Abwehr-General Erwin Lahousen: Der erste Zeuge beim Nürnberger Prozess 9783205201809, 9783205797005


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Abwehr-General Erwin Lahousen: Der erste Zeuge beim Nürnberger Prozess
 9783205201809, 9783205797005

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Harry Carl Schaub

Abwehr-General Erwin Lahousen Der erste Zeuge beim Nürnberger Prozess

Aus dem Englischen von Martin Moll

2015 BÖH L AU V ER L AG W IEN KÖLN W EI M A R

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Erwin Lahousen bei seiner Zeugenaussage im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess 1946; Quelle: http://www.trumanlibrary.org © 2015 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Volker Manz, Kenzingen Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: Michael Rauscher, Wien Druck und Bindung: Theiss, St. Stefan im Lavanttal Gedruckt auf chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-79700-5

»Ein Nachrichtendienst ist die ideale Basis für eine Verschwörung. Dessen Angehörige

können aufgrund ihrer Aufträge im eigenen Land und im Ausland beliebig reisen, und

niemand fragt danach. Jedes einzelne Blatt der Akten, das Personal, die von einem solchen Dienst ausgegebenen Gelder, seine Kontakte, ja selbst Kontakte zum Feind – all das

sind Staatsgeheimnisse. Selbst die Gestapo konnte nicht so einfach in die Aktivitäten der

›Abwehr‹ hineinleuchten, bevor Himmler den Dienst unter seine Kontrolle bekam. Dies gelang ihm erst Ende 1943.«

Allen Welsh Dulles, Germany’s Underground (New York 1947), S. 70. Copyright © 1947 by Allen W. Dulles. Neuausgabe als: Allen Welsh Dulles, Germany’s Underground. With

a New Introduction by Peter Hoffmann (New York 2000). Copyright © by Peter Hoffmann.



Inhalt Vorwort von Peter Broucek. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

  9

Prolog. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 11

Kapitel 1. Der erste Zeuge in Nürnberg . . . . . . . . . . . . . . . . . .

 20

Kapitel 2. Vom Dienst für den Kaiser zum Dienst in der Republik . . . .

 25

Kapitel 3. Lahousen und Madame Bihet-Richou . . . . . . . . . . . . .

 34

Kapitel 4. Kriegsdrohungen und Kriegsbeginn durch das NS-Regime ..

 50

Kapitel 5. NS-Verbrechen in Polen und gegen polnische Zivilisten. . . .

 74

Kapitel 6. NS-Verbrechen an den Juden Europas . . . . . . . . . . . . .

 95

Kapitel 7. NS-Verbrechen an den Westalliierten.. . . . . . . . . . . . .

117

Kapitel 8. NS-Verbrechen an sowjetischen Kriegsgefangenen und Zivilisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

144

Kapitel 9. Die Doppelrolle der »Abwehr« . . . . . . . . . . . . . . . . .

168

Kapitel 10. Die Spionage-Partnerschaft von Lahousen und MAD. . . . .

198

Kapitel 11. Hitler beseitigt die »Abwehr«. . . . . . . . . . . . . . . . . .

222

Kapitel 12. Stauffenbergs Attentat und die Rache des RSHA . . . . . . .

230

Kapitel 13. Konflikte nach dem Krieg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

242

Bildtafeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

257

– 7 –

Inhalt

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

265

Quellen- und Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

291

Lebenslauf von Erwin Lahousen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

297

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

301

Register. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

306

– 8 –

Vorwort

D

er amerikanische Autor Harry Carl Schaub, ein Freund Österreichs, hat die Biografie eines österreichischen Generalstabsoffiziers vorgelegt, der sich in beiden Weltkriegen als Soldat bewährt hat  : Generalmajor Erwin Lahousen von Vivremont. Lahousen wurde 1938 in die deutsche Wehrmacht übernommen und hat dort bereits 1939 für den deutschen Widerstand gearbeitet, und zwar bis 1943 im Amt Ausland /Abwehr, in dem bereits bald nach Kriegsausbruch 1939 auch die Wiederherstellung Österreichs nach einem erfolgreichen Umsturz zur Diskussion stand, wie amerikanische Forschungen nach 1945 ergaben. 1943 gab Lahousen Fritz Molden die notwendige Orientierungshilfe, die diesen zum Schweizer Generalstab und schließlich zu jenen Widerstandskämpfern führte, die den Kontakt zu dem für Mitteleuropa wesentlichen amerikanischen Geheimdienstmitarbeiter Allen Dulles Anfang 1945 ebneten. Lahousen hatte moralische Grundsätze, die ihn befähigten, als einer der engsten Mitarbeiter in seinem Amt die Einsätze der Division »Brandenburg« ebenso vorzubereiten wie seinem Chef zum Zwecke einer politisch-militärischen Arbeit für Mitteleuropa in Deutschland, in Wien, in Ungarn, in Spanien sowie in Frankreich zur Verfügung zu stehen. Ebenso konnte er als wichtiger Geheimnisträger des Widerstandes seine Zeugenaussage im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher ablegen, die Harry Schaub in den Mittelpunkt seiner Darstellung rückt und die wesentliche Aufklärungen über die NS-Verbrechen erbrachte. Zu Lahousens Tätigkeit gegen die Herrschaft des deutschen Nationalsozialismus in Europa hat die Familie Schaub, unterstützt vom französischen militärischen Nachrichtendienst, eine neue wichtige Quelle entdeckt, die auch Österreichs Verbindungen zu Frankreich ab Beginn der dreißiger Jahr beleuchtet, ebenso wie die Zeit in Österreich nach 1945. Es handelt sich um die Memoiren der französischen Nachrichtenoffizierin im Majorsrang, Madeleine Bihet-Richou, die spätestens ab 1930 mit dem österreichischen militärischen Nachrichtendienst in Verbindung stand. Dort hatte der letzte Nachrichtenchef der Donaumonarchie, Generalmajor Maximilian Ronge, auch in der Ersten Republik Österreich als Lehrer an den Generalstabskursen und als stellvertretender Chef – 9 –

Vorwort

des Generaldirektors für die öffentliche Sicherheit einen gewissen Einfluss. Er vermittelte den Kontakt zwischen seinem besten Schüler und der französischen Agentin, der auch nach 1945 andauerte. Erwin Lahousen hat den Ersten und den Zweiten Weltkrieg trotz schwerer Verwundungen überlebt und wurde nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 als Mitverschwörer wegen seines Lazarettaufenthaltes nicht enttarnt. Er erreichte in der Deutschen Wehrmacht den Rang eines Generalmajors und konnte vor den Sowjets aus dem Wiener Wehrkreis XVII entkommen. Er war nach »Nürnberg« in britischer Kriegsgefangenschaft und musste aus dieser  – wieder mit Hilfe Frankreichs  – befreit werden, konnte aber nicht mehr in die sowjetisch besetzte Zone in Österreich zurück. Mehreren Biografen des Admirals Canaris stand er für Auskünfte zur Verfügung, vor allem Karl Heinz Abshagen. Lahousen war seit dem Aufbau einer neuen österreichischen Armee ab Beginn der fünfziger Jahre als deren künftiger Nachrichtenchef vorgesehen und arbeitete am Wiederaufbau mit. Doch starb er bereits im Jahr 1955. Einer seiner engsten Freunde und Mitarbeiter schon vor 1938, der Stabsoffizier Kurt Fechner, wurde dann, wohl ganz in Lahousens Sinne, im Jahr 1956 von General Liebitzky für jenes Amt herangezogen. Nochmals seien Harry Carl Schaub und seiner wichtigsten Helferin, seiner Gattin Kathryn, Dank und Anerkennung ausgesprochen. Ein weiterer Dank ergeht an Frau Dr. Erika Roth-Limanowa, der einzigen noch lebenden Verwandten der ersten Gattin Lahousens, Nachkommin eines der verdienstvollsten Generäle des Ersten Weltkrieges. Und nicht zuletzt sei dem Böhlau Verlag gedankt, der das Werk Harry Carl Schaubs in sein Verlagsprogramm aufgenommen hat. Peter Broucek, im Juni 2015

– 10 –

Prolog

E

ine kleine Kolonne von Lastwagen der US-Armee, eskortiert von bewaffneten Militärpolizisten in ihren Jeeps, bahnte sich vorsichtig ihren Weg durch die Straßen des kriegszerstörten Nürnberg. Etwa zwei Wochen bevor die mündlichen Zeugenbefragungen vor dem Nürnberger Tribunal gegen die Hauptkriegsverbrecher beginnen sollten, transportierte die Wagenkolonne fünf Kriegsgefangene, bei denen es sich um potenzielle Zeugen handelte  ; jedem von ihnen war ein amerikanischer Militärpolizist zugeteilt. Ziel des kleinen Konvois war das von der US-Armee geführte Zeugengebäude in der Novalisstraße 24, in der vom Krieg unversehrt gebliebenen Nordostecke Nürnbergs. Vier der dort eingelieferten deutschen Kriegsgefangenen sollten später weder von der Anklage noch von der Verteidigung zu einer Zeugenaussage aufgerufen werden. Der fünfte Gefangene war ein großer, sehr schlanker Mann, gekennzeichnet durch eine breite rote Narbe und eine blaue Baskenmütze. Selbst in der schlecht sitzenden militärischen Kleidung ohne Auszeichnungen und Rangabzeichen strahlte der große, schlaksige Mann eine Aura von Vertrauen und Tüchtigkeit aus, die ihn als höherrangigen Offizier auswies – freilich als solchen jener Seite, die den Zweiten Weltkrieg verloren hatte. Von dem Gefangenen ging darüber hinaus ein Gefühl von Traurigkeit aus – dies war die Konsequenz seiner später noch zunehmenden Erkenntnis, dass alle oder beinahe alle seiner Offizierskameraden in der »Abwehr«, dem zentralen deutschen militärischen Nachrichtendienst, tot waren. Sie alle waren wegen der aktiven Rolle, die sie im Widerstand gegen das »Dritte Reich« gespielt hatten, von der Gestapo bzw. dem Sicherheitsdienst der SS (SD) gefoltert, erschossen oder gehängt worden oder hatten, um eine solche Behandlung zu vermeiden, Selbstmord begangen. Bei dem schlanken Gefangenen handelte es sich um Erwin Lahousen, den höchstrangigen Offizier der »Abwehr«, der sowohl den Weltkrieg als auch die Eliminierung höherer Abwehr-Offiziere durch Gestapo und SD überlebt hatte. Lahousen war nicht bloß ein wichtiger Beteiligter am Anti-Hitler-Widerstand in den Reihen des deutschen militärischen Nachrichtendienstes, und er war auch nicht nur ein Spion für das »Freie Frankreich« (France libre) zulasten des »Dritten Reiches«. Vielmehr stand er zudem im Begriff, der erste Zeuge der Amerikaner im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess gegen die Führungs– 11 –

Prolog

riege des Hitler-Reiches zu werden. Bevor Lahousen seine Aussage machen konnte, musste er während der folgenden 14 Tage von den amerikanischen Juristen darauf vorbereitet werden. Für den 30. November 1945 war der Beginn der mündlichen Zeugenbefragungen angesetzt. Rasch stellte sich heraus, dass Lahousen zur Übernahme der ihm zugedachten, anspruchsvollen Aufgabe noch nicht bereit war. Kurz nachdem Lahousen und seine persönliche Eskorte der Militärpolizei sich in ihrem großen Zimmer im nahe gelegenen zweiten Gästehaus einquartiert hatten, spazierte Lahousen zum Hauptgebäude zurück und stellte dabei fest, dass der Radioapparat lief und Georg Friedrich Händels »Largo« zu hören war. Lahousen lauschte und brach dann plötzlich in ein unbeherrschbares Schluchzen aus. Etwas wie die Schönheit dieser Musik hatte er seit seiner Gefangennahme durch die US-Army in den letzten Kriegstagen nicht mehr erlebt. Beim Hören des Largos überwältigte ihn unerwartet seine Traurigkeit. Den Angehörigen des amerikanischen Anklageteams war klar, dass sie es mit einem gravierenderen Problem zu tun hatten als mit dem bloß temporären, ihren ersten Zeugen auf seine Aussage gegen einige der berüchtigtsten Kriegsverbrecher der Weltgeschichte vor Medienvertretern aus aller Welt vorzubereiten. Die Ankläger mussten mit der zusätzlichen Schwierigkeit eines extrem labilen Zeugen fertigwerden, der nur mit massiver Unterstützung in der Lage sein würde, sein Pflichtgefühl sowohl gegenüber seinen früheren Kameraden, die wegen ihrer Beteiligung am Widerstand ermordet worden waren, als auch gegenüber seinen neuen Partnern unter den Alliierten, denen die Aburteilung der Kriegsverbrecher oblag, aufrechtzuerhalten. Bald erkannten die amerikanischen Anklagevertreter, dass man eine »starke Medizin« brauchen würde – eine enge Freundin, die früher mit Lahousen entweder im Widerstand gegen Hitler oder als sein Führungsoffizier bei der Spionage für Frankreich zusammengearbeitet hatte. Nach weiteren Erörterungen mit ebenfalls involvierten Institutionen, unter ihnen der US-Kriegsgeheimdienst »Office of Strategic Services« (OSS), anderen alliierten Nachrichtendiensten sowie der Militärpolizei der US-Armee (hauptverantwortlich für die administrative Abwicklung des Tribunals), vermochten die amerikanischen Ankläger jene starke Medizin ausfindig zu machen und herbeizuschaffen, welche die Beschwerden des Zeugen heilen würde. An einem Freitag einige Tage später, als die US-Anklagevertreter Lahousen gerade an einem anderen Ort auf seine Aussage vorbereiteten, fuhr ein ArmyLkw vor dem Zeugengebäude vor. Ihm entstieg eine geheimnisvolle Frau, begleitet von einem Hauptmann der US-Army. Man führte die Frau direkt in – 12 –

Prolog

Lahousens Zimmer, dann wurde der dort untergebrachte Militärpolizist zusammen mit seinem Bett und seinen persönlichen Utensilien von diesem Raum in einen nahen Schlafsaal verlegt. Das Gerichtspersonal bemerkte, dass in dem Raum nur noch ein großes Bett verblieben war. Später an diesem Tag kehrte Lahousen in das Zeugenhaus zurück und gesellte sich sofort zu der Frau in seinem Zimmer. Dort verbrachten er und seine Besucherin das Wochenende zusammen  ; sie nahmen ihre Mahlzeiten allein im Speisesaal des Zeugengebäudes ein und blieben diese ganzen Tage unter sich. Die Frau trug sich nicht in das dort geführte Gästeregister ein, und auch Lahousen äußerte sich nicht über ihre Identität. Die beiden Liebenden unterhielten sich während dieses Wochenendes hauptsächlich auf Französisch. Auf die wiederholten Fragen des Hauspersonals gab Lahousen lediglich an, es handle sich bei der Frau um eine langjährige Freundin.1 Es gibt keine andere Erklärung, als dass es sich bei dieser langjährigen Freundin um jene Französin handelte, die viele Jahre hindurch Lahousens Partnerin bei der Spionage gegen das »Dritte Reich« und seine Geliebte gewesen war  : Madeleine Bihet-Richou. Unter dem ihr vom französischen Nachrichtendienst zugeteilten Decknamen »MAD« konnte Madame Bihet-Richou auf eine lange Beziehung zu Lahousen zurückblicken, die mit deren gemeinsamer Liebe zur österreichischen und französischen Sprache und Kultur im Frühjahr 1934 in Wien begonnen hatte. Bis 1937 hatte sich dieses Verhältnis schrittweise in eine gegen das NS-Regime gerichtete Spionage-Partnerschaft weiterentwickelt. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Österreich am 12. März 1938 lud der Chef der »Abwehr«, Vizeadmiral Wilhelm Canaris, Lahousen ein, zu seiner Dienststelle überzuwechseln. Lahousen nahm an und trat im Monat darauf in die »Abwehr« ein. Im September 1938 richtete der französische Nachrichtendienst eine offizielle Stellung für MAD in Berlin ein. Getarnt durch das dortige Französische Institut, konnte sie ihrer Nachrichtenquelle zu deren neuem Posten folgen. Nur elf Monate später, im August 1939, zwang sie die schwere Erkrankung ihres 16‑jährigen Sohnes Pierre zur Rückkehr nach Frankreich. Kurz darauf sollte der Weltkrieg entfesselt werden. Nunmehr, als Bürgerin eines mit Deutschland Krieg führenden Staates, konnte MAD ihre gemeinsam mit Lahousen betriebene Spionage in Berlin nicht fortsetzen. Den ersten Vorschlag ihrer Vorgesetzten beim französischen Nachrichtendienst, den Kontakt zu Lahousen in und über die Schweiz fortzusetzen, lehnte sie ab, da sie wusste, dass ihr Partner bislang niemals dorthin gereist war. Würde er es nun plötzlich tun, musste dies unweigerlich Verdacht er– 13 –

Prolog

regen. Schließlich sahen MAD und ihr Team den geeignetsten Ort für ihre Tätigkeit in Osteuropa. Ab Ende Oktober 1939 entsandte der französische Nachrichtendienst MAD bis Kriegsende unter wechselnden diplomatischen Tarnungen auf diverse mit französischer Kultur befasste Posten in der ungarischen Hauptstadt Budapest. Dies war möglich, da sich Ungarn und Frankreich nicht im Krieg miteinander befanden. Einige Zeit später und nach entsprechenden Vorbereitungen besuchte Lahousen MAD während einer seiner Reisen nach Budapest. Praktisch von einem Moment auf den anderen waren beide dank Lahousens häufigen Balkanreisen, die ihn stets durch die ungarische Hauptstadt führten, in der Lage, sowohl ihre Spionage-Zusammenarbeit als auch ihre Liebesbeziehung wieder aufzunehmen. Unter den vielen Hundert Aktivisten des zivilen und militärischen Widerstandes in NS-Deutschland spielten etwa 50  höherrangige Angehörige des Amtes Ausland/Abwehr eine wichtige Rolle im Kampf gegen Hitler. Unter der Leitung von Admiral Wilhelm Canaris begannen die Widerstandsaktivitäten der »Abwehr« bereits vor dem Einmarsch in Österreich am 12. März 1938 und wurden bis zum Attentat des Obersten Claus Graf Schenk von Stauffenberg auf Hitler am 20. Juli 1944 fortgesetzt. Im April 1938 war Lahousen zu einem leitenden Abwehr-Offizier ernannt worden. Bald schon schloss er sich innerhalb der »Abwehr« jener Gruppe an, welche die NS-Führung zu überreden versuchte, ihre eindeutig aggressive Außen- und Militärpolitik aufzugeben. In den Augen dieser Offiziere musste eine Fortführung dieser Politik unausweichlich zu einem neuerlichen europäischen Krieg führen, der aller Wahrscheinlichkeit nach mit der Zerstörung Deutschlands enden würde. Bis Januar 1939 hatte sich diese auf Überzeugung setzende Strategie mehr und mehr als hoffnungs- und wirkungslos erwiesen  ; die Offiziere der »Abwehr« sowie andere Protagonisten des zivilen und militärischen Widerstands mussten sich gezwungenermaßen mit der Möglichkeit befassen, Hitler und seine Henker zu töten. Mit Wirkung vom 1. Januar 1939 an ernannte Canaris Lahousen zum Leiter der Abwehr-Abteilung  II (Sabotage und Zersetzung), eigentlich eine Dienststelle für »schmutzige Tricks«. In dieser Funktion oblag Lahousen unter anderem die Verantwortung für Aufbewahrung und Verteilung der AbwehrBestände aller Arten von Sprengstoffen und Zündern, die für eine unkonventionelle Kriegführung nützlich sein konnten. Darunter befanden sich die begehrten, weil knappen Vorräte an geräuschlosen Zündern britischer Bauart, die man durch Täuschung, Diebstahl oder sonstige Methoden erlangt hatte. Dieser spezielle Zündertyp arbeitete vollkommen lautlos – im Gegensatz zu allen sonsti– 14 –

Prolog

gen verfügbaren Zündern deutscher Produktion, die nach Aktivierung Geräusche verursachten und sich daher für die Mehrzahl denkbarer Anschlagsszenarien nicht eigneten. Vom Beginn des »Dritten Reiches« bis zum 20. Juli 1944 hatte die Führung der »Abwehr« in Zusammenarbeit mit anderen zivilen und militärischen Widerständlern mehr als 15 Mordanschläge auf Hitler geplant. Bei einer Reihe dieser Versuche kamen Sprengstoffe und Zünder aus Abwehrbeständen zum Einsatz bzw. waren dafür vorgesehen. Beispielsweise fand ein solcher Attentatsversuch im März 1943 statt, als eine Bombe in einem Paket versteckt wurde, das wiederum als ein Geschenk von mehreren Flaschen des französischen Likörs Cointreau getarnt wurde  ; man gab vor, das Geschenk sei für einen Stabsoffizier im Hauptquartier der Wehrmacht in Ostpreußen bestimmt. Auf einer Reise zusammen mit weiteren höheren Offizieren, unter ihnen Canaris, dessen Stellvertreter Oberst Hans Oster und Sonderführer Hans von Dohnanyi, hatte Lahousen dieses Paket in einer dreimotorigen Maschine vom Typ Junkers Ju  52 ins russische Smolensk gebracht, wo die »Abwehr« eine nachrichtendienstliche Besprechung abhielt. Der Termin dieser Besprechung war so gewählt, dass er mit einem Besuch Hitlers und seines zahlreichen Gefolges am selben Ort zusammenfiel  ; für deren Reise waren drei viermotorige Maschinen des Typs Focke Wulf  200 (»Condor«) bereitgestellt. Hitler hatte die Absicht, am 13. März 1943 das Hauptquartier der Heeresgruppe Mitte in Smolensk zu besuchen. Beim Mittagessen an diesem Tag bat Generalmajor Henning von Tresckow, einer der führenden militärischen Widerstandsaktivisten, den in Hitlers Entourage mitfliegenden Obersten Heinz Brandt, das angebliche Geschenk mit den Cointreau-Flaschen für Generalmajor Hellmuth Stieff nach Ostpreußen mitzunehmen. Tresckows Adjutant, Oberleutnant Fabian von Schlabrendorff, dem alleiniges Handeln befohlen worden war, platzierte den Zünder in das Geschenkpaket und stellte ihn so ein, dass er etwa über Kiew, eine halbe Stunde nach dem Start, detonieren würde. Unmittelbar vor dem Start des Flugzeugs gelangte die Höllenmaschine an Bord. Dann warteten die Verschwörer in Smolensk vergeblich auf die Nachricht von einer Explosion. Bedauerlicherweise hatte der Zünder versagt, was vermutlich an den extrem niedrigen Temperaturen lag. Um eine Entdeckung des Anschlags zu verhindern, musste die dysfunktionale Bombe im ostpreußischen Hauptquartier unbedingt aus dem Verkehr gezogen werden. Schlabrendorff gelang dies tatsächlich, und er konnte den Sprengsatz sogar gegen zwei echte Flaschen Cointreau austauschen.2 – 15 –

Prolog

Davon abgesehen, galt als wahrscheinlichster Ursprung jener Bombenbestand­ teile, die bei dem vergeblichen Mordanschlag auf Hitler am 20. Juli 1944 in der »Wolfsschanze« von Graf Stauffenberg verwendet worden waren, jener Bestand der »Abwehr« an Sprengstoffen, den Lahousens Nachfolger, Oberst Wessel Freiherr von Freytag-Loringhoven, verwaltete. Freytag hatte im August 1943 die Abwehr-Abteilung  II von Lahousen übernommen  ; einige Tage nach dem 20.  Juli 1944 nahm er sich das Leben, um Verhaftung und Folter durch die Gestapo zu entgehen. Im Zuge seiner späteren Aussage in Nürnberg bezeichnete der dort angeklagte Generaloberst Alfred Jodl den Status von Canaris als »toter Mann«, womit er auf die Hinrichtung Canaris’ durch die SS am 9.  April 1945 Bezug nahm. Verantwortlich für die brutale Hinrichtung von Canaris, Generalmajor Hans Oster, Sonderführer Hans von Dohnanyi, Pastor Dietrich Bonhoeffer und einiger anderer aktiver Widerständler im Morgengrauen dieses Tages war ein spezielles Exekutionskommando unter dem Befehl von SS-Standartenführer Walter Huppenkothen, das Hitler und Himmler eigens aus Berlin entsandt hatten. Während die Scharfrichter ihren schaurigen Auftrag im Konzentrationslager Flossenbürg ausführten, glaubten einige überlebende KZ-Häftlinge bereits das Feuer amerikanischer Artillerie aus der Ferne zu hören. Bei seiner Aussage in Nürnberg verwendete der Angeklagte Generaloberst Jodl den Begriff »Verschwörernest« zur Charakterisierung der Führung der »Abwehr«. Jahrzehnte nach dieser Feststellung sollten unabhängige Beobachter Jodls Einschätzung der »Abwehr« als ein großes, von seinem Urheber aber sicherlich unbeabsichtigtes Kompliment betrachten.3 Vor Lahousens freiwilligem Ausscheiden aus der »Abwehr« im August 1943 (er diente danach als Regimentskommandeur an der Ostfront) gelang ihm noch die Versetzung seines engen Freundes und früheren Jahrgangskameraden an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt, Major Kurt Fechner, zur Außenstelle der »Abwehr« im bulgarischen Sofia und zu anderen AbwehrDienststellen auf dem Balkan. In Kreisen des Widerstandes trug Fechner den Decknamen »Friedrich«. Er hatte bereits früher an Widerstands- und SpionageAktivitäten teilgenommen und war bereit, diese in der Nachfolge Lahousens fortzusetzen. Somit hatten Lahousens sorgfältige Arrangements es seinem Nachfolger ermöglicht, über MAD weiter nachrichtendienstlich mit dem frei­ fran­zösischen Nachrichtendienst zusammenzuarbeiten, der nunmehr mit der Exilregierung unter General Charles de Gaulle verbunden war. Mitte Juli 1944 wurde Lahousen an der Ostfront schwer verwundet, als sowjetisches Granatwerferfeuer seinen Regimentsgefechtsstand traf. Zu seinem – 16 –

Prolog

Glück übersah die Gestapo den Genesenden bei ihrer Durchleuchtung der »Abwehr« im Gefolge des gescheiterten Attentats des Grafen Stauffenberg auf Hitler. Den Rest des Krieges verbrachte Lahousen mit dem Auskurieren seiner beinahe tödlichen Verwundung. Routinemäßig wurde er im Januar 1945 zum Generalmajor befördert. Im Mai 1945 ergab sich Lahousen der US-Armee, womit er das Risiko einer Misshandlung durch die Sowjets aufgrund seines Rangs als General und als Experte für Nachrichtendienste vermied. Einige Zeit nach Ende des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses im Oktober 1946 und nach Lahousens Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft 1948 lebten er und Bihet-Richou zusammen in Seefeld, Tirol, das damals und bis 1955 zur französischen Besatzungszone in Österreich gehörte. Während ihres gemeinsamen Aufenthalts in Seefeld arbeitete MAD weiterhin für den französischen Nachrichtendienst. Inzwischen war Lahousens Ehefrau Marga nach langer und schwerer Krankheit an einem Gehirntumor gestorben. In dem kleinen, an einem See gelegenen Alpendorf konnte sich Lahousen vor der allgegenwärtigen Gefahr, von im Nachkriegsösterreich tätigen Sowjetagenten entführt zu werden, relativ sicher fühlen, doch dieses Risiko bestand noch lange fort, bis die alliierte Besatzung Österreichs mit dem Abschluss des Staatsvertrags 1955 endete. Die Entführung gegnerischer Nachrichtendienstoffiziere war in den ersten Jahren des Kalten Krieges eine recht gängige Praxis. Bei und nach Kriegsende war Österreich von den bereits zerstrittenen »Großen Vier«, den USA, Großbritannien und Frankreich einerseits und der Sowjetunion andererseits, besetzt worden. Höhere Offiziere des französischen Nachrichtendienstes hielten ihre überlebenden Agenten regelmäßig dazu an, nach jedem bedeutenderen Krieg oder Konflikt, den Zweiten Weltkrieg eingeschlossen, ihre Memoiren niederzuschreiben und ihren Kriegsdienst detailgetreu zu erläutern. Als MAD 1953, acht Jahre nach Kriegsende und während sie noch immer für den französischen Nachrichtendienst in Deutschland tätig war, mit der Niederschrift ihrer authentischen Kriegserinnerungen begann, bezeichnete sie ihren österreichischen Geheimdienstpartner, langjährigen Freund und Geliebten lediglich mit dem Deck­ namen »X«. Etliche Jahre später, nach dem Tod Lahousens im Februar 1955, fügte sie ihren Memoiren einen undatierten und unsignierten Nachtrag hinzu. Darin legte sie unter anderem offen, dass »X« in Wahrheit der österreichische Nachrichtendienstoffizier Oberst Erwin Lahousen-Vivremont gewesen war. Nach dem Tod von Madeleine Bihet-Richou am 11. August 1987 im französischen Montpellier hielt der Nachrichtendienst Frankreichs für mehr als – 17 –

