichen von Siedes Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit inspiriert, um nicht zu sagen: abgeschrieben zu sein. Knigge, Über den Umgang mit Menschen, S. 80. Montandons Bibliographie deutscher Anstandslehren verzeichnet erstmals ab 1824 Anstandsbücher von Autorinnen: Neben Amalie von Wallenburg treten Luise Ebersberg, die jeweils ein separates Anstandsbuch für den Mann und eins für die Frau verfasst, Karoline Auguste Baronin de la Motte Fouqué und Philippine Amalie von Reden (die Tochter Adolph Freiherr Knigges) zwischen 1824 und 1826 mit Anstandslehren für die Frau hervor. Vgl. Montandon (Hg.), Bibliographie des traités de savoir-vivre en Europe, Bd. 1. In der Quellendokumentation von Häntzschel finden sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts fast ausschließlich Autorinnen von Anstandslehren für Frauen, vgl. Häntzschel (Hg.), Bildung und Kultur bürgerlicher Frauen 1850–1918. Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 5.

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Wallenburg nutzt den Hinweis auf die vermeintlich ›natürlichen‹ Unterschiede im Vermögen der Geschlechter, um ihre eigene Autorschaft als eine ›natürliche‹ zu legitimieren und zu autorisieren.607 Gemein ist allen genannten Anstandslehren neben der verstärkten Inblicknahme der Geschlechterdifferenz, dass es nun gänzlich um das ›Äußere‹ des Menschen geht – und dieses wird zunächst visuell wahrgenommen. Anders als bei Sulzer, dessen Anstandsmodell noch dem Inhalt der Rede und nicht der actio den Vorrang gegeben hat, anders als bei Knigge, der der Vermittlung moralischer Eigenschaften einen höheren Rang als der Ausführung einzelner Gesten und Mienen eingeräumt hat, tritt hier die visuelle Selbstdarstellung vollständig in den Vordergrund. Allein schon die Inhaltsangaben zeigen, wie stark diese Anstandsbücher an der rhetorischen actio-Lehre orientiert sind. Es wird das gesamte Programm der actio in jeweiligen Kapiteln vorgestellt: die Miene und der Blick, die Bewegung und Haltung des Körpers, die Sprache, Aussprache und Stimmführung (Ton) sowie die Kleidung. Hinzugefügt werden noch Gesundheits- und Schönheitsregeln, die eine neue ästhetische Relevanz des ›schönen Körpers‹ betonen. Situationsspezifische »Verhal-

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Im Vorwort richtet sich Wallenburg an ihre Tochter, für die sie das Anstandsbuch angeblich verfasst hat. Sie rechtfertigt die Veröffentlichung mit ihrer Mutterpflicht und nutzt ihre Mutterschaft zugleich als Beleg ihrer Glaubwürdigkeit: »Vom wem wirst du redlicher, aufrichtiger das Wahre, Rechte erfahren, als von deiner Mutter?« Dass sich die Mutter der Erziehung ihrer eigenen Tochter annimmt, ist keineswegs selbstverständlich: Wallenburg beginnt ihre Einleitung mit Trauerbekundungen über den Tod des Ehemanns und Vaters, der das Erziehungsgeschäft nicht vollenden könne, weshalb, so die autorisierende Argumentation, es ihre Aufgabe als Mutter sei, dies zu tun. Die Leerstelle des Ehemannes, Vaters und Erziehers scheint betont werden zu müssen, um die eigene erzieherische Aktivität zu rechtfertigen. Zudem führt Wallenburg an, dass der Ehemann und Vater noch zu Lebzeiten selbst die mütterliche Erziehung der Tochter legitimiert habe: »Es war Grundsatz deines entschlafenen Vaters: die Mutter erziehe und ordne das, was dem Leben ihrer Tochter frommt, selbst die Grazie in den körperlichen Bewegungen, die rechte Weise, wie man sich in allen Verhältnissen darstellen, wie man sich halten, tragen und kleiden muß, das soll ihr überlassen bleiben, wenn sie sich auf die Ausübung dieser Kunst versteht. Wir Männer taugen im Ganzen, sprach er, dafür nicht, um das Bildungsgeschäft der Tochter glücklich zu leiten und zu vollenden. Das Zarte, Weiche, Sanfte und Geschmeidige, was die Weiblichkeit in ihrer Veredelung auszeichnet, liegt in uns Männern nicht, folglich können wir es auch nicht mittheilen.« Ein Junge dagegen, der nur von Frauen erzogen würde, werde »weichlich, zierlich, weibisch, was ihm eben so übel ansteht, als wenn man zu viel Männliches, Derbes und Festes in der Jungfrau und ihren Außenseiten findet.« 1824 hat sich die Vorstellung dichotomischer Geschlechtscharaktere so weit verfestigt, dass aufgrund dieser Polarisierung eine getrennte Erziehung von Mädchen durch Mütter und Jungen durch Väter notwendig erscheint. Wallenburg nutzt dies als Chance zur Selbstautorisierung ihrer Autorschaft. Obwohl oder gerade weil die Frau im späten 18. Jahrhundert auf ihre scheinbar natürliche Funktion als Gattin, Hausfrau und Mutter eingeschränkt wird und weibliche ›Gelehrsamkeit‹ im Gegensatz zur Frühaufklärung als unangemessen gilt, ergibt sich hier eine öffentliche Äußerungsmöglichkeit der Frau: als Expertin mütterlicher Erziehung. Vgl. Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 6f.

tensregeln« für den Anstand zu Tisch, in Gesellschaften, bei Visiten, im Umgang mit Höhergestellten sowie Regeln zur geschmackvollen Einrichtung der Wohnung ergänzen das Themenspektrum. Das Ziel der Anstandslehren ist die Vermittlung der Kunst, »mit Anstand und Grazie vor andern zu erscheinen«, »sich von einer Seite zu zeigen, die dem Auge seiner Beobachter schmeichelt, und in alle seine Bewegungen und Handlungen, Mienen, Gebehrden, Sprache, Stellung, Blicke, Händehaltung und Gang, mit einem Worte, in sein ganzes Thun und Lassen, etwas Angenehmes, Reizendes, Harmonisches, seinem eigenen, wie dem Charakter jedes Einzelnen, mit dem er es zu thun hat, Entsprechendes zu legen« und damit den »Beifall der feinen Welt« zu erregen.608 Zugrunde liegt die Vorstellung eines argusäugigen gesellschaftlichen Publikums, das jede Bewegung, jede Geste, jede Miene als Zeichen beobachtet und danach den Menschen beurteilt. »In Gesellschaften sind die Augen Aller auf uns gerichtet. Man setzt sich der Beurtheilung jedes einzelnen Mitgliedes aus. Wie nothwendig ist es daher, hier so zu erscheinen und sich so zu benehmen, daß man nicht mißfalle!«609 Die actio wird ganz in den Dienst einer rhetorischen Wirkungsabsicht auf ein urteilsfreudiges Publikum gestellt, die vor allem ästhetisch eingelöst werden soll. Allerdings, so werde ich zeigen, lässt sich hier in zunehmendem Maße eine geschlechtliche Differenzierung erkennen: Während diese Ästhetisierung der actio zwar für beide Geschlechter gilt, soll der Mann vornehmlich Anstand zeigen, um »sich geltend zu machen«610, und die Frau, um zu »gefallen«611. Diese Differenzierung kann – in Hinblick auf ihre Wirkmächtigkeit bis in das 20. Jahrhundert – kaum genug betont werden. Jenseits von ›Natur‹: Techniken der körperlichen Selbstdarstellung Was die Anstandsbücher also in den Blick nehmen, sind Techniken der äußerlichen Selbstdarstellung. Die Trennung zwischen einem ›äußeren‹ und einem ›inneren‹ Menschen schlägt sich in der Unterscheidung von körperlichem und sittlichem Anstand nieder. Als Ideal wird ein Mensch beschrieben, der innere Vollkommenheit mit äußerer Vervollkommnung vereinigt, der eine schöne Seele mit einem schönen

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Wenzel, Der Mann von Welt, S. 5f. Dabei ist die actio nicht nur auf die Redesituation des Gesprächs begrenzt, sondern wird das aptum auch auf Handlungen außerhalb der Rede angelegt: Der gebildete Mann weiß den Anstand »in jeder seiner Bewegungen, in jeder seiner Körperhaltungen, in seiner Miene und in seinen Blicken sichtbar zu machen. Er geht, er tanzt, er spricht, er grüßt, er beugt sich, er reitet, er sitzt mit Anstand.« Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 28. Wenzel, Der Mann von Welt, S. 116. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 9. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, unpag. Vorrede.

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körperlichen Auftreten verbindet.612 Der innere Mensch interessiert die Anstandsbücher jedoch kaum, seine Ausbildung wird zwar wiederholt gefordert, aber kurz abgehandelt. Es ist den Anstandslehren schlicht eine Grundvoraussetzung, dass der innere Mensch über bürgerliche Tugenden, Herzensbildung, Verstand und gewisse Kenntnisse verfügt. Die Notwendigkeit des sittlichen Anstands als Voraussetzung des körperlichen Anstands wird immer wieder betont613, die eigentliche Frage, die die Anstandsbücher verfolgen, ist allerdings, wie dieser innere Mensch äußerlich sichtbar zu machen ist. Denn sittlicher, innerer Anstand ist unsichtbar und bleibt, wie die häufige Metapher des ›ungeschliffenen Edelsteins‹ zeigen soll, oft verkannt: »In’s Innere der Menschen können wir nicht schauen«, sagt Amalie von Wallenburg, öffentlich beurteilt werde das Innere jedoch nach seinen sichtbaren Äußerungen, woraus folge, dass dem körperlichen Anstand die größte Aufmerksamkeit zukomme. Entscheidend ist letztlich der Beifall des Publikums: Wenn das Publikum am Äußeren sehen kann, dass das Innere anständig scheint, gilt der sittliche Anstand als bewiesen.614 Die körperliche actio wird zur Evidenz der moralischen Sittlichkeit und des Verstandes. »Bei dem Anstande kömmt es also auf den Körper an«615, betont Wallenburg. Ebenfalls neu an dieser Konzentration auf den körperlichen Anstand ist die Begründung, dass das Äußere nun einmal das Erste sei, das von der Gesellschaft wahrgenommen werde. »Das Äußere ist unstreitig das Erste, worauf gesehen wird, worauf die Blicke der meisten Menschen zuerst fallen.«616 Ein solches Primat des

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Vgl. Wenzel, Der Mann von Welt, S. 12. Wie bereits die antike Rhetorik versucht hat, die Techniken der Persuasion an den vir bonus zu binden, um sich vom Vorwurf der Demagogie freizusprechen, tun dies auch die Anstandslehren, um dem Vorwurf der Verstellung zu entgehen. Ohne das Herz sei der körperliche Anstand »nichts weiter als das Spiel einer falschen Rolle, mit dem man Andere betrügt; eine Lüge, welche die Stelle der Wahrheit vertritt; eine Täuschung, mit der man Andere hintergeht.« (Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 17) Gerade die bürgerliche Frau darf nicht mit rhetorischer Verstellung oder Schauspielerei in Verbindung gebracht werden, um sich gegen die höfische Frau, die sich auf einen perfektionierten äußerlichen Anstand ohne Herz versteht, abgrenzen zu können. Deshalb versucht Wallenburg den körperlichen Anstand in einen ganzen Tugendkatalog einzuordnen und den körperlichen mit dem sittlichen Anstand unlösbar zusammen zu binden: Es »ist kein Anstand da, wo keine Sittlichkeit ist« (S. 39). Ihr eigentliches Augenmerk liegt jedoch auf der Vermittlung der Techniken des körperlichen Anstands. Vgl. Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 9f. Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 8. Wenzel, Der Mann von Welt, [unpag. Vorbericht]. Der gleichen Meinung ist Wallenburg: »Das Äußere, die Haltung und Kleidung eines Menschen, die Art und Weise, wie er in einer Gesellschaft erscheint und sich in ihr beträgt, ich will es die Schale nennen, ist es, welche den ersten, oft einen tiefen, bleibenden Eindruck auf die Gemüther macht, günstig oder ungünstig, zu seinem Vortheil oder Nachtheil. Es ist Andern gern zu verzeihen, daß sie vorläufig wenigstens, das äußere Sichtbare zum Maßstabe des innern Unsichtbaren machen, das nicht klar und deutlich vor ihren Blicken liegt. Oft ist der Schluß des Einen auf das Andere nicht unrichtig, und Beides steht, wie Ursach und

Sichtbaren ist in der antiken Rhetorik gewiss nicht angelegt. Ebenso wenig ist die Geschwindigkeit der Beurteilung aus der antiken Rhetorik bekannt, die zwar auch eine besondere Relevanz der captatio benevolentiae zu Beginn einer jeden Rede betont, aber genauso für die Erhaltung und Steigerung der Aufmerksamkeit des Publikums Regeln bereit hält. Die Betonung dieses allerersten visuellen Eindrucks in den Anstandslehren ist bemerkenswert und bezieht sich sowohl auf die Seite des Publikums, das sich sofort von dem Redner/der Rednerin ein Bild macht, als auch auf den Redner/die Rednerin, der/die sich unter dem ersten Blick des Publikums sofort so zeigen muss, wie er/sie erscheinen will. Die visuelle Beurteilung scheint sich, offenbar geübt durch einen physiognomischen und ästhetischen Blick, massiv beschleunigt zu haben. Der Redner oder die Rednerin müssen nun äußere Eigenschaften zeigen, »die gleich beim ersten Blicke für sich einnehmen und unwiderstehlich an sich ziehen«617. Während in der Antike argumentiert wurde, dass die actio im Verlauf der Rede das Gesagte unterstützen und als Wirkungsmittel dienen solle, um ein Publikum von der Glaubwürdigkeit des Redners und dessen Rede zu überzeugen, argumentiert das Anstandsbuch, dass die actio ad hoc Gefallen und Interesse wecken müsse, um ›der Welt‹ seinen ›inneren‹ Charakter anzuzeigen. Kurz: Es geht nicht mehr darum, Inhalte einer Rede, sondern ›Inhalte des Inneren‹ mit körperlichen Mitteln mitzuteilen. Im Mittelpunkt der Anstandsbücher steht die sichtbare Vermittlung des ēthos, des in der geselligen Konversation aufscheinenden ›Charakters‹.618 Dementsprechend kann das Ziel nicht mehr sein, zu belehren, zu gewinnen und zu bewegen, sondern »Beifall, Liebe und Achtung«619 für seine eigene Person zu erlangen. Von den drei Aufgaben des Redners ist damit nur die mittlere, die delectatio, übrig geblieben. Im Allgemeinen nimmt uns die Welt so, wie wir uns ihr von außen zeigen. Es ist daher unsere Pflicht, uns so darzustellen, daß sie Wohlgefallen an uns beim ersten Blicke finde, und uns der Mühe werth halte, zu untersuchen, wie wir auch von innen beschaffen sind. Dazu kommt noch, daß sich sogar in vielen Stücken der innere Mensch durch den äußern verräth. Den ordentlichen, geschickten, gebildeten Mann, die verständige, sanfte, gesittete Schöne, kann man leicht an Blick, Miene, Bewegungen, Sprache und Ton, an Kleidung, Gebehrden, Gang u. s. w. erkennen, so wie sich die Ausschweifung, der Unverstand, die Unsitte in eben diesen Dingen nicht selten enthüllen.620

Das Publikum, in der Rhetorik auf eine zeitlich und räumlich begrenzte Redesituation bezogen, wird in den Anstandslehren ausgeweitet auf ›die Welt‹.621 Diese

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Wirkung, mit einander in Verbindung.« Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 41f. Wenzel, Der Mann von Welt, S. 5. Vgl. Kapitel III.4.3. Wenzel, Der Mann von Welt, S. 11. Wenzel, Der Mann von Welt, S. 8. Die ›Welt‹ ist bei genauerem Hinsehen natürlich viel kleiner, als das Wort vermuten

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erscheint mit einem bedrohlichen Röntgenblick ausgestattet, ist sie doch, wie Alexander Košenina im Hinblick auf die Karriere der Physiognomie bemerkt, in den »seit der Frühaufklärung zunehmend verfeinerten Techniken der Gemütsspionage«622 ausgebildet. Der lebhafte physiognomische Diskurs der Zeit geht davon aus, dass die körperlichen Merkmale des Äußeren interpretative Rückschlüsse auf das Innere zulassen. Der physiognomische Blick lässt sich nicht von äußeren Hüllen und Masken abschrecken, er will decouvrieren, ›entlarven‹.623 Insofern verachtet die Physiognomik jegliche ›Verkleidung‹ oder ›Verstellung‹ und popularisiert die Ansicht, dass das Gesicht der Spiegel der Seele sei. Wenn Wenzel behauptet, dass sich »der innere Mensch durch den äußern verräth«, bezieht er sich auf einen solchen physiognomischen Blick und verstrickt sich damit in Aporien: Einerseits stellen die Anstandslehren das Gesicht als »Spiegel einer truglosen Seele«, als »Bild des Herzens« dar, und entwickeln daraus die Aufgabe, das Herz zu ›veredeln‹.624 Dies soll vor allem durch eine Reinigung von starken Affekten und durch eine rationale Gefühlskontrolle geschehen. Veredelt sich das Herz, veredele sich der Ausdruck des Gesichts, behaupten die Anstandslehren im Sinne des Ausdrucksmodells. Andererseits liefert die Forderung der Anstandsbücher, eine visuelle Kontrolle durchzuführen, einen ersten Hinweis auf die Brüchigkeit dieses Modells: Die Selbstbeobachtung sowie der fremde Blick sollen sicher stellen, dass das Ausdrucksmodell auch tatsächlich funktioniert und die gewünschten veredelten Züge sichtbar werden. Dieser Kontrollblick, das wäre das nächste Problem, kann allerdings ergeben, dass innere Züge entweder nicht deutlich genug werden oder sich innere und äußere Züge gar widersprechen: Bemerken Sie würklich einen solchen [fehlerhaften, leidenschaftlichen Zug im Gesicht], oder sagen es Ihnen Ihre Freundinnen, daß etwa Ihr Gesicht ganz das Gegentheil von Ihrem Herzen sagt, daß Ihr Mund etwa einen höhnischen Zug habe, obgleich Ihr Herz doch ganz von diesem Fehler frei sey, so stellen Sie täglich Übungen an, diesen fehlerhaften Zug in Ihrem Gesicht auszulöschen.625

Weit davon entfernt, dem Ausdrucksmodell volles Vertrauen zu schenken, machen sich die Anstandslehren an die gegenteilige Herangehensweise: Im Fokus steht die tägliche Übung zur Ausbildung der äußeren Erscheinung – und nicht die Herzensbildung.

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lässt, bezieht sie sich doch nur auf die ›feine‹ Welt, die Welt des eigenen (gehoben bürgerlichen) Standes. Košenina, Habitus, Sp. 1274f. Vgl. Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, Leipzig, Winterthur: Weidmanns Erben und Reich 1775. Vgl. Claudia Schmölders, Das Vorurteil im Leibe. Eine Einführung in die Physiognomik, Berlin 1995. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 60. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 63f.

Während vor dem Hintergrund des im 18. Jahrhunderts entwickelten Ausdrucksmodells erwartet werden könnte, dass sich die Anstandslehren – insbesondere für die Frau – an die Forderung nach einer authentischen Sprache des Herzens und der unmittelbaren Regungen des Körpers anschließen, knüpfen sie stattdessen an das rhetorische Modell an und betrachten ›Natürlichkeit‹ als ein strategisch einsetzbares Wirkungskriterium, das auf dem Verbergen der Kunst beruht. Gingen die Anstandslehren davon aus, dass die natürlichen Zeichen der Körpersprache unverfälscht und unmanipulierbar die Bewegungen des ›Innen‹ nach ›Außen‹ transportierten, so würden sie sich ihres eigenen Auftrags berauben. Ebenso wie die Rhetorik beruht die Anstandslehre vielmehr auf der Annahme, dass das ›Innen‹ grundsätzlich verborgen ist, und daher die Möglichkeit – ja die Notwendigkeit – besteht, reflektiert und strategisch Zeichen nach ›außen‹ zu senden. Diesen Vorgang zu regeln und zu unterrichten, ist der Auftrag der Anstandslehren. Anstand kann also nicht darin bestehen, sich ›natürlich‹ zu verhalten.626 Vielmehr wird der Natur ein grundsätzliches Misstrauen entgegengebracht: Die Natur könnte fehlerhaft sein. Anstand dagegen ist die ausgebildete, geformte, vollendete Natur. »Man liebt jetzt allgemein das edle, natürliche Betragen! Bemerken Sie wohl: das edle natürliche Betragen, das die gebildete Natur kopirt, die keine Nachlässigkeit, keine Unachtsamkeit an sich erlaubt, keine Fehler übersieht.«627 Eine solche Formulierung wie die von Siede scheint das zeitgenössische Natürlichkeitsideal eher als konventionelle ›Mode‹ zu entlarven, als emphatisch zu einem natürlichen Ausdruck aufzurufen. Ebenso distanziert sich Wallenburg von einem Verständnis der ›Natürlichkeit‹ als ›naturbelassen‹, das ein jedes Anstandsbuch obsolet machen würde.

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Damit befinden sich die Anstandslehren nicht mehr im Einklang mit einer empfindsamen Natürlichkeitsvorstellung »eines rhetorisch unverstellten und mit rhetorischen Mitteln nicht mehr herstellbaren Gefühlsausdrucks«. Vgl. Hedwig Pompe, Natürlichkeitsideal. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 6, Tübingen 2003, Sp. 183–203, Sp. 199f. Vielmehr schließen sie sich an solche Natürlichkeitsvorstellungen an, wie sie auch im Modell des Englischen Gartens sichtbar werden, dessen Ästhetik gerade darin besteht, vergessen zu machen, dass seine Natürlichkeit artifiziell ist. Vgl. Hartmut Böhme, Natürlich/Natur. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. von Karlheinz Barck u. a., Bd. 4, Stuttgart, Weimar 2002, S. 432–498, S. 487. In der deutschen idealistischen Kunstphilosophie wird im späten 18. Jahrhundert der Begriff des ›Kunstschönen‹ im Gegensatz zu einem ›Naturschönen‹ ausgebildet. Auch wenn die Anstandslehren von der philosophischen Diskussion beeinflusst sein mögen, fallen die Begriffe des ›Kunst-‹ beziehungsweise ›Naturschönen‹ nie. Vgl. zu Kants Höherbewertung des Naturschönen gegenüber dem Kunstschönen sowie Schillers, Hegels und Schellings Definitionen des Kunstschönen: Renate Reschke, Schön/Schönheit. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, hg. von Karlheinz Barck u. a., Bd. 5, Stuttgart, Weimar 2003, S. 390–436, S. 408–412; sowie Böhme, Natürlich/Natur, S. 486ff. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 25f.

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Aber die Natürlichkeit, die ich Naivität nennen möchte, ist nicht rohe, ungebildete Natur, wie wir sie bei den schlichten, ununterrichteten, ungehobelten Naturmenschen finden, wo sie uns in ihren Äußerungen fast thierisch, nicht menschlich, widrig und abschreckend erscheint. Die Natürlichkeit, welche ich meine, ist das Produkt des Unterrichts, der sittlichen Disciplin, des Umgangs, der Kenntniß und richtigen Anwendung der Regeln des Anstandes. Bei ihr hat die Kunst den Charakter einer durch sie veredelten Natur erhalten.628

Mit dem Verständnis einer unbelassenen ›Natur‹ hat diese geformte, disziplinierte und regelgeleitete ›Natürlichkeit‹ nichts gemein, abgesehen von ihrem vielzitierten Gegensatz, der ›Künstlichkeit‹. Vor dieser wird allenthalben gewarnt. Künstlichkeit in der actio verrät sich durch Steifheit und Überexaktheit. Die Anstandsbücher vermitteln im Grunde künstliche Gegenmittel gegen künstliches Erscheinen: Indem die ›anständige‹ actio durch tägliche Übung zur ›zweiten Natur‹ werde, verliere sie jene ›künstlich‹ wirkende Gezwungenheit und Steifheit, und nicht zuletzt trügen kleine gewollte Nachlässigkeiten und Unregelmäßigkeiten zur »schönen Verstekkung der Kunst«629 bei, wie Siede sagt. Alles ist Kunst, nur darf sie nicht sichtbar werden, scheint die Übersetzung des rhetorischen celare artem-Prinzips der Anstandslehren zu lauten. Dennoch können sie offenbar nicht darauf verzichten, das Künstliche zu verdammen und die Natürlichkeit herbeizuzitieren – und verstricken sich dabei in Aporien: Das Affektirte, Gezierte, künstlich Abgemessene, Erzwungene in dem Ton der Stimme, im Mienenspiel, in dem Gange, in den Bewegungen, in den Reden zeigt Mangel an wahrer Bildung, ist abgeschmackt und wird, wenn es einen hohen Grad erreicht, lächerlich. Es legt dem, der so Einfachheit und Natur verleugnet, einen großen Zwang auf. Die Natürlichkeit hingegen, die veredelte, ist frei, zwanglos, ohne Ziererei, sie gefällt, eben weil sie natürlich ist.630

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Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 98. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 12. Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 98. Zum »Affektirten« vgl. das Lemma »Affectation« im Zedler’schen Universallexicon: »Affectation, Lat. Affectatio, ist ein jeder in die Augen fallender Zwang, den sich ein Mensch selber anthut, indem er eine Eigenschaft seiner Person den andern vor Augen legen will, um ihnen eine Meynung beyzubringen, die er wünschet, daß sie solche von ihm hegen sollen.« Dazu zählen Eigenschaften, die man nicht hat, aber zeigen will oder solche, die man hat, aber verbergen will – »oder es zeiget sich die Affectation in Darstellung solcher Eigenschaften, darinnen eben nichts falsches und erdichtetes ist, sondern die man wahrhaftig an sich hat, wenn man dieselben nicht mit einer angenehmen natürlichen Leichtigkeit, sondern auf eine gezwungene Art an sich sehen läßt.« Diese Leichtigkeit wird weiter beschrieben: »Die Tugend, so der Affectation entgegen stehet, ist eine angenehme manierliche Nachlässigkeit, welche eine Leichtigkeit heißet, mit der man ein Unternehmen zu Werke richtet, welche theils aus der sonderbaren Fertigkeit, die man sich durch vielfältige Übung in einer Geschicklichkeit erworben, theils aus der mit solcher Fertigkeit verbundenen Freymüthigkeit und Gleichgültigkeit des Willens ihren Ursprung hat«. Johann

Diese Argumentation ist ebenso tautologisch wie widersprüchlich: Die (disziplinierte) Natürlichkeit gefällt, weil sie (zwanglos) natürlich ist. Die Problematik, gleichzeitig Natürlichkeit als Ideal zu behaupten und die Mittel zu lehren, diese Natürlichkeit künstlich herbeizuführen, zeigt sich insbesondere bei Wallenburg. Ihre Anstandslehre für das weibliche Geschlecht. Oder mütterlicher Rath für meine Julie über den sittlichen und körperlichen Anstand ist so aufgebaut, dass grundsätzlich erstens die jeweilige erstrebenswerte sittliche Tugend beschrieben wird, zweitens die Art und Weise, wie diese körperlich auszudrücken ist, und drittens der dazugehörige Übungsweg erläutert wird. Diese Vorgehensweise ändert sich im Kapitel zur Tugend der Natürlichkeit, das eben nicht mit der üblichen Aufforderung zur kontinuierlichen Übung abschließt. Vielmehr wendet sich Wallenburg direkt an ihre Tochter und behauptet, dass diese die ›Natürlichkeit‹ nicht mehr erwerben müsse, sondern schon habe: »Zu dieser Natürlichkeit bist du erzogen.«631 Wallenburg konstatiert dann weiter, die Miene, die Blicke, die Sprache, die Haltung, ja selbst die Kleidung ihrer Tochter spreche »das natürliche Gefühl aus«, habe einen »natürlichen Ton«, verhalte sich entsprechend der »nach den Gesetzen des Anstandes gebildeten und gewöhnten Natur«.632 Natürlichkeit, so wird das Problem der Anstandslehren deutlich, kann nur als Ist-Zustand beschrieben werden, nicht als Soll-Zustand. Ein Aufruf zu Natürlichkeit, ein Appell, täglich Natürlichkeit zu üben, würde die Aporie der Konstruktion einer gebildeten Natürlichkeit sichtbar machen und die Gefahr der Verstellung heraufbeschwören. ›Natürlichkeit‹ ist eine Eigenschaft, die einfach nicht in das Konzept der Anstandslehren passen will, dennoch von diesen in Anspruch genommen wird und als ›gebildete Natürlichkeit‹ paradoxal erscheint. Das eigentliche Anliegen der Anstandslehren ist ein anderes: Nicht die ›Regeln der Natur‹ sind zu befolgen, sondern die Regeln des konventionellen äußeren Anstands, die die Anstandslehren definieren, vorschreiben und verbreiten. Der Anstand selbst, so machen alle Anstandslehren deutlich, ist nicht ›naturgegeben‹, sondern folgt bestimmten kulturhistorischen und regionalen Konventionen: »Nicht die Kleidung allein, sondern auch die Sprache, der Anstand, eine gewisse Art der Höflichkeit ist dem Wechsel der Mode unterworfen«, schreibt Wallenburg und sagt weiter: »Ein jedes Land hat seine Sitten, Gewohnheiten, Gebräuche und Moden.«633 Es ist den Anstandslehrern und -lehrerinnen bewusst, keine überzeitlichen, überregionalen (und geschlechtsneutralen) Wahrheiten zu verbreiten, sondern für spezifische Redesituationen vor einem bestimmten Publikum konventionelle Regeln bereit zu halten.

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Heinrich Zedler, Affectation. In: Zedler, Großes vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste, Supplement 1, Leipzig 1751, ND Graz 1998, Sp. 685f. Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 100. Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 100f. Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 24, S. 20.

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Geschlechtsspezifische actio Anders als die actio-Rhetoriken, die betont geschlechtsneutral beschreiben, wie jeweils ein bestimmter Affekt gestisch, mimisch und stimmlich dargestellt werden kann, stellen die Anstandslehren heraus, wie Redner und Rednerinnen durch Gestik, Mimik und Stimmführung ein harmonisch ausgewogenes, angenehmes ›Inneres‹ sichtbar machen können, wie sie ihr ēthos darstellen sollten. In diesem Zusammenhang entwickeln die Anstandslehren geschlechtsdifferenzierte Modelle einer angemessenen männlichen und weiblichen actio. Der maßgebliche Unterschied der Anstandsliteratur zu den actio-Rhetoriken liegt darin, dass letztere die gigantische Bandbreite aller möglichen Affekte und der diese ausdrückenden actio zu katalogisieren suchen, während erstere eine kleine, geschlechtsspezifische Auswahl treffen, welche Affekte sich in der actio vom Mann oder der Frau zeigen sollten. Darin besteht auch einer der Gründe für die seltsame Geschlechtsneutralität der actioRhetoriken. Sie versuchen eine überzeitliche, geschlechts- und standesneutrale, objektive und durch detaillierte Beschreibung bis hin zu Notationen möglichst exakt festgehaltene Sammlung, Systematisierung und Kodifizierung von allen möglichen Affekten und den jeweiligen Gesten, Gesichtern und Tönen, um diese auszudrücken. Die Anstandsbücher geben dagegen einen historisch begrenzten Einblick in ein bürgerliches Gesellschaftsleben und treffen eine verglichen mit der schieren Masse der in den actio-Rhetoriken aufgeführten Affekte und Tugenden winzige Auswahl, die sich prägnant und geschlechtsdifferenziert auf einen Buchrücken drucken lässt: zum Beispiel Anstand, Solidität, Reiz und Grazie für die Frau und Anstand, Solidität und Würde für den Mann. In die actio-Konzeptionen der Anstandslehren geht die Vorstellung der im Verlauf des 18. Jahrhunderts polarisierten Geschlechtscharaktere ein. Die Anstandslehren leiten nicht nur zum Verhalten nach den Regeln einer konventionellen Anstandsnorm an, sondern auch zu einer damit verbundenen idealen Geschlechterperformanz und wirken so stabilisierend auf das dichotomische Geschlechterverhältnis zurück. Für den Mann und die Frau wird ein gegensätzlicher Tugendkatalog festgeschrieben, der in der jeweiligen actio zur Darstellung gebracht werden soll. So empfiehlt Siede dem Mann: Gesundheit, Kraft, Muth und Unverzagtheit, fester, edler Sinn, ein ernster gebildeter Anstand, Geisteskühnheit, Raschheit, Feuer, Unternehmungsgeist, sind die Schönheiten des Mannes. Wenn Stärke, Kraft und Mannheit seinen Arm, seinen Gang, seinen Ton belebt, dann hat er in den Augen des Weibes körperliche Schönheit und darüber soll dieses Kapitel Bemerkungen und Regeln geben.634

Für die Frau dagegen fordert Siede:

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Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 22f.

Ausdruck und Interesse des Gesichts, Reiz und Anmuth der Bewegungen, Grazie des Betragens, also Anstand, gute Lebensart, Sittsamkeit, Solidität, Schamhaftigkeit, Höflichkeit, Naivität, Natürlichkeit, munteren Sinn, Freundlichkeit, edle, feine Manieren, angenehmen Ton der Sprache, schönen Gesang, Herzlichkeit im Umgange und Bescheidenheit [...].635

Die anscheinend so klar differenzierbaren Tugendkataloge für den Mann und die Frau sind jedoch, so wird bei der Lektüre der Anstandslehren erkennbar, in Bezug auf die actio nicht so eindeutig identifizierbar, wie Siedes idealisierte Zusammenfassung denken lässt. Die Vorgabe, wie genau sich der Mann, wie die Frau sich zu zeigen hat, befindet sich, so wird gerade in Siedes Ratgebern deutlich, um 1800 in einem unabgeschlossenen, umstrittenen Prozess der Definierung. Siede beobachtet ihm gefährlich erscheinende ›Vermischungen‹ von Männlichkeit und Weiblichkeit und arbeitet selbst an einer konzisen Grenzziehung. Er warnt sowohl den Mann vor Verweiblichung als auch die Frau davor, Männlichkeit zu ›affektieren‹. Beides scheint ihm in seiner Umgebung sichtbar, ja sogar »Mode« zu sein. An prominenter Stelle, im letzten Absatz des Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, ruft Siede die Frau emphatisch dazu auf, sich seinem Weiblichkeitsideal gemäß zu verhalten: Folgen Sie der Mode derer nicht, die Männlichkeit affektiren, da sanfte, nur nicht tändelnde Weiblichkeit, den Männern als einer der gefälligsten Reize erscheint. Glauben Sie doch nie durch die stärkeren Manieren des Mannes zu reizen. […] Sanftheit, feinere Empfindung, edle Weiblichkeit ist es eben, was Sie in Ihrem Geschlecht so hebt, als uns Männer Entschlossenheit und Standhaftigkeit, jenes macht Sie zu unseren Bildnerinnen, dieses uns zu Ihren Beschüzzern. […] Suchen Sie ein edles Mädchen, ein edles Weib zu seyn, und verbinden Sie mit dieser Herzensgüte ein feines höfliches, angenehmes Betragen, dies sind Reize, welche weit über die Zeit der Körper-Schönheit hinausgehen.636

Siede ruft dazu auf, Frau zu sein. ›Frausein‹, so wird lesbar, ist eine Frage der Performanz – nicht der Biologie. Die Performanz von Weiblichkeit wird definiert durch die Abgrenzung gegenüber einer Performanz von Männlichkeit, die zwar als Möglichkeit aufscheint, jedoch verworfen wird. Durchgesetzt wird dieser Imperativ zu weiblicher Performanz mit dem Bezug auf das (männliche) Publikum. Nur die dem weiblichen Anstand gemäße Performanz erwecke Gefallen, konstatiert Siede, und gefallen zu wollen ist das der Frau ultimativ zugeschriebene Ziel.637

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Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 13. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 154f. [Hervorhebung von L.T.E.] Zu den von Siede genannten männlichen Eigenschaften, die Frauen unangemessenerweise übernehmen würden, gehören neben »übergroßer Entschlossenheit und Tapferkeit« auch Gewohnheiten wie Tabakrauchen, Waldhornspielen, Fluchen und Prügeln. Vgl. das Fazit dieses Kapitels: »Wie gefällt man allen?«

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Ebenso vehement, wie Siede vor einer Verhärtung der Frau warnt, argumentiert er gegen eine Verweichlichung des Mannes. Siede ruft zum Kampf gegen die »unter vielen jungen Leuten zur Mode gewordenen Affektation von Nervenschwäche und Hypochrondrie! Schwäche empfiehlt sich an dem Manne nie; Stärke, Kraft ist seine Schönheit, mit dieser gefällt er auch nur dem zweiten Geschlecht. Der Mann muß Beschützer und Vertheidiger des Weibes, muß ihr Stab, ihre Stütze seyn.«638 Auch hier taucht das Rousseau’sche Ideal der gegenseitigen Anziehung, das auf der passiven Schwäche der Frau und der aktiven Eroberung des Mannes beruht, wieder auf.639 Siede setzt seine Grenzziehung persuasiv durch, indem er die Vermischung der Geschlechter, den verweiblichten Mann, der Lächerlichkeit preisgibt. Nehmen Sie daher als Mann jene Weiblichkeiten, womit so mancher sehr unrecht sich zu empfehlen glaubt, nicht zu sich hinüber, als das schmachtende zu zärtliche Wesen, die kränkliche, oft tändelnde Weichlichkeit, und eine übelangebrachte unzeitige Schüchternheit. Die faselnden süßen Herren, die butterweichen, erschlafften Männerchen, die superfeinen, zuckersüßen Figuren, die nur immer in der Luft ihrer Riechfläschgen, ihrer Pommaden und ihres wohlriechenden Puders leben, sind dem solideren Frauenzimmer ein Greuel.640

Parfum, Pomade, Puder und Schminke – all diese höfisch-weiblich codierten Schönheitsmittel seien für den bürgerlichen jungen Mann verächtlich. Sonnenbräune, ein muskulöser, abgehärteter Körper641 und – vor allem! – eine actio nach

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Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 24. Rousseau entwirft die Geschlechterordnung als eine »Ordnung von Angriff und Verteidigung«, die den Mann als aktiven, begehrenden Angreifer und die Frau als sich schamhaft verteidigende Angegriffene positioniert. Die weibliche Scham dient nicht nur zur Verteidigung gegen das männliche Begehren, sondern auch zur Erweckung desselben: »die Scham entflammt es, indem sie es hemmt«. Eine Durchbrechung dieser dichotomischen Geschlechterordnung würde zugleich das Spiel des Begehrens stören. Rousseau, Brief an Herrn d’Alembert, S. 419. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 23. Ein solcher Körper – hier folgt die soziale Distinktion – sei weder der schlaffe, verweichlichte Körper des Höflings, noch der von schweren, groben Arbeiten abgehärtete des Arbeiters, sondern von einer mäßigen Anstrengung ertüchtigt, die dem Bürgerkörper bekommt. »Ein nervigter, muskulöser, fester Mannskörper, aus dem Kraft und Gesundheit strahlen, ist noch einmal so schön, als das Körperchen, das aus Butter zusammengesetzt zu seyn, und bei jedem Sonnenblicke zu zerschmelzen scheint.« Wenzel, Der Mann von Welt, S. 59. Dabei bezieht sich Wenzel auf antike Autoritäten: »Wir lesen in den Schriften des Alterthums«, schreibt er, dass Griechen und Römer an der freien Luft Sport trieben und ihre männlichen Kinder von klein auf dazu anhielten. Damit wiederholt Wenzel explizit eine aus antiken Texten bekannte Engführung des männlichen (virilis), harten (durus) und muskulösen (nervosus – bei Wenzel ›nervigten‹) Körpers mit dem ›guten‹, attischen, männlich konnotierten Stil. Verworfen wurde in der Antike dagegen der ›effeminierte‹, weichliche, überbordende asianische Stil, der nun dem Höfling zugeordnet wird. Vgl. Parker, Virile Style, sowie das Kapitel III.2.

den Regeln des Anstands bewirkten die eigentliche »Männerschönheit«642 . Rhetorik macht den Mann schön – und die Frau.643 Erst der ausgebildete, geformte, regelkonforme Körper, der sich mit dem durch Wissen und Übung erworbenen Anstand bewegt, kann als schön wahrgenommen werden. Ein solcher ästhetischer Körper darf nicht androgyn, er darf nur männlich oder weiblich sein – gegen eine Vermischung schreiben die Anstandslehren vehement an. Die Frage ist nun, inwiefern sich diese rigide Grenzziehung zwischen ›männlicher‹ und ›weiblicher‹ Performanz in den konkreten actio-Idealen niederschlägt, die die Anstandslehren erstmals geschlechtsspezifisch für den Mann und die Frau entwerfen. Ganz so gegensätzlich, wie die Gegenüberstellung des kühnen, aktiven Mannes und der bescheidenen, passiven Frau vermuten lässt, sind diese actio-Ideale nicht. Ein Großteil der actio-Regeln in den Anstandsbüchern hat für beide Geschlechter Geltung, so u. a. die zentrale Forderung, Anmut, Ausdruck und Interesse zu zeigen.644 Es ist zunächst festzustellen, dass es sich weniger um eine Gegenüberstellung gänzlich verschiedener actio-Modelle handelt, sondern um eine graduelle Differenzierung. Um dies zeigen zu können, sollen im Folgenden kurz die Unterschiede zwischen den Idealen männlicher und weiblicher actio herausgearbeitet und die jeweilige Begründung für diese Differenzen in den Blick genommen werden.

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Wenzel, Der Mann von Welt, S. 59. Die Schönheit des Mannes verdankt sich weniger den Gaben der Natur, sondern einer anständigen, ausgebildeten actio: »Der junge Mann, der schön seyn will, muß vor Allen einen gebildeten Anstand, eine edle Gewandheit haben; er darf und kann seinem Gesichte, seinen Zügen Anmuth, Ausdruck und Interesse verschaffen, weil diese Schönheit vorzüglich gefällt; er muß die Schönheiten der richtigen und gebildeten Sprache, des vollen schönen männlichen Tones, der richtigen und lebhaften Bezeichnung seiner Empfindungen, des anständigen und edlen Ganges, der soliden und geschmackvollen Kleidung, der Höflichkeit und Artigkeit im Betragen, der Delikatesse im Umgange sich zu eigen machen, und wenn er diese an sich bildet, so ist er ein schöner Mann« – wenn er auch nicht über einen von Natur aus ›schönen‹ Körperbau und Gesichtszüge verfügt. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 25. Analog schreibt Siede, dass die weibliche Schönheit ebenfalls nur durch die ›anständige‹ actio entsteht, dass die gebildeten Menschen die weibliche »Schönheit nur in der eigentlichen Liebenswürdigkeit, in dem sanften Reize der Gesichtszüge, in dem schönen Ausdrucke und Interesse des Gesichts, in der Anmuth und Schönheit der Sprache, in der Harmonie aller Bewegungen, in dem schönen gebildeten Wesen, in der Grazie des Betragens und in dem sogenannten Liebreize suchen, und daß ein blosser schöner Wuchs oder ein ausdrucksloses, weiß und rothes Gesicht, und überhaupt ein schöngeformter Körper ohne Reiz und Anstand, sie selten und auf die Dauer nie feßle.« Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, unpag. Vorrede. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 23.

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Reduzierung der Gestik Was die grundsätzliche Körperhaltung betrifft, so machen die Anstandslehren keinerlei Unterschied zwischen den Anweisungen für den Mann und die Frau. Das bürgerliche Haltungs-Ideal schlechthin, das sich von einem biegsamen, unterwürfigen Höfling abzugrenzen sucht, ist die ›gerade‹, ›aufrechte‹ und ›freie‹ Körper- und Kopfhaltung.645 Es gilt, Haltung zu bewahren; das heißt, weder Hochmut noch Schüchternheit und schon gar keine Unterwürfigkeit, sondern ein bürgerliches Selbstbewusstsein zu zeigen. Die in den Anstandslehren vermittelte Gestik hat im Vergleich zur Antike kaum noch Relevanz. Dies liegt daran, dass die Gestik nicht mehr der Unterstützung und Bekräftigung des Gesagten dient, sie nicht mehr auf eine weite Distanz hin dem Publikum sichtbar sein muss, sondern im geselligen Gespräch mit geringer Distanz zum Gegenüber den Charakter des Redners oder der Rednerin zu zeigen hat. Siede und Wenzel grenzen sich in diesem Punkt explizit von einer auf die öffentliche Rede gerichteten actio-Lehre ab: »Der öffentliche Redner hat schon mehr Gestikulation nöthig, weil sie zur Deklamation überhaupt sich mehr verträgt, als zum Konversationstone.«646 Ein Wissen über die alte rhetorische Gestik, die der öffentlichen Rede diente, scheint noch vorhanden zu sein, diese wird jedoch in der Konversation als deplatziert empfunden. So macht sich Wenzel explizit über eine der bekanntesten rhetorischen Handhaltungen der Antike lustig, die »die Spitze des Zeigefingers an die Spitze des Daumen setzt, beide Finger beugt, und auf diese Art einen Ring bildet, während daß die übrigen Finger steif vor sich hin ragen«, und die Wenzel in der Konversation pathetisch und lächerlich findet.647 Die aus der antiken

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Vgl. zur sozialen Differenzierung durch eine spezifisch ›bürgerliche‹ Haltung: Frieling, Ausdruck macht Eindruck: Bürgerliche Körperpraktiken in sozialer Kommunikation um 1800, S. 32–76. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 37f. »Der Vortrag im gesellschaftlichen Umgange fordert am allerwenigsten Aktion; denn hier handelt sichs nicht darum, Gemüthsbewegungen oder wohl gar Leidenschaften bei den Anwesenden zu erregen. Da, wo der gesellschaftliche Umgang Aktion erheischt, und er will sie nur dort, wo die Empfindung einen Schwung nimmt, und Gewicht auf den Gedanken liegen soll, – muß sie so sparsam sein und so passend als möglich gebraucht werden, oder man wird zum Gelächter und Gespötte in den Augen der veredelten Sitten. So lacht man billig über den, der unaufhörlich seine Hände zu Dollmetschern dessen, was er vorbringt, nöthig hat; der, da er vom Kopfe, vom Verstande, von der Seele, vom Geiste u. s. f. spricht, auch zugleich mit den Händen nach dem Kopfe fährt; die Worte: Freundschaft, Liebe, Zärtlichkeit, Gefühl, Herz u. dgl. nicht aussprechen kann, ohne mit beiden Armen eine Bewegung gegen die Brust zu machen, und seine Ausdrücke gleichsam aus dem Herzen zu schöpfen. Man lacht billig über den, der, um seinem Vortrage Bedeutenheit zu verschaffen, mit den Händen auf den Tisch schlägt, oder wenn er pathetisch seyn, und die Zartheit seines Ausdruckes bemerkt haben will, die Spitze des Zeigefingers an die Spitze des Daumen setzt, beide Finger beugt, und auf diese Art einen Ring bildet, während daß die übrigen Finger steif vor sich hin ragen.« Zu viel Gestiku-

Rhetorik überkommene Gestik, die bis in die Fingerspitzen hinein jeder Bewegung eine zeichenhafte Bedeutung gegeben hat, lehnen die Anstandslehren ab. Die Gestik im Konversationston müsse dagegen äußerst sparsam und ›natürlich‹ sein. »Die Hautpregel bei allen Händehaltungen ist, daß sie ganz natürlich, ungesucht und unstudirt seyen, und nichts weniger, als die Aufmerksamkeit der Anwesenden an sich ziehen.«648 Wie die bevorzugte ›natürliche‹ Handhaltung auszusehen hat, können die Anstandslehren kaum in Worte fassen und stellen dagegen einen Fehlerkatalog auf: Die Vermeidung von übermäßiger, weit ausholender Gestik, von tickartigen Fingerspielen und der Berührungen des Gesprächspartners scheinen ex negativo eine ›anständige‹ Gestik zu ergeben. »Haben deine Worte kein Leben, die fechtenden Hände werden es ihnen nicht geben«649, reimt Amalie von Wallenburg mehr schlecht als recht und drückt damit eine gängige Meinung aus: Die Worte müssten von alleine überzeugen, ohne der Unterstützung durch die actio zu bedürfen. Die ›anständige Beschäftigung der Hände‹ scheint gerade deshalb problematisch zu sein, weil die Hände damit keine redebegleitende, persuasive Aufgabe mehr haben, weil sie gerade keine Aufmerksamkeit erregen sollen und dennoch einer gewissen Ästhetik Ausdruck geben müssen: Alle Bewegungen, schreibt Wenzel, »müssen einen angenehmen Anblick gewähren, und Arme und Hand dem Auge schmeichelnde regelmäßige Linien beschreiben.«650 Diese ästhetische Anforderung gilt zwar für beide Geschlechter, graduell verstärkt jedoch für die Frau: »Am auffallendsten werden aber unschickliche Gebehrden bei dem weiblichen Geschlechte, wo man nur Anmuth und Schönheit, Übereinstimmung und ein natürliches Wesen sucht, und wir sollten sie uns am wenigsten verzeihen, da sie uns am wenigsten verziehen werden«651, droht Wallenburg. Neben einer im Vergleich zum männlichen Ideal stärker ästhetisierten Gestik obliegt der Frau eine generelle Zurücknahme ihrer Gestik. Während eine explizit männliche, raumgreifende Haltung darauf beruht, die breite Brust zu betonen, indem die Hände in die Weste gesteckt werden, wird der Frau eine zurückgenommene, eingeschränkte Gestik und Haltung angeraten.652 Zugrunde liegt die Forde-

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lation sei »ein Zeichen körperlicher Beredsamkeit aus den Zeiten der Marktschreierei, der ausgearteten Deklamations- und Schauspielkunst, wo man ein Großes darauf hielt, mit Händen und Füßen dem, was man sagte, einen Nachdruck zu geben, weil es an sich weder Leben noch Kraft hatte.« Wenzel, Der Mann von Welt, S. 42f. Den Mittelfinger mit dem Daumen zusammenzuschließen und die restlichen Finger gestreckt zu halten, ist nach Quintilian die »allgemeinste Gebärde«, die in der antiken actio unter anderem als Ausdruck der Bestimmtheit häufig zum Einsatz kommt. Quint. Inst. XI, 3, 92. Wenzel, Der Mann von Welt, S. 45. Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 166. Wenzel, Der Mann von Welt, S. 45. Wenzels schöne ›Linie‹ scheint auf die Schlangenlinie zu verweisen, die William Hogarth in seiner berühmten kunsttheoretischen Schrift The Analysis of Beauty (1753) als ›Line of Beauty and Grace‹ propagiert. Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 119. »Eine der anständigsten Händehaltungen für Männer ist noch immer die, daß man

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rung, der Mann solle Freiheit und Selbstbewusstsein demonstrieren, die Frau dagegen Sittsamkeit und Bescheidenheit signalisieren. Dies gelinge, indem die Frau in erster Linie nicht nur insgesamt weniger, sondern auch eine weniger raumgreifende actio zeige als der Mann – ein Diktum, das bis in gegenwärtige Populärrhetoriken Folgen zeitigt.653 Diese den weiblichen Anstand eigentlich bestimmende Sittsamkeit, setzt denn auch überhaupt den weiblichen Bewegungen und Wendungen, selbst der Miene und dem Tone, ein eingeschränkteres Maaß als dem männlichen Geschlecht. Stellungen, die bei dem Mann anständig frei sind, werden bei dem weiblichen Geschlecht frech genannt; dahin gehört z. B. das Zurückwerfen des Kopfs, das etwas weite Vorsetzen des Fußes, das Stemmen eines Armes in die Seite, das Schlagen der Hand vor die Brust bei Betheuerungen, so wie denn auch der weibliche sittsame Anstand, das viele Gestikuliren mit den Händen bei dem Sprechen, das zu geschwinde Gehn oder wohl gar zu unsittliche Laufen, das zu schnelle Sprechen, den kühnen unternehmenden Ton, selbst ein zu großes und mannigfaltiges, prätendirendes Mienenspiel nicht leidet. Sittsamkeit und Bescheidenheit ist das wahre Gepräge des weiblichen schönen Anstandes.654

Die genaue Beobachtung und die exakte Beschreibung der Unterschiede zwischen den Anforderungen an die Geschlechter, die Siede hier unternimmt, sind bemerkenswert. Sie machen deutlich, mit welchem großen Interesse die Anstandslehren gesellschaftliche Urteile über geschlechtsspezifisches Verhalten aufgreifen und festschreiben. Dabei wird die gleiche actio, die für einen Mann passend ist, für die Frau als unpassend verworfen. Die weibliche actio ist besonderen Restriktionen unterworfen, und wird unter dem Deckmantel von Sittsamkeit und Bescheidenheit zu einer weniger raumgreifenden und weniger selbstbewussten Erscheinungsweise gezwungen. Selbstbewusstes Auftreten in der Öffentlichkeit, das um 1800 zu einer Grundvoraussetzung für rhetorische Auftritte ebenso wie berufliche Erfolge des Bürgers wird, ist ihr versagt und wird als unanständig markiert. Die Beschränkung der Frau auf den häuslichen Raum, den kleineren Rahmen, entspricht einer Beschränkung ihrer gesamten actio auf ein kleineres Maß, eine engere Gestik, geringfügigere Mimik und eine bescheidenere Stimme, die die Anstandsbücher einfordern. Die Anstandslehren bieten damit auch eine Anleitung zur Verinnerlichung und Verkörperung gesellschaftlicher Ordnung, und zwar einer Ordnung, die dem männlichen bürgerlichen Subjekt eine hegemoniale Stellung einräumt. Der Ausschluss von Frauen aus öffentlichen Ämtern und vom Zugang zu ökonomischer und politischer Macht wird körperlich eingeprägt.

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beide Hände hinter die Weste, in einer kleinen Entfernung von einander steckt. Es gibt dem Brustbilde eine Art von Rahmen […].« Wenzel, Der Mann von Welt, S. 44f. Vgl. Kapitel V.3.5. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 20f. Wenzel, Der Mann von Welt, S. 143, zitiert diese Stelle aus Siede und ist einmal mehr der gleichen Meinung.