Prolog

15 Jahre diese Erinnerungen im Verborgenen, die er als geheimdienstliche Verschlusssache einstufte, zu der die Öffentlichkeit keinen Zugang haben sollte. Freilich hatten die Öffentlichkeit sowie Forscher, die sich mit dem französischen Widerstand befassten, begrenzten Zugang zu einigen allgemeinen Informationen über Ernennungen und Beförderungen innerhalb der prestigeträchtigen Ehrenlegion (Légion d’honneur), darunter auch über jene patriotischen Franzosen und Französinnen, die beim französischen Nachrichtendienst tätig gewesen waren. Im Fall von Madeleine Bihet-Richou veröffentlichte das »Journal Officiel« vom 12. Juli 1946 ein Dekret des Staatspräsidenten vom 21. Juni dieses Jahres, durch das MAD zu einem Ritter (Chevalier) der Ehrenlegion ernannt und ihr gleichzeitig das Kriegskreuz mit Palmen (Croix de Guerre avec Palme) verliehen wurde. Eine routinemäßige Computer-Abfrage der ­historischen Akten des französischen Verteidigungsministeriums im Oktober 2011 erbrachte als Resultat einen detailreichen Hinweis auf einen offiziellen Akt, der auch die Memoiren von Madeleine Bihet-Richou enthält. Die intensive Durchsicht und Auswertung der neu entdeckten MAD-Erinnerungen, die aus ca. 170 einzeilig und maschinenschriftlich beschriebenen Seiten in französischer Sprache bestehen, enthüllten anhand dieser Originalquelle erstmals die detaillierte ­Geschichte der Spionage-Zusammenarbeit zwischen Lahousen und Madame Bihet gegen die NS-Diktatur.4 An jenem Montag, der auf die drei Tage, welche die zwei Verschwörer zusammen im Zeugengebäude in Nürnberg verbracht hatten, folgte, kehrte der erwähnte Hauptmann der US-Army mit dem Lastwagen und dem Militärpolizisten als Fahrer zu dem Haus zurück  ; die Frau stieg ein und wurde fortchauffiert. Bis Mittag hatte das Personal des Zeugengebäudes das Bett und die persönlichen Sachen des Militärpolizisten, der Lahousens Wache war, bereits von dessen vorübergehendem Aufenthaltsort in der Halle zurück in das gemeinsame Zimmer gebracht. Die von den amerikanischen Anklägern verschriebene »starke Medizin« hatte gewirkt. Sie konnten nun Lahousen als einen soliden, bestens informierten Zeugen für die Verbrechen des »Dritten Reiches« präsentieren. In den bis zum festgesetzten Beginn der mündlichen Befragungen am 30. November 1945 verbleibenden Tagen bemühten sich die Anklagevertreter zahllose Stunden lang darum, den nun entschlossenen Zeugen auf seine Aussage als Augenzeuge gegen einige Angeklagte und die Einzelheiten von deren schändlichen und grauenhaften Verbrechen vorzubereiten. Während ihres Wochenendbesuches im Zeugenhaus hatte MAD Lahousens Überzeugung bestärkt, dass ihre gemeinsame Mission, das »Dritte Reich« nie– 18 –

Prolog

derzuringen, noch nicht beendet, sondern unvollständig sei, solange er nicht eine kenntnisreiche und wirksame Aussage vor dem Nürnberger Gericht getätigt haben würde. Um diesen Auftrag zu vollenden, musste er zugunsten und zur Erinnerung aller seiner früheren Kameraden im Abwehr-Widerstand sprechen, die in ihrem Widerstandskampf gegen das NS-Regime ihr Leben verloren hatten. Die mithilfe seiner Partnerin MAD zustande kommende Aussage Lahousens sollte Ehre, Würde und Ansehen der höheren Offiziere und Zivilisten, die im Widerstand gegen Hitler aktiv gewesen waren, wiederherstellen. Darüber hinaus sollte Lahousen den Ruf derjenigen retten, die in das fehlgeschlagene Attentat vom 20.  Juli 1944 verwickelt waren. Diese Widerständler hatten ihr Leben, ihre Familie, ihr Glück und ihren guten Ruf riskiert und in vielen Fällen auch verloren, um in heroischen, aber erfolglosen Anläufen seit 1938 und den ganzen folgenden Weltkrieg hindurch zu versuchen, Deutschland und Europa so rasch wie möglich von dem grauenhaften und unverhüllten Verbrechertum des Nationalsozialismus zu befreien. Klare Beweise für dieses Verbrechertum lieferte das Verhalten der nun in Nürnberg angeklagten Einzelpersonen sowie der ebenfalls angeklagten Organisationen vor und während des Krieges  ; die Beweise waren umfassend dokumentiert  – in den Verhandlungsprotokollen, Dokumenten und Aussagen zahlreicher wohlinformierter Zeugen der Anklage, allen voran Erwin Lahousens, des ersten Zeugen vor dem Nürnberger Gerichtshof.

– 19 –

Kapitel 1

Der erste Zeuge in Nürnberg

A

m frühen Morgen des 30. November 1945, an einem Freitag, eröffnete der aus Großbritannien stammende Vorsitzende Richter Geoffrey Lawrence eine weitere Sitzung des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses und erteilte dann Robert K. Jackson, dem Hauptankläger der USA, das Wort. Jackson antwortete  : »Oberst Amen wird heute Morgen für die Vereinigten Staaten sprechen.« Nachdem er sich rasch von seinem Sitz erhoben hatte, ging Oberst John Harlan Amen voll Selbstvertrauen zur Richterbank und bemerkte knapp  : »Hoher Gerichtshof  ! Ich rufe heute als ersten Zeugen der Anklage Generalmajor Erwin Lahousen auf.«5 Nach dieser Ankündigung überraschten laute Rufe von Verwunderung und Protest seitens diverser Angeklagter die Zuhörer im Gerichtssaal. Die meisten Angeklagten kannten Lahousen entweder persönlich oder dem Namen nach als hochrangigen Offizier der »Abwehr«, des zentralen militärischen deutschen Nachrichtendienstes, der ein Teil des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) gewesen war.6 Insbesondere erregte sich der Angeklagte Hermann Göring, aus dessen Mund Schimpfwörter wie »Verräter« und »Schwein« zu vernehmen waren. Später an diesem Tag sollte Göring erklären, dass die NS-Führung nach dem Attentatsversuch des Grafen Claus Schenk von Stauffenberg in Hitlers ostpreußischem Hauptquartier »Wolfsschanze« am 20. Juli 1944 vergessen habe, mit Lahousen abzurechnen.7 Schon vor diesem Tag hatte das Regime am 12. Februar 1944 die »Abwehr« faktisch aufgelöst und mit der Verfolgung von deren früheren Führungskadern begonnen. Mehr als 500 Personen drängten sich im Verhandlungssaal 600 des Nürnberger Justizpalastes am ersten Tag der Zeugenbefragungen während des Hauptkriegsverbrecherprozesses, um den Aussagen dieser Zeugen über die Angeklagten zu lauschen. Es handelte sich um 21 der am stärksten belasteten NS-Verbrecher sowie sechs als kriminelle Vereinigung angeklagte Institutionen. Im Gerichtssaal hatte die US-Armee 240 Sitzplätze für Pressevertreter reservieren lassen  ; im nebenan gelegenen großen Presseraum konnten weitere Medienvertreter die auf Englisch geführten Verhandlungen mittels Lautsprechern v­ erfolgen. Beinahe die Hälfte der Zuhörerschaft bestand aus Zeitungskorrespondenten und sonstigen – 20 –

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Medienvertretern. Sie alle hatten die Aufgabe, über die Verhandlungen des weltweit ersten internationalen Kriegsverbrecherprozesses zu berichten. Die US-Army kümmerte sich auch um die Unterbringung der Medienleute, indem sie das große Schloss des Grafen Faber-Castell sowie dazugehörige Gebäude in Stein, einer Kleinstadt einige Kilometer südwestlich von Nürnberg, beschlagnahmte. Die Lebensumstände in dem Schloss waren durch beträchtliche Überfüllung und Chaos gekennzeichnet. Von der Army bereitgestellte Schlafkojen beherbergten acht und mehr Vertreter des Vierten Standes (i. e. der Presse) in jedem der größeren Zimmer. Zu Prozessauftakt waren 80 namhafte Journalisten aus den USA zur Stelle, unter ihnen H. R. Baukhage, Walter Cronkite, Ray Daniell, Wes Gallagher, Marguerite Higgins, Louis Lochner, Roy Porter, Richard Stokes und William L. Shirer. Letzterer protestierte in seiner Zeitung gegen die überfüllte, ganz unangemessene Unterbringung der Presseleute. Hinzu kamen 50 Reporter aus Großbritannien, 40 aus Frankreich und 35 aus der Sowjetunion, unter ihnen Ilja Ehrenburg.8 Obwohl der Prozess eigentlich mit einer offiziellen, aber nur symbolischen Eröffnung am 18. Oktober 1945 in Berlin begonnen hatte, wurden die weiteren Verhandlungen sogleich in den dafür speziell adaptierten Gerichtssaal Nr. 600 des Justizpalastes in Nürnberg, das in der amerikanischen Besatzungszone lag, verlegt. Am 14. November wurde das Verfahren mit den Eröffnungserklärungen und rechtlichen Beratungen, die sich über die folgenden zwei Wochen erstreckten, fortgesetzt. Am 29. November führte die US-Anklage Filme vor, die während der Schlussphase des Krieges von alliierten Truppenverbänden im Zuge ihrer Befreiung der von den Nationalsozialisten betriebenen Konzentrationsund Vernichtungslager aufgenommen worden waren. Die grauenhaften Aufnahmen der zu Stapeln geschichteten Leichen der ermordeten Opfer sowie die Bilder der mehr tot als lebendig wirkenden, ausgemergelten Überlebenden schockierten alle, welche die Filme sahen, eingeschlossen einige der Angeklagten, die vehement versuchten, sich von den Morden und dem barbarischen, verbrecherischen Betrieb dieser Lager zu distanzieren. Freitag, der 30. November, markierte jedoch einen jähen Bruch im Verhandlungsverlauf. Die ersten zwei Wochen des Prozesses waren hauptsächlich durch rechtliche Erörterungen sowie die unerwarteten, schockierenden Enthüllungen in den Eröffnungsplädoyers der Anklage geprägt. An diesem Tag jedoch sollte Lahousens Aussage als diejenige des ersten Zeugen der amerikanischen Anklage den Charakter des Prozesses grundlegend verändern. Bis zum Aufruf durch Oberst Amen hatten die US-Ankläger Name und Identität ihres ersten Zeugen – 21 –

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aus Sicherheitserwägungen vor den Verteidigern der Angeklagten geheim gehalten. Während die Zuhörer mit Ungeduld auf den Beginn der Verhandlung warteten, waren die Angeklagten von US-Militärpolizisten zu ihren Plätzen auf der Anklagebank gebracht worden. Der Justizpalast verfügte über einen eigenen Gefangenentrakt, der durch einen unterirdischen Tunnel mit dem Hauptgebäude ­verbunden war. Der mit Nummer 600 bezifferte zentrale Verhandlungsraum des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals befand sich im Dachgeschoss des Justizpalastes. Vom Keller aus gelangten die Gefangenen mit einem Lift zu ihren Plätzen im Gerichtssaal, wobei in einer kleinen vergitterten Zelle innerhalb des Aufzugs jeweils zwei Gefangene, zusammen mit den sie bewachenden Militärpolizisten und dem Liftführer, transportiert wurden. Dieser ganze Vorgang, bei dem der ohnedies langsame Lift mindestens zehn Mal auf und ab fahren musste, kostete viel Zeit, denn obendrein war ein seltsames Protokoll zu beachten, das sich teilweise aus der früheren NS-internen Rangordnung der Häftlinge ergab. Erst wenn alle Gefangenen – jeder von ihnen hatte einen Militärpolizisten zur Seite – auf der Anklagebank platziert worden waren und erst nachdem die acht Richter (je ein Richter und dessen Stellvertreter von jeder der vier Besatzungsmächte  : USA, Großbritannien, Frankreich und Sowjetunion) ihre Plätze auf der Richterbank eingenommen hatten, konnte die Verhandlung ordnungsgemäß beginnen. Erwin Lahousen von Vivremont, ein sehr großer und schlanker Mann militärischen Aussehens, war sowohl ein österreichischer Aristokrat, der in der deutschen Wehrmacht gedient hatte, als auch ein Kriegsgefangener der USA, der höchstrangige Offizier der »Abwehr«, der den Krieg und die Verfolgung durch die Gestapo überlebt hatte, sowie ein Generalmajor, der in seinem früheren Rang als Oberst dem deutschen Generalstab angehört hatte. Nun war er im Begriff, in das Rampenlicht der Weltgeschichte zu treten. Lahousen hatte bereits am Ende des Ganges in der Mitte des Verhandlungssaales im dritten Stock Platz genommen, als Oberst Amen ihn als den ersten amerikanischen Zeugen zu Beginn dieses historischen Prozesses aufrief. Nach diesem Aufruf erhob sich Lahousen und schritt langsam, aber entschlossen in Richtung des Zeugenstandes, der sich zwischen dem Gericht und den Angeklagten befand. Die Medienvertreter sahen sich verdutzt an, denn nur wenige von ihnen, wenn überhaupt irgendjemand, verfügte über irgendwelche Informationen zu General Lahousen, die über seinen Namen hinausgingen  ; dieser war am Vorabend beim Abendessen im Pressegebäude bekannt gegeben worden. Demgegenüber ertönten von einigen der Angeklagten lautstarke Aus– 22 –

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brüche von Überraschung und dann Verachtung. Sie alle, insbesondere Reichsmarschall Hermann Göring, Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, Generaloberst Alfred Jodl und Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop, kannten Lahousen zweifellos persönlich. Göring, der sich selbst als die Führungsfigur unter den Angeklagten betrachtete, schleuderte in voller Lautstärke Ausdrücke wie »Verräter« und »Schwein« in den Raum. Die meisten der übrigen Angeklagten, die Lahousen nicht persönlich kennengelernt hatten, erkannten ihn als ­einen höherrangigen Offizier der »Abwehr«, der häufig Abwehr-Chef Vize­ admi­ral Wilhelm Canaris bei wichtigen politischen und militärischen Zusammenkünften begleitet oder ihn dort vertreten hatte. In der Zwischenzeit ging Lahousen geistig nochmals jene zentralen Punkte durch, die er während des vorangegangenen Wochenendes mit seiner engen Freundin und Spionage-Partnerin Madeleine besprochen hatte. Er rief sich auch die Instruktionen und Gespräche mit den amerikanischen Anklägern wieder ins Gedächtnis. Er sagte sich, dass er ruhig und gefasst bleiben musste, bis alle juristischen Erörterungen zu Ende waren. Zu seiner Aussage aufgerufen, musste er sicher und direkt antworten und wahrheitsgemäß bekennen, falls er sich an das Gefragte nicht erinnern konnte oder nichts davon wusste. Er musste sein Bestes geben, um alle Fakten und Erinnerungen zu den jeweiligen Angeklagten wiederzugeben. Ferner musste er sich stets bewusst sein, dass er der einzige Überlebende aus dem Führungskreis der »Abwehr« war. Er stand ihm Begriff, sowohl deren Geschichte als auch seine eigene zu erzählen. Nur er als einziger Überlebender war in der Lage, die ganze Geschichte ihres Kampfes gegen das Verbrechertum und die Bösartigkeit der NS-Diktatur darzustellen. Nachdem die Journalisten Lahousens Namen korrekt in ihre Notizbücher geschrieben hatten, kam bei ihnen einige Freude darüber auf, dass es am Ende doch etwas Spannendes und Interessantes nach all den – in ihren Augen – schalen Eröffnungsplädoyers und den langweiligen juristischen Debatten zwischen Anklage und Verteidigung zu berichten gab. Schon mit gezückter Feder startklar, um die »Insiderstory« des »Dritten Reiches« niederzuschreiben, mussten sich die Pressevertreter erneut gedulden, da die Verteidigung eine neue Runde juristischer Erörterungen einleitete  ; Lahousen wurde einstweilen zu seinem Platz zurückgeschickt. Die Angeklagten machten ihre Überrumpelung und ihre Unwissenheit, dass General Lahousen der erste Zeuge war, geltend  ; damit, so ihr Einwand, werde gegen ein Übereinkommen zwischen Verteidigung und Anklage verstoßen. Diese Absprache, reklamierten die Verteidiger, verpflichte die Ankläger, den Angeklagten die Namen der Zeugen rechtzeitig vor deren Auftritt vor Gericht bekannt zu geben. – 23 –

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Der US-Chefankläger, Richter Robert Jackson, spürte, dass diese Frage sich zu einem entscheidenden Hindernis für die Anklage zu entwickeln und obendrein die namentlich genannten Zeugen möglichen Attacken von »Werwölfen« und anderen fanatischen Anhängern des untergegangenen NS-Regimes auszusetzen drohte. Er erhob sich nun, um zur Sache zu sprechen. Mit ruhiger Stimme gab er zu, dass die Presse beim Abendessen am Vortag tatsächlich über den Namen des ersten Zeugen vorinformiert worden sei. Es treffe auch zu, dass weder der Name dieses ersten Zeugen noch der Gegenstand seiner Befragung gegenüber den Verteidigern offengelegt worden seien. Jackson betonte, wegen der damit verbundenen Sicherheitsrisiken habe es das von der Verteidigung behauptete Übereinkommen weder gegeben noch könne ein solches künftig wirksam werden. Einigen der Verteidiger, unter ihnen Dr. Otto Nelte (für Keitel) und Dr.  Otto Stahmer (für Göring), wurde gestattet, ihre Argumente zugunsten einer frühzeitigen Bekanntgabe der Zeugen vorzutragen  ; beide ersuchten das Gericht um eine umgehende Entscheidung. Nachdem sich die Richter untereinander beraten hatten, folgten sie der Linie der Anklage  ; sie räumten aber auch den Verteidigern das Recht ein, sich mit ihren Mandanten unter vier Augen zu besprechen, bevor die Verteidiger mit dem Kreuzverhör dieser Zeugen beginnen würden. Schließlich erteilte der Vorsitzende erneut Colonel Amen das Wort, der ein weiteres Mal beantragte, dass General Lahousen zwecks Erstattung seiner Aussage dem Gericht vorgeführt werden möge. Lahousen kehrte in den Zeugenstand zurück. Nachdem er seinen Namen genannt und buchstabiert hatte, sprach Lahousen den folgenden, vom US-Ankläger speziell entworfenen Eid nach  : »Ich schwöre bei Gott – dem Allmächtigen und Allwissenden –, dass ich die reine Wahrheit sprechen werde – und nichts verschweigen und nichts hinzufügen werde.«9 Der Vorsitzende bemerkte das geschwächte Aussehen und die offenkundig schlechte Gesundheit des Zeugen, sodass er ihm anbot, sich für die Dauer seiner Aussage zu setzen. Oberst Amen stimmte insbesondere im Wissen um das Herzleiden des Zeugen, das sich verschlimmern konnte, zu. Mit einem halb unterdrückten Seufzer der Erleichterung setzte sich Lahousen auf den im Zeugenstand bereitgestellten Sessel und begann seine lang erwartete Aussage. ­Sofort konzentrierte sich die Aufmerksamkeit der Medien erneut auf diesen großen, dünnen und geschwächten Mann, dessen bloße Aufrufung einige Verzögerung und juristische Debatten rund um seine Zeugenaussage vor Gericht verursacht hatte. – 24 –

Kapitel 2

Vom Dienst für den Kaiser zum Dienst in der Republik

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achdem der Gerichtshof festgestellt hatte, dass es weder eine rechtliche noch eine durch Abmachung festgelegte Verpflichtung gab, die Namen der Zeugen der Anklage vorab der Verteidigung mitzuteilen, begann Oberst Amen mit der Befragung Erwin Lahousens. Amen stellte zuerst die bei jeder Zeugenbefragung üblichen einleitenden Fragen zur Biografie des Zeugen. Lahousens Antworten auf Amens Fragen vermittelten dem Gericht und den Medienvertretern Hintergrundinformationen zu den frühen Abschnitten seines Lebens sowie zu seinem aktiven Militärdienst seit seinem Abgang von der Militärakademie im August 1915. Lahousen gab an, am 25. Oktober 1897 in Wien geboren und Berufssoldat gewesen zu sein. Durch ganze acht Generationen hindurch habe seine Familie der Habsburgermonarchie bis 1918 als hochrangige Kavallerieoffiziere gedient.10 Nachdem er ein Militärgymnasium in Mähren besucht hatte, wurde Lahousen an der österreichischen Militärakademie in Wiener Neustadt, rund 40 Kilometer südlich von Wien, zum Offizier ausgebildet. Infolge des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs im August 1914 wurde der Ausbildungsplan der Akademie um ein Jahr verkürzt  ; Lahousen wurde im August 1915 als Leutnant der Infanterie ausgemustert und dem österreichischen Infanterie-Regiment Nr. 14 zugeteilt, dem berühmten Linzer Regiment »Hessen«, das damals an der Front gegen Russland im Einsatz stand.11 Diese Sturmtruppe wurde bald darauf an die Südwestfront gegen Italien verlegt. Dort wurde Lahousen zweimal schwer verwundet, er entschied sich jedoch dafür, auch nach Kriegsende beim Heer zu bleiben. Das österreichische Bundesheer der Nachkriegszeit wählte ihn für eine Spezialausbildung im Umgang mit Sprengstoffen und Zündern aus. Die Wahl fiel auch auf zwei weitere Offiziere, darunter seinen Kameraden von der Militärakademie, Kurt Fechner. Von Zeit zu Zeit wurde Lahousen befördert, sodass er 1930 den Rang eines Hauptmanns mit etlichen anrechenbaren Dienstjahren erreichte. Ebenfalls 1930 teilte das Ministerium für Landesverteidigung ihm mit, dass er der Kriegsschule für eine dreijährige Ausbildung zum Generalstabsoffizier zugeteilt werden würde. Für ihn war speziell eine künftige Verwendung – 25 –

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als Nachrichtenoffizier und später als Militärattaché der Republik Österreich im Ausland vorgesehen. Der Erste Weltkrieg und die Friedensverträge in seinem Gefolge hatten die Grenzen und Regierungen der europäischen und angrenzenden Staaten grundlegend verändert  ; in Österreich-Ungarn, Deutschland und Russland waren die Monarchien gestürzt worden, später folgte das türkische Sultanat. Anstelle der Monarchen übernahmen entweder rechtsextreme (faschistische bzw. nationalsozialistische) oder linksextreme (anarchistische bzw. kommunistische) Regime die Macht  ; in einigen der neu geschaffenen Staaten kämpften beide Richtungen um die Macht. Darüber hinaus hatten es die Friedensmacher nach dem Weltkrieg nicht verstanden, einen lebensfähigen Völkerbund zu schaffen. Dies alles ließ einige der besiegten Nationen mit ihrem Durst nach Rache zurück. Loyale Anhänger der Monarchien wie der europäische Adel (darunter die Familie Lahousen) und seine Verbündeten hatten ihre Leitsterne verloren – wie es schien, für immer. Jedoch bewahrten sich viele Mitteleuropäer nostalgische Gefühle für die von den Monarchen repräsentierte friedvolle und geordnete Zeit rund um 1900. Sich an die neuen, instabilen Verhältnisse nach 1918 anzupassen fiel selbst den Siegern des Weltkrieges schwer – für die Verlierer war es nahezu unmöglich. Zweifellos hatten die zahlreichen harten Bedingungen der Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg den Samen für einen weiteren, noch schrecklicheren Konflikt nur zwei Jahrzehnte später ausgestreut. Im Gegensatz dazu schien das Leben in den meisten europäischen Staaten um die Jahrhundertwende vergleichsweise angenehm gewesen zu sein. Die von der habsburgischen Doppelmonarchie regierten Gebiete reichten vom österreichischen Teil des früheren Polens (Krakau und Lemberg) nördlich der Alpen und mit den Karpaten im Osten bis Triest an der Küste der Adria im Süden  ; sie erstreckten sich von Prag im Norden bis nach Zagreb und darüber hinaus im Süden. Zusammen mit den übrigen Teilen der Doppelmonarchie feierten die beiden Hauptstädte Wien und Budapest 1898 das fünfzigjährige Regierungsjubiläum von Kaiser Franz Joseph. Die Freude des Jubilars wurde allerdings getrübt durch den Tod von Kaiserin Elisabeth (»Sissy«), die im September 1898 in Genf von dem 26‑jährigen Anarchisten Luigi Luccheni mithilfe einer zugespitzten Feile getötet worden war. Das Kulturleben in Wien und den anderen großen Städten der Monarchie erlaubte es, jeden Abend unter einer Vielzahl von musikalischen Konzerten, Opern, Operetten, Balletts, Bällen und Theateraufführungen auszuwählen. Zwischen 1871 und den Balkankriegen von 1912/13 herrschte in Europa ein relativer Wohlstand, ja Friede. – 26 –

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Für jene Bürger, die den Belastungen des modernen Lebens in Wien um 1900 nicht gewachsen waren, stand – gegen Bezahlung – eine Behandlung durch die führenden Psychiater ihrer Zeit, darunter Sigmund Freud und viele andere, zur Verfügung. Schriftsteller und Denker wie Arthur Schnitzler, Franz Kafka und Karl Kraus wurden überall geschätzt und – was noch wichtiger war – vom gebildeten Publikum viel gelesen. Selbst der geheimnisvolle Tod bzw. Selbstmord des Kronprinzen Rudolf und seiner 18‑jährigen Geliebten, der Baronin Marie Vetsera, im kaiserlichen Jagdschloss Mayerling südwestlich von Wien im Jahr 1889 konnte das in der ganzen Monarchie verbreitete Gefühl des Wohllebens nicht beeinträchtigen. In der Musikwelt zelebrierten die zahlreichen österreichischen Musikliebhaber das Goldene Zeitalter der Wiener Operette mit den Klängen von Johann Strauß Sohn, Franz von Suppé, Carl Millöcker und anderen, die den neuen Rhythmus im Dreivierteltakt, den Walzer, beherrschten. Johann Strauß Vater und Joseph Lanner hatten den Walzer aus dem ländlichen österreichischen Traditionstanz, dem Landler, weiterentwickelt. Jedes der 98  Regimenter der österreichisch-ungarischen Friedensarmee verfügte über seine eigene Militärkapelle, die nicht nur bei Paraden und militärischen Anlässen aufspielte, sondern bei zahlreichen Tanzveranstaltungen der Regimenter und bei militärischen Bällen. Jede Kapelle hatte ihren hauptberuflichen Kapellmeister sowie Musiker, deren Pflichten hauptsächlich musikalische und nur ganz am Rande militärische waren. Diese Musiker der Armee waren bestens darin geübt, Märsche, Walzer, Polonaisen, Polkas in verschiedenen Tempi, Quadrillen und andere musikalische Stücke zu intonieren. Sowohl Franz Lehár als auch sein gleichnamiger Vater dienten als Kapellmeister unterschiedlicher Regimentskapellen der Doppelmonarchie. In Linz nutzte Wilhelm Lahousen, Kommandeur des Infanterie-Regiments Nr. 14 (der Linzer »Hessen«), die Gaben seines Regimentskapellmeisters Franz Rezek, der auch ein herausragender Komponist einschlägiger Musik war, zur Komposition eines »Lahousen-Marsches«. Der Marsch war zur Feier der Geburt von Lahousens drittem Kind bzw. zweitem Sohn im Oktober 1897 bestimmt  : Erwin Heinrich René Lahousen. Bei den Linzer »Hessen« avancierte die Komposition sofort zu einem Hit  ; sie wurde zweifellos bei praktisch jeder sich bietenden Gelegenheit (einschließlich bei Begräbnissen) intoniert, bis das Regiment 1919 aufgelöst wurde. Seit damals wird der Marsch noch ab und zu von österreichischen Militärkapellen gespielt.12 Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 beschleunigte die geplante Ausmusterung von Erwin Lahousens Jahrgang an der Wiener Neustädter – 27 –

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Militärakademie um ein Jahr  ; sie wurde von August 1916 auf August 1915 vorgezogen. Bevor er in diese Akademie eintrat, hatte Erwin mehrere auf militärische Ausbildung spezialisierte Schulen besucht. Im August 1915 hoffte ­Erwin auf eine Versetzung zur Kavallerie, womit er die sich über acht Generationen erstreckende Familientradition fortgesetzt hätte   ; er hatte sich auch tatsäch­lich für eine Dienstzuteilung zur Kavallerie gleich nach seiner Ausmusterung beworben. Angesichts der Veränderungen, den der Charakter des Landkrieges etwa durch die Einführung von Maschinengewehren und den allgegenwärtigen Stellungskrieg nahm, hatte sich jedoch die Kavallerie für eine Verwendung in einem modernen Krieg als wenig brauchbar erwiesen. Als Erwins Gesuch um Zuteilung zur Kavallerie abgelehnt wurde, machte sein Vater, Feldmarschallleutnant Wilhelm Lahousen, von seinem Recht Gebrauch, eine persönliche Entscheidung des Kaisers zu erbitten. Allerdings wies auch Franz Joseph das Gesuch zurück und Erwin zog als Infanterieoffizier in den Krieg. Die Armeeführung ließ Erwin wissen, er könne sich ja nach Kriegsende erneut bei der Kavallerie bewerben.13 Nach seiner Ausmusterung im August 1915 wurde Erwin, nun Leutnant, dem Infanterie-Regiment Nr. 14 zugeteilt. Das Regiment hatte seine Heimatgarnison Linz verlassen und befand sich zu diesem Zeitpunkt im Kampfeinsatz an der russischen Front. An den dortigen Herbst- und Winterkämpfen Ende 1915 und Anfang 1916 nahm Erwin als Zugskommandant teil. Als Italien – bis dahin neutral, aber mit den Mittelmächten nominell verbündet  – am Pfingstsonntag, dem 23.  Mai 1915, überraschend Österreich-Ungarn den Krieg erklärte, wurde über Nacht eine dritte Front (zusätzlich zu der gegen Russland und gegen Serbien) für Österreich eröffnet  : die Südwest- oder italienische Front. Dorthin, genauer  : nach Südtirol, verlegte das Armeeoberkommando im Frühjahr 1916 Lahousens Infanterie-Regiment Nr. 14. Das Regiment trug zunächst einen erheblichen Teil der Verteidigung von Triest, dessen Eroberung und Inbesitznahme eines der maßgeblichen Motive für Italiens Kriegseintritt aufseiten der Entente gewesen war. Später wurden Teile des Regiments als Stoßtruppen eingesetzt  – sie galten als letzte Aushilfe, um einen gravierenden Verlust von Terrain an die Italiener zu verhindern. Wahlweise sollten sie im Gegenangriff von den Italienern besetztes Gelände zurückgewinnen. Im Kampf um den Monte Cimone wurde Lahousen am 25.  Mai 1916 schwer verwundet, als eine Kugel in seine Lunge eindrang und dort steckenblieb. Für eine Weile hing sein Leben an einem seidenen Faden, seine Genesung dauerte etliche Monate. Sie glückte erst nach einer speziellen Be– 28 –

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handlung durch Dr.  Eiselsberg, der später als Professor für Medizin in Wien Berühmtheit erlangen sollte. Nach nahezu einem Jahr wurde Lahousen mit Wirkung vom 1. Mai 1917 zum Oberleutnant befördert.14 Kaum von seiner lebensbedrohenden Verwundung genesen, nahm Lahousen im August 1917 im Rahmen der 11. Isonzoschlacht an den Kämpfen um den Monte San Gabriele teil. Dieser Berg überragt von Norden und Osten die wichtige Stadt Görz, heute Gorizia. Im Zuge der intensiven Kämpfe wurde er am 8. September 1917 erneut verwundet  : Eine von der italienischen Artillerie verschossene Giftgasgranate explodierte in seiner Nähe und verursachte eine schwere Infektion der Lunge. Wieder war eine lange Genesungszeit erforderlich, bevor Lahousen mit eingeschränkter Dienstfähigkeit an die Front zurückkehren konnte. Auf eigenen Wunsch kam er 1918 als Ordonnanzoffizier im Stab der 50. Infanterie-Division wieder zum Fronteinsatz. Auf diesem Posten befand er sich noch, als der Krieg mit separaten Waffenstillständen für Österreich-Ungarn (3. November 1918) und das Deutsche Reich (11. November) zu Ende ging. Der am 10.  September 1919 zwischen den Alliierten und Assoziierten Mächten mit Österreich in St.  Germain abgeschlossene Friedensvertrag beschränkte Österreichs Streitkräfte auf eine reine Freiwilligenarmee von nicht mehr als 30.000 Mann, darunter maximal 1.500 Offiziere, 2.000 Unteroffiziere und 26.500 Mannschaftssoldaten. Darüber hinaus enthielt der Vertrag zahlreiche detailliert ausgeführte Einschränkungen mit Blick auf Größe, Zusammensetzung und Bewaffnung der Einheiten des österreichischen Bundesheeres. Österreich durfte ferner nur eine einzige Munitionsfabrik für das ganze Staatsgebiet unterhalten. Im Gegensatz dazu durfte die neu geschaffene Tschechoslowakei (bestehend aus Böhmen, Mähren und der Slowakei) ihre Streitkräfte ohne jegliche zahlenmäßige oder sonstige nennenswerte Beschränkung aufbauen. Im Ergebnis erreichte die Armee der Tschechoslowakei einschließlich Reservisten bald eine Stärke von rund 1  Million Mann  ; die Škoda-Werke in Pilsen/Plžen statteten sie mit den besten und modernsten Waffen aus. Jahrzehnte später machten tschechoslowakische Offiziere einige interessante Bemerkungen über jene deutschen Geschütze, die während des Ersten Weltkriegs Paris beschossen hatten. Die Franzosen kannten diese Artillerie unter dem Namen »Dicke Berta«, produziert bei der Rüstungsfabrik von Krupp in Essen. Angeblich waren jedoch einige dieser überschweren Geschütze vor und während des Ersten Weltkrieges von begabten tschechischen Ingenieuren und Arbeitern der Škoda-Werke in Pilsen/Plžen, das damals zur Doppelmonarchie gehörte, entworfen und angefertigt worden. – 29 –

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Nachdem er eine Zeit lang Dienst in konservativ und patriotisch orientierten paramilitärischen Verbänden geleistet hatte, entschloss sich Erwin Lahousen, seinen Militärdienst für die neu geschaffene Republik Österreich als einer von 1.500 durch den Friedensvertrag erlaubten Offizieren fortzusetzen. Das Interesse an einer solchen Stellung in der neuen Armee war allerdings begrenzt, und das Bundesheer hatte einige Mühe, wenigstens die drastisch reduzierten Offiziersposten zu besetzen. Erwins älterer Bruder Wilhelm Gustav beispielsweise entschloss sich nicht zu einem Eintritt in das neue Heer der Republik. Stattdessen trat er nach seiner Heirat mit Maria Luise Burckhardt in eine von seinen angeheirateten Verwandten betriebene Holding-Gesellschaft in Graz ein. Da seine neue Familie evangelisch war, konvertierte er auch. Der Rest der Lahousen-Familie blieb katholisch, wie es seit Jahrhunderten bei ihnen der Brauch gewesen war. Darüber hinaus engagierte sich Wilhelm Lahousen aktiv für die Konservativen in der politischen Szene von Graz  : Er trat unter anderem der Vaterländischen Front, einer konservativen paramilitärischen Organisation, bei. Die Tätigkeit dieser Front richtete sich hauptsächlich gegen Personen und Zirkel, die mit dem Nationalsozialismus verbunden waren. Später, nach dem deutschen Einmarsch in Österreich am 12.  März 1938, sollte diese Betätigung Wilhelm Gustav noch allerlei Schwierigkeiten bereiten, denn die Gestapo verhaftete ihn.15 Ungefähr zur gleichen Zeit, als Erwin Lahousen 1922 in das Bundesheer der Republik eintrat, beschloss er auch zu heiraten. Die wunderschöne Braut seiner Wahl stammte aus einer sehr angesehenen österreichischen Adelsfamilie, die auf eine lange Tradition militärischer Dienstleistung für die Habsburgermonarchie zurückblicken konnte. Die Hochzeit von Margarete Ida Marie Freifrau von Roth-­Limanova-Lapanow und Erwin Heinrich René Lahousen von Vivremont fand am 25.  Februar 1922 in Wien statt. Der Brautvater war Generaloberst Freiherr von Roth-Limanova-Lapanow, ein herausragender befehlshabender General der österreichisch-ungarischen Armee, der unter anderem vom 8. April 1910 bis August 1914 Kommandant der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt gewesen war. Während eines Großteils dieser Periode war Lahousen Kadett an dieser Akademie. Sein Schwiegervater wurde 1924 sogar als möglicher konservativer Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten gehandelt. Auch die Mutter der Braut verfügte über ein adeliges Erbe, wie ihr Name  : Malvine, geborene Gräfin Lazansky, Freifrau von Bukowa auswies. Das ererbte Gut der Familie Roth hatte sich im österreichischen Teil von Polen (Galizien) befunden, und zwar in der Stadt Tenczynek, ca. 20 Kilometer westlich – 30 –

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von Krakau, nicht weit entfernt von Auschwitz. Margarete, von ihrer Familie Marga genannt, war etwas mehr als ein Jahr älter als ihr Gemahl  ; die beiden hatten sich wahrscheinlich einige Jahre zuvor kennengelernt, als Erwin an der Militärakademie ausgebildet worden war. Ungeachtet ihrer Schönheit war Marga zum Zeitpunkt der Hochzeit ein wenig schwach und kränklich  ; vielleicht auch deshalb sollte die Ehe kinderlos bleiben. Nach der Hochzeit bezog das frisch vermählte Paar eine Wohnung in der Marienstraße 11 in Linz.16 Mit Wirkung vom 30.  Mai 1921 wurde Lahousen zum III.  Bataillon des Gebirgsjäger-Regiments Nr.  7 versetzt, dem Nachfolger des Infanterie-Regiments Nr. 14. Zuerst war er in Linz stationiert, doch im Jahr darauf wurde seine Einheit nordwärts in die historische Stadt Freistadt in Oberösterreich, nur 15 Kilometer von der neuen Grenze zwischen Österreich und der Tschechoslowakei entfernt, verlegt. Freistadt eröffnete für Lahousen unzählige neue und einzigartige Möglichkeiten. Eine Konsequenz aus der seitens der Sieger im Friedensvertrag vorgenommenen Grenzziehung war die maximale Zuteilung von Land und Menschen an die Tschechoslowakei zulasten Österreichs. Beinahe 3,5 Millionen Deutschsprechende, die bis 1919 österreichische Staatsbürger gewesen waren, wurden dem neuen Staat Tschechoslowakei zugeschlagen  ; dies entsprach rund 25  Prozent der Gesamtbevölkerung dieses Staates von ca. 12 Millionen Menschen. Die Mehrzahl dieser Deutschsprechenden war in den nördlichen und westlichen Sudeten und im Erzgebirge konzentriert, aber ein erheblicher Teil lebte auch in den südlichen, an Oberösterreich angrenzenden Landesteilen. Eine weitere Konsequenz der Grenzziehung war die Trennung von Familien und Verwandten, insbesondere unter den Deutschsprechenden. Da die neue Grenze nicht als eine Mauer konzipiert war, ermutigten sowohl die österreichischen als auch die tschechoslowakischen Behörden zu gegenseitigen Kontakten und Besuchen, zum Beispiel von Oberösterreich einschließlich Freistadt nach Česky Krumlov (Krumau) und nach Budejovice (Budweis) über die Grenze in die Tschechoslowakei. Bald schon ergänzten organisierte Besuchsreisen von Sportlern und sozialen Vereinen den normalen familiären Austausch, insbesondere an religiösen und zivilen Feiertagen. Lahousen nutzte diese organisierten Besuche von dem Sport oder sozialen Anliegen verbundenen Vereinen dazu, um aktuelle Informationen über Ereignisse und Entwicklungen jenseits der Grenze einzuholen  ; dazu zählten vor allem militärische Angelegenheiten. Da der Grenzübertritt zwischen Österreich und der Tschechoslowakei ab den 1920er-Jahren relativ unkompliziert möglich war, konnte Lahousen im Laufe der Zeit seine Fähigkeiten im Schreiben von – 31 –

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Berichten vervollkommnen. Im – damals extrem unwahrscheinlichen – Fall eines bewaffneten Konflikts zwischen Österreich und der wesentlich stärkeren Tschechoslowakei würden die beiden feindlichen Armeen wahrscheinlich in einen direkten Kampf gegeneinander treten. Dem Vernehmen nach umfasste die tschechoslowakische Armee einschließlich Reservisten rund 1  Million Mann  ; sie galt als die stärkste und am besten ausgerüstete Armee in Mittel- und Osteuropa. Aufgrund der unterschiedlichen Größe der tschechoslowakischen und der österreichischen Streitkräfte waren die Bemühungen zur Beschaffung von sowohl strategisch als auch taktisch bedeutsamem, aktuellem Nachrichtenmaterial logischerweise bei der schwächeren österreichischen Seite stärker ausgeprägt.17 Seine schriftlichen Berichte über seine grenzüberschreitenden Reisen legte Lahousen seinen Vorgesetzten beim Regiment vor. Meldungen dieser Art wurden dann routinemäßig an die Divisions- und Korpsstäbe weitergeleitet und gelangten schließlich zu dem für den Nachrichtendienst zuständigen Evidenzbüro des Generalstabes in Wien. Binnen weniger Jahre sollte die von Freistadt aus gewonnene Erfahrung Lahousen für höhere militärische Posten empfehlen. Diese aus der Praxis gewonnenen Erkenntnisse waren sowohl für Lahousen selbst als auch für den österreichischen Nachrichtendienst überaus hilfreich  ; sie standen am Beginn einer Entwicklung, an deren Ende kaum ein Jahrzehnt später Lahousens Stellung als der beste österreichische Nachrichtendienstexperte in Fragen der Streitkräfte dieses Nachbarstaates stehen sollte. Somit begann seine nachrichtendienstliche Karriere mit dem Sammeln militärisch relevanter Informationen über die tschechoslowakischen Streitkräfte und ging später nahtlos in seine Reputation als ein erfahrener und kenntnisreicher österreichischer Analytiker von Streitkräften generell über. Nach seiner Beförderung zum Hauptmann am 8. Juli 1921 befand sich Lahousen unter den herausragenden Kandidaten für einen Aufstieg zu der höchsten Stellung, die ein österreichischer Offizier des Bundesheeres erlangen konnte, nämlich als Truppenoffizier innerhalb des Generalstabes. Die Auswahl dieser Kandidaten beruhte normalerweise auf einer strengen Prüfung, die eine Beurteilung sowohl der militärischen und sonstigen Fähigkeiten und Interessen als auch der Stringenz des Denkens sowie der Anwendung geeigneter (schriftlicher und mündlicher) Methoden in der Kommunikation mit Vorgesetzten und Untergebenen erlauben sollte. Um eine Vorauswahl der Bewerber zu ermöglichen, hatte auch Lahousen in verschiedenen Dienststellen bei Truppenverbänden dienen müssen. In seinem Fall handelte es sich konkret um die Maschinenge– 32 –

Vom Dienst für den Kaiser zum Dienst in der Republik

wehr-Kompanie des Schützen-Regiments Nr. 7. 1924 nahm er an einer Ausbildung im Schifahren für den Kampf im alpinen Gelände teil und wurde hierfür als »sehr geeignet« und als »geeignet« zum Schilehrer eingestuft. Um eine Beförderung zum Major und darüber hinaus zu erlangen, waren vorteilhafte Beurteilungen der Kandidaten durch deren Vorgesetzte unverzichtbar. Die Beförderungspraxis des Bundesheeres war durchgehend ausgesprochen schleppend, weshalb es besonderer Anstrengungen seitens des Heeres bedurfte, um auch nur die zugestandenen personellen Obergrenzen, insbesondere die Begrenzung auf 1.500 Offiziere, auszuschöpfen.18

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Kapitel 3

Lahousen und Madame Bihet-Richou

O

berst Amen setzte seine Befragung Lahousens mit Angaben zu seiner militärischen Karriere zwischen 1930 und dem 12. März 1938 fort. Anfang 1930 war Lahousen schon beinahe neun Jahre lang Hauptmann gewesen und hatte in einer Vielzahl von militärischen Verwendungen gedient. Darüber hinaus war er infolge einer strengen Auswahl, bei der er unter 250 Bewerbern als Zweitbester abschnitt, dazu bestimmt worden, ab Ende 1930 die österreichische Kriegsschule zu besuchen.19 Diese Schule war dazu bestimmt, die Kandidaten im Zuge eines dreijährigen Kurses zu Generalstabsoffizieren auszubilden. Lahousen sagte in Nürnberg aus, er sei nach Beendigung dieser Ausbildung der in Wien stationierten 2. Brigade als Nachrichtendienstoffizier zugeteilt worden. Bereits bei seinem Eintritt in die Kriegsschule 1930, so Lahousen weiter, sei seine nachfolgende Verwendung im militärischen Nachrichtendienst festgelegt worden. Am 25. August 1933 wurde er zum Major befördert und am 15. Januar 1936 zum Major im Generalstab ernannt. Der zeitliche Abstand zwischen diesen Vorrückungen macht deutlich, dass seine militärische Karriere im Bundesheer zu Friedenszeiten nun an Tempo zulegte. Lahousen setzte seine Zeugenaussage mit einer Erörterung des Nachrichtendienstes innerhalb des Bundesheeres der Ersten Republik fort.20 Ihm zufolge existierte nach dem Ende des Ersten Weltkrieges bis 1936 keine Abteilung Nachrichtendienst im Bundesheer, was eine Folge sowohl der Auflösung des im Kriege existierenden Nachrichtendienstes als auch des Zusammenbruchs des österreich-ungarischen Kaiserreiches 1918 war. Bei der Wiedererrichtung einer Nachrichtenabteilung innerhalb des Bundesheeres spielte Lahousen eine herausragende Rolle. Innerhalb dieser neuen Abteilung konnten Vorrückungen rascher erfolgen, und so wurde Lahousen am 8. Juni 1936 zum Oberstleutnant im Generalstab ernannt  – nicht einmal fünf Monate nach seiner Ernennung zum Major d. G. Diese beiden bedeutsamen Beförderungen erfolgten jeweils durch einen eigenen, offiziellen Akt des Bundespräsidenten. Auf Oberst Amens Fragen hin beschrieb Lahousen sodann die Funktionsweise des Evidenzbüros des Generalstabes unter der Leitung von Oberst d. G. Franz Böhme. An dieser Stelle ersuchte der vorsitzende Richter Amen darum, – 34 –

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die Befragung zu den österreichischen Hintergründen Lahousens abzukürzen. Amen erwiderte, diese Informationen über den österreichischen militärischen Nachrichtendienst würden dem Gericht ein besseres Verständnis von Lahousens späterer Position in der »Abwehr« ermöglichen. Dennoch stimmte Amen dann zu, die Aussagen des Zeugen zu der Zeit vor dem »Anschluss« deutlich zu reduzieren.21 Die Erinnerungen von Madeleine Bihet-Richou an Erwin Lahousen setzen im Juli 1933 ein, als sie während ihres Sommerurlaubs ihre erste Reise nach Österreich unternahm. Als Urlaubsort hatte sie das an einem See gelegene Bergdorf Altaussee in der Steiermark gewählt. MAD war am 26. Juni 1901 in SaintLys (Department Haute-Garonne) geboren worden. Sie war das Kind eines französischen Beamten, dessen berufliche Laufbahn zahlreiche Versetzungen in entlegene Dörfer und Städte Frankreichs bedingte. Seine Tochter gewöhnte sich so frühzeitig an Reisen zu neuen und interessanten Orten. Nach ihrer Eheschließung mit Marius Fernand Bihet am 22. August 1922 wurde das junge Paar 1923 Eltern eines Sohnes. Die Memoiren enthalten über diese Ehe kaum weitere Informationen  ; das Paar wurde mit Wirkung vom 7. Januar 1931 geschieden.22 Madeleines Mutter und Schwester halfen ihr bei der Betreuung ihres kleinen Sohnes. Der Sommerurlaub von 1933 fiel in eine bedrückende Phase in Madeleines Leben, die sie zugespitzt wie folgt beschrieb  : »Durch Trauer mitgenommen und ramponiert, verletzt durch Schmerz und Täuschung, kam ich hierher allein, um Vergessen zu finden. Indem ich Paris verließ, hoffte ich, dass die Entdeckung einer neuen Welt mir Ruhe und Erleichterung bringen würde …«23 Gleichwohl sollte Madeleines Aufenthalt in Altaussee ihr neue und unerwartete gesundheitliche Probleme bescheren, die viel gravierender waren als die Trauer über ihre gescheiterte Ehe. Angewidert von einem jungen Österreicher, der sich über das Desinteresse französischer Frauen am Sport beklagte, sprang sie in den eiskalten See. Kurz danach erkrankte sie schwer. Auf Empfehlung eines aus Prag stammenden, ebenfalls in Altaussee urlaubenden Arztes konsultierte sie einen Spezialisten in Wien. Um die Risiken einer Operation zu vermeiden, behandelte er sie über Wochen hinweg mit Pharmazeutika. Zwischenzeitig hatte Madame Richou beschlossen, eine kleine Wohnung im Wiener 19. Bezirk zu mieten, in einem Weinbaugebiet inmitten der die Stadt im Norden umgebenden Hügel. Kultur und Politik in Wien bzw. Österreich faszinierten sie praktisch vom ersten Augenblick an. Binnen Wochen stand ihr Entschluss fest, in Wien zu bleiben und ihren Lebensunterhalt durch Erteilung – 35 –

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von Unterricht in französischer Sprache und Kultur zu verdienen. Viele Österreicher und andere Mittel- und Osteuropäer, vor allem die ehemalige Aristokratie, zog es gleichsam auf natürliche Weise zur französischen Kultur und Sprache hin. Durch ihre Kontakte zur Botschaft Frankreichs in Wien wurde die Lehrerin Madeleine schon bald von Einzelpersonen und Gruppen rege nachgefragt. Zusätzlich fand sie als Französischlehrerin bei einer oder sogar mehreren Privatschulen eine Anstellung. Im Frühjahr 1934 hatte Erwin Lahousen gerade eben seinen Dienst in Wien als auf militärischen Nachrichtendienst spezialisierter Generalstabsoffizier ange­treten. Gegenüber seinen Freunden beim Stab des französischen Militärattachés brachte er sein Interesse zum Ausdruck, seine bereits fließenden Fran­ zösisch­kenntnisse weiter zu vervollkommnen. Seine Absicht war es dabei, seine Chancen, künftig zum österreichischen Militärattaché in Paris ernannt zu werden, zu erhöhen  – eine begehrte Beförderung für einen herausragenden und hochqualifizierten österreichischen Nachrichtendienstoffizier wie ihn. Der französische Militärattaché Oberst Roger Sallant empfahl sofort Madame ­Richou als qualifizierte und versierte Lehrerin für französische Sprache und Kultur.24 Bei einem Galaabend in der Staatsoper stellte Oberst Sallant die Lehrerin und den künftigen Schüler einander vor. Umgehend nahm Lahousen den Unterricht in gehobener französischer Konversation bei Madame Richou als seiner Privatlehrerin auf. Binnen kurzer Zeit wurden die beiden Freunde und Partner. Lahousens Dienstpflichten erforderten es, dass er auch für kulturelle und soziale Aktivitäten zur Verfügung stand, die mit seinem militärischen Dienst in Verbindung standen und an denen andere höhere Offiziere einschließlich der ausländischen Militärattachés aus europäischen Staaten teilnahmen. Aus Lahousens Perspektive war diese neue Freundschaft nicht nur wohltuend, sie ermöglichte ihm auch die Verbesserung seiner Französischkenntnisse und dadurch eine Steigerung seiner Karrierechancen auf dem Feld des militärischen Nachrichtendienstes. In der Öffentlichkeit und privat unterhielten sich die Lehrerin und ihr Schüler normalerweise auf Französisch. Madeleines Tätigkeit als Lehrerin für Französisch stellte für die beiden eine ausgezeichnete Tarnung bereit, zuerst als Instrukteurin und ab 1934 in ihrer neuen Stellung als enge Freundin und Gefährtin. Abgesehen von offiziellen militärischen Begegnungen und Empfängen war Lahousen in Friedenszeiten nicht verpflichtet, seine österreichische Uniform zu tragen, denn dies wäre geeignet gewesen, beim Wiener Publikum unerwünschte Aufmerksamkeit zu erregen. Die beiden Freunde besuchten häufig die Staatsoper an der Wiener – 36 –

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Ringstraße, um dort Musik des Lieblings der Wiener, Johann Strauß Sohn, sowie französische Opern und Ballettmusik zu hören. Madeleine hielt in ihren Memoiren diese Opernbesuche sowie gemeinsame Besuche der Spanischen Hofreitschule und zahlreicher Kaffeehäuser, Restaurants, Museen und Galerien fest.25 Trotz der schweren ökonomischen, ethnischen und politischen Probleme, die auf der Ersten Republik lasteten, erfreuten sich die beiden am reichen Kulturleben Wiens. Als sich ihre Freundschaft vertiefte, verlegte Madame Richou ihren Wohnsitz von dem am Stadtrand gelegenen 19. Bezirk in die Josefstadt (8. Bezirk) nahe dem Ring und später in die Innenstadt (1. Bezirk), in geringer Entfernung zur Staatsoper, zur französischen Botschaft und zu Lahousens Büro. Ihre definitive Wiener Wohnung befand sich buchstäblich auf der anderen Straßenseite des berühmten Cafés Schwarzenberg, wo die beiden Freunde häufig ihr Abendessen einnahmen.26 Parallel dazu lebte Lahousens Gattin, die österreichische Aristokratin Margarete (»Marga«), mit ihrem Mann in der nahe gelegenen Wohnung im 3. Bezirk, wo sie das an Aktivitäten reiche gesellschaftliche Leben einer ehemaligen Adeligen führte. Die Wohnung befand sich in der Marxergasse, die ihren Namen nach einem früheren Wiener Bischof trug. Zuvor hatten die Wiener Gesellschaft und das österreichische Bundesheer im April 1927 mit Trauer den Tod und das Begräbnis von Margas Vater verfolgt  : Generaloberst Josef Freiherr von Roth-Limanova-Lapanow galt als Held des Ersten Weltkriegs und als der Retter Krakaus vor der zaristischen Armee im Jahre 1915. Mit dem Rest der Familie folgten Lahousen und Marga dem Begräbniszug für deren Vater unmittelbar hinter dem pferdebespannten Katafalk. Ihr ganzes Leben hindurch war die schöne Marga mehr als nur ein wenig schwach und kränklich  ; sie rauchte exzessiv Memphis-Zigaretten. Ihre Ehe blieb kinderlos. Auf die Frage nach den Gründen pflegte Lahousen schnippisch zu erwidern  : »Ich hätte in der Tat gern ein Kind, aber meine Frau erwartet ein Baby Memphis«.27 Als NS-Deutschland seinen politischen und wirtschaftlichen Druck auf Öster­reich erhöhte, verlegte die zentrale österreichische Nachrichtendienststelle, das Evidenzbüro, seine Verteidigungsplanungen von den Grenzen zur Tschechoslowakei und zu Jugoslawien hin zur Sorge um die schiere Existenz des Landes vis-à-vis der Bedrohung durch Deutschland. Jeder einzelne der etwa ein halbes Dutzend umfassenden höheren Offiziere des Evidenzbüros war ein pflichtbewusster, konservativ eingestellter und patriotischer Österreicher, der – 37 –

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sich die Bewahrung der österreichischen Unabhängigkeit gegenüber dem deutschen Nachbarn zur Aufgabe gemacht hatte.28 Nach dem Ersten Weltkrieg war das Verhältnis zwischen dem Deutschen Reich der Weimarer Republik und der Ersten Republik in Österreich anfänglich komplex und wurde durch die Bestimmungen der den beiden Staaten auferlegten Friedensverträge noch komplexer, da diese einen »Anschluss«, also eine friedlich vollzogene Vereinigung beider Länder, untersagten. Vielen Österreichern war bewusst, dass die als Folge der territorialen Bestimmungen des Friedensvertrages erfolgten demografischen Veränderungen die Erste Republik vor allem mit einer deutsch sprechenden Bevölkerung zurückgelassen hatten  ; daraus resultierte der Wunsch nach einer Vereinigung mit der gerade entstehenden Weimarer Republik. Beide Staaten hatten ihre vormals herrschenden Dynastien eingebüßt und kämpften hart um ihre Lebensfähigkeit als Demokratien, die von antidemokratischen Bewegungen der Linken (Kommunisten) und der Rechten (Nationalsozialisten bzw. Faschisten), die sich ganz offen deren Zerstörung auf ihre Fahnen geschrieben hatten, bedroht war. Komplizierter noch wurde die österreichische politische Szene durch die Entstehung quasi privater Armeen, die unterschiedliche politische Standpunkte spiegelten, die einander feindlich gegenüberstanden. Einige dieser Privatarmeen übertrafen numerisch sogar das reguläre österreichische Bundesheer, das durch den Friedensvertrag von St. Germain auf einen Rahmen von maximal 30.000 Mann begrenzt war. Bei der Bekämpfung der auf innere Unterwanderung gerichteten Bestrebungen der Natio­ nalsozialisten verfügte das Bundesheer über zwei unabhängig voneinander bestehende Vorteile  : Da war zum einen seine überlegene militärische Effizienz, die auf Ausbildung, Organisation und Disziplin basierte – auf jedem dieser drei Gebiete war das Bundesheer den NS-Verbänden haushoch überlegen. Der zweite Vorteil war das Bündnis mit der Privatarmee der konservativen Vaterländischen Front, die das Bundesheer bei der Erfüllung seiner Aufgaben unterstützte. Eine später wirksame Belastung des deutsch-österreichischen Verhältnisses war der seit Januar 1933 von der Regierung Hitler auf Österreich ausgeübte kontinuierliche wirtschaftliche und politische Druck. Dieser Druck erfasste auch nach Österreich reisende deutsche Touristen. Der deutsche und sonstige ausländische Tourismus war stets (und ist es noch heute) ein wichtiger ökonomischer Faktor für die Alpenrepublik. Das »Dritte Reich« unterwarf zwar seine Bürger keinen formellen Reisebeschränkungen oder ‑verboten, verfügte jedoch, dass jeder nach Österreich reisende deutsche Tourist eine Ausreisegebühr von – 38 –