Der aufrechte Gang In den Anstandslehren kommen neben dem klassischen actio-Repertoire (Haltung, Gestik, Mimik, Stimmführung und Kleidung) Regeln für den Gang und das Sitzen verstärkt zur Sprache. Während letzteres schnell abzuhandeln ist – es geht darum, in Gesellschaft gerade, ruhig, ohne die Rückenlehne zu benutzen zu sitzen und sich dem Gesprächspartner zuzuwenden – wird dem Gang erstaunlich viel Aufmerksamkeit geschenkt. Bernd Jürgen Warneken hat gezeigt, dass der ›aufrechte‹ Gang neben der ›aufrechten‹ Haltung um 1800 zum Symbol bürgerlicher Emanzipation wird.655 Der aufgeklärte Bürger und die Bürgerin lassen sich nicht fahren oder tragen, sondern gehen zu Fuß – und werden dabei beobachtet. In der Anstandslehre wird der Gang zum Zeichen und er wird rhetorisch gelesen: Der – wohlgemerkt: anständige – Gang »verräth Leben und Thätigkeit, er setzt Aufmerksamkeit auf sich und Lust zur Bildung voraus, und erweckt für die Person, die ihn hat, sehr häufig günstige Meinungen; denn nicht selten ist man in seinen Geschäften und Handlungsweisen wie in seinem Gange.«656 Das natürlich wirkende Abbildungsverhältnis von Charakter und Gang ist nur ein scheinbares: Der Gang soll zwar, wie alle körperlichen Zeichen, ›natürlich‹ erscheinen, allerdings ist er Produkt einer sorgfältigen Ausbildung, die neben der Lektüre von Anstandsbüchern vor allem durch die praktische Anleitung im Tanzunterricht erreicht wird.657 Ebenso eingeschränkt und zurückgenommen, wie die weibliche Gestik im Vergleich zu der des Mannes ist, soll auch ihr Gang sein: »Das kräftige, starke Auftreten im Gehen zeigt Muth, Entschlossenheit, Selbstvertrauen, auch wohl Hochmuth. Dem Manne, der so einhergeht, mag man das verzeihen; wir aber sollen leiser auftreten, damit man uns nicht herrschsüchtig, gebieterisch, verachtend, stolz und eigendünkelich nenne«658, teilt Wallenburg ihren Geschlechtsgenossinnen mit.

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Im Gegensatz zum Adeligen, der sich fahren lässt, zeigt der Bürger mit seiner selbstständigen Fortbewegung Unabhängigkeit und Unternehmungsgeist. Im Gegensatz zum Handwerker oder Bauern trägt er keine Lasten und muss nicht eilen. Die aufrechte Haltung des bürgerlichen Spaziergängers wird zum Zeichen eines neuen bürgerlichen Selbstbewusstseins. Vgl. dazu den kulturhistorischen Beitrag von Bernd Jürgen Warneken, Biegsame Hofkunst und aufrechter Gang. Körpersprache und bürgerliche Emanzipation um 1800. In: Der aufrechte Gang. Zur Symbolik einer Körperhaltung, hg. von Warneken, Tübingen 1990, S. 11–23; sowie im selben Band speziell zum weiblichen Gang Johanna Schulz, ›Bei dem Gange gehörig gerade.‹ Zur Ambivalenz des Haltungsideals für Bürgerinnen, S. 24–34. Schulz zeigt, dass die Mode um 1800 – Korsett, lange Röcke, hohe Schuhe – mit der Forderung der Anstandslehre nach einer Einschränkung des weiblichen Gangs korrespondiert. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 25. Vgl. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 27. Zum Tanzunterricht vgl. ausführlicher Kapitel IV.5.5 (Körperübungen für körperlichen Anstand). Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 167.

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Auch hier wird das gleiche Zeichen beim Mann und der Frau unterschiedlich ›gelesen‹: Was beim Mann entschlossen und selbstbewusst wirkt, sieht bei der Frau herrschsüchtig und eingebildet aus. Auch im Gang wird von der Frau erwartet, statt Stärke und Selbstbewusstsein Bescheidenheit und Sanftheit zu demonstrieren. Die gesittete bürgerliche Jungfrau soll »gleichsam sanft und leise einherschweben«659. Der solide Bürger dagegen geht aufrecht, gleichförmig, fest, würdig und natürlich durch die Straßen, er »trippelt nicht wie affektirende Frauenzimer«, geht nicht steif oder krumm, lahmt nicht, rennt nicht und schleicht nicht.660 Redende Blicke Was die Mimik betrifft, so kommt den Augen – genauer: den Blicken – eine überwältigende Bedeutung zu. Die Macht des Blicks besteht darin, dem Gesicht etwas so Anziehendes zu verleihen, dass er »den Zugang zu den besten Menschen, zu den angenehmsten Gesellschaften, zu unserm Glücke und Fortkommen«661 ermögliche. Die Blicke spielen eine herausragende Rolle in der Konversation, da sie die Konversierenden miteinander verbinden. Idealerweise richtet sich der Blick ruhig auf den Gesprächspartner oder die Gesprächspartnerin und signalisiert Interesse und Aufmerksamkeit. Unruhige, schweifende, unstete Blicke gelten dagegen als besonders unanständig. Auch bei tödlicher Langeweile gilt es als grobe Verletzung der Höflichkeit, durch das Abwenden des Blicks oder gar das Umhersehen Desinteresse oder Müdigkeit zu offenbaren. Konsens ist, dass die Blicke beider Geschlechter in erster Linie ›offen‹ sein sollten, außerdem stetig, bescheiden, freundlich und heiter. »Der Blick, der allgemein gefällt, in jedem Verhältnisse, in jeder Lage den Menschen ziert, muß offen seyn. Es ist ein Blick, der Zutrauen gegen sich einflößt, auf Reinheit der Gesinnungen schließen läßt, und Festigkeit des Charakters, Selbstgefühl, das Bewußtsein des eigenen Werthes andeutet.«662 Doch die Rede über die ›Offenheit‹ des Blickes sollte

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Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 168. Das Gleiche verlangen Siede und Wenzel von der Frau: »Ihr Gang hat Anstand, wenn er leise, schwebend, d. h. dicht an der Erde fortgehend ist«. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 24; vgl. fast wortgleich Wenzel, Der Mann von Welt, S. 143. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 15. Wenzel, Der Mann von Welt, S. 29f. Wenzel, Der Mann von Welt, S. 27. Vgl. Siede: »Der Blick und die Miene des gebildeten Anstands ist freundlich, ernst, offen, und flößt Zutrauen zu sich ein.« Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 33. »Bescheiden zuweilen niedersehen, aber offen ins Auge schauen, wird von dem Blikke des Anstands erfordert.« Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 29. Auch Wallenburg fordert einen offenen Blick, der nichts zu verbergen habe. Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 112.

nicht über seine künstliche Erzeugung hinwegtäuschen: Der offen wirkende Blick ist ein disziplinierter, anerzogener Blick mit dem persuasiven Ziel, die Gesellschaft von sich zu überzeugen: Er ist der »Blick, den die gesittete Welt von uns verlangt«663. ›Die Welt‹ verlangt unterschiedliche Blicke vom Mann und von der Frau. Der Mann, so Siede, solle sich besonders durch einen »ehrbaren Blick« auszeichnen, dies sei »ein hoher schöner Reiz des männlichen Gesichts«664, sowie durch den »Blick der Ergebenheit, einer der gebildetesten Reize des männlichen Gesichts«665. Wie stark an dieser Männlichkeit gearbeitet werden muss, verrät die Rede von männlichen Tränen. Die Träne der sanften Rührung ist zwar im »männlichen Auge ein schöner Reiz, und verräth nichts weniger, als Weichlichkeit, sondern wahres starkes Gefühl«666. Muss der Mann jedoch über eigenen, und nicht fremden Kummer weinen, so wird Disziplin und Selbstkontrolle gefordert, um die Männlichkeit zu bewahren. Sollten sich die Tränen aufgrund eigenen Kummers wider Willen aufdrängen, »so richten Sie sich schnell empor, und verwandeln Sie, zumal wo Sie bemerkt werden, dieselben in den gelassenen Blick des Mannes. Arbeiten Sie da gegen sich, es bringt ihnen bei andern und in sich selbst Nuzzen.«667 ›Gegen sich zu arbeiten‹, weder den Tränen noch sonstigen unmittelbar aufsteigenden Gefühlen freien Lauf zu lassen, sondern beständige Selbstkontrolle und regelkonforme Performanz, so wird hier sichtbar, ist die Forderung der Anstandslehren. Der Ehrbarkeit des Mannes entspricht die Sittsamkeit der Frau, die sich im Blick ausdrücken soll. Dieser sittsame Blick darf, und das ist das Besondere, weder Unsittliches zeigen noch sehen. Zwar verurteilt Wallenburg ein »geziertes Niederschlagen der Augen«668, jedoch müsse der Blick stetig auf das Sittliche und niemals auf das Sittenwidrige gerichtet sein. Wird schon vom Mann eine große Selbstkontrolle erwünscht, wird von der Frau eine maximale Kontrolle ihres Blicks erwartet. Ein herumschwärmender, auf anderen Personen oder unsittlichen Bildern verweilender Blick könne »von dem Bemerkenden ertappt« und gesellschaftlich verurteilt werden.669 Es gilt den Blick abzuwenden, sobald ›Unsittliches‹ ins Blickfeld rückt. Dagegen schafft der kontrollierte, immerzu sittsame Blick eine ›Gemeinschaft der Anständigen‹: Einerseits fungiert er als Erkennungsmerkmal der Anständigen und

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Wenzel, Der Mann von Welt, S. 27. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 65. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 67. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 69. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 69. Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 112. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 30. »Der herumschwärmende Blick muß öfter wider seinen Willen in Verlegenheit gerathen, dadurch, daß er von dem Bemerkenden ertappt wird.«

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verbindet diese durch den wechselseitigen Blick-Kontakt, andererseits dient er zur Abschreckung Unanständiger, da dem weiblichen sittsamen Blick die Macht zugeschrieben wird, alle zudringlichen, schmeichelnden, schwätzerischen, lasterhaften Männer zu vertreiben.670 Ganz ohne Worte bilden Blicke Gemeinschaften, kommunizieren Blicke Zugehörigkeit und ›erfreuen‹ Blicke ihr Publikum. Den Blicken wird eine sprachähnliche Funktion zugestanden – die im Sinne der delectatio in der Konversation eingesetzt wird. Ruhe, Weichheit, Gefälligkeit, Lieblichkeit, Heiterkeit, Milde und nicht zuletzt ›verschönerte Natur‹ – das sind die Eigenschaften, die aus den Augen der Frau »leuchten« und »von ihrer Miene reden« sollten, meint Wallenburg.671 Um ›redende‹ Blicke werfen zu können, muss die Frau allerdings die Ausbildung der Anstandslehren empfangen haben. Zwar scheinen die Augen als ›Spiegel der Seele‹ in besonderem Maße dazu prädestiniert, ›unvermittelt‹ innere Regungen anzuzeigen, dennoch wird der ›redende‹ Blick gerade nicht der unpolierten ›Naturschönheit‹ zugeschrieben. Dies wird deutlich in einer Passage, in der Siede den Anblick zweier gegensätzlicher Frauen entwirft – die eine ist das Bild einer unausgebildeten und daher kaum reizvollen Naturschönheit, die andere steht für die ausgebildete, formvollendete ›anständige‹ actio. Es ist die letztere, der der ideale, sprechende Blick zugeschrieben wird: »Eh ihr Mund noch sich öffnet, spricht schon ihr Auge, es zieht an und schreckt zurück, es winkt und dräuet, wie ihr Herz es will« – so entwirft Siede die Anziehungskraft der Anständigen.672 Diese strategisch eingesetzten, kontrollierten Blicke des vervollkommneten schönen Anstands verbergen ihre Kunst, indem sie den Eindruck vermitteln, nur ›vom Herzen‹ reguliert zu werden. Neben den sprechenden Blicken erscheint jegliche weitere »ausdrükkende Mienensprache« als verstellt wirkende Übertreibung. Höchstens ist ein dezentes Spiel der Augenbrauen zugelassen – zu viel Mimik, da sind sich Siede und Wenzel einig, lasse die Frau »ränkevoll und intrigant« erscheinen.673 Offenbar steht die Frau unter 670 671 672 673

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Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 30f. Vgl. Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 72. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 11. »Sehn Sie ohne Scheu, aber immer mit Ergebenheit und sanftem Blikke die Person an, mit der Sie sprechen; vermeiden Sie dabei die zu viele und ausdrükkende Mienensprache, die in dem weiblichen sittsamen Gesichte, das durch Anmaßungslosigkeit am schönsten ist, nicht gefallen will, die dem Gesichte und seinen Zügen Ruhe, das heißt, ihm seinen wahren Charakter und Ausdruck nimmt, und das Gesicht oft unansehnlich verzerrt. Bei zu vieler Mienensprache erscheint das weibliche Gesicht leicht ränkevoll und intrigant.« Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 32. »Bescheiden zuweilen niedersehen, aber offen ins Auge schauen, wird von dem weiblichen Blicke gefordert. Das gebildete Mädchen wird immer mit Ergebenheit und sanft die Person ansehen, mit welcher sie spricht, und dabei die zu viel ausdrückende Mienensprache mit vieler Sorgfalt vermeiden, um nicht ränkevoll und intrigant zu scheinen.« Wenzel, Der Mann von Welt, S. 144.

einem besonderen Verdacht der Verstellung, der ihr auch eine größere Zurückhaltung im Mienenspiel auferlegt, wohingegen ihre Blicke als vermeintliche ›Herzenssprache‹ keinem Verdacht unterliegen. Der ›gute Ton‹ Die Fähigkeit, eine angenehme Konversation führen zu können, das stellen alle Anstandslehren heraus, ist für beide Geschlechter von enormer Relevanz. Die Rede vom ›guten Ton‹ umfasst sowohl das, wovon in der Konversation gesprochen wird, als auch die Art und Weise, wie darüber gesprochen wird, und nicht zuletzt die Aussprache und Stimmführung, also die stimmliche actio. Siede betont, dass es die richtige, schöne, gefühlvolle und abwechslungsreiche Sprache und Aussprache sei, auf die sich nicht nur der Mann verstehen müsse, sondern die maßgeblich zum Reiz der Frau beitrage.674 Was den ›guten Ton‹ betrifft, so nehmen die Anstandslehren weniger eine geschlechtliche als eine soziale Differenzierung vor: Wallenburg fordert eine grundlegende sprachliche Ausbildung für die bürgerliche Frau, damit sie nicht wie ihr Zimmermädchen klinge.675 Die Anstandslehren nehmen daher auch die Beherrschung der deutschen Sprache676 (Sprachrichtigkeit, angemessene Wortwahl, Wortschmuck und Vermeidung von Fremdwörtern) in den Blick, daneben wird ›das rechte Maß‹ beim Sprechen und Schweigen thematisiert. Das ist eine kleine und wenig anspruchsvolle Auswahl aus dem unendlich differenzierten rhetorischen Repertoire der elocutio, die sich auf die Konversation beschränkt und der sprachlichen Mittel einer ›großen Rede‹ offenbar weder bedarf noch ihnen gewachsen wäre. Der »gesellschaftliche Sprachton« solle »Einfachheit, Verständligkeit, Kürze und Bestimmtheit« zeigen, fordert Wenzel,677 und grenzt damit den »Konversationston« ebenso wie Siede explizit von dem »Ton des öffentlichen Redners« ab. Sowohl was die elocutio, als auch was die actio betrifft, lehnen die Autoren eine Vermischung beider Stile ab.678 Es gebe zwar Fälle, so Wenzel, »wo man von uns im gesellschaftlichen Leben wirkliche Deklamation verlangt; wir müssen oft etwas mit Nachdruck und pathetisch erzählen, oft Gedichte und prosaische Aufsätze vorlesen, die alles verlieren würden, wenn man sie nicht deklamieren wollte.«679 Allerdings warnt er davor, einen solchen deklamie674 675 676

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Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 107. Vgl. Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 54–58. Gerade bei Siede und Wallenburg erscheint die Beherrschung der deutschen Sprache – nach langer Vormachtstellung der französischen Sprache in der Konversation – nicht als Selbstverständlichkeit, sondern wird vielmehr als emphatische und mit Nationalstolz aufgeladene Forderung vorgetragen. Wenzel, Der Mann von Welt, S. 69f. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 78f. Wenzel, Der Mann von Welt, S. 74.

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renden Ton »in die Conversation mit hinüber zu nehmen«, die dadurch affektiert wirken und dem im geselligen Umgang erforderlichen gefälligen, bescheidenen, herzlichen und aufrichtigen Ton nicht gerecht würde.680 Die Konversation erfordert nicht weniger, sondern andere Regeln als die ›große Rede‹. Die Anstandslehren vermitteln diese actio-Regeln auch an die Frau: Erst durch die beständige Einübung des Anstands »werden Ihre Gespräche Würze und Schmuck bekommen; so nur kann sich Naivität das Kleid anlegen, mit dem es in anständiger Gesellschaft erscheinen darf.«681 ›Würze‹ und ›Schmuck‹, zwei aus der antiken Rhetorik bekannte Metaphern für die Leistung der Rhetorik, lassen aufhorchen.682 Mit dem ›Kleid‹ kommt eine weitere Metapher der Rhetorik, die einen Sachverhalt in Worte kleidet, hinzu. Diese hochrhetorischen Metaphern umgeben ein Schlagwort des Ausdrucksparadigmas und Inbegriff weiblicher ›Natürlichkeit‹: die ›Naivität‹. Indem die Naivität in ein rhetorisches Kleid gesteckt wird, kann Wallenburg sie dem rhetorischen Paradigma einverleiben und unterordnen. Es ist bemerkenswert, wie Wallenburg diesen scheinbar gegensätzlichen Begriff des Ausdrucksmodells in die rhetorische Dimension des Anstands einbezieht. Paradoxe Konstruktionen wie diese lassen sichtbar werden, wie sich die Anstandslehren, die die rhetorische Tradition der Vermittlung einer strategischen, persuasiven Körperbeherrschung – auch für die Frau – fortsetzen, in einem Umfeld zunehmender Rhetorikfeindlichkeit im Zeichen von Natürlichkeit, Authentizität und Aufrichtigkeit behaupten.683 Während die elocutio-Lehre mit ihren Möglichkeiten der verbalen Persuasion unausgeschöpft bleibt, erlebt die aus der antiken actio bekannte Lehre der Stimmführung in den Anstandslehren geradezu eine Renaissance. Sie nimmt in der Vermittlung der Fähigkeit, eine gute Konversation zu führen, eine zentrale Stellung ein. Die Stimmführung wird unter dem Begriff ›Sprachton‹ verhandelt, wobei dieser Ton immer schon mit dem Anstand im Sinne des ›guten Tons‹ kurzgeschlossen zu sein scheint. Gerade dieser Bereich der Anstandslehren orientiert sich merklich an der alten Rhetorik. Siede ordnet sein Kapitel über den ›Sprachton‹ nach den rhetorischen Kriterien der Verständlichkeit, der Reinheit, der Fülle, der Festigkeit, der Modulation und der Betonung.684 Der Ton sei von besonderer Relevanz innerhalb der actio, so sind sich die Anstandslehren einig, da er »die Modulationen der Seele« ausdrücken und damit »die ganze Seele des Menschen« ansprechen, »den Sinn einer Sache« verdeutlichen und »den Grad jeder Empfindung genau äussern« könne.685

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Wenzel, Der Mann von Welt, S. 75. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 108. Vgl. Cic. Brut. 29. Vgl. Geitner, ›Die Beredsamkeit des Leibes‹, S. 184. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 76ff. Vgl. Kapitel III.2.1. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 33.

Zudem habe der Ton einen ästhetischen Reiz, und zwar sowohl beim Mann als auch bei der Frau: »Die Aussprache und der Ton hat glänzende Reize; so sie nicht sind, verliehrt oft das schönste Gesicht, so wie sie denen, die sie besizzen, oft große Vollkommenheiten in den Augen ihrer Verehrer geben«686. Es ist bemerkenswert, dass selbst im Bereich der Stimme – also der ›Hörbarkeit‹ – die Metaphorik der ›Sichtbarkeit‹ soweit vorherrscht, dass die Stimme den visuellen Eindruck eines Gesichts bestimmt und in das ›Auge‹ des Betrachters fällt. Wie aus der antiken actio-Theorie bekannt, wird das männliche Stimmideal durch eine Abgrenzung von nicht-rhetorischen Stimmen wie die der Frau oder des Kindes bestimmt. So definieren die Anstandslehren das Ideal des »vollen schönen männlichen Tones«687 als eine helle, reine, volltönende, feste Stimme, die von einer schwachen, schüchternen, bebenden Stimme abgegrenzt wird. Besonders die Fülle der Stimme ist für die Wirkung der Männlichkeit relevant, so zeigt Siede in einer Gegenüberstellung: »Ein schwächlicher, krähender, weibischer, kindischer Ton ist wahre Häßlichkeit an einem Manne; dahingegen der volle stärkere Ton wahre Schönheit am Manne ist.«688 Neben der geschlechtlichen wird die soziale Differenz für die Stimme relevant: Bei allem bürgerlichen Selbstbewusstsein müsse der Ton immer höflich bleiben, ohne jedoch – dies wird als konstante Gefahr heraufbeschworen – ›kriecherisch‹ zu werden. Diese Warnung vor einem höfisch konnotierten ›Kriechen‹ gilt für die Frau noch in erhöhtem Maße: »[K]riechende[r] Anstand in Miene, Stellung und Ton« sei schon für Männer unwürdig, für Frauen völlig entehrend, meint Siede.689 Hierarchie und soziale Rangunterschiede werden stimmlich markiert und in der Konversation aufgeführt und vergegenwärtigt. Wie die Stimme genau als Ausdruck verschiedener Affekte klingen sollte, interessiert die Anstandslehren deutlich weniger als die Definition, welche Affekte und Tugenden die Stimme – des Mannes anders als die der Frau – ausdrücken sollte. Während der Mann höflich, aber zugleich »bedacht und bestimmt«690, rasch und kühn sprechen soll, ist die Frau gänzlich auf den bescheidenen Ton festgelegt.

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Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 97. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 25. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 76f. Auch Wenzel definiert, der männliche Ton habe nicht genug Fülle, wenn er »schwächlich, krähend, kindisch, unsicher, schwankend«, sei. Wenzel, Der Mann von Welt, S. 73. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 20. Vgl. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 19. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 17.

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Der Ton sey bei unserem Geschlecht sanft, mild und weich und deute auf innere Güte, Bescheidenheit, Sittsamkeit, Gefälligkeit und Liebe hin. Falle nie in den schmachtenden, zärtelnden, fast weinerlichen Ton der Empfindsamen. Ein gravitätischer, pathetischer Ton, besonders wenn die Gedanken und Gefühle, welche die Worte bezeichnen, in denen er ruht, Kleinliches und Unwichtiges betrifft, macht lächerlich. Wenn eine Jungfrau oder Frau schreiend, kreischend, heftig redet, so dient es nicht zu ihrer Empfehlung. Auch durch den Ton der Stimme kann man es Andern kund thun, ob man gebildete oder ungebildete Sitten hat, ob man das Anständige zu beobachten weiß oder nicht.691

»Munter und natürlich«692 , »weder zu männlich noch zu weichlich«693, vor allem aber »sanft und sacht«694 soll der weibliche Ton sein – ein kühner, selbstbewusster, unternehmender Ton ziemt sich der Frau dagegen nicht. Nichts an der weiblichen Stimmführung darf darauf hindeuten, dass die Frau ihren eigenen Worten Gewicht verleiht. Während der Mann bedacht und bestimmt sprechen soll, verbietet die Bescheidenheit der Frau die nachdrückliche Vertretung ihrer eigenen Meinung: Der Ton der Soliden ist vorzüglich herzlich, ergeben und gefällig, voll Anstand, Nachgeben und Höflichkeit; er klingt nie behauptend, sondern nur wenn die Solide ihre Meinung über etwas sagen soll, vermuthend, und so, als ob sie es dem Urtheile und der Abwägung der Klügeren überlasse und ihre Meinung ihrer Prüfung gleichsam unterwerfe. Der solide Ton ist bescheiden und ohne Prätension, er ist im Gespräch nicht etwa immer gleich nachdrücklich, er giebt sich, wie schon gesagt, nie ein zu großes Gewicht, um nicht eigenliebig oder gelehrt scheinen zu wollen.695

Der Text macht durchaus deutlich, dass die Bescheidenheit eine rhetorische Strategie ist: Es geht darum zu klingen, als ob die Frau bescheiden sei. Das Ziel der Strategie ist jedoch zu gefallen und nicht zu überzeugen. Damit dient die Bescheidenheit, diese nun weiblich gegenderte Tugend, nicht mehr der Erhöhung der Glaubwürdigkeit des Redners – wie in der antiken Rhetorik –, sondern sie vernichtet jegliche Möglichkeit der Rednerin, etwas in eigener Sache überzeugend vortragen zu können. Denn wenn die Frau nicht nachdrücklich ihre Meinung vertreten darf, kann sie wohl kaum andere (von einer Sache) überzeugen. Übrig bleibt der Frau – in einem tautologischen Rückschluss – nur die Möglichkeit, andere ›von sich‹ (und nicht von einer Sache) zu überzeugen, indem sie durch ihre Bescheidenheit gefällt,

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Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 189. Vgl. die gleichen Forderungen bei Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 33ff. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 33f. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 54. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 49. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 55.

was wiederum die topische Zuschreibung bestärkt, gefallen zu wollen sei das ›natürliche‹ Ziel der Frau. Der bescheidene, vermutende Tonfall, so könnte argumentiert werden, ergibt sich aus der spezifischen Redesituation der Konversation, die Ende des 18. Jahrhunderts zum Ziel hat, alle Gesprächsteilnehmer/innen gleichermaßen zufrieden zu stellen, also ein Machtgleichgewicht herzustellen.696 Am Ende einer Konversation darf nicht ein überzeugender Sieger über einem überzeugten Besiegten stehen. Allerdings macht die Lektüre der Anstandslehren deutlich, dass diese Anforderung nicht allein der Redesituation geschuldet, sondern in hohem Maße gender-spezifisch ist. Denn explizit ist es dem Mann gestattet, bestimmt seine Meinung zu vertreten. Für die Frau gebe es jedoch schlichtweg keine Gelegenheiten, so macht Siede klar, einen feierlichen oder einen »bedachtsame[n] überlegte[n] und bestimmte[n] Ton« anzubringen, ohne dass sie entweder affektiert, närrisch und theatralisch erscheine oder aber »zu laut« wirke.697 Ihr Ton wird als prahlend und rechthaberisch wahrgenommen, wenn er sich »zu viel Gewicht bei dem Sprechen giebt, was leicht wie egoistische Eigenliebe und wohl gar wie gelehrter Dünkel erscheint, der an dem zweiten Geschlecht verächtlich gemacht wird«698. Die Wirkung der gleichen rhetorischen Mittel unterscheidet sich je nach Geschlecht aufgrund der verschiedenen idealen Geschlechtscharaktere: Der bestimmte Ton eines Mannes wirkt bestimmt; der bestimmte Ton einer Frau wirkt übertrieben, rechthaberisch und eingebildet. Es ist das ›zweite Geschlecht‹, dem weder Gelehrsamkeit noch gewichtige Worte zugestanden werden. Von jeglicher Überzeugungskraft entbunden löst sich die Rede der Frau in ästhetisches Wohlgefallen auf: »Der Klang ihrer Stimme ist angenehm, dem Ohre schmeichelhaft und die Gedanken und Gefühle, die sie mit gewählten Worten bezeichnet, umschweben uns, wie liebliche Geister und fachen in uns Wohlgefallen, Vergnügen und Beifall an.«699 Kleidung Was die Kleidung betrifft, so steht diese in erster Linie im Dienste der Statusdifferenzierung und Selbstdarstellung.700 Anders als die antike actio-Lehre, die die Klei696

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In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Konversationskunst von der Rhetorik: Da das Ziel der ars conversationis die delectatio ist, steht die Herstellung konversationeller Harmonie im Vordergrund. Vgl. Kapitel IV.1.1. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 35. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 54. Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 73. In diesem Sinne sollte sich der Mann lieber zu gut als zu schlecht kleiden, rät Siede: »die gewöhnliche Welt sieht nach dem Kleide und beurtheilt, wiewohl sehr irrig, die Vermögensumstände des Mannes nach seinem Kleide, und nicht selten bestimmen sie

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dung in den Dienst der Rede stellt und beschreibt, wie das Gewand im Verlauf der Rede als Zeichen sich steigernder Affekte spezifisch verrutschen darf, gilt die Kleidung in den Anstandslehren ausschließlich als Ausweis einer anständigen, standesbewussten Persönlichkeit. An erster Stelle der Kleidungsvorschriften steht die Hygiene: Reinlichkeit und Ordentlichkeit werden zum Ausdruck einer reinlichen, ordentlichen bürgerlichen Person. Dazu kommen Geschmack und Einfachheit. Männer wie Frauen sollten unauffällig der Mode folgen, nie durch altmodische oder allzu modische Tracht auffallen, der Mann gedeckte Farben tragen, die Frau möglichst in weiß erscheinen. Die Kleidung konturiert den Körper, sowohl den des Mannes als auch der Frau, und macht jenen männlicher und diese weiblicher. »Man nennt dieses Nettangezogene auch oft das Tüchtigangezogene, und man hat Recht, wenn man es von dem jungen Manne vorzüglich fordert; sein ganzer Körper erscheint so fester, muskulöser und stärker; das Derbe, Feste der Gesundheit scheint sich darin mehr zu verrathen, und an seinen Anblick anzuknüpfen«701, schreibt Siede für den Mann. Auch für die Frau ist die Kleidung ein strategisch einsetzbares Mittel, Gefallen zu erwecken. Dieses Gefallenwollen darf jedoch nicht offenkundig sichtbar werden. Weibliche Kleidung wird dann wiederholt unter dem Stichwort der Schamlosigkeit verhandelt. Amalie von Wallenburg berichtet empört von solchen Zeichen der Schamlosigkeit wie die entblößende Kleidung einer Frau, kombiniert mit frechem Blick, lüsterner Miene, unkeuschen Bewegungen und zweideutigen Scherzen.702 Weibliche Kleidung kann also – zusammen mit weiblicher actio – ›sprechen‹. Die Sorge der Anstandslehren gilt einer Begrenzung dieses weiblichen ›Sprechens‹, einem von der Kleidung entblößten oder zu stark konturierten Körper, der zu deutlich aussagt, dass er gefallen will. Ein solcher ›aktiver‹ Part im Spiel des Begehrens ist gegen den Anstand, der dem Mann das Monopol der aktiven Eroberung gewährt.703 Als regulierender Verstärker der Anstandsforderungen wird die Forderung nach Scham und die gnadenlose Verurteilung weiblicher Schamlosigkeit eingesetzt. Scham, so Wallenburg, sei die »Wächterin« der Tugend: »Sie nur läßt uns Alles vermeiden, was gegen den Anstand ist«704 . Indem die Frau ihren Körper bedeckt, verschleiert sie zugleich das rhetorische Ziel des Gefallenwollens und bewirkt so einen Anschein von ›Natürlichkeit‹.

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darnach ihr Betragen und den Grad ihrer Achtung für den Mann.« Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 109. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 102. Vgl. Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 78f. Vgl. auch Rousseaus Konzeption des Spiels des Begehrens zwischen den Geschlechtern: Rousseau, Brief an Herrn d’Alembert, S. 419. Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 80.

Gesetztheit für alle Nach diesem Durchgang durch ausgewählte Anstandslehren mit dem Ziel zu zeigen, wie sich rhetorisches Wissen mit der Konzeption polarer Geschlechtscharaktere in actio-Modellen um 1800 verbindet, sollen zwei Tugenden hervorgehoben werden, die im Hinblick auf die Geschlechterdifferenz von besonderer Relevanz erscheinen. Das sind die ›Gesetztheit‹, eine ehemals männliche Tugend, die um 1800 erstaunlicherweise für beide Geschlechter beansprucht wird, sowie die ›Bescheidenheit‹, die im beginnenden 19. Jahrhundert endgültig zu einer weiblich gegenderten Tugend geworden ist. Während die Neucodierung der ›Gesetztheit‹ als (auch) weibliche Tugend die Rednerin in ein seit der Antike durch seine ›Würde‹ bestimmtes Rednerideal einzubinden und ihr mehr rhetorische Geltung zu versprechen scheint, ist es die zunehmend weibliche Codierung der Bescheidenheit, die am Ende den Ausschluss der Rednerin von jeglicher rhetorischer Selbstbehauptung in agonalen Redesituationen bekräftigt. Eine Eigenschaft der actio, die in den untersuchten Anstandslehren prominent verhandelt wird, ist die ›Solidität‹, die Siede zu einer Haupttugend erhebt beziehungsweise die bedeutungsgleiche ›Gesetztheit‹, der Wenzel und Wallenburg jeweils ein eigenes Kapitel widmen. Die gesetzte actio ist nicht ausschließlich männlich konnotiert, wie in Anbetracht der männlichen Codierung einer ›gesetzten‹ Körpersprache in heutigen Rhetorikratgebern vermutet werden könnte.705 Die Gesetztheit scheint auf die Autorität und Gravität eines Redners oder einer Rednerin hinzuweisen, und es ist daher bemerkenswert, dass die Anstandslehren daran arbeiten, diese Eigenschaft eben nicht auf den Mann zu begrenzen, sondern im Gegenteil für die Frau verfügbar zu machen. Wenzel beschreibt explizit diese Umbesetzung: Man hält im gemeinen Leben gewöhnlich dafür, daß Gesetztheit nur das höhere Alter kleide, und vorzüglich eine Zierde des männlichen Geschlechts sey, da sie doch eine Eigenschaft ist, die jedem Alter und jedem Geschlecht zur Ehre und Empfehlung gereicht. Man liebt die Gesetztheit sowohl an dem Jünglinge, als an dem Mädchen, und schätzet den Greis und die Matrone, wenn sie sich durch dieselbe auszeichnen.706

Auch Amalie von Wallenburg empfiehlt ihrer Tochter die ›Gesetztheit‹ in einem eigenen Paragraphen, die zwar häufig im fortgeschrittenen Lebensalter zu finden sei, aber durchaus auch jungen Frauen anstünde.707 Dies erscheint zunächst als ein

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Vgl. Kapitel V.2.2. Wenzel, Der Mann von Welt, S. 52. »Man meint, die Gesetztheit passe für die Jugend nicht und gehöre für das Alter, weil man sich unter dem Wesen derselben eine gewisse gravitätische Steifheit in allen Bewegungen, Mürrisches im Blicke, eine altväterliche Bedächtlichkeit im Thun und Lassen etc denkt.« Dagegen meint Wallenburg: »Die Gesetztheit entsteht aus der Cultur des Verstandes und Herzens, welche sich durch ein anständiges Äußeres, durch Ruhe und Ernst im Blicke und Bewegung zu erkennen giebt.« Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 102.

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durchaus emanzipatorischer Ansatz: Eine ehemals ausschließlich männliche Kategorie wird ausgeweitet auf verschiedene Altersstufen und auf beide Geschlechter. Es stellt sich die Frage, wofür dieser Begriff eigentlich steht. ›Gesetztheit‹ bedeutet vor allem, das mittlere Maß in der actio zu bewahren. Diese bereits aus der aristotelischen Rhetorik bekannte Forderung nimmt großen Raum in den Anstandslehren ein. »Ein sicheres Kennzeichen der Gesetztheit ist, wenn man sowohl im Sprechen als Handeln stets die Mittelstraße hält«, schreibt Wenzel für den Mann.708 Siede erwartet von der ›gesetzten‹ (›soliden‹) Frau, die »Mittelstraße in Allem« zu halten, das heißt »eine gewisse Mäßigung in Allem, besonders bei Äusserung der Empfindungen, bei Vergnügungen u. s. w., und überhaupt einen gewissen Ernst im Betragen […]. Die wahre Solidität des Betragens leidet keine Überspannung, sie bestehe nun im Sprechen oder in Handlungen.«709 Wallenburg fordert ebenfalls in diesem Sinne, die Jungfrau solle immer die »sichere Mittelstraße« gehen, Mäßigung, Gleichmut und Ruhe zeigen, Extreme und Überspannung sowie alles Flatterhafte und Unbeständige meiden.710 Das verworfene Gegenteil dieser ernsten Gesetztheit ist an erster Stelle das übertrieben Empfindsame, daneben auch das Spielerische, Komische, Alberne sowie das Gezierte und Affektierte.711 Die Gefühlswelt der Empfindsamkeit erscheint um 1800 bereits als ›Empfindelei‹ und das Kommunikationsideal der Anstandslehren ist nicht der natürliche Ausdruck intensiver Gefühle, sondern die maximale Selbstbeherrschung und Verdrängung aller zu starken Affekte. Dem Redner-Ideal entspricht derjenige Mensch, der in der Lage ist, seine Affekte und sein Auftreten in jeder Situation zu mäßigen, und der damit beweist, »daß er in dem Besitze der Kunst sey, sich selbst zu beherrschen.«712 Die ›Gesetztheit‹ ist der Ausdruck dieser Selbstbeherrschung, die in den Anstandslehren sowohl mit einem machiavellistischen Nutzen des Einzelnen als auch mit dem Wohle der Gesellschaft – als einer Ansammlung liebenswürdig-diszipliniert auftretender Individuen – begründet wird.

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Wenzel, Der Mann von Welt, S. 54. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 47f. Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 102. Implizites Gegenteil der deutschen, bürgerlichen ›Gesetztheit‹ scheint auch die ›Leichtigkeit‹ und ›Spritzigkeit‹ zu sein, die etwa in der französischen Konversationslehre gefordert wird. In den sich von der französischen Vorherrschaft emanzipierenden deutschen Texten zur Konversation des 18. Jahrhunderts ist das nationale Stereotyp eines Gegensatzes von deutscher Redlichkeit und französischer Leichtigkeit topisch. Markus Fauser definiert die französische conversation als eine »heiter anmutige Unterhaltung, die gelenkt wird von Esprit und Interesse am Unvorhersehbaren, regiert von Urbanität, Politesse und Takt, in der die Worte nur ein Viertel der Unterhaltung ausmachen, launige Atmosphäre und Reiz des Spiels über alles, und die geprägt ist von der ziellos zielsicheren Bewegung aller Beteiligten.« Fauser, Rhetorik und Umgang, S. 118f. Wenzel, Der Mann von Welt, S. 54.

Aus dieser Selbstbeherrschung leitet sich Würde im Auftreten ab. Nicht nur der ›gesetzte‹ Mann, auch die ›gesetzte‹ Frau erscheint mit einer »gewisse[n] Würde«, die in ihrer actio sichtbar wird.713 Deutlich wird, was ausgeschlossen werden muss, um eine solche Würde zu erlagen: die Extreme oder Ränder der Rhetorik, die traditionell weiblich besetzt sind.714 Die ›gesetzte‹ Frau äußert sich weder ›überspannt-hysterisch‹, noch ›empfindelnd‹ noch ›albern‹, sie lacht selten, und wenn, dann nicht laut.715 Ihre Würde beruht auf einer vollständigen Selbstkontrolle, emotionalen Zurücknahme und Abwendung von Vergnügungen. Indem die Frau einbezogen wird in den Kreis derer, für die der Begriff ›Gesetztheit‹ als Norm gilt, wird sie einer umso vollständigeren Disziplinierung unterzogen, zugleich wird ihr aber auch die Möglichkeit zu einer ›würdigen‹ actio verschafft: damit wird sie zum rhetorischen Subjekt, entmachtet und ermächtigt zugleich.716 Bescheidenheit, die weibliche Zier Die Bescheidenheit ist eine Kategorie, die für die weibliche Rhetorik vom 18. bis ins 20. Jahrhundert hinein wirksam bleibt und die kaum genug hervorgehoben werden kann.717 Der körperliche Anstand, so machen die Anstandslehren deutlich, sollte sich zwischen den Geschlechtern unterscheiden, und es ist der weibliche Anstand, der sich besonders durch Bescheidenheit auszeichnen muss. Schon Wenzel meint 1801: Den Mann kleidet das unternehmende Wesen, das frei sich ankündigende in seinem Anstande; bei dem Frauenzimmer gefällt dies aber nicht; hier müssen Bescheidenheit, sittliche Zurückhaltung und Schamhaftigkeit in Miene, Stellung, Ton, Gang, Bewegung und Wendungen herrschen.718

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Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 46. Auch der Solidität des Mannes liegt das »Gefühl des eignen Werthes, der aber mit Bescheidenheit abgemessen seyn muß« zugrunde. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 10. Doerte Bischoff und Martina Wagner-Egelhaaf haben beschrieben, wie kulturhistorisch weiblich klassifizierte Redeweisen aus der Rhetorik ausgeschlossen wurden, um ein konstitutives ›Außen‹ zu bilden, in dessen Rahmen die männliche Rhetorik als klar, sinnvoll, rational, strukturiert, konzise und wirkmächtig erscheint. Traditionell weiblich codierte Redeweisen sind beispielsweise (neben dem Schweigen) das Geschwätz, der Klatsch, Geschrei, Gesang, Lamentation, Körpersprache, mystische und hysterische Ausdruckweisen – damit erscheint weibliche Rede als der Logik widersprechend, überbordend, inhaltsleer, sinnlos, unstrukturiert und körperlich. Vgl. Bischoff, WagnerEgelhaaf, Einleitung, S. 31f. Vgl. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 50. Vgl. Strowick, Methodische Überlegungen zu einer rhetorischen Anthropologie, S. 250; vgl. Kapitel II. Vgl. zur Bescheidenheit in der Erziehungsliteratur auch Kapitel IV.4.4. Wenzel, Der Mann von Welt, S. 141.

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In Amalie von Wallenburgs Darstellung von 1824 scheinen sich diese Dichotomien verschärft und verfestigt zu haben. Ein edler [weiblicher] Anstand ist der, welcher den Gesetzen des Schicklichen, Wohllauten, des Einnehmenden und Gefallenden entspricht und Milde, Bescheidenheit, Zartheit, Weichheit, Scham und eine liebenswürdige Schüchternheit ausdrückt. Der männliche Anstand zeigt uns dagegen Muth, Selbstvertrauen, Dreistigkeit, Kraft und gebietende Würde.719

Im beginnenden 19. Jahrhundert wird die körperliche Rede explizit gegendert: Bescheidenheit und Dreistigkeit, Schüchternheit und Selbstvertrauen werden zu diametral entgegengesetzten weiblichen und männlichen Redeidealen. War die Bescheidenheit in der Rhetorik der Antike ebenso wie im ausgehenden 18. Jahrhundert in der Umgangslehre Knigges noch eine geschlechtsneutrale Tugend, die strategisch in der Rede eingesetzt werden konnte, um die Gunst eines Publikums zu gewinnen, wird die Bescheidenheit im beginnenden 19. Jahrhundert eine der Frau zugeschriebene natürliche Eigenschaft.720 Für den Mann ist nun das Ende der Bescheidenheit eingeläutet: Mut, Selbstvertrauen, Dreistigkeit und gebietende Würde treten an ihre Stelle. Die weibliche Bescheidenheit, wie sie die Anstandslehren in den Blick nehmen, zeigt sich vor allem im Gespräch: Aus ihr folgt, dass die Frau Anderen freiwillig den Vorrang im Gespräch einräumt, niemals auf einer eigenen Meinung besteht,

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Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 8f. Diese Polarisierung von Bescheidenheit und Dreistigkeit ist bei Siede – 27 Jahre vor Wallenburg – noch nicht in gleichem Maße ablesbar. Auch wenn Siede die Bescheidenheit ausführlicher für die Frau thematisiert als für den Mann und »Sittsamkeit und Bescheidenheit« als das vorrangige, wahre Gepräge des weiblichen schönen Anstandes« bezeichnet (Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 20f.), gehört das bescheidene Auftreten doch, wie bei Knigge, auch zum männlichen Anstand. Dabei ist festzustellen, dass Siedes Anweisungen an den Mann ihren Fokus darauf richten, die Bescheidenheit mit männlicher Würde zu verknüpfen. »Das Auge, das zu rechter Zeit niederzusehen und sich sanfte emporzurichten weiß, das aber bei diesem Emporblikken und in dem Grade des mehr oder minder schnellen Aufblikkens, eine gewisse Würde und das erlaubte Selbstgefühl des sich bildenden Mannes zeigt, das voll Ernst und Freundlichkeit offen, als wenn es das Herz in sich trüge, blickt, die sanftere gefälligere Miene um den Mund, selbst wenn er ernste Wahrheit sagt, und in Verlegenheit sezzen muß, die sich wie der Blick des Auges über etwas ihm erzeigtes Gute, mit einer gewissen Würde ihren Dank zeigt, alles dieses […] zeigt uns die feinen Nüanzen dieses bescheidnen Anstandes.« Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 41f [Hervorhebung von L.T.E.]. Ebenso empfiehlt Siede dem Mann eine bescheidene Stimmführung und Rhetorik: »Wenn Sie über etwas Ihre Meinung sagen, so thun Sie es nie mit einem entscheidenden Tone, sondern, als wenn Sie es der Berichtigung anderer überlassen, z. B. mit der bescheidenen Redensart: sollte das vielleicht nicht so seyn? und dergleichen mehr.« (S. 155) Diese fragende Intonation erscheint bereits bei Wallenburg weiblich gegendert und ist es bis in die gegenwärtigen Populärrhetoriken geblieben.

auf Widerspruch verzichtet, gerne nachgibt, sich lieber belehren lässt, als Andere zu belehren, niemals anderen in die Rede fällt, ihre Gesprächsthemen nach anderen ausrichtet und auch bei tödlicher Langeweile noch freundlich zuhört.721 Dieses Redeideal erscheint u. a. bei Knigge noch als ein geschlechtsneutrales höfliches Ideal, das dem Bürger anempfohlen wird. Wallenburg setzt es als spezifisch weibliches Redeideal ein und betont insbesondere die Relevanz der actio für die sichtbare Darstellung der Bescheidenheit: Mild und sanft ist ihre Gebehrde, Ruhe und Friede liegt in ihrem Blick, gemäßigt ist der Ton ihrer Stimme, und keine Spur von Egoismus und Dünkel liegt in ihrer Rede. Nichts Gebieterisches und Herrschendes verräth sich in ihrem Wesen. Gang und Stellung charakterisirt ihre Bescheidenheit und selbst die Art und Weise, wie sie sich kleidet, verräth es, daß diese Tugend in ihr wohnt, daß sie nicht auffallen, nicht Aufsehen erregen, nicht sich bemerklich machen will. Sie verbirgt sich, ihrer Vorzüge sich bewusst, wie ein Weibchen, das nicht durch Farbenglanz die Augen an sich lockt. Sie schreitet nicht vor, sie tritt zurück. Sie hat selbst einen Schleier, den sie über ihre Vorzüge wirft, damit diese nicht blenden. Der Beifall der Menge ist auf ihrer Seite, Keiner sieht sich in ihrer Nähe verdunkelt, Keiner verliert sich in dem Glanze, den sie um sich verbreitet.722

Die Frau erhält Beifall (und erreicht damit ihr rhetorisches Ziel), wenn sie ihr Selbstbewusstsein nicht in der actio ausstellt, sondern es im Gegensatz ›verschleiert‹. Wallenburgs Text, der ansonsten kontinuierlich und explizit darauf verweist, was alles ›sichtbar‹ werden müsse, operiert hier mit einem ›Schleier‹, der die weiblichen Tugenden nicht unsichtbar werden lässt, sondern durch seine Opazität erst recht zum Vorschein bringt. Bescheidenheit, so wird argumentiert, sei kein Anzeiger mangelnder Fähigkeiten oder mangelnden Selbstvertrauens, sondern bestehe im Gegenteil in der bewussten Verschleierung hervorragender Fähigkeiten und eines ausgeprägten Selbstbewusstseins. So nennt Wallenburg auch nicht die Bescheidenheit als »schätzbarste Eigenschaft« der Frau, sondern die ›bescheidene Dreistigkeit‹.723 Diese Tugend, bestehend aus einer Kombination von Bescheidenheit und dem »rechten Vertrauen zu uns selbst«724, führe, zusammen mit der Kenntnis und Beherrschung des ge-

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Vgl. Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 76. Nur in extremen Situationen ermöglicht Wallenburg die Ausnahme eines weiblichen Widerspruchs: Sollte ein Gespräch mit moralischen Grundsätzen unvereinbar sein oder die Rednerin selbst in ungünstigem Licht erscheinen lassen, ist Widerspruch möglich. »Wenn du in gewissen Punkten mit Andern nicht übereinstimmen darfst und kannst, wenn sie von deiner Gesinnung und von deinem Charakter nicht eine falsche und für dich nachtheilige Meinung fassen sollen, wenn es sogar eine heilige Pflicht für dich ist, zu widersprechen, so geschehe es mit Bescheidenheit, mit Sanftmuth, mit Ruhe und Kaltblütigkeit.« (S. 128) Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 76. Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 77. Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 77. Dabei darf das Selbstvertrauen weder zu stark werden und in Frechheit oder Dummdreistigkeit gipfeln, noch zu gering werden, sonst entstehe der Eindruck von Ängstlichkeit und Blödigkeit.

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sellschaftlichen Umgangs, zu einem idealen, ungezwungen wirkenden Verhalten in Gesellschaft. Wenn der Frau auch unter dem Deckmantel der Bescheidenheit Selbstvertrauen zugestanden wird, so ist es doch die Bescheidenheit – und nicht die Dreistigkeit – die sie öffentlich zu zeigen hat. Die Bescheidenheit zwingt die Frau, kein Aufsehen zu erregen, sich grundsätzlich und freiwillig in die zweite Reihe zu stellen und keine Ansprüche darauf zu erheben, dass ihre Qualitäten wahrgenommen werden: kurz auf Geltungsansprüche oder gar Machtstreben zu verzichten. Gerade der Verzicht auf Geltung wird mit dem Beifall für die Bescheidenheit angespornt und antrainiert. Bescheidenheit ist nun die Königstugend der Frau und zugleich die Tugend, die konsequenterweise jegliche rhetorische Selbstbehauptung in einer agonalen Redesituation notwendig zunichte macht. Wie gefällt man allen? Fazit Dieses Kapitel hat gezeigt, wie die im Verlauf des 18. Jahrhunderts polarisierten Geschlechtscharaktere in die Anstandslehren eingehen, dort im Rahmen geschlechtsdifferenzierter Modelle einer angemessenen actio verhandelt und an normativ bestimmte Redeweisen gebunden werden. Unter der Dauerbeobachtung einer blickgeschulten Gesellschaft, so stellen die Anstandsbücher dar, wird die ›anständige‹ Performanz von Geschlecht zur rhetorischen Aufgabe. Die rhetorische Situation dehnt sich auf jegliche gesellschaftliche Begegnung aus, und die Frage, wie Redner und Rednerinnen ihr ēthos durch ihre actio sichtbar darstellen können, beschäftigt die Anstandsbücher. Ziel der ars conversationis französischen Ursprungs ist die delectatio,725 womit eine zielgerichtete persuasive Intention gerade ausgeschlossen zu sein und durch das Ziel konversationeller Harmonie ersetzt zu werden scheint. Doch von einer Interesselosigkeit der Konversierenden kann nicht die Rede sein. Vielmehr möchte ich betonen, dass die Persuasion auch in der Konversation weiterhin eine wichtige Rolle einnimmt: Zwar geht es in der Tat nicht darum, ein Publikum von einem bestimmten Argument zu überzeugen, allerdings umso mehr darum, das Publikum von sich selbst zu überzeugen. Das ēthos, die Selbstdarstellung in der Rede, nimmt eine überragende Rolle in den Anstandslehren ein. Die Frage, wie jemand vor anderen erscheint, wird als immens wichtig erachtet. Dabei ist allerdings eine geschlechtsspezifische Differenzierung zu beachten. Dem Mann und der Frau, so meine These, wird in den Anstandslehren um 1800 ein unterschiedliches rhetorisches Ziel zugeschrieben: Der Mann will Geltung, die Frau will Zuneigung. Der Mann will sich geltend machen, die Frau will gefallen.726

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Vgl. Henn-Schmölders, Ars conversationis. Zur Geschichte des sprachlichen Umgangs, S. 16. Vgl. zu der Rousseau’schen Begründung des weiblichen Gefallenwollens Kapitel IV.4.3.

In der Gegenüberstellung der beiden Anstandslehren von Siede wird diese differenzierte Zuschreibung überdeutlich: Während Siede beiden Geschlechtern einen ›soliden Anstand‹ anrät, begründet er die Notwendigkeit dieser ›anständigen‹ actio unterschiedlich. »Zu der Kunst sich geltend zu machen, das wichtigste Kapitel der Lebensklugheit, gehört das solide Betragen vorzüglich«727 – erklärt Siede dem Mann. Der Frau teilt er dagegen mit: »Sich solide betragen, empfiehlt überall, und gewinnt Achtung und Liebe.«728 Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass nicht auch der Mann Achtung und Liebe anstreben kann, aber die Frau will sich nicht geltend machen, sondern gefallen – so der Tenor der Anstandsbücher. Während die ›anständige‹ actio für den Mann, wie Siede ausruft, »von so großem Einflusse auf Ihren ganzen Geschäfts- und Wirkungskreis, auf Ihr Glück und Fortkommen«729 ist, kennt die ›anständige‹ actio der Frau solche geschäftlichen Ziele nicht. Siede zitiert zu diesem Thema in seinem Anstandsbuch für Frauen ein ›bekanntes‹ Lied, dessen erste Strophe lautet: Liebenswürdig möcht ich seyn, Jedermann gefallen! Doch, wie nimmt man Herzen ein? Wie gefällt man Allen?730

Diese Verse bringen das Ziel weiblicher Rhetorik um 1800 akkurat auf den Punkt. Gefallen zu wollen wird der Frau als natürliche Zielsetzung zugeschrieben. »Aufblühende Mädchen! Ihnen Allen weih ich dieses Buch. Sie fangen die schöne Blüthenzeit des Lebens an, und es muß Ihnen natürlich Wunsch und Bestreben seyn zu gefallen.«731 So beginnt Siede seinen Anstandsratgeber, um eben diesen Wunsch zu erfüllen: Siede erklärt, wie die Frau gefallen kann. Die Anstandslehren behaupten:

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Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 9. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 46. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 40. Auf die erste Strophe folgt: »Ists die Stirn, die flekkenlos,/ Schmeichelnd Haar umziehet?/ Eine Wange, wo ein Ros/ Unter Lilien blühet?/ Ists ein Auge […], Zähne […], Lippen […], Körper […], Haut […]? Nein! Nur, wo mit Edelmuth/ Sich die Stirne schmükket,/ Menschenlieb in voller Gluth,/ Aus den Augen blikket;/ Wo im Auge hell und rein/ Engel sich verklären;/ Wie ein Engel gut zu seyn,/ Wang und Mund begehren./ Wo Bewegung, Stimme, Gang,/ Alles harmoniret und ein reizender Gesang,/ Zum Entzükken führet […].« Zum weiteren Entzücken führen Bescheidenheit, der Sprache Lieblichkeit, Sittsamkeit, Natürlichkeit, Freundlichkeit, Einfachheit, Fleiß, gepries’ne Häuslichkeit und Reinlichkeit. Siede erklärt, dieses ›bekannte Lied‹ selbst um einige Strophen ergänzt zu haben. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 13. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, unpag. Vorrede.

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Die Frau gefällt nicht in erster Linie durch ihre Schönheit, sondern durch ihren ›schönen Anstand‹, also ihre ästhetische actio, die ihre körperliche Schönheit erst zur Geltung bringt. In Wallenburgs Anstandslehre erscheint dieses Gefallenwollen der Frau nicht mehr als jenes »unschuldige[] und natürliche[] Bestreben zu gefallen«732 , als das es Siede dargestellt hat, sondern als weibliche Pflicht gegenüber einer Öffentlichkeit. »Wir betrachten die Glieder einer Gesellschaft wie Wächter, und wenn wir auf der einen Seite Alles thun, um ihnen zu gefallen, so meiden wir auf der andern Seite, um ihnen nicht zu mißfallen, jeden Verstoß gegen den Anstand.«733 Wallenburg inszeniert eine bedrohliche Überwachungsgesellschaft, die ungefälliges, nicht normkonformes Verhalten mit dem Ausschluss verurteilt.734 Der weibliche körperliche Anstand – obschon er sich in engen, zumeist häuslichen Kreisen abspielt – gilt in dieser Überwachungsgesellschaft nicht als privat, sondern wird als öffentliche Aufgabe dargestellt: Nicht für uns allein und nicht für die engen Grenzen unseres Familienkreises beweisen wir gebildete Sitten, ein abgeschliffenes Betragen, das, was wir Anstand nennen, sondern für das menschliche Leben, für die Gesellschaft gehören wir mit ihm [sic]. Es ist Andern nicht gleichgültig und auch für uns nicht ohne wichtige Folgen, in welcher Gestalt wir ihnen erscheinen, und in welchem Lichte wir uns ihnen zeigen, ob in einem solchen, das ihnen gefällt oder mißfällt. Das Urtheil des Publikums kann unserm Geschlechte insbesondere nicht gleichgültig seyn, und der unverheiratheten Jungfrau am wenigsten. Wir sollten die Mittel zu erfinden, die Wege einzuschlagen suchen, wodurch und auf welchen wir des Beifalls, der Zuneigung und des Wohlwollens Anderer gewiß werden.735

Während gefallen zu wollen, Beifall, Zuneigung und Wohlwollen anzustreben, vor allem die Seite der Selbstinszenierung durch die Rednerin betont, legt die Rede

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Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 47. Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 194. Verstößt die Frau absichtlich oder unabsichtlich gegen den Anstand, droht ihr die gesellschaftliche Ächtung: »Das Nichtachten desselben [des Anstands], das Hinwegsetzen über denselben, kann man sich nicht erlauben, wenn man nicht auf eine höchst empfindliche Weise dafür büßen will. Wem er fehlt, dem rechnet man es als eine unverzeihliche Schuld, wie eine Art von Fehler und Laster an, das eine strenge Rüge verdient. Die Verstöße gegen Anstand und Wohlanstand können sogar dem, der sie begeht, Achtung und Liebe rauben, die er seiner sonstigen trefflichen Eigenschaften wegen gar sehr verdient. Daher muß ich es meinen Geschlechtsgenossinnen ernstlich rathen, wenn sie nicht ihr Glück verscherzen, ihre Tugend und Unschuld verdächtig machen, sich harten Urtheilen blosstellen wollen, sich um die genaue Kenntniß des Üblichen wohl zu bemühen, damit sie es nicht verletzen und dagegen verstoßen, weil es Viele für das Wichtigste, Unerlässliche halten, was sie berechtigt sind, von jedem Menschen zu fordern, der in den Gesellschaften erscheint, die sie besuchen.« Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 20f. Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 28f.

von dem ›Urteil der Gesellschaft‹ den Fokus auf das Publikum, in dessen Blick sich entscheidet, was anständig oder unanständig ist. Diese Seite der visuellen Rezeption – zusammen mit dem daran geknüpften ›Urteil‹ – wird bei Wallenburg besonders hervorgehoben. Der gesellschaftliche Blick erscheint allumfassend: in Gesellschaft, zu Hause, ja selbst auf Reisen736 oder ganz allein737 funktioniert der kontrollierende Blick als disziplinierendes Moment. Der gesellschaftliche Blick liegt dabei besonders auf der Frau, zumal auf der unverheirateten, der ein Fehler des decorum noch weniger als dem Mann verziehen wird. Gefällt die Frau mit ihrer sichtbaren Performanz, so erhält sie ein ›Ansehen‹ – ein Begriff, der die der öffentlichen Meinung zugrunde liegende visuelle Rezeption betont – beziehungsweise einen ›guten Ruf‹. Der Ruf der Frau spielt in Wallenburgs Anstandslehre eine zentrale Rolle, ebenso der Ruf der (männlichen und weiblichen) Gesprächspartner, mit denen die Frau umgeht. Noch bevor die Frau die actio eines anderen Menschen sieht und ihn danach beurteilen kann, wird sie seinen Ruf kennen und ihm dementsprechend rhetorisch begegnen. Der Ruf hat, so meine These, eine besondere Aufgabe: Das gemeinschaftliche Urteil ›aller‹ über einen Menschen gleicht eine Leerstelle aus, die der Beobachtung der actio immer eingeschrieben ist: Diese besteht in der Unsicherheit des Einzelnen, ob die sichtbare actio eines Menschen, seine äußere Fassade, auch wirklich vollständig und irrtumsfrei auf sein Inneres schließen lässt. Zu groß erscheint immer die Gefahr einer Verstellung auf Seiten des Redners/der Rednerin oder der Täuschung auf der Seite des Publikums. So schreibt Wallenburg über ›unedle‹, sich verstellende Jünglinge, dass sie sich »oft« bereits durch ihr Auftreten, ihre Mimik, ihre Augen und ihren Anzug verrieten – aber eben nicht immer. Mehr Sicherheit verspricht dagegen das kollektive Urteil des Publikums über das ›wahre Innere‹ eines Jünglings: »Das Urtheil des Publikums, was selten trügt, kündigt uns ihren Unwerth, ihre Unwürde, ihre Verwerflichkeit an.«738 Die Multiplikation der Urteilenden und der Redesituationen, aufgrund derer geurteilt wird, erhöht zumindest die Wahrscheinlichkeit, den richtigen Schluss vom Äußeren auf das Innere eines Menschen zu ziehen.

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»Auf Reisen wähnt man freier seyn, rücksichtsloser handeln und sich kleine Verletzungen des Anstands verstatten zu können.« – Aber, so fährt Wallenburg fort, ganz im Gegenteil: Auch hier sieht das Auge der Gesellschaft alles und kommt der nachlässigen, den Anstand einmal nicht so genau nehmenden jungen Frau nur zu leicht »auf die Spur«. Der »Wächter« Publikum wacht auch hier, ein Entkommen ist nirgendwo möglich. Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 194. Da der Anstand nach Wallenburg das »Bleibende, Beständige in der körperlichen Haltung eines Menschen« ist, also ein nach Regeln geformter körperlicher Habitus, kann die Frau diesen Habitus auch alleine nicht ablegen. Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 8. Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 219. Ebenso unterscheidet Wallenburg zwischen der Jungfrau mit tadellosem und der mit nicht ganz reinem Ruf.

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Die Redesituation »in Gesellschaften, wo so viele Augen und Ohren auf uns lauern«739, wird so zu einem Schauplatz, an dem die Frau ihren Ruf rhetorisch herzustellen hat. Der Ruf muss damit nicht nur soziologisch als Kontrollinstanz der Gesellschaft über die (sexuelle) Anständigkeit der Frau oder psychologisch als Internalisierung dieses Kontrollblicks und darauf folgende Selbstdisziplinierung verstanden werden, sondern auch als rhetorische Aufgabe.740 Allen zu gefallen, also der ›Allgemeinheit‹, die über einen Ruf entscheidet, ist die rhetorische Aufgabe der Frau – denn nur, wenn sie das ganze Publikum (von und mit ihrem Anstand) überzeugen kann, ist ihr Ruf, das Urteil der Allgemeinheit, sicher. Anders als der Mann, der seinen guten Ruf auch in beruflichen ›Taten‹ beweist, ist die Frau allein auf gesellige Redesituationen angewiesen: »Bedenke, das ist eine goldene Regel, daß man deinen Werth nach deinen Worten abmisst und daß man ihn nicht sowohl nach Thaten wiegt.«741 Damit besteht der ›Wert‹ der Frau in ihrer rhetorischen Selbstdarstellungs- und Überzeugungsfähigkeit. Wie die Frau mit einer um 1800 in den Anstandslehren geschlechtsspezifisch formulierten actio gefallen kann, hat dieses Kapitel gezeigt: durch die Bescheidenheit, die Zurücknahme ihrer selbst, die Verschleierung ihrer Fähigkeiten. Die gelungene actio der Anständigen ist gerade die, die keine Geltungsansprüche zeigt. Zu leisten ist die sichtbare, ästhetische Inszenierung der eigenen Anspruchslosigkeit. Der (mit dem antiken Begriff) ›glänzende‹ Redeauftritt wäre eben der, der nicht glänzt. IV.5.5 Anstand üben: Verkörperungen Ziel des vorhergehenden Kapitels war es zu zeigen, wie die polarisierten Geschlechtscharaktere um 1800 in die Anstandslehren eingehen und diese geschlechtsdifferenzierte actio-Modelle ausbilden. Die Anstandslehren entwerfen allerdings nicht nur ein geschlechtsspezifisches Ideal, wie die männliche oder weibliche actio auszusehen hat, sie beschreiben auch, wie dieses Ideal erreicht werden sollte. Dabei geht es nicht nur um die Vermittlung eines rationalen Wissens, sondern um die körperliche Einübung und Verankerung dieses Wissens. Üben, üben, üben! – lautet der Imperativ der Anstandslehren. Der Fokus dieses Kapitels liegt auf solchen ›Übungsanleitungen‹. Anstandsbücher machen Teile der rhetorischen actio-Lehre für bürgerliche Frauen verfügbar, indem sie die Techniken der Vermittlung und Einübung, die bereits aus der Antike bekannt sind, weitergeben. Im Folgenden soll auf die Beschreibung dieser rhetorischen Übungen eingegangen werden, die ich als Techniken der ›Produktion‹ des rhetorischen Subjekts verstehe.742 Im Kapitel zur 739 740 741 742

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Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 94. Zum Ruf als rhetorische Aufgabe und der Frau als Gestalterin (nicht Opfer) ihres Rufs vgl. meine Rousseau-Lektüre in Kapitel IV.4.3. Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 59f. Vgl. Kapitel II.

actio in der alten Rhetorik wurden drei Techniken der Subjektformierung herausgearbeitet, die auf beispielhafte Weise die Vermittlung rhetorischen Wissens, die körperliche actio und die Geschlechterperformanz verknüpfen: erstens die imitatio, die Nachahmung eines Vorbilds, zweitens Stimmübungen wie die declamatio, die spielerische Übungsrede vor Publikum, in der mögliche Selbstsetzungen erprobt und eingeübt werden, und drittens die sportliche Ertüchtigung, die als Teil der rhetorischen Erziehung auf die Relevanz des Körpers hinweist und diesen als beherrschten und trainierten hervorbringen soll.743 Im Folgenden will ich zeigen, inwiefern diese in der ›Rhetorik als Körperbildungsmacht‹ verankerten pädagogischen Techniken um 1800 erneut aufgerufen und durch solche Übungen ergänzt werden, die einer betonten Visualität Rechnung tragen: Übungen vor dem Spiegel und schauspielerische Übungen. Damit komme ich auf meine eingangs formulierte Leitfrage zurück, inwiefern die rhetorische actio-Lehre dazu beiträgt, dass und wie Subjekte sich auf eine geschlechtsspezifische Art bilden. Zugrunde liegt die These, dass die Anstandslehre, indem sie das ideale Verhältnis der Redeweise zum Geschlecht des Redners beziehungsweise der Rednerin normt und Anweisungen zur Einübung – ja explizit zur Verkörperung – dieser Redeweisen gibt, zugleich eine spezifische Anleitung zu einer Performanz von Geschlecht darstellt. Die Verbindung von Performanz und Performativität wird durch die Übungsanleitungen in den Anstandslehren sichtbar. Nicht die einzelne Performanz steht im Fokus der Anstandslehren, sondern die kontinuierlich wiederholte Übung. Versteht man Performativität mit Butler als eine ständig wiederholende und zitierende Praxis des Normenfolgens, durch die der Diskurs die Wirkungen erzeugt, die er benennt744, können die geschlechtlichen Körper der Rednerin und des Redners als Effekt dieser performativen (Bezeichnungs-)Praxis der Anstandslehren gelesen werden. Während Butler Performativität gerade nicht als absichtsvollen Akt begreift, sondern als eine intentionslose »Re-Inszenierung und ein Wieder-Erleben eines bereits gesellschaftlich etablierten Bedeutungskomplexes – und zugleich die […] ritualisierte Form seiner Legitimation«745 versteht, machen die Anstandsbücher lesbar, wie der pädagogische Diskurs dazu aufruft, den Imperativ, sich wie ein Mann oder eine Frau aufzuführen, wissentlich und willentlich umzusetzen. Diese Übungsanleitungen, die zu einer aktiven und wirkungsorientierten Bildung des eigenen Körpers aufrufen, nehmen einen derartig zentralen Raum in den Anstandslehren – dieser so weit verbreiteten Textgattung – ein, dass Butlers Theorie

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Vgl. Kapitel III.3.3; 3.4; 3.5; 3.6; 3.7. Butler, Körper von Gewicht, S. 22. Butler, Unbehagen der Geschlechter, S. 206. Butler wehrt sich in Körper von Gewicht noch einmal explizit gegen die irrige Annahme, sie habe ein »absichtsvoll und instrumentell vorgehendes Subjekt« entworfen, das seine Geschlechtsidentität wie Kleider aus dem Schrank nehmen könne. Es sei kein »wählendes«, »entscheidendes« Subjekt vorgängig, sondern vielmehr werde das Subjekt durch die »erzwungene«, »ritualisierte« Wiederholung von Normen allererst hervorgebracht. Vgl. Körper von Gewicht, S. 14f.

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zumindest ergänzt werden muss: In einem fundamentalen Bereich des menschlichen Lebens – in der Rede und im geselligen Umgang – bewirken diese Texte, dass Normen des geschlechtlichen Auftretens so lange bewusst wiederholend eingeübt werden, bis sie als zweite Natur erscheinen. Zu der intentionslosen Re-Inszenierung kommt also eine intentionale Re-Inszenierung mit dem Ziel wiederum intentionslos zu erscheinen. Die Anstandslehren machen die kontinuierliche Wiederholung als gezielt einsetzbares Instrument einer performativen Verkörperung explizit und verstärken insofern die Implementierung bestimmter normativer Bedeutungen. Jedoch ist den Anstandslehren nicht nur an einer Zivilisierung gelegen, wie sie Norbert Elias beschreibt, d. h. an einer Internalisierung von Fremdzwängen zu einer permanenten Selbstkontrolle und Mäßigung der Affekte und des Körpers.746 Vielmehr ist mit Butler wiederum hervorzuheben, dass die Anstandslehren – indem sie rhetorische Subjekte allererst herstellen – auch an deren rhetorischer Ermächtigung teilhaben. Dass die Anstandslehren diese Übungen so in den Mittelpunkt stellen, ist keineswegs selbstverständlich – gerade vor dem Hintergrund einer durch die Rousseau-Rezeption beeinflussten Pädagogik, die die Rückkehr zu einem unverdorbenen Naturzustand anstrebt. Stattdessen wird in den Anleitungen zur kontinuierlichen Nachahmung, Erprobung, Wiederholung und öffentlichen Zurschaustellung geschlechtlich spezifischer Redeweisen die körperliche Disziplinierung des rhetorischen Subjekts lesbar, das sich durch die wiederholte Aufführung von Konventionen allererst konstituiert. Die Anstandslehren können so als ein kodifizierter Definitionsprozess von Subjektpositionen verstanden werden, die im rhetorischen Diskurs um 1800 eingenommen werden können. Die Anstandsbücher leisten mit großem Aufwand Überzeugungsarbeit, wie wichtig die von ihnen vermittelten Regeln seien. Zu der Bildung – dem bürgerlichen Identifizierungsmerkmal schlechthin – gehört nicht nur die des Herzens und des Geistes, sondern auch die des Körpers. So fordern die Anstandslehren, dass der tüchtige Mann und die tugendhafte Frau ›Bildungslust‹ aufbringen sollten, um die vermittelten Regeln aufzugreifen, einzuüben und zu ihrer ›zweiten Natur‹ zu machen. In jedem Kapitel zu den einzelnen Bereichen der actio, zu Gestik, Mimik, Stimmführung, werden immer auch die entsprechenden Übungen vorgeschrieben,

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Vgl. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. In: Elias, Gesammelte Schriften, hg. von Heike Hammer u. a., Bd. 3.1 und Bd. 3.2, Frankfurt a. M. 1997. Elias beschreibt den Zivilisationsprozess als Entwicklung von Fremdzwängen zum Selbstzwang anhand normativer Texte wie Tischzuchten, Manierenbücher und Erziehungsschriften im Zeitraum vom 12. bis zum 17. Jahrhundert. Im Mittelpunkt dieser ›Zivilisierung‹ steht die zunehmende SelbstKontrolle und -Regulierung der Affekte und des Körpers. Vgl. Rüdiger Schnell, Kritische Überlegungen zur Zivilisationstheorie von Norbert Elias. In: Zivilisationsprozesse. Zu Erziehungsschriften in der Vormoderne, hg. von Schnell, Köln, Weimar, Wien 2004, S. 21–84.

wie die ›anständige‹ actio zu erreichen sei. Kurz: Die Anstandslehren vermitteln einen pädagogischen Imperativ, den beschriebenen geschlechtsspezifischen Habitus zu inkorporieren. Es ist bemerkenswert, dass hier auch der Frau erklärt wird, wie sie rhetorische Fähigkeiten im Bereich der actio zu erwerben hat, während ihr der Zugang zu den klassischen Institutionen, die rhetorische Kenntnisse und Fähigkeiten vermitteln, verwehrt ist. Die Anstandslehren schlagen ihr einen anderen Weg vor, eine angemessene actio zu erwerben: durch die imitatio ausgewählter Vorbilder, durch eine wohl gewählte Lektüre, durch das Nacherzählen des Gelesenen, durch den Austausch mit Gebildeten, durch die Übung vor dem Spiegel oder vor kritischen Freundinnen, durch kleine Schauspiele im Familienkreis, durch gezielte Stimmübungen und durch Tanzübungen. Bevor ich die einzelnen Übungstechniken und ihre geschlechtlichen Implikationen beschreibe, möchte ich auf die Anekdote zurückkommen, die ich im Einleitungskapitel zitiert habe: Ich habe einen jungen Mann gekannt, der mit der Bildung seines Herzens und Verstandes auch zugleich die Bildung seines Äußern vereinigte. Oft, wenn er allein war, stellte er die Stühle in seinem Zimmer so, als wenn er Gesellschaft hätte; ging in ein Nebengemach, trat mit dem Hute in der Hand herein, machte eine Verbeugung gegen die Stühle, sprach mit ihnen, unterhielt sie, sagte ihnen Höflichkeiten, und empfahl sich denselben. Ein ihm gegenüber wohnender Bürger sah mehrmahlen diesen Übungen des jungen Mannes zu, und war sehr geneigt, denselben für verrückt zu halten. Er konnte nicht begreifen, wie ein vernünftiger Mensch solche Possen treiben könne. ›Der junge Herr ist ein Narr, sagte er, darauf lebe und sterbe ich.‹ Ich unterrichtete hievon meinen Freund, der nun, um seinem Nachbarn kein Ärgerniß mehr zu geben, die Fenstervorhänge zuzog, seine Übungen fortsetzte, und der liebenswürdigste Gesellschafter wurde.747

Wenzels Anekdote erzählt vom Herstellungsverfahren des vollendeten Redners, dessen ›äußere Bildung‹ einen notwendigen Bestandteil der bürgerlichen Erziehung darstellt. Diese Erziehung geht nicht mit einem restriktiven Fremdzwang einher, vielmehr wird vorausgesetzt, dass sich das bürgerliche ›bildungswillige‹ Subjekt selbst zu bilden vermag. Gerade die ›äußere Bildung‹ – die Beherrschung verbaler und nonverbaler, körperlicher Umgangsformen – bedarf fortgesetzter, kontinuierlich wiederholter Übungen. Dass es sich bei dieser Übung um die Habitualisierung einer (spezifisch bürgerlichen, männlichen) Performance handelt, zeigt der Blick hinter die Kulissen, den uns Wenzel zusammen mit dem heimlichen Zuschauer gestattet, bevor die Gardinen wieder zugezogen werden. Der theatralische Herstellungsprozess des jungen Mannes, seine Selbst-Erprobung und -Übung muss, so macht die Anekdote deutlich, verborgen werden, damit der formvollendete junge Mann dann vollkommen ›natürlich‹ erscheinen kann. Die Anstandslehren sind gerade deshalb so aussagekräftig für die Analyse der historischen Performativität von Geschlecht, weil sie nicht nur das vollendete Ideal darstellen, sondern diesen 747

Wenzel, Der Mann von Welt, S. 46f.

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Übungsprozess explizit machen. Die Texte machen historische Praktiken sichtbar, die ansonsten hinter ›Gardinen der Naturalisierung‹ verschwinden. Die ›künstlichen‹ Techniken der Verkörperung werden versteckt, damit der ›gemachte Körper‹ als scheinbar ›natürlicher‹ sichtbar werden kann. Frequens imitatio »Schon die Bewegungen und Übungen der Stimme und des Atems, des ganzen Körpers und sogar der Zunge bedürfen nicht so sehr der Theorie wie der Anstrengung. Dabei gilt es, sorgsam darauf zu achten, wen wir da nachahmen, wem wir ähnlich werden wollen«, schreibt Cicero.748 Die Beherrschung einer angemessenen actio beruht schon in der Antike nicht nur auf theoretischem Wissen, sondern auch auf praktischer Übung, wobei die Nachahmung (imitatio) eine herausragende Rolle spielt.749 Die Übungstechnik der imitatio funktioniert nach Cicero so, dass der Redner sich ein Vorbild wählt, es genau beobachtet, ausgesuchte Züge nachahmt, sich diese durch beständige Übung zu eigen macht und schließlich ›verkörpert‹.750 Diese ›Verkörperung‹ geht über eine oberflächlich Anpassung hinaus: Der Redner handelt nicht nur in Übereinstimmung mit bestimmten, kulturell als ›vorbildlich‹ bewerteten Stimmen und Gesten, sondern er ist selbst diese sedimentierte wiederholte Aktivität. Insofern, so argumentieren sowohl die antiken Rhetoriken als auch die Anstandslehren, unterscheidet sich der Redner, der dauerhaft bestimmte Tugenden nachahmt, vom Schauspieler, der dies jeweils nur kurz im Rahmen einer Rolle tut. Durch tägliche Übung wird das Erlernte zur Gewohnheit und die Gewohnheit zur ›zweiten Natur‹.751 Zugrunde liegt eine Vorstellung, wie sie bereits Quintilian in wirkmächtige Worte gefasst hat: »[H]äufige Nachahmung färbt auf die Sitten ab (frequens imi-

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Cic. De or. I, 156. Zur imitatio in der antiken Rhetorik vgl. Kapitel III.3.5. Der Aufruf zur imitatio scheint auch dazu genutzt zu werden, die Anstandslehren von der Notwendigkeit einer detaillierten Beschreibung der idealen actio zu entbinden. So empfiehlt Siede der Frau die Nachahmung der actio eines guten Vorbilds mit den Worten: »Beobachten Sie diese genau; es läßt sich nur absehen und dann nachmachen, aber nicht deutlich hier beschreiben.« Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 37. Damit weist der Text auf das bereits von der Rhetorica ad Herennium formulierte Problem hin, die Körperlichkeit der Aufführung in Schrift zu fassen: »Ich bin mir wohl bewußt, welch große Aufgabe ich übernommen habe, da ich versuchte, die Haltungen des Körpers mit Worten auszudrücken und die Stimmlagen durch eine schriftliche Darlegung nachzuahmen.« Rhet. Her. III, 27. Cic. De or. II, 89f. Über Gewohnheiten schreibt Aristoteles, dass »das, woran man sich gewöhnt hat, geschieht, als sei es schon von Natur aus so entstanden. Die Gewohnheit ist nämlich in gewisser Hinsicht der Natur ähnlich, denn nah beieinander liegen ›oft‹ und ›immer‹, Natur aber bedeutet in etwa ›immer‹, Gewohnheit ›oft‹.« Arist. Rhet. I, 11, 1370a (hier zit. n. der Übersetzung von Krapinger). Vgl. Kapitel III.3.5.

tatio transit in mores)«752 . Dieser Satz verschärft sich im 18. Jahrhundert vor dem Hintergrund der Physiognomie insofern, als die Anstandslehren davon ausgehen, häufige Nachahmung färbe nicht nur auf die Sitten beziehungsweise den Charakter ab, sondern forme dauerhaft die Gesichtszüge. So behauptet Siede, alle seine Regeln beruhten »auf dem wahren Sazze: daß jeder Zug, der oft wiederholt wird, sich dem Gesichte einprägt und fest wird, und die übrigen verdrängt oder ganz auslöscht.«753 Dies geht so weit, dass Siede behauptet, wenn man täglich an einer Kindernase ziehe, werde diese länger.754 Siede geht tatsächlich von einer realen physischen Veränderung durch Gewohnheiten aus. Die Materialität des Körpers erscheint als Ergebnis des Prozesses einer Materialisierung durch wiederholte Einübung, die im Laufe der Zeit stabil wird. Es ist der Grundgedanke aller Anstandsregeln, dass die ständige Wiederholung eines schönen (und das heißt immer auch: anständigen) Ausdrucks schön macht, und dementsprechend erscheint das Ziel erreichbar, schön zu werden. Aus dem Glauben an die ›Machbarkeit‹ des Körpers folgen zwei verschiedene Techniken der Einprägung des Anstands: erstens die Arbeit an der inneren Verfassung (die ›Veredelung des Herzens‹) und zweitens die an der äußeren Erscheinung (vor allem durch die imitatio). Wenn sich jeder Zug, der oft wiederholt wird, dem Gesicht einprägt, ist zunächst eine Gefühlskontrolle notwendig, damit sich keine falschen Züge eingraben: So lautet die erste Forderung der Anstandslehren, starke, hässliche Leidenschaften zu vermeiden, einen gleich bleibenden Charakter zu zeigen und Tugenden zu erwerben. Wie bereits beschrieben, bleiben die Anstandsbücher nicht bei der Forderung einer ›Veredelung des Herzens‹ – sie trauen einer ›natürlichen‹ Kongruenz von Mimik und Herz nicht, halten im Gegenteil eine Diskongruenz grundsätzlich für möglich, in welchem Fall sie tägliche »Gegenübungen« vor dem Spiegel empfehlen. Die ›anständige‹ Miene ist also zum zweiten, und hier liegt die eigentliche Aufmerksamkeit der Anstandslehren, Ergebnis einer Nachahmung solcher Personen, die diese Miene haben, und einer regelmäßigen Selbstkontrolle dieser nachgeahmten Miene im Spiegel. Nachgeahmt werden Menschen, deren actio »sich des allgemeinen Beifalls erfreu[t]«755. Als Vorbild taugen also nur solche Personen, die die Zustimmung einer Mehrheit erhalten, was als Anzeiger der gesellschaftlichen Konformität ebenso wie der rhetorischen Wirksamkeit verstanden werden kann. Die Nachahmung eines allgemein gefallenden Menschen führt zu einer kulturellen Homogenisierung der actio: sie wird normiert, zitiert und tradiert.

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Quint. Inst. I, 11, 2. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 53. Vgl. fast wortgleich Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 62. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 66. Wenzel, Der Mann von Welt, S. 32.

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Solche sozial legitimierten und kulturell normierten Vor-Bilder können nicht nur Personen, sondern – im buchstäblichen Sinn – auch Bilder sein. Siede weiß von Frauen (und Männern) zu berichten, die ihr Gesicht nach einem Gemälde geformt haben: Es giebt mehrere Damen, welche diese Verbesserungen und Veredlungen ihrer Gesichtszüge nach Gemählden geübt haben, welche die beliebten Züge des Sanften, Liebevollen, Empfehlenden und Anreizenden haben; sie versuchten die Nachahmung dieser Züge vor ihrem Spiegel so oft, daß sie am Ende dieselben sich völlig zu eigen machten, und die unvortheilhafteren von ihrem Gesichte ganz verdrängten.756

Diese kuriose imitatio verweist auf die Künstlichkeit, ja auf das Künstlerische, Ästhetische der Selbstbildung und zeigt den Einfluss von kulturellen (Leit-)Bildern, die »beliebte« modische Tugenden definieren und zirkulieren lassen. Die imitatio einer anderen Person oder die eines Bildes verweisen auf die gleiche Struktur: die visuelle Rezeption eines Ideals und die identifikatorische Selbstsetzung nach dieser Imago. Zur Bestätigung dieser Imago ist sowohl der tägliche Blick in den Spiegel als auch der Blick des spiegelnden Freundes/der Freundin nötig.757 Beide dienen der Verifizierung einer gelungenen Identifikation. Siede empfiehlt, »täglich seinen Anstand in Miene, Stellung und Bewegung vor dem Spiegel« zu üben, um sie sich ›anzueignen‹: Man wird es auch hier wiederum nicht eitel nennen, wenn Sie diese Übungen [zur Handgestik], wenn Sie allein sind und nicht beobachtet werden, Anfangs öfter vor Ihrem Spiegel vornehmen, Gespräche oder Reden dazu ablesen, oder sie in Gegenwart Ihrer Freunde, vorzüglich solcher, die darin Kenntniß haben, halten, sich so darin immer mehr routiniren und sie sich zu eigen machen.758

Auch Wenzel rät zu actio-Übungen mit einem gebildeten Freund, den man als Fremden betrachten soll und vor dem »man mit Beifall erscheinen will. Man rede ihn an, spreche mit ihm, und erzähle ihm etwas, ahme dabei schöne Bewegungen nach, und der kritische Freund wird uns bald entdecken, woran es uns noch gebricht, welche Verfeinerung unsere Wendungen noch nöthig haben.«759 Dieselben Regeln gelten für die Frau: Siede verlangt von ihr, andere Frauen mit einem »schö-

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Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 66. »Durch die Nachahmung des Empfehlenden an andern, und durch Hülfe der Critik, die uns unser Freund nicht vorenthalten, und gegen welche uns die Eigenliebe im Spiegel nicht unempfindlich machen darf, werden wir bald unserer Physiognomie den Ausdruck eines veredelten Herzens und Verstandes geben.« Wenzel, Der Mann von Welt, S. 46, S. 32. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 32, S. 39f. Wenzel, Der Mann von Welt, S. 46.

nen gebildeten Anstand« zu beobachten und sich deren actio zu eigen zu machen, indem sie diese häufig in der Einsamkeit und vor dem Spiegel übt. Die Übung vor dem Spiegel verrate dabei nicht Eitelkeit (ein Verdacht, dem auch die männliche Selbstspiegelung unterliegt), sondern Pflichterfüllung.760 Der Selbstentwurf bedarf in seiner Umsetzung einer visuellen Kontrolle. Der Blick in den Spiegel ist als eine Technik zu beschreiben, die die Überprüfung der imitatio erlaubt. Die Nachahmung eines Anderen/einer Anderen, die Kontrolle durch einen Anderen/ eine Andere und die Bestätigung im Spiegel sind die drei Bestandteile einer gelingenden imitatio. Bemerkenswert ist, dass die Frau ebenso in diese Technik eingebunden wird wie der Mann: Die Frau wird als Subjekt angesprochen, das für seine Selbstherstellung und -darstellung verantwortlich gemacht wird. Jacques Lacan hat die visuelle Bestätigung des eigenen Selbstentwurfs im Spiegel beziehungsweise im Blick des Anderen als Grundstruktur der Identifikation beschrieben.761 Lacans Subjekt sieht im Spiegel sein ideales Körperbild und formt sich danach. Um sich dieser idealen Selbst-Setzung zu vergewissern, begehrt das Subjekt die Bestätigung im Blick des Anderen. Aus einer gender-orientierten Perspektive ist die Umkehrung der traditionellen Repräsentationslogik relevant: »Erst das Bild konstituiert das Abgebildete und verweist damit auf die unhintergehbare Relevanz kultureller Bilder für die Konstruktion von (Geschlechts-)Identitäten.«762 Vor diesem Hintergrund macht auch die Spiegel-imitatio in den Anstandslehren des 18. Jahrhunderts deutlich, dass sich hier nicht ein geschlechtliches Selbst ›erkennt‹, sondern vielmehr kulturspezifisch entwirft. Ziel der imitatio ist es, dass auch die nachgeahmten Züge den Anschein von Natürlichkeit erwecken. Eine immense Relevanz messen die Anstandslehren dabei der kontinuierlichen Wiederholung bei, weshalb sie nicht müde werden, »lange und unverdrossene Übung«763 vorzuschreiben. Erst durch diese fortwährende Wiederholung wird ein Zug zur ›zweiten Natur‹ und erscheint den Beobachtern vollkommen natürlich. Dieses natürliche Aussehen der künstlich durch die imitatio erworbenen Erscheinung ist die eigentliche Kunst. Immer besteht die Gefahr, und zwar sowohl beim Mann als auch bei der Frau, dass die Nachahmung »in tadelnswerthe und lächerliche Nachäfferei«764 ausarte und als theatralische Verstellung wahrgenommen werde. Stattdessen fordert Wallenburg, dass alles Imitierte »einen Anstrich von

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Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 22f. Vgl. Lacan, Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint; dazu Kapitel III.4.2. Stephanie Kratz, Spiegel/Spiegelstadium. In: Metzler Lexikon Gender Studies/Geschlechterforschung. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, hg. von Renate Kroll, Stuttgart, Weimar 2002, S. 374. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 66. Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 142.

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Eigenthümlichkeit bekommen [müsse], so, daß Andere auf die Meinung geführt werden, selbst die angenommenen Eigenschaften seyen uns natürlich.«765 Wie immer, wenn die Anstandslehren einen solchen problematischen Vermittlungsversuch zwischen ars und natura unternehmen, bleibt die konkrete Anleitung aus, wie eine solche Naturalisierung des durch die imitatio Erworbenen umzusetzen sei. Wichtig für den Anschein von Natürlichkeit ist auch die Wahl des Vorbilds, wobei sich eine geschlechtliche Differenzierung ergibt: Während der Mann einen ›gebildeten Mann von Welt‹ und die Frau ein ›edles Muster‹ ihres Geschlechts nachahmen soll, darf der Mann, so Wenzel, auch auf einen gebildeten Schauspieler zurückgreifen.766 Die Frau hat sich jedoch gerade vor einer Schauspielerin als Vorbild zu hüten: »Nur nie gekünstelte theatralische Stellungen« nachahmen, warnt Siede.767 Zwar wird die als habituell verstellt geltende Frau wiederholt – und mehr als der Mann – gewarnt, sich nicht affektiert zu verhalten, die imitatio, diese im Grunde theatralische Technik der Nachahmung jedoch wird ihr überraschenderweise ebenso empfohlen wie dem Mann.768 Solange die Frau eine Frau und der Mann einen Mann nachahmt und alle Vorbilder, die nicht ›allgemeinen Beifall‹ (wie die Schauspielerin) erlangen, verworfen werden, erscheint die Nachahmung von Vorbildern für die Frau nicht nur unschädlich, sondern förderlich. Eine solchermaßen durch die Konvention legitimierte imitatio verschaltet die Performanz bestimmter Redeweisen mit einer gesellschaftskonformen Performanz von Geschlecht.

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Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 142. Wenzel, Der Mann von Welt, S. 44. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 37. Dies überrascht, weil die Frau als Schauspielerin im 18. Jahrhundert insofern skandalös ist, da sie eben das Natürlichkeitsparadigma nachhaltig stört: »Die substantialistisch gefasste Natur des Weibes droht sich in ein Ensemble beliebiger, willkürlich platzierter Zeichen und austauschbarer Rollen aufzulösen; die Geschlechtscharakteranthropologie sieht sich an entscheidender Stelle dementiert. Das Natürlichste weiblicher Natur, die Körpersprache würde verschwinden. Denn der naiv-authentische weibliche Ausdruck, jener Katalysator ursprünglich-eigentlicher und transparent-wahrer Verhältnisse, wird angesichts der Schauspielerin lesbar als ›Ausdruck‹, der nicht natürlichen Notwendigkeiten gehorcht, sondern als Resultat der eloquentia corporis gelesen werden muss. Damit wäre er jedoch einer Sprache unterstellt, welcher die sentimentalisch ersehnte Bindung ans ›Innen‹ fehlt, mithin die Garantie eines Wahrheit verbürgenden Signifi kats. Das Konzept einer an der Körpersprache modellierten Ausdruckssprache ist auf diese Weise ebenso irritiert wie das Konzept natürlicher Weiblichkeit.« Geitner, ›Die Beredsamkeit des Leibes‹, S. 194. Da die Anstandslehren, wie bereits beschrieben, nicht dem Ideal dieses Natürlichkeitsparadigmas unterzuordnen sind, sondern geradezu als Gegendiskurs beschrieben werden können, scheint hier auch die schauspielerische Technik der imitatio für die Frau gutgeheißen zu werden.

Stimmübungen, täglich Weitere Techniken, die die Anstandslehren mit großem Aufwand vermitteln, sind solche, die auf die Bildung der Stimme abzielen. Das Interesse der Anstandslehren gilt der Stimme in nur einer bestimmten Redesituation: der geselligen Konversation. Stimmübungen, da sind sich die Anstandslehren einig, müssen sich daher auf ebendiese Redesituation beziehen – und nicht zur stimmlichen Performanz einer ›großen Rede‹ anleiten. Die Grenzziehung, die die Anstandslehren zwischen ›großer Rede‹ und ›Konversation‹ vornehmen, ist nicht zuletzt geschlechtlich codiert. Während dem Mann das Wissen zur Beherrschung der Deklamation für die seltene Situation einer ›öffentlichen‹ Rede immerhin hilfreich sein könnte und er lediglich dazu angehalten wird, sich die Unterscheidung zwischen ›Deklamationston‹ und ›Konversationston‹ bewusst zu machen, wird der Frau vermittelt, dass ein solcher Rhetorikunterricht für sie ebenso unpassend wie gänzlich unbrauchbar wäre, da sie schlichtweg niemals Gelegenheit zur ›großen Rede‹ haben werde. Es wird darauf gedrungen, dass die Frau weder theoretisch noch praktisch über einen solchen stimmlichen Deklamationsstil verfügt, der sie dazu ermächtigen könnte, eine ›große Rede‹, sei es eine politische Rede oder einen künstlerischen Vortrag, zu halten. Damit schreiben die Anstandsbücher fort, was sie zur Begründung heranziehen: nämlich den Ausschluss der Frau vom Zugang zur ›großen Rede‹. Was der Frau vermittelt wird, ist – immerhin –, wie sie ihre Stimme für die Redesituation der geselligen Konversation auszubilden hat. Siede legt ihr dabei einige Einschränkungen auf: Studiren Sie, wenn Sie Gelegenheit dazu haben und einen Unterricht darin erhalten können, Deklamation, nur vorzüglich diejenige, die den wahren Konversationston lehrt, das heißt, die Sie gut, richtig und natürlich lesen und sprechen lehrt; denn Ihr Unterricht, wie Sie eine Rede schön halten, eine Ode und ein erhabnes Gedicht mit Würde, Feierlichkeit und Anstand peroriren können, taugt Ihnen für die Bildung Ihres Sprachtones, wie Sie ihn für Ihre zutraulichen Unterhaltungen, für Ihre Erzählungen und natürlichen Unterredungen nöthig haben, gar nicht, weil Sie fast nie in die Verhältnisse kommen, wo Sie Reden und dergleichen zu halten haben; und wenn Sie diesen feierlichen Ton, mit dem man eine Rede hält, oder ein erhabenes Gedicht perorirt, in Ihre gesellschaftliche Unterhaltung und Unterredung mit herübernehmen wollten, so würden Sie in dem Falle verlieren, und sich durch diese Affektation, wie man es überall nennen würde, völlig lächerlich machen […].769

Siede bindet seine Überlegungen zur actio explizit an die gesellschaftlichen »Verhältnisse« der Frau an. Diese Verhältnisse sind deutlich begrenzter als die des Mannes, dessen actio daher auch vielfältiger sein muss: Zur Perfektionierung der männlichen actio ist »seiner mannigfaltigeren Verhältnisse und ihrer Erfordernisse

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Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 102.

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wegen weit mehr Kunst und Übung nöthig«770 als zu der der Frau. Damit trägt Siede zum einen der Situativität Rechnung, die der Rhetorik immer schon zugrunde lag, und passt das männliche beziehungsweise weibliche actio-Ideal daran an, auf der anderen Seite führt die Anstandslehre damit eine in der gesellschaftlichen Machtverteilung verankerte Beschränkung von Redemöglichkeiten auf der Ebene der Vermittlung von Kompetenzen fort und verdoppelt den Ausschluss der Frau von der ›großen Rede‹. Den »Verhältnissen« der Frau angemessen ist ausschließlich die stimmliche Ausbildung für die weibliche Konversation: Diejenige Deklamation also, oder wie ich sie für Ihre Verhältnisse hier bestimmter nenne, die Kunst, die Ihren Konversationston bildet, die ihn fähig macht, richtig zu accentuiren und genau jede Empfindung und den Sinn der Worte lebhaft und richtig auszudrückken, wird Ihres vorzüglichen Studiums werth seyn; sie giebt Ihren Worten erst wahre Kraft, Leben und Wärme; sie ist die wahre Sprachmusik, der das Herz und feines richtiges Gefühl den Text unterlegen.771

Mit dieser ›Deklamation‹ ist eine Übungstechnik für die Stimme gemeint, der in den Anstandslehren am meisten Aufmerksamkeit geschenkt wird und die bereits in der antiken Rhetorik für junge Schüler vorgesehen war: das laute Lesen oder Vorlesen. Quintilian fordert, den Schüler nicht nur lesen zu lassen, sondern auch Texte auswendig lernen und unter Aufsicht stehend mit der entsprechenden Gestik vortragen zu lassen, um gleichzeitig Stimme, körperliche actio und Gedächtnis zu üben.772 Um 1800 ist das Vorlesen nicht nur als private Übung, sondern vor Publikum in einer geselligen Runde relevant: Die Anstandslehren verweisen darauf, dass der Mann und die Frau anständig und mit Gefühl aus Büchern oder Briefen vorlesen können müssen. Das laute Lesen wird als Übungstechnik in den Blick genommen, die nicht mehr dem Gedächtnis, aber dem Training der Stimme und der körperlichen actio dient. Dazu empfiehlt Wenzel das laute »Ablesen guter Conversationsstücke, die wir öfter gesehen haben, verbunden mit Aktion« als »ein treffliches Mittel, Meister seiner Hände« und seiner Stimme zu werden.773 Beim lauten Lesen als Stimmübung komme es, so stellen die Anstandslehren heraus, besonders auf die Auswahl der Texte an, die dem ›natürlichen‹ Konversationston entgegenkommen müssten,774 sowie auf 770 771 772 773 774

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Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 23. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 102f. Vgl. Quint. Inst. I, 11, 14. Wenzel, Der Mann von Welt, S. 46. Siede empfiehlt der Frau als Übungslektüre für den lauten Vortrag u. a. Ifflands Theaterstücke. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 103. Wallenburg empfiehlt, Texte von Gellert, Garve, Lessing, Engel und Schiller zu lesen – mit der Maßgabe, durch diese Lektüre die Stimme zu üben und einen korrekten Sprachgebrauch zu erlernen. Allerdings solle die Frau sich vorsehen, nicht von der Büchersprache auf die Umgangssprache zu schließen, die sich durch Kürze, Natürlichkeit, Simplizität auszeichne. Wallenburg, Anstandslehre für das

das »Anhören guter Muster«775 im lauten Lesen (also eine stimmliche imitatio) und die eigene Übung »unter Aufsicht von Kennern«776, die anleiten und berichtigen. Wenn Sie hierin auf gute Muster merken, welcher feinen angenehmen und richtigen Modulationen ihr Ton fähig ist, und sich viel durch lautes Vorlesen üben, so werden Sie nach und nach Ihrem Tone diese Gefügigkeit und diesen lebhaften mannichfaltigen Ausdruck geben, der den Sinn Ihrer Worte deutlich, wahr und angenehm macht. Wählen Sie dazu mehrere Rollen unsrer besten Komödien, nicht aber bloß die empfindsamen, welche im Munde der Liebe sprechen, sondern vorzüglich solche, worin Klugheit und Bedachtsamkeit spricht, worin mehr die Seele als das Herz spielt.777

Am wichtigsten ist auch hier die kontinuierliche Wiederholung der Übung für die Produktion der ›anständigen‹ Stimme: »Stellen Sie täglich diese Übung an«778, befiehlt Siede der Frau. Die Stimme ist das Ergebnis eines Übungsprozesses, »nach und nach« stellt sich diejenige Modulation ein, die ihren Gegenstand angemessen, ja sogar ›wahr‹ zum Ausdruck bringt. Das Rollenspiel, die Nachahmung verschiedener Stimmen beim Vorlesen eines dramatischen Textes, hilft, diese ›Wahrheit‹ des Ausdrucks allererst hervorzubringen, die keine natürlich von ›Innen‹ kommende ist, sondern einem kulturell geprägten Ideal folgt. Die Stimme vermittelt den Eindruck von Wahrheit: Wahr ist, was wahr wirkt. Neben dem lauten Lesen, das vor allem die Modulation der Stimme übt, empfehlen die Anstandslehren von Siede und Wenzel ein Stimmtraining, das bereits in der Antike bekannt war und nun überraschenderweise ebenfalls für die Frau Anwendung findet: Der Umfang, die Fülle, die Reinheit und die Festigkeit der Stimme sollen durch das Überschreien lauter Geräusche geübt werden. Damit sei einer zu leisen, dünnen, bebenden oder heiseren Stimme entgegenzuwirken, die für beide Geschlechter unpassend erscheint. Siedes Vorschlag, das reinigende und kräftigende »Ausschreien der Stimme« im Freien bei einem Wasserfall oder einer Mühle zu üben, erinnert an die berühmte Anekdote von Demosthenes, der gegen die laute

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weibliche Geschlecht, S. 58. Auch die Anstandslehre selbst kann zum Gegenstand von Leseübungen werden: Wallenburg kündigt an, ihrer Tochter aus der selbstverfassten Anstandslehre vorzulesen und das Gelesene dann zu besprechen – eine Bemerkung, die sicherlich zur Nachahmung aufruft. Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 7. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 33f. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 99. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 99. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 103. Auch dem Mann empfiehlt Siede »täglich recht viel laut [zu lesen]«. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 75.

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Meeresbrandung angeredet haben soll.779 Tatsächlich kann das Wissen über diese Stimmübungen von Demosthenes auch um 1800 noch als bekannt vorausgesetzt werden. Während Siede Demosthenes nicht als Vater dieser Übung erwähnt, zählt er eine weitere Übung, das singende Tonhalten, auf, welche er explizit auf den berühmtesten Redner der Antike zurückführt: Können Sie in Gegenwart eines Kenners Ihren Ton zu einem reingestimmten musikalischen Instrumente üben, so ist dies die beste Übung. Was der berühmte Redner Demosthenes durch unverdrossene Übung in dieser Hinsicht vermochte, wird Ihnen bekannt seyn.780

Dass diese Demosthenes’schen Stimmübungen – auch die, ein lautes Geräusch zu überschreien – nun explizit auch der Frau angetragen werden,781 ist verwunderlich, da weibliches Schreien oder gar Kreischen als topischer Inbegriff des Gegensatzes einer disziplinierten, ausgebildeten Stimme gilt.782 Ob es die Macht der Anekdote gewesen sein mag, die Siede und Wenzel getrieben hat, dem zeitgenössischen Bürger und der Bürgerin das (wohl kaum befolgte) Ausschreien bei Wassermühlen anzuraten, – jedenfalls findet sich diese Übung bei Wallenburg nicht mehr. Dagegen wird eine andere Praktik als Stimmübung für beide Geschlechter immer wieder empfohlen, die in der Antike gerade als abscheulicher Fehler der Rede gegolten hat: das Singen.783 Singen und Reden wird nun nicht mehr als Gegensatz konzipiert. Vielmehr kann der Gesang – vor einem insgesamt ästhetisierten Hintergrund der actio – als Übungstechnik in der Stimmausbildung propagiert werden. Wo der Tanz Teile der gestischen und mimischen actio schult, übernimmt der Gesang Teile der stimmlichen actio-Erziehung – insbesondere für Frauen: Lernen Sie denn dem Künstler [hier: Sänger] und der Künstlerinn aufmerksam alle die kleinen Manieren, Wendungen, Übergänge, ihre Delikatesse, mit einem Worte, die

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Quintilian zufolge soll Demosthenes allerdings nicht in erster Linie gegen das Brausen der Wellen angeredet haben, um seine Stimme zu üben, sondern um seine Konzentrationsfähigkeit auch in einer geräuschvollen Kulisse zu trainieren – als Vorbereitung auf das Dröhnen der Volksversammlung. Quint. Inst. X, 3, 30. Vgl. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 74. Auch Wenzel schlägt vor, sich bei einem lauten Geräusch, z. B. dem einer Wassermühle oder eines Klaviers, morgens nüchtern ›auszuschreien‹ und laut zu reden. Vgl. Wenzel, Der Mann von Welt, S. 72. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 75. Vgl. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 101. »Der Ton der soliden Dame ist sanft und sacht; nur so, weiß sie, gefällt ihr Geschlecht und erhält sich in seinem Werth. […] Die Angewohnheit des so lauten Sprechens, was bei manchen sogar Schreien wird, […] mit einem Worte, das zu laute und ungestüme Wesen, alles dies ist von dem soliden Betragen fern.« Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 49. Zum Gesang als Fehler der Rede in der Antike vgl. Kapitel III.2.1.

Kunst des Vortrags ab. Achten Sie auf Fülle und Dauer der Töne, auf ihr allmähliges Wachsen und Abnehmen, auf die Grade des Starken und Schwachen, und auf die Zeit des Athemholens,784

fordert Siede die Frau auf. Wie bereits gesagt, soll gerade die weibliche Stimme ein ästhetisches Wohlgefallen auslösen und steht insofern der Kunst des Gesangs näher als die männliche Stimme, von der zugleich eine rhetorische Überzeugungskraft erwartet wird. Auch Wallenburg definiert die weibliche Stimme als eine Art Gesang: »Man soll auch nicht zu schnell und nicht schleppend, rein, deutlich, melodisch, fest, nicht bebend, richtig accentuirt reden. Die Stimme sey gleichsam eine Art des Gesanges, der die gesprochenen Worte harmonisch begleitet.«785 Für den Mann wird gerade die mit dem Gesang zu erreichende Männlichkeit der Stimme betont: Weil ein »schwächlicher, krähender, weibischer, kindischer Ton […] wahre Häßlichkeit an einem Manne; dahingegen der volle stärkere Ton wahre Schönheit am Manne«786 sei, solle der Mann täglich tiefe Töne beim Singen üben, fordern Siede und Wenzel unisono. Da eine unsichere, bebende Stimme ebenfalls als unmännlich wahrgenommen wird, weil sie schüchtern wirke, dient die Übung, beim Singen einen Ton lange zu halten, dem Mann dazu, Festigkeit der Stimme zu gewinnen. Es zeigt sich, dass durch die Stimmübungen eine geschlechtlich differenzierte Stimme eingeübt werden soll: Der Mann trainiert eine männliche, feste, starke, laute Stimme und die Frau eine harmonische, sanfte, singende Stimme. Tradiert werden neben den geschlechtsspezifischen Anforderungen an die Stimme auch die traditionellen rhetorischen Forderungen, wie die abwechslungsreiche Modulation der Stimme, ihr Umfang, ihre Fülle, Geschmeidigkeit, Reinheit und Festigkeit, die von beiden Geschlechtern gefordert werden.787 Unpassende Stimmentwürfe wie ›weibische‹ Stimmen für den Mann und schreiende, kreischende, zu laute Stimmen für die Frau werden ausgeschlossen und durch die Stimmübungen auszumerzen gesucht. Allerdings unterscheiden sich die Stimmübungen, mit denen diese geschlechtsspezifischen Ideale verfolgt werden sollen, nicht: Dem Mann und der Frau werden – zumindest für die Rede im Gespräch – die gleichen Techniken zu Verfügung gestellt. So wird die Frau in diese Tradition eingeschrieben, indem ihr bestimmte Techniken vermittelt werden, die ihr eine angemessene Stimme verleihen und sie als rhetorisches Subjekt ansprechen.

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Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 112. Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 59. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 76f. Der gleichen Meinung ist Wenzel, Der Mann von Welt, S. 73. Vgl. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 75ff. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 101. Wenzel, Der Mann von Welt, S. 72ff. Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 59.