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1.000 Reichsmark zu entrichten hatte. Diese faktische Strafzahlung verringerte den Besuch der österreichischen Fremdenverkehrsgebiete nachhaltig und betraf so praktisch das ganze kleine Land. Die Tausend-Mark-Sperre erhöhte darüber hinaus den wirtschaftlichen Druck auf die österreichische Regierung. Als eine Folge des Friedens von St.  Germain hatte die Erste Republik entschieden, die ausgefallenen und bunten militärischen Uniformen der Monarchie durch Uniformen, die weitgehend jenen des deutschen Nachbarn ähnelten, zu ersetzen. Nur ein genaues Hinsehen konnte die kleinen Unterschiede entdecken  ; beispielsweise waren die österreichischen Schulterklappen geringfügig breiter. Hinsichtlich Farbe und Schnitt waren die Uniformen der beiden Armeen praktisch ununterscheidbar. So konnte etwa die Uniform, die Hauptmann Erwin Lahousen anlässlich seiner Heirat mit Margarete Ida Maria Freifrau von Roth-Limanova am 22. Februar 1922 in Wien trug, leicht mit der eines deutschen Hauptmanns verwechselt werden.29 Im Jahr 1934, als Lahousen sich um den Wiederaufbau eines modernen Nachrichtendienstes des österreichischen Bundesheeres bemühte, trafen zwei groß angelegte Aufstände die österreichische Regierung und das Bundesheer  ; beide Ereignisse zogen Lahousen von seinen organisatorischen Tätigkeiten ab. Der erste dieser Aufstände war eine Erhebung des sozialdemokratischen Wehrverbandes, des Schutzbundes, am 12. Februar 1934 gegen die rechtsgerichtete, konservative Regierungspolitik. Das zweite Ereignis war im Juli ein Putschversuch der österreichischen Nationalsozialisten, den eine bewaffnete Einheit der illegalen SS durchführte, indem sie die Gefangennahme der gesamten Bundesregierung versuchte. Bei der Bekämpfung beider Aufstände spielte Lahousen eine wichtige Rolle. Beide hatten in Wien ihr Zentrum zu einer Zeit, als ­Lahousen gerade erst als Nachrichtendienstoffizier der Wiener Brigade des Bundesheeres zugeteilt worden war. Während der Februar-Revolte befahl die Regierung dem Bundesheer deren Niederwerfung, weshalb Artillerie des Bundes­heeres bewaffnete Einheiten des Schutzbundes, die sich in dem massiven Komplex des Karl-Marx-Hofes am Donaukanal nördlich des Wiener Zentrums verschanzt hatten, unter Feuer nahm. Nach einigen Tagen Kampf brach die Revolte zusammen  ; der militärische Einsatz des Bundesheeres hatte zahlreiche zivile und militärische Opfer gefordert.30 Beim zweiten Putschversuch im Juli 1934 besetzte die aus österreichischen Nationalsozialisten gebildete, illegale SS-Standarte  89 das Bundeskanzleramt am Ballhausplatz und nahm die gesamte Regierung mit Ausnahme von Unterrichtsminister Kurt Schuschnigg, der an der Kabinettssitzung nicht teilgenom– 39 –

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men hatte, gefangen. Dieses Unternehmen erwies sich als noch gefährlicher, ja tödlicher als der Vorläufer vom Februar. Während des Juli-Putsches schoss ein österreichischer Nazi mit einer Pistole auf den unbewaffneten Bundeskanzler Engelbert Dollfuß  ; die Geiselnehmer ließen ihn am 25.  Juli ohne medizinischen oder geistlichen Beistand liegen, bis er verblutet war. Folgt man den Memoiren seiner Spionage-Partnerin und Geliebten MAD, befand sich Lahousen in einer Gruppe, welche die illegale SS-Einheit verhaften wollte. Er war auch dabei, als eine weitere Gruppe ins Kanzleramt eindrang und dort den Leichnam des ermordeten Kanzlers vorfand.31 Der Putsch wurde schließlich durch Verhandlungen des neuen Bundeskanzlers Kurt Schuschnigg mit dem deutschen Militärattaché beendet. Die Überlebenden der Standarte 89 gingen ins Exil ins Deutsche Reich, wo sie als Helden verehrt wurden. Im August 1934 übernahm ein neues christlich-soziales Kabinett unter Schuschnigg die Regierungsgeschäfte und setzte das nun sogar ausgeweitete rechtsgerichtete, aber antinationalsozialistische Programm eines Staatskapitalismus fort. Um diese Vorgänge zu verstehen, muss ein Blick zurück auf die Anfangszeit des »Dritten Reiches« und seines Verhältnisses zu Österreich geworfen werden. Nachdem Reichspräsident Paul von Hindenburg am 30. Januar 1933 die Nationalsozialisten mit der Bildung einer neuen Regierung mit Hitler als Reichskanzler beauftragt hatte, waren die Rückwirkungen auf Österreich postwendend spürbar. Auf dem Programm der neuen Regierung in Berlin stand eine Totalrevision des Versailler Friedens, wozu diverse Gebietsveränderungen und der »Anschluss« Österreichs zählten. Während dieses Programm in Deutschland große Zustimmung fand, blieb der Widerhall in Österreich auf hartgesottene einheimische Nationalsozialisten, deren Stimmenanteil bei freien Wahlen regelmäßig kaum mehr als 15 Prozent betrug, beschränkt.32 Die neu ins Amt gekommene Regierung Hitler genehmigte die Bildung einer bewaffneten Österreichischen Legion in Deutschland, deren spezielle Aufgabe die Herbeiführung des »Anschlusses« durch militärische Mittel oder eine bewaffnete Eroberung war. Anfang 1933 ernannte Hitler mit Oberst Wolfgang Muff einen neuen deutschen Militärattaché in Wien, den Hitler damit beauftragte, die österreichischen Nationalsozialisten zu weiteren einschlägigen Aktivitäten zu ermutigen. Später, nach dem »Anschluss« vom 12. März 1938, setzte Hitler Oberst Muff an die Spitze einer eigens eingerichteten Kommission, welche die Loyalität der bis dahin österreichischen Offiziere gegenüber dem »Dritten Reich« beurteilen sollte, um zu entscheiden, ob sie in die deutsche Wehrmacht übernommen werden konnten. Wegen seiner ausgeprägten anti– 40 –

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nationalsozialistischen Einstellung durfte Erwin Lahousen kaum darauf hoffen, von der Muff-Kommission für eine Übernahme in die »Abwehr« akzeptiert zu werden. Allerdings genügte die Akzeptanz Lahousens durch Admiral Canaris und die Bestätigung dieser Entscheidung durch Generalstabschef Generaloberst Ludwig Beck, um die berüchtigte Muff-Kommission zu umgehen, die übrigens nur rund die Hälfte der Kandidaten für eine Übernahme in die Wehrmacht akzeptierte.33 Aufgrund der auf dem Reichsparteitag von 1935 eingeführten »Nürnberger Gesetze« konnten sich jene Offiziere, die als jüdisch oder als Mischlinge, als von teilweise jüdischer Abstammung, galten, gar nicht erst darum bewerben. Insbesondere nach dem gewaltsamen Putschversuch vom Juli 1934 begann sich das österreichische Bundesheer auf Abwehrmaßnahmen gegen die wachsende Bedrohung seitens NS-Deutschlands einzustellen. Zu den bemerkenswertesten Problemen in diesem Zusammenhang gehörte die beinahe identische Uniformierung der österreichischen und der deutschen Streitkräfte seit dem Ersten Weltkrieg. Zweifellos musste das Bundesheer seine Uniform ändern, aber anstatt komplett neue Uniformen zu entwerfen, kehrte man schlicht und einfach zu den Mustern aus der Zeit der Monarchie zurück. Einige waren über diese Entscheidung unglücklich, insbesondere die sozialdemokratische Linke, aber aufs Ganze gesehen fand diese Wahl die Zustimmung der Bevölkerung, worin man vielleicht den Ausdruck einer nostalgischen Stimmung erblicken kann.34 Auf jeden Fall waren die neuen/alten österreichischen Uniformen weitaus ausgefallener und farbiger als ihr unmittelbarer Vorgänger. Diese bemerkenswerten Uniformen standen in einem Gegensatz zu der eher traditionellen deutschen Variante, bei der Offiziere des Generalstabes rote Streifen, sogenannte Lampassen, an beiden Außenseiten der grauen Hosen trugen. Jedoch hob in beiden Heeren die Rangbezeichnung (zum Beispiel Major), gefolgt von dem Zusatz »des Generalstabes«, den Inhaber eines so distinguierten Ranges gegenüber allen anderen, quasi gewöhnlichen Majoren hervor. Der zweite grundlegende Unterschied hinsichtlich der Bezeichnung der Generalstabsoffiziere beider Armeen bestand in den jeweils benutzten Abkürzungen  : Major des Generalstabes (d. G.) in Österreich und Major im Generalstab (i. G.) in Deutschland. Lahousen hatte Anfang 1938 im Bundesheer den Dienstgrad eines Oberstleutnants d. G. inne  ; ab 11. April 1938 war sein neuer Dienstgrad in der deutschen Wehrmacht Oberstleutnant i. G. Es spricht zweifellos für Canaris’ Wertschätzung von Lahousens Führungs- und sonstigen Qualitäten, dass der Rang, der Lahousen bei seinem am – 41 –

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11.  April 1938, keine 30  Tage nach dem »Anschluss«, wirksam gewordenen Übertritt in die Wehrmacht verliehen wurde, exakt seinem bisherigen Dienstgrad im österreichischen Generalstab entsprach.35 In der Nacht vom 11. auf den 12. März 1938 war die Wehrmacht in Österreich einmarschiert. Bundeskanzler Kurt Schuschnigg hatte dem Bundesheer, dessen Munitionsvorräte lediglich für drei Kampftage reichten, befohlen, dem Einmarsch keinen Widerstand entgegenzusetzen. Das Schreckensregime des »Dritten Reiches« hatte sein erstes Opfer gefunden. Nach dem »Anschluss« setzte die NS-Führung hauptsächlich österreichische Nationalsozialisten auf die kritischen Posten. Umgehend wurden die berüchtigten Nürnberger Rassengesetze eingeführt und ebenso umgehend setzte die auch Mord einschließende Verfolgung der österreichischen Juden und weiterer Opfergruppen ein. Unter jenen prominenten österreichischen Juden, die eine Verfolgung durch Gestapohaft erlitten, befand sich der 82 Jahre alte Dr. Solomon Frankfurter, der Onkel von Felix Frankfurter (damals bereits ein herausragender Professor an der Harvard Law School und später, nach der Amtsübernahme durch US-Präsident Franklin Roosevelt, Richter am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten). Felix Frankfurter war 1894 im Alter von 12 Jahren mit seiner Familie von Wien nach New York ausgewandert. Felix war ein brillanter und fleißiger Schüler bzw. Student, der in jeder von ihm besuchten Schule Klassenbester war. Weniger durch seine beeindruckenden Kontakte zur US-Regierung als durch seine persönliche Freundschaft mit Lady Nancy Astor, die angeblich gute Verbindungen zur NS-Regierung unterhielt, gelang Felix Frankfurter die Befreiung seines Onkels.36 Durch Mord gelang es den NS-Invasoren auch, jeglichen Widerstand höherer österreichischer Offiziere auszuschalten. Am Abend des 3. April 1938 läuteten zwei in zivil gekleidete, später als Gestapobeamte identifizierte Männer an der Wiener Wohnung des österreichischen Generals Wilhelm Petrus Zehner. General der Infanterie Zehner war kürzlich als Minister für Landesverteidigung abgelöst worden. Während des folgenden Verhörs wurden Schüsse abgefeuert  ; den Einschlag einer Kugel fand man später in einem an der Wand hängenden Gemälde. Danach fand das Dienstmädchen den Leichnam des Generals auf dem Fußboden liegend. Eine von den neuen Machthabern ins Werk gesetzte offizielle Untersuchung stellte Tod durch Selbstmord fest. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs kam eine unabhängige Untersuchung zu dem abweichenden Ergebnis, dass es sich um einen Mord durch Gestapoleute gehandelt hatte.37 – 42 –

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Österreich existierte nicht länger als ein souveräner Staat, sondern war nunmehr unter dem Namen »Ostmark« ein Teil des Deutschen Reiches  ; seine Bürger wurden »Ostmärker« genannt. Die Begriffe »Österreich« und »Österreicher« verschwanden von der Bildfläche. So wie andere Feinde des Nationalsozialismus wären die mutigen österreichischen Widerstandskämpfer, welche die Abkürzung »O5« (=  Ö für Österreich) beim Haupteingang des Wiener Stephansdoms an die Wand gekritzelt hatten, im Falle ihrer Ergreifung höchstwahrscheinlich hingerichtet worden.38 Die NS-feindlichen Offiziere des Evidenzbüros reagierten so entschlossen, wie dies unter den gegebenen Umständen erwartet werden konnte. 1937 war es dem österreichischen Nachrichtendienst gelungen, eine Kopie der streng geheimen Pläne der Wehrmacht für einen Einmarsch in Österreich zu beschaffen  ; eine Ausfertigung wurde dem Generalstab übergeben.39 Im vollen Bewusstsein des wahrscheinlichen Ergebnisses eines solchen deutschen Einmarschs bereitete sich das Evidenzbüro darauf vor, im Fall des Falles seine nachrichtendienstlichen Akten von allen belastenden Stücken zu reinigen. Darunter befanden sich unter anderem Dossiers über die Führungsgarnitur des »Dritten Reiches« und solche, die österreichische Agenten, welche die illegalen NS-Organisationen oder NS-Behörden im Reich und wo auch immer infiltriert hatten, enttarnen konnten. Um Ermittlungen der Gestapo über die Anti-NS-Aktivitäten des Evidenzbüros zu erschweren, wenn nicht gar zu verhindern, war die Zerstörung solcher Akten absolut notwendig. Die Durchsicht sämtlicher Akten war Wochen im Voraus geplant worden, und alle Mitarbeiter des Evidenzbüros hatten daran mitzuwirken, sobald der entsprechende Befehl erteilt wurde. Noch vor den Ereignissen am Abend des 11. März 1938 begann im ehemaligen Kriegsministerium am Wiener Ring eine umfassende Operation, um sämtliche belastenden Dokumente in den Aktenbeständen zu vernichten. Auf dem Spiel standen die Leben der gegen den Nationalsozialismus eingestellten Nachrichtendienstoffiziere und ihrer Agenten. Stets bestand dabei die Gefahr, dass die Gestapo später die Umstände der Zerstörungsaktion untersuchen würde. Mittlerweile hatte in Berlin ein Wettrennen um die Sicherstellung der österreichischen nachrichtendienstlichen Akten eingesetzt. Daran beteiligt war ein von Canaris höchstpersönlich angeführtes Kommando der »Abwehr« und – als dessen Gegenspieler – eine Abteilung des Sicherheitsdienstes der SS (SD) unter Leitung von SS-Obersturmbannführer Walter Schellenberg. Das Wettrennen wurde zuerst mit Flugzeugen und dann mit Kraftwagen ausgetragen. Aufgrund – 43 –

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des speziellen Charakters von Canaris’ früheren nachrichtendienstlichen Kontakten zu Lahousen und dem Evidenzbüro und wegen des schlechten Rufs der SS bestand Klarheit darüber, dass die Österreicher gerne die »Abwehr« und Canaris als Sieger aus diesem Wettrennen hervorgehen sehen wollten. Der »Abwehr« stand ein Pulk Flugzeuge, vor allem Transportmaschinen vom Typ Junkers JU-52, zum jederzeitigen Einsatz zur Verfügung. Gut ausgebildete Kommandos der Abteilung II (Sabotage und Zersetzung) standen auf kurzfristigen Abruf bereit. Canaris selbst war sich der Bedeutung dieser Operation vollkommen bewusst  ; folglich befahl er den Beginn des Einsatzes für die frühen Morgenstunden des 12. März, kurz nach Mitternacht. Die Staffel von JU-52 (wegen ihrer Verlässlichkeit »Tante Ju« genannt) traf kurz vor Morgengrauen auf dem damaligen Wiener Flughafen Aspern östlich der Donau ein. Binnen Kurzem war der Flugplatz überfüllt von JU-52 und weiteren Maschinen der deutschen Luftwaffe bzw. ihres zivilen Pendants, der Lufthansa. Die Flugzeuge der »Abwehr« gehörten zu den ersten, die an diesem frühen Morgen in Aspern landeten. Canaris und seine Begleitung hatten für den Weitertransport vorgesorgt und trafen so noch vor 10 Uhr in den Diensträumen des Evidenzbüros an der Wiener Ringstraße ein. Dann sicherten sie die noch vorhandenen Akten des Evidenzbüros durch Beistellung einer Wache aus Angehörigen der »Abwehr«. Canaris und seine engsten Mitarbeiter fanden sich mitten in einer eingehenden Erörterung mit Lahousen und dessen Kameraden, als die SS-Abteilung einige Stunden später vor Ort eintraf  ; sie war im Verkehrsstau am Flugplatz Aspern hängen geblieben. Vergeblich versuchte Obersturmbannführer Schellenberg zu retten, was zu retten war, indem er Lahousen und seinem Vorgesetzten, General Böhme, eine umgehende Aufnahme in die SS anbot. Beide lehnten dies ab.40 Die österreichischen Offiziere konnten einer halbwegs sicheren Zukunft entgegensehen, da sie ihre restlichen Akten in den Händen der ihnen eher freundlich gesonnenen »Abwehr« und nicht in jenen des Sicherheitsdienstes wussten, dessen illegales, wenn nicht gar kriminelles Verhalten bei seinen Operationen ebenso allgemein bekannt war wie sein wohlverdienter Ruf, jegliche Opposition  – egal ob real oder bloß unterstellt, gegenwärtig oder vergangen  – gewaltsam, ja oftmals mit tödlichen Mitteln zu unterdrücken. Nach der deutschen Invasion und der folgenden Machtergreifung durch die österreichischen Nationalsozialisten stellte sich das Problem der Übernahme von Teilen des Bundesheeres in die Wehrmacht. Canaris war klar, dass die Integration talentierter und politisch verlässlicher österreichischer Nachrichtendienst­ – 44 –

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offiziere in die »Wehrmacht« rasches Handeln seinerseits erforderte. Vom 12. März 1938 an besuchte eine Reihe deutscher Nachrichtendienstoffiziere von Berlin aus Wien und andere österreichische Städte, um österreichische Offiziere zu rekrutieren. Weit oben auf dieser Liste, wenn nicht an deren Spitze, stand Erwin Lahousen. Die Chronologie dieser Besuche lässt sich nur schwer rekonstruieren, aber anscheinend kehrte Canaris nach ein oder zwei Tagen nach Berlin zurück, überdachte die Übernahmefrage sorgfältig und reiste dann wieder nach Wien zu Besprechungen mit Lahousen. Zwischenzeitig hatte sich Canaris im Kriegsministerium in Berlin vorab die Genehmigung von Generaloberst Ludwig Beck für die geplante Übernahme Lahousens in die »Abwehr« beschafft. Beck war eine zentrale Figur im Widerstand  ; er amtierte bis zu seiner Entlassung durch Hitler am 1. Oktober 1938 als Generalstabschef des Heeres. Lahousen besuchte dann die Zentrale der »Abwehr« in Berlin, traf sich dort mit hochrangigen Offizieren und konferierte mit Canaris über künftige Möglichkeiten. Canaris war beim Erreichen seiner Ziele ein sowohl politisch als auch militärisch gewiefter Taktierer. Ein Beispiel für Canaris’ Talent beim Umgehen der Restriktionen der Nürnberger Rassengesetze ist die von ihm veranlasste Ausweitung der »Abwehr« nach 1935. Er gliederte ihr eine Anzahl ausgewiesener Experten ein, wie zum Beispiel Hans von Dohnanyi, der teilweise jüdischer Abstammung und daher nach der NS-Diktion ein Mischling war. Da die Nürnberger Rassengesetze auf die »Abwehr« keine Anwendung fanden, gliederte Canaris ganz einfach von Dohnanyi als Zivilangestellten im Rang eines Sonderführers ein. Postwendend avancierte von Dohnanyi zu einem der standhaftesten Widerständler innerhalb der »Abwehr« und schloss sich der am meisten entschlossenen Gruppe um Oberst Oster an. Von Anfang an erwog Canaris eine direkte Übernahme Lahousens in den deutschen Generalstab mit Dienstzuteilung zur »Abwehr« im Rang eines Oberstleutnants i. G. Um den erforderlichen Papierkrieg in Gang zu setzen, empfahl er Lahousen, sich schriftlich bei der »Abwehr« zu bewerben. Lahousen stimmte sofort zu, bereitete die Bewerbung vor und übergab sie Canaris persönlich in Berlin. Ausgestattet mit dieser Bewerbung, absolvierte Canaris die erforderliche Tour im Berliner Kriegsministerium, um die notwendigen Genehmigungen einzuholen. In diesem Stadium machte der Reichsführer-SS Heinrich Himmler Einwände geltend  : Er verwies auf die NS-feindliche Betätigung von Lahousens älterem Bruder Wilhelm Gustav in Graz. Himmlers Einwände konnten in dieser Angelegenheit gefahrlos ignoriert werden. Nach Erteilung der – 45 –

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nötigen Genehmigungen konnte Canaris mittels eines Dienstbefehls die Ernennung Lahousens zum Oberstleutnant i. G. mit Wirkung vom 11. April 1938 – keine 30 Tage nach dem »Anschluss« – verfügen. Himmler hatte schon früh nach einer Gelegenheit für Rache an der Familie Lahousen gesucht. Am Tag des deutschen Einmarsches hatte er rechtswidrig die Verhaftung von Wilhelm Gustav Lahousen in Graz wegen dessen notorischer NS-feindlicher Aktivität in der Steiermark angeordnet. Es spielte keine Rolle, dass die von Wilhelm Gustav bekämpften Nationalsozialisten und NS-Verbände illegal gewesen waren. In Ergänzung der Festnahme wurde das gesamte Vermögen von Wilhelm und dessen Frau beschlagnahmt  ; Wilhelm landete im Gewahrsam der Gestapo. Mit Verweis auf Wilhelms Einstellung hatte Himmler erfolglos gegen Erwins Übernahme in die »Abwehr« opponiert. Nachdem diese erfolgt war, blieb die Bestrafung Wilhelms und seiner Frau in Kraft – aber nicht für lange.41 Wilhelms Festsetzung in einem Gestapogefängnis dauerte nach dem März 1938 einige Monate hindurch an, bis Canaris ein Treffen mit Himmler arrangierte, um Wilhelms Schicksal zu besprechen. Hierzu nahm Canaris sowohl Erwin als auch die beiden Söhne Wilhelms mit  ; alle trugen Uniformen von Wehrmachtsoffizieren. Ein Sohn diente bei der Panzertruppe und der andere bei der Artillerie  ; beide sollten später den Weltkrieg irgendwie überleben. Die Besucher waren mit der Absicht gekommen, Erleichterungen für Wilhelm zu erwirken. Nach ausgedehnter Diskussion stimmte Himmler schließlich zu, Wilhelms Inhaftierung in eine Konfinierung (eine Art Verbannung) in der Kleinstadt Rimsting am Chiemsee, einem See in Südbayern, umzuwandeln. Jeden Morgen hatte er sich bei der dortigen Polizeidienststelle zu melden. Nach einer Weile wurde ferner die Beschlagnahme des Vermögens von Wilhelm und seiner Frau aufgehoben. Himmler betonte, seine Entscheidung sei nicht als Vergebung für Wilhelms frühere, gegen den Nationalsozialismus gerichtete Betätigung zu werten, sondern als Anerkennung für Wilhelms herausragende Verdienste für sein österreichisches Vaterland als Offizier während des Ersten Weltkrieges, einschließlich seiner im Kampfeinsatz erlittenen Verwundungen. Folglich verbrachte Wilhelm den Zweiten Weltkrieg in relativer Ruhe in einer Kleinstadt an einem See im ländlichen Bayern und entging so dem Schicksal, weiter wehrloser Häftling der Gestapo zu sein, als der er vielfältigen Formen ständiger Misshandlungen ausgesetzt gewesen wäre.42 Nach Wien zurückgekehrt, musste sich Erwin Lahousen dem Problem stellen, österreichische Nachrichtendienstkameraden aus Wien zur Dienstleistung – 46 –

Lahousen und Madame Bihet-Richou

bei der »Abwehr« in Berlin oder anderswo zu verpflichten. In einem Punkt war Canaris unnachgiebig  : Lahousen sollte ja keine österreichischen (bzw. ostmärkischen) Nazis mitbringen, und insbesondere durften keine Nazis in verantwortungsvollen Positionen innerhalb von Lahousens Abwehr-Abteilung beschäftigt werden.43 Tatsächlich gelang es Lahousen, etliche seiner dem Nationalsozialismus feindlich gesonnenen Kameraden aus dem Evidenzbüro in die »Abwehr« zu holen, darunter seinen Jahrgangskameraden von der Militärakademie und engen Freund, Major Kurt Fechner. Nach dem Einmarsch hatten die neuen NSMachthaber Fechner aus den Streitkräften entlassen, weil er nach den nunmehr auch in der Ostmark gültigen Nürnberger Rassengesetzen als Mischling galt. Sowohl er als auch sein Vater, ein pensionierter General, der sich im Ersten Weltkrieg glänzend bewährt hatte, befanden sich ungeachtet ihrer katholischen Konfession in unmittelbarer und schwerwiegender Gefahr, verfolgt zu werden. Lahousen arrangierte Fechners anfängliche Dienstzuteilung zur neuen Abwehrstelle (Ast) in Wien, an deren Spitze der verlässliche NS-Gegner Oberst Rudolph Graf Marogna-Redwitz stand. Der Oberst war ein bayerischer Aristokrat, der das kriminelle Verhalten der Nationalsozialisten bereits während Hitlers gescheitertem »Bierhallenputsch«, dem »Marsch auf die Feldherrenhalle« am 9. November 1923 in München, kennengelernt hatte. Nachdem Fechner dank seiner Übernahme in die »Abwehr« erst einmal selbst vor Verfolgung sicher war, erwies es sich als viel leichter, einen ähnlichen Schutz für seinen Vater und den Rest der Familie zu schaffen. Zur gleichen Zeit bedeutete Lahousens Wechsel von einem hochrangigen Posten im österreichischen Nachrichtendienst in Wien auf einen gleichartigen Posten bei der »Abwehr« in Berlin für den französischen Nachrichtendienst sowohl eine neue Chance als auch eine Herausforderung. Lahousens enge Freundin und Gefährtin, Madame Madeleine Bihet-Richou (als Agentin später »MAD«), beschloss beinahe unmittelbar nach Eintreffen der deutschen Okkupatoren, Wien zu verlassen. Sie und Lahousen hatten ein ausgefeiltes Korrespondenzsystem entwickelt, das jede Art von Überwachung durch Gestapo oder Sicherheitsdienst überlisten sollte. Als Lahousen sie zum Wiener Westbahnhof begleitete, von wo sie ein Zug nach Paris bringen sollte, rekapitulierten sie dieses System nochmals sorgfältig. Es würde ihnen die Aufrechterhaltung des Kontaktes ermöglichen, bis sich eine Gelegenheit für MADs Rückkehr aus Frankreich finden ließe.44 Wie MAD später in ihren Memoiren schrieb, hatte sie sich von Anfang August 1933 bis zum 16. März 1938 – dem Tag nach Hitlers berühmter Rede auf – 47 –

Lahousen und Madame Bihet-Richou

dem Heldenplatz – in Wien aufgehalten.45 Nach ihrer Ankunft in Paris setzte sie sich mit ihren französischen Kontaktleuten in Verbindung. Diese rekrutierten sie jetzt für die zusätzliche Aufgabe, einen wichtigen Spion zu betreuen und zu führen. Der französische Nachrichtendienst erkannte die entscheidende Bedeutung, die sich aus den künftigen nachrichtendienstlichen Pflichten Lahousens in Berlin ergeben würde. Das weiterbestehende berufliche und persönliche Verhältnis zwischen Madame Richou und Oberst Lahousen würde eine Tarnung bieten, hinter der sie über Lahousen Zugang zu nachrichtendienstlichem Material erlangen würde. Der französische Geheimdienst überredete seine Agentin MAD folglich, im Herbst 1938 nach Berlin zu übersiedeln. Bis dahin hielt Lahousen den Kontakt zu ihr mittels gewöhnlicher Postkarten aufrecht, die er seiner Partnerin von seinen zahlreichen und regelmäßigen Reisen innerhalb Deutschlands und nach Spanien an ihre Pariser Adresse sandte. Oberst Sallant, der frühere Militärattaché Frankreichs in Wien, bestätigte gegenüber seinen Kameraden vom französischen Geheimdienst die Bedeutung MADs als einer erfolgreichen und erfahrenen Agentin – gerade wegen ihres direkten Zugangs zu Lahousen, der nun bei der »Abwehr« eine Schlüsselstellung innehatte. Folgerichtig arrangierte der französische Nachrichtendienst für seine talentierte Agentin eine Stellung beim angesehenen Institute Française in Berlin. Von diesem Posten aus konnte MAD den Strom erstrangigen strategischen Nachrichtenmaterials von Lahousen zu ihren Vorgesetzten im französischen Geheimdienst weiterleiten. Bevor sich Lahousen offiziell zum Dienst meldete, brachte er einige Tage damit zu, sich mit seiner Frau Marga in ihrem neuen Heim im Berliner Stadtteil Charlottenburg einzurichten. Nach welcher Prozedur eine solche Meldung bei der Abwehr-Zentrale zu erfolgen hatte, war ihm nicht bekannt. Er wollte für alle Fälle, so hatte er entschieden, den rechten Arm zum deutschen oder HitlerGruß erheben. Die Vorschriften sahen seine erste Meldung bei seinem Vorgesetzten, Admiral Canaris, vor. Canaris wollte gerade einige Begrüßungsworte sagen, als Lahousen die Hand zum Hitler-Gruß erhob. Ohne verbalen Kommentar und ohne Unterbrechung seiner Begrüßung, drückte Canaris einfach Lahousens erhobenen Arm herunter und setzte seine kleine Ansprache fort. Postwendend wurde Lahousen an Canaris’ von Vorsicht und Besorgnis bestimmten Rat erinnert, keine Nationalsozialisten aus Wien mitzubringen.46 Als Lahousen später an diesem Tag denselben Gruß vor Oberst Hans Oster, Leiter der Zentralabteilung der »Abwehr«, wiederholte, war dessen Reaktion komplett verschieden, aber ebenso überraschend. Oster unterbrach seine an – 48 –

Lahousen und Madame Bihet-Richou

Lahousen gerichteten Begrüßungsworte und schnauzte ihn an  : »So, Sie versprechen also, für den größten Verbrecher der Weltgeschichte fleißig zu arbeiten  ?«47 Sofort zog Lahousen seinen Gruß zurück. Ihm war allerdings im Vorfeld mitgeteilt worden, dass Oster im Ruf eines Hitzkopfs stand, der sich gegenüber Fremden oder Beinahe-Fremden keinerlei Vorsicht bei seinen Äußerungen auferlegte. Wie auch immer, die so komplett verschiedenen Reaktionen und Bemerkungen seiner beiden neuen Vorgesetzten müssen Lahousen überzeugt haben, dass seine neue Stellung viel komplizierter und viel gefahrvoller war, als es zuvor bei oberflächlicher Betrachtung geschienen haben mochte. Es mag Lahousen jedenfalls getröstet haben, dass sein Weg und jener von Madame Richou sich in naher Zukunft sicherlich wieder kreuzen würden. Zuerst mussten MADs französische Kollegen einige sehr heikle Arrangements treffen, bevor sie unter der exzellenten Tarnung einer tüchtigen Angestellten des angesehenen Institute Française in Berlin nach Deutschland zurückkehren konnte. Aber das war noch Zukunftsmusik, und Lahousen wusste vermutlich noch nichts von dieser künftigen Tarnung, als er sich zum Dienst meldete. Viel Arbeit wartete auf ihn bei seiner nunmehrigen hauptamtlichen Beschäftigung als Nachrichtenoffizier des Generalstabs unter Admiral Canaris. Dazu gehörte auch seine Verwicklung in den Widerstand der »Abwehr« gegen Hitler, die im Frühsommer 1938 beginnen sollte.