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Erziehungstheater für junge Frauen Eine im 18. Jahrhundert neue erzieherische Technik, den gesamten körperlichen Anstand – d. h. Haltung, Gestik, Mimik und Stimmführung – synchron einzuüben, ist das Erziehungstheater. Siede rät dem jungen Mann seinen Anstand in Miene, Stellung und Bewegung durch das Theaterspielen zu üben: die Aufführung guter Stükke auf Familientheatern, die nur so häufig gemißbraucht werden, und wo die jungen Leute selten sich um einen Kenner und Kritiker bekümmern, könnte für Anstand und Gewandheit eine sehr gute Übung geben; man sollte nur nicht die mitunter rohen Ritterstükke, sondern mehr feine Familiengemählde dazu wählen.788

Damit greifen die Anstandslehren eine Technik der rhetorischen Ausbildung auf, die seit dem Barock im protestantischen und jesuitischen Schultheater zur Übung der gesamten actio genutzt wird.789 Im 18. Jahrhundert wird dagegen der schulische actus zunehmend von der Aufsatzlehre abgelöst. Mädchen waren von solchen schulischen Rollen-Spielen, die rhetorisches Wissen körperlich einüben, ohnehin ausgeschlossen, da sie keinen Zugang zu den entsprechenden Bildungsinstitutionen hatten. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts bildet sich allerdings eine pädagogische Literatur heraus, die als ›Kindertheater‹ oder ›Erziehungstheater‹ bezeichnet wird und diese Aufgabe in einen familiären Rahmen verlagert.790 Da die Anstandslehren das Erziehungstheater zwar empfehlen, darauf aber nicht näher eingehen, soll diese erzieherische Technik kurz anhand eines der populärsten Texte dieser Gattung, des Erziehungstheaters für junge Frauenzimmer der französischen Pädagogin Stéphanie Félicité Comtesse de Genlis, dargestellt werden, der großen Erfolg in ganz Europa hatte.791 Eine vierbändige deutsche Übersetzung des Erziehungstheaters erscheint in den Jahren 1780 bis 1782 in Leipzig und findet breiten Absatz.792 In der »Vorrede des französischen Herausgebers« heißt es, dass 788 789 790

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Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 32. Zum Schultheater vgl. Barner, Barockrhetorik, S. 291–321, S. 344–352. Vgl. Gunda Mairbäurl, Die Familie als Werkstatt der Erziehung. Rollenbilder des Kindertheaters und soziale Realität im späten 18. Jahrhundert, München 1983; Carola Cardi, Das Kinderschauspiel der Aufklärungszeit. Eine Untersuchung der deutschsprachigen Kinderschauspiele von 1769–1800, Frankfurt am Main u. a. 1983. Stéphanie Félicité Comtesse de Genlis, Der Frau Gäfinn von Genlis Erziehungstheater für junge Frauenzimmer, übers. von Christian Felix Weiße, 4 Bde., Leipzig: Siegfried Lebrecht Crusius, 1780–1782. Französische Erstausgabe: Théâtre à l’usage des jeunes personnes, 4 Bde., Paris: Lambert et Baudouin 1779. Penny Brown nennt Genlis »one of the most successful and influential authors of the théâtre d’éducation«. Ihr zufolge fand das Erziehungstheater nicht nur in Frankreich großen Absatz: Neben der deutschen erschienen russische, italienische und englische Übersetzungen. Penny Brown, A Critical History of French Children’s Literature, Bd. 1: 1600–1830, New York, London 2008, S. 182f. Im Vorwort des Übersetzers wird eine hymnische Rezension aus dem französischen

die Verfasserin »eine Gattung von Stücken geschaffen habe, die noch Niemanden eingefallen war«: geschlechtsspezifisch adressierte Schauspiele.793 Während Siede der Frau – im Gegensatz zum Mann – anrät, Theaterstücke nur vorzulesen, nicht aber vorzuspielen,794 enthält Genlis’ Erziehungstheater kurze, moralische Theaterstücke mit tugendhaften weiblichen Figuren, die von jungen Mädchen vor (überwiegend familiärem) Publikum aufgeführt werden sollten.795 Die Theaterstücke selbst und die ihnen inhärenten geschlechtsspezifischen Tugendkataloge sind in diesem Zusammenhang weniger bedeutsam. Bemerkenswerter ist, dass die Aufführung der Stücke nicht nur der Einübung weiblicher Tugend und Moral dienen soll, sondern gleichzeitig, wie das Vorwort des französischen Herausgebers programmatisch ankündigt, auch als rhetorische Übung gedacht ist: Außerdem werden sie [die jungen Frauenzimmer], indem sie diese Dramen spielen und sie auswendig lernen, große Vortheile einärndten: sie werden sich nämlich viele vortreffliche Grundsätze einprägen, ihr Gedächtniß üben, ihren Vortrag bilden, und sich dadurch Grazie und einen guten Anstand erwerben.796

Ziel des Erziehungstheaters ist die offenkundig rhetorische Ausbildung der memoria sowie der actio von Mädchen. Grazie und Anstand werden als Resultat der geübten, gebildeten actio beschrieben. Damit stellt das weit verbreitete Erziehungsthea-

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Merkur wiedergegeben, in der es heißt, das Erziehungstheater der Gräfin Genlis werde »wie der Telemak, ein klassisches Buch für die Moral und den guten Geschmack seyn« (Genlis, Der Frau Gäfinn von Genlis Erziehungstheater für junge Frauenzimmer, Bd. 1, S. XII; gemeint ist Fénelons berühmter Télémaque von 1693). Die Rezension sieht eine große Breitenwirkung des Buches voraus, kündigt es als »allgemeines Erziehungsbuch« an, das in alle Sprachen übersetzt und von »alle[n] aufgeklärten Ältern […] ihren Kindern in die Hände [ge]geben« werden würde (S. XII). Wie verbreitet die deutsche Ausgabe des Erziehungstheaters für junge Frauenzimmer war, inwieweit und von wem dieses Erziehungstheater praktiziert wurde, kann nur vermutet werden. Der recht große Bestand der Bände in deutschen Universitätsbibliotheken deutet stark auf eine weite Verbreitung auch in Deutschland hin: Das Erziehungstheater ist in mehr als 15 Universitätsbibliotheken verfügbar – eine für Mädchenbildungsliteratur des 18. Jahrhunderts vergleichsweise hohe Zahl. Für einen gewissen Absatz spricht auch die Veröffentlichung der drei weiteren Bände, die dem ersten Band in den beiden Folgejahren hinzugefügt werden. Eine eigene ›Gattung‹ von geschlechtsspezifisch adressierten Schauspielen sei deshalb notwendig, da die Stücke den Mädchen weder »über ihren Verstand« gingen, noch »irgend einen wirklich hassenswürdigen Charakter« aufführten. Genlis, Der Frau Gäfinn von Genlis Erziehungstheater für junge Frauenzimmer, Bd. 1, S. IIIf. Vgl. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 99. Während sich die ersten drei Bände nicht explizit an einen spezifischen Stand richten – gemessen an der Herkunft und der Erziehungstätigkeit der Comtesse wohl implizit an höhere Stände –, adressiert der letzte Band laut einem Vorwort der Verfasserin bürgerliche Kinder unterer Schichten. Genlis, Der Frau Gäfinn von Genlis Erziehungstheater für junge Frauenzimmer, Bd. 1, S. V.

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ter einen in der Rhetorikforschung bislang unbeachteten Beitrag zur praktischen rhetorischen Ausbildung von Frauen dar. Dass die Anwesenheit eines Publikums für das Gelingen der Übung relevant ist, zeigt eine Bemerkung des Herausgebers, es hätte »nicht dieselben Wirkungen«, wenn junge Mädchen nur kurze tugendhafte Ausschnitte aus anderen, ansonsten unpassenden Stücken auswendig lernen und für sich vorsprechen würden, »weil man unmöglich allein in einem Zimmer mit eben so viel Wetteifer deklamieren wird, als wenn man eine Komödie spielet«.797 Diese Äußerung erinnert an Quintilians Diktum, es gäbe gar keine Redekunst, wenn der Redner nur zu Einzelnen – oder gar völlig ohne Publikum – redete.798 Es geht also explizit darum, durch regelmäßige praktische Theater-Übungen unter den Blicken eines Publikums eine bestimmte – weibliche und tugendhafte – Art des Vortrags körperlich einzuüben. Da das Erziehungstheater für junge Frauenzimmer in Deutschland offenbar eine gewisse Popularität genoss, steht dies im Gegensatz zu dem weit verbreiteten Rousseau’schen Diktum, dass Schauspielerei gerade für Mädchen und Frauen verabscheuungswürdig sei. Eine Rolle zu spielen, sich zu ›verstellen‹, öffentlich aufzutreten und absichtlich Blicke auf sich zu ziehen, all dies summiert sich zum gefährlichen Gegenteil des bürgerlichen Weiblichkeitsentwurfs, der Bescheidenheit und kommunikative ›Durchsichtigkeit‹ der Frau als Natur ausgibt. »Die Pädagogik des späten 18. Jahrhunderts richtet ihre Aufmerksamkeit darauf, die Verstellungskünste der Frauenzimmer im Keim zu ersticken«, schreibt Ursula Geitner in ihrem Buch über Schauspielerinnen des 18. Jahrhunderts und führt als Beleg den Erziehungsschriftsteller Friedrich Heinrich Christian Schwarz an: Mit ›Argusaugen‹, so empfiehlt die ›Erziehungslehre‹ von Schwarz, müssen die Verstellungsversuche der Mädchen und jungen Frauen verfolgt und bestraft werden. Vor allem aber muß das Theaterspiel von ihnen ferngehalten werden, denn nichts führt, so Schwarz im Fahrwasser bekannter Argumentation, leichter zur ›Verstellungskunst‹ als die ›Übung des Schauspielens‹, eine Übung, welche den Knaben und jungen Männern freilich anempfohlen wird, da sie helfe behindernde Schüchternheit abzulegen und förderliche ›Dreistigkeit‹, Sicherheit im gesellschaftlichen Auftreten, zu erwerben.799

Doch anstatt die Verstellungskünste der Frau zu unterbinden, macht das (wohlgemerkt häusliche) Erziehungstheater den rhetorischen, wirkungsorientierten Auftritt für junge Frauen verfügbar, da Genlis – explizit im Gegensatz zu Rousseau – nicht einen ›Naturzustand‹ als erstrebenswert ansieht, sondern Kinder beiderlei Geschlechts für den Umgang in der Gesellschaft erziehen will.800 Während

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Genlis, Der Frau Gäfinn von Genlis Erziehungstheater für junge Frauenzimmer, Bd. 1, S. VI. Quint. Inst. I, 2, 30f. Geitner, Die Frau als Schauspielerin. Auskünfte einer Metapher, S. 271. Friedrich Heinrich Christian Schwarz, Grundriß einer Theorie der Mädchenerziehung in Hinsicht auf die mittleren Stände, Jena: Cröker 1792, S. 133. Genlis war Erzieherin der Kinder des Hauses Orléan, Verfasserin und Herausgeberin

Rousseau zwischen Natur- und Gesellschaftszustand unterscheidet, dem ›Gesellschaftsmenschen‹ kritisch gegenüber steht und den Menschen auf seinen Naturzustand zurückführen möchte, kritisiert Genlis Rousseaus »l’homme de la nature« als leere Phrase, weil sich der Mensch immer in einer bestimmten gesellschaftlichen Position befinde. Wo Rousseau Emiles Erzieher sagen lässt, »votre honneur est en vous seul«, merkt Genlis das Gegenteil an: »Notre honneur est dans l’opinion des autres«.801 Damit weitet Genlis die Abhängigkeit von der Öffentlichkeit, die Rousseau nur für die Frau, nicht jedoch für Emile bestimmt, auf beide Geschlechter aus. Das Erziehungstheater dient zusammengefasst also nicht nur der Einübung von Tugend durch die Verkörperung geschlechtsspezifischer tugendhafter Charaktere, sondern auch der rhetorischen Fähigkeit, diese Tugendhaftigkeit vor Publikum sichtbar und hörbar darzustellen, um die gute Meinung ›der anderen‹ zu erlangen. Als Übungstechnik vereint es die auch in den Anstandslehren wiederholt eingeforderte Erprobung, Übung, Wiederholung, visuelle Kontrolle und publikumswirksame Zurschaustellung geschlechtlich spezifischer Redeweisen. Die internationalen Übersetzungen ebenso wie der große Erfolg des Erziehungstheaters in Deutschland verweisen darauf, dass es sich auch hier um eine Art Gegendiskurs zum Ausdrucksparadigma handelt, wird doch in Anbetracht einer notwendigen Wirkungsorientierung in der Gesellschaft, gerade auch Mädchen ein persuasives Sprechen vermittelt. Tanzlehre In der antiken Rhetorik spielt die körperliche Selbstbeherrschung des Redners eine wichtige Rolle. Um eine Rede vor großem Publikum weithin laut und sichtbar vorzutragen, muss der Redner auch körperlich trainiert sein und über ein bestimmtes Lungenvolumen verfügen. Daher sind Leibesübungen wie das Ringen bereits in der griechischen Rhetoriklehre vorgesehen, die den männlichen Rednerköper als fest, muskulös und kräftig definiert. Daneben dient die kämpferische Interaktion zur Einübung des kairos, des Wissens, im richtigen Moment angemessen zu reagieren. Misstrauen schlägt dagegen der tänzerischen Ausbildung des Knaben in römischen Ringschulen entgegen: Sie wird zwar als unmännlich abgewertet, soll aber den erwachsenen Redner dennoch »unvermerkt als Spur jener damals erworbenen

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von über 140 pädagogischen und literarischen Schriften. Ihr Erziehungsprogramm entwirft sie – in Abgrenzung zu Rousseau – insbesondere in ihrem Briefroman Adèle et Théodore ou Lettres sur l’Education (1782). Vgl. zum Verhältnis von Genlis zu Rousseau: Birgit Neschen-Siemsen, Madame de Genlis und die französische Aufklärung, Frankfurt a. M. u. a. 1992, S. 96–115. Stéphanie Félicité Comtesse de Genlis, Emile ou de l’Education, Edition Genlis, 3 Bde., Paris 1820, Bd. 1, S. 150, Anm. 1, zit. n. Neschen-Siemsen, Madame de Genlis und die französische Aufklärung, S. 103.

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tänzerischen Anmut« begleiten.802 In der Rede von der Anmut (venustas) wird die prekäre Grenzziehung zwischen einem unangemessen weiblich wirkenden Tanz und einer angemessenen rhetorisch-männlichen Eleganz ausgehandelt. Im 18. Jahrhundert greifen die Anstandslehren in Hinblick auf die körperliche Ausbildung nicht auf die antike Rhetorik zurück, sondern vielmehr auf die höfische, die wie Castigliones Hofmann die Anmut (grazia) zum Kommunikationsideal schlechthin erhoben hat.803 Diese Anmut soll nun gerade im Tanz erlernt werden. Bevor ich auf die Tanzausbildung der Anstandslehren eingehen werde, soll kurz auf die seit dem frühen 18. Jahrhundert erscheinenden deutschen Tanzlehren verwiesen werden, die, wie ich zeige, ein Verbindungsstück zwischen Rhetorik und Anstandslehre darstellen. Gerade die in der aufkommenden Tanzlehre vermittelte actio-Ausbildung ist bislang kaum von der Tanz- oder Rhetorikforschung wahrgenommen worden.804 Im Kontext frühneuzeitlicher Geselligkeit richten sich Tanzlehren wie Gottfried Tauberts Rechtschaffener Tanzmeister (1717) an ein aufstrebendes städtisches Bürgertum, dem nicht nur einzelne Tänze, sonder eine »äusserliche Sitten-Lehre und honette Conduite« vermittelt werden sollen.805 Die Tanzausbildung dient so nicht zuletzt dem Erwerb einer angemessenen actio zur körperlichen Sichtbarmachung von Standesdistinktionen.806 Als honnête homme werden dabei gleicherma-

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Vgl. Quint. Inst. I, 11, 1f. sowie Kapitel III.3.7. Vgl. zu Castigliones Ideal der Anmut den Exkurs 1 (»Ein weiblicher vir bonus? Castigliones Hofdame«). Zur Anmut im 18. Jahrhundert vgl. Janina Knab, Ästhetik der Anmut. Studien zur ›Schönheit der Bewegung‹ im 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1996; Schade, ›Anmut‹: weder Natur noch Kunst. Zur Formation einer Körpersprache im 18. Jahrhundert; Spickernagel, Zur Anmut erzogen – Weibliche Körpersprache im 18. Jahrhundert. Auch der kürzlich erschienene Artikel »Tanzkunst« im Historischen Wörterbuch der Rhetorik streift nur kursorisch den Zusammenhang von actio-Lehre und Tanzkunst und bietet keine weiterführende Literatur an, die sich speziell mit diesem Verhältnis auseinandersetzen würde. Sven Behrisch, Tanzkunst. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 9, Tübingen 2009, Sp. 440–52. Gottfried Taubert, Rechtschaffener Tanzmeister oder gründliche Erklärung der Frantzösischen Tantz-Kunst, Leipzig: Friedrich Lanckischens Erben 1717, ND hg. von Kurt Petermann, 2 Bde., München 1976, S. 12. Auf die Bedeutung des körperlichen Anstands in den Tanzlehren, die über das Erlernen von modischen Tänzen wie Menuett und Courante hinausgeht, verweist auch: Marie-Thérèse Mourey, Gibt es eine Aufrichtigkeit des Körpers? Zu den deutschen Tanzlehrbüchern des späten 17. Jahrhunderts. In: Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert, hg. von Claudia Benthien, Steffen Martus, Tübingen 2006, S. 329–341, S. 331. Eine Bibliographie zum Tanz um 1700 bietet: Stephanie Schroedter, Vom ›Affect‹ zur ›Action‹. Quellenstudien zur Poetik der Tanzkunst vom späten Ballet de Cour bis zum frühen Ballet en Action, Würzburg 2004. Taubert behauptet, dass die Tanzkunst eben dazu erfunden worden sei, »honette Leute und vornehme Standes-Personen […] vom Pöbel zu distinguiren«. Taubert, Rechtschaffener Tanzmeister, S. 1018.

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ßen Mann und Frau adressiert: So zielt der Leipziger Tanzmeister Taubert darauf ab, eine nach den Philosophischen Grund-Regeln richtige Instruction zu der gefälligmachenden Aufführung [zu] praescribiren, wie sich nemlich ein honet homme, er sey gleich männlichen, oder weiblichen Geschlechts, allemal wolständig kleiden, allenthalben proportionirlich stellen, nette und commode gehen, bey allerhand Gelegenheit mit gehöriger Modestie und juster Bewegung der Glieder Reverences machen, und sich in wohl-choisirten Compagnien klüglich aufführen könne [...].807

Diese ›gefälligmachende‹ Selbst-›Aufführung‹ in Gesellschaft ähnelt nicht zufällig einem Redeauftritt, der den Regeln der rhetorischen actio – Kleidung, Gestik, Mimik und Stimmführung betreffend – folgen muss.808 Taubert bindet die Tanzkunst ganz explizit an die Rhetorik, indem er den Tanz dezidiert als eine körperliche Basisausbildung versteht, die notwendig jeder rhetorischen actio-Lehre vorauszugehen habe: Zu dem vielfältigen Lobe, so man dem nutzbaren Tantz-Exercitio beyzulegen hat, gehöret auch billig dieses, daß es propter actionem oratoriam zu denen Predigten, Orationibus, Parentationibus, und allen öffentlichen Reden nützlich, ja höchst-nöthig sey.809

Daher widmet Taubert dem Zusammenhang von Rhetorik und Tanz ein ganzes Kapitel.810 Im Zentrum steht die Frage, wo und wie ein Student und angehender Redner eine ausgezeichnete actio erwerben könne: Auf was für einem Brunnquell kann nun aber wol ein junger Redner eine solche Wissenschafft und äusserliche Geschicklichkeit schöpfen und herholen? Gewißlich nicht zulänglich aus seinem guten Naturel […]. Natura incipit, ars dirigit, & usus perficit, spricht der weise Plato.811

Zur natürlichen Veranlagung müssten also die Kunst und die Übung treten, und diese würden dem Studenten kaum »von denen Hn. Professoribus, Rectoribus und Inspectoribus« vermittelt, »als welche, vermöge ihrer Studien, wol einem jeglichen ihrer Untergebenen zu einer richtigen Disposition und zierlichen Elaboration in irgends einer Rede; aber mit nichten zu einer recht schicklichen Action verhelffen können.«812 Den eigentlichen Rhetoriklehrern spricht Taubert die Kompetenz ab, die fünfte Aufgabe des Redners angemessen lehren zu können, – um sie stattdessen dem Tanzmeister zuzuschreiben.813 Denn selbst wenn einem jungen Redner

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Taubert, Rechtschaffener Tanzmeister, S. 9. Auf diese Verbindung von Tanz und Rhetorik weist Mourey nicht hin. Taubert, Rechtschaffener Tanzmeister, S. 246. Vgl. das »XXX. Capitel«. In: Taubert, Rechtschaffener Tanzmeister, S. 246–258. Taubert, Rechtschaffener Tanzmeister, S. 248. Taubert, Rechtschaffener Tanzmeister, S. 249. Auf den möglichen gegnerischen Einwand hin, die »alten Rhetores« seien auch ohne französische Tänze zurecht gekommen, argumentiert Taubert zunächst, dass sich die

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eine gute actio von seinen Professoren gemäß den Vorgaben Christian Weises und Quintilians gezeigt würde, fährt Taubert, sein rhetorisches Wissen bezeugend, fort, so folgt doch darum noch nicht, daß er nunmehro stracks äusserlich geschickt sey, und bey seiner Rede recht anmuthige Geberden gewonnen habe; Nein! so lange die Gliedmassen eines Menschen noch nicht zu einer artigen Stallage, Fermité und Agilité disponiret, und gleichsam poliret und ausgearbeitet sind; so lange kann er sich auch bey seiner Rede kein Decorum und gute Grace versprechen, es wird ihm vielmehr alles gezwungen und dermassen affectiret lassen, daß er sich dadurch bey den Verständigen mehr verhasset, als beliebet machet. Sondern es läufft dieses einig und allein auf ein solches Leibes-Exercitium hinaus, dabey ein junger Mensch seine Gliedmassen crebris actionibus & exercitiis frey und activ gewöhnen, und mit der Zeit gleichsam einen recht tugendmäßigen Habitum in der Sache überkommen müsse, dabey es ihm hernachmals bey seinem Reden alles, so wol an Worten, als Geberden sponte et praxi & proprio modo, aus eigenem Triebe und von sich selber frey und ungezwungen fließen möge.814

Die Tanzlehren fassen den Körper als ein formbares Material, das durch beständige Übung gemäß den Regeln des decorum geformt und ›veredelt‹ werden muss. Ebenso wie die Anstandslehren arbeiten die Tanzbücher daran, dieses decorum zu kodifizieren, zu vermitteln und zu habitualisieren. Der anständige, ›gewordene‹, geformte Körper ist dann derjenige, der ›frei‹ und ›natürlich‹ auftreten kann, da ihm die kulturellen Bewegungsnormen durch beständige Übung zur zweiten Natur geworden sind. Daher sei es richtig, so Taubert, dass auf allen weiterführenden Schulen neben den Professoren auch Tanz-Meister arbeiteten, die zum einen Grundlagen in der Haltung, Gestik und Mimik unterrichteten, welche eine formvollendete actio allererst ermöglichten, und zum anderen durch ständige Exerzitien dafür sorgten, dass das körperliche decorum habitualisiert und verkörpert würde.815 Während Tauberts actio-Lehre in Bezug auf die ›Orationibus, Parentationibus und alle öffentlichen Reden‹ wohl ausschließlich Männer als angehende Redner anspricht, bezieht sie, was die Konversation betrifft, die Teil des Tanzunterrichts ist, explizit auch Frauen ein. Frauen werden ebenso wie Männer in der Körperhaltung, der Gestik und Mimik unterrichtet und spezifisch weibliche Haltungsfehler »muß ihr der Maître, es sey ihr gleich lieb oder leid, beyzeiten offenbahren, und abgewöhnen«, damit die Frau »eine gefällige Contenance und Douceur, als worauf die Politesse und heutige galante Welt meistentheils ihre scharffsichtigen Argus-Augen

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Sitten gewandelt hätten und »die heutigen galanten Manieren und Aufführungen« eben durchaus der Lehre eines Tanzmeisters bedürften, um dann hinzuzudichten (und nicht ganz korrekt zu belegen), dass eigentlich schon Cicero und Quintilian für ihre Gebärden die Hilfe von Tanz-Übungen in Anspruch genommen hätten. Taubert, Rechtschaffener Tanzmeister, S. 256. Taubert, Rechtschaffener Tanzmeister, S. 251f. Tanzunterricht findet im 18. Jahrhundert nicht nur am Hof statt. Akademische Tanzmeister gehören zum Universitätsleben und zivile Tanzlehrer unterrichten in den städtischen bürgerlichen Salons.

gerichtet hat« lernt.816 Des Weiteren tritt der Tanzmeister auch an, eine etwaige »Unberedsamkeit […] des Frauenzimmers [zu] corrigiren«817: Ferner wird auch die wahre Tantz-Kunst derer Mans-Personen nicht wenig durch die Unberedsamkeit des Frauenzimmers verringert: wenn nemlich manches derselben so gar insociable, simple und unartig erzogen worden ist, daß es, wenn es in die Gesellschafft kommt, kein einziges geschicktes Wort vorbringen kann; sondern jederzeit wenn es in irgends einer Sache Bescheid zu geben gefraget wird, mit Ja und Nein antwortet, und im übrigen wie stumm und tumm ist.818

Da während der Tänze konversiert wird, muss die Frau dazu ausgebildet sein, sich den Regeln entsprechend – nicht zu wenig und nicht zu viel – zu unterhalten. Das Zuwenig oder Zuviel bezieht sich dabei immer sowohl auf die Worte als auch auf die Gesten, die wörtliche und körperliche Rede wird zusammen gedacht. Taubert zeigt beide Extreme weiblicher Rede auf, denn nicht nur die einsilbige Frau, auch die geschwätzige Frau wird ihrer Funktion in einer Tanzgesellschaft nicht gerecht: Denn ob wol nicht zu läugnen ist, daß man von einem allzu wasch- und schlapperhafftigen Frauenzimmer, welches in der Compagnie das Wort iederzeit allein haben will, grosse Flecken aus den Romanen oder Complimentir-Büchern hersaget und recitiret, und also so wol in Worten, als Geberden affectiret und haseliret, nicht gar zuviel zu halten pfleget; So ist doch auch dieses gewiß, daß man einen billichen Unterscheid unter waschhafftig und unter zu rechter Zeit und gebührender Massen beredt seyn, machen müsse, als welches letztere so wol an Frauenzimmer, als Manns-Personen, so wol an Jungen, als Alten eine Tugend und Zierde ist, wenn sie nemlich zu rechter Zeit klüglich reden, und auch zu rechter Zeit zu schweigen wissen.819

Weibliche Schwatzhaftigkeit oder Einsilbigkeit beziehen sich dabei nicht nur auf die verbale Rede, sondern auch auf die Körper-Rede. Die Tanzlehren streben danach, für beide Ausdrucksformen das rechte Maß zu vermitteln. Dass dieses rechte Maß wohl umstritten – und keineswegs so geschlechtsneutral, wie Taubert hier vorgibt – ist, zeigt Tauberts Verteidigung ex negativo, es sei Frauen »nicht zu verübeln«

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Taubert, Rechtschaffener Tanzmeister, S. 420. Spezifisch weibliche Fehler sind vor allem die Verstellung und »Affectation« (d. h. »verstellte Minen und Geberden«) durch die sich eine Frau »anderen gefällig und angenehm zu machen« glaubt. Durch das offensichtlich werdende Gefallenwollen der Frau verringern sich jedoch »ihr Respect und natürliche Schönheit«: »Wenn sie den Kopff ohne Unterlaß, wie ein niedliches Pfau-Täublein, moviret und von einer Seite zu der andern rencket, die Augen, wie ein abgestochen Kalb, im Kopffe verdrehet, und, wie die halbtodten Ratten auf dem Misthauffen liebäugelt, das Maul allezeit, als eine Bauer-Braut, in die Falten ziehet, an den Lippen käuet, und dieselben von einer Seite zu der andern zerret, die Fingerchen niedlich spitzet, und sonst allerhand vitioses & ridicules gestes, lächerliche Minen und verhaßte Geberden mehr, doch aber ihrem bon goust und Gutdüncken nach unvergleichlich schöne machet.« Taubert, Rechtschaffener Tanzmeister, S. 8. Taubert, Rechtschaffener Tanzmeister, S. 282. Taubert, Rechtschaffener Tanzmeister, S. 283.

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und »weder der Zucht, Keuschheit, noch andern weiblichen Tugenden« zuwider, wenn sie in wohlgemerkt bescheidenem Maße Konversation betrieben.820 Zusammengefasst leiten die im frühen 18. Jahrhundert verfassten Tanzschriften dazu an, sich von Jugend an unter der Aufsicht des Tanzmeisters körperlich zu bilden, dabei eine graziöse Haltung als Basis für eine angemessene rhetorische Performanz im gesellschaftlichen Umgang zu erwerben und zu habitualisieren, um im Blick der Gesellschaft zu bestehen. Doch an der disziplinierenden Tanzerziehung französischen Ursprungs und dem dazugehörigen durchreglementierten gesellschaftlichen Umgang wird im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts von bürgerlicher Seite Kritik geübt: Das neue bürgerliche Bewegungsideal zeichnet sich durch ›Natürlichkeit‹ und ›Einfachheit‹ aus.821 Mit dem historischen Wandel des Tanzes geht auch ein Wandel der zugrunde liegenden Körperbilder einher: Gegen die Vorstellung eines vor allem zu zügelnden und zu züchtigenden Körpers setzt sich, so Marie-Thérèse Mourey, bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts diejenige eines natürlichen, autonomen und individuellen Körpers durch.822 Diese Entwicklung verläuft meiner Ansicht nach jedoch nicht linear. Zum einen verstehen Tanzlehren wie Carl Joseph von Feldtensteins Erweiterung der Kunst nach der Chorographie zu tanzen (1772) den Tanz weiterhin als »eine nothwendige Wissenschaft, weil er unsern Körper bildet, und ihm die Grazie giebt, die unsere Handlungen begleiten muß, wenn sie gefallen sollen«823, konzipieren ihn allerdings als eine »Nachahmung der Natur und zwar der schönen Natur«824, die ›ohne Gewalt‹ vonstatten gehen sollte. Dabei bleibt die rhetorische Ausrichtung dieser am Natürlichkeitsideal orientierten Tanzlehre erhalten – nicht nur als körperliche Grundausbildung für eine gute actio, sondern gar als getanzte actio, wie Feldtensteins Formulierung von den »Tönen und Gebärden der tanzenden Declamation« zeigt.825 Zum anderen erscheinen weiterhin ›anachronistische‹ Tanzlehren wie Carl Wilhelm Reinholds Betrachtungen über den wahren Anstand und über die Mittel, die Haltung des Körpers zu verschönern (1808), basierend auf einem bereits 1760 veröffentlichten Handbuch des Hoftanzmeisters Mereau, die mit täglichen disziplinierenden Übungen und mechanischen Hilfsmitteln wie Gewichten, Bandagen, Metallhalsbändern oder ›Fußmaschinen‹ den Körper gerade rücken und in Symmetrie drillen, um ihn wiederum ›natürlich‹

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Taubert, Rechtschaffener Tanzmeister, S. 284. Vgl. Walter Salmen, Der Tanzmeister. Geschichte und Profi le eines Berufes vom 14. bis zum 19. Jahrhundert, Hildesheim, Zürich, New York 1997, S. 111f. Vgl. Mourey, Gibt es eine Aufrichtigkeit des Körpers? Zu den deutschen Tanzlehrbüchern des späten 17. Jahrhunderts, S. 340. Carl Joseph von Feldtenstein, Erweiterung der Kunst nach der Chorographie zu tanzen, Tänze zu erfinden, und aufzusetzen; wie auch Anweisung zu verschiedenen NationalTänzen, Braunschweig 1772, ND hg. von Kurt Petermann, Leipzig 1984, S. 16. Feldtenstein, Erweiterung der Kunst nach der Chorographie zu tanzen, S. 19. Vgl. Feldtenstein, Erweiterung der Kunst nach der Chorographie zu tanzen, S. 21.

erscheinen zu lassen.826 Die alltägliche Körperpraxis wird hier einer gewaltsamen Normierung unterworfen mit dem Ziel, sich einem allgegenwärtigen Publikum als wohlerzogen, anständig, sozial hochrangig und eben männlich oder weiblich darzustellen. Ebenso wie in den Anstandslehren wird für die Frau eine größere Relevanz des körperlichen Anstands behauptet, weshalb ihr – zudem mangelhaft erscheinender – Körper einer umso radikaleren Disziplinierung unterworfen wird. Trotz der Kritik an einer solchen Tanzerziehung im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts geraten Tanzbücher und Tanzunterricht nicht in Vergessenheit, vielmehr scheint das Bedürfnis nach einer körperlichen (Tanz-)Erziehung als Basis einer ausgezeichneten actio – gerade im Umfeld des Theaters, aber auch der ›guten Gesellschaft‹ – weiter zu bestehen.827 Damit stellen Tanzlehrbücher eine weitere Textgat-

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Carl Wilhelm Reinhold, Betrachtungen über den wahren Anstand und über die Mittel, die Haltung des Körpers zu verschönern. Ein Handbuch für Erzieher, Künstler [etc.] nach dem Französischen des Mereau weiland Hoftanzmeisters zu Gotha frey bearbeitet von Carl Reinhold, Göttingen: Heinrich Dieterich 1808; Carl H. Mereau, Réflexions Sur Le Maintien Et Sur Les Moyens D’en Corriger Les Defauts Par Mr. Mereau, Maître De Danse & Sous-Directeur Des Plaisirs De La Cour De S. A. S. M. L. D. D. S. G., Gotha: Mevius & Dieterich 1760. Den Anachronismus der Neuauflage nach fast fünfzig Jahren erkennt schon die zeitgenössische Kritik: rzw., Rezension zu: Betrachtungen über den wahren Anstand und über die Mittel, die Haltung des Körpers zu verschönern (1808). In: Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung, 6/88, 1809, Sp. 96. Mereaus Lehren erhalten durch den berühmten Schauspieler August Wilhelm Iffland im beginnenden 19. Jahrhundert wieder Einfluss – und zwar durchaus nicht nur auf Schauspieler und Schauspielerinnen. Ifflands kleine Schrift mit dem Titel Hoftanzmeister Mereau ist der aktuelle Anlass zu Reinhards Neu-Veröffentlichung von Mereaus Réfl exions. Vgl. August Wilhelm Iffland, Hoftanzmeister Mereau, o. O. 1803. Des Weiteren wurde ein Auszug aus Hoftanzmeister Mereau im Berlinischen Damen-Kalender auf das Jahr 1803, Berlin: Unger 1802, S. 1–34, publiziert. Außerdem gibt Iffland in seinem Almanach für Theater und Theaterfreunde auf das Jahr 1807, Berlin: Oehmigke 1807, S. 87–132, unter dem Titel »Fragmente über einige wesentliche Erfordernisse für den darstellenden Künstler auf der Bühne: 1. Über den Anstand« wesentliche Stellen aus Mereaus Réfl exions in eigener Übersetzung wieder und ergänzt sie um eigene Anmerkungen zum körperlichen ›Anstand‹ insbesondere von Schauspieler/innen. In seinem Hoftanzmeister Mereau berichtet Iffland, wie er als unerfahrener Schauspielschüler 1777 an das Gothaer Hoftheater kommt und auf Anraten Conrad Ekhofs Unterricht bei Mereau nimmt, um allererst »den Gebrauch des Körpers« (S. 12) zu erlernen. Anders als Ekhof vertritt Mereau nicht die Ansicht, der gestische und mimische Ausdruck komme beim entsprechenden Gefühl von selbst. Vielmehr lehnt er dies als falsch verstandene Natürlichkeit ab, die in Wahrheit Nachlässigkeit sei. Stattdessen zeigt Mereau Iffland, wie man die (schauspielerische ebenso wie die alltägliche) Rede durch eine wohldosierte, überdachte Körpersprache unterstützt, bei der jeder einzelne Fingerzeig, jede minimale Hand- oder Armbewegung, der Blick, der Gang, die Haltung und die Stimme ihre »besondere und ausdrucksvolle Bedeutung« (S. 25) haben. Mereaus Lehren beschränken sich nicht auf das Theater, vielmehr ist eine kontinuierliche Performanz des körperlichen Anstands notwendig, um den Bewegungen die Gewolltheit und Künstlichkeit zu nehmen und sie zur ›zweiten Natur‹ zu machen: »Seyn Sie zu Hause wie auf der Bühne, und auf der Bühne wie zu Hause. Wer zu Hause sorgfältig ist, wird auf der Bühne

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tung dar, die auch noch im späten 18. sowie im 19. Jahrhundert gender-spezifisches Wissen über die actio-Erziehung vermittelt. Die Anstandslehren selbst, um nach diesem Exkurs auf den eigentlichen Untersuchungsgegenstand zurückzukommen, empfehlen den Tanzunterricht nachdrücklich zur physischen Ausbildung: Er vermittele dem Körper Gleichgewicht, Selbstbeherrschung und Anmut. Über das Menuett hinaus lernen der Mann und die Frau unter der Anleitung des Tanzmeisters, ihre Körper ›zu tragen‹. Siede vermutet gar, das Menuett sei nur für die Ausbildung der ›anständigen‹ actio erfunden worden: Sie [die Menuett] lehrt das Sittsameinladende der Miene und Stellung, die ergebne Beugung vor einer ganzen Gesellschaft, das Kompliment der Artigkeit, das man einem Gegenüberstehenden macht, das bescheidne sittsame sich Entgegenkommen, also den schön gehaltenen Gang, Gewandheit der Wendungen, anständige Zutraulichkeit bei dem Führen, sittsame, edle Zurückhaltung, wenn beide Arme zum Ende des Tanzes sich gegeneinander öffnen, offnes, aber nicht starres, sondern zuweilen mit einem sittsamen Niedersehen abgewechseltes, ins Auge Schauen, Anstand in Stellungen und Wendungen.828

All dies wird im Tanzunterricht spielerisch erprobt, in festlichen Gesellschaften wiederholt und unter den Blicken der Umstehenden dauerhaft körperlich eingeprägt. Bemerkenswert ist, dass den Tanzübungen nicht nur die Fähigkeit beigemessen wird, den Körper zu trainieren, nach bestimmten Regeln zu disziplinieren und ihm eine gewisse ästhetische, anmutige Bewegung beizubringen. Die Anstandslehren schreiben dem Tanz zudem die der Rhetorik analoge Leistung zu, den Körper zu befähigen, sich »der Empfindung und dem Ausdruck angemessen«829 zu bewegen. Die Kunst des Tanzes verwendet den Körper ebenso als Ausdrucksinstrument wie die Kunst der actio. Tanzen zu lernen bedeutet also zugleich, eine ausdrucksstärkere actio zu üben, argumentieren die Anstandslehren. Während Siede für den Mann nicht nur den Tanz, sondern auch Fechtübungen, die »dem ganzen Körper Raschheit, Leben, Gewandheit, und mit einem Worte, den festen, gesunden Männeranstand«830 geben, sowie Reiten, Spiele in freier Luft, Ringen und Wettrennen vorschlägt, ist der Tanz für die Frau von besonderer

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natürlich seyn.« (S. 26) So verdankt Iffland der Habitualisierung von Mereaus Lehren seinen »von allen Zeitgenossen gerühmten Anstand« und das »weltmännische, von echter Vornehmheit zeugende Auftreten«, das ihm wiederum den »Verkehr mit der guten Gesellschaft« erschließt, ja die »soziale Stellung seines Standes« insgesamt anhebt. Vgl. Joseph Kürschner, Iffland, August Wilhelm. In: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 14, Leipzig: Duncker und Humblot 1881, S. 6–13, S. 6. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 27. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 44. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 49.

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Relevanz, da er die einzige Körperübung darstellt, die ihr erlaubt ist. Diese besondere Stellung des Tanzes für die weibliche Körperausbildung wird noch von Tanzlehren des frühen 19. Jahrhunderts bestätigt. So erklärt Die Tanzkunst in Beziehung auf die Lehre und Bildung des wahren Anstandes und des gefälligen Äußern (1838), dass besonders Frauen den Tanz nötig hätten, »deren Körperconstitution, die gewöhnlich schwach ist, der Stärkung durch Übung bedarf, welche den Nachtheilen der sitzenden Lebensart vorbeugt, zu welcher sie sich, unsern Sitten gemäß, genöthigt sehen.«831 Und Der instructive Tanzmeister für Herren und Damen (1826) schreibt: Ganz vorzüglich auch müssen die jungen Damen sich dieser schönen Kunst befleißigen; für sie es sehr nöthig, durch die Tanzkunst ihrem Körper den Anstand und die Grazie zu geben, die ihnen unentbehrlich sind, wenn sie für gebildet gehalten seyn wollen. Die Tanzkunst ist es, die dieses Geschlecht fähig macht, den Forderungen zu entsprechen, die man an dasselbe zu machen berechtigt ist.832

Die Tanzausbildung verbindet die Herstellung der körperlichen Konstitution mit der Vermittlung eines graziösen, ästhetischen Anstands. Wie auch in Bezug auf die stimmliche Ausbildung wird im Hinblick auf die körperliche Ausbildung ein vorrangig ästhetischer Anspruch an die Frau gestellt. Zugleich wird im Tanz, bei dem sich der Mann und die Frau so nahe kommen wie sonst nie im geselligen Leben, die actio auf die Probe des Anstands gestellt: Siedes Koppelung von scheinbaren Gegensätzen wie das »Sittsameinladende« oder die »anständige Zutraulichkeit« zeugen von einem Spiel zwischen Mann und Frau, zwischen Abstand und Nähe, Begehren und Selbstdisziplin, das körperlich ausagiert wird. Im streng reglementierten Tanz werden die Grenzen dessen, was im Verhältnis der Geschlechter als anständig gilt, eingeübt. Die tänzerische Interaktion trainiert nicht zuletzt das kairos, die Fähigkeit, im richtigen Moment (verbal und gestisch) angemessen zu reagieren – und zwar auf eine geschlechtsspezifische Weise, werden doch dem Mann und der Frau im Tanz verschiedene standardisierte Schrittfolgen, Kommunikations- und Verhaltensweisen eingeprägt. Fazit Indem dieses Kapitel der beachtlichen Relevanz von Übungstechniken in den Anstandslehren des 18. Jahrhunderts nachgegangen ist, sollte deutlich werden, dass die actio mit einem durch Judith Butler geschulten Blick nicht mehr als Modell expressiver körperlicher Zeichen wahrgenommen werden kann. Gerade im Hin-

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Paul Bruno Bartholomay, Die Tanzkunst in Beziehung auf die Lehre und Bildung des wahren Anstandes und des gefälligen Äußern, Gießen [o. V.] 1838, S. 19. Louis Casorti, Der instructive Tanzmeister für Herren und Damen, oder die Kunst, sich in kurzer Zeit durch bloßen Selbstunterricht die beliebtesten Pas, Touren und Tänze der gewöhnlichen und höhern balletmäßigen Tanzkunst anzueignen, Ilmenau: Voigt 1826, S. 1f.

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blick auf die Kategorie ›Geschlecht‹ hat es sich als produktiv erwiesen, die actio als Performanz zu denken: Denn die Übungsanleitungen zeigen, wie (Geschlechts-) Identität nach kulturellen Bildern konstituiert – und nicht etwa Vorgängiges ›ausgedrückt‹ wird. Dabei wird lesbar, wie die Anstandsbücher ein rhetorisches Subjekt (aus-)bilden, das einerseits durch die wiederholte Aufführung von Konventionen allererst hervorgebracht wird. Andererseits ermächtigen die Anstandsbücher dieses Subjekt, sich mit Erfolg in der Gesellschaft darzustellen. Indem die Anstandslehren die Frau in die Vermittlung rhetorischer Techniken einbeziehen, sprechen sie sie als rhetorisches Subjekt an. Aus dieser Perspektive kann ich Kirsten O. Frielings These nur bedingt zustimmen: Im Gegensatz zum Mann, der als Beherrscher der Natur auch seinen eigenen Körper kontrollieren kann, muß die Frau aufgrund ihrer schwachen Natur die Disziplinierung ihres Körpers erst erlernen – und zwar mit Hilfe der Anstandsbücher. Diese haben somit unterschiedliche Bedeutung für die Geschlechter: Männern soll durch die Anstandsbücher der höfliche Umgang in Gesellschaft beigebracht werden, wohingegen den Frauen die Kontrolle über ihren Körper vermittelt werden soll.833

Zwar ist Frieling zuzustimmen, dass die Anstandslehren Frauen in erhöhtem Maße körperliche Selbstbeherrschung beibringen wollen. Der Mann wird jedoch nicht als naturgegebener Herrscher über seinen Körper dargestellt. Dass der Frau eine schwächere Natur attestiert wird, mag zwar um 1800 üblich sein, ist jedoch in den Anstandslehren keineswegs ablesbar.834 Die verstärkten Aufrufe zur weiblichen Disziplin könnten auch damit begründet werden, dass der Mann traditionell bereits in anderen Zusammenhängen diszipliniert wird: etwa im schulischen und sportlichen (Rhetorik-)Unterricht. Der Frau fehlt diese Ausbildung, die die Anstandsbücher mit verstärktem Aufwand nachholen. Dabei gehen die Anstandslehren über die reine Vermittlung von Selbstkontrolle hinaus. Vielmehr lehren sie Techniken der rhetorischen Selbstdarstellung, die auch die Frau befähigen, diese in der Gesellschaft bewusst einzusetzen. Somit ist den Anstandslehren nicht nur an einer (im Elias’schen Sinn) restriktiven Disziplinierung der Frau gelegen, sondern auch an deren rhetorischer Ermächtigung.

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Frieling, Ausdruck macht Eindruck, S. 109. Ebenso wenig führen die Tanzlehren die schwächere Konstitution der Frau auf deren Natur zurück, sondern auf gesellschaftliche Umstände – beispielsweise auf eine überwiegend sitzende Tätigkeit, wie das vorangegangene Zitat von Bartholomay gezeigt hat. Vgl. Bartholomay, Die Tanzkunst in Beziehung auf die Lehre und Bildung des wahren Anstandes und des gefälligen Äußern, S. 19.

IV.6 Synthese Während in der alten Rhetorik die weibliche Rede die Grenzen der ›guten‹ männlichen Rede markiert und Frauen als Rednerinnen – mit wenigen Ausnahmen – überhaupt nicht auftreten, hat der Exkurs zur Gesprächsrhetorik des 16. und 17. Jahrhunderts gezeigt, dass Frauen hier eine bemerkenswerte theoretische Einbeziehung zuteil wird. Sieht man in Castigliones über Jahrhunderte europaweit einflussreichem Libro del Cortegiano (1529) erstmals eine ›Rhetorik des Gesprächs‹ ausgebildet,835 so ist diese von Beginn an gegendert (Exkurs 1). Neben den Hofmann, der im Rückgriff auf Ciceros De oratore als vir bonus dargestellt wird, tritt die Hofdame, eine – wie ich sie lese – femina bona, der eine rhetorische Aufgabe zugeschrieben wird: sich mit jedem über alles angenehm unterhalten zu können. Gerade der actio wird in der höfischen Konversation eine besondere Relevanz beigelegt, wobei Castiglione neben der für beide Geschlechter eingeforderten grazia und sprezzatura betont, dass die Frau beim Gehen, Stehen und Sprechen immer ›als Dame erscheinen‹ solle. Dies impliziert die Forderung nach einer vor Publikum kontinuierlich wiederholten und sichtbaren Performanz von ›Frausein‹. Begründet wird die geschlechtsspezifische Differenzierung zwischen einer festen, gesetzten männlichen und einer zarten, weichen weiblichen actio durch das decorum, also eine kulturhistorische Vereinbarung darüber, ›was sich schickt‹. Geschlecht erscheint damit nicht als ›Natur‹, sondern als kontinuierliche, kulturell vorgegebene und ästhetisch geformte Performanz. Auch in Deutschland wird die Frau in die formalisierten Gesprächsrunden einbezogen, wie Harsdörffers Frauenzimmer-Gesprächspiele (1641–1649) deutlich machen (Exkurs 2). Anders als Castigliones Cortegiano, der die Gesprächsrunde am Hof von Urbino als Bühne für rhetorische Meisterleistungen von gebildeten (männlichen und weiblichen) Adeligen skizziert, entwirft Harsdörffer, so meine These, die Gesprächspiele als Einladung zur Bildung durch Gespräche für Gespräche. Das ist der Grund, warum die Gesprächsrhetorik auch der weniger gebildeten Frau offen steht. Zugrunde liegt – im Gegensatz zur agonalen Ausrichtung der ›großen Rede‹ – eine invitatorische Konzeption der Gesprächspiele, die sich des unterschiedlichen Bildungsstandes ihrer Teilnehmer/innen bewusst ist, diese aber dennoch einbeziehen und für die Zukunft rhetorisch ermächtigen will. Der Exkurs zur Gesprächsrhetorik im 16. und 17. Jahrhundert belegt, dass es aus einer genderorientierten Perspektive produktiv ist, das Gespräch als rhetorische Situation zu werten. Während die einseitige Erforschung von Rhetorik als ›öffentlicher‹ Rede nur den Ausschluss von Frauen konstatieren kann, kommen in der Gesprächsrhetorik die hier einbezogenen Rednerinnen in den Blick. Die tiefgreifende Transformation der Rhetorik im späten 18. Jahrhundert sowie die gleichzeitige Herausbildung polarer Geschlechtscharaktere macht das 18. Jahrhundert zum zentralen Untersuchungszeitraum dieser Arbeit – weil sich die Frage

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Fauser, Das Gespräch im 18. Jahrhundert, S. 162.

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stellt, inwiefern das ›neue‹ Wissen um dichotomische Geschlechtscharaktere mit dem rhetorischen Wissen verbunden wird. Aufschluss liefern mir Rhetoriken, Erziehungstexte und Anstandslehren des 18. Jahrhunderts, die ich darauf befragt habe, inwiefern sie die Kategorie ›Geschlecht‹ in ihre jeweiligen actio-Modelle einbeziehen. Ein Anhaltspunkt meines Forschungsinteresses war die literaturwissenschaftlich fundierte These von Doerte Bischoff, dass die weibliche Körper-Rede innerhalb des antirhetorischen Programms der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als Inbegriff einer ›natürlichen‹ Redeweise aufgewertet wird (1.2).836 Indem ich allerdings ›Gebrauchstexte‹ als Quellen erschließe, die für eine rhetorische Körpererziehung eintreten, stehen Texte im Mittelpunkt, die keineswegs ein weibliches ›Natur-Sprechen‹ entwerfen, sondern die Frau als kunstgerechte Rednerin für gesellige Redesituationen ausbilden. Während in literarischen Texten der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die weibliche (Körper-)Rede als naturhafte Sprache des Herzens codiert wird, vermittelt die der Rhetorik verpflichtete Anweisungsliteratur den wirkungsorientierten Einsatz der eloquentia corporis. Andererseits verlangt sie ein möglichst ›natürlich‹ wirkendes Auftreten. Die Gebrauchstexte machen also in ihren expliziten Übungsanleitungen – anders als die literarischen Texte – gerade das Paradox sichtbar, das in einer anerzogenen Performanz von ›Natürlichkeit‹ besteht. So behauptet sich in widersprüchlicher Gleichzeitigkeit mit der empfindsamen Idealisierung eines ›natürlichen Ausdrucks‹ eine traditionellere Rhetorik der körperlichen Beredsamkeit – auch und gerade für Frauen. Dem Argument, dass die ›natürlich‹ sprechende Frau im 18. Jahrhundert erneut aus der Rhetorik ausgeschlossen wird, ist aus meiner Perspektive nur eingeschränkt zuzustimmen. Meine Arbeit ergänzt damit die Ergebnisse der gender-orientierten Rhetorikforschung, die sich in Bezug auf das 18. Jahrhundert bislang auf literarische Diskurse konzentriert hat. Bevor ich mich den Rhetoriken, Erziehungs- und Anstandslehren des späten 18. Jahrhunderts zugewendet habe, standen Positionen der Frühaufklärung am Ausgangspunkt meiner Analyse von Geschlecht und actio im 18. Jahrhundert. Erkenntnisleitend war die Vermutung, dass in der oftmals als ›frauenfreundlich‹ beschriebenen Frühaufklärung vermehrt Rednerinnen auftreten oder beschrieben werden (IV.2). Tatsächlich wird die Rednerin in verschiedenen Texten und in bemerkenswertem Umfang verhandelt, wobei meine Untersuchung von Frauenzimmer-Lexika (2.1) und einer Scherzrede über die Vorzüge der Frau als Rednerin (2.2) gezeigt hat, dass je nach Textgattung Lob und Schmähung der Rednerin gleichzeitig auftreten. Frauenzimmer-Lexika zielen darauf, anhand von exempla gelehrter Frauen – und darunter befindet sich, wie ich herausgearbeitet habe, eine überraschend große Zahl rhetorisch gelehrter und auftretender Frauen – die Bildungsfähigkeit der Frau unter Beweis zu stellen. Allein die Quantität der aufgezählten historischen Rednerinnen macht die Rednerin in einem nie zuvor gekannten Umfang sichtbar und holt sie so in einen Raum des Möglichen. Daneben ist die Darstellungsweise der Rednerinnen

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Bischoff, Die schöne Stimme und der versehrte Körper, S. 260.

signifikant: Die Frauenzimmer-Lexika halten es für denkbar, dass eine Rednerin, Hortensia, den größten Redner der Antike, Demosthenes, überflügelt habe. Quantität und Darstellungsweise der Rednerinnen-Viten bieten einen Gegenpol zur traditionellen Rhetorikgeschichtsschreibung und werden als Kritik an der männlich dominierten Kanonisierung selbst lesbar. Mit ihrem expliziten Aufruf zur imitatio zielen die Frauenzimmer-Lexika auf eine sich schrittweise vollziehende Bildungsgleichheit und damit einhergehende rhetorische Ermächtigung von Frauen. Dass sich diese Vision im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts nicht erfüllt hat, ist bekannt. Während die Frauenzimmer-Lexika für eine kurze Zeit die ›Rednerin‹ als angemessen agierendes Subjekt denkbar machen, führt Blaufus’ Scherzrede diejenigen altbekannten misogynen Argumentationsweisen und Topoi ins Feld, durch die weibliche Rede als inhaltlich leer, unbedeutend, eigennützig, irrational, unausgebildet, naturgegeben und insbesondere die weibliche Körper-Rede als verführerisch, üppig, schmeichelhaft und falsch erscheint. Vor dem Hintergrund einer ironischen Definition der Rhetorik, die nicht die ars, sondern einzig die Wirkung in den Vordergrund rückt, wird die Frau als verführerische Rednerin in Alltagssituationen dargestellt. Die Grenze zwischen weiblicher, privater, ungelehrter Wohlredenheit und männlicher, öffentlicher, gelehrter Beredsamkeit wird nur im Scherz aufgehoben, tatsächlich jedoch gerade verfestigt. Als Ergebnis meiner Zusammenschau von ›Frauenlob‹ und ›Frauenschelte‹ lässt sich festhalten, dass ›das Frauenzimmer als Rednerin‹ in der Frühaufklärung zwar nicht als sozialhistorisches Subjekt, aber immerhin als rhetorisches Gedankenspiel sichtbar wird. Ausgehend von dieser Spur habe ich gefragt, ob und inwiefern sich die Intelligibilität der Rednerin auch auf solche Texte auswirkt, die der rhetorischen Tradition in größerem Maße verpflichtet sind (IV.3): Beeinflusst die ›Denkbarkeit‹ der Rednerin in der Frühaufklärung auch die Konzeption des Rednerideals in der traditionellen Rhetorik? Zur Beantwortung dieser Frage wurde mit Gottscheds Ausführlicher Redekunst eine der maßgeblichen Rhetoriken der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts untersucht, die nicht nur an das Rednerideal der alten Rhetorik anschließt und deren officia-Systematik übernimmt, sondern – wie ich gezeigt habe – auch deren Darstellung der Rhetorik als explizit männliche Kunst (3.1). Während Gottsched zwar die Männlichkeit sowohl des Redners als auch der Redekunst in den Vordergrund rückt, liegt ein Unterschied zu der antiken Rhetorik darin, dass er die Grenzen der ›guten‹ männlichen Rede nicht durch die auszuschließende weibliche Rede markiert. Dies mag durchaus auf die frühneuzeitliche Aufwertung der Frau als bildungsfähiges Subjekt zurück zu führen sein. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist es vor dem Hintergrund des Ausdrucksparadigmas bemerkenswert – und bislang von der Forschung nicht hinreichend wahrgenommen837 –, dass die rhetorische actio keineswegs verschwindet,

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Während Ursula Geitner davon ausgeht, dass die rhetorische Konzeption der Körpersprache durch das Ausdrucksparadigma ›ersetzt‹ worden sei, plädiere ich mit Manfred

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sondern vielmehr in eigenständigen actio-Rhetoriken umfangreich beschrieben wird. Während die actio in der rhetorischen Tradition als ein erlernbares, konventionelles Zeichensystem betrachtet wird, geht das in der Mitte des 18. Jahrhunderts aufkommende Ausdrucksmodell davon aus, dass sich innere Bewegungen natürlich, unmittelbar und mühelos auf der Oberfläche des Körpers in Mimik, Gestik, Haltung und Stimme ausdrücken. Dennoch ist es gerade die actio, die am Ende des 18. Jahrhunderts ein besonderes Interesse auf sich zieht: Im Kontext der aufkommenden Schauspielkunst löst sich die actio-Lehre aus der officia-Systemrhetorik und wird unter psychologischen Gesichtspunkten neu konzipiert. Diese eigenständigen actio-Abhandlungen – von denen insbesondere Engels Ideen zu einer Mimik (1785), Cludius’ Grundriß der körperlichen Beredsamkeit (1792) und Pfannenbergs Über die rednerische Action (1796) untersucht wurden – liefern einen gigantischen, universellen Katalog von Affekten und dazugehörigen Körperzeichen (3.2). Aus einem gender-orientierten Blickwinkel ist es eben diese Universalität, die irritiert, ignoriert sie doch ausdrücklich, dass auf der Bühne ebenso wie im bürgerlichen Umgang der Mann andere Affekte anders in Szene zu setzen hat, als die Frau, wie mein Exkurs zu Lessings Theaterkritiken gezeigt hat. Engel ist sich explizit bewusst, die Kategorie ›Geschlecht‹ (neben anderen Differenzkategorien) auszublenden: Die Auslagerung von Geschlechtlichkeit aus der systematischen Beschreibung des Körperausdrucks soll im Namen einer Konzentration auf das ›Wesentliche‹ die Wissenschaftlichkeit der Mimik garantieren. Anders als eine Vielzahl literarischer und philosophischer Texte, die am Ende des 18. Jahrhunderts mit großem argumentativen Aufwand eine in der Natur begründete Differenz der Geschlechter beschreibt, interessiert sich die Mimik für jeden noch so seltenen Affekt und dessen Ausdruck, nicht aber für die Verschiedenartigkeit dieses Ausdrucks bei Rednern und Rednerinnen. Dies liegt, wie ich gezeigt habe, auch an der psychologischen Perspektive: Engel hat keine Erfolg versprechenden rhetorischen Überzeugungsstrategien im Sinn – wofür die konventionelle Erwartungshaltung eines Publikums berücksichtigt werden müsste –, sondern will eine Psychologie des Ausdrucks entwickeln. Die Frau kann den gleichen Affekt vielleicht auf die gleiche Art wie der Mann ausdrücken – zum Beispiel ›Stolz‹ mit in die Hüfte gestemmtem Arm und breitbeinigem Stand –, solange nicht die Wirkung auf ein Publikum im Vordergrund steht, das die konventionelle Erwartung an die Frau richtet, ›sanfter zu scheinen‹. Die späteren actio-Rhetoriken von Cludius und Pfannenberg stellen dagegen nicht die psychologische Entsprechung beziehungsweise prozessuale Beeinflussung von Innerem und Äußerem in den Vordergrund, sondern die sichtbare, ästhetische Darstellung des Inneren durch den Körper zum Zwecke des Erfolgs. Diese Rück-

Beetz für die Anerkennung einer Gleichzeitigkeit zweier sich widersprechender Aussageformationen. Vgl. ausführlich: Kapitel IV.1.2; Geitner, ›Die Beredsamkeit des Leibes‹, S. 184; Beetz, Die Körpersprache im Wandel der deutschen Rhetorik vom 17. zum 18. Jahrhundert, S. 56.

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kehr zur rhetorischen Wirkungsabsicht wird in zeitgenössischen Rezensionen kritisiert, die die actio in einen zweckfreien ästhetischen Kontext zu stellen wünschen. Doch gerade das Argument der Wirkungsorientierung ist in Bezug auf Rhetorik und Geschlechterdifferenz so relevant: Die Darstellungen starker Affekte und gesellschaftlich anerkannter Weiblichkeit schließen sich gegenseitig aus, wie ein abschließender Blick auf Seckendorfs Vorlesungen über Deklamation und Mimik von 1816 gezeigt hat: Will die Frau überhaupt (in einem positiven Sinn) ›wirken‹, kann sie das nur, wenn sie zugleich ›weiblich‹ wirkt. Jede andere Darstellungsform ergäbe ein geschlechtlich uneindeutiges ›Zerrbild‹, kein mit rhetorischer Wirkmächtigkeit ausgestattetes Subjekt. Die erwartete Auskunft, auf welche Weise die Frau in ihrem Redeauftritt ihre Weiblichkeit aufzuführen hat (und der Mann seine Männlichkeit), geben die in Bezug auf die Darstellung der einzelnen Affekte so ausführlich wie systematisch unterrichtenden actio-Rhetoriken jedoch nicht – ebenso wenig wie die anschließend in den Blick genommene einzige Rhetorik für Frauen im 18. Jahrhundert (3.3). Die Redekunst fürs Frauenzimmer stellt in jeder Hinsicht einen Einzel- und Sonderfall dar. Es handelt sich nicht zufällig um eine Übersetzung aus dem Französischen, die, 1768 erschienen, eher ein Überbleibsel der französischen preziösen Salons und des ›galanten Diskurses‹ zu sein scheint.838 Dennoch: Die Übersetzung wurde in Deutschland gedruckt und rezensiert, weshalb sie das Textcorpus sinnvoll ergänzt. Die Redekunst ist eine klassische System-Rhetorik, die sich – speziell für ihr weibliches Publikum – um Verständlichkeit, Abwechslungsreichtum und anschauliche Beispiele bemüht. Während eine Vielzahl von Analogien und Metaphern weiblich gegendert werden und der weibliche Körper als Findeort (Topos) der Rhetorik dient, bleibt der Redner selbst männlich imaginiert und wird in ein libidinöses Verhältnis zur ›Dame Rhetorik‹ gesetzt. Obwohl anzunehmen wäre, dass ein Rhetorikratgeber seine Rezipient/innen rhetorisch ermächtigen sollte, bietet der Text in erster Linie eine Bühne für die galante Rhetorik des Verfassers. Dass dagegen die Konzeption der actio keine geschlechtsspezifischen Aktualisierungen für Madame enthält, scheint darauf hinzuweisen, dass die Redekunst fürs Frauenzimmer zwar ein gelehrtes Wissen um die (alte) Rhetorik vermitteln will, nicht aber auf dessen Umsetzung im alltäglichen Leben abzielt. Inwiefern eine solche Umsetzung überhaupt gesellschaftlich möglich (und erwünscht) wäre, stellt eine Rezension in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek in Frage. Die Kritik verurteilt jegliche Vermittlung von ›unnützem‹ Wissen: Und da Frauen zwar Briefe schrieben, Gespräche führten und läsen, nicht aber Reden hielten, sei die Redekunst fürs Frauenzimmer schlichtweg überflüssig. Damit wird einem Bildungsanspruch, der durch rhetorische Bildung auf eine sukzessive rhetorische Ermächtigung von Frauen abzielt

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Vgl. zur Aufnahme französischer Konversationstheorie im deutschen ›galanten Diskurs‹: Gelzer, Konversation und Geselligkeit im ›galanten Diskurs‹ (1680–1730).

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(wie beispielsweise von Harsdörffer oder den Frauenzimmer-Lexika vertreten), die Nutzlosigkeit weiblicher Redekunst per se entgegengehalten. Im Zuge der Transformation der Rhetorik im 18. Jahrhundert ist es neben der Ästhetik die Pädagogik, die die Rhetorik beerbt und sich als selbstständige Wissenschaft etabliert (IV.4). Im letzten Drittel des so genannten ›pädagogischen Jahrhunderts‹ wird auch der Mädchenerziehung zunehmendes Interesse entgegen gebracht (4.1). Daraus folgt meine Frage, ob und wie die aufkommende Erziehungsliteratur für Mädchen in irgendeiner Form eine rhetorische Erziehung vermittelt. Während Fénelons schon im späten 17. Jahrhundert entstandener Traité de l’ éducation des filles Mädchen im Rahmen ihrer Vorbereitung auf die Führung eines Haushaltes neben einem umfassenden hauswirtschaftlichen Grundwissen auch eine (restriktive) Ausbildung des Sprechens zukommen lässt, ja sogar vereinzelt Mädchen die Lektüre antiker Rhetoriken gestatten will, zielen Rousseaus Erziehungsroman Emile ou de l’ éducation (1762) und Campes Väterlicher Rath für meine Tochter (1789) weniger auf die Vermittlung von Wissen, als auf die Ausbildung eines spezifischen Geschlechtscharakters. Meine Lektüre dieser drei wohl prominentesten Texte zur Mädchenerziehung im 18. Jahrhundert hat schlaglichtartig gezeigt, wie sich anthropologische Annahmen über das ›Wesen‹ der Frau auf spezifische Weise mit einer Disziplinierung des Sprechens verknüpfen. Während die Frau allen drei Autoren als schwatzhaft gilt, nimmt nur Fénelon diese Annahme zum Anlass, umso nachdrücklicher eine rhetorische Erziehung der Frau zu fordern (4.2). Rousseau nutzt den Topos dagegen, um die Differenz der Geschlechter zu begründen und zu bestärken (4.3). Die Disziplinierung der weiblichen Rede erfolgt bei Rousseau nicht mehr durch die Frage, wozu eine Aussage nützlich sei – eine Frage, die Fénelon noch beiden Geschlechtern gestellt hatte und die Rousseau nur noch an den Mann richtet. Vielmehr hat sich die weibliche Rede an der Frage auszurichten, welchen Eindruck eine Aussage beim Publikum bewirke. Oberste (rhetorische) Aufgabe und geschlechtliche Bestimmung der Frau bestehen nun darin, der Gesellschaft zu gefallen – während sich der Mann gerade von der gesellschaftlichen Meinung freizumachen hat und deshalb ›offen‹ reden kann. Dieser Aufgabe folgt die Frau nicht nur aufgrund der externen Kontrolle durch die Gesellschaft, sondern auch aufgrund ihres inneren Wunsches zu gefallen, den Rousseau als spezifi sch weiblich und naturgegeben entwirft. In einer tautologischen Argumentationsweise dient Rousseau das Konzept des weiblichen Gefallenwollens zugleich als Begründung, Inhalt und Ziel weiblicher Rede: Der Junge oder Mann spricht kenntnisreich und steuert nützliche Aspekte zum Gespräch bei, das Mädchen oder die Frau spricht mit Geschmack und macht das Gespräch angenehm. Der Mann redet sachorientiert, die Frau beziehungsorientiert. Der Mann sagt, was er will, die Frau zeigt, was sie wollen könnte. Der Mann redet offen, die Frau verstellt. Der Mann redet, die Frau plaudert. Aufgabe der Erziehung des Mädchens ist es, wie gezeigt wurde, das weibliche ›Gefallenwollen‹ zu bestärken und zu üben – ein durchaus als ›rhetorisch‹ zu bezeichnendes Erziehungsprogramm, zielt es doch auf eine wirkungsorientierte 414

actio. Das weibliche Auftreten richtet sich Rousseaus Konzeption zufolge immer auf ein Publikum, das es (von sich als Frau) zu überzeugen gilt. Es reicht nicht, über bestimmte weibliche Tugenden zu verfügen, diese müssen auch sicht- und hörbar – mittels der actio – vor einem bestimmten Publikum in Szene gesetzt werden, um einen guten Ruf zu erlangen. Die Herstellung eines guten Rufs wird damit zur rhetorischen ›Aufgabe‹ der Frau – und ihre actio ein notwendiges Mittel der strategischen Selbstinszenierung. Da Rousseau der Frau das Gefallenwollen als ›natürliche‹ Eigenschaft zuschreibt, kann er die weibliche Rede zugleich als ›natürliche‹ ausgeben, folgt sie doch dem ›Herzenswunsch‹ zu gefallen. In einer paradoxen Anordnung erscheint die weibliche Rede zugleich rhetorisch und natürlich, wird die dissimulatio artis zugleich gefordert und entlarvt. Bekanntlich markiert Rousseaus Emile den Paradigmenwechsel von einer egalitäts- zu einer ergänzungstheoretisch formulierten ›Ordnung der Geschlechter‹. Die Konzeption des weiblichen Gefallenwollens ist insofern Ausdruck dieser Ordnung, als sie von einer supplementären Funktion der Frau für den Mann ausgeht und diese zugleich fixiert. Solange der Frau das Gefallenwollen als natürliche Eigenschaft und oberste Tugend – zusammen mit Schamhaftigkeit und Bescheidenheit – zugeschrieben wird, ist sie aus allen öffentlichen Räumen ausgeschlossen, in denen es um die rhetorische Durchsetzung eigener Interessen geht. Einen zweifelhaften Rest weiblicher ›Rede-Macht‹ verankert Rousseau in seinem Konzept weiblicher List, mit der die Frau auf eine indirekte, einschmeichelnde Weise Einfluss auf den Mann nehmen kann, ohne selbst die Mittel einer direkten Rede zugestanden zu bekommen. Eine solche sanfte, einschmeichelnde Rede in einem ausdrücklich privaten Bereich ist auch die einzige Möglichkeit, rhetorisch aktiv zu sein, die Campes Väterlicher Rath der Frau noch zugesteht – allerdings gründlich bereinigt von weiblicher ›List‹ und weiblichem Eigenwillen (4.4). Ganz dem bürgerlichen Nützlichkeitsideal verpflichtet stellt Campe nicht die zärtliche Gattin, sondern die tüchtige Hausfrau in den Vordergrund, deren Bescheidenheit zur weiblichen Königstugend ernannt wird. Der Mann wird zum naturgemäßen Herrscher über die Frau erklärt und die Erziehung zu einer Vollstreckungsgehilfin der Natur, die im gesellschaftlichen Auftrag die scheinbar natürlichen unterschiedlichen Anlagen zwischen Mann und Frau zur vollkommenen Differenz ausbildet. Die Bescheidenheit ist dabei diejenige Eigenschaft, die der Frau mit Nachdruck anerzogen wird und die jegliche öffentliche rhetorische Betätigung verunmöglicht. Im Anschluss an meine Lektüren dieser drei bedeutenden Erziehungsschriften mit ihren (männlichen) Konzeptionen weiblichen Sprechens folgte die Analyse eines weiblichen ›Gegensprechens‹: Der Journal-Artikel »Die Gesprächigkeit der Frauen« (1805) zeigt, dass die normativen pädagogischen Entwürfe – und die darin verhandelten Geschlechterkonzeptionen – keineswegs mit der realen Praxis weiblicher Rede übereingestimmt haben müssen (4.5). In ihrem rhetorisch ausgefeilten, selbstreflexiven Artikel versucht die Erzieherin Adèle nicht etwa, den Topos weiblicher Geschwätzigkeit für unbegründet zu erklären, sondern verschiebt ihn, indem sie ›Geschwätzigkeit‹ als ›Gesprächigkeit‹ umdeklariert und die Nützlichkeit 415

weiblicher ›Viel-Rede‹ in der Erziehung und der geselligen Konversation betont. Angesichts der im Gespräch geforderten angenehmen, leichten und abwechslungsreichen Unterhaltung erscheint nicht die männlich konnotierte brevitas, sondern die weibliche Gesprächigkeit im Vorteil. So unterläuft Adèle die negative Konnotation der Geschwätzigkeit und legitimiert sowohl ihre eigene Erziehungstätigkeit als auch ihre Autorschaft. Die Erziehungslehren haben zwar Erkenntnisse darüber geliefert, inwiefern die Annahme polarer Geschlechtscharaktere in die Konzeption weiblicher Rede und diesbezügliche Erziehungsansätze einfließt, sie enttäuschen jedoch, wenn nach der konkreten Ausbildung einer geschlechtsspezifischen actio gefragt wird. Hier hat der Untersuchungsgegenstand des folgenden Kapitels Aufschlüsse gegeben: die Anstandslehren (IV.5). Im späten 18. Jahrhunderts bildet sich eine bürgerliche Anstandsliteratur aus, die spezifische Modelle der Angemessenheit für die weibliche und männliche actio entwickelt, normativ festschreibt und wirkmächtig verbreitet. Anders als die Erziehungstexte, die Erziehungsideale darstellen, gehen die Anstandslehren pragmatischer vor und richten konkrete Anweisungen und Übungsaufgaben direkt an ihre Zöglinge. Im Gegensatz zu den (actio-)Rhetoriken, die sich selbst als geschlechtsneutral entwerfen und universalistische actio-Modelle entwickeln, arbeiten die Anstandslehren geschlechtsdifferenzierte Modelle einer angemessenen weiblichen und männlichen actio aus. Ein maßgeblicher Unterschied der Anstandsliteratur zu den actio-Rhetoriken liegt darin, dass letztere die gigantische Bandbreite aller möglichen Affekte und der diese ausdrückenden actio zu katalogisieren suchen, während erstere eine normative Auswahl treffen, welche Affekte die weibliche oder männliche actio wirkungsorientiert darstellen sollte. Darin liegt auch einer der Gründe für die seltsame Geschlechtsneutralität der actio-Rhetoriken. Sie verfolgen eine überzeitliche, geschlechts- und standesneutrale, objektive und durch detaillierte Beschreibung bis hin zu Notationen möglichst exakt festgehaltene Sammlung, Systematisierung und Kodifizierung von allen möglichen Affekten und den jeweiligen Gesten, Gesichtern und Tönen, um diese auszudrücken. Die Anstandsbücher geben dagegen einen explizit historisch begrenzten Einblick in das bürgerliche Gesellschaftsleben um 1800 und treffen eine verglichen mit der schieren Masse der in den actio-Rhetoriken aufgeführten Affekten und Tugenden winzige, geschlechtsdifferenzierte und wirkungsorientierte Auswahl. Die Anstandslehren sind damit gleich in mehrfacher Hinsicht der aussagekräftigste Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit: Sie tradieren und popularisieren rhetorisches Wissen über die actio (nunmehr gänzlich aus dem rhetorischen System gelöst), sie entwerfen erstmals explizit geschlechtsspezifische actio-Modelle und sie zielen mit konkreten Übungstechniken auf die körperliche Habitualisierung dieser Modelle. Wie ich gezeigt habe, stehen die Anstandslehren damit in der Tradition der Rhetorik als Körperbildungsmacht – und zwar explizit im Dienste der Bildung gegenderter Körper. Zunächst habe ich anhand der entsprechenden Einträge im Zedler’schen Universallexikon (1748) und in Sulzers Theorie der schönen Künste (1771) sowie anhand 416

von Garves Cicero-Kommentar zu De officiis (1783) drei maßgebliche Konzeptionen des Anstands herausgearbeitet (5.2). ›Anstand‹ bedeutet im 18. Jahrhundert – zugespitzt formuliert – soviel wie ›angemessene actio‹. Beim ›Anstand‹ handelt es sich Zedler zufolge um ein konventionell vorgegebenes und geschlechtsspezifisches decorum, das, wie alle drei Definitionen betonen, in gemäßigten Redesituationen zum Tragen kommt. Ausgesprochene Relevanz spricht Garve der Sichtbarkeit des decorum zu, was die actio als evidenten Ausweis bürgerlicher Tugend in den Vordergrund rückt. Ausgehend von meiner These, dass durch die Anstandsliteratur Teile der rhetorischen actio-Lehre, angepasst an die Praxis des geselligen Umgangs, um 1800 erstmalig explizit für bürgerliche Rednerinnen verfügbar werden, habe ich ausgewählte Anstandslehren untersucht. Während die wohl bekannteste Umgangslehre, Adolf von Knigges Über den Umgang mit Menschen (1788), zunächst nur den Mann als Adressat ihrer genuin bürgerlichen Gesprächsrhetorik anspricht (5.3), erscheinen wenige Jahre später geschlechtsspezifische Anstandslehren, die das ideale Verhältnis der Redeweise zum Geschlecht des Redners beziehungsweise der Rednerin definieren (5.4). Aus der Vielzahl dieser Anstandslehren habe ich Siedes Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit sowie Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit (1797) ausgewählt, da sie eine außergewöhnliche Vergleichbarkeit von geschlechtsspezifischen actio-Modellen erlauben, Wenzels Mann von Welt (1801), der mit über fünfzehn Neuauflagen als Standardwerk bezeichnet werden kann, und schließlich Amalie Gräfin von Wallenburgs Anstandslehre für das weibliche Geschlecht (1824) als Repräsentantin der im frühen 19. Jahrhundert zunehmend von Frauen für Frauen verfassten Anstandslehren. Gemein ist den Anstandslehren nach Knigge neben der verstärkten Betonung der Geschlechterdifferenz, dass es nun gänzlich um das ›Äußere‹ des Menschen geht. In der Redesituation geselliger Konversation wird dem sichtbaren, körperlichen, anständigen Auftreten eine ungeheure Bedeutung beigemessen. Die Anstandslehren gehen explizit nicht davon aus, dass sich ein anständiges ›Inneres‹ in einer natürlichen Zeichenrelation äußerlich ausdrückt. Vielmehr stellen sie die produktions- und wirkungsorientierte Frage: Wie muss sich der Redner (oder die Rednerin) zeigen, damit er (oder sie) Beifall, Liebe und Achtung erhält. Dementsprechend richten sie ihren Fokus weniger auf eine ›innere‹ Bildung des Geistes und des Herzens (die aber vorausgesetzt wird), sondern auf die körperliche Ausbildung. Um zu erklären, wie Redner und Rednerinnen durch Gestik, Mimik und Stimmführung ein angenehmes ›Inneres‹ ästhetisch darstellen können, greifen die Anstandslehren auf das rhetorische actio-Wissen zurück. Damit dient die anständige actio vorrangig dazu, das ēthos des Redners oder der Rednerin – und weniger den Redeinhalt – sichtbar zu machen. Da dieser ›Charakter‹ (ēthos) als ein Geschlechtscharakter begriffen wird, entwickeln die Anstandslehren geschlechtsdifferenzierte Modelle der männlichen und weiblichen actio. Die Anstandslehren leiten damit nicht nur zum Verhalten nach den Regeln einer konventionellen Anstandsnorm an, 417

sondern auch zu einer damit verbundenen idealen Geschlechterperformanz und wirken so stabilisierend auf das dichotomische Geschlechterverhältnis zurück. Die Analyse hat gezeigt, dass die anständige actio für die Frau als wesentlich wichtiger als für den Mann erachtet wird. Unter dem ›Adlerblick‹ der Gesellschaft muss die Frau ihr ›Ansehen‹, also die öffentliche Meinung über ihre sichtbare Selbstinszenierung, herstellen und verteidigen. Unter dieser Dauerbeobachtung wird jede Körperbewegung zeichenhaft und die rhetorische Situation auf den gesamten Alltag ausgedehnt. Das Publikum erscheint nicht mehr als ein anwesender begrenzter Personenkreis (wie in der Antike), sondern als eine omnipräsente, argusäugige Öffentlichkeit. Anstand ist dementsprechend bei Wallenburg nicht mehr nur die anständige actio in einer spezifischen Redesituation, sondern wird als dauerhafter körperlicher Habitus konzeptualisiert. Die Kontrollinstanz des gesellschaftlichen Blicks bestätigt die beständige, wiederholte Performanz nicht nur der ›anständigen‹ bürgerlichen Identität, sondern auch der Geschlechtsidentität im Butler’schen Sinn. In einem Durchgang durch die einzelnen Bestandteile der actio, die Haltung, Gestik, Mimik, der Gang, die Stimmführung (ein Bereich, der sich merklich an der alten Rhetorik orientiert) und die Kleidung habe ich jeweils herausgearbeitet, inwiefern sich die actio-Modelle für den Mann und die Frau überschneiden oder unterscheiden. Dabei bestätigen meine Ergebnisse, dass die weibliche actio auf ein kleineres Maß, eine engere Gestik, geringfügigere Mimik und eine bescheidenere Stimme beschränkt wird, den bisherigen Forschungsstand zur weiblichen Körpersprache im 18. Jahrhundert. Aus meiner Perspektive, die Gender- und Rhetorikforschung kombiniert, ist jedoch vor allem die geschlechtsspezifische Wirkung der actio signifikant. Die Anstandslehren schreiben den gleichen rhetorischen Mitteln je nach Geschlecht des Redners/der Rednerin aufgrund der verschiedenen idealen Geschlechtscharaktere eine unterschiedliche Wirkung zu: So wirkt beispielsweise der bestimmte Ton eines Mannes bestimmt; der bestimmte Ton einer Frau aber übertrieben, rechthaberisch und eingebildet. Die historisch-kulturelle Bedingtheit dieser Wirkung lässt sich nur durch den Verweis auf die traditionell männliche Codierung der Rednerposition erklären. Folgt die Frau dem geschlechtsspezifischen actio-Ideal der Anstandslehren und redet in einem angenehmen, lieblichen, schmeichelnden Ton, so löst sich ihre Rede von jeglicher Überzeugungskraft entbunden in ästhetisches Wohlgefallen auf. Die actio wird ganz in den Dienst einer rhetorischen Wirkungsabsicht auf ein urteilsfreudiges Publikum gestellt, die vor allem ästhetisch eingelöst werden soll. Allerdings, so meine These, lässt sich hier in zunehmendem Maße eine geschlechtliche Differenzierung erkennen, deren Relevanz aufgrund ihrer Wirkung bis in das 20. Jahrhundert kaum genug zu betonen ist: Obwohl diese Ästhetisierung der actio zwar für beide Geschlechter gilt, soll der Mann vornehmlich Anstand zeigen, um sich geltend zu machen, und die Frau, um zu gefallen. Während im 18. Jahrhundert ›Gelten‹ und ›Gefallen‹ für die männliche actio des bürgerlichen Subjekts miteinander verknüpft sind (wer gefällt, der gilt etwas, dessen soziales Fortkommen ist 418

gesichert), beschränkt sich das weibliche actio-Ideal auf ein rein ästhetisch gedachtes Gefallen. Damit bleibt der männlichen Gesprächsrhetorik die Funktion der politischen Beeinflussung, die ursprünglich der deliberativen Rede vorbehalten war, weiterhin eingeschrieben, während der weiblichen Gesprächsrhetorik ausschließlich die Funktion der delectatio zukommt. Gefallen zu wollen wird der Frau in den Anstandslehren – wie schon bei Rousseau – als natürliche Zielsetzung, ja als Pflicht gegenüber der Öffentlichkeit zugeschrieben. Wie meine Analyse der Anstandslehren gezeigt hat, gefällt die Frau mit ihrer actio vor allem durch Bescheidenheit, die Zurücknahme ihrer selbst und die Verschleierung ihrer Fähigkeiten. Die gelungene actio der Anständigen ist gerade die, die keine Geltungsansprüche erhebt, sondern vielmehr die eigene Anspruchslosigkeit ästhetisch in Szene setzt. Eben diese der Frau zugeschriebene, ästhetische Ausrichtung auf das ›Gefallen‹ wird, um eine prospektive historische Verbindungslinie anzudeuten, in den Populärrhetoriken seit den 1990er Jahren problematisch, die wiederum die Redesituation in einer agonal gedachten Berufswelt in den Mittelpunkt stellen. Ziel des Kapitels zur Anstandsliteratur war es zu zeigen, wie die polarisierten Geschlechtscharaktere um 1800 in die Anstandslehren eingehen und wie diese geschlechtsdifferenzierte actio-Modelle ausbilden. Dabei entwerfen die Anstandslehren nicht nur ein geschlechtsspezifisches Ideal, wie die männliche oder weibliche actio auszusehen habe, sondern beschreiben auch, wie diese Ideale zu verwirklichen seien (5.5). Während sich die ideale actio der Frau von der des Mannes unterscheidet, sind die Übungen, die zu dieser idealen actio führen sollen, in der Regel dieselben. Die Anstandslehren geben Techniken der Vermittlung und Einübung der actio, die bereits aus der antiken Rhetorik bekannt sind, erstmals an die bürgerliche Frau weiter – allerdings in einer spezifisch auf die Redesituation der geselligen Rede ausgerichteten Form. Techniken für die ›große Rede‹ bleiben der Frau mit dem Argument der mangelnden Nützlichkeit weiterhin vorenthalten. Diejenigen Techniken, die ich bereits im Kapitel zur alten Rhetorik als maßgeblich für die körperliche Erziehung des rhetorischen Subjekts herausgearbeitet habe, tauchen in den Anstandslehren um 1800 wieder auf: imitatio, declamatio und Leibesübungen, nun insbesondere in Form von Übungen vor dem Spiegel, Schauspiel und Tanz. Gerade im Hinblick auf die Kategorie Geschlecht hat es sich als produktiv erwiesen, die auffällige Relevanz von Übungstechniken in den Anstandslehren mit Butlers Theorie der Performativität zu lesen. Butler denkt das konventionelle, wiederholte, körperliche Handeln nicht als Ausdrucksmittel eines bestehenden Subjekts, sondern als performatives Moment seiner Entstehung. Damit kommt auch die actio nicht als körperlicher ›Ausdruck‹ vorgängiger Affekte, Tugenden und Identitäten in den Blick, sondern als Performanz. Die Übungsanleitungen machen kulturell und sozial anerkannte (Geschlechter-)Bilder verfügbar, nach denen sich das Subjekt formt. Meine Lektüre hat deutlich gemacht, dass die Anstandslehren ein enormes Vertrauen in die körperbildende Macht von Wiederholungen legen. Quintilians Diktum, frequens imitatio transit in mores, scheint sich im 18. Jahrhundert verschärft zu haben: Nicht nur der ›Charakter‹ (mores), sondern die Materialität 419

des Körpers erscheint als Ergebnis des Prozesses einer Materialisierung durch wiederholte Einübung, die im Laufe der Zeit stabil wird. Mit Butler wird diese kontinuierliche Wiederholung als Performativität lesbar. Nicht die einzelne Performanz steht im Fokus der Anstandslehren, sondern die kontinuierlich wiederholte Übung, Nachahmung, Erprobung, Wiederholung, visuelle Kontrolle und öffentliche Zurschaustellung geschlechtlich spezifischer Redeweisen. So wird erkennbar, wie die in den Anstandsbüchern geforderte wiederholte Aufführung von Konventionen das rhetorische Subjekt einerseits erst hervorbringt. Dieses wird andererseits als intentionales Subjekt entworfen, das sich selbst bilden will, ein wohlanständiges Auftreten anstrebt, einen untadeligen Ruf und damit eine gesellschaftliche Stellung begehrt. Die Frau wird mit verstärktem Aufwand in eine rhetorische Ausbildung und Disziplinierung einbezogen, fehlt ihr doch eine solche Unterweisung in schulischen und akademischen Institutionen. Dabei gehen die Anstandslehren darüber hinaus, lediglich Selbstkontrolle zu vermitteln, sondern lehren Techniken der rhetorischen Selbstdarstellung, die auch die Frau befähigen, diese in der Gesellschaft wirkungsorientiert einzusetzen.

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V

Rhetorische Aneignung: Actio und Geschlechterdifferenz um 2000

V.1

Einleitung: Actio in Populärrhetoriken für Frauen

Am Ende des 20. Jahrhunderts wächst nicht nur die Zahl populärer Rhetorikratgeber explosionsartig an, es erscheint auch eine – aus gender-orientierter Sicht – revolutionäre Gruppe von Ratgebern: In den späten 1980er Jahren werden erstmals Rhetorikratgeber speziell für Frauen auf dem deutschen Buchmarkt veröffentlicht.1 Während Rhetoriken seit jeher ganz selbstverständlich den männlichen Redner als Modell und Rezipient voraussetzen – in der Regel ohne dies ausführlich zu reflektieren –, widersprechen die Rhetoriken für Frauen der vermeintlichen Ge-

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Barbara Schlüter-Kiske, Rhetorik für Frauen. Wir sprechen für uns, München 1987; Barbara Schlüter, Rhetorik für Frauen. Selbstbewusst und richtig vorbereitet jede Gesprächssituation meistern, 10. Aufl., Heidelberg 2006; Ursula Gersbacher, KörperRhetorik für eigen-mächtige Frauen. Die lautlose Beredsamkeit, Bonn 1989; Oja Ploil, ›Mundwerk‹. Ein Handbuch der Rhetorik für Frauen, Nürnberg 1990; Gudrun Fey, Selbstsicher reden – selbstbewusst handeln. Rhetorik für Frauen, 1. Aufl., Berlin 1993, 8. Aufl., Regensburg 2009; Katrin Oppermann, Erika Weber, Frauensprache – Männersprache. Die unterschiedlichen Kommunikationsstile von Männern und Frauen, 1. Aufl., Zürich 1995, 3. Aufl., Heidelberg 2008 [enthält einen umfangreichen Teil »Rhetorik für Frauen«]; Claudia Hovermann, Erfolgsrhetorik für Frauen, Offenbach 2004; Cornelia Topf, Rhetorik für freche Frauen. Sagen Sie, was Sie meinen – erreichen Sie, was Sie wollen!, Frankfurt 2005; Hanne Seemann, Selbst-Herrlichkeits-Training für Frauen … und schüchterne Männer, Stuttgart 2006; Ute Höfer, Rhetorik-Training für Frauen, Freiburg, Berlin, München 2007. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit aktuellen populären Rhetorikratgebern hat bislang kaum stattgefunden. Im Mittelpunkt der vorhandenen Forschung steht eine Kritik an den »Gebrauchswertversprechen« der Rhetorikratgeber (Bremerich-Vos), an der Reduzierung auf das Auftreten, an dem Verlust einer ethischen Grundlage und an einem verkürzten, instrumentellen Zugriff auf die Rhetorik (Ueding). Vgl. Bremerich-Vos, Populäre rhetorische Ratgeber. Historisch-systematische Untersuchungen; Gert Ueding, Rhetorik im Schnellverfahren. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch, 14, 1995, S. 80–93; vgl. auch das Kapitel »Populäre Rhetoriken« in: Ueding, Gert, Bernd Steinbrink, Grundriß der Rhetorik. Geschichte – Technik – Methode, 4., aktualisierte Aufl., Stuttgart, Weimar 2005, S. 189– 196. Zusammenfassend: Alexander Kirchner, Rhetorik, angewandte. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 8, Tübingen 2007, Sp. 1–15. Vgl. zur gender-orientierten Forschung: Tonger-Erk, Die ›Zicke‹. Eine konfrontative weibliche Rhetorik; Tonger-Erk, ›Selbst-Herrlichkeits-Training‹. Populäre Rhetorikratgeber für Frauen.

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schlechtsneutralität der Rhetorik. Stattdessen gehen sie nicht nur von einem geschlechtsspezifischen Sprachgebrauch, sondern auch von einer geschlechtsspezifischen Wirkung der Rede aus und zielen darauf ab, Frauen vor diesem Hintergrund zu einer wirkungsorientierten Redeweise anzuleiten. In Anbetracht der Jahrhunderte währenden männlichen Codierung der Rednerposition stellt sich die Frage, warum in den späten 1980er Jahren Rhetoriken für Frauen geschrieben werden. Welche gesellschaftlichen Verhältnisse, welche Transformationen der Rhetorik und der Geschlechterordnung sind dafür verantwortlich zu machen? Die erste Antwort liegt auf der Hand: Es gibt mehr Rednerinnen, die öffentlich auftreten, als je zuvor. Wurde die Redekunst fürs Frauenzimmer, die einzige systematische Rhetorik des 18. Jahrhunderts für Frauen, noch mit dem Argument kritisiert, eine Rhetorik für Frauen, die nur Gespräche führten, Briefe schrieben und läsen, nicht jedoch als Rednerinnen agierten, sei nutzlos, ist der Bedarf an rhetorischer Unterweisung für Frauen Ende der 1980er Jahre evident.2 Dennoch geht die Gleichung nicht auf, dass, sobald Frauen vermehrt als Rednerinnen auftreten, auch Rhetorikratgeber für Frauen erscheinen. Eine signifikante Häufung weiblicher Redeauftritte in der Öffentlichkeit lässt sich schon seit der ersten Frauenbewegung Ende des 19. Jahrhunderts verzeichnen. Obwohl diese Rednerinnen in Selbstzeugnissen und Reden die außergewöhnlichen Erfahrungen und Probleme ihrer öffentlichen Auftritte als redende Frauen reflektieren, entstehen nicht ad hoc Rhetorikratgeber für Frauen.3 Eine intensive Auseinandersetzung mit weiblicher Rhetorik erfolgt erst zu Beginn der zweiten Frauenbewegung 1968. Im Unterschied zur ersten, die um das Versammlungsrecht, Wahlrecht und Recht auf Bildung kämpft, verfügt die zweite Frauenbewegung bereits über diese Rechte, muss sich aber die Frage stellen, warum eine gleichberechtigte politische und gesellschaftliche Mitbestimmung von Frauen immer noch nicht praktiziert wird. Ihre geringe politische Macht und ihre berufliche Benachteiligung führen die Achtundsechzigerinnen auch auf eine ungleiche Kommunikationsstruktur zurück, die die patriarchale Struktur der Gesellschaft spiegelt. 4 Die weibliche Rhetorik wird als defizitär wahrgenommen und gemäß dem Schlachtruf der Frauenbewegung – »Das Private ist politisch!« – nicht als individuelles Versagen einzelner Frauen, sondern als ein gesellschaftliches Problem diskutiert. Damit wird weibliche Rhetorik zum Politikum. Zwar vergehen weitere zwanzig Jahre, bis die ersten Rhetorikratgeber für Frauen entstehen, doch schließen diese explizit an die Thesen der zweiten Frauenbewegung an.5 2 3 4

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Vgl. Kapitel IV.3.3. Vgl. Tonger-Erk, Wagner-Egelhaaf, Einleitung (Einspruch! Reden von Frauen), S. 13– 32. Vgl. Helke Sanders »Rede des Aktionsrates zur Befreiung der Frauen« bei der 23. Delegiertenkonferenz des SDS in Frankfurt am 13.9.1968: Tonger-Erk, Wagner-Egelhaaf, Einspruch! Reden von Frauen, S. 151–160. Vgl. zum Einfluss der zweiten Frauenbewegung auf populäre Rhetorikratgeber ausführlich: Tonger-Erk, ›Selbst-Herrlichkeits-Training‹. Populäre Rhetorikratgeber für Frauen.

Ein weiterer, maßgeblicher Impuls für das Entstehen der Frauen-Rhetoriken kommt aus der feministischen Linguistik, die seit den 1970er Jahren den Zusammenhang von Sprache, Sprachgebrauch, Geschlecht und Macht systematisch untersucht.6 Die Rhetorikratgeber für Frauen knüpfen an die Forschungsergebnisse der feministischen Sprachwissenschaft an – zum Beispiel von Senta Trömel-Plötz, Luise Pusch und vor allem von Deborah Tannen.7 Tannens Thesen – obwohl heute in der Forschung umstritten und vielfach widerlegt – werden als vermeintlich

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Die Entwicklung der wissenschaftlichen Debatte um Kommunikation und Geschlecht kann in drei Phasen dargestellt werden. Zunächst wurde davon ausgegangen, dass Frauen sich eines defizitären Sprachstils bedienen, der ihre inferiore Position in der Gesellschaft spiegelt (Defi zitansatz). Robin Lakoff (Language and Women’s Place, New York 1975) entwickelte die Vorstellung einer ›Frauensprache‹, die sich u.a durch Hyperkorrektheit, Indirektheit und die Verwendung von Höflichkeitsformen auszeichnet. Kritisiert wurde der Ansatz später wegen Generalisierungen auf einer geringen Datenbasis, der impliziten Annahme einer Homogenität unter Frauen und der Herausstellung von Geschlecht als vorherrschendem Differenzkriterium. Es folgte die Suche nach einem ›eigenen‹, weiblichen Sprechen, dessen Gleichwertigkeit betont wurde (Differenzansatz). Deborah Tannen (You Just Don’t Understand. Women and Men in Conversation, New York 1990) entwarf die Theorie zweier unterschiedlicher Sprechkulturen, einer öffentlichen Statussprache der Männer und einer privaten Beziehungssprache der Frauen. Kritisch wurde angemerkt, dass die Theorie von genderlects in ihrer Geschlechtsgebundenheit und Situationsunabhängigkeit nicht aufrechterhalten werden kann. Interaktionale Ansätze haben heute die Vorstellung von genderlects abgelöst. Gender wird als eine der Interaktion vorausgesetzte Größe verabschiedet, stattdessen wird die kontinuierliche Konstruktion von gender im sprachlichen Austausch (doing gender) erforscht. Konsens ist, dass jede Sprech- und Kulturgemeinschaft spezifische Vorstellungen darüber hat, was als männliche oder weibliche Kommunikationsweise gilt, diese aber zwischen Kulturen variieren. Empirische Gesprächsanalysen zeigen, dass geschlechtsspezifisches Sprachverhalten analytisch kaum von den eng damit verknüpften sozialen Variablen wie Status, Nähe/Distanz etc. zu trennen ist, situationsbezogen ermittelt werden muss, auf unterschiedlichen sprachlichen Ebenen (bspw. in Bezug auf Stimme, Grammatik, Lexik, kommunikative Gattungen, Gesprächsstile) virulent wird und sowohl von den jeweils vorherrschenden Geschlechterbildern geprägt wird, als auch auf diese zurückwirkt. Vgl. Susanne Günthner, Doing vs. Undoing Gender? Zur Konstruktion von Gender in der kommunikativen Praxis. In: Mitsprache, Rederecht, Stimmgewalt. Genderkritische Strategien und Transformationen der Rhetorik, hg. von Doerte Bischoff, Martina Wagner-Egelhaaf, Heidelberg 2006, S. 35–57; Ruth Ayaß, Kommunikation und Geschlecht, Stuttgart 2008. Luise Puschs Das Deutsche als Männersprache (1984) wird von Schlüter und Ploil zitiert. Senta Trömel-Plötz’ Gewalt durch Sprache. Die Vergewaltigung von Frauen in Gesprächen (1984) wird zitiert von Fey, Schlüter, Ploil und Höfer. Deborah Tannens Du kannst mich einfach nicht verstehen (orig. 1990, dt. 1991) wird von Fey, Oppermann/Weber und Höfer explizit in Anspruch genommen. Obwohl die Initiatorin der Diskussion um Sprache und Geschlecht, Robin Lakoff, in keinem der Rhetorikratgeber explizit zitiert wird, werden ihre Erkenntnisse in allen Ratgebern implizit verwendet. Die deutschen Linguistinnen Pusch und Trömel-Plötz griffen Lakoffs Thesen auf und wiesen auf die Benachteiligung der Frau in der und durch die Sprache hin. Ihre sprachkritischen Texte

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wissenschaftlicher Beleg für die Differenz einer durchsetzungsstarken, faktenorientierten ›Männersprache‹ und einer kooperativen, beziehungsorientierten ›Frauensprache‹ herangezogen.8 Ausgehend von dieser Unterscheidung einer ›Frauen-‹ und einer ›Männersprache‹ wollen die Frauen-Rhetoriken eine rhetorische Schulung der gesellschaftlich minderbewerteten ›Frauensprache‹ anbieten. Damit steht in erster Linie die feministische Linguistik – nicht die traditionelle Rhetorik – Patin für die Entwicklung der Frauen-Rhetoriken.9 Dennoch sind ›feministische Rhetorik‹ und ›feministische Linguistik‹ nicht synonym zu setzen – auch wenn dies in den maßgeblichen Publikationsorganen der deutschsprachigen Rhetorikwissenschaft anfangs so praktiziert wurde.10 Anders als Deborah Tannens populärwissenschaftlicher Bestseller Du kannst mich einfach nicht verstehen, der angetreten ist, geschlechtsspezifisches Sprechen zu erklären und um das Verständnis der Geschlechter füreinander zu werben, zielen die Rhetorikratgeber für Frauen auf den wirkungsorientierten, situationsspezifischen Einsatz männlicher und weiblicher Redestile in verschiedenen Redesituationen. Hierin liegt auch das eigentlich Rhetorische der Ratgeber. Obwohl sich nur ein einziger Ratgeber11 explizit auf die alte Rhetorik (namentlich auf Aristoteles und Quintilian) bezieht, wird Rhetorik »ganz im Sinne der klassischen Redekunst« definiert, »mit dem gesprochenen Wort zu begeistern, zu steuern und Ziele zu verfolgen«12 . Ein anderer Leitfaden bestimmt: »Die Rhetorik bietet Hilfsmittel und Techniken für zielgerichtetes und wirkungsvolles Reden.«13 Allerdings gehen die Rhetoriken für Frauen erstens davon aus, dass Männer und Frauen unterschiedliche Wirkungsmittel verwenden, zweitens, dass

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stießen in den 1980er Jahren die »Genus-Debatte« in Deutschland an. Vgl. dazu: Ayaß, Kommunikation und Geschlecht, S. 25–37. Deborah Tannen, Du kannst mich einfach nicht verstehen. Warum Männer und Frauen aneinander vorbeireden, Hamburg 1991. Die Begriffe ›Berichtssprache‹ (report-talk) und ›Beziehungssprache‹ (rapport-talk) stammen von Tannen und werden u. a. von Fey, Selbstsicher reden – selbstbewusst handeln. Rhetorik für Frauen, S. 16, übernommen. Vgl. zur Kritik an Tannen zusammenfassend Ayaß, Kommunikation und Geschlecht, S. 93–105. Daneben greifen die Rhetorikratgeber Wissen aus der Kommunikationswissenschaft, der Psychologie und der Kinesik auf. Dies spiegelt sich in zwei Einträgen im Historischen Wörterbuch der Rhetorik und im Jahrbuch Rhetorik, die unter der Überschrift »Feministische Rhetorik« die Erkenntnisse der feministischen Linguistik und Sprachkritik wiedergeben, ohne einen spezifischen Bezug zur Geschichte, Systematik und Terminologie der Rhetorik herzustellen. Vgl. Gisela Schoenthal, Neue Arbeiten zur feministischen Rhetorik. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch, 12, 1993, S. 108–117; Gisela Schoenthal, Feministische Rhetorik. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 3, Tübingen 1996, S. 238–243. Vgl. Fey, Selbstsicher reden – selbstbewusst handeln. Rhetorik für Frauen. Hier werden Platon, Aristoteles und Quintilian zitiert, warum jedoch Cicero keinen Eingang gefunden hat, bleibt unerklärlich. Höfer, Rhetorik-Training für Frauen, S. 9. Oppermann, Weber, Frauensprache – Männersprache, S. 124.

sie je nach Redesituation damit mehr oder weniger Erfolg haben und drittens, dass das gleiche Wirkungsmittel verwendet von einem Mann oder einer Frau unterschiedliche Wirkungen erzielt. Um zu erklären, warum die Wirkung einer Rede vom Geschlecht des Redners/ der Rednerin abhängt, wirft nur ein einziger Ratgeber einen Blick in die Geschichte der Rhetorik, genauer: in die Geschichte der weiblichen Wortergreifung. Ute Höfers Rhetorik-Training für Frauen zeigt auf, dass weibliche Rede kulturhistorisch abgewertet und etwa durch das Schweigegebot für Frauen in der Kirche (und der Gesellschaft) unterdrückt wurde. Frauen werde kulturell eine weniger bedeutsame Rede zugeschrieben: Sie gackern, schnattern, klatschen, quasseln, ratschen und tratschen – während dem männlichen Wort Verlässlichkeit, Ehrenhaftigkeit und Gewicht beigemessen werde. Höfer stellt fest, dass diese hartnäckigen Bilder und Vorstellungen bis heute Einfluss auf die geschlechtsspezifische Wahrnehmung der Rede hätten.14 Die anderen Rhetorikratgeber für Frauen beziehen sich lediglich auf die ubiquitäre Erfahrung, dass »[m]ännliche Gesprächsbeiträge […] als kompetent, weibliche als nicht so wichtig aufgenommen« werden, und ziehen daraus den Schluss, »[w]enn zwei das Gleiche sagen, ist es noch lange nicht dasselbe!«15 Während die rhetorische Wirkungsorientierung und situationsadäquate Zielgerichtetheit im Vordergrund der Rhetorikratgeber für Frauen stehen, bleibt von der rhetorischen Systematik und Terminologie wenig übrig. Von den klassischen fünf officia des Redners wird die actio als wirkungsorientierte Körpersprache am ausführlichsten verhandelt. Die actio nimmt in den Populärrhetoriken für Frauen deshalb einen überdurchschnittlich großen Raum ein, weil erstens Aspekte des Auftretens in Rhetorikratgebern des 20. Jahrhunderts generell in den Vordergrund gerückt werden16 und zweitens im Redeauftritt die Geschlechterdifferenz sichtbar zu Tage tritt. In keinem Rhetorikratgeber für Frauen fehlt der Hinweis darauf, dass ein Großteil der Wirkung auf das Publikum nicht vom Inhalt des Gesagten, sondern von der Art und Weise des Sagens und des körperlichen Auftretens abhängt. Meist ohne konkreten Verweis auf wissenschaftliche Studien werden variierende Prozentsätze wiedergegeben, die eine überwältigende Relevanz des äußeren Auftretens für die Wirkung einer Rede suggerieren.17 Die Frau steht dabei besonders im

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16 17

Höfer, Rhetorik-Training für Frauen, S. 15–20. Vgl. Fey, Selbstsicher reden – selbstbewusst handeln. Rhetorik für Frauen, S. 10f. Schlüter-Kiske, Rhetorik für Frauen, S. 53f.; Schlüter, Rhetorik für Frauen, S. 57f. [im Folgenden werden die Seitenangaben der Erstausgabe und der 10. Aufl., 2006 nacheinander zitiert]. Vgl. Ueding, Rhetorik im Schnellverfahren, S. 91; Albert Bremerich-Vos, Aktuelle Rhetorik-Ratgeber. In: Rhetorik. Ein Internationales Jahrbuch, 12, 1993, S. 103–107, S. 106. Vgl. bspw. Hovermann, Erfolgsrhetorik für Frauen, S. 18; Schlüter, Rhetorik für Frauen, S. 13/13. Albert Bremerich-Vos kritisiert das fragliche Zustandekommen dieser auch in allgemeinen Rhetorikratgebern üblichen Angabe von variierenden Prozentsätzen, die die überragende Relevanz des Auftretens belegen sollen. Bremerich-Vos, Aktuelle Rhetorikratgeber, S. 105.

425

Rampenlicht: »Frauen werden noch viel stärker aufgrund ihres Äußeren beurteilt als Männer.«18 Neben den umfangreichen, zumeist mit ›Körpersprache‹ überschriebenen Kapiteln zur actio finden sich in den Populärrhetoriken für Frauen Ansätze der dispositio-Lehre in den Hinweisen zur Gliederung einer Rede und zum Argumentationsaufbau, sowie wenige Versatzstücke aus der elocutio-Lehre19. Während der gender-Aspekt in Bezug auf die actio ausführlich verhandelt wird, sind in Bezug auf die dispositio und elocutio jedoch kaum geschlechtsspezifische Hinweise zu vermerken. Tatsächlich ist die actio auch in der Gegenwartsrhetorik derjenige Bereich, der eine Reflexion über das Verhältnis von Geschlechterdifferenz und Rhetorik herausfordert. Gerade die Konzentration der Rhetorikratgeber auf Aspekte des Auftretens könnte ein weiterer Aspekt sein, der die Entwicklung von Rhetorikratgebern für Frauen begünstigt hat: Es scheint mir kein Zufall zu sein, dass die Entstehung von Rhetorikratgebern für Frauen mit der gleichzeitigen Trennung von Rhetorikwissenschaft und Angewandter Rhetorik, der Popularisierung und ›Entwissenschaftlichung‹ der Angewandten Rhetorik und schließlich der zunehmenden Bedeutung des körperbetonten Redeauftritts, der actio, einhergeht. War die alte Rhetorik ein Hybridgebilde aus Wissenschaft (epistémē/scientia) und anwendungsbezogener Ausbildung (melétē/exercitatio), treten Rhetorikwissenschaft und Angewandte Rhetorik in der Gegenwart zunehmend auseinander. Von ›wissenschaftlicher‹ Seite wird Kritik an den ›populären‹ Rhetorikratgebern geübt: »Begründet mit dem Praxisbezug, verzichten die Werke weitgehend auf das Darstellen theoretischer Hintergründe und philosophischer Grundlagen.«20 Insbesondere die angebliche Reduzierung der gesamten Rhetoriktheorie auf den Redeauftritt wird mit dem Argument kritisiert, dass die antike Einbettung der actio in eine umfangreiche Ausbildung zum vir bonus einer ›Ad-hoc-Hilfe‹ ohne moralische Persönlichkeitserziehung gewichen sei.21 Im Gegensatz zu den eher sprachlich-gedanklich fokussierten ersten drei Aufgaben des Redners (inventio, dispositio und elocutio) steht die auf den Körper bezogene actio-Lehre in einem besonderen Verdacht der ›Unwissenschaftlichkeit‹ und ›Trivialität‹. Bereits im 18. Jahrhundert war zu beobachten, dass die actio-Rhetoriken die Kategorie ›Geschlecht‹ explizit ausschlossen, um ihren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zu untermauern, wohingegen die anwendungsbezogeneren Anstandslehren die in der Praxis zu beobachtende Geschlechterdifferenz zu ihrem Gegenstand machten. Versteht man mit Christina von Braun und Inge Stephan diesen Ausschluss als ein Bestreben in der Wissenschaftsgeschichte, die weiblich konnotierte Körperlichkeit aus der männlich konnotierten Wissenschaft

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Hovermann, Erfolgsrhetorik für Frauen, S. 19. Eine Ausnahme bietet das Rhetorik-Training für Frauen, das eine große Anzahl rhetorischer Fachtermini knapp, aber kundig erklärt. Höfer, Rhetorik-Training für Frauen, S. 99–114. Kirchner, Rhetorik, angewandte, Sp. 8. Vgl. Ueding, Rhetorik im Schnellverfahren.

zu verbannen, um deren ›Reinheit‹ zu garantieren, kann auch im Umkehrschluss die zunehmende Trivialisierung und Orientierung am körperlichen Auftreten der Angewandten Rhetorik die Einbeziehung von Rednerinnen in die rhetorische Unterweisung erleichtert haben.22 Geht es weniger um Theorie, sondern um das körperliche Auftreten, wird auch der weiblichen Rede ein (Verhandlungs-)Ort in der Rhetorik geschaffen. Ein weiterer Aspekt, der die Entstehung von Rhetorikratgebern für Frauen befördert haben könnte, ist die funktionale Differenzierung, die mit der vermeintlichen ›Trivialisierung‹ der Populärrhetorik im 20. Jahrhundert einhergeht. Seit ihren Anfängen wurde die Rhetorik stetig neuen Aufgaben angepasst, um für spezifische Redesituationen wirkungsorientierte Strategien anbieten zu können. Dies schlägt sich seit der Frühen Neuzeit in einem beschleunigten Prozess der Ausdifferenzierung nicht nur der rhetorischen Gattungen nieder, sondern auch ihrer Zielgruppen (wie Adelige, Bürgerliche, Geistliche). Seit den 1960er Jahren erscheinen Rhetorikratgeber für ein zunehmend differenziertes Publikum: unter anderem für Verkäufer, Politiker, Manager und Ärzte. In der Forschungsliteratur zur Populärrhetorik wird von einer »wahren Zerstückelung der Disziplin« gesprochen: Für jede einzelne Wissenschaft, für jeden einzelnen Tätigkeitsbereich versucht man, eigene Ausdrucksmittel zu bestimmen, wohingegen in vergangener Zeit die rhetorische Disziplin die Gesamtheit der Sprech- und Schreibtechniken zu definieren beanspruchte.23

Diese einer verlorenen ›Ganzheit‹ nachhängende Argumentationsweise übersieht jedoch die Ausschlüsse, die der alten Rhetorik von jeher innewohnten – Ausschlüsse sowohl in geschlechtlicher als auch sozialer Hinsicht. Rhetorikratgeber für Frauen werden in der Forschungsliteratur oft in einer Reihe mit den Rhetorikratgebern für verschiedene Berufsstände genannt.24 Wenn es auch nur ein kleiner Schritt von den Rhetoriken für verschiedene Berufsstände zu Rhetoriken für Frauen zu sein scheint, so haben die ersteren doch eine lange Tradition, während letztere geradezu revolutionär sind. Dass dieser emanzipatorische Akt möglich war, kann gleichwohl auch auf die funktionale Zersplitterung der Rhetorik zurückgeführt werden, die einen feministischen Aneignungsprozess begünstigt haben mag. Denn die Rhetorikratgeber für Frauen bedienen sich aus einem rhetorischen Feld, das nicht mehr über die Autorität einer hermetischen Wissenschaft verfügt. Dass die Entstehung der Rhetorikratgeber für Frauen nicht monokausal begründet werden kann, liegt auf der Hand. Impulsgebend waren die vermehrten Partizipationsmöglichkeiten von Frauen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, die Rede-Macht-Ansprüche der zweiten Frauenbewegung und die Forschungsergebnisse der feministischen Linguistik, aber auch Transformationen der Rhetorik

22 23 24

Vgl. von Braun, Stephan, Gender @ Wissen. Einführung, S. 9–14. Achard, Disciplina, Sp. 762. Vgl. Kirchner, Rhetorik, angewandte, Sp. 6.