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Kapitel 4

Kriegsdrohungen und Kriegsbeginn durch das NS-Regime

A

ls Oberst Amen seine Befragung Lahousens über seine Karriere als österreichischer Nachrichtendienstoffizier fortsetzte, unterbrach ihn der Vorsitzende des Gerichts mit der Frage  : »Könnten Sie das nicht etwas abkürzen, Oberst Amen  ? Wir brauchen wirklich nicht alle diese Einzelheiten.« Wenngleich Amen zustimmte, betonte er doch die Notwendigkeit herauszustreichen, dass Lahousen in jenem Dienstgrad in die deutsche Wehrmacht übernommen worden war, den er im österreichischen Bundesheer innegehabt hatte. Amen wollte, dass der Gerichtshof dies entsprechend berücksichtige.48 Im Zuge der weiteren Befragung durch Oberst Amen erläuterte der Zeuge seine anfänglichen Reaktionen auf seine neue Dienststellung bei der »Abwehr« in Berlin, die er Mitte April 1938 antrat. Der Großteil dieser Aussage betraf nachrichtendienstliche Fragen im engeren Sinn, während alltägliche, aber notwendige persönliche Angelegenheiten wie der Bezug von Lahousens neuer Wohnung in Berlin kaum berührt wurden. In naher Zukunft, als Lahousen und seine Frau Marga sich im Berliner Stadtteil Charlottenburg niederließen, sollten diese Fragen einige Relevanz erlangen. Lahousens Französischlehrerin und Führungsoffizier bei seiner Spionage für Frankreich, Madame Bihet-Richou, bereitete für Oktober 1938 ihren Umzug nach Berlin vor, wobei ihre Beschäftigung beim Institute Française als Tarnung dienen sollte. Aufgrund der Bemühungen des französischen Nachrichtendienstes brauchte Lahousen sich nicht persönlich um eine zweite Wohnung für seine Spionage-Partnerin zu kümmern. Bei seiner Suche nach einer geeigneten Bleibe in Berlin hatte sich Lahousen nicht auf jene Stadtteile, in denen andere höhere Nachrichtendienstoffiziere wohnten, konzentriert. Hoch im Kurs standen allgemein Wohngegenden im äußersten Westen der Stadt, wie etwa die noblen Vororte Dahlem, Zehlendorf und – noch weiter westlich – Potsdam, alle in der Nähe zum Grunewald. So hatte Admiral Canaris 1938 eine schmucke Villa in der Doellestraße 17 (auch Dianastraße genannt) im Stadtteil Schlachtensee nahe bei dem gleichnamigen See erworben  ; das Anwesen lag zwischen Potsdam und Berlin nicht weit vom Grunewald entfernt. Hier konnte Canaris des Öfteren mit seinem preisgekrönten Araberpferd – 50 –

Kriegsdrohungen und Kriegsbeginn durch das NS-Regime

»Motte« ausreiten, entweder allein oder zusammen mit Freunden, Kameraden und Nachbarn. Unter seinen Nachbarn befand sich erstaunlicherweise auch Reinhard Heydrich, ein früherer Kadett der Reichsmarine, der unter Canaris auf dem Schulschiff »Berlin« der Marine gedient hatte. Nach seiner Entlassung aus der Reichsmarine 1930 wegen eines gebrochenen Eheversprechens gegenüber einem Mädchen aus einer prominenten Familie trat Heydrich dem SD bei und stieg rasch zum zweiten Mann nach Heinrich Himmler auf. Nur 50 Meter von Canaris’ kürzlich erworbenem Haus entfernt, lag Heydrichs Anwesen auf dem Reifenträgerweg 14 a  ; die Gärten der beiden grenzten aneinander.49 Obwohl ihre Behausungen einige Kilometer voneinander entfernt waren, teilten Lahousen und Canaris eine menschliche Leidenschaft  : ihre Liebe zu Tieren, insbesondere zu kleinen Hunden. Lahousens Terrier Fely war eine Freude für seine beiden österreichischen Besitzer, während die zwei Langhaar-Dachshunde von Canaris namens Sabine und Caspar ihm treu ergeben waren und ihn oft in sein Büro bei der »Abwehr« begleiteten. Lahousen bevorzugte einen Wohnsitz im Westteil Berlins, der deutlich näher bei der Abwehrzentrale am damaligen Tirpitz-Ufer (heute Reichpietsch-Ufer) am Landwehrkanal bzw. an der Südecke des Tiergartens gelegen war. Diese Gegend befand sich in der Nachbarschaft wichtiger Regierungs- und Verkehrszentren, wie etwa des Charlottenburger Bahnhofs. Lahousen entschied sich für eine komfortable Wohnung in der Droysenstraße 16 inmitten eines großen, aber geschmackvollen Häuserkomplexes, zu dem es mehrere Eingänge gab, was sich im Fall von Gestapountersuchungen als nützlich erweisen konnte. In bequemer Nähe zu öffentlichen Verkehrsmitteln und zu Parks, lag der Gebäudekomplex auch an einigen Hauptstraßen, die für Stabsfahrzeuge des Militärs genutzt wurden. Die Wohnung selbst war für das Ehepaar und Fely hinreichend komfortabel  ; der Hund sollte Marga während der häufigen und ausgedehnten Abwesenheiten ihres Gemahls Gesellschaft leisten. Im November 1938, wenige Tage nach ihrer Ankunft in Berlin, konnte MAD eine Bleibe in günstiger Lage mieten. Es handelte sich um ein Zimmer innerhalb einer größeren Wohnung, in der eine NS-freundliche Familie wohnte. Umgehend nahmen Lahousen und MAD ihre gegen das »Dritte Reich« gerichtete Spionage-Partnerschaft wieder auf.50 Das Timing hierfür war perfekt, denn genau zu dieser Zeit erschütterten die Ereignisse der »Reichskristallnacht« das öffentliche Leben in Deutschland, einschließlich der »Ostmark«.51 Die langwierigen Bemühungen des französischen Nachrichtendienstes, in Berlin einen weiblichen Führungsoffizier für einen wohlgesinnten und verlässlichen Spion innerhalb der Führungsriege der »Abwehr« zu platzieren, zeitigten – 51 –

Kriegsdrohungen und Kriegsbeginn durch das NS-Regime

jetzt erste Resultate. Lahousen und MAD wurden gemeinsam Zeugen der Pariser Ereignisse vom 7. November 1938 und der darauf folgenden Maßnahmen der NS-Machthaber gegen deutsche und österreichische Juden. Systematisch hielt MAD in ihrem Bericht zuerst die Ermordung von Ernst vom Rath, des dritten Sekretärs der deutschen Botschaft in Paris, durch einen jüdischen Studenten namens Herschel Grynszpan (Grünspan) fest. Diesen 17‑jährigen Burschen hatte die offizielle NS-Politik der Verfolgung deutscher Juden, insbesondere seiner eigenen Eltern, die unter widrigen Umständen im Niemandsland zwischen Polen und Deutschland festgehalten wurden, aufs Äußerste erregt. Ausgerüstet mit einer versteckten Pistole betrat Herschel die deutsche Botschaft in Paris und verlangte den Botschafter zu sprechen. In dessen Abwesenheit erschien vom Rath, um den Besucher zu empfangen  ; Grynszpan schoss auf ihn und verletzte ihn tödlich. Auf Initiative von Propagandaminister Joseph Goebbels beschloss die NSFüh­ rung, vermeintlich spontane landesweite Vergeltungsmaßnahmen gegen deutsche Juden zu lancieren  ; betroffen waren auch deren religiöse Stätten, Wohnungen und Geschäfte. Obwohl weder das Opfer noch dessen Eltern der ­NSDAP angehörten, organisierte das Regime ein pompöses, nationalsozialistisch eingefärbtes Begräbnis für vom Rath in Düsseldorf. Lahousens Berichte über das geplante, etwa eine Woche andauernde Pogrom hielt MAD in ihren Memoiren wie folgt fest  :52 »Du wirst bald Zeuge eines außerordentlichen Ereignisses werden. Die Parteiführung hat drakonische Vergeltung beschlossen und wird die günstige Gelegenheit zur Zerstörung aller Synagogen benützen  ; sie wird Häuser von Juden plündern und Massenverhaftungen vornehmen. Wenn Du morgen früh aufwachst, wird die Stadt ihr Aussehen geändert haben. Alle nötigen Vorbereitungen sind getroffen, um das Ausland glauben zu machen, dass es sich um einen spontanen Ausbruch des deutschen Volkes gegen die Juden handelt  ; nichts dergleichen trifft zu. Es handelt sich um ein organisiertes, ja bestens organisiertes Pogrom  ! Die Feuerwehr wird rund um die Synagogen in Stellung gehen, bevor sie noch in Brand gesetzt sind, um die Häuser in der Umgebung zu beschützen.« Lahousen sagte ihr dann mit Blick auf die angebliche Vergeltung  : »Es war zweifellos ein Verbrechen.« Am folgenden Morgen rief er MAD an, um ihr mitzuteilen, dass sich alles genau so wie von ihm vorhergesagt abgespielt hatte. Er riet ihr auch, auf den Straßen äußerst vorsichtig zu sein. Aber als eine ernsthafte und der Sache zutiefst verbundene Beobachterin verließ MAD ihre Wohnung, um die Zerstö– 52 –

Kriegsdrohungen und Kriegsbeginn durch das NS-Regime

rungen mit eigenen Augen zu sehen. Sie konnte kaum glauben, welcher Anblick sich ihr bot  : willkürliche Zerstörungen von Eigentum und Misshandlungen jüdischer Bewohner – dies alles unter den Augen der Berliner Polizei, die untätig zusah. Ihr nachfolgender Bericht dürfte ihre Vorgesetzten in Paris beeindruckt haben  ; diese konnten nun sicher sein, dass ihnen eine an idealer Stelle platzierte Quelle, Oberst Lahousen, erstrangiges geheimes Nachrichtenmaterial über militärische und politische Angelegenheiten des »Dritten Reiches« lieferte. Beim Nürnberger Prozess fuhr Lahousen mit einer Beschreibung des enormen Einflusses fort, den Admiral Canaris auf die antinationalsozialistische Einstellung seiner führenden Stabsoffiziere und Widerstandsaktivisten ausgeübt hatte. Oberst Amen brachte Lahousen dann sublim dazu, die Unterschiede zwischen dem rationalen und analytischen Widerstandsgeist von Canaris und der emotionalen, temperamentvollen Haltung von Oberst Hans Oster, Canaris’ Stellvertreter und Chef der Zentralabteilung der »Abwehr«, zu erläutern. Diese Unterschiede sind selbst für einen heutigen Betrachter verwirrend.53 Lahousen brachte seinem Mentor Canaris offensichtlich große Wertschätzung entgegen. Vielgereist und als Nachrichtendienstler sorgfältig ausgebildet, stand Canaris in einem schroffen Gegensatz zu jenen ungebildeten Straßenrowdys, die 1920 in München die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) gegründet hatten. Nahezu alle höheren Abwehroffiziere gehörten dem von Lahousen so bezeichneten Canaris-Kreis an, dessen geistiges Zentrum der Admiral war. Der Oster-Kreis, wie die andere in der »Abwehr« bestehende Widerstandsgruppe genannt wurde, war zahlenmäßig viel kleiner, verfügte aber über ausgezeichnete Beziehungen zu anderen Widerstandskreisen, zum Beispiel zu Generaloberst Ludwig Beck und zu anderen hochrangigen Militärs. Der Oster-Kreis trat ziemlich unverblümt auf und tarnte seine Opposition zu »Emil«, Hitlers Deckname in Widerstandskreisen, nur wenig. Zum Oster-Kreis zählte auch der brillante Jurist Hans von Dohnanyi, den Canaris im Rang eines Sonderführers als Zivilangestellten angeheuert hatte. In seiner Zeugenaussage ließ Lahousen deutlich seine Vorliebe für Canaris’ vorsichtige Form des Widerstands im Gegensatz zur draufgängerischen Variante des Oster-Kreises erkennen. Zum einen agierten Oster und insbesondere Dohnanyi, was notwendige Vorsichtsmaßnahmen betraf, öfters zu lax  ; sie ließen zum Beispiel belastende Schriftstücke einfach auf ihren Schreibtischen liegen. Ein solches Verhalten war absolut unangebracht, denn ein einziger von der stets wachsamen Gestapo aufgedeckter Fehler konnte die gesamten Widerstandsaktivitäten innerhalb der »Abwehr« in Gefahr bringen. – 53 –

Kriegsdrohungen und Kriegsbeginn durch das NS-Regime

Eines der drängendsten unter den vielen Problemen, die damals auftraten, betraf eine Frage, die vermutlich Admiral Canaris gegenüber einem der höheren früheren Offiziere des österreichischen Bundesheeres, die im Sommer 1938 in die Wehrmacht übernommen worden waren, aufwarf. Mehreren Quellen zufolge soll Canaris zu diesem vormals österreichischen Offizier bemerkt haben  : »Ihr Österreicher seid für all dies verantwortlich. Warum habt ihr nicht geschossen  ?«54 Diese Aussage findet sich in der ersten nennenswerten Biografie über Canaris aus der Feder von Karl Heinz Abshagen, einem NS-feindlichen Journalisten mit ausgedehnten Kenntnissen über Deutschland, Großbritannien und den Fernen Osten. Sein Buch »Canaris  : Patriot und Weltbürger« wurde erstmals 1949 in Stuttgart veröffentlicht. Der Autor war der ältere Bruder von Lahousens langjährigem Adjutanten bei der »Abwehr«, Wolfgang Abshagen. Zuvor hatte Wolfgang als Adjutant von Major Groscurth gedient, dem Vorgänger Lahousens als Chef der Abwehr-Abteilung II. Nach dem 20. Juli 1944 wurde Wolfgang Abshagen von der Gestapo verhaftet und in Vorbereitung auf seinen Prozess gefangen gehalten. Später von der Gestapo freigelassen, setzte ihn die Rote Armee nach ihrer Eroberung Berlins erneut fest. Sie übergab Wolfgang der SMERSH, Stalins Henkersknechten, und er wurde im August 1945 in Brest (Weißrussland) gehängt. 1974, 20 Jahre später, teilte der sowjetische Rote Halbmond Wolfgangs Witwe Irmgard Abshagen den Tod ihres Mannes im August 1945 offiziell mit. Eine russische Militärkommission rehabilitierte Wolfgang im Jahr 2000. Es wird vielfach angenommen, dass Lahousen selbst Karl Heinz Abshagen mit wichtigen Hintergrundinformationen über Canaris versorgt hat. So setzt Abshagen seine Darstellung etwa mit weiteren detailliert wiedergegebenen Aussagen fort, die ungefähr zur selben Zeit wie die oben zitierte Äußerung gemacht worden sein sollen. Aus einigen von ihnen geht hervor, dass Canaris und andere, einschließlich diverser britischer Politiker, Hitler wegen des »Anschlusses« Österreichs keineswegs kritisierten. Kritik an diesem Einmarsch kam nur von Mexiko und ganz wenigen anderen Staaten, nicht jedoch von den USA, die unter Außenminister Cordell Hull dazu schwiegen. Canaris hätte kaum derartige Kritik äußern und hoffen können, dabei ungeschoren zu bleiben. Insgesamt glaubt Abshagen, dass Canaris eine entsprechende Aussage getätigt hat, und zwar Lahousen gegenüber. Dessen Bestätigung dafür könnte sich aus sorgfältiger Lektüre der in Karl Heinz Abshagens Buch verwendeten Sprache ergeben. Unabhängig davon bestätigen dies die Memoiren von MAD. Lahousen dürfte, wie er später Stefanie Lahousen mitteilte, geantwortet haben, – 54 –

Kriegsdrohungen und Kriegsbeginn durch das NS-Regime

dass das österreichische Bundesheer lediglich über Munitionsvorräte für drei Kampftage verfügt hatte, es gibt jedoch keinen anderen Beleg für eine entsprechende Antwort auf Canaris’ Frage.55 Bewaffneter Widerstand des Bundesheeres wäre bloß eine romantische Geste, zugleich aber auch selbstmörderisch gewesen zu einem Zeitpunkt, zu dem der militärische Widerstand die Initiative zur Beseitigung der NS-Diktatur noch nicht ergriffen hatte. 1938 war Berlin eine aufregende Metropole für die Nationalsozialisten und ihre Anhänger. Die Stadtbevölkerung zählte mehr als vier Millionen und lebte auf einer Fläche, die jene von Paris um ein Mehrfaches übertraf. Das Stadtgebiet war durch zahlreiche Seen und Wälder, von denen einige recht groß waren, in diverse Bezirke und Wohnviertel unterteilt. Bis zu Hitlers Ernennung zum Reichskanzler am 30.  Januar 1933 war Berlin Schauplatz einer großen Zahl blutiger Zusammenstöße zwischen Nationalsozialisten, Linkssozialisten und Kommunisten gewesen. Ungeachtet fortgesetzter Bemühungen des langjährigen NSDAP-Gauleiters von Berlin, Joseph Goebbels, konnte die Stadt wegen ihres tief verwurzelten Kosmopolitismus nicht einmal im Herbst 1938 als eine typische Stadt des Nationalsozialismus bezeichnet werden. Die NS-Bewegung hatte ja bereits München als ihre Gründungsstadt eingestuft und gefeiert. Berlin sollte es nie schaffen, mit Münchens Ruf als Hauptstadt der Bewegung gleichzuziehen. Gleichwohl litten die deutschen Juden und alle andere Ethnien wie etwa Roma und Sinti sowie alle politischen Gruppierungen wie Sozialisten und Kommunisten, die als Opponenten des »Dritten Reiches« betrachtet wurden und dies zum Teil auch waren, unter zunehmender Verfolgung. Zu den Mitteln zählten Verlust des Arbeitsplatzes, Gefahr der Verhaftung, öffentliches oder privates Verprügeltwerden oft schon bei bloßer Begegnung, Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, anfänglich in den Konzentrationslagern und später in Arbeits- oder Todeslagern. Diese Verfolgung durch die Nationalsozialisten setzte sofort nach deren Machtergreifung am 30.  Januar 1933 ein.56 Gab es in Deutschland zu diesem Zeitpunkt noch keine KZs, wurde kurz darauf in einer aufgelassenen Munitionsfabrik in Dachau, einige Kilometer nordwestlich von München, das erste eröffnet. Bald sollte das NS-Regime eine ganze Reihe weiterer Konzentrations‑, Arbeits- und Todeslager in Deutschland und, nach dem »Anschluss« vom März 1938, auch in Österreich errichten und betreiben. Nach Kriegsbeginn wurden weitere solche Lager außerhalb Deutschlands, zum Beispiel in Polen und in den übrigen Ostgebieten, eingerichtet. Der Reichstag, ein bald überflüssiges Parlament, hatte in einem offiziellen Akt im März 1933 der Regierung Hitler das Recht eingeräumt, künftig nicht – 55 –

Kriegsdrohungen und Kriegsbeginn durch das NS-Regime

durch Gesetze, sondern durch Regierungsanordnungen zu regieren bzw. selbst – als Regierung  – solche Gesetze zu verabschieden.57 Das NS-Regime erhöhte den Druck auf seine Feinde durch die vom nazifizierten Reichstag auf dem NSReichsparteitag Anfang September 1935 verabschiedeten Nürnberger Rassengesetze weiter. Öffentliche Regimekritik wurde zunehmend gefährlich, zumal das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda unter Joseph Goebbels seine Kontrolle der Presse und aller übrigen Medien verstärkte. Die in Berlin ansässigen Korrespondenten westlicher Medien deckten freilich die Vorgänge im »Dritten Reich« mehr oder weniger ab – wenngleich unter scharfer Aufsicht durch Goebbels’ Propagandaministerium. Beispielsweise hatte William L. Shirer seit 1924 für diverse Medien in Berlin gearbeitet, bevor er 1937 Rundfunkberichterstatter für Columbia Broadcasting System wurde. Prominente Befürworter eines deutschen demokratischen Systems wie Thomas Mann und Marlene Dietrich konnten nicht länger in Deutschland bleiben und wurden zur Emigration ins Ausland gezwungen. Das NS-Regime zwang auch die Führer demokratischer Parteien auf ähnliche Weise zur Emigration. Selbst die politisch nicht engagierte Bevölkerung von Berlin und anderer deutscher Städte spürte die nahende Gefahr, als die aggressive Außenpolitik des Hitler-Regimes mit einer hohen Wahrscheinlichkeit einherging, dass in Europa bald ein großer Krieg ausbrechen würde. Die Menschen sorgten sich insbesondere wegen der Gefahr feindlicher Luftangriffe. Um diese Bedenken zu zerstreuen, übertrug das Regime das Kommando über die Luftwaffe dem großsprecherischen Fliegerhelden des Ersten Weltkriegs und führenden Nationalsozialisten Hermann Göring. Göring verkündete, er wolle Maier heißen (einer der gängigsten deutschen Familiennamen), falls auch nur ein einziges ausländisches Flugzeug am Himmel über Deutschland auftauchen würde. Jahre später verabschiedeten sich Angehörige des Widerstands in den nun zerbombten deutschen Städten mit der Entschuldigung, sie müssten zeitig gehen, um Maier im NS-Rundfunk sprechen zu hören.58 Bereits vor der Invasion Österreichs im März 1938 gab es eindeutige Entwicklungen in Deutschland, welche die aggressiven Absichten der NS-Führung gegenüber der territorialen und politischen Integrität der deutschen Nachbarn offenbarten. Für den 5. November 1937 berief Hitler eine Konferenz mit seinen Spitzenmilitärs ein, auf der seine Pläne für eine territoriale Expansion des Reiches erörtert werden sollten. Die Besprechung fand in der Berliner Reichskanzlei statt und dauerte von 16.16 Uhr bis 20.30 Uhr, also mehr als vier Stunden. Bei den anwesenden militärischen Spitzen handelte es sich um Reichskriegsmi– 56 –

Kriegsdrohungen und Kriegsbeginn durch das NS-Regime

nister Generalfeldmarschall Werner von Blomberg sowie die Oberbefehlshaber von Heer, Kriegsmarine und Luftwaffe, Generaloberst Werner Freiherr von Fritsch, Großadmiral Erich Raeder und Generaloberst Hermann Göring. Reichsaußenminister Freiherr von Neurath war ebenfalls zugegen. Hitlers Wehrmachtsadjutant Oberst Friedrich Hoßbach verfertigte eine später als Hoßbach-Niederschrift bekannt gewordene Aufzeichnung vom 10. November 1937 über den Inhalt der Besprechung  ; die Notiz sollte zu den Akten des Kriegsministeriums genommen werden.59 Hitler eröffnete die Konferenz mit der Feststellung, der zu besprechende Gegenstand sei so wichtig, dass seine Ausführungen im Falle seines baldigen Todes als sein Vermächtnis zu betrachten seien. Danach erörterte Hitler die angebliche Notwendigkeit von Lebensraum für das deutsche Volk auf Kosten seiner Nachbarn. Anschließend verkündete er seinen »unabänderlichen Entschluß, das Problem des deutschen Lebensraums spätestens bis 1943/45 zu lösen.« Zu diesem Zeitpunkt werde die deutsche Rüstung ihren Zenit erreicht haben. Falls Deutschland die österreichische und tschechoslowakische Frage mit militärischen Mitteln lösen werde, würden die Westmächte laut Hitler weder militärisch noch politisch intervenieren. Keinen Zweifel ließ Hitler daran, dass das erste Ziel darin bestand, »die Tschechoslowakei und Österreich gleichzeitig zu erledigen, um die Bedrohung unserer Flanken zu beseitigen«.60 Den Befehlshabern setzte Hitler unzweideutig auseinander, dass er militärische Gewalt zum Zweck bestimmter Eroberungen einzusetzen gedachte. Der zweite Teil der Besprechung drehte sich um bestimmte Rüstungsfragen, doch fehlen in der Hoßbach-Niederschrift nähere Angaben hierzu. Während der auf Hitlers Ausführungen im ersten Teil der Konferenz folgenden Diskussion kam es zu hitzigen Erörterungen über Fragen der Militärpolitik zwischen Göring und seinen zwei Kollegen von der Wehrmacht, von Blomberg und von Fritsch  ; Hitler hörte schweigend zu. Admiral Raeder äußerte sich nicht zu Hitlers Darlegungen, womit er eine nachfolgende Bestrafung wegen Insubordination vermied. Für die beiden Wehrmachtgeneräle verlief es nicht so glücklich. General von Blomberg sollte bald von seinem Posten abberufen werden, nachdem die Berliner Polizei aufgedeckt hatte, dass die von ihm kürzlich – mit Hitler und Göring als Trauzeugen  – geehelichte junge Frau glaubhaften Hinweisen in den Polizeiakten zufolge eine dunkle Vergangenheit als Prostituierte aufwies. Und Generaloberst von Fritsch wurde aufgrund von hochgespielten und obendrein gänzlich falschen Anschuldigungen homosexueller Betätigung (angeblich in einer öffentlichen Toilette) abgelöst. Auch Oberst Hoßbach blieb – 57 –

Kriegsdrohungen und Kriegsbeginn durch das NS-Regime

nicht mehr lange Hitlers Adjutant und verlor seinen Posten, da er angeblich von Fritsch eine Warnung des Inhalts hatte zukommen lassen, die Spitze der Gestapo einschließlich Himmler habe ihn im Visier. Die Amtsenthebung der beiden Spitzenmilitärs Blomberg und Fritsch am 4. Februar 1938 wurde seitens der Offiziere der »Abwehr« aufmerksam verfolgt. Ihnen war durchaus bewusst, dass der wahre Grund für die Entlassung die Opposition der beiden gegen Hitlers aggressive Militär- und Außenpolitik, wie er sie auf der Hoßbach-Konferenz im November des Vorjahres und bei diversen nachfolgenden öffentlichen Reden dargelegt hatte, gewesen war. Als Ergebnis des Revirements vom 4. Februar 1938 wurde das bisherige Reichskriegsministerium durch das neu geschaffene Oberkommando der Wehrmacht (OKW) ersetzt, das von nun an unter der Leitung von General Wilhelm Keitel, dem Chef OKW, als Hitlers den einzelnen Wehrmachtteilen übergeordneter militärischer Stab fungieren sollte. Die Hoßbach-Niederschrift dürfte bald ein Eigenleben bekommen haben, wenngleich die ursprüngliche Aufzeichnung nie gefunden worden ist. Hitler überprüfte niemals den Entwurf, den sein Adjutant einige Tage nach der Besprechung angefertigt hatte. Dennoch zirkulierten bald Abschriften unter hochrangigen Wehrmachtoffizieren, unter anderem bei Generaloberst Ludwig Beck, einem der prononciertesten Führer des Widerstandes. Obwohl die »Abwehr« zu der Konferenz nicht eingeladen worden war, gelangten Abschriften des Protokolls mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlich rasch in die Hände von Canaris und Oster, die mit Generaloberst Beck auf vertrautem Fuß standen. In weiterer Folge verliert sich die Spur des Protokolls, doch bestätigt einiges die Ansicht jener Historiker, die behaupten, die »Abwehr« habe eine Abschrift  – angeblich durch einen katholischen Priester – dem amerikanischen Botschafter in Frankreich, William C. Bullitt, einem engen Vertrauten von US-Präsident Franklin Delano Roosevelt, zugespielt. Darüber hinaus wird angenommen, dass die »Abwehr« weitere Ausfertigungen an hochrangige britische Geheimdienstkreise zwecks Weiterleitung nach Whitehall übergeben hat.61 Unter allen deutschen Dienststellen, die über solide Auslandskontakte verfügten, hob sich die »Abwehr« als die zuverlässigste und zugleich als jene hervor, die vergleichsweise sicher vor Nachstellungen der Gestapo war. Der einzige potenzielle Gegenspieler der »Abwehr«, das Auswärtige Amt, stand inzwischen unter der Leitung von Joachim von Ribbentrop  – ein überzeugter Nationalsozialist, der gerade seine Amtszeit als deutscher Botschafter in Großbritannien beendet hatte. Am 24.  November 1945 legte die Anklage im Nürnberger Prozess eine mehrere – 58 –