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selbst, deren ›Trivialisierung‹, Reduzierung auf die actio und ›Zersplitterung‹. Damit geraten sowohl Argumente in den Blick, die der ›Disziplin der Rhetorik‹ äußerlich sind (wie etwa die Frauenbewegung und die zunehmende politische Partizipation und Berufstätigkeit von Frauen), als auch solche, die sich aus der disziplinären Geschichte der Rhetorik ergeben. Wenn Rhetorik als gesellschaftliche Praktik in den Blick genommen wird, kann eine derartige Unterscheidung gleichwohl nur hypothetischer Natur sein. Signifikant sind die Wechselwirkungen, die entstehen, wenn Frauen in die Rhetorik einbezogen werden: Aus der Praxis des öffentlichen Auftretens von Frauen heraus entstehen die Rhetorikratgeber für Frauen und auf diese Praxis beziehen sich wiederum deren deskriptive Annahmen und präskriptive Vorschriften. Damit beteiligen sich die Rhetorikratgeber für Frauen am Definitionsprozess, welche Redeweisen für die Frau, aber eben auch für den Mann als angemessen gelten. Dieser Anspruch auf Definitionsmacht begrenzt sich also nicht auf die Rhetorik von und für Frauen, sondern umfasst die Rhetorik schlechthin.

V.2

Rhetorisches Subjekt und rhetorische Situation

V.2.1

Karrierefrau im Haifischbecken

Bevor ich auf die geschlechtsspezifischen actio-Strategien eingehe, die im Mittelpunkt des Kapitels stehen werden, sollen kurz das rhetorische Subjekt und die rhetorische Situation beschrieben werden, von denen die Rhetorikratgeber für Frauen ausgehen. Die Ratgeber entwerfen als rhetorisches Subjekt eine Karrierefrau, die sich im ›Haifischbecken‹ »einer immer noch männlich dominierten Wirtschaft«25 durchsetzen will. Im Vergleich zu den Anstandslehren um 1800, die die ›Gesellschaft‹ als ein omnipräsentes und argusäugiges Publikum beschrieben haben, unter deren Dauerbeobachtung sich die rhetorische Situation auf den gesamten Alltag ausdehnt, nehmen die Rhetorikratgeber für Frauen eine Einschränkung auf eine spezifische Redesituation vor: die Rede in einer beruflichen Konkurrenzsituation. In dieser Redesituation definiert sich das rhetorische Subjekt über beruflichen Erfolg. Es geht nicht um die sichtbare Darstellung eines ›Charakters‹ oder bestimmter ›Tugenden‹, sondern vielmehr um die Suggestion von ›Durchsetzungskraft‹, ›Souveränität‹ und ›Selbstvertrauen‹ – von Stärken also, die für die berufliche Redesituation als karrierefördernd erachtet werden. Das Problem, das Knigge für den bürgerlichen Mann formuliert hat – es hilft nichts, wenn man ein tüchtiger Bürger ist, man muss auch als solcher erscheinen, um Karriere zu machen –, formulieren die Rhetorikratgeber für die berufstätige Frau um: Nicht die hervorragende Arbeitsleistung verhilft der Frau zur Karriere, sondern erst die rhetorische Selbst-

25

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Höfer, Rhetorik-Training für Frauen, S. 9.

Vermarktung.26 Im Umkehrschluss wird die berufliche Benachteiligung der Frau nicht einer patriarchalen Gesellschaftsordnung, sondern allein einer defizitären weiblichen Rhetorik zugeschrieben: »Die weibliche Rhetorik – und nicht so sehr die bösen Männer! – hält Frauen im Beruf und anderswo davon ab, das zu bekommen, was ihnen zusteht.«27 Daraus leiten die Rhetorikratgeber ihre Aufgabe ab, der Karrierefrau durch die Vermittlung einer ›angemesseneren‹ Rhetorik zum beruflichen Aufstieg zu verhelfen. Diese ›angemessenere‹ Rhetorik ist vor allem agonal, denn »das Berufsleben, wie es die Männer erschaffen haben, ist aggressiv: Es besteht aus Angriff und Verteidigung auf der ganzen Linie.«28 Während die Ratgeber den Ist-Zustand der Arbeitswelt als einen entwerfen, der Erfolg nur innerhalb einer Matrix aus Sieg und Niederlage definieren kann, erträumen manche Populärrhetoriken für Frauen eine ideale zukünftige Berufswelt, in der die Leitdifferenz von ›Siegen‹ und ›Verlieren‹ ersetzt wird durch kooperative, gleichberechtigte, partnerschaftliche (und weiblich konnotierte) Verhaltensweisen – auch und gerade in der Kommunikation. Solange jedoch die Berufswelt mittels ›Angriff und Verteidigung‹ funktioniert, stellt sich die Frage, inwiefern die Frau sich dem angeblich in der Berufswelt vorherrschenden, agonalen und männlich konnotierten Redestil anpassen muss. V.2.2 Leitdifferenz durchsetzungsstark/harmoniebedürftig Vor dem Hintergrund der beruflichen Redesituation setzen die Rhetorikratgeber eine Leitdifferenz von ›durchsetzungsstark‹ und ›männlich‹ versus ›harmoniebedürftig‹ und ›weiblich‹. Bezugnehmend auf die (teils populärwissenschaftlichen) Forschungsergebnisse der feministischen Linguistik behaupten alle Rhetorikratgeber, dass Frauen den Beziehungsaspekt in ihrer Rede in den Vordergrund stellen und einen partnerschaftlichen, kooperativen und integrativen Redestil pflegen. Männer verwenden dagegen angeblich einen statusorientierten, agonalen und vor allem sachlichen Stil. Dies zeigt sich den Ratgebern zufolge darin, dass Frauen bescheidener, vorsichtiger, indirekter, freundlicher formulieren, häufiger bitten und fragen sowie mehr Anerkennung aussprechen. Dagegen reden Männer selbstsicherer, offener, direkter und aggressiver, befehlen häufiger und üben mehr Kritik. Diese beiden gegensätzlich entworfenen Redeweisen werden als männlicher und weiblicher Redestil, Sprechstil, Kommunikationsstil oder Gesprächsstil bezeichnet, als Männersprache und Frauensprache, als öffentliche und private Sprache oder, im Anschluss an Deborah Tannen, als Berichtssprache und Beziehungssprache charakteri-

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28

Vgl. Fey, Selbstsicher reden – selbstbewusst handeln. Rhetorik für Frauen, S. 13. Topf, Rhetorik für freche Frauen, S. 12. Eine solche ostentativ unpolitische Haltung legen vor allem die späteren Frauen-Rhetoriken ab Mitte der 1990er Jahre an den Tag, während die früheren Rhetoriken eine feministische Haltung vertreten, die die Frau noch als Opfer der patriarchalen Gesellschaft wahrnimmt. Dagmar Gaßdorf, Zickenlatein. Den Erfolg herbeireden, Frankfurt a. M. 2004, S. 61.

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siert. Im Folgenden verwende ich die Begriffe ›männlicher‹ und ›weiblicher Redestil‹, um den wirkungsorientierten rhetorischen Einsatz derselben zu untersuchen. Damit soll nicht die Existenz geschlechtsspezifischer Redestile behauptet werden, vielmehr nehme ich die Begrifflichkeiten der Rhetorikratgeber für Frauen auf, um deren Argumentation kritisch zu folgen. V.2.3

Ars und natura

Die Differenz dieser Redestile wird in der Regel einer vagen Mischung aus pädagogischen und biologischen Gründen zugeschrieben. Dabei dominiert die Begründung durch eine geschlechtsdifferenzierte Erziehung von Kindesbeinen an, die Jungen zum ›Siegen‹ erzieht und Mädchen für die Erzeugung von ›Harmonie‹ belohnt.29 Manche Ratgeber geben den Genen eine »Teilschuld«30. Zwar findet sich in allen Rhetorikratgebern für Frauen der Hinweis, dass individuelle Unterschiede bestehen könnten und es durchaus Männer und Frauen gebe, die nicht die ihnen zugeordneten Redestile verwendeten, doch dient dieser kurze Einwand (als rhetorische Vorwegnahme von Gegenargumenten) nur der Legitimierung einer umso strikteren Differenzierung. Alle Rhetoriken für Frauen verkünden, dass ein ›Umlernen‹ möglich sei und ein anderer, wie gesagt agonalerer Redestil antrainiert werden könne. Diesem ›Umlernen‹ werden allerdings Grenzen gesetzt, und zwar durch das Authentizitätspostulat. Gerade was die actio betrifft, wird wiederholt zur Authentizität aufgefordert: Verstärken Sie die Dinge, die zu Ihnen passen, und versuchen Sie bitte nicht, sich etwas ›anzutrainieren‹, das Ihrem Typ nicht entspricht, denn eine wesentliche Voraussetzung für Sicherheit und Souveränität ist Authentizität. Nur, wenn Ihre Verhaltensweisen echt sind, also Ihre Persönlichkeit repräsentieren, werden Ihre Zuhörer Sie akzeptieren – und Sie werden merken, was echt und was aufgesetzt ist.31

Diese Grenzziehung von ›echt‹ und ›aufgesetzt‹ irritiert angesichts der generellen Aufforderung eines Rhetorikratgebers zur wirkungsorientierten ›Verbesserung‹ des rhetorischen Auftretens. Der Aufruf zur Authentizität geht in Rhetorik für Frauen

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Vgl. Oppermann, Weber, Frauensprache – Männersprache, S. 19. Die Erfolgsrhetorik für Frauen argumentiert allen Ernstes mit »Mutter Neandertal«, die am Feuer gesessen und mit ihrem Kommunikationsverhalten die Familie zusammengehalten habe, sowie »Vater Neandertal«, der bei der Jagd eine wortkarge, informationslastige Kommunikationsstruktur« ausgebildet habe, und schließt daraus: »Eine ›Teilschuld‹ [für das unterschiedliche Kommunikationsverhalten] liegt in den Genen.« Daneben sei die Erziehung für die Differenz verantwortlich. Hovermann, Erfolgsrhetorik für Frauen, S. 14. Auch die Rhetorik für freche Frauen argumentiert biologistisch, wenn sie einer Frau, die sich komplett die Männersprache aneignet, »psychosomatische und seelische Probleme« in Aussicht stellt. Die ›Testosteron-Rhetorik‹ sei für Frauen unverträglich und passe naturgemäß nur zu Männern. Topf, Rhetorik für freche Frauen, S. 116. Höfer, Rhetorik-Training für Frauen, S. 59.

soweit, dass der Ratgeber den Anspruch auf die Anweisung zu einem ›rhetorischen‹, zielgerichteten Einsatz der Gestik aufgibt und stattdessen behauptet, »wenn Sie sich freigesprochen haben, wird Ihre individuelle Gestik Ihre Worte unterstreichen«32 . Mit diesem Ausdrucks-Konzept steht Rhetorik für Frauen vollkommen im Gegensatz etwa zu den umfangreichen, detaillierten Ausführungen einzelner Gesten wie sie bei Quintilian und noch bei Engel oder Cludius zu finden sind. Ähnliche Widersprüche in der Argumentation werden in Frauensprache – Männersprache sichtbar: Während einerseits zur rhetorischen Selbstinduktion geraten wird, findet sich andererseits die Aufforderung zur Natürlichkeit: »Wenn Sie Ihrem Körper erlauben, sich natürlich zu verhalten, dann wirkt er am überzeugendsten, und Ihnen geht es damit am besten.«33 Sowohl ›Authentizität‹ als auch ›Natürlichkeit‹ werden als Begriffe kaum definiert und voneinander abgegrenzt. Als vage Ideale stellen sie eine Reminiszenz an jene Anfeindungen des 18. Jahrhunderts dar, die die Rhetorik als Verstellungskunst bezeichneten. Doch gerät das Authentizitätspostulat gerade in den aktuellen Rhetorikratgebern für Frauen mit der Feststellung einer angeblich ›defizitären‹ weiblichen Körperrede in Konflikt. Erklärt man ein defizitäres rhetorisches Auftreten von Frauen zum maßgeblichen Grund ihrer beruflichen Benachteiligung, muss dieses mittels Rhetoriktrainings gründlich verändert beziehungsweise ›verbessert‹ werden. Der Aufruf zu Natürlichkeit wird dann gesellschaftspolitisch problematisch. Die Rhetorikratgeber für Frauen versuchen, diesen Widerspruch zu lösen, indem sie Authentizität verkürzt definieren als »Worte, bei denen Sie sich wohlfühlen«34 oder indem sie es bei einem vagen Aufruf zu einer (immer noch positiv konnotierten) ›echten‹, ›natürlichen‹ oder ›authentischen‹ Körpersprache belassen. Der Aufruf zur ›Authentizität‹ oder ›Natürlichkeit‹ nimmt in den Rhetorikratgebern für Frauen deutlich weniger Platz ein, als in den Anstandslehren des 18. Jahrhunderts. Geradezu reflexhaft wird das Natürlichkeits- beziehungsweise Authentizitätspostulat ausgesprochen, um anschließend den Fokus dann doch auf den rhetorischen, wirkungsorientierten und situationsspezifischen Einsatz der (Körper-)Rede zu richten.

V.3

Aktuelle Definitionen der actio und ihr gendering

V.3.1

Strategien der Aneignung und Vermischung männlicher und weiblicher Redestile

In einer Redesituation, die als Kampf um die eigenen Interessen beschrieben wird, in dem Durchsetzungskraft und Aggressivität zählen, erscheint die weibliche Rede nicht nur anders, sondern minderwertig: Der männliche Stil verhilft dem Mann zur 32 33 34

Schlüter, Rhetorik für Frauen, S. 27/29. Oppermann, Weber, Frauensprache – Männersprache, S. 80. Topf, Rhetorik für freche Frauen, S. 150.

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beruflichen Karriere, während der weibliche Redestil maßgeblich für die berufliche Benachteiligung von Frauen verantwortlich gemacht wird. Unter der Voraussetzung, dass die männliche Sprache in der Berufswelt die Norm ist, stellen die Rhetorikratgeber die zentrale Frage, inwiefern sich die Frau der männlichen Redeweise anpassen muss. Alle Rhetorikratgeber beschäftigen sich mit dieser Frage, entwickeln dabei allerdings verschiedene rhetorische Strategien für Frauen.35 Die naheliegendste Antwort – eine komplette Imitation des männlichen Redestils durch Frauen – lehnen alle Rhetorikratgeber ausdrücklich ab. Zur Begründung dieser Warnung vor der Übernahme des männlichen Redestils wird gerade die Wirkung herangezogen, die nicht dieselbe sei, je nachdem, ob der gleiche Redestil von einem Mann oder einer Frau verwendet wird: »Wenn eine Frau wie ein Mann redet, wirkt das nicht durchsetzungsstark, sondern komisch bis ordinär, jedenfalls deplatziert.«36 Dadurch entsteht ein Dilemma, das die Rhetoriken für Frauen lösen wollen: Redet eine Frau wie eine Frau, findet sie kein Gehör und kann sich nicht durchsetzen. Redet eine Frau wie ein Mann, macht sie sich lächerlich und wird als »Mannweib, Emanze, Feldwebel, Zicke, Megäre, Führungsxanthippe, Männerhasserin oder Lesbe«37 wahrgenommen. Bei dem Versuch, einen Ausweg aus diesem Dilemma zu finden, verstricken sich die Ratgeber nicht selten in argumentative Aporien, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Die bereits 1989 erschienene KörperRhetorik für eigen-mächtige Frauen versucht, der logischen Schlussfolgerung zu entgehen, Frauen müssten den männlichen Redestil imitieren, indem sie dessen geschlechtliche Codierung überhaupt in Frage stellt. Frau muß sich nicht ›wie ein Mann‹ bewegen, wenn sie Durchsetzungsvermögen sichtbar machen will, denn der Mann bewegt sich ja nicht ›männlich‹: Normale männliche, d. h. lockere, selbstsichere, breite Haltungen und ausgreifende Bewegungen sowie die klare, volltönende Stimme sind einfach normal menschlich. Das ›typisch Weibliche‹ ist das Ungesunde, Verbogene, Minderwertige und Unnormale – leider.38

Eine derartige Argumentation, die die Norm als gender-neutral auszugeben sucht und die weibliche (Körper-)Rede als soziokulturelle Zurichtung, findet sich in keinem der anderen Rhetorikratgeber für Frauen, die hingegen alle reflektieren, dass sowohl die männliche als auch die weibliche (Körper-)Rede kulturell geformt sind. Während die KörperRhetorik dementsprechend fordert, sich auf eine natürliche

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Eine besondere Sparte der Rhetorikratgeber für Frauen (bspw. Gaßdorf, Zickenlatein. Den Erfolg herbeireden oder Renate Haen, Zicken geben Kontra. Der weibliche Weg zu Schlagfertigkeit und Durchsetzungsvermögen, München 2001) beantwortet diese Frage, indem sie unter dem Etikett der ›Zicke‹ den männlichen, direkten und konfrontativen Redestil als ursprünglich weiblich, nämlich ›zickig‹ verkauft. Vgl. zu diesen Rhetorikratgebern: Tonger-Erk, Die ›Zicke‹. Eine konfrontative weibliche Rhetorik. Topf, Rhetorik für freche Frauen, S. 24. Topf, Rhetorik für freche Frauen, S. 24. Gersbacher, KörperRhetorik für eigen-mächtige Frauen, S. 73.

Körper-Rede zurück zu besinnen, gehen die übrigen Populärrhetoriken für Frauen nicht von einer verschütteten weiblichen Natur aus. Das ebenfalls recht früh erschienene Handbuch Mundwerk drückt sein Unbehagen, die Imitation des männlichen Redestils empfehlen zu müssen, durch die Gegenfrage aus, ob nicht umgekehrt der Mann den weiblichen Stil übernehmen solle: Damit Frauen in dieser männerorientierten Gesellschaft mit Männern arbeiten können, müssen sie die männliche Art der Diskussion lernen oder sie werden nicht gehört. (Müssen sie wirklich oder könnten nicht auch mal die Männer lernen? Für die Gesamtheit wäre es sicher besser).39

Während die eigentliche Empfehlung lautet, die männliche Art der Rede zu übernehmen, wird diese gleichzeitig kritisiert. Die Kritik erscheint jedoch durch die nachgeordnete Satzstellung, das Fragezeichen und die Klammern merklich abgeschwächt. Schließlich kündet der Konjunktiv des letzten Satzes von der Vergeblichkeit solcher Sozialutopien. Die Anstandslehren entwerfen keine besseren Welten, sondern wollen in der bestehenden Ordnung Ratschläge für eine erfolgreiche rhetorische Selbstpräsentation bieten. Weil sich also die meisten Rhetoriken für Frauen davor scheuen, eine vollständige Anpassung an den männlichen Stil zu fordern, plädieren sie für einen Mittelweg. Dieser Mittelweg besteht entweder in der Vermischung männlicher und weiblicher Redestile oder in der situationsadäquaten Übernahme des männlichen Redestils. Schon der Klassiker Rhetorik für Frauen rät zu der Beibehaltung des weiblichen Redestils und einer Erweiterung desselben um männlich konnotierte Elemente. Nun, liebe Leserin, wenn wir uns die Charakteristika des weiblichen Gesprächsverhaltens ansehen, wird deutlich, dass es ein sehr konstruktiver, kooperativer und menschlicher Gesprächsstil ist. Dies sind meiner Meinung nach alles Elemente, die Frauen unbedingt beibehalten und pflegen sollten. Wo wir unseren Sprechstil erweitern sollten, ist in dem Bereich des nachdrücklichen und (selbst)sicheren Argumentierens. Zwar garantiert der Männerbonus auch dann nicht, dass wir angemessen gehört werden, aber unsere Chancen erhöhen sich mit Sicherheit. Also nicht Anpassung an männliche Standards, sondern Erweiterung des Verhaltensrepertoires. 40

Wie eine solche Erweiterung beziehungsweise Mischung beider Redestile aussehen kann, beschreibt der neuere Ratgeber Rhetorik für freche Frauen. Den weiblichen Redestil codiert er zunächst als den eigentlich erfolgreicheren um: »Sind Sie eine Frau? Dann sind Sie fast jedem Mann rhetorisch weit überlegen. […] Frauen sind eloquenter, artikulierter, kommunikativer, sprachbegabter und rhetorisch geschickter als Männer.«41 Paradoxerweise reicht dies nicht, um sich in beruflichen Situationen durchzusetzen: Denn Männer treten angeblich selbstbewusster auf, setzen sich aggressiv durch und stellen sich ungeniert in den Mittelpunkt. Rhetorik für freche 39 40 41

Ploil, ›Mundwerk‹. Ein Handbuch der Rhetorik für Frauen, S. 114. Schlüter, Rhetorik für Frauen, S. 62f./67. Topf, Rhetorik für freche Frauen, S.119.

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Frauen stellt einen »goldenen Mittelweg« in Aussicht. 42 Einerseits soll der weibliche Sprachstil beibehalten werden, denn »[w]er unbewusst wie ein Mann redet, verzichtet auf die Wirkung und die Vorteile der weiblichen Rhetorik.«43 Charme, auch und gerade am Arbeitsplatz, ein strategisch eingesetztes Lächeln und die vermeintlich weibliche, beziehungsverträglichere, »nicht-dirigistische Gesprächsführung«44 muss sich die Frau bewahren. Andererseits soll sie sich den direkten, durchsetzungsstarken männlichen Redestil in beruflichen Situationen gezielt aneignen. Indem die Frau eine direkte Sprache ohne ›Weichspüler‹, Konjunktive und Entschuldigungen – aber auch ohne Grobheiten – spricht, entstehe eine neue weibliche Rhetorik: »Es gibt eine Rhetorik, die weiblich und trotzdem – nein, gerade deshalb – durchsetzungsstark, authentisch und beziehungsfreundlich ist. […] Gute weibliche Rhetorik ist sanft und wirkungsvoll zugleich.«45 Damit suggeriert Rhetorik für freche Frauen, dass sich die vermeintlichen Gegensätze vereinen lassen und drückt der Mischung männlicher und weiblicher Redestile einen weiblichen Stempel auf. Der abgelehnte männliche Sprachstil wird als derbe, grobe »Testosteron-Rhetorik« beziehungsweise als »verbale Grobmotorik« polemisch abgelehnt. 46 Selbst diese zum Feindbild überzeichnete Männersprache kann jedoch – als Ausnahme – in den weiblichen Sprachstil integriert werden. »Je charmanter und weiblicher der Sprachstil einer Frau, desto wirkungsvoller und gleichzeitig weniger image-schädlich sind gelegentliche Anleihen beim testosteronen Sprachstil.«47 Gelegentlich dürfe frau dann auf den Tisch hauen, laut und harsch werden. 48 Während die ersten Rhetorikratgeber für Frauen die gesellschaftliche Minderbewertung des weiblichen Redestils anklagen, betonen die aktuelleren Rhetoriken für Frauen die rhetorische Ebenbürtigkeit, wenn nicht sogar Überlegenheit der Frau. Frauen gelinge es leichter, Gefühle im Publikum zu erwecken, da sie selbst »Gefühle verbal wie nonverbal meist offener als Männer«49 zeigten – eine Grundanforderung der alten Rhetorik. Außerdem hätten sie einen »größeren Wortschatz als Männer« und eine »bildreiche Sprache«, was ebenfalls rhetorische Vorzüge seien.50 Ihnen wird nicht zuletzt »eine ausdrucksvollere Gestik und Mimik« zugeschrieben.51 Dementsprechend fordert ein Ratgeber wie Frauensprache – Männersprache sogar, dass sich der Kommunikations-Stil von Unternehmen ändern und

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Topf, Rhetorik für freche Frauen, S. 24. Topf, Rhetorik für freche Frauen, S. 116. Topf, Rhetorik für freche Frauen, S. 126. Topf, Rhetorik für freche Frauen, S. 12. Vgl. Topf, Rhetorik für freche Frauen, S. 116, 118. Topf, Rhetorik für freche Frauen, S. 131. Vgl. Topf, Rhetorik für freche Frauen, S. 131. Fey, Selbstsicher reden – selbstbewusst handeln. Rhetorik für Frauen, S. 17. Vgl. Höfer, Rhetorik-Training für Frauen, S. 10. Fey, Selbstsicher reden – selbstbewusst handeln. Rhetorik für Frauen, S. 18.

die Frauensprache als gleichwertig anerkannt werden müsse.52 Allen Ratgebern ist es wichtig zu vermitteln: »Ein reines Kopieren der männlichen Kommunikationsstrategie ist hier sicher nicht die Lösung.«53 Stattdessen wird ein dritter Weg empfohlen: »Frauen, die Erfolg haben wollen, sollten nicht versuchen, die besseren Männer zu werden. Sie sollten sich nicht verbiegen, sondern lieber einen eigenen Stil prägen.«54 Dieser Aufruf zur Individualität entpuppt sich als teilweise Aneignung des männlich konnotierten Redestils bei gleichzeitiger Beibehaltung bestimmter weiblicher Anteile. Bemerkenswert in rhetorischer Hinsicht ist, dass der Ratgeber nicht zu einem Ausdruck eines individuell bestehenden Charakters rät, sondern zu der Ausprägung eines (Rede-)Stils, der sich am Publikum orientiert: »Um einen eigenen, unverwechselbaren Stil zu prägen, sollten Sie Ihre Aufmerksamkeit anders als bisher fokussieren: Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit nicht nur auf die inhaltliche Seite Ihrer Argumente, sondern auch auf die Wirkung, die Imageseite. Wie wirken Ihre Aussagen?«55 Es geht also um die Produktion des ēthos in der Rede. Die Frage nach einem wirkungsorientierten, spezifisch weiblichen ēthos wird mit der Aufforderung zur individuellen Aneignung und Mischung männlich und weiblich konnotierter Redestile beantwortet. Die Rednerin werde merken, so das SelbstHerrlichkeits-Training für Frauen, »dass die Zusammenführung männlicher und weiblicher Eigenschaften, anders gesagt: die Gleichzeitigkeit und Integration von Gegensätzen, eine sehr erfolgreiche Melange ist«56. Die Rhetorikratgeber schreiben Frauen einerseits einen defizitären (weil durchsetzungsschwachen) und andererseits einen idealen (weil kooperativen) Redestil zu. Den dadurch entstehenden inneren Widerspruch versuchen sie durch die Differenzierung zwischen beruflichen und privaten Redesituationen zu lösen: Während der weibliche Stil in privaten Redesituation zur kommunikativen Beziehungspflege taugt, ist in beruflichen Wettbewerbssituationen der männliche, agonale Stil vorzuziehen.57 Je nach Ziel und Redesituation kann der männliche oder der weibliche Redestil angewandt werden. Wird zum einen eine Vermischung der beiden Stile empfohlen, so lautet hier der zweite Rat, die geschlechtsspezifischen Stile abwechselnd und strategisch je nach Redesituation einzusetzen. Der Rhetorikbezug der Ratgeber wird damit nicht nur in der starken Wirkungsorientierung, sondern auch in der Beachtung der Situationsspezifik deutlich, der in der klassischen Rhetorik eine maßgebliche Rolle spielt: Wie Cicero sagt, ist es völlig »klar«, »daß nicht ein Stil für jeden Fall und jeden Hörer, für jede beteiligte Person und jede Situation geeignet ist«58. Die Rhetorikratgeber für Frauen unterscheiden wie gesagt private und

52 53 54 55 56 57 58

Vgl. Oppermann, Weber, Frauensprache – Männersprache, S. 13ff. Höfer, Rhetorik-Training für Frauen, S. 26. Höfer, Rhetorik-Training für Frauen, S. 41. Höfer, Rhetorik-Training für Frauen, S. 52. Seemann, Selbst-Herrlichkeits-Training für Frauen … und schüchterne Männer, S. 58f. Vgl. Höfer, Rhetorik-Training für Frauen, S. 26. Cic. De orat. III, 210.

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öffentliche, beziehungsorientierte und berufliche Redesituationen. So differenziert die Rhetorik für freche Frauen zwischen Wohnzimmer und Arbeitsplatz: »Die weibliche Sprache lässt Frauen (und Männer!) lieb und nett erscheinen. […] Was Frauen im einen Kontext lieb und nett aussehen lässt, lässt sie im anderen durchsetzungsschwach erscheinen.«59 Da die Wirkung des gleichen Redestils je nach Redesituation unterschiedlich ausfällt, fordert der Ratgeber: »Werden Sie sprachlich flexibel. Legen Sie sich neben dem netten Sprachstil noch einen durchsetzungsstarken zu!«60 Wie diese wirkungsorientierte, situationsangepasste und geschlechtsflexible Redeweise spezifisch in Bezug auf die actio entworfen wird, soll im Folgenden dargestellt werden. V.3.2

Stimme

Die Stimme ist bereits in der Antike derjenige Bereich der actio, in dem eine geschlechtliche Differenzierung besonders explizit wird. Die verschiedenen Stimmlagen von Männern und Frauen bieten sich offenbar für eine kulturelle Deutung ausnehmend an. So verwundert es nicht, dass in den Frauen-Rhetoriken des 20. Jahrhunderts (neben einigen stark verkürzten, sehr allgemeine Forderungen nach einem gemäßigten Sprechtempo, einer klaren Artikulation, lebhafter Betonung, Variation der Lautstärke und Absenkung der Stimme am Satzende)61 die geschlechtsspezifische Wirkung der Stimme im Zentrum des Interesses steht. Gerade in Bezug auf die Stimme wird deutlich, dass das in der Antike gesetzte männliche Rednerideal nach wie vor als normatives Referenzmodell für die Rednerin fungiert. Die alte Rhetorik hatte die männliche, tiefe Stimme mit Autorität ausgestattet und dagegen die helle, schrille, ›weibische‹ Stimme vom Schauplatz der Rede verbannt. Die Rhetorikratgeber für Frauen greifen diese kulturhistorische Geringschätzung der höheren weiblichen Stimme als Problem auf. So fragt schon der Klassiker Rhetorik für Frauen: [W]enn Sie sich bemühen, lauter zu sprechen, klingt ihre Stimme sicherlich schrill? Der Mythos von den ›schrecklichen‹ hohen, schrillen, hysterischen Frauenstimmen ist offenbar tief verankert. Und ebenso tief sitzt die Angst bei Frauen, eine schrille Stimme vorgeworfen zu bekommen. Kein Wunder, denn die meisten von uns haben Erfahrung damit, lächerlich gemacht, verletzt oder abgewertet zu werden. 62

Schlüter stellt fest, dass hohe Stimmen generell als unangenehm, ja sogar lächerlich wahrgenommen werden – ohne das hierfür ein objektives Kriterium vorläge. »Warum sind hohe Frauenstimmen so lächerlich, während ein anherrschendes, lautes

59 60 61 62

436

Topf, Rhetorik für freche Frauen, S. 19. Topf, Rhetorik für freche Frauen, S. 21. Vgl. bspw. Höfer, Rhetorik-Training für Frauen, S. 60. Schlüter, Rhetorik für Frauen, S. 43/46.

männliches Poltern hingenommen wird?«63 Eine Antwort oder gar einen expliziten Hinweis auf die Setzung des männlichen Redners und mit ihm der männlichen Stimme als Ideal in der Geschichte der Rhetorik gibt Schlüter nicht. Und obwohl sie zunächst die Abwertung hoher Stimmen kritisiert, fordert auch Schlüter im nächsten Zug die Anpassung an ein traditionelles Ideal der Mitte: »Achten Sie darauf, dass Ihre Stimmführung überzeugend und sicher, weder piepsig noch aggressiv ist.«64 Die zur gleichen Zeit entstandene KörperRhetorik für eigen-mächtige Frauen denkt ebenfalls über die problematische Wahrnehmung weiblicher, hoher Stimmen nach. Anstatt diese jedoch kritisch zu reflektieren, wiederholt und bestätigt sie letztlich die traditionellen Wahrnehmungsmuster: Schrill .. piepsig .. keifend .. kreischend .. das sind alles keine Attribute der männlichen Stimme. Sollen wir der Natur ihr Recht lassen und sagen: Frauenstimmen klingen nun mal anders, sollen sie sich daran gewöhnen! Oder haben sie mit ihrem Hohn nicht immer gar so unrecht? Leise Rede erringt keine Beachtung, unsympathische, weil zu hohe Stimme provoziert Ablehnung. Kindliches Gepiepse reizt zum Grinsen. […] Nehmen wir die Herausforderung an! Zu hohe und zu leise Frauenstimmen sind nicht naturgegeben, sondern angewöhnt.65

Um die Möglichkeit und den Nutzen eines rhetorischen Stimmtrainings aufzuzeigen, bedient sich die KörperRhetorik eben jener ansonsten so heftig bekämpften misogynen Wertungen – ohne dass ihr der Widerspruch auffallen würde. Andere Rhetorikratgeber wie Selbstsicher reden – selbstbewusst handeln problematisieren die Wahrnehmung der weiblichen Stimme gar nicht erst, sondern fokussieren sofort die Ausbildung der Stimme: »Eine Schwachstelle von Frauen ist oft die Stimme. Statt voll und kräftig wirkt sie vor allem unter Stress hoch und piepsig. Das ist kein Schicksal! Sie können etwas dagegen unternehmen.«66 Margaret Thatcher (deren ›männliches‹ Auftreten in den Rhetorikratgebern zumeist als NegativBeispiel erwähnt wird) dient hier ausnahmsweise als Vorbild: »Selbst die frühere Premierministerin Margaret Thatcher trainierte ihre Stimme, um mehr Autorität und Glaubwürdigkeit auszustrahlen.«67 Nicht nur die Stimmhöhe und Lautstärke, sondern auch die Sprechgeschwindigkeit wird von den Ratgebern geschlechtsspezifisch untersucht. Fey nimmt bei Frauen ein oftmals erhöhtes Sprechtempo wahr, das sie auf eine niedrige Selbsteinschätzung, ein ›Fluchtverhalten‹ oder die Wahrscheinlichkeit, als Frau häufiger unterbrochen zu werden, zurückführt. Stattdessen will sie (mit Bezug auf Cicero) die Frau zu einem wirkungsorientierten Sprechtempo anleiten.68 63 64 65 66 67 68

Schlüter, Rhetorik für Frauen, S. 43/46. Schlüter, Rhetorik für Frauen, S. 46/49. Gersbacher, KörperRhetorik für eigen-mächtige Frauen, S. 129 [Hervorh. im Original]. Fey, Selbstsicher reden – selbstbewusst handeln. Rhetorik für Frauen, S. 64. Fey, Selbstsicher reden – selbstbewusst handeln. Rhetorik für Frauen, S. 65. Fey, Selbstsicher reden – selbstbewusst handeln. Rhetorik für Frauen, S. 63f.

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Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass einige der Rhetorikratgeber für Frauen zwar durchaus erkennen, dass es sich bei der negativen Wahrnehmung weiblicher Stimmen um eine kulturhistorische Codierung handelt, jedoch geht keiner der Ratgeber dieser Spur auf den Grund. Das Erkenntnisinteresse richtet sich nicht darauf zu erfahren, wie in der alten Rhetorik die (männlich) tiefe Stimme mit Seriosität und Autorität verknüpft wurde. Vielmehr gehen die Rhetorikratgeber wie immer pragmatisch von einem Ist-Zustand aus und fragen nach einer wirkungsorientierten Strategie im Umgang mit den gegebenen kulturhistorischen Wahrnehmungsmustern. Zwar reflektieren die Ratgeber durchaus, dass die weibliche Stimmlage und Stimmführung als ›anders‹ anstatt als ›defizitär‹ wahrgenommen werden könnte, votieren jedoch nicht für die Option, ein neues, weibliches Stimmideal zu propagieren. Stattdessen wird eine hohe Stimmlage ebenso wie eine leise Stimme und schnelle Sprechgeschwindigkeit nicht als ›natürlich‹, sondern als ›antrainiert‹ erachtet, die es wieder ›abzutrainieren‹ gilt.69 Damit scheint an der kulturhistorischen Verknüpfung von Autorität und Durchsetzungsstärke mit einer tiefen, festen, lauten, deutlichen Stimme zunächst nicht gerüttelt zu werden. Allerdings rufen die Frauen-Rhetoriken zu einer Aneignung eben dieser Stimmführung auf. In Bezug auf die Stimme wird eben nicht die übliche Strategie einer Mischung männlicher und weiblicher Redestile empfohlen – sondern ausschließlich die Aneignung einer tiefen, lauten Stimme. Dass eben diese Stimme immer noch männlich konnotiert ist, zeigt die Anekdote von einer Frau, die sich eine solche Stimme aneignet. Ihre Selbstwahrnehmung als Frau erscheint unvereinbar mit der ›männlichen‹ Stimme: »Nicht nur die Angst vor der schrillen Stimme hindert Frauen daran, laut zu sprechen. Denn eine Frau, die laut, deutlich und damit selbstsicher spricht, ist doch nun wirklich nicht feminin.«70 Die Rhetorik für Frauen greift damit das Problem der Performanz geschlechtlicher Identität auf. Anstatt eine die Geschlechtsidentität in Frage stellende Wirkung zu betonen, setzt die Rhetorik für Frauen jedoch bei der weiblichen Selbstwahrnehmung an: Die Frau mit der (neuen) tiefen, lauten, festen Stimme klinge gar nicht so ›überzogen‹ und ›viel zu laut‹, wie sie sich selbst wahrnehme. Durch Übung, bestätigende Rückmeldung von anderen Frauen und die Analyse von Videoaufzeichnungen könne diese ›falsche‹ weibliche Selbstwahrnehmung korrigiert werden. Die angeeignete laute, tiefe Stimme werde dann nicht mehr (ver)männlich(end) wahrgenommen, sondern schlicht als »kräftig und überzeugend«.71 Mit der weiblichen Aneignung der ›männlichen‹ Stimme geht letztlich eine Bedeutungsverschiebung derselben einher. Damit arbeiten die Rhetorikratgeber für Frauen an der Korrektur der besagten kulturhistorischen Verknüpfung, die die klassische Rhetorik über Jahrhunderte gesetzt und gefestigt hat.

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Vgl. Schlüter, Rhetorik für Frauen, S. 44/47. Schlüter, Rhetorik für Frauen, S. 43/46. Schlüter, Rhetorik für Frauen, S. 44/47.

V.3.3

Gestik und Mimik

Das Haltungsideal der Rhetorikratgeber für Frauen ist ein »gerader und aufrechter Gang«, eine »gerade, stolze Haltung«72 , zu der eine Gestik empfohlen wird, die langsam, betont, deutlich und raumgreifend sein soll. Nicht angemessen sind dagegen alle kurzen, kleinen, hektischen Bewegungen, da sie angeblich die erwünschte Souveränität untergraben. Ziel ist es, mittels einer klaren, eindeutigen Gestik und Mimik ›Souveränität‹ und ›Durchsetzungskraft‹ zu zeigen: »Bleiben Sie nicht nur in Ihren Worten, sondern auch in Ihrer Körpersprache klar: Mädchenhaftes Verhalten untergräbt Ihre Souveränität ebenso wie ein Lächeln an der falschen Stelle.«73 Diese Anweisung lässt erkennen, dass die Klarheit, die perspicuitas, in Bezug auf die actio gegendert ist: Während die Klarheit männlich erscheint, das heißt der männliche Körper klar sagt, was er meint, wird die weibliche Körper-Rede grundsätzlich als ›unklar‹ entworfen – in dem Sinne, dass Gestik und Mimik den Rede-Inhalt nicht unterstützen, sondern im Gegenteil untergraben. Während beispielsweise die verbale Rede auf die (männlich konnotierte) Wirkung abzielt, einen souveränen, durchsetzungsstarken Eindruck zu machen, widerspricht ihr die Körper-Rede durch ein (weiblich konnotiertes) Lächeln oder Kopf-schief-legen. Damit wird die auf der verbalen Ebene verzeichnete Tendenz weiblicher Rede, Verkleinerungen, Abschwächungen, Unschärfen und Weichmacher zu verwenden, »um andere nicht zu verletzen, Grobes zu verschönern und akzeptabel zu machen«, auf die KörperRede übertragen.74 Die Rhetorikratgeber für Frauen greifen diese vermeintlich weiblichen, ambivalenten Signale heraus, und machen sie insbesondere am geneigten Kopf und am Lächeln der Frau fest. Während die Anstandslehren im 18. Jahrhundert die aufrechte Körper- und Kopfhaltung als spezifisch bürgerliches Haltungsideal (im Gegensatz zum biegsamen Hofmann) formulieren, wird diese Differenz in den Rhetoriken des 20. Jahrhunderts geschlechtlich codiert. Ein gerader, aufrecht gehaltener Kopf wird nun mit »Autorität« verknüpft, wohingegen ein schief gelegter als Ausdruck einer typisch weiblichen »Freundlichkeit« oder gar Demut erscheint:75 »Frauen neigen häufiger den Kopf zur Seite, ohne sich der Wirkung dieser Geste bewusst zu sein: Es handelt sich hierbei um eine Demutsgeste – und die ist absolut kontraproduktiv

72 73 74

75

Hovermann, Erfolgsrhetorik für Frauen, S. 101. Höfer, Rhetorik-Training für Frauen, S. 60. Höfer, Rhetorik-Training für Frauen, S. 22. Diese sprachlichen Abschwächungen werden einer idealen, ›klaren‹ Sprache gegenübergestellt, der allein die Kraft der Überzeugung zugeschrieben wird. »Da Frauen gern die ›Beziehungssprache‹ verwenden, neigen sie zu dem, was feministische Linguistinnen als powerless language bezeichnen. Wenn Sie andere überzeugen wollen, ist eine klare Sprache ohne Einschränkungen von Vorteil, da sie von Selbstsicherheit zeugt. Denn wer lässt sich schon von jemandem überzeugen, der durch seine Sprache Unsicherheit signalisiert.« Fey, Selbstsicher reden – selbstbewusst handeln. Rhetorik für Frauen, S. 92. Vgl. Fey, Selbstsicher reden – selbstbewusst handeln. Rhetorik für Frauen, S. 56.

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für Ihre Souveränität.«76 Anstatt die gewünschte »Überzeugungs- und Durchsetzungskraft« zu signalisieren, wirke der geneigte Kopf »mädchenhaft«.77 Als ebenso kontraproduktiv wie das Neigen des Kopfes wird das weibliche Lächeln beschrieben. Die Ratgeber gehen davon aus, dass Frauen nicht nur häufiger als Männer lächeln, sondern ihr Lächeln auch an der falschen Stelle einsetzen. Ersteres sei eine Folge der Erziehung, die Frauen dazu anhält, gefallen zu wollen. »Frauen, die dem ›Mag-mich-Zwang‹ unterliegen, neigen dazu, ständig zu lächeln, um sympathisch zu wirken.«78 Die Rhetorikratgeber für Frauen kämpfen gerade dafür, die Frau von dieser »Sympathiefessel« zu befreien und ihr statt eines gefälligen ein durchsetzungsstarkes, professionelles Auftreten anzutrainieren.79 Denn das »Weibchengrinsen« wirke »inkompetent und, ja, dämlich, in jedem Fall hilflos.«80 Das ständige, unüberlegte Lächeln müsse eingestellt werden. In Bezug auf die zweite Verwendung des Lächelns heißt es im Rhetorik-Training für Frauen: »Frauen beschließen manchmal sehr ernste Aussagen mit einem Lächeln. In diesem Fall nimmt das Lächeln jedoch das Gewicht der Aussage und ihre Ernsthaftigkeit zurück – auch das ist kontraproduktiv.«81 Auch Selbstsicher reden – selbstbewusst handeln kritisiert das Lächeln, da es die Durchsetzungskraft einer Aussage abschwäche: »Besonders negativ wirkt es, wenn Frauen nach gut vorgetragenen Argumenten aus Verlegenheit und aus einer gewissen Überspannung heraus kichern, um ihre Aussagekraft sogleich wieder abzuschwächen, während Männer generell nicht kichern.«82 Neben diesen beiden weiblich und negativ konnotierten Verwendungsweisen des Lächelns wird eine dritte identifiziert, die gerade die Frau im positiven Sinne wirkungsvoll einsetzen kann. Schon Schlüter unterscheidet zwischen einem sich selbst entwertenden Verlegenheitslächeln und einem den Gegner entwaffnenden Lächeln. »Dieses Lächeln macht die Zurückweisung für den Gesprächspartner erträglicher – und dies kann ja aus taktischen Gründen wichtig sein.«83 Die Rhetorikratgeber raten also nicht dazu, überhaupt nicht mehr zu lächeln, sondern sich des Lächelns bewusst zu werden und es strategisch einzusetzen. »Frauen müssen nicht generell auf das Lächeln verzichten. Sie sollten es vielmehr ganz bewusst einsetzen, um das gewünschte Ziel zu erreichen.«84 So kommt insbesondere dem Lächeln eine Schlüsselstellung in Bezug auf die Mischung weiblicher und männlicher Redestile zu, die zugleich deren Widersprüchlichkeit aufdeckt. Denn einerseits wird zu einer ›klaren‹, also eindeutigen Aussage geraten und andererseits dazu aufgefordert, etwa

76 77 78 79 80 81 82 83 84

Höfer, Rhetorik-Training für Frauen, S. 59. Hovermann, Erfolgsrhetorik für Frauen, S. 111. Hovermann, Erfolgsrhetorik für Frauen, S. 43. Vgl. Kapitel V.5. Hovermann, Erfolgsrhetorik für Frauen, S. 43. Höfer, Rhetorik-Training für Frauen, S. 59. Fey, Selbstsicher reden – selbstbewusst handeln. Rhetorik für Frauen, S. 18. Schlüter, Rhetorik für Frauen, S. 38/41. Fey, Selbstsicher reden – selbstbewusst handeln. Rhetorik für Frauen, S. 52.

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eine ›zurückweisende‹ Aussage mit einem Lächeln ›erträglicher‹ zu machen. Die Lösung sehen die Rhetorikratgeber in der Berücksichtigung der konkreten Situativität und dem bewussten, strategischen Einsatz solcher ›Unklarheiten‹, der die obscuritas nicht als vitium erscheinen lässt, sondern als ein rhetorisches Wirkungsmittel nutzt. Was die Mimik betrifft, so nimmt nicht zuletzt der ›Blickkontakt‹ eine besondere Rolle ein. Zwar wird in jeder Rhetorik für Frauen der Blick erwähnt und besonders während eines Vortrags für außerordentlich wichtig erachtet, aber er nimmt eine gänzlich andere Stellung ein, als in den Anstandslehren um 1800. Die Augen werden nicht mehr als Tor zur Seele beschrieben, sie verraten nicht mehr die innersten, verborgenen Gedanken und Gefühle, sie sind nicht mehr Zeichen der Tugend. Galt es in den Anstandslehren, den umherschweifenden, zügellosen, neugierigen weiblichen Blick zu disziplinieren, arbeiten die neuen Rhetorikratgeber daran, den »bescheidenen, ach so weiblichen, gesenkten Blick«85 wieder zu öffnen. Die Rednerin soll ihren Blick selbstbewusst schweifen lassen und – dies ist ein im Vergleich zum 18. Jahrhundert neuer Terminus – ›Blickkontakt‹ zu ihrem Publikum aufnehmen, anstatt ihren Blick zu senken und zu begrenzen. Dieser Blick signalisiert nicht nur eine Aufmerksamkeit auf das Gegenüber (wie in den Anstandslehren), sondern wird als technisch zu beherrschender Machtgestus dargestellt, der alle Zuhörer ›im Auge behält‹. Je nach Redesituation (Vieraugengespräch, Mitarbeiter-Besprechung, Vortrag vor Publikum) gibt die Erfolgsrhetorik für Frauen eine eigene »Augentaktik« aus.86 Die Blicke der anderen aber, die in den Anstandslehren als eine penetrante gesellschaftliche Dauerbeobachtung entworfen wurden, mit dem Zweck, die absolute Selbstdisziplinierung zu erzwingen, werden in den Rhetorikratgebern auf ein überschaubares Maß zurückgeführt. Anstatt auf die einschüchternde Kontrollfunktion des gesellschaftlichen Blicks zu verweisen, werden Tipps gegeben, sich nicht einschüchtern zu lassen. Nicht ›die Gesellschaft‹ schaut zu, sondern ein konkretes Publikum. Dessen unfreundliche, irritierte, gelangweilte Blicke sollen ignoriert und stattdessen Bestätigung in freundlichen Gesichtern gesucht werden. V.3.4

Kleidung

Die Kleidung gilt in der alten Rhetorik als ein strategisch einsetzbares Überzeugungsmittel, das als Teil der actio auf das ēthos des Redners verweisen, d. h. seine Würde und Glaubwürdigkeit unterstreichen soll. Diese Funktion behält die Kleidung in den gegenwärtigen Frauen-Rhetoriken bei. Doch auch hier zeigt sich die Problematik eines wirkungsvollen Auftritts in der männlich geprägten Berufswelt,

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Schlüter, Rhetorik für Frauen, S. 31/33. Hovermann, Erfolgsrhetorik für Frauen, S. 55ff. Eine solche Taktik besteht beispielsweise darin, bei einer großen Rede das Publikum sozusagen in vier Quadranten einzuteilen, die abwechselnd angeschaut werden sollen, um die Aufmerksamkeit so vieler Teilnehmer wie nur möglich zu erhalten (S. 57). Den gleichen Tipp gibt Fey, Selbstsicher reden – selbstbewusst handeln. Rhetorik für Frauen, S. 51.

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die in Bezug auf die Kleidung allein Standards für Männer kennt. Die Rhetorikratgeber empfehlen der Frau den üblichen Mittelweg: Einen Business-Kleidungsstil, der weder zu feminin, noch zu maskulin sein dürfe. Um bei öffentlichen Redeauftritten die gewünschte Durchsetzungskraft und Professionalität sichtbar zu machen, rät Fey der Frau, grundsätzlich einen Blazer zu tragen, »dessen gepolsterte Schultern Frauen mehr Autorität verleihen«.87 Eine solche Anleihe des (ehemals) männlich konnotierten Kleidungsstücks Blazer und die Herstellung männlicher Körperformen soll mit anderen weiblicheren Attributen wie etwa einer Brosche oder einem Seidenschal kombiniert werden. Auf diese Weise setzen die Ratgeber ihre Aufforderung zu einer Mischung von Männlichkeit und Weiblichkeit auch in Bezug auf die Kleidung fort. Der Ratgeber Selbstsicher reden – selbstbewusst handeln stellt fest, dass es falsch sei, »die Männer zu stark nachzuahmen, etwa im Hosenanzug mit Herrenhemd und Krawatte und männlichem Haarschnitt herumzulaufen. Eine Frau in betont männlichem Outfit läuft Gefahr, von Männern belächelt zu werden.«88 Auch die Rhetorik für freche Frauen rät davon ab, »im anthrazitfarbenen Nadelstreifenkostüm mit nach hinten gebundenen Haaren und einer goldgefassten Lesebrille«89 im Meeting zu sitzen. Die Rhetorikratgeber bleiben ihrer Vorstellung einer wirkungsorientierten, sichtbar zu machenden Zweigeschlechtlichkeit treu. Nichts läge ihnen ferner, als – zusätzlich zu der Mischung eines männlichen und eines weiblichen Redestils – ein Crossdressing zu proklamieren, dass die Zweigeschlechtlichkeit selbst in Frage stellen würde. »Wenn Sie sich zu männlich gebärden, werden Sie trotzdem kein Mann sein, sondern höchstens ein ›Mann zweiter Güte‹. Damit geben Sie gleichzeitig Dinge auf, die Sie zu bieten haben und die Männer nie erreichen werden.«90 Was diese ›Dinge‹ sein sollen – etwa ein weiblicher Sex-Appeal – bleibt im Dunkeln. Stattdessen erzählt die Autorin von Selbstsicher reden – selbstbewusst handeln davon, wie sie eine vermeintlich ausschließlich männliche Gruppe mit »Meine Herren!« anspricht, wobei sich herausstellt, dass eine – sich männlich kleidende und auftretende – Frau direkt neben ihr steht. Ihr Erschrecken über deren geschlechtliche Uneindeutigkeit mündet in die Warnung, das biologische Geschlecht niemals durch die Kleidung zu verschleiern.91 Die Rhetorikratgeber gehen davon aus, dass ›Geschlechtsneutralität‹ unmöglich sei und geschlechtliche Uneindeutigkeit beunruhigend oder lächerlich wirke – und stehen damit ganz im Einklang mit antiken Rhetoriken. Eben aufgrund ihrer rhetorischen Wirkungsorientierung bestehen die Ratgeber darauf, dass die (biologisch gedachte) Frau weiblich und der Mann männlich aufzutreten habe – weichen diese scheinbar polare Differenz jedoch insofern auf, als sie – nachdem sie zunächst die vermeint-

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Fey, Selbstsicher reden – selbstbewusst handeln. Rhetorik für Frauen, S. 62. Fey, Selbstsicher reden – selbstbewusst handeln. Rhetorik für Frauen, S. 61. Topf, Rhetorik für freche Frauen, S. 122. Fey, Selbstsicher reden – selbstbewusst handeln. Rhetorik für Frauen, S. 61. Vgl. Fey, Selbstsicher reden – selbstbewusst handeln. Rhetorik für Frauen, S. 61.

lichen Unterschiede zwischen weiblicher und männlicher Rede säuberlich definiert haben – ihren Fokus auf die Aneignung und Vermischung der jeweiligen Redestile richten. V.3.5

Raum- und Distanzverhalten: Abschied von der Bescheidenheit

Während Stimmführung, Gestik, Mimik und Kleidung schon immer im Bereich der actio verhandelt wurden, fügen die Rhetorikratgeber für Frauen einen Aspekt des Auftretens hinzu, der gerade in Bezug auf die Geschlechterdifferenz von besonderer Bedeutung ist: das so genannte ›Raum- oder Distanzverhalten‹. Die Frage nach dem Raumverhalten, also der Beanspruchung von viel oder wenig Raum für die actio, gehört in der klassischen Rhetorik zum Bereich der Gestik beziehungsweise der Körperhaltung (motus corporis), wird jedoch in den Rhetorikratgebern für Frauen ausführlich und geschlechtsspezifisch als eigene Kategorie behandelt. Zugrunde liegt die Annahme, dass der Mann viel Raum einnimmt, während sich die Frau einengt. Eine außergewöhnlich aggressive Darstellung dieser Differenz findet sich in dem schon 1989 erschienenen Ratgeber KörperRhetorik für eigen-mächtige Frauen, der die ›Normierung‹ der Frau durch ein gesellschaftliches Ideal anprangert: »Das ›normale‹ Weibliche bedeutet: Einengen, Kleinmachen, Leisetreten, Liebsein.«92 Die Autorin will stattdessen dazu anleiten, zu einer ursprünglichen, unverdorbenen ›Identität‹ zurückzukehren, der sie zugleich die Fähigkeit zuschreibt, sich selbst zu entfalten, Raum einzunehmen und Karriere in der männlich dominierten Geschäftswelt zu machen. Der Begriff der ›Selbstentfaltung‹ hat hier neben der geistigen auch eine körperliche Bedeutung: Wörtlich genommen steht er für eine verstärkte Raum-Ergreifung des Körpers. Die Autorin prangert polemisch den gesellschaftlichen ›Zwang‹ zur Einengung von Frauen an, der sich ihrer Meinung nach besonders in der Mode und der dadurch bedingten Körperhaltung offenbart. Sie verurteilt High-Heels und Mini-Röcke, die der Frau nicht nur den sicheren und entspannten Stand verwehrten, sondern in der daraus folgenden ›zusammengepressten‹ Haltung ihre Minderwertigkeit ausdrückten. Im unbewußt verinnerlichten Zwang zu einer ›raumsparenden‹ Körperhaltung, die hinterhältig als elegant und damenhaft tituliert wird, zementieren weiterhin Generationen von Frauen ihre Minderwertigkeit. Sogar heute, im Jeans-Zeitalter, schaffen es manche Frauen nicht, mit lockeren Beinen zu sitzen.93

Die ›Schuld‹ an diesem Prozess der »Entfremdung von ihrer Identität« und der Verkörperung gesellschaftlicher Ideale schiebt die Autorin einer ›hinterhältigen‹, ›von langer Hand vorbereiteten‹ Macht (des Patriarchats? des Mannes?) zu, die sie nicht

92 93

Gersbacher, KörperRhetorik für eigen-mächtige Frauen, Klappentext. Gersbacher, KörperRhetorik für eigen-mächtige Frauen, S. 47.

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genauer zu fassen vermag, jedoch vor allem durch die Massenmedien und insbesondere die Werbung vermittelt sieht.94 Die anderen Rhetorikratgeber für Frauen argumentieren differenzierter. Der Klassiker Rhetorik für Frauen von 1989 stellt fest, dass die Körperhaltung von Frauen überwiegend in sich geschlossen sei, während Männer mehr Platz beanspruchten, worin Barbara Schlüter sowohl den Ausdruck als auch die Stabilisierung eines Machtverhältnisses sieht. Während die Frau durch ihre weniger raumgreifende Haltung Bescheidenheit signalisiere und sich einen Anspruch auf (rhetorische) Wirkung vergebe, beanspruche der Mann Platz, Sichtbarkeit und Macht.95 Auch Oja Ploil thematisiert in dem 1990 erschienenen Ratgeber ›Mundwerk‹. Ein Handbuch der Rhetorik für Frauen das Raumverhalten und verbindet dies mit der Machtverteilung in der Gesellschaft. Frauen wird Ploil zufolge bei Redeauftritten »stets weniger Zeit, ein geringerer Aktionsraum und weniger Berührungsaktivität«96 zugestanden. »Dieses System funktioniert nach allgemein anerkannten Regeln und mit deren Hilfe wird die geschlechtsspezifische Machtaufteilung täglich bestätigt und gefestigt.«97 Ploil fordert sowohl von Frauen, ihren Körper weniger einzuengen, als auch von Männern, »mit ihren Körpern weniger expansiv zu sein«.98 Aber nicht nur Frauen müssen lernen sich ihren Raum zu nehmen. Auch Männer müssen lernen endlich den ihnen wirklich zustehenden Raum realistisch einzuschätzen und Raum abzutreten. Viele Frauen leben mit einer ständigen Selbstabwertung und viele Männer mit einer ständigen Selbstüberschätzung – beides höchst anstrengend.99

Während die Anweisung, der Mann solle weniger Raum beanspruchen, nur selten formuliert wird,100 ist die Aufforderung, die Frau solle ›sich breit machen‹, mehr Raum für sich einnehmen und damit mehr ›Präsenz‹ zeigen, allgegenwärtig. Damit suchen die Rhetorikratgeber für Frauen die geschlechtsspezifischen Ausprägungen der actio, wie sie in den Anstandslehren des 19. Jahrhunderts wirkmächtig propagiert, verbreitet und eingeübt wurde, zu korrigieren. Zur Erinnerung sei noch

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Dies geht soweit, dass Gersbacher die krude Behauptung aufstellt, der Frau, die über keine Selbstbestimmung mehr verfüge, sei »in einem beispiellosen Genozid von den Männern des eigenen Volkes das Rückgrat gebrochen« worden. Gersbacher, KörperRhetorik für eigen-mächtige Frauen, S. 68. Schlüter, Rhetorik für Frauen, S. 18/18. Ploil, ›Mundwerk‹. Ein Handbuch der Rhetorik für Frauen, S. 44. Unter ›Berührungsaktivität‹ versteht Ploil die dem Mann gesellschaftlich zugestandene Möglichkeit, Frauen oder Untergebene (anzüglich oder herablassend) zu berühren. Ploil, ›Mundwerk‹. Ein Handbuch der Rhetorik für Frauen, S. 44. Ploil bezieht sich hier auf Nancy Henley, Körperstrategien. Geschlecht, Macht und nonverbale Kommunikation, Frankfurt a. M. 1988 (orig. Body Politics, New York 1977). Vgl. Ploil, ›Mundwerk‹. Ein Handbuch der Rhetorik für Frauen, S. 49f. Ploil, ›Mundwerk‹. Ein Handbuch der Rhetorik für Frauen, S. 56. Vgl. Fey, Selbstsicher reden – selbstbewusst handeln. Rhetorik für Frauen, S. 57.

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einmal Johann Christian Siedes Forderung nach einer sichtbar bescheidenen und eingeschränkten actio der Frau zitiert: Diese den weiblichen Anstand eigentlich bestimmende Sittsamkeit, setzt denn auch überhaupt den weiblichen Bewegungen und Wendungen, selbst der Miene und dem Tone, ein eingeschränkteres Maaß als dem männlichen Geschlecht. Stellungen, die bei dem Mann anständig frei sind, werden bei dem weiblichen Geschlecht frech genannt; dahin gehört z. B. das Zurückwerfen des Kopfs, das etwas weite Vorsetzen des Fußes, das Stemmen eines Armes in die Seite, das Schlagen der Hand vor die Brust bei Betheuerungen, so wie denn auch der weibliche sittsame Anstand, das viele Gestikuliren mit den Händen bei dem Sprechen, das zugeschwinde Gehn oder wohl gar zu unsittliche Laufen, das zu schnelle Sprechen, den kühnen unternehmenden Ton, selbst ein zu großes und mannigfaltiges, prätendirendes Mienenspiel nicht leidet. Sittsamkeit und Bescheidenheit ist das wahre Gepräge des weiblichen schönen Anstandes.101

Während die Anstandslehren im frühen 19. Jahrhundert zunehmend forderten, dass die Frau ihre Gestik auf einen engeren Raum begrenze, nehmen die gegenwärtigen Rhetorikratgeber für Frauen Abschied von dieser Bescheidenheit nach dem Motto: »›Ab heute übersieht mich keiner mehr.‹«102 So empfiehlt auch Selbstsicher reden – selbstbewusst handeln: Frauen machen sich gern ›dünne‹. Sie stellen oft die Füße ganz nah beieinander oder sie überkreuzen sie sogar. Mit dieser Beinhaltung werden Sie immer sehr bescheiden wirken. Sie können es gern vor dem Spiegel ausprobieren. Wenn Sie jetzt noch die Hände vor dem Bauch falten und den Kopf leicht schräg halten, garantiere ich Ihnen, dass Sie sich sehr untertänig vorkommen werden. Diese Körperhaltung sollten Sie damit zum letzt Mal in Ihrem Leben eingenommen haben!103

Um sich der eingeschränkten Stellung bewusst zu werden, empfiehlt der Ratgeber ein »Kontrastprogramm«, bei dem statt der weiblichen, engen, eine männliche, breite Stellung ausprobiert werden soll, die »gerne von jungen Männern eingenommen wird«: »Stellen Sie sich breitbeinig hin, stemmen Sie die Hände in die Hüften, nehmen Sie den Kopf etwas höher als gewöhnlich und wippen Sie ein wenig mit den Fersen. Wie fühlen Sie sich? Groß und stark!«104 Sowohl der weibliche, enge als auch dieser männliche, breite Stand werden jedoch als Extreme markiert, die auf das Publikum entweder zu bescheiden oder zu aggressiv wirken. Der klassische ›mittlere Weg‹ ist wiederum einer, der explizit beiden Geschlechtern empfohlen wird. In dieser Haltung sollen die Beine etwa hüftbreit stehen und die Arme herabhängend oder von der Körpermitte ausgehend gestikulieren.

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Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 20f. Wenzel, Der Mann von Welt, S. 143, zitiert eben diese Stelle – was die Wirkmächtigkeit gerade dieser Forderung belegen dürfte. Vgl. Kapitel IV.5.4 (»Reduzierung der Gestik«). Hovermann, Erfolgsrhetorik für Frauen, S. 100. Fey, Selbstsicher reden – selbstbewusst handeln. Rhetorik für Frauen, S. 56f. Fey, Selbstsicher reden – selbstbewusst handeln. Rhetorik für Frauen, S. 57.

445

Das Motto ›Ab heute übersieht mich keiner mehr‹, das typisch für die Rhetorikratgeber für Frauen ist, verweist ein weiteres Mal auf das Problem der (Un-) Sichtbarkeit. Knigge hatte in seiner Umgangslehre das Problem artikuliert, was zu tun sei, wenn der redliche Bürger trotz seiner inneren Qualitäten ›übersehen‹ werde. Seine Antwort darauf ist die Kunst »zu gefallen, zu glänzen«. Das, was Knigge als Problem des männlichen Bürgers beschrieben hat, droht nun vorrangig der berufstätigen Frau. Die Antwort der Rhetorikratgeber für Frauen ist eine wirkungsorientierte Haltung, die sich sichtbar, präsent, raumgreifend und durchsetzungsstark präsentiert. Aber: Bei einer allzu konsequenten Umsetzung einer solchen Haltung droht der Frau die Infragestellung ihrer Geschlechtsidentität. Deshalb ist eine kompensatorische Performanz von Weiblichkeit die durchgehende Forderung der aktuellen Rhetorikratgeber in Bezug auf die actio von Frauen. Laute, starke, tiefe Stimme – ja, raumgreifende Bewegung und auf den Tisch hauen – ja, direkte, aggressive Rhetorik – ja, aber: immer als Kompensation dieser Inanspruchnahme männlicher Rhetorik von einem charmanten Lächeln unterbrochen, durch ein hübsches Blüschen abgeschwächt oder ein kleines Kompliment an die Mitarbeiter versüßt. Andernfalls würde die Wirkung einer kompetenten, durchsetzungsstarken Frau in die eines zickigen, machtgeilen Mannweibs abgleiten – so suggerieren die aktuellen Rhetorikratgeber.

V.4

Rhetorik-Training

Die Ad-hoc-Übung Der Prozess der lebenslangen, täglichen Übung, den die alte Rhetorik in den Vordergrund gestellt und durch verschiedene Übungstechniken – insbesondere die imitatio, die declamatio und die sportliche Ertüchtigung – organisiert hatte, und der im 18. Jahrhundert im Zuge einer auf den Alltag ausgeweiteten Redesituation von den Anstandslehren geschlechtsdifferenziert vorgeschrieben wurde, ist in den populären Gegenwartsrhetoriken auf ein Minimum geschrumpft. Anders als die klassischen Rhetoriken erheben die Rhetorikratgeber der Gegenwart mit ihrer Ausrichtung auf die berufliche Redesituation keinen Anspruch auf eine rhetorische (und ethische) Erziehung von Kindesbeinen an. Widmete sich Quintilian noch der gesamten rhetorischen Ausbildung des Knaben ab dem Säuglingsalter, sprachen die Anstandslehren des 18. und 19. Jahrhunderts noch Jungfrauen und Jünglinge an, so richten sich die Rhetorikratgeber von heute an ein erwachsenes Publikum, das bereits im beruflichen Leben steht, die Adoleszenz also hinter sich hat. Im Gegensatz zur alten Rhetorik befassen sich die Rhetorikratgeber für Frauen nicht mit der Forderung nach einer umfassenden Bildung und der Diskussion möglicher Bildungsinhalte. Die Sachkompetenz wird durchgängig vorausgesetzt: Es kommt den Rhetoriken nicht darauf an, was die Frau vermitteln will, sondern einzig, wie sie es tut. 446

Dieses ›Wie‹ des Auftretens muss nicht mehr in einer täglichen Wiederholung, in einer kontinuierlichen Performanz angemessener (und geschlechtlich eindeutiger) Rede erlernt werden, sondern scheint mittels Ad-hoc-Übungen, die schnell zum Ziel führen, trainierbar. So empfiehlt Frauensprache – Männersprache in Bezug auf Stimmübungen, die aus Entspannungsübungen, Atemübungen und Silbensprechen bestehen: »Vor einer wichtigen Präsentation, einer Rede oder auch einem Gespräch können Sie diese Übungen durchführen.«105 Nicht die Schwierigkeit der Aneignung und Habitualisierung eines sozialen und geschlechtlichen Distinktionsmittels wie der Gestik und Stimmführung wird betont, sondern deren Simplizität: »Mit nur wenig Aufwand können wir das Beste aus unserer Stimme herausholen.«106 Auch Höfers Rhetorik-Training für Frauen verkündet: »Sie werden erstaunt sein, wie leicht die Umsetzung ist und wie sich – mit etwas Übung – mehr Erfolg einstellt.«107 Diese Verkürzung des Übungsaufwands hat die Forschung zur Populärrhetorik bereits mehrfach beschrieben – und kritisiert.108 Die aktuellen Rhetorikratgeber (nicht nur die für Frauen) wenden sich an Erwachsene mit dem Versprechen, weit reichenden rhetorischen und damit auch beruflichen Erfolg durch die Lektüre eines Buches und/oder den Besuch eines Wochenendseminars zu erreichen. Ob dieses »Gebrauchswertversprechen« eingelöst wird, sei dahin gestellt. Tatsächlich betrachten die meisten Rhetorikratgeber für Frauen das, was sie vermitteln, als »rhetorisches Handwerkszeug«, als »Tools«, und legen damit ein durchaus instrumentelles Verhältnis zu ihrem Gegenstand an den Tag.109 Dies scheint weniger einem mangelnden rhetorischen Wissen geschuldet zu sein, als vielmehr einem auf Effizienz und zügiger Konsumierbarkeit ausgerichteten Weiterbildungsmarkt.110 Geändert hat sich damit auch der Ton der Übungsanleitungen, der nun nicht mehr Kinder, Jünglinge und Jungfrauen zu einer kontinuierlichen Selbstdisziplinierung ermahnt, sondern erwachsenen Karrierefrauen Vorschläge zur Selbstperfektionierung mit Wohlfühlfaktor unterbreitet. Überblickt man den großen Markt der beruflichen Weiterbildung, der »im Jahre 2001 in Deutschland ein Volumen von etwa 17 Milliarden Euro«111 umfasste,

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Oppermann, Weber, Frauensprache – Männersprache, S. 155. Oppermann, Weber, Frauensprache – Männersprache, S. 155. Höfer, Rhetorik-Training für Frauen, S. 10. Vgl. Ueding, Rhetorik im Schnellverfahren, S. 83ff. Kirchner, Rhetorik, angewandte, Sp. 10. Höfer, Rhetorik-Training für Frauen, S. 9. Von Autorinnen wie beispielsweise Gudrun Fey, die über Das ethische Dilemma der Rhetorik in der Theorie der Antike und der Neuzeit (Stuttgart 1990) promoviert wurde, ist anzunehmen, dass sie über die entsprechenden Kenntnisse der allgemeinen Rhetorik verfügen, um sich auf wissenschaftliche Art ihrem Gegenstand zu nähern. Wenn sie es dennoch nicht tun, so scheinen die Gründe dafür andere zu sein, etwa die Wünsche der Käufer und die Gesetze der Marktwissenschaft«. Vgl. Kirchner, Rhetorik, angewandte, Sp. 11. Kirchner, Rhetorik, angewandte, Sp. 6.

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so erscheinen die Ad-hoc-Versprechen der Rhetorikratgeber wiederum in einem anderen Licht. Denn die Ratgeber lassen sich nicht von dem riesigen Angebot an Rhetorik-Trainings trennen.112 Sie verweisen immer auch auf die große Anzahl an buchbaren Workshops: Stimmtrainings, Rhetoriktrainings, Sprecherziehung. Alle Autorinnen der Rhetorikratgeber sind zugleich Rhetorik-Trainerinnen, die mit der Veröffentlichung des Ratgebers parallel ihre Workshops bewerben. Vor dem Hintergrund, dass in den Ratgebern mehr oder weniger explizit zum Besuch eines Rhetorik-Trainings geraten wird, wirken die dargestellten Übungen vielmehr als ›Zusatz-Übungen‹. Trotz des verkaufsorientierten Angebots von Ad-hoc-Lösungen werden dann zwischen den Zeilen wiederholte Aufforderungen zur kontinuierlichen Übung sichtbar, »denn erst die Übung macht die Meisterin«113. Ute Höfer schreibt: Ich bin nicht als Rhetoriktrainerin geboren worden. Reden lernt man am besten durch reden – und das ist keine Kunst, auch keine Gabe – wie so oft behauptet wird, sondern eine Mischung aus Üben und Ausprobieren, Fehler machen und daraus lernen, Handwerkszeug kennen lernen und ins eigene Repertoire aufnehmen, Sprache immer wieder neu verwenden und daraus einen eigenen Stil entwickeln, Lust und Mut, die Wirkung des gesprochenen Wortes für eigene Ziele zu nutzen.114

Nicht zuletzt hat sich auch die Art der Vermittlung von Übungen verändert. Die Rhetorikratgeber werden nicht nur durch Rhetorik-Seminare ergänzt, sondern auch durch verschiedene Medien: Dem Selbst-Herrlichkeits-Training liegt beispielsweise eine Übungs-CD bei und die Erfolgsrhetorik von Frauen wird durch einen Internetworkshop unterstützt. Beides zielt auf eine wiederholte Übung ab. Imitatio Die imitatio spielt in den Rhetoriklehrbüchern für Frauen im Vergleich zu ihrer Jahrhunderte währenden Karriere als maßgebliches didaktisches Mittel der Rhetorik nur noch eine geringfügige Rolle. Im Zeitalter angeblicher Individualisierung und Authentizität erscheint sie nicht mehr als pädagogische Technik der Wahl. Stattdessen ist zu beobachten, dass sich das Modell der imitatio auf den po-

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Statistiken zeigen eine konstant hohe Weiterbildungsbeteiligung in Deutschland: Im Jahr 2007 haben 43% aller Personen zwischen 19 und 64 Jahren an einer beruflichen oder privaten Weiterbildung teilgenommen, hinzu kommen 53%, die sich anhand von Büchern oder anderen Medien selbst etwas beigebracht haben (»Informelles Lernen«). Welchen Anteil daran Weiterbildungen im Bereich Rhetorik, Präsentation und Kommunikation haben, schlüsseln die Statistiken nicht auf. Bundesministerium für Bildung und Forschung: Weiterbildungsbeteiligung in Deutschland, 2007, http://www.bmbf. de/pubRD/weiterbildungsbeteiligung_in_deutschland.pdf, abgerufen am 9.9.2011. Fey, Selbstsicher reden – selbstbewusst handeln. Rhetorik für Frauen, S. 12, vgl. S. 39. Höfer, Rhetorik-Training für Frauen, S. 8.

pulärkulturellen Bereich verschoben hat.115 Die imitatio ist als Nachahmung eines körperlich anwesenden Vorbilds in den Rhetorikratgebern für Frauen grundsätzlich zum Problem geworden. Der Klassiker Rhetorik für Frauen stellt fest: »Frauen, die Vorträge halten, sind noch immer eine Rarität. Auch hier haben wir nur wenige Vorbilder. Die wenigen Frauen, die Vorträge oder Reden halten, haben zu Recht das Gefühl, in besonders grellem Rampenlicht zu stehen und sehr kritisch beobachtet zu werden.«116 Wenn es männliche Redner sind, die nach wie vor als die überzeugendsten und erfolgreichsten gelten, müsste sich die Rednerin auf der Suche nach einem Vorbild eigentlich an Männern orientieren. Genau vor dieser imitatio wird jedoch allenthalben gewarnt. »Frauen imitieren beim Reden häufig falsche Leitbilder, nämlich Männer. Vieles wirkt dann angelernt und nicht echt«, heißt es in Selbstsicher reden – selbstbewusst handeln.117 Derselbe Ratgeber rät daher auch: »Orientieren Sie sich lieber an erfolgreichen Frauen und übernehmen Sie von diesen, was zu Ihnen passt.«118 Der Hinweis, die Rednerin solle nur das von einer anderen Rednerin übernehmen, was ›passt‹, verweist zugleich auf eine parallel geforderte Authentizität, Originalität und Individualität. Genaue Vorschriften zu Handhaltung, Mimik oder Faltenwurf wie in der klassischen Rhetorik sind ebenso undenkbar wie eine nachdrückliche Aufforderung zur imitatio erfolgreicher Redner/innen – verändert sich doch die Theorie der actio im Allgemeinen »im 20. Jahrhundert in Richtung auf eine zunehmende Individualisierung des Vortragsstils«119. Dennoch ist die imitatio nicht ganz verschwunden. Sie bietet im Gegenteil durch neue Medien wie das Fernsehen eine vormals undenkbare Menge an möglichen Vorbildern. Selbstsicher reden – selbstbewusst handeln ruft zur Übung der Gestik zur imitatio von Personen aus dem Fernsehen auf: Man solle bei Talkshows, politischen Reden oder der Wetteransage den Ton abstellen und nur auf die Gestik achten: »Sie werden feststellen, egal ob Menschen sitzen oder stehen, es wirkt am

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Zu denken wäre nicht nur an die Imitation von Pop-Idolen, sondern auch an international erfolgreiche Castingshows wie Germany’s Next Topmodel – by Heidi Klum. Die Model-Castingshow auf Pro7, die eine öffentliche Disziplinierung des weiblichen Körpers inszeniert und verbreitet, erreichte in bislang sechs Staffeln von 2006 bis 2011 bis zu 4,82 Millionen Zuschauer/innen pro Sendung (Pressemitteilung von Pro7 vom 10.06.2011, http://provino.prosiebensat1.net/provino/data/imperia/imperia/md/content/ pro7/show/topmodel/pm_gnt_siegerin_quote.pdf, abgerufen am 9.9.2011). Beim Posen vor der Kamera wird das immer gleiche Arsenal von Haltungen mit eingefrorener Mimik abgespult. In jeder Sendung findet ein ›Life-Walk‹ statt, bei dem die Kandidatinnen vor einer Jury auf dem Laufsteg ›laufen‹ müssen, um danach ihren Gang kommentiert zu finden. Immer wieder läuft das (vermeintliche) Ideal Heidi Klum vor, damit in einem klassischen Akt der imitatio die Kandidatinnen nachlaufen können. Kontinuierliche Übung soll das Gelernte körperlich verankern. Für den Hinweis auf Castingshows danke ich Christina Riesenweber. Schlüter, Rhetorik für Frauen, S. 213/227. Fey, Selbstsicher reden – selbstbewusst handeln. Rhetorik für Frauen, S. 14. Fey, Selbstsicher reden – selbstbewusst handeln. Rhetorik für Frauen, S. 13. Steinbrink, Actio, Sp. 72.

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besten, wenn sie aus der Körpermitte heraus agieren. Wenn Ihnen dies positiv aufgefallen ist, dann können Sie sich das angewöhnen.«120 Eine solche ›Angewöhnung‹ scheint der Autorin durchaus nicht dem umfassenden Imperativ »Setzen Sie Ihre natürliche Gestik ein!« zu widersprechen.121 Wie eine ›natürliche‹ Gestik aussieht wird – abgesehen davon, dass sie von der Körpermitte ausgeht – nicht beschrieben. Der Widerspruch zwischen einer ›angewöhnten‹ und einer ›natürlichen‹ Gestik wird nicht problematisiert. Ähnlich wie die Aufforderung zur Nachahmung der Gestik von Rednerinnen aus dem Fernsehen funktioniert die Abbildung von ›richtigen‹ und ›falschen‹ Posen auf Fotographien oder Skizzen in manchen Rhetorikratgebern für Frauen. Dabei tritt verstärkt der normative Aspekt hervor, wird doch hier nicht dem rhetorischen Subjekt die Wahl eines Vorbilds überlassen, sondern zu der Nachahmung normativer Posen aufgefordert. So spart sich der Ratgeber Erfolgsrhetorik für Frauen die ausführliche sprachliche Darstellung von angemessenen und unangemessenen Stand- und Sitzhaltungen, Gestik und Mimik, indem er Fotografien der RhetorikTrainerin in den jeweiligen Posen abbildet und so evident macht, wie die Frau ihren Körper einzusetzen habe – ein visueller Aufruf zur imitatio. Declamatio Zur Übung der Stimme schlagen die Rhetorikratgeber für Frauen eine spielerische Übungsrede vor, in der mögliche Selbstsetzungen erprobt und trainiert werden können. So empfiehlt der Band Rhetorik-Training für Frauen, zur Rede-Übung in verschiedene Rollen – etwa die einer Nachrichtensprecherin, einer Märchenerzählerin oder Meditationstrainerin – zu schlüpfen: »Getreu dem Grundsatz: Wer sich und seine Inhalte inszeniert, überzeugt mit spielerischer Leichtigkeit.«122 Die vorgeschlagenen Rollen sind grundsätzlich solche, die kulturell für das weibliche Geschlecht vorgesehen sind. Vorschläge, in eine männliche Rolle zu schlüpfen, bleiben aus. Zwar finden diese Übungsreden nicht notwendigerweise vor einem Publikum statt, das die jeweilige Selbstinszenierung spiegelt, aber das Rhetorik-Training schlägt vor, die Übung auf Band aufzunehmen und anschließend zur Kontrolle abzuhören. Eine solche mediale Unterstützung wird in fast allen Rhetorikratgebern für Frauen empfohlen – selbst in den frühen wie ›Mundwerk‹ aus dem Jahr 1990, das ein ganzes Kapitel zum Einsatz von Videokameras enthält.123 Wurden in den Anstandslehren des 18. Jahrhunderts Übungen vor dem Spiegel oder einem kritischen Freund vorgeschlagen, empfehlen die Rhetorikratgeber für Frauen eigene Analysen von Video- und Kassettenaufnahmen. Die Selbst-Überprüfung mittels

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Fey, Selbstsicher reden – selbstbewusst handeln. Rhetorik für Frauen, S. 54. Fey, Selbstsicher reden – selbstbewusst handeln. Rhetorik für Frauen, S. 52. Höfer, Rhetorik-Training für Frauen, S. 61. Vgl. Ploil, ›Mundwerk‹. Ein Handbuch der Rhetorik für Frauen, S. 24–33.

der Medien ersetzt die Kritik und bestätigende Spiegelfunktion durch eine andere Person. Mental-Training Die eigentliche Übung scheint weniger in der Disziplinierung und Formung des Körpers zu bestehen. Vielmehr richtet sich – trotz der starken Betonung der Relevanz der Körpersprache – die Anstrengung der Rhetoriken vorrangig auf die ›mentale‹ Einstellung. »Sie lernen die Bedeutung ihres Selbstbewusstseins gerade auch für Ihre rhetorische Kompetenz kennen und erhalten Strategien und Tipps für ihre mentale Stärkung«124, definiert etwa Höfer das Ziel des Rhetorik-Trainings für Frauen. Selbstbewusst und selbstsicher zu sein und zu erscheinen – dies scheint sich gegenseitig zu bedingen. Die Rhetorikratgeber für Frauen verknüpfen damit zwei von Albert BremerichVos identifizierte ›Gebrauchswertversprechen‹ aktueller Populärrhetoriken: erstens die Verbesserung der rhetorischen Technik mit dem Ziel beruflichen Erfolgs und zweitens die Persönlichkeitsbildung.125 Inwiefern eine solche »selbstsichere, freie, produktive Persönlichkeit als das Ergebnis rednerischer Vervollkommnung«126 zu Recht erwartet werden kann, stellt Gert Ueding in Frage. Üblich ist die Kritik, dass in populären Rhetorikratgebern zwar die Persönlichkeit als elementar für die Wirkung der Rede angesehen werde, Hinweise zur Entwicklung dieser Persönlichkeit jedoch fehlten: »Ob Persönlichkeit also Resultat eines Erlernens der Rhetorik ist oder die Voraussetzung für Rhetorik bleibt unklar. Die vorliegende Literatur jedenfalls kann diese Form der Persönlichkeitsentwicklung kaum anstoßen.«127 Auch wenn die Rhetorikforschung eine ›Persönlichkeitsentwicklung‹, die erst im Erwachsenenalter einsetzt, grundsätzlich für fraglich hält, möchte ich vor dem Hintergrund eines performativen Modells der actio durchaus von einer prozessualen Entwicklung – weniger einer offenbar essentiell gedachten ›Persönlichkeit‹, sondern vielmehr eines rhetorischen ēthos – ausgehen. Betrachtet man die in den Rhetorikratgebern für Frauen geforderte Selbstinduktion als performatives Modell, wird sie als Aufforderung zu einem prozessualen ›doing‹ zum Beispiel von ›Selbstsicherheit‹ lesbar. Gerade in der Einnahme von Haltungen und Posen, die einer Rednerin traditionell nicht zugestanden werden, liegt die Möglichkeit, damit nicht zuletzt ein doing gender zu praktizieren, das die Grenzen angemessener weiblicher (Körper-)Rede prozessual und performativ verschiebt. Das prominent diskutierte Problem männlichen und weiblichen Raumver-

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Höfer, Rhetorik-Training für Frauen, S. 9. Vgl. Bremerich-Vos, Populäre Rhetorische Ratgeber, S. 45–55. Vgl. auch Ueding, Rhetorik im Schnellverfahren, S. 82. Ueding, Rhetorik im Schnellverfahren, S. 82. Kirchner, Rhetorik, angewandte, Sp. 8. Vgl. Ueding, Rhetorik im Schnellverfahren, S. 86.

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haltens macht besonders deutlich, dass die Ratgeber eine Form der performativen Selbstinduktion vorschlagen. Die Aufforderung in Selbstsicher reden – selbstbewusst handeln probehalber eine machohafte Pose einzunehmen, um anschließend zu fragen: »Wie fühlen Sie sich? Groß und stark!«128, zeigt, dass die Ratgeber von einer wechselseitigen Beeinflussung von Körper und Psyche ausgehen. Schon der Klassiker Rhetorik für Frauen bemerkt: »Jede Haltung des Körpers beeinflusst die innere Haltung, die Einstellung, die psychische Befindlichkeit mit – und umgekehrt.«129 Dabei verfolgen die Rhetorikratgeber mit ihrem Appell, sich körperlich ›groß und stark‹ zu machen, nicht nur eine Korrektur des äußeren Auftretens, sondern eine Politik der Aneignung, indem sie nach dem Modell der Selbstinduktion davon ausgehen, dass einer Stärkung des äußeren Auftritts unmittelbar eine Stärkung des Selbstbewusstseins folgt. Erstrebenswert ist, dass Sie eine Körpersprache entwickeln, die doppelt positiv wirkt: nach innen, indem sie Ihnen ein gutes Gefühl gibt. Und nach außen, indem sie auf andere positiv und sicher wirkt. Und dazu gehört, dass Sie mehr Raum einnehmen. Dadurch fühlen Sie sich stärker und sicherer – und wirken auch so.130

Die Ausbildung der actio wird explizit eingebunden in eine performative Selbstpräsentation. Ausschlaggebend für deren Gelingen ist jedoch nicht mehr nur die Wirkung nach außen, gespiegelt im Blick der Gesellschaft, sondern eben auch die Wirkung nach innen. Diese Aneignung eines selbstbewussten ēthos findet prozessual über die Habitualisierung der actio statt. Körperbildung wird damit in den Rhetorikratgebern für Frauen zu einem anderen Zweck eingesetzt als in den Anstandslehren des 18. Jahrhunderts: Während letztere vor allem darauf abzielten, eine Öffentlichkeit durch das äußere Auftreten von einem tugendhaften Inneren zu überzeugen, geht es ersteren vor allem darum, dass sich die Rednerin durch ihr äußeres Auftreten von ihrer eigenen Selbstsicherheit überzeugt, was in einem zweiten Schritt zu einem habitualisierten selbstbewussten Auftritt und beruflichen Erfolg führen wird. Damit vertrauen auch die aktuellen Rhetorikratgeber auf die (Persönlichkeits-)formierende Wirkung der Performanz einer angemessenen actio, denken diese jedoch nicht in dem Maße als körperliche Materialisierung durch eine kontinuierliche, lebenslange Übung, wie dies in den antiken Rhetorikratgebern und den Anstandslehren des 18. Jahrhunderts der Fall war. Dies hat auch Folgen für die Konzeption der geschlechtsspezifischen actio: Während in der rhetorischen actio-Ausbildung sowohl der antiken Rhetorik als auch der Anstandslehren die Ausbildung zum Redner/zur Rednerin mit der Aufforderung zu einer angemessenen, dauerhaften Performanz von Geschlecht einherging, fordern die Rhetorikratgeber für Frauen eine situationsspezifische, wirkungsorientierte und geschlechtsflexible Redeweise.

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Fey, Selbstsicher reden – selbstbewusst handeln. Rhetorik für Frauen, S. 57. Schlüter, Rhetorik für Frauen, S. 50/53. Vgl. Hovermann, Erfolgsrhetorik für Frauen, S. 99. Hovermann, Erfolgsrhetorik für Frauen, S. 100.

V.5

Die geschlechtliche Codierung von Gespräch und öffentlicher Rede

Die eingangs gestellt Frage, welche gesellschaftlichen Faktoren und rhetorischen Transformationen die Entstehung von Rhetoriken für Frauen in den späten 1980er Jahren begünstigt haben, möchte ich nun abschließend noch einmal aufgreifen. Zu den bereits diskutierten Aspekten tritt ein weiterer, der den Fokus auf die Veränderung der verhandelten Redesituation richtet: Anders als in der höfischen Anweisungsliteratur, den Gesprächspielen des 17. Jahrhunderts oder der Anstandslehre des 18. Jahrhunderts, in die Frauen als Sprecherinnen einbezogen waren, steht in den gegenwärtigen Populärrhetoriken nun nicht mehr die Konversation, sondern die agonale, berufliche, d. h. öffentliche Rede im Mittelpunkt. Während die öffentliche Rede durchgängig männlich konnotiert wird, erscheint das private Gespräch in den Rhetorikratgebern für Frauen weiblich: Frauen haben meist aufgrund ihrer Sozialisation nicht gelernt als Rednerinnen zu wirken und die ›Spielregeln‹ des Redens (mit allen Tricks) sind ihnen nicht von Kindesbeinen an in Fleisch und Blut übergegangen. Ihre Sozialisation lehrte sie private Gespräche zu führen – in kleinerem Rahmen, mit ganz anderen Spielregeln z. B. das Nicht-gesagte hören und mitbedenken und Gesprächsarbeit leisten (also andere zum Sprechen auffordern und sie beim Sprechen unterstützen).131

Die Unterscheidung von Rede/Gespräch, öffentlich/privat, agonalem/kooperativen sowie männlichem/weiblichem Redestil wird in den Rhetoriken für Frauen selbst nicht hinterfragt oder historisch begründet. Dass das Gespräch integrativ verläuft, privat und weiblich besetzt ist, scheint ihnen selbstverständlich. Doch wirft diese Grenzziehung viele Fragen auf – etwa inwiefern jede der beruflichen Karriere dienliche Rede tatsächlich öffentlich zu nennen ist, ob die berufliche Kommunikation nicht vielmehr aus Gesprächsbeiträgen als aus großen Reden besteht, und warum und seit wann die Frau nun für das Gespräch prädestiniert sein soll. In Bezug auf die letzte Frage ist meine These, dass die Rhetorikratgeber für Frauen in einen Prozess eingreifen, der um 1800 seinen Ausgang genommen hat – nämlich das gendering des Gesprächs als weibliche Gattung und mit ihm die Rhetorik des Gesprächs als weibliche Redeweise.132 Damit schließt dieses Kapitel zur gegenwärtigen actio an die Ergebnisse der vorangegangenen Kapitel zur actio in der Antike, der Renaissance/dem Humanismus und im 18. Jahrhundert an, mit dem Ziel, die Kategorie ›Geschlecht‹ für eine Geschichtsschreibung der (Gesprächs-)Rhetorik produktiv zu machen. In der antiken Rhetorik wird der ideale Redner als Mann entworfen. Während in den systematischen Rhetoriklehrbüchern, die nach dem klassischen Schema der 131 132

Ploil, ›Mundwerk‹. Ein Handbuch der Rhetorik für Frauen, S. 112. Vgl. zu dieser These auch Tonger-Erk, ›Selbst-Herrlichkeits-Training‹. Populäre Rhetorikratgeber für Frauen.

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fünf Arbeitsschritte den Redner zu einer wirkungsvollen großen Rede anleiten, niemals eine Frau adressiert worden ist, wird sie dagegen in die Gesprächsrhetorik von Beginn an einbezogen.133 Wie gezeigt wurde, berücksichtigt sowohl die höfische als auch die bürgerliche Anweisungsliteratur die Frau als Konversationspartnerin.134 Während sich die alte Rhetorik als agonale Kunst der Überredung/Überzeugung und den Redner als ein Subjekt entwirft, das in einer Konkurrenzsituation seine Interessen durchsetzen will, rückt in der Gesprächsrhetorik statt des Ziels der Geltung das des Gefallens in den Vordergrund. »Man liebt einen Menschen nicht, der sich immer geltend machen will«135, heißt es so oder ähnlich in einer Vielzahl an Texten des 18. Jahrhunderts. Im Gespräch gefällt derjenige, der alle Gesprächsteilnehmer zur Geltung kommen lässt und eben nicht die größte Geltung für sich beansprucht. Diese Regel hat bei Knigge gerade der Mann zu erfüllen, dem die Aufgabe zugeschrieben wird, Gespräche auf eine angenehme, gefällige und unterhaltende Weise zu führen. Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass die Art der Gesprächsführung, die Knigge als angemessen für den Mann entwirft, eine ist, die in heutigen Populärrhetoriken in weiten Teilen als weiblich markiert wird: Knigge zufolge soll der Mann Gespräche fördern, mehr zuhören und fragen als sprechen, sich selbst kurz fassen und andere zu Wort kommen lassen, die Themen seines Gesprächs grundsätzlich nach den Interessen anderer ausrichten, auch Langwieriges und Langweiliges mit interessierter Miene verfolgen, Widerspruch gelassen ertragen, den Gesprächspartner oder die -partnerin grundsätzlich loben und bestätigen, sich vor Klatsch und Geschwätzigkeit hüten, Bescheidenheit zeigen, indem er weniger selbst ›glänzen‹, als andere zum ›Glänzen‹ bringen will.136 Der Redner soll nicht den Sieg über seine Gegner davontragen, sondern für eine gemeinschaftliche Teilhabe aller am Gespräch sorgen. Es lässt sich also festhalten, dass die Gattung ›Gespräch‹ offenbar eine Rhetorik erfordert, die am Ende des 18. Jahrhunderts noch nicht eindeutig gegendert ist: Männer und Frauen treten miteinander in ein Gespräch, das nach einem idealen kooperativen und integrativen Konzept verläuft. Hier ist in der Nachfolge Knigges eine geschlechtliche Verschiebung zu erkennen, so meine These: Während im 18. Jahrhundert Gelten und Gefallen für die männliche actio des bürgerlichen Subjekts aneinander gekoppelt sind (wer gefällt, der erfährt Geltung, dessen berufliches Fortkommen und soziales Ansehen ist gesichert), konzentriert sich die weibliche actio zunehmend auf ein rein ästhetisch gedachtes Gefallen. Bleibt in der männlichen Gesprächsrhetorik die Funktion der politischen Beeinflussung, die ursprünglich

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Die Ausnahme ist die anonyme Redekunst fürs Frauenzimmer (1768), vgl. Kapitel IV.3.3. Vgl. Exkurs 1 und 2; Kapitel IV.5.3 und IV.5.4. Cäciliens Briefwechsel mit ihren Kindern, oder lehrreiche und unterhaltsame Briefe, vorzüglich für die Bildung des Briefstyls, für junge Leute. Aus dem Französischen des Herrn A. F. J. Freville, Bd. 3, Leipzig: Salomon Lincke 1798, S. 251. Vgl. zum ›Glanz‹ Kapitel IV.5.3.

der deliberativen Rede vorbehalten war, erhalten, beschränkt sich die weibliche verstärkt auf die Funktion der delectatio. Dem Mann und der Frau wird also in den Anstandslehren um 1800 ein unterschiedliches rhetorisches Ziel zugeschrieben: Der Mann will sich Geltung verschaffen, die Frau will gefallen. In der Gegenüberstellung von Siedes beiden geschlechtsspezifischen Anstandslehren wird diese differenzierte Zuschreibung überdeutlich: Während Siede beiden Geschlechtern einen »soliden« Anstand anrät, begründet er die Notwendigkeit dieser anständigen actio unterschiedlich. »Zu der Kunst sich geltend zu machen, das wichtigste Kapitel der Lebensklugheit, gehört das solide Betragen vorzüglich«137 – erklärt Siede dem Mann. Der Frau teilt er dagegen mit: »Sich solide betragen, empfiehlt überall, und gewinnt Achtung und Liebe.«138 Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass nicht auch der Mann Achtung und Liebe (im Sinne von Zuneigung) anstreben kann; aber die Frau darf sich niemals geltend machen, sondern nur gefallen – so der Tenor der Anstandsbücher. Während die anständige actio für den Mann, wie Siede ausruft, »von so großem Einflusse auf Ihren ganzen Geschäfts- und Wirkungskreis, auf Ihr Glück und Fortkommen«139 ist, kennt die anständige actio der Frau solche geschäftlichen Ziele nicht. Gefallen zu wollen wird der Frau dagegen als natürliche Zielsetzung zugeschrieben. »Aufblühende Mädchen! Ihnen Allen weih ich dieses Buch. Sie fangen die schöne Blüthenzeit des Lebens an, und es muß Ihnen natürlich Wunsch und Bestreben seyn zu gefallen.«140 So beginnt Siede seinen Anstandsratgeber für Frauen, um eben diesen von ihm selbst generierten Wunsch zu erfüllen: Die Anstandslehre vermittelt der Frau rhetorische Strategien zu gefallen. Gefallen soll die Frau vor allem durch eine sichtbar zur Schau getragene Bescheidenheit. Dies hat grundlegende Folgen für die weibliche Rhetorik. War die Bescheidenheit in der Rhetorik der Antike ebenso wie im ausgehenden 18. Jahrhundert in der Umgangslehre Knigges noch eine geschlechtsneutrale Tugend, die strategisch in der Rede eingesetzt werden konnte, um die Gunst eines Publikums zu gewinnen, wird sie schon in der Erziehungslehre Rousseaus und Campes, besonders jedoch in den Anstandslehren des beginnenden 19. Jahrhunderts zu einer der Frau zugeschriebenen natürlichen Eigenschaft, die sich auch in der Rede zu äußern hat. Für den Mann bedeutet dies das Ende seiner Bescheidenheit: »Muth, Selbstvertrauen, Dreistigkeit, Kraft und gebietende Würde«141 treten an ihre Stelle. Dies

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Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 9. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, S. 46. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, S. 40. Siede, Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit, unpag. Vorrede. Vgl. Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 8f.

455

soll am geschlechtsspezifischen (Rede-)Auftritt sichtbar werden, wie beispielsweise Wenzel 1801 in Der Mann von Welt fordert: Den Mann kleidet das unternehmende Wesen, das frei sich ankündigende in seinem Anstande; bei dem Frauenzimmer gefällt dies aber nicht; hier müssen Bescheidenheit, sittliche Zurückhaltung und Schamhaftigkeit in Miene, Stellung, Ton, Gang, Bewegung und Wendungen herrschen.142

Die Bescheidenheit zwingt die Frau jedoch, auf ein Unternehmertum (im weiteren Sinne), auf die Durchsetzung eigener Interessen und Meinungen, auf Geltungsansprüche oder gar Machtstreben zu verzichten. Als weibliche Königstugend ist die Bescheidenheit diejenige Eigenschaft, die eine rhetorische Selbstbehauptung von Frauen in agonalen Redesituationen unmöglich macht. In den gegenwärtigen Populärrhetoriken wird eben diese der Frau zugeschriebene Ausrichtung auf das Gefallen problematisch. Denn die zentral verhandelte Redesituation ist nun nicht mehr die der höflichen Konversation, sondern der agonalen Rede in einer Berufswelt, die explizit männlich und aggressiv konnotiert wird. Durchsetzungsvermögen, Selbstbehauptung und Souveränität zählen, während der Wunsch zu gefallen, indem man (oder eher: frau) Bescheidenheit zeigt, dem diametral entgegengesetzt wird. Schrieben die Anstandsbücher des frühen 19. Jahrhunderts noch der Frau vor, wie sie durch ihre actio und sichtbare Bescheidenheit gefallen könne, diskreditieren die Rhetorikratgeber für Frauen eben diese der Frau verinnerlichte »Sympathiefessel«143. Die Rhetorikratgeber treten dazu an, das »Mag-mich-Gen«144 auszuschalten, das den »inneren Zwang aus[löst], sich ständig unbewusst zu fragen: ›Mag der/die mich? Was kann ich tun, damit er/sie mich mag?‹«145 Anders als Männer wollten Frauen immer allen »gefallen«, kritisiert die Erfolgsrhetorik für Frauen.146 Männern sei es dagegen »nicht ganz so wichtig wie den Frauen, dass sie von anderen gemocht werden. Im Zweifel wirken sie meist lieber erfolgreich, durchsetzungsfähig, professionell oder strategisch als sympathisch.«147 Aus dem gleichzeitigen Willen zum beruflichen Erfolg und dem ausgeprägten Wunsch zu gefallen entsteht den Rhetorikratgebern zufolge ein Dilemma, das durch den »Versuch, durch Nettsein zum Erfolg zu kommen«148 nicht gelöst werden könne. In Anbetracht der agonalen beruflichen Situation wird stattdessen gefordert, die »Sympathiefessel« abzustreifen, Abschied von der Bescheidenheit zu nehmen und zu glänzen – und zwar indem eine Rückbesinnung auf die agonale Rhetorik

142 143 144 145 146 147 148

456

Wenzel, Der Mann von Welt, S. 141. Topf, Rhetorik für freche Frauen, S. 18. Topf, Rhetorik für freche Frauen, S. 201. Topf, Rhetorik für freche Frauen, S. 201. Vg. Hovermann, Erfolgsrhetorik für Frauen, S. 9. Hovermann, Erfolgsrhetorik für Frauen, S. 20. Hovermann, Erfolgsrhetorik für Frauen, S. 14.

stattfindet. Nicht das kooperative Gespräch, sondern die agonale Rede wird von den Rhetorikratgebern für Frauen als Modell beruflich erfolgreicher Kommunikation ausgegeben und das Gespräch verkürzt als »eine Aneinanderreihung kurzer Redebeiträge«149 definiert. Tatsächlich gehen die Frauen-Rhetoriken in ihrer Beschreibung der beruflichen Kommunikation nicht mehr auf die große Rede (in Form von Vorträgen und Präsentationen) ein als auf Gespräche (in Meetings, unter Kollegen und mit dem Chef). Indem letztere aber der Rede untergeordnet werden, wird so auch den beruflichen Gesprächen das Agonale, Zielgerichtete und Wirkungsorientierte eingeschrieben, das traditionell der Rede anhaftet – und für die Frau verfügbar gemacht. Umgekehrt ist zu beobachten, dass die Rhetorikratgeber die mit der Frau identifizierte Gesprächs-Beziehungssprache in ihre Definition der großen Rede einfließen lassen: »Ein gelungener Vortrag ist immer ein Mischung aus Berichts- und Beziehungssprache. Jede Rede ist zugleich ein Gespräch mit den Hörern über ein Thema«150 – behauptet Selbstsicher reden – selbstbewusst handeln. Mit der Vermischung männlicher und weiblicher Redestile geht zugleich eine Transformation der Begriffe Rede und Gespräch einher: Die Rede erscheint nicht mehr ganz so agonal (und männlich) und das Gespräch weniger kooperativ (und weiblich). Indem sich die Rhetorikratgeber für Frauen am Definitionsprozess beteiligen, welche Redeweisen im beruflichen Kontext als angemessen gelten, verschieben sie nicht nur das Bild gesellschaftlich akzeptierter weiblicher Rhetorik, sondern wirken auf die Definition der Rhetorik zurück.

149 150

Oppermann, Weber, Frauensprache – Männersprache, S. 124. Fey, Selbstsicher reden – selbstbewusst handeln. Rhetorik für Frauen, S. 16.

457

VI

Epilog

Dass die Rhetorik, wie sie sich in der Antike formiert und am Beginn der Frühen Neuzeit wiederentdeckt wird, den gesamten Bereich der Bildung und des Wissens prägt, ja zur »beherrschenden Bildungsmacht«1 Europas anvanciert, ist bekannt. Diese Arbeit zeigt, dass Rhetorik darüber hinaus als eine ›Körperbildungsmacht‹ zu bezeichnen ist. Damit wird erstens eine verkürzte Sichtweise auf die Rhetorik als Instrument der schriftlichen oder mündlichen Textproduktion und –analyse korrigiert, die eine wesentliche Dimension, nämlich die körperliche Ausbildung in der Rhetoriklehre, unbeachtet lässt. Zweitens wird auf die enorme Bedeutung der Rhetorik in Bezug auf die Herausbildung geschlechtlicher Körper verwiesen, die die deutschsprachige Rhetorikforschung – ebenso wie die Genderforschung – bislang kaum in den Blick genommen haben. Meine Analyse der Rhetorik als Körperbildungsmacht aus einem gender-orientierten Blickwinkel macht die rhetorische Praxis zugleich als Geschlechterperformanz sichtbar und führt die rhetorische Ausbildung als Habitualisierungsinstanz vor Augen, die nicht nur eine angemessene Rede, sondern auch eine angemessene Darstellung von Geschlecht bewirkt. Die alte Rhetorik versteht Sprechen als einen körperlichen Akt. Es ist die Lehre von der actio, dem fünften officium, in der das Wissen um die Kunst dieses körperlichen Redeauftritts vermittelt wird. Die actio-Lehre offenbart, dass die rhetorische Erziehung als eine Erziehung zum Sprechen immer auch eine körperliche Dimension beinhaltet. Für diese körperliche Ausbildung stellt die Rhetorik bestimmte Erziehungstechniken bereit, von denen ich die aneignende Nachahmung (imitatio), die Übungsrede (declamatio) und die körperliche Ertüchtigung in der alten Rhetorik als besonders wirkmächtig in Bezug auf die Einübung einer geschlechtsspezifischen actio herausgearbeitet habe. Die imitatio dient der gesellschaftskonformen Aneignung bereits etablierter Vorbilder, die declamatio fungiert als spielerische Einübung von Rollen und die sportliche Ertüchtigung (z. B. Ringen in der griechischen Antike oder Tanzen im 18. Jahrhundert) vermittelt neben einer körperlichen Selbstbeherrschung und ästhetischen Bewegungsweise auch ein verkörpertes Wissen um interaktionales Verhalten. In der alten Rhetorik sind diese Techniken nur Männern der Oberschicht zugänglich und werden explizit mit der Einübung einer spezifisch männlichen Erscheinungsweise verknüpft. Alle Übungstechniken werden mit der Auflage vermittelt, sie kontinuierlich und lebenslang zu wiederholen,

1

458

Ottmers, Rhetorik, S. 4.

damit das eingeübte Verhalten ›in Fleisch und Blut‹ übergeht. Versteht man mit Judith Butler den geschlechtlichen Körper als Materialisierung eines kontinuierlichen doing gender, können eben die in der Rhetoriklehre transportierten Weisen zu sprechen, sich zu halten, zu gestikulieren und sich zu kleiden als performative Akte verstanden werden. Indem die Rhetorik einen Übungsprozess in Gang setzt, der auf die formierende Macht der kontinuierlichen Wiederholung vertraut, produziert und naturalisiert sie kultur- und geschlechtsspezifische Körper. Die Rhetorik reguliert als Diskursmacht nicht nur die Produktion der actio, sondern auch ihre Rezeption. Rhetorik macht in der actio-Lehre die Haltung, Gestik, Mimik, Stimmführung und Kleidung als wirkungsorientierte Überzeugungsmittel verfügbar. Zugleich trifft sie Annahmen über die voraussichtliche Rezeption einer bestimmten actio und schreibt diese fest. Indem die Rhetorik über Jahrhunderte eine männliche Rednerposition mit einem explizit männlichen actio-Ideal verknüpft, kann auch die Wirkung der actio nicht geschlechtsneutral wahrgenommen werden. Vielmehr sind die Erwartungshaltung und die Wahrnehmung des Publikums von der Rhetorik geprägt. Damit stehen nicht zuletzt die Effekte männlicher und weiblicher Rede in Frage, erscheint doch über Jahrhunderte eine männliche actio als Voraussetzung rhetorischer Wirkung und Anerkennung. Diese Codierung zeitigt bis heute Nachwirkungen. So entwickeln die Rhetorikratgeber für Frauen, die seit den späten 1980er Jahren erscheinen, wirkungsorientierte Strategien für den Umgang mit solchen Wahrnehmungsmustern – mit dem dezidierten Ziel, Frauen zu rhetorischem Erfolg und damit zugleich zu einem beruflichen Aufstieg und gesellschaftlicher Gleichberechtigung zu verhelfen. Insofern reguliert die Rhetorik auch über die ihr eigenen geschlechtlichen Körperbilder, Ausbildungstechniken und Wahrnehmungsmuster den Zugang zum und die Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Geschehen. Hans Blumenberg schreibt, die Rhetorik mache »Wirkungsmittel bewußt, deren Gebrauch nicht eigens verordnet zu werden braucht, indem sie expliziert, was ohnehin schon getan wird.«2 Rhetorik aus einer gender-orientierten Perspektive zu untersuchen, ist gerade deshalb so aufschlussreich, weil die Rhetorik eben nicht nur ausführt, wie Rede hergestellt wird und wirkt, sondern auch wie Geschlecht hergestellt wird und wirkt. Indem die rhetorischen Texte die ›ohnehin‹ unbewusst ausgeübten Praktiken (der Rede und des Geschlechts) beschreiben, lassen sie den rhetorischen Herstellungsprozess von Geschlecht als historisch-spezifische Körperpraxis nachvollziehbar werden. Auf diese Weise bekommen die rhetorischen Texte einen de-ontologisierenden Charakter, machen sie doch ausdrücklich lesbar, was ansonsten stillschweigend praktiziert wird. Gerade deshalb, so meine ich, stellt die Rhetorik als Körperbildungsmacht für die Gender Studies ein besonders beachtenswertes Forschungsfeld dar, verknüpft sie doch die diskursiv-rhetorische ›Anrufung‹

2

Hans Blumenberg, Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik. In: Blumenberg, Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart 1981, S. 104–136, S. 112.