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Jahre nach 1937 geschriebene Ausfertigung des Hoßbach-Protokolls als Beweismittel vor. Kein einziger Angeklagter bestritt dessen Authentizität, wohl aber spielten einige dessen Genauigkeit und Bedeutung herunter. Unter den überzeugten Widersachern der NS-Führung befand sich 1937 und danach eine aus höheren deutschen Zivilbeamten und Wehrmachtsoffizieren bestehende Gruppe. Sie alle waren überzeugt, dass die aggressive Außen- und Militärpolitik des »Dritten Reiches« früher oder später zu einem ausgedehnten europäischen Krieg führen musste – wahrscheinlich sogar zu einem Zweifrontenkrieg, den Deutschland nicht gewinnen konnte. Zum Führungszirkel des zivilen Widerstands zählte der populäre Carl Friedrich Goerdeler, der 1930 zum Oberbürgermeister Leipzigs gewählt worden war und als Reichspräsident in einem Nach-NS-Deutschland gehandelt wurde. Goerdeler ist oft als die »treibende Kraft« des Widerstands beschrieben worden – ungeachtet seiner zutiefst konservativen Weltanschauung.62 Generaloberst Ludwig Beck, Generalstabschef des Heeres bis August 1938, als er durch General Franz Halder ersetzt wurde, stand an der Spitze des militärischen Widerstandes. Zu den Widerstandszirkeln dieser Zeit zählte ferner Oberst Hans Oster, Stellvertreter von Admiral Canaris in der »Abwehr« und, wie wir schon sahen, ein unverblümter Kritiker der NS-Führung. Für die oppositionellen Zirkel galt der Einmarsch in Österreich und die aus Hitlers Forderungen gegenüber der Tschechoslowakei folgende notorische Krise als Startsignal für ihr Bestreben, die NS-Regierung zu stürzen, bevor deren riskante Außenpolitik zu einem Zweifrontenkrieg führen konnte, auf den die Wehrmacht damals in keiner Weise vorbereitet war.63 Im Sommer und Herbst 1938 plante diese oppositionelle Gruppe einen mit militärischen Mitteln auszuführenden Staatsstreich, in dessen Verlauf die NSFührung verhaftet werden sollte. Man muss sich die Bedeutung dieses frühen Zeitpunkts von derlei Bestrebungen ins Gedächtnis rufen, weil sie verdeutlicht, dass sich Widerstand gegen Hitler nicht erst in der zweiten Kriegshälfte regte, als der Krieg offenkundig verloren war. Ganz im Gegenteil hatte die militärische und politische Opposition mit ihren Planungen zum Sturz Hitlers mehr als ein Jahr vor Beginn des Krieges begonnen. Unglücklicherweise beschlossen die britische und die französische Regierung, Hitlers Forderungen vollständig zu akzeptieren und auf der Münchener Konferenz vom September 1938 der Zerstückelung der Tschechoslowakei ohne Blutvergießen zuzustimmen.64 Diese widerstandslose Auslieferung der Tschechoslowakei an Hitler durch die Alliierten zwang den Widerstand zu einer Verschiebung seiner militärischen Umsturzpläne. – 59 –

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Es wäre tatsächlich nahezu aussichtslos gewesen, gegen ein Regime zu putschen, dessen höchst riskante Politik bei der Erlangung so bedeutsamer Zugeständnisse seitens Großbritanniens und Frankreichs derart erfolgreich war  – und dies alles ohne Krieg. Die britische und die französische Regierung waren anscheinend zu allen Konzessionen bereit, wenn nur ein Krieg vermieden würde  – vorausgesetzt, diese Konzessionen gingen einzig und allein zulasten ihres Verbündeten, den seine deutschen Besatzer bald in Tschecho-Slowakei umbenennen sollten. Die anderen Großmächte einschließlich der Vereinigten Staaten hatten Proteste gegen den »Anschluss« Österreichs unterlassen, und auch andere Mächte widersetzten sich nicht der Übergabe des Sudentenlandes und des Erzgebirges an Deutschland auf der Münchener Konferenz Anfang Oktober 1938. In weiterer Folge gelang dem »Dritten Reich« auch noch die Besetzung der sogenannten Rest-Tschechei im März 1939 – wiederum gab es keinen bewaffneten Konflikt und wenig bzw. gar keinen Widerstand anderer Staaten. Hitlers Erfolge beim Erreichen so wichtiger und historischer Revisionen der nach dem Ersten Weltkrieg abgeschlossenen Friedensverträge ohne Verwicklung in einen Krieg brachten der NS-Führung für deren weiteres Vorgehen zwei wichtige Vorteile ein. Zum einen wurde Hitler zur Fortsetzung seiner Politik der Forderungen nach territorialen Veränderungen zu seinen Gunsten ermutigt, sofern damit nur sein Versprechen einherging, dass diese aktuelle Forderung, falls ihr Folge geleistet werden würde, seine »letzte« wäre. Im Falle einer Ablehnung seines Begehrens drohte Hitler die gefürchtete militärische Macht Deutschlands einzusetzen, um seine Ziele zu erreichen. Zum anderen konnte die zivile und militärische Opposition gegen Hitler nicht im Sinne eines Umsturzes tätig werden, wenn Hitlers und seines Regimes Politik so überaus erfolgreich bei der Erreichung von Zielen zu sein schien, die ein Großteil der Deutschen als seine eigenen betrachtete   : eine grundlegende Revision des Friedensvertrages von Versailles, ohne einen kostspieligen Krieg zu riskieren. Mit der Annexion Österreichs (von den neuen Herren »Ostmark« getauft) im März 1938 und des gesamten Territoriums der früheren Tschechoslowakei im März des folgenden Jahres hatte Hitler die Bühne für seinen nächsten Schritt vorbereitet, der diesmal gegen Polen gerichtet war. Als die europäische Krise um Polen virulent wurde, setzte Hitler ein weiteres Mal auf seine alte, aber bewährte Strategie  : zu versichern, dass seine Forderung nach einer Revision der deutschpolnischen Grenze ultimativ seine »letzte« Forderung sei, deren Erfüllung alle seine Wünsche befriedigen würde. Hitler hatte freilich mittlerweile seine – 60 –

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Glaubwürdigkeit selbst bei den friedliebenden Regierungen Großbritanniens und Frankreichs verspielt. Außerdem waren die Polen nicht gewillt, sich ebenso kampflos in ihr ihnen von Hitler zugedachtes Schicksal zu fügen, wie dies die Tschechoslowaken getan hatten. Die polnische Regierung war entschlossen, sich Hitlers Forderungen zu widersetzen, und sie konnte sich auf Garantien verlassen (auch wenn sich diese später als wertlos erweisen sollten), die sie von denselben Regierungen Großbritanniens und Frankreichs erhalten hatte, die zuvor ihren demokratischen Bündnispartner Tschechoslowakei so feige an die NSDiktatur verraten hatten. Mit Wirkung vom 1.  Januar 1939 hatte Canaris Lahousen zum Leiter der Abwehr-Abteilung  II (Sabotage und Zersetzung) ernannt, womit Lahousen Oberst i. G. Helmuth Groscurth nachfolgte.65 Kurz danach unterrichtete Canaris Lahousen in privatem Rahmen über die Rolle der »Abwehr« in einem denkbaren europäischen Krieg. Im Januar 1939 beschrieb Canaris seine persönliche Überzeugung dahingehend, dass Hitlers Erfolge bei einer Totalrevision des Versailler Friedens ohne Krieg bald zu Ende sein würden, denn all jene Regierungen in Europa, die nicht mit NS-Deutschland verbündet waren, würden Hitler mittlerweile als einen »notorischen Lügner« einstufen.66 Wenngleich schlecht bewaffnet, seien die Polen zu entschlossenem Widerstand zu ihrer Selbstverteidigung gegen Deutschland bereit, wie groß auch immer die Hindernisse dafür sein mochten. Schließlich waren die britische und die französische Regierung nach den Enttäuschungen rund um das Münchener Abkommen zu keinen ernsthaften Verhandlungen mit Hitler mehr bereit. Die Polen würden sich vehement jeder deutschen Invasion widersetzen, und sie würden dabei darauf hoffen, dass die Briten und Franzosen sie dieses Mal nicht nur mit leeren Worten unterstützen würden. Eine breite Offensive gegen Deutschland von Westen her war das einzige Mittel, das den Briten und Franzosen zu Gebote stand. Freilich waren die Alliierten ebenso unvorbereitet wie unwillig, eine solche Offensive tatsächlich zu starten oder auch nur damit zu drohen, wenngleich sie nur so den deutschen Druck auf Polen hätten verringern können. Canaris hatte kürzlich seiner tiefen Überzeugung Ausdruck verliehen, dass jeder große Krieg in Europa mit mächtigen Gegnern Deutschlands im Westen und im Osten, also ein typischer Zweifrontenkrieg, »finis Germaniae«, das Ende Deutschlands, bedeuten würde. Canaris zufolge musste jedoch ein Sieg des Nationalsozialismus über die Alliierten eine noch größere Katastrophe für die Menschheit bedeuten  ; die geheime Mission der »Abwehr« könne daher nur darin bestehen, einen solchen Sieg zu verhindern. Die »Abwehr« durfte in ihrem – 61 –

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alltäglichen Dienstbetrieb nicht die ungesetzlichen und kriminellen Methoden der Gestapo und des Sicherheitsdienstes verwenden, denn sie war bestrebt, sich von den kriminellen Mitteln ihres tödlichen Rivalen, des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA), abzugrenzen.67 Am bedeutsamsten war Canaris’ Aussage zur geheimen Mission der »Abwehr«, einen denkbaren Sieg der Nationalsozialisten unter allen Umständen zu verhindern. Obwohl Canaris sich im Januar 1939 im privaten Rahmen gegenüber Lahousen offenbart hatte, verstand jener sehr wohl, dass Canaris identische Aussagen vis-à-vis den ungefähr 50 Widerständlern innerhalb der »Abwehr« getätigt hatte und dass er sich gegenüber all jenen, die dem Widerstand künftig noch beitreten würden, ähnlich äußern würde. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass die Mission, einen Sieg der Nationalsozialisten über die Alliierten zu verhindern, zumindest Hochverrat gegenüber der NS-Führung bedeutete. Man kann geteilter Meinung sein, ob diese Mission auch ein Verbrechen gegenüber dem deutschen Volk darstellte. Um diese Materie besser zu verstehen, muss man sich den im deutschen juristischen und philosophischen Denken tief verwurzelten Gegensatz zwischen Hochverrat und Landesverrat vergegenwärtigen. Allgemein gesagt, kann Hochverrat Akte ehrenwerten oder sogar heroischen Charakters einschließen. Landesverrat gilt hingegen generell als unehrenhaft. Oberst Oster hätte behauptet, dass die gegen das verbrecherische »Dritte Reich« gerichteten Aktivitäten des Abwehr-Widerstandes in der Tat ehrenhaft, wenn nicht gar heroisch waren  ; sie könnten daher nicht als unehrenhafter Landesverrat eingestuft werden. In Verbindung mit diesen Fragen der Bewertung von Verrat steht das prinzipielle Problem des auf Hitler geleisteten Eides. Jeder Offizier und Soldat musste nach dem Tod des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg am 2. August 1934 einen solchen Eid auf Hitler persönlich leisten. Die Verbindung der Verratsthematik mit dem besagten Eid sollte zahlreiche Offiziere lähmen, die zwar Hitler beseitigen wollten, jedoch ihre Empfindung einer doppelten Bindung an ihr geliebtes Vaterland, das sie nicht verraten wollten, und an den Diktator infolge ihrer moralischen Verpflichtung gegenüber Hitler aufgrund des ihm geleisteten Eids nicht beiseiteschieben konnten. Für Lahousen, dessen österreichische Herkunft ein etwas anderes Verständnis des verlangten Eides implizierte, sollte diese doppelte Problemstellung nicht schlagend werden. Die frühere österreichische Eidesleistung bezog sich mehr auf ein eher universelles Konzept von Loyalität gegenüber einer Autorität, ohne einer bestimmten Führungsfigur Gehorsam zu schwören. Das einschlägige – 62 –

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Denken Lahousens erhellt aus seinen Beschreibungen diverser deutscher Offiziere, einschließlich solcher der »Abwehr«, als typische »Preußen« oder »Piefke« aufgrund ihres Auftretens oder Denkens. Bemerkenswerterweise konnte sich Lahousen nicht von den alten österreichisch-ungarischen Stereotypen vom nördlichen Nachbarn lösen  ; er sah in ihnen immer noch mehr die Preußen als die Deutschen. MAD hatte übrigens in ihren ersten Berichten an ihre Vorgesetzten im französischen Nachrichtendienst ähnliche Eindrücke von Lahousen als eines österreichischen Patrioten und antifaschistischen Monarchisten festgehalten.68 Allerdings hatte Lahousen in seiner Dienststellung als Chef der AbwehrAbteilung II nur wenig Muße, sich über nationale Stereotype und theoretische Verratskonzepte den Kopf zu zerbrechen. Wenngleich die meisten führenden Köpfe sämtlicher Nachrichtendienste ihre Kriegstagebücher nicht vor Mitte August 1939 zu führen begannen, glaubten sie alle daran, dass in der zweiten Jahreshälfte 1939 die abenteuerliche Außenpolitik und die auf Expansion ausgerichteten Aktivitäten des »Dritten Reiches« zu einem neuen Weltkrieg oder wenigstens zu einem allgemeinen europäischen Krieg führen würden. Ein solcher neuer Krieg würde wahrscheinlich etwa 20 Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und der ihn beendenden Waffenstillstände vom November 1918 beginnen. Mit diesem unguten Gefühl ging die Überzeugung einher, dass nur fanatische Nationalsozialisten zu diesem Zeitpunkt einen neuen Krieg wollten, denn gleichzeitig glaubten die meisten führenden Offiziere überall in Europa einschließlich des Deutschen Reiches, dass ihr Vaterland nicht kriegsbereit sei. Freilich wollten diese Offiziere bei einer kriegerischen Verwicklung ihres Landes keineswegs abseits stehen. Folgerichtig bereiteten sich Lahousen und seine Wehrmachtskameraden nach besten Kräften auf einen von den meisten von ihnen als unabwendbar eingeschätzten Kriegsfall vor. Der innerdeutsche Widerstand wusste zudem, dass er Hitler nicht würde stürzen können, nachdem die Westmächte den »Anschluss« Österreichs hingenommen und die Tschechoslowakei in München verkauft hatten, worauf kurze Zeit später die Besetzung der »Resttschechei« folgte, ohne dass ein Schuss abgegeben wurde. Es schien also für den Widerstand keine Alternative zu einem unausweichlichen großen Krieg zu geben, der für den Spätsommer 1939 oder kurz danach erwartet wurde. Unmittelbar nach seiner Ernennung widmete sich Lahousen jenen Anforderungen, die ein wahrscheinlicher Krieg an seine Abwehr-Abteilung Sabotage und Zersetzung stellen würde. Im heutigen Sprachgebrauch der Geheimdienste würde man seine Dienststelle als die Abteilung für »schmutzige Tricks« bezeich– 63 –

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nen, denn die ihr zugedachten Aufgaben erforderten ein entsprechendes Vorgehen. Allgemein gesprochen, bestand die zutage liegende Aufgabe von Lahousens Dienststelle in der Planung, Vorbereitung und Durchführung gewaltsamer Aktionen gegen wirkliche oder potenzielle Feinde auf deren eigenem Territorium oder anderswo  ; hierzu zählten auch verdeckte Operationen. All das sollte die Fähigkeit des Feindes, der Wehrmacht Widerstand zu leisten, schwächen oder gar eliminieren. Daneben bestand der verheimlichte, aber ebenfalls wichtige Auftrag der Abteilung darin, einen Sieg des Nationalsozialismus zu verhindern. Oberst i. G. Erwin Lahousen verfügte über die geeignete Ausbildung und Erfahrung, um diesen Sabotage- und Subversionsauftrag der »Abwehr« effizient zu leiten. Darüber hinaus besaß er die persönlichen Eigenschaften und die Routine eines Truppenoffiziers, um gemeinsame Operationen mit ausländischen Verbündeten zu steuern. Zu diesen Eigenschäften zählte seine Beherrschung mehrerer europäischer Sprachen, vor allem Französisch und der osteuropäischen Sprachen Ungarisch, Polnisch und Tschechisch. Seine militärische Erfahrung erleichterte Lahousen ferner den persönlichen und gesellschaftlichen Umgang mit den ausländischen Militärattachés sowie mit hochgestellten Nachrichtendienstoffizieren aus neutralen und gegen die Westmächte eingestellten Staaten. Zu guter Letzt war Lahousen einer von nur drei österreichischen Truppenoffizieren, die 1929 im Bundesheer ein Spezialtraining mit Sprengstoffen und Zündern absolviert hatten.69 Um ihren oben beschriebenen, offenen Auftrag zu erfüllen, benötigte Lahousens Abteilung geeignete Waffen, die Mittel, um jene zu den ausgewählten Zielen zu bringen, sowie geschultes militärisches oder ziviles Personal zur Durchführung der geplanten Operationen. Zusätzlich zu den für derlei Zwecke üblicherweise verwendeten Waffen befanden sich in den Beständen der »Abwehr« daher zahlreiche Sorten Sprengstoff und dazu passende Zünder unterschiedlichster Bauart.70 Es war das Pech der Abteilung, dass nahezu alle deutschen Zünder ziemlich geräuschvoll arbeiteten und sich daher für alle jene Aufträge, die lautlose Zünder erforderten, nicht eigneten. Denn nur Geräuschlosigkeit würde keine unerwünschte Aufmerksamkeit auf die Aktivitäten der »Abwehr« lenken. Glücklicherweise entdeckte die stets um Neuerwerbungen bemühte Nachschubabteilung der »Abwehr« bald eine passende Quelle für die Beschaffung lautloser Zünder – überraschenderweise war diese Quelle die britische Sprengstoffindustrie. Die Beschaffung britischer Zünder erwies sich als eine wichtige Voraussetzung für die Durchführung der Operationen der »Abwehr«. Nach Kriegsbeginn war all dies leichter, denn nun konnte auf Beutebestände oder – 64 –

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Beschaffungen durch Lockvögel bzw. über den Schwarzmarkt zurückgegriffen werden. Auf Befehl Lahousens erhielt die beschleunigte Beschaffung lautloser britischer Zünder höchste Priorität  ; die »Abwehr« sollte solche Zünder beschlagnahmen und seine Abteilung würde innerhalb der Wehrmacht die Bestände in Verwahrung nehmen. Zwar richteten sich Lahousens Befehle nur an die Wehrmacht, nicht etwa an die SS, die Gestapo oder an irgendeine Dienststelle des RSHA, doch war es ziemlich wahrscheinlich, dass die Masse der Zünder in die Hände der »Abwehr« fiel. Ende Mai/Anfang Juni 1940 waren nämlich rund 350.000 Mann alliierter Truppen, unter ihnen der gesamte Rest der britischen Expeditionsstreitkräfte, aus Dünkirchen evakuiert worden, sie hatten jedoch vor Besteigen der Evakuierungsschiffe ihre gesamte Ausrüstung und sämtliche Waffen zurücklassen müssen. Eine weitere Möglichkeit zur Beschaffung britischer Zünder bot die Kapitulation der Garnison Tobruk gegenüber dem Afrikakorps am 21.  Juni 1942. 32.000 britische Soldaten aus allen Teilen des Empire streckten mitsamt ihrer gesamten Ausrüstung die Waffen. Die hierbei erbeuteten Zünder erwiesen sich für die Sabotageoperationen der Abwehr-Abteilung  II als überaus wichtig. Ab Frühjahr 1942 lieferten ferner fehlgeleitete alliierte Abwürfe aus Flugzeugen, deren Material eigentlich für Widerstandskämpfer in den besetzten Gebieten bestimmt war, weitere Mengen Zünder. Mit geräuschlosen britischen Zündern für ihren offiziellen Auftrag bestens versorgt, konnte die Abwehr-Abteilung  II bei der Durchführung der von Lahousen oder einem seiner Stellvertreter angeordneten geheimen Aufgaben im Widerstand auf dieselben Quellen zurückgreifen. So ist beispielsweise davon auszugehen, dass erbeutete britische Zünder aus Abwehr-Beständen bei mindestens zwei von 16 versuchten Attentaten auf Hitler im Spiel waren. Der erste dieser Versuche fand am 13.  März 1943 in Smolensk, im von den Deutschen besetzten Teil der Sowjetunion, statt. Lahousen hatte die Bombe am 7.  März selbst dorthin gebracht.71 Eine weitere Verwendung der Abwehr-Bestände an solchen Zündern ergab sich bei Stauffenbergs Versuch, Hitler am 20. Juli 1944 in seinem Hauptquartier »Wolfsschanze« zu töten. Der Zünder arbeitete reibungslos und die Sprengladung zündete genau nach Zeitplan. Allerdings tötete die Bombe Hitler nicht, denn irgendjemand von den Anwesenden hatte die Aktentasche, in der sich die Höllenmaschine befand, auf einen etwas weiter von Hitler entfernten Platz gestellt. Für etliche zeitgenössische Beobachter bestätigte der Selbstmord von Lahousens Nachfolger als Leiter der Abwehr-Abteilung II, Oberst i. G. Wessel Freiherr von Freytag-Loringhoven, am 26. Juli die Vermutungen über die Her– 65 –

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kunft des Sprengstoffs von Freytags Abteilung, die Stauffenberg die zwei von ihm am 20. Juli verwendeten Bomben übergeben hatte. Allerdings reichte die Stauffenberg zur Verfügung stehende Zeit nur zum Scharfmachen einer Bombe aus  ; dann wurde er zu einer Lagebesprechung bei Hitler gerufen. Ganz allgemein betrachtet waren britische Zünder für sämtliche Sabotageoperationen der »Abwehr« von enormer Bedeutung. Sei es im Zuge von IRA-Anschlägen auf britische Munitionsfabriken oder beim Einschmuggeln von Sprengladungen auf Frachtschiffe, die Kohle auf die belagerte Insel Malta oder anderswohin brachten  : Die »Abwehr« wusste die erbeuteten lautlosen Zünder ebenso effektiv wie tödlich einzusetzen. Auf dem Gebiet verdeckter Operationen hatte die Abteilung II noch weitere Aufgaben zu erfüllen, insbesondere die Rekrutierung, die Ausbildung und den Einsatz von Kommandos hinter den feindlichen Linien. Bereits vor der Aufstellung der Baulehrkompanie 800 in Brandenburg an der Havel Mitte Oktober 1940 hatte Lahousen Pläne zur Bildung besonders ausgewählter Kommandotrupps für einen Einsatz im Vorfeld der eigenen Truppen im Stil der Blitzkriege gewälzt. Bei der Auswahl der Angehörigen dieser Kommandos spielten sowohl deren Sprachkenntnisse als auch deren Auslandserfahrung und körperliche Tüchtigkeit die ausschlaggebende Rolle. Alle erhielten eine Fallschirmsprungausbildung, um sie leichter hinter den feindlichen Linien absetzen zu können. Ihr unorthodoxer Auftrag bestand darin, zentrale Objekte auf der Vormarschroute der Panzertruppen der Wehrmacht, wie zum Beispiel Brücken, Tunnel, Kanäle usw., zu besetzen und unter Kontrolle zu halten. Kurz vor Beginn der deutschen Offensive gegen die Niederlande am 10. Mai 1940 bemerkte man in Holland plötzlich allerorten einen starken Mangel an Polizeiuniformen. Augenscheinlich war diese Knappheit die Folge massiver Aufkäufe aus dem Ausland. Kurz vor Angriffsbeginn sah man in etlichen niederländischen Städten uniformierte holländische Polizisten, wie sie entlang von Kanälen bei wichtigen Brücken und anderen potenziellen Zielen zivile Gefangene eskortierten. Genaueres Hinsehen hätte freilich gezeigt, dass es sich sowohl bei den Gefangenen als auch bei den sie bewachenden Polizisten tatsächlich um Kommandos der »Abwehr« in einer militärischen Mission diesseits der deutsch-holländischen Grenze handelte. Sie sollten vor dem Vorrücken der Panzer der Wehrmacht zentrale Punkte besetzen. Typisch für die Aufmerksamkeit, welche die »Abwehr« selbst Details widmete, ist der Umstand, dass sowohl die bewaffneten Polizisten als auch deren angebliche Gefangene Holländisch sprechende Abwehrangehörige waren. – 66 –

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Während Lahousen die Abwehr-Abteilung II leitete, expandierten die Brandenburger von ihrer anfänglichen Kompaniestärke zu einem Bataillon, dann zu einem Regiment und schließlich bis zur Division Brandenburg.72 Divisionskommandeur war Generalmajor Alexander von Pfuhlstein, ein enger Vertrauter von Oberst Hans Oster. Der Verband stand für sämtliche Aufgaben der »Abwehr«, insbesondere für Kommandounternehmungen, zur Verfügung. Teile der Division nahmen praktisch an allen Offensiven der Wehrmacht sowohl in Westals auch in Osteuropa teil. In ihren Reihen dienten Freiwillige aus dem gesamten Reichsgebiet, aus Palästina sowie aus den früheren deutschen Kolonien in Afrika. So befehligte beispielsweise Oberleutnant Friedrich Koenen, Sohn einer Bauernfamilie aus dem ehemaligen Deutsch-Südwestafrika, die Afrika-Kompanie, deren eine Hälfte von ihrem Stützpunkt bei Neapel Ende Oktober 1941 ins libysche Tripolis verlegt wurde. Unter dem Decknamen »Dora« unternahmen rund 100  Mann dieser Kompanie, ausgerüstet mit 24 Fahrzeugen, im Juni 1942 eine über 4.000 Kilometer führende Aufklärungsfahrt von Tripolis durch die Sahara, wobei sie von antibritischen Berberstämmen unterstützt wurden. Die Fahrzeuge führten ausreichende Mengen an Treibstoff für ihre Fahrt mit. Die letztlichen Ziele des Unternehmens »Dora« waren die Bergpässe im nördlichen Algerien, in Niger und im Tschad. Die strategische Planung der Achsenmächte zielte auf die Kontrolle der Ölfelder des Nahen Ostens ab, wobei in einer Zangenbewegung der südliche Arm von Afrika und der nördliche über den Kaukasus operieren sollten. Dieser allzu ambitiöse Plan schlug freilich wegen des Mangels an ausreichenden gepanzerten Kräften der Wehrmacht sowohl beim nördlichen als auch beim südlichen Zangenarm fehl. 1942 lehnte Hitler die Forderung Rommels nach zwei zusätzlichen deutschen Panzerdivisionen für das Afrikakorps ab  ; sie hätten die bereits vorhandenen zwei deutschen und vier italienischen Panzerdivisionen im Rahmen des südlichen Zangenarms verstärken sollen. Wie auch immer, die Brandenburger beendeten das Unternehmen »Dora« erfolgreich und kehrten nach einer 4.000 Kilometer langen Fahrt sicher nach Tripolis zurück.73 Anfang 1939 und schon vorher, als Lahousen seine Abteilung  II aktiv auf ihren Kriegseinsatz vorbereitete, vergrößerte Admiral Canaris die gesamte Struktur der »Abwehr« mit Blick auf deren Mobilmachung für einen künftigen Krieg. Zu diesem Zweck verdreifachte er die Rekrutierung bzw. Dienstzuteilung sowohl von Berufs- und sogenannten Ergänzungsoffizieren als auch von Agenten bzw. Vertrauensmännern (V-Männer), die weltweit angeworben wurden. Der Führungsstab der »Abwehr« wählte diese Offiziere und Agenten sorgfältig – 67 –

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aus, wobei auf die Sprachkenntnisse der Bewerber ebenso geachtet wurde wie darauf, ja keine Nationalsozialisten einzustellen. Als sich die Krise in Europa während des Frühjahrs und Sommers 1939 verschärfte, weil Hitler die polnische Regierung bedrohte und beschimpfte, gab es bei den Nachrichtendiensten der europäischen Großmächte keinen Zweifel mehr daran, dass ein Krieg unmittelbar bevorstand. Am 12.  August versetzte Canaris die gesamte »Abwehr« in Alarmbereitschaft. Am selben Tag machte Erwin Lahousen den ersten Eintrag in das neu angelegte Kriegstagebuch seiner Abteilung II.74 Noch bedeutsamer war, dass am 23. August der sowjetische Außenminister V. M. Molotow und der deutsche Reichsminister des Auswärtigen, Joachim von Ribbentrop, in Moskau den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt unterzeichneten. Damit war der Weg zu einer neuerlichen Teilung Polens zwischen Deutschland und der Sowjetunion frei. Zur gleichen Zeit engagierten sich auch die ihren jeweiligen Botschaften in den Hauptstädten der Großmächte zugeteilten Militärattachés in Vorbereitungen für den bevorstehenden Krieg. Da sie bei Ausbruch von Feindseligkeiten selbst mit Internierung rechnen mussten, taten sowohl der französische Attaché in Berlin als auch sein deutscher Kollege in Paris alles nur Mögliche, um ihre jeweiligen Agenten zu schützen, von denen viele selbst französische bzw. deutsche Staatsbürger waren. Auch diese Agenten drohten bei Kriegsausbruch interniert zu werden. Zivile Agenten genossen zudem nicht dasselbe Ausmaß militärischer Immunität auf der Basis der Gegenseitigkeit. Vielmehr war anzunehmen, dass französische Zivilinternierte in Berlin vermutlich vom RSHA über sämtliche verdächtige Beschäftigungen und Aktivitäten brutal verhört, wenn nicht gar gefoltert werden würden. Man musste daher mit der Aufdeckung von deren verdeckten Operationen durch den Gegner rechnen, mit all den daraus resultierenden verheerenden Folgen. Folglich musste die französische Botschaft irgendetwas zum Schutz ihrer an prominenten Stellen in Berlin platzierten Agenten mit französischer Staatsbürgerschaft unternehmen. Madeleine Bihet-Richou, die damals Lahousen beruflich und privat eng verbunden war, musste Ende August 1939 schnellstmöglich versetzt werden, bevor der Krieg begann, der ihre sofortige Internierung zur Folge haben würde. Der französische Nachrichtendienst stellte sich dieser Herausforderung. Darüber hinaus war ihr Sohn Pierre krank und bedurfte umgehend ihrer Fürsorge. Am 21. August 1939 reiste MAD mit einem Schnellzug aus Berlin ab und fuhr nach Paris, um dort eine neue Verwendung zu erhalten.75 Später, im Herbst 1939, wurde sie als Angestellte eines Reisebüros nach Ungarn geschickt, wobei – 68 –

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ihr Major Kurt Fechner, der bereits zuvor der Abwehr-Dienststelle in Sofia zugeteilt worden war, dank der Vermittlung durch Oberst i. G. Erwin Lahousen behilflich war. Weder 1939 noch später befanden sich Frankreich und Ungarn miteinander im Kriegszustand. Zu Lahousens Pflichten in der »Abwehr« gehörten auch regelmäßige Inspektionsreisen zu den diversen Abwehr-Außenstellen, darunter auch nach Budapest. Folglich sollte MAD ihre extrem gefährliche nachrichtendienstliche Tätigkeit als französische Agentin in Budapest fortsetzen und so ihrem Vaterland treu dienen können – aber mit weniger Angst vor Verhaftung oder Internierung. Der Transfer von Berlin nach Budapest (mit Paris als Zwischenstation) ging glatt und erfolgreich über die Bühne und der frühere Kontakt zwischen MAD und Lahousen wurde dank des verlässlichen Majors Fechner aufrechterhalten. Am 26. August 1939 um 16.05 Uhr befahl Hitler der Wehrmacht den Angriff auf Polen für den folgenden Morgen. Umgehend wurden speziell für Fallschirmabsprünge ausgebildete Abwehr-Kommandos mittels Transportflugzeugen in Marsch gesetzt  ; diese Maschinen standen der »Abwehr« exklusiv zur Verfügung und waren auf einem Flugplatz bei Budapest stationiert. Da Mussolini postwendend Einwände gegen den Überfall auf Polen erhob, war Hitler gezwungen, seinen ersten Angriffsbefehl zu widerrufen, aber dieser Rückzieher erfolgte zu spät, um die Abwehr-Kommandos zu erreichen – sie waren schon in Polen gelandet und hatten ihre Operationen begonnen. Ein Kommando hatte bereits den strategisch wichtigen Tunnel unter dem Jablunka-Pass in den Beskiden im Süden Polens in Besitz genommen. Unter den Widerständlern in den Reihen der »Abwehr« machte sich Erleichterung breit, als Hitler in einem neuen Befehl anordnete, dass die Einheit sich vom Gegner lösen und sich durch die Slowakei, deren Regierung damals mit NS-Deutschland verbündet war, zurückziehen solle. Ein für die »Abwehr« damals typischer, im privaten Rahmen geäußerter Kommentar zu dem ursprünglichen Hitler-Befehl und dessen Rücknahme lautete  : »Das ist die Art, wie ein böhmischer Gefreiter Krieg führt.«76 Allerdings war die in den Reihen der »Abwehr« herrschende Freude über den bewahrten Frieden zumindest voreilig, wenn nicht gänzlich irreführend. Bald schon sollte Hitler einen definitiven Befehl für den Beginn des Angriffskrieges gegen Polen im Morgengrauen des 1. September 1939 erteilen – und dieses Mal wurde der Angriffsbefehl nicht widerrufen. Erneut setzten der »Abwehr« zugeteilte Junkers-52-Transportmaschinen in der Nacht vom 31.  August auf den 1.  September Luftlandeverbände der »Abwehr« an oder bei diversen strategischen Punkten in Polen ab. Bei Tagesanbruch des 1. September lief der Groß– 69 –

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angriff der Wehrmacht gegen Polen an. Zu den ersten Opfern gehörte – abgesehen von den polnischen Streitkräften  – die Zivilbevölkerung des Landes, sowohl ethnische Polen als auch polnische Juden. Verbände von SS und Gestapo gingen schon bald auf ihre eigene Art und Weise gegen beide Gruppen von Zivilisten vor. Polnische und jüdische Zivilisten in den Städten und Dörfern wurden Opfer von Luftbombardements und von Artilleriebeschuss, und Bauernhöfe polnischer oder jüdischer Eigentümer wurden in Brand gesetzt, um dem NS-Regime Raum für die Ansiedlung von Deutschen zu verschaffen, die angeblich mehr Lebensraum benötigten. Der menschliche Preis, den die Opfer zu entrichten hatten, wurde dabei ignoriert. Der Feldzug des »Dritten Reiches« mit dem Ziel der Beseitigung des europäischen Judentums, der mit den Verfolgungen nach dem 30.  Januar 1933 in Deutschland begonnen hatte, war bereits mit der ersten Deportation von 150 österreichischen politischen Häftlingen und Juden nach Dachau, dem KZ ca. 15 Kilometer westlich Münchens, am 2. April 1938 fortgesetzt worden.77 Etwa ein Drittel der Verschleppten waren österreichische Juden, von denen einige quasi doppelt gezählt worden sein mögen  – sowohl als Juden als auch wegen ihrer unterstellten Opposition gegen den Nationalsozialismus, denn ein Teil der österreichischen Juden war, entweder als Sozialisten oder als Mitglieder der Vaterländischen Front, politisch als Widersacher des Nationalsozialismus aktiv gewesen. Unter den Gefangenen befanden sich zwei künftige Bundeskanzler des Nachkriegs-Österreich  : Leopold Figl und Alfons Gorbach, die beide der national-konservativen Vaterländischen Front angehörten. Ein weiterer Nachkriegskanzler, Bruno Kreisky, der möglicherweise als Jude und sozialistischer Aktivist ebenfalls doppelt gezählt worden sein mag, stand ebenfalls auf der Liste für den ersten Transport nach Dachau, wurde dann aber aus irgendwelchen Gründen im letzten Augenblick gestrichen. In Wien hatte die Verfolgung der Juden unmittelbar nach dem »Anschluss« eingesetzt, als die Gestapo das Hotel Metropol am Morzinplatz, nördlich des Schwedenplatzes am Donaukanal gelegen, in Besitz nahm. Bis zu seiner Zerstörung im Verlauf des Krieges war das Hotel  – das nun die Büros der Gestapo beherbergte – der Schauplatz von Verhaftungen und Quälereien österreichischer Juden und anderer Regimegegner. Am Sitz des früheren Hotels Metropol befindet sich ein ständiges Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus. Österreichische Gegner des »Dritten Reiches« waren die ersten nicht deutschen Opfer, die im Frühjahr 1938, keine drei Wochen nach dem »Anschluss«, umgehend und mit größter Brutalität nach Dachau verschleppt wurden. Der – 70 –

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Gestapoterror hatte mit der Verhaftung dieser politischen Gegner begonnen und setzte sich mit steigender Intensität während der Bahnfahrt vom Wiener Westbahnhof nach Dachau fort. Dabei kam es unter den Häftlingen zu mindestens einem Selbstmord. Bis Ende 1938 waren knapp 8.000 österreichische Gefangene nach Dachau gebracht worden. Bis dahin hatte das NS-Regime bereits ein ausgedehntes Programm zum Bau zusätzlicher Gefängnisse sowie von weiteren Konzentrations‑, Arbeits- und Todeslagern sowohl in Deutschland als auch im ehemaligen Österreich (Mauthausen nördlich von Linz mit seinen Außenlagern) begonnen. Nach der Einverleibung des bisher tschechoslowakischen Sudetenlandes und des Erzgebirges in das Deutsche Reich Ende September 1938 als Folge des Münchener Abkommens wurden in diesen Gebieten weitere Lager errichtet, zum Beispiel in der früheren österreichischen Festung Theresienstadt (Terezín) 50  Kilometer nördlich von Prag und in anderen Teilen der Tschechoslowakei, nachdem diese im März 1939 ebenfalls besetzt worden war.78 In Polen begannen die Verfolgungen nach dem Sieg der Wehrmacht im Herbst 1939. In einem ersten Schritt wurden polnische Bauern von ihren Höfen vertrieben und diese niedergebrannt  ; ferner wurden polnische Juden in Ghettos deportiert, die sich in der Nähe von Fabriken in deutschem Eigentum befanden, bei denen viele jüdische Gefangene Zwangsarbeit leisten mussten. Die zwangsweise Verlegung ganzer polnisch-jüdischer Familien in die neu errichteten Ghettos war nur der erste Schritt einer erzwungenen Umsiedlung der unschuldigen Opfer in die aus dem Boden gestampften Konzentrations‑, Arbeits- und Todeslager. Freilich stand eine noch schockierendere Misshandlung von Zivilisten erst noch bevor, und diese sollte sich nicht auf die Juden Europas beschränken, wenngleich diese die hauptsächlichen Opfer der Verfolgung inklusive ihrer Ermordung darstellten. Weitere Opfer waren slawische Völker (Polen, Tschechen, Ukrainer und Russen) sowie Nichtslawen Osteuropas wie Ungarn, Roma und andere. Überzeugte Nationalsozialisten sahen in ihnen allen lediglich Untermenschen ohne Anspruch auf ein menschenwürdiges Dasein. Aus der Perspektive der NS-Ideologie verdienten diese minderwertigen Rassen im Zuge der »Neuordnung« des Nationalsozialismus nichts anderes als Verfolgung und Tod. Nur mittels solcher Methoden glaubten die Nationalsozialisten, ausreichend Raum für die angeblich überlegene arische Rasse schaffen zu können, denn diese Rasse benötigte stets mehr Lebensraum als ihre Nachbarn. Zu diesen Nachbarn zählten Polen und polnische Juden, die in ihrer Heimat jahrzehntelang gelebt hatten, ohne auch nur den Versuch einer Absperrung ihres Besitzes gegenüber jenen deutschen Siedlern unternommen zu haben, die vielfach ebenfalls seit – 71 –

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langem dort in friedlicher, wenn auch nicht immer freundschaftlicher Nachbarschaft gelebt hatten. Die ausgedehnte Gemengelage verschiedener, einander häufig bekämpfender Völker in Mittel- und Osteuropa hatte die Festlegung neuer Grenzen stets sehr schwierig gemacht, sofern es darum ging, die eine oder andere Nationalität innerhalb von Staatsgrenzen zu vereinigen und andere davon auszuschließen. Immer dann, wenn politische Erwägungen die eine oder andere indigene Nationalität gegenüber anderen bevorzugten, wurde die Grenzziehung noch komplexer und kurzlebiger, weil die benachteiligten Völker stets bestrebt waren, im eigenen Land oder im Ausland neue Verbündete zu finden. Mit deren Unterstützung sollte die in ihren Augen extrem ungerechte Behandlung durch fremde Staatsmänner revidiert werden. Da eine groß angelegte und erzwungene Umsiedlung der einen oder anderen antagonistischen Ethnie, wie sie dann nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Vertreibung der noch dort lebenden Deutschen aus Osteuropa stattfand, in der Zwischenkriegszeit noch nicht zur Debatte stand, schien das Problem unlösbar zu sein. Die Folgen waren leicht vorhersehbar. Canaris pflegte zu sagen  : »Auf dem Balkan geht immer etwas vor«, womit er Vorgänge meinte, die mit Sicherheitsfragen, Spionage, Aufruhr und sonstigen bewaffneten Konflikten oder mit Fragen zu tun hatten, welche die tief verwurzelte Feindschaft zwischen den diversen Ethnien betrafen.79 Nach der Rückkehr von MAD nach Paris plante der französische Nachrichtendienst Anfang September 1939 umtriebig ihre Entsendung auf einen neuen Posten in Osteuropa. Während des sogenannten Sitzkrieges, der dem (aus der Perspektive der Achsenmächte erfolgreichen) Abschluss des Polenfeldzuges folgte, wurde die Einrichtung eines Spionagepostens in Budapest machbar. Gefangen in einer auf reine Verteidigung ausgerichteten Haltung, waren die britische und die französische Armee Polen nicht zu Hilfe gekommen, als es von der Wehrmacht überfallen worden war. Der Slogan »Sterben für Danzig  ?« war noch immer sehr wirkungsvoll. Binnen eines Monats war Polen niedergeworfen und Hitler konnte sich danach seinen Plänen für einen Großangriff im Westen widmen. Unter allen sich bietenden Möglichkeiten schien der Standort Budapest für die französischen Spionageaktivitäten am günstigsten, zumal er direkt mit dem zuverlässigen Oberst Lahousen und indirekt mit dessen Jahrgangs- und Abwehrkameraden Major Fechner verknüpft war. Anfang Oktober 1939 war MAD bereit, ihren neuen Posten anzutreten. Der französische Nachrichtendienst beschaffte die erforderlichen Visa und sonstigen Dokumente. Nach der – 72 –

Kriegsdrohungen und Kriegsbeginn durch das NS-Regime

Verabschiedung von ihrem 1923 geborenen Sohn bestieg MAD in Begleitung eines französischen Leutnants, der keine Uniform trug, in Paris einen Zug nach Mailand und weiter nach Venedig (Italien befand sich noch nicht im Krieg)  ; dort stiegen sie in einen italienischen Zug um, der sie über den Plattensee nach Budapest brachte. Hier trafen die erschöpften Reisenden nach einer strapaziösen, mehr als dreißigstündigen Bahnfahrt ein. Erneut widmete sich MAD der Beschaffung einer Unterkunft sowie eines Büros auf der Pester Seite der Donau, nicht weit entfernt von der Budapester Residenz der »Abwehr«.80 Die deutsche Generalität hielt die Wehrmacht nach wie vor für nicht kriegsbereit und widerstrebte daher einem Angriff im Westen, was zur Folge hatte, dass dieser Angriff zwischen November 1939 und Mai 1940 mehr als zehn Mal verschoben werden musste. Oberst Oster vom Widerstand innerhalb der »Abwehr« nutzte dieses Zeitfenster für genaue und wiederholte warnende Hinweise zu der geplanten Offensive gegenüber dem mit ihm befreundeten niederländischen Militärattaché, Major Gijsbertus Jacobus Sas. Die auf die Neutralität des Landes während des Ersten Weltkrieges stolze holländische Regierung schenkte Osters Warnungen keinen Glauben. Auch die Mehrzahl der übrigen Alliierten hatte solche Warnungen erhalten  ; sie stießen dort ebenfalls auf Unglauben oder Desinteresse.

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Kapitel 5

NS-Verbrechen in Polen und gegen polnische Zivilisten

O

berst Amen setzte seine Befragung von General Lahousen mit Fragen zu den unterschiedlichen Kriegstagebüchern der »Abwehr« fort, die im August 1939 angelegt und den ganzen Krieg hindurch – oder wenigstens solange der Tagebuchschreiber als Abteilungschef fungierte  – weitergeführt worden waren. Lahousen gab an, er wisse nur wenig von dem seitens Canaris’ geführten Tagebuch, er war aber natürlich mit seinem eigenen bestens vertraut. Während der Vorbereitung auf seine Aussage vor Gericht hatte man ihm Gelegenheit gegeben, eine Kopie dieser seiner Tagebücher einzusehen. Lahousen sollte einiges schriftliche Material zu den Canaris-Tagebüchern beisteuern, und er tat dies auch  ; es ging dabei vor allem um Aufzeichnungen zu Besprechungen, an denen Lahousen entweder zusammen mit Canaris oder als dessen Vertreter teilgenommen hatte. Lahousens Antwort auf Amens Frage nach dem Zweck von Canaris’ Tagebuch war für all jene von großer Wichtigkeit, die sich um vertiefte Kenntnisse der diplomatischen, militärischen und politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts bemühten  : »Wenn ich diese Frage beantworte, muß ich sie der Wahrheit gemäß mit den Worten wiederholen, die Canaris diesbezüglich an mich gerichtet hat  : Sinn und Zweck dieses Tagebuchs war – und durch mich spricht die Stimme von Canaris – dem deutschen Volk und der Welt einmal Jene zu zeigen, die die Geschicke dieses Volkes in dieser Zeit geführt und gelenkt haben.«81 Zweifellos war sich Canaris über die historische Bedeutung all jener Ereignisse im Klaren, die er und seine Kameraden in der »Abwehr« in ihren Tagebüchern festhielten. Um dem deutschen Volk und der Welt ein Bild der NS-Führung zu vermitteln, schilderte Lahousen in weiterer Folge die diversen militärischen und politischen Aktionen des NS-Regimes unmittelbar vor Beginn des Angriffs der Wehrmacht auf Polen. Gleich zu Beginn seiner Aussage erwähnte Lahousen dabei die bestimmte Forderung des Sicherheitsdienstes (SD) bzw. des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) nach Beschaffung polnischer Armeeuniformen und Ausweispapiere für rund 125 Personen. Die kurzfristig zu erfüllende Anforderung seitens des SD nannte keinen damit verbundenen Zweck. – 74 –

NS-Verbrechen in Polen und gegen polnische Zivilisten

Die NS-Führung suchte nach einem Vorwand für den Beginn der Feindseligkeiten und wollte zugleich die Schuld am Kriegsausbruch den unschuldigen Polen in die Schuhe schieben. Daher waren Ideen seitens der einfallsreichen Offiziere des RSHA, das illegal, wenn nicht kriminell agierte, gefragt. Etwa Mitte August entwarf Reinhard Heydrich persönlich einen Plan, der anfänglich den Decknamen »Unternehmen Tannenberg« erhielt. In die Geschichte ging er unter dem Namen »Unternehmen Himmler« ein, womit anstelle eines bedeutsamen deutschen Sieges im Ersten Weltkrieg an der Ostfront der ReichsführerSS, Heinrich Himmler, geehrt werden sollte.82 Kurz gesagt, erforderte die Umsetzung des Plans die zeitweilige Überlassung von mehr als 125 politischen Gefangenen aus NS-Haftanstalten und Konzentra­ tionslagern. Die Häftlinge wurden gezwungen, polnische Armeeuniformen anzuziehen und man stattete sie mit gefälschten Ausweisen der polnischen Streitkräfte aus. Dann zwangen sie die SD-Wachen, entlang der deutsch-polnischen Grenze ausgewählte deutsche Ziele aus östlicher Richtung anzugreifen. Das Hauptziel war der Rundfunksender Gleiwitz auf deutschem Gebiet  ; daneben gab es mindestens zwei weitere wichtige Objekte. Alle Gefangenen, die an diesen Operationen teilnahmen, wurden entweder im Kampf getötet oder unmittelbar nach dessen Ende von ihren SD-Bewachern ermordet. Um alle Spuren zu verwischen, verbreitete das NS-Regime massiv falsche Behauptungen über seine Verteidigung gegen angebliche polnische Aggressionen. Lediglich in der Wolle gefärbte Nationalsozialisten glaubten die Propaganda über die Umstände des Kriegsausbruchs, wie sie der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Dr. Joseph Goebbels, in die Welt setzte.83 Bereits in einer frühen Phase des Krieges stimmten die meisten neutralen Beobachter darin überein, dass der Ausdruck »pathologischer Lügner«, den Canaris und andere Widerständler zur Charakterisierung von Hitlers Verhalten benutzten, auch für eine zutreffende Einschätzung der großen Propagandakampagnen des »Dritten Reiches« verwendet werden könne  – einschließlich des vorgetäuschten Überfalls auf den Sender Gleiwitz. Unter den gegebenen Umständen war und ist die Verbitterung der polnischen Armee über die offenkundige Verlogenheit des »Unternehmens Himmler« überaus verständlich. Begreiflicherweise waren die polnischen Streitkräfte verärgert über die kriminelle Verwendung ihrer geschätzten Uniformen und den damit verbundenen Mord an 125 politischen Häftlingen, die zuvor in Gefängnissen und Konzentrationslagern NS-Deutschlands gefangen gehalten worden waren. – 75 –

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Eingangs seines Verhörs stellte Oberst Amen Lahousen einige Fragen zu den in Hitlers Sonderzug am 12.  September 1939, unmittelbar vor der massiven Bombardierung bzw. Beschießung Warschaus, abgehaltenen Besprechungen.84 Unter den verschiedenen Aspekten, die Lahousens Aussage über den Polenfeldzug beinhaltete, waren die Fragen, was dabei gesprochen wurde und welcher der anwesenden NS-Führer was gesagt hatte, von besonderer Bedeutung. Denn Lahousen war Augen- und Ohrenzeuge der diversen Gespräche in dem Sonderzug gewesen, an denen sich unter anderem zwei der Hauptangeklagten, der damalige Außenminister Joachim von Ribbentrop und der Chef des OKW, Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, beteiligt hatten. Am Freitag, dem 30. November 1945, machte Lahousen als Augenzeuge der Besprechungen in Hitlers Sonderzug vom 12.  September 1939 seine Aussage. Später an diesem Tag und am folgenden Vormittag wurde er hierzu von Dr. Otto Nelte (Verteidiger Keitels) und Dr. Friedrich Sauter (Verteidiger von Ribbentrops) ins Kreuzverhör genommen. Die Zeit, die sowohl die Anklage als auch die Verteidigung diesen Erörterungen widmeten, unterstreicht deren Stellenwert. Mit seinen ruhigen, überzeugenden Antworten auf die Fragen des Anklägers und der beiden Verteidiger Nelte und Sauter unterstrich Lahousen seine Bedeutung als Augenzeuge zur Untermauerung der Vorwürfe gegen die Angeklagten Keitel und Ribbentrop nach Punkt 1 der Anklageschrift (Verbrechen der Verschwörung zur Führung eines Angriffskrieges) und sowie nach Punkt 3 (Kriegsverbrechen).85 Lahousens Aussage zufolge fand die Konferenz im Sonderzug am 12.  September 1939 zu einem kritischen Zeitpunkt während des Polenfeldzuges statt, der insgesamt nur 36 Tage, bis zum 6. Oktober, dauern sollte. Die an diesem Tag erörterten drei bedeutsamen Fragen beschrieb Lahousen wie folgt  : 1. Pläne für Luftangriffe und artilleristische Beschießung ziviler Wohngebiete innerhalb der Stadt Warschau, 2. Aktivierung ukrainischer irredentistischer Gruppierungen zu Angriffen auf polnische Truppenverbände, polnische Zivilisten und Juden sowie 3. Niederbrennen polnischer Bauernhöfe, Tötung polnischer und jüdischer Zivilisten. Gegen die Bombardierung bzw. Beschießung Warschaus hatten sich sowohl Canaris als auch Lahousen gegenüber Keitel mit Vehemenz ausgesprochen. Sie argumentierten, diese Maßnahmen würden unweigerlich Zehntausende polni– 76 –

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sche Zivilisten töten oder verwunden und so das Ansehen der Wehrmacht schädigen. Damit drangen sie jedoch nicht durch. Keitels kurze Antwort bestand laut Lahousen darin, dass die Beschießung »bereits entschieden worden sei«  – was bedeutete  : von Hitler selbst. Binnen Stunden befahl Göring den Junkers-87 Sturzkampfbombern (Stukas) der Luftwaffe die Bombardierung Warschaus  – mit den erwarteten hohen zivilen Verlusten. Später versuchte Dr. Nelte zu argumentieren, diese Opfer wären im Fall einer rechtzeitigen und bedingungslosen Übergabe der Stadt durch ihre Verteidiger vermeidbar gewesen. Der Gerichtshof nahm diese Behauptung alles andere als wohlwollend auf. Über den zweiten Fragenkomplex wurde etwas später am selben Tag in Keitels Abteil des Sonderzuges gesprochen. Diesmal ging es um allgemeine politische Direktiven »zur Behandlung des polnischen Problems vom Gesichtspunkt der Außenpolitik«. Ribbentrop hatte solche Richtlinien erlassen und Keitel kommentierte sie mit eigenen Zusätzen. In diesem Zusammenhang sagte Lahousen aus, was Canaris ihm wiederholt über die ihm gegenüber erteilten Befehle Keitels, die von Ribbentrops Richtlinien noch ausweiteten, berichtet hatte  :86 »Es wurde Canaris aufgetragen, in der galizischen Ukraine eine Aufstandsbewegung hervorzurufen, die die Ausrottung der Juden und Polen zum Ziele haben sollte.«

Lahousen fasste dann die in der dritten Besprechung in Hitlers Zug an diesem Tag erteilten Anweisungen zusammen. Ribbentrop hatte sie herausgegeben, und sie gaben die typisch nationalsozialistische Sicht auf die im Polenfeldzug zu erreichenden Ziele mit den Worten wieder  : »Polnische Bauernhöfe sollen in Flammen aufgehen und alle Juden sollen getötet werden.«87 Die Order ging von Ribbentrop zum OKW und dann weiter über Keitel zu Canaris. Dieser und Lahousen unterließen sämtliche Schritte, den Auftrag durch Operationen der »Abwehr« umzusetzen. Die standardmäßige Rechtfertigung lautete, die »Abwehr« sei eine geheimdienstliche Organisation und nicht für Mord zuständig. Als Antwort auf eine im Kreuzverhör von Dr. Sauter, dem Verteidiger Ribbentrops, gestellte Frage gab Lahousen an, er habe Ribbentrops Anordnungen, polnische Bauernhöfe niederzubrennen und Juden zu töten, nicht in seinem eigenen Tagebuch festgehalten. Dennoch sei er sich absolut sicher, dass Canaris ihm gegenüber Ribbentrops Worte mehrfach wiederholt hatte. Seine Erinnerung daran sei absolut klar und unzweifelhaft. An dieser Stelle muss man erwähnen, dass die im amerikanischen und britischen Rechtswesen geltenden Beweis– 77 –

NS-Verbrechen in Polen und gegen polnische Zivilisten

regeln, insbesondere die Nichtzulassung von Zeugenaussagen vom Hörensagen, im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess sowie in den weiteren frühen Verfahren gegen NS-Beschuldigte als nicht anwendbar eingestuft wurden.88 Am 1.  September 1939 begann der Überfall der Wehrmacht auf Polen aus drei verschiedenen Richtungen  : Ostpreußen im Norden, Pommern und Brandenburg im Westen und aus der ehemaligen Tschechoslowakei im Süden. Die polnische Armee konzentrierte ihre tapferen, aber schlecht bewaffneten und unzureichend ausgerüsteten Truppen nahe an den Grenzen, was den gepanzerten Stoßkeilen der Wehrmacht deren Umgehung und Einkesselung erleichterte. Die Elite der 30 Divisionen zählenden polnischen Armee waren ihre 11 Kavallerie-Divisionen, denen einige veraltete und langsame Panzer zugeteilt wurden. Keiner davon konnte es auch nur mit den kleinsten deutschen Panzern aufnehmen. Noch immer erregen die Bilder tollkühner polnischer Kavallerie-Attacken mit ihrem Versuch, durch Pferde einen deutschen Panzer- und Infanterieangriff zu stoppen, unsere Fantasie. Tatsächlich war es ein ausgedehntes, grausames Massaker. Obwohl sich die Polen heldenmütig gegen alle Widrigkeiten zur Wehr setzten, wurden sie von den überlegenen Kräften, Waffen und Kampftechniken der Wehrmacht überwältigt. Zwei Wochen später traf es dann auch die Polen im Osten des Landes, welche die dort einmarschierende Roten Armee überrollte. Die Angriffe der deutschen Luftwaffe auf polnische Städte begannen ohne jegliche Beschränkung auf rein militärische Ziele ebenfalls am Morgen des 1. September, und sie steigerten sich, als die Kämpfe andauerten. Mit ihren nur 200 einsatzbereiten Maschinen wurden die polnischen Luftstreitkräfte rasch durch die rollenden Angriffe der Luftwaffe ausgeschaltet. Die polnischen Piloten setzten sich couragiert gegen die deutschen Jäger und Sturzkampfbomber (die Junkers-87-Stukas) zur Wehr. Vielen überlebenden polnischen Jagdfliegern gelang es gegen Ende des Polenfeldzuges, der Internierung als Kriegsgefangene zu entgehen. Vielen glückte insbesondere durch Rumänien die Flucht aus ihrem nun vom Feind besetzten Land. Sie spielten später eine bedeutsame Rolle als Piloten von »Spitfires« und »Hurricanes« der Royal Air Force, mit denen sie an der sechsmonatigen Luftschlacht um England (Mai bis Oktober 1940) teilnahmen und gegen ihre alten Feinde, die Stukas und Messerschmidt-ME-109-Jäger der Luftwaffe, kämpften.89 Am 12. September 1939 hatte Hitler seinen Zug etliche Kilometer vor der belagerten Stadt Warschau anhalten lassen. Er befasste sich mit Planungen einer Zerstörung der Stadt durch Luftangriffe und Artilleriebeschuss unter Inkauf– 78 –