459

des Subjekts mit seiner körperlich-praktischen Herstellung und macht dies in ausdrücklichen geschlechtsspezifischen Übungsanleitungen explizit. Aus einer systematischen Perspektive ist die Rhetorik, so meine These, als Ausbildung zu einem – immer auch körperlich zu denkenden – Sprechen grundsätzlich als Körperbildungsmacht zu verstehen. Ziel meiner Arbeit war es, diese These anhand der Betrachtung von drei historischen Umbruchstellen auszuarbeiten, die in Bezug auf meine sowohl rhetorikgeschichtlich interessierte als auch genderorientierte Fragestellung aussagekräftig sind: Die Antike, in der sich die Rhetorik als Ausbildung einer männlichen Elite etabliert, das 18. Jahrhundert, in dem eine tiefgreifende Transformation der Rhetorik sowie eine Polarisierung und Naturalisierung von Geschlechtscharakteren zu beobachten ist, und das späte 20. Jahrhundert, in dem erstmalig eine signifikante Anzahl an Rhetorikratgebern speziell für Frauen veröffentlicht wird. Erkenntnisleitend war die Frage, wie die actio-Lehre in der Geschichte der Rhetoriklehre dazu beiträgt, dass sich das rhetorische Subjekt auf eine geschlechtsspezifische Art bildet und zeigt. Dieser historische ›Dreischritt‹ konnte und sollte keine ›große Erzählung‹ einer gegenderten Geschichte der rhetorischen actio ergeben, hat sich jedoch als sinnvoll erwiesen, um historische Verschiebungen in den Blick zu bekommen. Die antiken Rhetoriken entwickeln ein geschlechtsspezifisches KörperzeichenProgramm, das den Körper als Zeichenträger einsetzbar und lesbar macht. Der körperliche Redeauftritt findet in einer exponierten, theatralen Redesituation statt: Die actio ist immer auf ein bestimmtes Publikum gerichtet und das rhetorische Subjekt bedarf wiederum des Zuschauerblicks, um seinen Selbstentwurf zu bestätigen. Der actio kommt dabei sowohl die Aufgabe zu, den Inhalt des Gesagten zu unterstützen, als auch zugleich den ›Charakter‹ des Redners auszustellen. Der ideale Redner wird als vir bonus entworfen, der sich explizit männlich aufzuführen hat, indem er Selbst-Disziplin, Bescheidenheit und Würde vermittelt. Die Ausbildung einer Frau als rhetorisches Subjekt erscheint undenkbar, vielmehr dient der Vergleich mit dem weiblichen Körper der Markierung unangemessener Männlichkeit, gegen die der rhetorisch angemessen agierende Redner abgegrenzt wird. Das rhetorische Subjekt wird als ›Produkt‹ eines lebenslangen Übungsprozesses lesbar, wobei die Texte auf die Ununterscheidbarkeit zwischen ›Natur‹ und einer in kontinuierlichen Wiederholungen erworbenen ›Gewohnheit‹ hindeuten. So fungiert die alte Rhetorik als Körperbildungsmacht. Im Vergleich zur actio-Lehre des späten 18. Jahrhunderts werden jedoch auch die Grenzen dieser Körperbildungsmacht sichtbar: Erstens wird die actio in der alten Rhetorik nicht so zentral gesetzt und umfangreich ausgeführt wie in den actio-Abhandlungen oder Anstandslehren um 1800 und zweitens beschränkt sich diese Lehre auf den hoch gestellten Mann. Das 18. Jahrhundert wird von den Gender Studies als eine bedeutsame Zeitspanne verstanden, während der die Geschlechterdifferenz wenn nicht neu ›erfunden‹, so doch mit einer neuen Intensität verhandelt wird. In literarischen, medizinischen, pädagogischen, anthropologischen und psychologischen Texten wird die Dichotomie Mann/Vernunft/Öffentlichkeit und Frau/Gefühl/Privatheit ontologisch zu 460

begründen versucht. Auch für die Rhetorikforschung stellt das 18. Jahrhundert eine Herausforderung dar, findet doch im Zuge einer aufkommenden Natürlichkeits- und Genieästhetik eine radikale Abwertung der Rhetorik als Kunst der Beredsamkeit statt. Die Rhetorik als Disziplin mit einem universalen Bildungsanspruch, wie sie sich in der Antike formiert hatte, geht unter. Dennoch ist nicht von einem ›Ende‹, sondern vielmehr von einer ›Transformation‹3 der Rhetorik zu sprechen: Das ehemals unter dem Dach der Rhetorik vereinte Wissen fließt in andere Wissenschaften ein. Insbesondere die actio-Lehre löst sich aus dem System der Rhetorik und wird in eigenständigen actio-Abhandlungen sowie der entstehenden Schauspielkunst, aber auch, wie ich zeige, in der Pädagogik und Anstandslehre weiterhin verhandelt. Meine Arbeit leistet nun eine Zusammenführung von Rhetorikforschung und Gender Studies, indem sie danach fragt, wie und wo sich das rhetorische Wissen und das Wissen um Geschlecht in dem für beide Forschungsbereiche zentralen 18. Jahrhundert verbinden. Während in meinem Kapitel zur alten Rhetorik klassische Rhetoriken und die öffentliche ›große Rede‹ im Mittelpunkt standen, war eine Ausweitung meines Untersuchungsgegenstands für das 18. Jahrhundert aus einem gender-orientierten Blickwinkel notwendig und sinnvoll. Die Annahme, dass Frauen im 18. Jahrhundert von den Orten öffentlicher Rede ausgeschlossen sind, dient der traditionellen Rhetorikforschung allzu oft als simpler Vorwand, sich nicht weiter mit der Kategorie ›Geschlecht‹ auseinandersetzen zu müssen, und der Genderforschung verstellt sie nicht selten den Blick auf die Einbeziehung und Handlungsmöglichkeiten von Frauen. Besonders für das späte 18. Jahrhundert hat es sich gelohnt, angesichts einer spezifischen geselligen ›Semiöffentlichkeit‹ eine strikte Trennung von ›öffentlich‹ und ›privat‹ zu hinterfragen, anstatt die zeitgenössische Differenzierung zwischen öffentlicher (männlich codierter) Beredsamkeit und privater (weiblich codierter) Wohlredenheit kritiklos zu wiederholen. Indem ich die Konversation als rhetorische Situation werte, rücken die seit den Anfängen der Gesprächsrhetorik einbezogenen Frauen als Rednerinnen in geselligen Redesituationen in den Blick. Daneben hat es sich als produktiv erwiesen, der Ausweitung meines Gegenstands zu folgen und die Auswirkungen der actio-Lehre auch außerhalb des traditionellen Feldes der Rhetorik zu untersuchen. Daher sind in dieser Studie Texte versammelt, die weibliche (Körper-)Rede im 18. Jahrhundert sichtbar machen sollen: Dies sind neben systematischen Rhetoriken und rhetorischen actio-Abhandlungen Frauenzimmerlexika, Erziehungsratgeber, Moralische Wochenschriften, Tanzbücher und Anstandslehren. So konnte gezeigt werden, dass sich die systematischen Rhetoriken und eigenständigen actio-Abhandlungen im 18. Jahrhundert zwar weiterhin als geschlechtsneutral entwerfen, in den Anstandslehren allerdings Geschlecht in

3

Vgl. Schanze, Transformationen der Rhetorik. Wege der Rhetorikgeschichte um 1800; Till, Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert.

461

einem überraschenden Umfang verhandelt wird. Mit den Anstandslehren kommt schließlich ein gewichtiges, von Männern wie von Frauen rezipiertes Textkonvolut in den Blick, das ab dem späten 18. Jahrhundert durch das gesamte 19. Jahrhundert hindurch bis in die Gegenwart weite Verbreitung gefunden und ein geschlechtsspezifisches actio-Wissen popularisiert hat. Meine Analyse des 18. Jahrhunderts hat mit der Beobachtung eingesetzt, dass die ›Rednerin‹ in der Frühaufklärung (anders als in der Antike) durchaus denkbar ist. In Frauenzimmerlexika wird eine große Anzahl an Rednerinnen aufgezählt und zu ihrer Nachahmung aufgerufen. Zugleich bestehen in einem akademisch und männlich geprägten Milieu wie der Teutschen Gesellschaft solche Topoi weiblicher Rede fort, die die Rednerin als eine verführerisch-persuasive Witzfigur darstellen. Doch auch hier wird sie immerhin zu einem Gegenstand des Diskurses erhoben – und zum Anlass eines umfangreichen ›Federkriegs‹ zwischen dem Mitglied der Rednergesellschaft J. W. Blaufus und dem selbsternannten Verteidiger des schönen Geschlechts G. F. A. Trautmann. Wenn die Rednerin auch kaum als sozialhistorisches Subjekt in Erscheinung tritt, so ist sie in der Frühaufklärung zumindest intelligibel. Vor diesem Hintergrund erscheint die weiterhin grundsätzlich männliche Codierung des Rednerideals, wie sie von J. C. Gottsched in Anlehnung an die alte Rhetorik fortgeschrieben wird, in einem anderen Licht. Und auch die vorgebliche Geschlechtsneutralität der actio-Abhandlungen des späten 18. Jahrhunderts erscheint nicht mehr selbstverständlich, zieht man zudem die wachsende Zahl an Schauspielerinnen auf der Bühne in Betracht. Meine Analyse hat gezeigt, wie J. J. Engels Ideen zu einer Mimik (1785), H. H. Cludius’ Grundriß der körperlichen Beredsamkeit (1792) oder J. G. Pfannenbergs Über die rednerische Action (1796) explizit die Kategorie ›Geschlecht‹ ausklammern, um eine angeblich geschlechts- und standesneutrale, überzeitliche und ›wissenschaftliche‹ Sammlung und Systematik von Affekten und den dazugehörigen Körperzeichen zu leisten. Anders als die Anstandslehren, die als Vorbereitung auf gesellige Redesituationen dazu anleiten, bestimmte, geschlechtsspezifische und gesellschaftlich akzeptierte Tugenden körperlich sichtbar zu machen, wollen diese actio-Abhandlungen einen Katalog möglichst aller Affekte und der Art, diese durch Gestik, Mimik und Stimmführung auszudrücken, aufstellen. So lässt sich einer der Gründe für die irritierende Geschlechtsneutralität der actio-Abhandlungen darin ausmachen, dass mit der Konzentration auf ein ›Wesentliches‹ eine ›Wissenschaft‹ zu begründen versucht wird, wozu die augenfällige Geschlechtsspezifik der Gestik (etwa von Schauspielern und Schauspielerinnen) wissentlich übergangen werden muss. Im Zuge der Transformation der Rhetorik beerbt auch die Pädagogik die einstige Leitwissenschaft. Anhand von Erziehungslehren wie J.-J. Rousseaus Emile (1762) oder J. H. Campes Väterlicher Rath für meine Tochter (1789) habe ich herausgearbeitet, wie anthropologische Annahmen über das Wesen der Frau mit einer jeweils spezifischen Disziplinierung der weiblichen Rede verbunden werden. Während beiden Autoren die Bescheidenheit als weibliche Königstugend gilt und daraus eine Begrenzung des weiblichen Sprechens (insbesondere in der Öffentlichkeit) folgt, 462

schreibt Rousseau der Frau zugleich ein ›natürliches‹ Gefallenwollen zu, das sich wiederum auf eine wirkungsorientierte actio richtet: Die Frau hat das Publikum von sich als Frau zu überzeugen. Es reicht nicht, über bestimmte weibliche Tugenden zu verfügen, hat die Frau doch erst dann ihre (durchaus als rhetorisch zu bezeichnende) Aufgabe erfüllt, wenn sie diese Tugenden auch sicht- und hörbar zur Darstellung bringt. Meine Lektüre der Erziehungslehren hat gezeigt, wie die Polarisierung der Geschlechtscharaktere zu einer Konzeption geschlechtsspezifischer Rede und diesbezüglicher Erziehungsansätze führt, jedoch machen die Texte – obwohl sie durchaus eine geschlechtsspezifische Haltung, Gestik und Mimik erwarten – kaum Übungsanleitungen zu einer angemessenen actio explizit. Als besonders aussagekräftige Untersuchungsgegenstände haben sich schließlich die Anstandslehren wie J. C. Siedes Versuch[e] eines Leitfadens (1797) jeweils für den Mann und die Frau, G. I. Wenzels Mann von Welt (1801) oder A. v. Wallenburgs Anstandslehre für das weibliche Geschlecht (1824) erwiesen, wird doch hier das körperliche Auftreten zentral gesetzt und geschlechtsspezifisch verhandelt. Im Widerspruch zur Konzeption einer Körpersprache als natürlichem Ausdruck findet sich in den Anstandslehren weiterhin eine Anleitung zum rhetorischen Einsatz körperlicher Zeichen. Diese wird, und das ist so bemerkenswert, geschlechtsspezifisch ausformuliert: Während von der weiblichen actio gefordert wird, Bescheidenheit, Weichheit und Schüchternheit zu signalisieren, hat der männliche Anstand Mut, Selbstvertrauen, Kraft und Würde anzuzeigen. Angepasst an die Praxis des geselligen Umgangs, machen die der Rhetorik in hohem Maße verpflichteten Anstandslehren actio-Regeln für bürgerliche Rednerinnen verfügbar. Damit werden Frauen als rhetorische Subjekte angesprochen und ausgebildet – und die Rhetorik als Körperbildungsmacht erstreckt sich nun auch auf den weiblichen Körper. Der Frau wird die Kunst vermittelt, gemäß ihres Wirkungsziels durch ihre eloquentia corporis zu kommunizieren. Dies ist insofern überraschend, als diese körperliche Ausbildung in einem Widerspruch zu den massiven Natürlichkeitsanforderungen der Zeit steht. Auch die im körperlichen Anstand unterrichtete Frau (und ebenso der Mann) muss am Ende ›natürlich‹ erscheinen, jedoch machen die Anstandslehren den Übungsprozess mit dem Ziel einer ›veredelten‹ Natürlichkeit explizit. Anhand der Anstandslehren lässt sich beobachten, dass sich die actio-Lehre im 18. Jahrhundert zunehmend auf die überzeugende Darstellung der eigenen Person konzentriert: Zwar stellt die sicht- und hörbare Zurschaustellung des ēthos auch in der alten Rhetorik schon eine genuine Aufgabe der actio dar, jedoch spielt dort die überzeugende Vermittlung des Redegegenstands eine deutlich größere Rolle. Dagegen geht es in den Anstandslehren des späten 18. Jahrhunderts vorrangig um die Darstellung des (Geschlechts-)›Charakters‹, die nun auch der Frau als rhetorische Aufgabe zugeschrieben wird. Der Frau obliegt es, »ein schönes Inneres schön zu offenbaren«4 . Mit der Einengung der Funktion der actio auf die Darstellung des

4

Wallenburg, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht, S. 44.

463

ēthos geht zugleich eine Ausweitung der Redesituation einher. Die Erziehungs- und Anstandslehren vermitteln geschlechtsspezifische Praktiken des Auftretens und Redens vor einem geselligen Publikum mit dem Hinweis auf eine kontinuierliche gesellschaftliche Sichtbarkeit. Während die alte Rhetorik die actio dazu eingesetzt hat, allererst eine Sichtbarkeit des Redners zu generieren – in dem Sinne, dass sie die Aufmerksamkeit und die Anerkennung des Publikums während der Rede erzeugt und erhält –, entwerfen die Anstandslehren eine unablässige, argusäugige Beobachtung durch eine ›Öffentlichkeit‹. Die Redesituation wird damit auf den gesamten Alltag ausgeweitet, erscheint doch unter diesem kritischen Blick jede Bewegung des Körpers und jede Nuance der Stimme zeichenhaft. Dieser Blick der Öffentlichkeit wird in den Anstandslehren als eine Kontrollinstanz eingesetzt, die eine angemessene Performanz auch der Geschlechtsidentität überwacht und bestätigt. Das Ergebnis eines angemessenen Auftretens ist der gute Ruf, der besonders für die Frau – so heißt es von Rousseau bis Wallenburg – von zentraler Bedeutung ist. Damit entwerfen die Anstandslehren einerseits ein dichotomisches Geschlechterverhältnis und wirken andererseits durch normative Übungsanleitungen zu einer geschlechtsspezifischen actio sowie durch die rigorose Androhung des Verlusts privater und gesellschaftlicher Anerkennung bei einer Zuwiderhandlung stabilisierend darauf zurück. Die Analyse der Anstandslehren hat zu dem Ergebnis geführt, dass die Rhetorik gerade in der vermeintlich zunehmend antirhetorischen zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zusammenhängend mit der Karriere der polaren Geschlechtscharaktere erst recht zu einer Körperbildungsmacht wird. Rhetorik ist nicht mehr die elitäre Bildungsinstanz wie in der Antike, vielmehr formiert die actio-Lehre im 18. Jahrhundert allgemeine gesellige, bürgerliche Praktiken. Indem die Rhetorik ihr angestammtes Feld verlässt und ihre Wirkmächtigkeit im 18. Jahrhundert in anderen Bereichen wie beispielsweise den Anstandslehren entfaltet, kann sie zu einer Körperbildungsmacht werden, die sich nicht nur auf den männlichen Körper bezieht. ›Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr‹ – so könnte das Motto der Rhetorikratgeber für Frauen lauten, die seit den späten 1980er Jahren auf dem deutschen Buchmarkt erscheinen. Wird die weibliche actio im 18. Jahrhundert explizit räumlich beschränkt, indem von der Frau ein kürzerer Schritt, eine engere Gestik, eine sanftere Mimik und leisere Stimme erwartet wird, fordern die aktuellen Rhetoriken für Frauen wieder mehr Raum ein. Sie arbeiten daran, die Frau zu einer ›selbstbewussten‹ Performanz in beruflichen Kontexten anzuleiten, die implizit zugleich eine ›männlichere‹ ist. Die vormals auf den gesamten Alltag ausgeweitete Redesituation wird nun wieder eingeschränkt, und zwar auf die berufliche Rede, die grundsätzlich als agonale Rede verstanden wird. Schreibt die Erziehungs- und Anstandsliteratur des 18. Jahrhunderts der Frau als oberstes und natürliches Ziel zu, gefallen zu wollen, tritt mit dem Wechsel von der Konversation zur beruflichen Redesituation ein neues (oder in Bezug auf die antike Rhetorik: altes) Ziel in den Vordergrund: Geltung zu erlangen. In der beruflichen Redesituation, die als Kampf um die eigenen Interessen beschrieben wird, erscheint der – angeblich auf Koopera464

tion und Harmonie ausgerichtete – ›weibliche‹ Redestil minderwertig und karrierehinderlich, während der ›männliche‹, durchsetzungsstarke und aggressive Redestil im Beruf als Norm gilt. Zwar warnen die Rhetorikratgeber Frauen ausdrücklich vor einem gänzlich ›männlichen‹ Auftreten, jedoch raten sie zu einer partiellen, situationsabhängigen und wirkungsorientierten Aneignung eines ›männlichen‹ Redestils. Während die Rhetorikratgeber der Antike und des 18. Jahrhunderts grundsätzlich versuchen, einen dezidiert männlichen Redestil an den männlichen Körper zu binden (beziehungsweise einen weiblichen Redestil an den weiblichen Körper) und jede geschlechtliche Uneindeutigkeit vehement verwerfen, betreiben die Rhetorikratgeber für Frauen eine Ablösung ›männlich‹ und ›weiblich‹ konnotierter Redestile vom Geschlecht des Redners/der Rednerin. Damit verfolgen sie keineswegs das subversive Ziel einer Vervielfältigung oder Verwirrung von Geschlechterpositionen (wie dies in literarischen Texten der 1990er Jahre zu beobachten ist5), vielmehr sind auch diese Rhetorikratgeber mit Nachdruck darauf bedacht, dass die Frau am Ende ›weiblich‹ wirkt, erscheint ihnen doch ein geschlechtlich uneindeutiges Auftreten ohne jede Aussicht auf Wirkung. Allerdings werden die Grenzen dessen verschoben, was als weiblich gilt und welche actio als angemessen erscheint. Anstatt eine Naturalisierung der Verknüpfung von biologischem Geschlecht und rhetorischem Auftreten zu betreiben, führen die Rhetorikratgeber für Frauen die actio als immer schon gegendert vor Augen und machen sie geschlechtsunabhängig verfügbar. Aus heutiger Sicht ist eine derartig normative Ratgeberliteratur wie die Anstandslehren um 1800, die mit Dauerbeobachtung und gesellschaftlicher Vernichtung drohen, kaum noch denkbar. Die Rhetorikratgeber (nicht nur für Frauen) um 2000 richten sich an ein erwachsenes Publikum, das sich ›weiterbilden‹ möchte, anstatt eine umfassende Ausbildung von Kindesbeinen an zu fordern. Der Appell, sich wirkungsorientiert und situativ ›männliche‹ oder ›weibliche‹ Redestile anzueignen, scheint zudem ein rhetorisches Subjekt vorauszusetzen, das sich aus dem Werkzeugkasten der Rhetorik frei zu bedienen versteht. Kann die GegenwartsRhetorik deshalb nicht mehr als Körperbildungsmacht im Dienste gegenderter Körper bezeichnet werden? Auch die aktuellen Rhetorikratgeber entwerfen Normen und Ideale geschlechtsspezifischen Auftretens und suchen diese durch Übungen in Rhetorik-Trainings zu habitualisieren. Die gesellschaftliche Bedeutung dieses Segments der Ratgeberliteratur ist jedoch nicht mit der der Anstandslehren des 18. und 19. Jahrhunderts vergleichbar. Vielmehr bekämpfen die Rhetorikratgeber für Frauen die (mittlerweile gänzlich naturalisiert erscheinenden) Auswirkungen eben der um 1800 vollzogenen Ausdifferenzierung und körperlichen Einprägung geschlechtsspezifischen Auftretens und Redens. Bemerkenswert ist, dass die Populärrhetoriken für Frauen dabei den politischen Aspekt der Körperbildung sichtbar

5

Vgl. Claudia Breger, Postmoderne Inszenierungen von Gender in der Literatur: Meinecke, Schmidt, Roes. In: Räume der literarischen Postmoderne. Gender, Performativität, Globalisierung, hg. von Paul Michael Lützeler, Tübingen 2000, S. 97–125.

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werden lassen, der durch die scheinbar natürliche Kongruenz von geschlechtlichem Körper und Redestil bislang verschleiert wurde. Die Ratgeber stellen explizit fest, dass die geschlechtlich codierten Redestile nicht gleichwertig sind, zumindest wenn es um berufliche Anerkennung in agonalen Redesituationen geht. Mit der diskursiven ›Erlaubnis‹, sich als Frau auch ›männliche‹ Redestile anzueignen oder auch als Mann ›weibliche‹, ist kein ›Ende der Geschlechterdifferenz‹6 zu proklamieren. Vielmehr ist das rhetorische Subjekt immer zu einer eindeutigen geschlechtlichen Performanz gezwungen, um überhaupt Aussicht auf Anerkennung, d. h. auch: auf rhetorische Wirkung haben zu können. So ist die Frage letztlich nicht, ob es eine geschlechtsneutrale Rhetorik geben kann, die beide Geschlechter gleichermaßen ermächtigt. Vielmehr ist es Aufgabe der gender-orientierten Rhetorikforschung, die kulturhistorischen Codierungen aufzuzeigen, die eine geschlechtsspezifische Wirkung der actio – bis heute – zeitigen.

6

466

Vgl. Judith Butler, Das Ende der Geschlechterdifferenz? In: Konturen des Unentschiedenen, hg. von Jörg Huber, Martin Heller, Basel 1997, S. 25–43. Butler wendet sich explizit gegen die Befürchtung, sie verfechte die Utopie einer Überwindung der Geschlechterdifferenz.

VII Literaturverzeichnis

VII.1 Quellen Zu Kapitel III Appian von Alexandria, Römische Geschichte, Bd. 2: Die Bürgerkriege, übers. von Otto Veh, erl. von Wolfgang Will, Stuttgart 1989. Aristoteles, Physiognomonica, übers. und erl. von Sabine Vogt. In: Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung, hg. von Hellmut Flashar, Bd. 18: Opuscula, Teil VI, Berlin 1999. – Rhetorik, übers. und erl. von Christof Rapp, 2 Halbbde., 1. Halbbd., Darmstadt 2002. – Rhetorik, übers. und hg. von Gernot Krapinger, Stuttgart 1999. – Poetik, übers. und hg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982. Cato (Marcus Porcius Cato), Vom Landbau. Fragmente. Alle erhaltenen Schriften, lat.-dt., übers. und hg. von Otto Schönberger, München 1980. Cicero (Marcus Tullius Cicero), Brutus, lat.-dt., übers. und hg. von Bernhard Kytzler, 5. Aufl., Düsseldorf, Zürich 2000. – De inventione/Von der Auffindung des Stoffes, lat.-dt., übers. und hg. von Theodor Nüßlein, Düsseldorf, Zürich 1998. – De officiis/Vom pflichtgemäßen Handeln, lat.-dt., übers. und hg. von Heinz Gunermann, Stuttgart 2007. – De oratore/Über den Redner, lat.-dt., übers. und hg. von Harald Merklin, Stuttgart 1976. – Orator/Der Redner, lat.-dt., übers. und hg. von Harald Merklin, Stuttgart 2004. Gellius (Aulus Gellius), Noctes Atticae/Die attischen Nächte, lat.-dt., übers. und hg. von Fritz Weiss, unveränd. reprograf. Nachdr. der Ausg. Leipzig 1875, Darmstadt 1981. Maximus (Valerius Maximus), Facta et dicta memorabilia/Denkwürdige Taten und Worte, lat.-dt., übers. und hg. von Ursula Blank-Sangmeister, Stuttgart 1991. Platon, Gorgias. In: Platon, Sämtliche Werke, Bd. 1, übers. von Friedrich Schleiermacher, hg. von Ursula Wolf, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 337–452. Plutarch, Fünf Doppelbiographien, griech.-dt., übers. von Konrat Ziegler und Walter Wuhrmann, ausgew. von Manfred Fuhrmann, mit einer Einführung und Erläuterungen von Konrat Ziegler, Bd. 2: Gaius Marcius und Alkibiades, Demosthenes und Cicero, Zürich, München 1994. Quintilian (Marcus Fabius Quintilianus), Institutionis oratoriae libri XII/Ausbildung des Redners: Zwölf Bücher, lat.-dt., 2 Bde., übers. und hg. von Helmut Rahn, 3. Aufl., Darmstadt 1995. Rhetorica ad Herennium, lat.-dt., übers. und hg. von Theodor Nüßlein, 2. Aufl., Düsseldorf, Zürich 1998. Tacitus (Publius Cornelius Tacitus), Annalen, lat.-dt., übers. und hg. von Erich Heller, München, Zürich 1992.

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Zum Exkurs Castiglione, Baldesar, Il libro del Cortegiano, hg., eingeleitet und erläutert von Walter Barberis, Turin 1998. – Das Buch vom Hofmann, übers., eingeleitet und erläutert von Fritz Baumgart, Bremen 1960. Faret, Nicolas, L’Honneste Homme, Das ist: Der Ehrliebende Welt-Mann/ Oder Die von vielen Leuten gesuchte schöne Kunst/ wie einer an grosser Herren Höfen durch besondere Tugenden/ und geschicktes Wolverhalten gegen männiglichen sich beliebet und belobet machen könne, Leipzig: Nerlich 1647/48, ND hg. von Patricia Bohrn und Alfred Noe, Berlin 2007. Guazzo, Stefano, De Civili Conversatione, Das ist: Von dem Bürgerlichen Wandel und zierlichen Sitten ein gantz nützliches, sinnreiches und liebliches Gespräch […], Frankfurt a. M.: Andreas Wichels 1599. Harsdörffer, Georg Philipp, Frauenzimmer Gesprächspiele, 8 Bde., Nürnberg: Wolfgang Endtern 1641–1649, ND hg. von Irmgard Böttcher, Tübingen 1968f. Meyfart, Johann Matthäus, Teutsche Rhetorica oder Redekunst [1634], hg. von Erich Trunz, Tübingen 1977.

Zu Kapitel IV Adéle, Die Gesprächigkeit der Frauen. In: Journal für deutsche Frauen, 2/5, 1805, S. 97–110. Adelung, Johann Christoph, Gesprächigkeit, in: Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 2, Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf 1796, S. 633. Anonym, Die Schwäzzerinn. In: Amaliens Erholungsstunden: Teutschlands Töchtern geweiht, 2/4, 1791, S. 34–41. Anonym, Rezension zu: Cludius, Abriß der Vortragskunst (1810). In: Allgemeine LiteraturZeitung, 2/225, 1810, Sp. 849–853. Anonym, Rezension zu: Die Redekunst fürs Frauenzimmer (1768). In: Allgemeine Deutsche Bibliothek, 7/2, 1768, S. 274–275. Anonym, Rezension zu: Franke, Über Declamation (1789) und Schocher, Soll die Rede auf immer ein dunkler Gesang bleiben (1791). In: Allgemeine Literatur-Zeitung, 3/226, 1792, Sp. 437–440. Anonym, Rezension zu: Pfannenberg, Über die rednerische Action (1796). In: Allgemeine Literatur-Zeitung, 1/102, 1798, Sp. 812–814. Anonym, Abschieds-Rede, gehalten von Madam Seyler, als sie ihr geliebtes Dresden verließ. Den 13den März 1777, Dresden: Hilschersche Buchhandlung 1777. Anonym, Die Redekunst fürs Frauenzimmer, aus dem Französischen übersetzt, Regensburg: Johann Leopold Montag 1768. Anonym, Galante Frauenzimmer-Moral, Oder: Die kluge Conduite Des Honnetten Frauenzimmers in einer Entrevue zwischen Drey Demoiselles, über außerlesene und recht schöne Frantzösische Maximen gezeiget, Leipzig: Martini 1722. Anonym, Rede beym Schlusse des Theaters in Zelle, von Madame Hensel gehalten. Am 18. Decembr. 1769, o. O. o. J. Anonym, Rede von Madame Ackermann gehalten in Dresden den 3. August 1783, bey der Bellomischen Schauspieler-Gesellschaft, o. O. o. J. Anonym, Zwey Epilogen gesprochen von Madame Hensel während des Aufenthalts der Hannöverischen Gesellschaft, Wetzlar: Georg Ernst Winkler 1771. Austin, Gilbert, Die Kunst der rednerischen und theatralischen Declamation nach älteren und neuern Grundsätzen über die Stimme, den Gestichtsausdruck und die Gesticulati-

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on aufgestellt und durch 152 Figuren erläutert für öffentliche Redner, Schauspieler und Künstler, Leipzig: Baumgärtner 1818. Bartholomay, Paul Bruno, Die Tanzkunst in Beziehung auf die Lehre und Bildung des wahren Anstandes und des gefälligen Äußern, Gießen [o. V.] 1838. Blaufus, Jacob Wilhelm, Abgenöthigte Antwort auf Gottlieb Friedrich Amandus Trautmanns [...] abgenöthigte Verthaidigung des artigen Geschlechtes: nebst einer Zueignungsschrift an denselben, o. O. o. J. [ca. 1746]. – Zwo Scherzreden, unter welchen die Erste Die Vorzüge des Frauenzimmers vor den Mannspersonen in der Beredsamkeit, die Andere aber Die Vorzüge der Mannspersonen vor dem Frauenzimmer in der Galanterie den witzigen Menschfreunden anpreiset, in der teutschen Gesellschaft in Jena gehalten, Jena: Marggraf 1745. Campe, Joachim Heinrich, Väterlicher Rath für meine Tochter. Ein Gegenstück zum Theophron. Der erwachsenern weiblichen Jugend gewidmet, Braunschweig: Verlag der Schulbuchhandlung 1789. Casorti, Louis, Der instructive Tanzmeister für Herren und Damen, oder die Kunst, sich in kurzer Zeit durch bloßen Selbstunterricht die beliebtesten Pas, Touren und Tänze der gewöhnlichen und höhern balletmäßigen Tanzkunst anzueignen, Ilmenau: Bernhard Friedrich Voigt 1826. Cludius, Hermann Heimark, Grundriß der körperlichen Beredsamkeit. Für Liebhaber der schönen Künste, Redner und Schauspieler. Ein Versuch, Hamburg: Carl Ernst Bohn 1792. Corvinus, Gottlieb Siegmund [Amaranthes], Nutzbares, galantes und curiöses Frauenzimmer-Lexicon […], Leipzig: Gleditsch 1715, ND hg. von Manfred Lemmer, Frankfurt a. M. 1980. [Dürer,] VIII. Discours [Von der Sprache der Gebehrden]. In: Die Discourse der Mahlern, hg. von Johann Jakob Bodmer, Johann Jakob Breitinger, 4. Teil, Zürich: Bodmerische Druckerei 1723, ND Hildesheim 1969, S. 45–52. Eberti, Johann Caspar, Eröffnetes Cabinet Deß Gelehrten Frauen-Zimmers/ Darinnen Die Berühmtesten dieses Geschlechtes umbständlich vorgestellet werden, Frankfurt, Leipzig: Rohrlach 1706, ND hg. von Elisabeth Gössmann, München 2004. – Schlesiens Hoch- und Wohlgelehrtes Frauen-Zimmer, Breslau: Rohrlach 1727, ND hg. von Elisabeth Gössmann, München 2004. Engel, Johann Jakob, Ideen zu einer Mimik, mit erläuternden Kupfertafeln, 2 Bde., Berlin: August Mylius 1785f. Erdt, Paulin, Philotheens Frauenzimmer-Akademie. Für Liebhaberinnen der Gelehrsamkeit. Aus dem Französischen übersetzt von der Frau von *** mit Erlaubniß des Obern, Augsburg: Veith 1783. Fabricius, Johann Andreas, Philosophische Oratorie, Das ist: Vernünftige anleitung zur gelehrten und galanten Beredsamkeit, wie sich selbige so wohl in öffentlichen reden, als auch im täglichen umgang, bey allerhand materien, auf mancherley art, durch eine glückliche erfindung, nette expreßion und ordnung zeigen müsse, mit auserlesenen exempeln erläutert, und mit einem register versehen, Leipzig: Bey denen Cörnerischen Erben 1724, ND Kronberg i. Ts. 1974. Feldtenstein, Carl Joseph von, Erweiterung der Kunst nach der Chorographie zu tanzen, Tänze zu erfinden, und aufzusetzen; wie auch Anweisung zu verschiedenen NationalTänzen, Braunschweig 1772, ND hg. von Kurt Petermann, Leipzig 1984. Fénelon, François, Fenelon’s Dialogen über die Beredsamkeit im Allgemeinen und über die Kanzel-Beredsamkeit insbesondere, übers. von Johann Christoph Schlüter, Münster: Peter Waldeck 1803. – Über die Erziehung der Mädchen. Für den Schulgebrauch und das Privatstudium bearbeitet und mit einer Einleitung und erläuternden Anmerkungen versehen von

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Fr. Schieffer, Regierungs- und Schulrat, Paderborn: Schöningh 1888 (= Sammlung der bedeutendsten pädagogischen Schriften aus alter und neuer Zeit 2). – Über Mädchenerziehung. Traité de l’éducation des fi lles, ungekürzte Ausgabe, übers. und hg. von Charlotte Richartz, Bochum 1963. – Von der Erziehung der Töchter. Aus dem Französischen übersetzet Durch den Hn. Abt von Fenelon Jetzo Ertz-Bischoff von Cammerich. Mit einer Vorrede August Hermann Franckens, Halle: Fritsch 1698. Finauer, Peter Paul, Allgemeines Historisches Verzeichnis gelehrter Frauenzimmer, Bd. 1, München: Johann Christoph Mayr 1761. Förster, Friedrich, Rede, gedichtet von Friedrich Förster. Bei der Wieder-Eröffnung der Königlichen Theater gesprochen von der königlichen Hof-Schauspielerin Madame Crelinger im königlichen Schauspielhause am 25. Juni 1840, Berlin: L.W. Krause 1840. Franke, Gottfried Bernhardt, Über Declamation, 2 Bde., Göttingen: Johann Christian Dieterich 1789 und 1794. Frawenlob, Johann, Die Lobwürdige Gesellschafft der Gelehrten Weiber/ Das ist: Kurtze/ Historische Beschreibung/ der fürnembsten gelehrten/ verständigen und Kunsterfahrnen Weibspersonen/ die in der Welt biß auff diese Zeit gelebet haben. Auß unterschiedlichen glaubwürdigen Historicis, so wohl auch eigenen Erfahrung/ zusammen getragen/ nach dem Alphabet mit Fleiß verzeichnet/ und Männiglich zur Nachrichtung/ in Druck gegeben, o. O. 1631. Fréville, Anne François Joachim, Cäciliens Briefwechsel mit ihren Kindern, oder lehrreiche und unterhaltsame Briefe, vorzüglich für die Bildung des Briefstyls, für junge Leute. Aus dem Französischen des Herrn A. F. J. Freville, Bd. 3, Leipzig: Salomon Lincke 1798. Garve, Christian, Abhandlung über die menschlichen Pflichten in drey Büchern aus dem Lateinischen des Marcus Tullius Cicero, neue verbesserte, vermehrte Ausg., Breslau: Wilhelm Gottlieb Korn 1787, ND in: Garve, Gesammelte Werke, hg. von Kurt Wölfel, Bd. IX, Hildesheim, Zürich, New York 1987. – Philosophische Anmerkungen und Abhandlungen zu Cicero’s Büchern von den Pflichten, Anmerkungen zu dem Ersten Buche, neue verbesserte, vermehrte Ausg., Breslau: Wilhelm Gottlieb Korn 1787, ND in: Garve, Gesammelte Werke, hg. von Kurt Wölfel, Bd. X, Hildesheim, Zürich, New York 1986. Genlis, Stéphanie Félicité Comtesse de, Der Frau Gäfinn von Genlis Erziehungstheater für junge Frauenzimmer, übers. von Christian Felix Weiße, 4 Bde., Leipzig: Siegfried Lebrecht Crusius, 1780–1782. Gleim, Betty, Erziehung und Unterricht des weiblichen Geschlechts, Leipzig: Göschen 1810, ND hg. von Ruth Bleckwenn, Paderborn 1989. Gottsched, Johann Christoph, Akademische Rede, daß ein Redner ein ehrlicher Mann seyn muß. In: Gottsched, Ausgewählte Werke, hg. von P. M. Mitchell, Bd. 9,2: Gesammelte Reden, Berlin, New York 1976, S. 509–518. – Akademische Redekunst, Zum Gebrauche der Vorlesungen auf hohen Schulen als ein bequemes Handbuch eingerichtet und mit den schönsten Zeugnissen der Alten erläutert, Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf 1759. – Ausführliche Redekunst, Nach Anleitung der alten Griechen und Römer, wie auch der neuern Ausländer, in zweenen Theilen verfasset; und itzo mit den Zeugnissen der Alten und Exempeln der größten deutschen Redner erläutert. Statt einer Einleitung ist das alte Gespräch, von den Ursachen der verfallenen Beredsamkeit, vorgesetzet, 5. Aufl., Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf 1759, ND in: Gottsched, Ausgewählte Werke, hg. v. P. M. Mitchell, Bd. 7.1: Ausführliche Redekunst, Erster, allgemeiner Theil, Bd. 7.2: Ausführliche Redekunst, Besondrer Theil, Bd. 7.3: Ausführliche Redekunst, Anhang, Variantenverzeichnis, Nachwort, Bd. 7.4: Ausführliche Redekunst, Kommentar, Berlin, New York 1975–1981.

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Grundriß zu einer Vernunfftmäßigen Redekunst Mehrentheils nach Anleitung der alten Griechen und Römer entworfen und zum Gebrauch seiner Zuhörer ans Licht gestellet von M. Joh. Christoph Gottscheden des Colleg. U. L. F. in Leipzig Collegiaten, Hannover: Nicolaus Förster und Sohn 1729. – Vorübungen der Beredsamkeit, zum Gebrauche der Gymnasien und größern Schulen, Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf 1754. Hecker, Andreas Jakob, Gedanken über die beste Art des Vortrags der Rhetorik und der Bildung populärer Volksredner auf Schulen, Berlin: Georg Ludwig Winters Witwe 1783. Heinsius, Theodor, Der angehende Deklamator, oder theoretische und praktische Anleitung zur Bildung des mündlichen Vortrags, 2., gänzlich verbesserte und vermehrte Ausg., Leipzig: Gerhard Fleischer der Jüngere 1815. Herder, Johann Gottfried, Brief an Caroline Flachsland vom 20. September 1770. In: Herders Briefwechsel mit Caroline Flachsland, hg. von Hans Schauer, 2 Bde., Bd. 1: August 1770 bis Dezember 1771, Weimar 1926, S. 44–54. Herklots, Karl Alexander, Rede zur Feier des allerhöchsten Geburtsfestes seiner Majestät des Königs Friedrich Wilhelm III. gedichtet von Herklots, und gesprochen auf dem Königl. Schloss-Theater zu Charlottenburg von Madame Wolff. Den 3. August 1827, o. O. o. J. [Hg.,] Rezension zu: Siede, Der Weltmann und die Dame von feinem und großem Ton. Ein Versuch (1790). In: Allgemeine deutsche Bibliothek, 116/1, 1794, S. 303f. [Holbein,] IV. Discours. In: Die Discourse der Mahlern, hg. von Johann Jakob Bodmer, Johann Jakob Breitinger, 3. Teil, Zürich: Lindinner 1722, ND Hildesheim 1969, S. 25–32. Iffland, August Wilhelm, Fragmente über einige wesentliche Erfordernisse für den darstellenden Künstler auf der Bühne: 1. Über den Anstand. In: Almanach für Theater und Theaterfreunde auf das Jahr 1807, Berlin: Oehmigke 1807, S. 87–132. – Hoftanzmeister Mereau, in: Berlinischer Damen-Kalender auf das Jahr 1803, Berlin: Unger 1802, S. 1–34. – Hoftanzmeister Mereau, o. O. 1803. [K. v. W.,] Gesellschaft. In: Damen Conversations Lexikon, hg. von Carl Herloßsohn, Bd. 4, Adorf: Verlags-Bureau 1835, S. 405–413. Kant, Immanuel, Kritik der Urteilskraft. In: Kant, Werke in zehn Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. VIII, Darmstadt 1983, S. 233–620. Knigge, Adolph Freiherr, Über den Umgang mit Menschen, hg. von Karl-Heinz Göttert, Stuttgart 1991. [Kr.,] Rezension zu: Cludius, Grundriß der körperlichen Beredsamkeit (1792). In: Neue allgemeine deutsche Bibliothek, 5/1, 1793, S. 79–89 [Kulmus, Luise Adelgunde Victoria,] Der Sieg der Beredsamkeit aus dem Französischen der Frau von Gomez, übers. von Luise Adelgunde Victoria Kulmus, Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf 1735. Kulmus, Luise Adelgunde Victoria, Triumph der Weltweisheit, nach Art des französischen Sieges der Beredsamkeit der Frau von Gomez, nebst einem Anhange dreyer Reden, Leipzig: Bernhard Christoph Breitkopf 1739. Kürschner, Joseph, Iffland, August Wilhelm. In: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 14, Leipzig: Duncker und Humblot 1881, S. 6–13. Lavater, Johann Caspar, Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, Leipzig, Winterthur: Weidmanns Erben und Reich 1775. Lehms, Georg Christian, Deutschlands Galante Poetinnen mit ihren sinnreichen und netten Proben; Nebst einem Anhang ausländischer Dames/ so sich gleichfalls durch schöne Poesien bey der curieusen Welt bekannt gemacht, und einer Vorrede, daß das Weibliche Geschlecht so geschickt zum Studieren/ als das Männliche, Frankfurt a. M.: Hocker 1715, ND hg. von Winfried von Borell, Darmstadt 1966. Lessing, Gotthold Ephraim, Entwürfe zu einer Abhandlung ›Der Schauspieler‹. In: Lessing,

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Werke, hg. von Herbert G. Göpfert u. a., Bd. 4: Dramaturgische Schriften, Darmstadt 1996, S. 724–733. – Hamburgische Dramaturgie, In: Lessing, Werke, hg. von Herbert G. Göpfert u. a., Bd. 4: Dramaturgische Schriften, Darmstadt 1996, S. 229–720. Löwen, Johann Friedrich, Kurzgefaßte Grundsätze von der Beredsamkeit des Leibes, Hamburg: Herteli 1755. May, Johann Christoph Karl, Rede zur Feier des allerhöchsten Geburtsfestes seiner Majestät des Königs Friedrich Wilhelm III. Gedichtet von May, und gesprochen im königlichen Opernhause von Madame Schroeck. Berlin, den 3. August 1827, o. O. o. J. Mereau, Carl H., Réflexions Sur Le Maintien Et Sur Les Moyens D’en Corriger Les Defauts Par Mr. Mereau, Maître De Danse & Sous-Directeur Des Plaisirs De La Cour De S. A. S. M. L. D. D. S. G., Gotha: Mevius und Dieterich 1760. Meuschen, Johann Gerhard, Courieuse Schau-Bühne Durchläuchtigst-Gelahrter Dames: Als Kayser-, König-, Cuhr- und Fürstinnen auch anderer hohen Durchläuchtigen Seelen aus Asia, Africa und Europa, Voriger und itziger Zeit, Frankfurt, Leipzig: Johan Bielcke 1706. Paullini, Christian Franz, Das Hoch- und Wohl-gelahrte Teutsche Frauen-Zimmer, Frankfurt, Leipzig: Johann Christoph Stößel 1705. – Hoch- und Wohl-gelahrtes Teutsches Frauenzimmer/ Abermahl durch Hinzusetzung unterschiedlicher Gelehrter/ Wie auch Etlicher Ausländischer Damen hin und wieder um ein merckliches vermehret, Frankfurt, Leipzig: Johann Christoph Stößel 1712. Petersen, G. W., Rezension zu: R. Roberts, Predigten von einem Frauenzimmer verfasset, aus dem Englischen, Leipzig: Böhme, Bd. 1: 1775, Bd. 2: 1776. In: Allgemeine deutsche Bibliothek, 29/2, 1776, S. 429–431. Pfannenberg, Johann Gottfried, Über die rednerische Action, mit erläuternden Beispielen; vorzüglich für studirende Jünglinge, Leipzig: Friedrich August Leo 1796. Reinhold, Carl Wilhelm, Betrachtungen über den wahren Anstand und über die Mittel, die Haltung des Körpers zu verschönern. Ein Handbuch für Erzieher, Künstler [etc.] nach dem Französischen des Mereau weiland Hoftanzmeisters zu Gotha frey bearbeitet von Carl Reinhold, Göttingen: Heinrich Dieterich 1808. Rousseau, Jean-Jacques, Brief an Herrn d’Alembert über seinen Artikel ›Genf‹ im VII. Band der Enzyklopädie und insbesondere über den Plan, ein Schauspielhaus in dieser Stadt zu errichten (1758). In: Rousseau, Schriften, hg. von Henning Ritter, Bd. 1, München, Wien 1978, S. 333–474. – Emile oder Über die Erziehung, hg., eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Martin Rang, übers. von Eleonore Sckommodau, Stuttgart 1963. – Emile ou de l’éducation. In: Rousseau: Œuvres Complètes, Bd. IV, hg. von Bernard Gagnebin, Marcel Raymond, Paris 1969, S. 239–868. [rzw.,] Rezension zu: Betrachtungen über den wahren Anstand und über die Mittel, die Haltung des Körpers zu verschönern (1808). In: Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung, 6/88, 1809, Sp. 96. Schocher, Christian Gotthold, Soll die Rede auf immer ein dunkler Gesang bleiben, und können ihre Arten, Gänge und Beugungen nicht anschaunlich gemacht, und nach Art der Tonkunst gezeichnet werden, Leipzig: August Lebrecht Reinicke 1791. Schramm, Carl Christian, Die Kunst im gemeinen Leben 1.) Wohl zu dencken, 2.) Vernünftig zu reden, 3.) Weißlich zu scherzen und wo es nöthig ist 4.) Klüglich zu schweigen, Leipzig, Budißin: Richter 1741. Seckendorf, Gustav Anton von, Vorlesungen über Deklamation und Mimik, 2 Bde., Braunschweig: Friedrich Vieweg 1816. Sheridan, Thomas, Ueber die Declamation oder den mündlichen Vortrag in Prosa und Versen, nach dem Englischen des Herrn Thomas Sheridan, mit einigen Zusätzen herausgegeben von Renatus Gotthelf Löbel, Leipzig: Weygand [o. J.].

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Siede, Johann Christian, Der Weltmann und die Dame von feinem und großem Ton. Ein Versuch, Halle: Johann Jacob Gebauer 1790. – Handbuch für die äußere Bildung, oder Regeln des Anstandes, des Reizes, der Grazie und der feinen und guten Lebensart, nebst einem Anhange, welcher diätetische Regeln und Schönheitsmittel enthält, Berlin: Matzdorf 1791. – Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Würde und männliche Schönheit, der aufwachsenden männlichen Jugend geweiht. Nebst einem Anhange welcher noch einige Gesundheits-Lehren und einige von den höhern Regeln der guten Lebensart und der Etiquette enthält, Dessau: Heinrich Tänzer 1797. – Versuch eines Leitfadens für Anstand, Solidität, Reiz, Grazie und weibliche Schönheit der aufblühenden weiblichen Jugend geweiht. Nebst einem Anhange welcher noch einige besondere Gesundheits- und Schönheits-Lehren und einige höhere Regeln der guten Lebensart und der Etiquette enthält, Dessau: Heinrich Tänzer 1797. Sulzer, Johann Georg, Anstand (Redekunst). In: Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt, Bd. 1, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1771, S. 71–72. – Beredsamkeit. In: Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt, Bd. 1, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1771, S. 146–153. – Gebehrden (Schöne Künste). In: Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt, 2 Bde., Bd. 1, 2. Aufl., Leipzig: Weidmanns Erben und Reich, 1778, S. 194–197. – Rede. In: Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt, Bd. 2, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1774, S. 953–959. – Redekunst; Rhetorik. In: Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt, Bd. 2, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1774, S. 959–962. – Vortrag (Redende Künste). In: Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln abgehandelt, Bd. 2, Leipzig: Weidmanns Erben und Reich 1771, S. 1242–1247. Taubert, Gottfried, Rechtschaffener Tanzmeister oder gründliche Erklärung der Frantzösischen Tantz-Kunst, Leipzig: Friedrich Lanckischens Erben 1717, ND hg. von Kurt Petermann, 2 Bde., München 1976. Trautmann, Gottlieb Friedrich Amandus, Abgenöthigte Vertheidigung des artigen Geschlechtes wider die erste Scherzrede welche von dem Herrn M. Jacob Wilhelm B** unter der Auffschrift die Vorzüge des Frauenzimmers vor den Manns-Personen in der Beredsamkeit den witzigen Menschen-Freunden angepriesen in der hochlöblichen teutschen Gesellschaft in Jena gehalten […], verfertiget und vor die vernünftigen Verehrer des schönen Geschlechtes herausgegeben von Einem ehrlichen Teutschen, Jena: Marggraf 1746. – Kurze Beantwortung der alzuhöflichen Antwort des Herrn M. Jacob Wilhelm Blaufuß Welche er auf die abgenöthigte Vertheidigung des artigen Geschlechts herausgegeben hat, Nebst einer Vorrede an dem Leser, einen Danksagungs-Schreiben an ermeldeten Herrn M. Blaufuß und einen Anhang verschiedener neuer Fehler Desselben, Frankfurt, Leipzig: o. V. 1747. Tröltsch, Carl Friedrich, Die Frauenzimmerschule oder sittliche Grundsätze zum Unterricht des schönen Geschlechts wie sich selbiges bey allen Vorfallenheiten in der Welt auf eine bescheidene Art zu betragen habe. Zur Bildung eines edlen Herzens und Führung eines klugen Wandels, Frankfurt und Leipzig: Göbhardt 1766.

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Vives, Juan Luis, De institutione Feminae Christianae, Liber primus, hg. von C. Fantazzi und C. Mattheussen, Leiden, New York, Köln 1996. Wallenburg, Amalie Gräfin von, Anstandslehre für das weibliche Geschlecht. Oder mütterlicher Rath für meine Julie über den sittlichen und körperlichen Anstand, Quedlinburg, Leipzig: Gottfried Basse 1824. Wenzel, Gottfried Immanuel, Der Mann von Welt oder Grundsätze und Regeln des Anstandes, der Grazie, der feinen Lebensart, und der wahren Höflichkeit, 6., unveränderte Aufl., Pest: Conrad Adolf Hartleben 1817. Zedler, Johann Heinrich, Affectation. In: Zedler, Großes vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste, Supplement 1, Leipzig: Zedler 1751, ND Graz 1998, Sp. 685f. – Rede-Kunst. In: Zedler, Großes vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 30, Leipzig, Halle: Zedler 1741, ND Graz 1998, Sp.1605–1608. – Wohlanständigkeit. In: Zedler, Großes vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 58, Leipzig, Halle: Zedler 1748, ND Graz 1998, Sp. 82–92.

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