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nahme hoher ziviler Verluste, es sei denn, die polnische Garnison würde augenblicklich kapitulieren. Da die Luftwaffe eifrig bestrebt war, ihre Fähigkeiten durch Einsätze gegen wehrlose, mit zivilen Flüchtlingen überfüllte Städte unter Beweis zu stellen, ist es zweifelhaft, dass selbst eine sofortige Kapitulation die Luftangriffe verhindert hätte.90 Die Bombardements gingen bis zur letztlichen Übergabe der zerstörten Stadt weiter  ; Zehntausende getötete oder verwundete polnische Zivilisten waren das Ergebnis. Deutsche wie sowjetische Militärs fürchteten Angriffe auf die von ihnen kontrollierten rückwärtigen Gebiete. Die Deutschen befürchteten auch eine britisch-französische Offensive im Westen und damit die Eröffnung eines Zweifrontenkrieges. Die Polen wiederum sorgten sich um einen Einmarsch der Roten Armee von Osten her, der dann tatsächlich am 17. September 1939 einsetzte, als die polnische Armee mit der Verteidigung Warschaus gegen die Deutschen vollauf beschäftigt war  – kein Wunder, dass der polnische Widerstand gegen die Sowjets nur schwach ausfiel. Der alliierte Angriff im Westen sollte erst Jahre später beginnen, nämlich im Juni 1944 (D-Day, 6. Juni), nachdem die Alliierten zuvor aufgrund der deutschen Siege vom Mai und Juni 1940 über Frankreich, Belgien und die Niederlande den Kampf um Europa zunächst verloren hatten. Dieser Niederlage war die erzwungene, aber erfolgreiche Evakuierung des Britischen Expeditionskorps und eines Teils der französischen Streitkräfte aus Dünkirchen gefolgt. Eine der weniger bekannten Facetten der September-Offensive der Wehrmacht gegen Polen war auf deutscher Seite der großflächige Einsatz gepanzerter Züge für Zwecke militärischer Befehlsgebung und des Nachrichtenwesens. Als er die Besprechungen vom 12. September schilderte, enthüllte Lahousen auch diese wichtige Rolle von Hitlers Sonderzug. Der intensive Ausbau des Eisenbahnnetzes in großen Teilen Europas rund um 1900 erlaubte nicht nur eine raschere Mobilisierung von Reserven, sondern erleichterte auch die Kommandoführung über vorrückende Truppen. Bis 1939 hatte sich die Verwendung militärischer Züge für diese Zwecke allgemein durchgesetzt  ; man verwendete sie in Kriegszeiten oder bei größeren Aufständen, also immer dann, wenn die Befehlshaber sich rasch von Ort zu Ort bewegen mussten. Solche Züge konnten ihre Passagiere rasch, buchstäblich über Nacht, zu neuen Brennpunkten des Geschehens transportieren. Dabei erfreuten sich die hochrangigen Passagiere eines vergleichsweise hohen Komforts sowie relativer Sicherheit und Schutzes, den mit den modernsten Waffen ausgerüstete Elite-Wachtruppen garantierten. Falls erforderlich, konnten sich diese Züge der feindlichen Luftaufklärung – 79 –

NS-Verbrechen in Polen und gegen polnische Zivilisten

durch Einfahren in Tunnels oder durch das Anbringen von Tarnnetzen entziehen. Während des Zweiten Weltkriegs konnte es kein anderes Transportmittel hinsichtlich Mobilität rund um die Uhr und Sicherheit mit der Eisenbahn aufnehmen – wenigstens nicht bis zum Beginn des Krieges gegen die UdSSR am 22.  Juni 1941. Die auf diesem ausgedehnten Kriegsschauplatz zurückzulegenden großen Entfernungen eigneten sich nicht für die Verwendung der Sonderzüge, sondern erforderten Transportflugzeuge wie die zuverlässige Junkers-52 (Tante Ju) der Luftwaffe oder vergleichbare Maschinen auf sowjetischer Seite. Dem Amt Ausland/Abwehr stand ein eigener spezieller Zug zur Verfügung, den Canaris und seine höheren Stabsoffiziere auch regelmäßig nutzten. Kurz nach der deutschen Einnahme der westpolnischen Stadt Posen (Poznan) traf der Abwehr-Zug dort und damit in Frontnähe ein. Damit sollte die Befehlsgebung seitens der »Abwehr« erleichtert werden  ; der zweite, unausgesprochene Zweck bestand darin, mit dem polnischen Nachrichtendienst längerfristige geheimdienstliche Verbindungen aufzubauen. Ein weiterer Aspekt des Polenfeldzuges waren die von der »Abwehr« organisierten diversen ukrainischen nationalistischen Gruppierungen. Bei seiner Aussage in Nürnberg bezifferte Lahousen deren Gesamtstärke auf zwischen 500 und 1.000  Mann.91 Solche Einheiten konnten hinter den feindlichen Linien durch Sabotageakte viel Schaden anrichten. Viele dieser ukrainischen Nationalisten stammten aus dem galizischen Teil Polens, andere hatten sich freiwillig gemeldet, um aus deutschen Konzentrationslagern entlassen zu werden. Angehörige jener Gruppen, die ein irredentistisches Programm verfochten, waren dazu prädestiniert, gleich wie die SS, der SD oder die Gestapo diverse Verbrechen zu begehen. Die »Abwehr« musste folglich auf die Kontrolle der mit ihr verbündeten ukrainischen Nationalisten große Anstrengungen verwenden und dabei viel Vorsicht walten lassen. Abgesehen von den anhaltenden Säuberungsunternehmen durch die Wehrmacht und die Rote Armee endete der Polenfeldzug am 6. Oktober 1939. Die offiziellen Verluste der Wehrmacht betrugen 10.572 Gefallene, 30.322 Verwundete und 3.409 Vermisste. Die polnischen militärischen Verluste betrugen rund 70.000 Gefallene und 133.000 Verwundete, zu denen rund 700.000 Gefangene hinzukamen, die in deutsche Kriegsgefangenenlager gebracht wurden. Die Rote Armee nahm rund 217.000 polnische Soldaten, unter ihnen ca. 20.000 Offiziere, gefangen, die in entsprechende Lager transportiert wurden. Diese Zahlen schließen jene zivilen Opfer nicht ein, die als Folge deutscher oder sowjetischer Beschießungen städtischer oder ländlicher Gebiete getötet bzw. verwundet worden waren.92 – 80 –

NS-Verbrechen in Polen und gegen polnische Zivilisten

Die brutale Okkupation Polens hatte so mit den Siegen NS-Deutschlands und der Sowjetunion über die heillos unterlegene polnische Armee begonnen. Über die Tötung polnischer Juden hinaus strebte die NS-Führung die totale Kontrolle über die polnische Zivilbevölkerung an  ; sie annektierte das westliche Polen und den polnischen Korridor, den die Friedensverträge nach dem Ersten Weltkrieg geschaffen hatten, und erweiterte die Provinz Ostpreußen in südlicher Richtung beinahe bis zu den nördlichen Vorstädten Warschaus. Was von Polen nach den Annexionen durch Deutschland und die UdSSR noch übrig war, wurde der Verwaltung durch das sogenannte Generalgouvernement mit Regierungssitz in Krakau unterstellt. Als Generalgouverneur amtierte Hans Frank, einer der 21 Angeklagten von Nürnberg. Er richtete seinen Amtssitz auf dem Krakauer Wawel ein. Auch die von den Sowjets besetzten Gebiete im östlichen Polen und die dort lebenden Menschen wurden einer strengen Herrschaft durch die Rote Armee und die sowjetische Zivilverwaltung unterworfen. In ganz Polen – sowohl in den annektierten Gebieten als auch im Generalgouvernement  – richtete das NS-Regime zahlreiche Gefängnisse sowie Konzentrations‑, Arbeits- und Todeslager ein. Unter den sechs während dieser Jahre erbauten oder umgebauten, großen Konzentrations- und Vernichtungslagern befand sich der Lagerkomplex Auschwitz (Oswiecim), die Lager Belzec, Majdanek, Sobibor (Wlodawa), Treblinka, Lublin und Chelmno (Kulmhof ) am Fluss Ner.93 Zu den meisten dieser Lager gehörten zahlreiche Außenlager. Auschwitz, das größte der sechs polnischen Lager, umfasste drei Hauptlager, darunter Auschwitz II/Birkenau (das Vernichtungslager), und mehr als 20 Außenlager. Vom 14. Juni 1940, als die SS den ersten Transport polnischer Gefangener dorthin sandte, bis zur Befreiung des Lagers durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 deportierte die SS mehr als 1,1 Millionen Juden, 150.000 Polen, 23.000 Sinti und Roma sowie 15.000 sowjetische Kriegsgefangene und viele andere in den Komplex Auschwitz. Die Mehrzahl dieser Häftlinge wurde von der SS ermordet oder starb während des Lageraufenthaltes als Folge von Misshandlungen oder Krankheiten. In den polnischen Städten und Dörfern begann die deutsche Besatzung typischerweise mit der Verhaftung oder der Ermordung des Bürgermeisters, der Priester, Lehrer und sonstiger Angehöriger der Intelligenzschichten und der medizinischen Berufe. Das Ziel, das die Nationalsozialisten mit diesen Verhaftungen und Morden verfolgten, war die Auslöschung der polnischen Intelligenz  ; wenigstens sollte deren Zahl und Bedeutung drastisch verringert werden. Zusammen mit dem flächendeckenden Niederbrennen polnischer Dörfer und der – 81 –

NS-Verbrechen in Polen und gegen polnische Zivilisten

Tötung polnischer Zivilisten und Juden wurden solche Festnahmen und Hinrichtungen durch die von Ribbentrop am 12. September 1939 in Hitlers Sonderzug erlassenen Direktiven befürwortet. Lahousens Aussage im Nürnberger Prozess hatte eine unzweideutige Verbindung zwischen Ribbentrop und Keitel einerseits und der verbrecherischen Politik des »Dritten Reiches« insbesondere gegenüber polnischen Zivilisten und Juden andererseits hergestellt. Der Unterschied in der Behandlung dieser beiden Opfergruppen durch die Nationalsozialisten bestand darin, dass sie bestrebt waren, alle für sie erreichbaren Juden Europas, nicht nur die polnischen, auszurotten – sei es durch Erschießen der Opfer in oder vor ihren Häusern oder durch Deportation in die Konzentrations‑, Arbeits- und Todeslager, wo sie dann getötet wurden. Demgegenüber war die restlose Auslöschung der gesamten polnischen Zivilbevölkerung, die 1939 rund 30 Millionen Menschen zählte, schlechterdings nicht durchführbar, auch wenn vielleicht der eine oder andere NS-Führer davon geträumt haben mag. Diese Unmöglichkeit hielt das Regime aber nicht davon ab, weiterhin sein Ziel zu verfolgen, so viele Polen wie möglich zu töten, um »Lebensraum« für neue deutsche Siedler zu schaffen. Davon betroffen waren insbesondere Angehörige der polnischen Intelligenzschichten sowie zahlreiche andere polnische Zivilisten. Zuverlässige Schätzungen setzen die Zahl der während des Zweiten Weltkriegs ums Leben gekommenen polnischen Zivilisten mit rund sechs Millionen an, darunter ca. zwei Millionen Juden. Einzelbeispiele veranschaulichen am besten die Bedeutung und die Auswirkungen dieser Morde an Millionen unschuldiger Menschen. Die Verfolgung und Ermordung der polnischen Intelligenzschicht setzte praktisch unmittelbar mit dem Eintreffen von SD und Gestapo in den von der Wehrmacht eroberten Städten Polens ein. Am 13. September 1939 übernahm die Gestapo das Haus Pomorska-Straße 2 in Krakau. Das als Schlesien-Haus bekannte Gebäude war zwischen 1931 und 1936 errichtet worden und diente als Herberge für junge Polen aus der Provinz Schlesien. Die Gestapo funktionierte die frühere Jugendherberge rasch zum Sitz ihrer Büros und Verhörzellen um. Im Keller befand sich ein Gefängnis, im ersten und zweiten Stock lagen die Verhörzellen und darüber wiederum die Büroräume. Mit dieser funktionalen Nutzung ähnelte das Schlesien-Haus dem früheren Hotel Metropol in Wien, das die Gestapo im Zuge des »Anschlusses« Österreichs am 12.  März 1938 in ihre Hand gebracht hatte. Im ehemaligen Schlesien-Haus hielt die Gestapo viele Tausend Polen, polnische Juden und Angehörige weiterer Ethnien gefangen und unterwarf sie intensiven Verhören und Folterungen  ; danach wurden sie entwe– 82 –

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der hingerichtet oder in Konzentrationslager verschleppt. Nach Ende des Krieges wandelten die polnischen Behörden dieses einstige Gestapo-Hauptquartier in ein Museum über die grausamen Geschehnisse um, das eine Dauerausstellung »Krakau 1939–1956« zeigte, worin der NS-Völkermord und der Holocaust zwischen 1939 und 1945 einen prominenten Platz einnahmen. Nach dem Fall des Kommunismus wurde die Ausstellung um die Verbrechen der Kommunisten in der Zeit 1945 bis 1956 erweitert.94 Für den 6. November 1939 berief die Gestapo eine Zusammenkunft sämtlicher Lehrkräfte der berühmten Krakauer Jagiellonen-Universität in einen großen Vorlesungssaal ein  ; alle Lehrenden waren zum Erscheinen verpflichtet. Ohne jegliche Vorwarnung eröffneten die anwesenden Gestapo-Offiziere die Versammlung mit der Ankündigung, dass alle Lehrkräfte ab sofort verhaftet seien und in das KZ Sachsenhausen in Deutschland verschickt werden würden. Nur wenige unter den Opfern überlebten diese sich über die folgenden Monate erstreckende Inhaftierung.95 Wie erwähnt, hatte der gegen die polnische Intelligenz gerichtete Feldzug der NS-Diktatur schon kurz nach Kriegsausbruch begonnen und sich in weiterer Folge noch erheblich gesteigert. Diese sogenannte Intelligenzaktion setzte im Herbst 1939 ein und dauerte bis zum Frühjahr 1940. Ihr fielen rund 60.000 polnische Zivilisten zum Opfer, insbesondere Adelige, Lehrer, Unternehmer, in sozialen Berufen Tätige, Geistliche, Richter und politisch aktive Personen. Während diese mörderische Aktion im Winter 1939–1940 lief, planten die NSFührer bereits weitere Maßnahmen gegen die polnische Intelligenz. Die neue Aktion stand unter der Leitung von Hans Frank, der als Generalgouverneur auf dem Krakauer Wawel residierte. Frank genehmigte den als Außerordentliche Befriedungsaktion (AB-Aktion) bezeichneten Plan am 16.  Mai 1940, eine knappe Woche nach Beginn der deutschen Westoffensive gegen Frankreich, Belgien und die Niederlande. Dieses zeitliche Zusammentreffen war kein Zufall, denn es verschaffte den NS-Führern die Ausrede, jede denkbare polnische Erhebung während der Westoffensive unterdrücken zu müssen. Unter den ungläubigen Augen der westlichen Welt überrollte der Blitzkrieg der Wehrmacht die niederländischen, belgischen und französischen Streitkräfte sowie das Britische Expeditionskorps (BEF). Hitlers Entscheidung, die Beseitigung des Kessels von Dünkirchen der deutschen Luftwaffe und der Infanterie zu überlassen, führte dazu, dass Guderians Panzertruppen, die nur 20 Kilometer von Dünkirchen entfernt standen, für vier Tage angehalten wurden  ; danach befahl Hitler den Panzern Guderians, sich nach Westen zu wenden und der – 83 –

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besiegten französischen Armee den Rest zu geben. Diese von Hitler verfügten Änderungen des deutschen Operationsplanes erlaubten es der britischen Marine, mit ziviler Hilfe rund 225.000 Mann der BEF sowie 135.000 französische Soldaten durch Evakuierung nach England zu retten. Die Franzosen wurden im nicht besetzten Frankreich an Land gebracht, um dort gegen die Wehrmacht zu kämpfen  ; viele von ihnen ergaben sich jedoch binnen zwei Wochen. Hätten die deutschen Panzer Dünkirchen dem Operationsplan gemäß eingenommen und wäre die heroische Evakuierung über See verhindert worden, hätten die Deutschen vermutlich die Mehrzahl der 225.000 Mann der zwölf Divisionen der BEF, des Kerns der britischen Streitkräfte, gefangen genommen. Erschreckend ist der Gedanke, dass die Briten in diesem Fall zu einem Verhandlungsfrieden mit Hitler gezwungen gewesen wären. Gleichzeitig hatte das RSHA in Polen die AB-Aktion mit neuerlichen landesweiten Verhaftungen von rund 30.000 Intelligenzlern begonnen. Viele von ihnen wurden in die Konzentrationslager Sachsenhausen in Deutschland, Mauthausen in der »Ostmark« sowie in das neue Lager Auschwitz (Oswiecim), 30  Kilometer westlich von Krakau in dem von Deutschland annektierten Teil Polens gelegen, eingeliefert. Gegen 7.000 festgenommene Angehörige der Intelligenzschicht ordneten die NS-Verantwortlichen eine spezielle Behandlung an  : Diese Personen, unter ihnen viele polnische Juden und katholische Geistliche, von denen viele als »Kriminelle« eingestuft wurden, wurden im Wald von Palmiry bei Warschau und an zwei weiteren Orten summarisch hingerichtet. Das Vorgehen begründete die SS damit, dass die Verschickung einer so großen Zahl in die KZs zu kompliziert gewesen wäre. Die SS-Befehlshaber sorgten sich zudem mehr um den emotionalen Zustand ihrer Männer in den Exekutionskommandos als um das Schicksal der Opfer. Aus diesem Grund stellte die NSFührung ihnen große Mengen an Alkohol zur Verfügung, welche die emotionalen Belastungen rund um die Ermordung unschuldiger Opfer lindern sollten. Ähnlich verfuhr man später während des Russlandfeldzugs mit den Freiwilligen der SS-Einsatzgruppen  : Sie erhielten zunächst viel Alkohol und dann den Befehl, jüdische Männer, Frauen und Kinder zu erschießen, die danach sofort in Massengräbern außerhalb ihrer Wohnorte verscharrt wurden. Eines der Opfer der AB-Aktion war der polnische Olympia-Teilnehmer Janusz Kusocinski. Er hatte bei den Olympischen Sommerspielen 1932 in Los Angeles die Goldmedaille im 10.000-Meter-Lauf sowie weitere Medaillen über Langstrecken gewonnen. Beim Überfall Deutschlands auf Polen am 1. September 1939 meldete er sich freiwillig zur polnischen Armee und wurde zweimal – 84 –

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verwundet. Nach seiner Verhaftung durch die Gestapo am 26. März 1940 im Rahmen der AB-Aktion wurde er von der SS am 21. Juni 1940 im Wald von Palmiry erschossen. Sie beschuldigte ihn, der deutschen Besetzung des Landes Widerstand geleistet zu haben, und ermordete Kusocinski als Teil ihres Vorhabens zur Eliminierung führender polnischer Intellektueller, einschließlich berühmter Sportler.96 Trotz fortgesetzter Verfolgungen, Verhaftungen und Morde an Polen und Juden konnten die Sicherheitskräfte des »Dritten Reiches« nicht verhindern, dass Polen und Juden, wenn auch getrennt, insbesondere in Warschau Widerstand leisteten. Die SS schlug sowohl den jüdischen Ghetto-Aufstand vom April 1943 als auch die Erhebung der Polnischen Heimatarmee in Warschau vom 5.  August bis 26.  September 1944 brutal nieder  ; sämtliche Überlebende beider Aufstände wurden gnadenlos ermordet. Ein zeitgenössischer Bericht der SS für SS-Gruppenführer Jürgen Stroop, der später während des Nürnberger Prozesses verwendet wurde, bezeichnete die Zerstörung des jüdischen Ghettos als »Kampf«, obwohl die beteiligten Verbände der Waffen-SS die Vernichtung von 65.000 Juden bei nur 16 eigenen Verlusten gemeldet hatten. Der spätere Kampf in Warschau Mitte 1944 zwischen der Waffen-SS und der polnischen Heimatarmee verlief noch einseitiger  : Hatten die Sowjets zunächst zu dem Aufstand ermutigt, als ihre Truppen die Weichsel beim Warschauer Stadtteil Praga erreicht hatten, konnte die SS die Morde an den Polen, einschließlich vieler Zivilisten, dann ohne jede Intervention seitens der am anderen Flussufer stehenden Roten Armee verüben. Während ihrer Rückeroberung der Warschauer Altstadt töteten die durch ukrainische Freiwillige sowie die Brigade Kaminski und das Bataillon Dirlewanger verstärkten SS-Verbände rund 250.000 Polen, die Mehrzahl davon Zivilisten.97 Zusammenarbeit zwischen »Abwehr« und polnischem Nachrichtendienst Im Allgemeinen gilt die Regel, dass Nachrichtendienste unautorisierte Kontakte ihrer Mitarbeiter mit dem geheimdienstlichen Personal feindlicher oder potenziell feindlicher Staaten nicht offen unterstützen  – in Kriegszeiten schon gar nicht. Der Grund für diese Politik liegt offenkundig in dem Bestreben, die eigenmächtige Preisgabe von geheimen Informationen zum eigenen Nachteil zu verhindern – egal ob diese Preisgabe auf Bestechung, ideologische Überzeugung, – 85 –

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Tauschgeschäfte oder Wichtigtuerei zurückgeht. Aber auch ohne irgendwelche offizielle Ermutigung finden Kontakte zwischen feindlichen Geheimdiensten doch statt, wenigstens dann, wenn sie durch die Verantwortlichen der Nachrichtendienste vorweg gutgeheißen werden. Aufgrund von Canaris’ hohem Ansehen akzeptierten seine Untergebenen sämtliche seiner Entscheidungen aus der Anfangszeit des Krieges hinsichtlich der Zusammenarbeit mit ausländischen Nachrichtendiensten  ; sie stellten keine Fragen und setzten Canaris’ Vorgaben so rasch wie möglich um. Folglich unterhielt die »Abwehr« freundschaftliche und längerfristige Verbindungen zu den Diensten jener europäischen Staaten, die mit Deutschland verbündet waren, mit ihm gemeinsame Interessen hatten oder an ihrer Neutralität festhielten.98 Derartige Kontakte bestanden zu Italien, Spanien, Portugal, Slowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Türkei, Finnland, Lettland, Litauen und Estland (mit den drei zuletzt genannten bis zu deren Annexion durch die Sowjetunion 1939/40)  ; ferner zu irredentistischen Bewegungen in Jugoslawien und der Ukraine. Darüber hinaus hielt es Canaris als im besten Interesse Deutschlands gelegen, mit tatsächlichen oder potenziellen Feinden des Reiches in Europa wie etwa Frankreich, Großbritannien, Polen, ja selbst mit der UdSSR irgendwie geartete geheimdienstliche Verbindungen aufrechtzuerhalten. Als Lahousen im April 1938 seinen neuen Posten in Berlin antrat und im weiteren Verlauf dieses Jahres seine Beziehung zu Madeleine Bihet-Richou (und über diese zum französischen Nachrichtendienst) wieder aufnahm, da traf der die Spionage betreffende Aspekt dieser Beziehung zweifellos auf die Zustimmung von Canaris’ Stellvertreter Hans Oster und höchstwahrscheinlich auch auf jene von Canaris selbst. Im Polenfeldzug spielte die »Abwehr« eine eigene und besondere Rolle, insbesondere ihre mit speziellen Missionen versehenen Kommandos, die vor den eigenen Panzerspitzen und oftmals hinter den feindlichen Linien operierten. Darüber hinaus sollten diese Kommandos polnische Nachrichtendienstoffiziere und sonstige bedeutende Persönlichkeiten gefangen nehmen oder auf andere Weise festsetzen  ; mit ihnen würde man später eventuell kooperieren bzw. sie auf andere Weise im Krieg verwenden. Im Gegensatz dazu war während des Polenfeldzuges von SD und Gestapo ein brutales Vorgehen gegen all jene (egal ob Zivilist oder Soldat) zu erwarten, die auch nur im leisesten Verdacht standen, für den polnischen Geheimdienst zu arbeiten oder irgendwie sonst ein Feind des »Dritten Reiches« zu sein. Die »Abwehr« hingegen trachtete danach, alle gefangenen Personen des polnischen Nachrichtendienstes vor den Fängen des RSHA zu bewahren. Es überstieg die Fantasie des SD, der Gestapo oder irgendeiner – 86 –

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anderen Dienststelle des RSHA, dass auch nur ein einziger polnischer Geheimdienstler unter welchen Umständen auch immer für jene Zwecke von Nutzen sein könnte, an die Canaris, Lahousen und deren Kameraden in der »Abwehr« dachten. Im Nürnberger Prozess hatte die von den vier Großmächten besetzte Anklagebehörde keinerlei Interesse an der Vorlage von Beweismaterial, das die geheimdienstliche Zusammenarbeit zwischen einem Staat der Alliierten (einschließlich Polen) und der »Abwehr« mit Canaris bzw. Lahousen hätte darlegen können. Die Aussage Lahousens als des ersten amerikanischen Zeugen während der Verhandlung sprach für sich selbst, und jeder Versuch der Ankläger, durch Lahousen Beweismittel für die Kooperation der »Abwehr« mit alliierten Staaten einzubringen, konnte seitens des Gerichtshofs oder der Verteidigung leicht als irrelevant für die Frage von Schuld oder Unschuld der 21 Angeklagten sowie der sechs angeklagten Organisationen abgetan werden. Schon einige Zeit vor Kriegsbeginn hatte die »Abwehr« den polnischen Militärattaché in Berlin, Oberst Roman Szymanski, und seine Gattin Halina Szymanska als Objekte ihres geheimdienstlichen Interesses ausgemacht. Sowohl der Oberst als auch seine Frau sprachen fließend Deutsch. Wenngleich patriotische Polen, teilten sie ein lebhaftes Interesse an der deutschen Kultur. Bei Kriegsbeginn hatte Canaris den Abwehr-Kommandos befohlen, nach Personen von nachrichtendienstlichem Interesse wie dem Ehepaar Szymanski zu suchen, sie für Zwecke der »Abwehr« verfügbar zu halten und zugleich vor dem RSHA in Schutz zu nehmen. In seinen Nachkriegsschriften bestätigte Lahousen später diese Bedeutung der Szymanskis.99 Kurz nach der Eroberung Posens (Poznans) durch die Wehrmacht während der ersten Kriegstage traf der gepanzerte Sonderzug der »Abwehr« in dieser westpolnischen Stadt ein und wurde auf einem Nebengeleise unweit des Hauptbahnhofs abgestellt. Deutsche Verbände hatten Halina Szymanska beim Versuch, die Stadt zu verlassen, festgenommen  ; als sie den Namen Canaris erwähnte, wurde sie den Abwehr-Kommandos übergeben. Man brachte sie zu Canaris’ Zug, wo sie erklärte, sofort nach Warschau gehen zu müssen, um dort ihre Familie retten zu helfen. Nach einer Diskussion konnte Canaris sie davon überzeugen, dass dies seine Kommandos besser bewerkstelligen könnten als sie selbst. Er überredete sie, stattdessen nach Bern, der Hauptstadt der neutralen Schweiz, zu gehen, wo bereits während der europäischen Krisenzeit der 1930erJahre ein bedeutsames Spionagezentrum entstanden war. In dieser Schweizer Stadt würde sie nicht nur vor Verhaftung und Verfolgung sicher, sondern oben– 87 –

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drein in der Lage sein, ein großes Nachrichtenbüro im Dienst der sich bald konstituierenden polnischen Exilregierung in London aufzubauen. Eine solche Verbindung nach London wirkte auf Canaris verlockend, denn er war stets um mögliche Kontakte zum Feind – insbesondere zu den britischen Geheimdiensten MI5 und MI6 – bemüht. Während des Zweiten Weltkrieges dienten Bern, Lissabon, Stockholm und Istanbul als bedeutende Spionagedrehscheiben für die Alliierten, die Achsenmächte und die nominell neutralen Staaten. Neben offiziellen Agenten tummelten sich dort auch Doppelagenten, genauso wie später während des Kalten Krieges Wien beiden Seiten als Spionagebasis dienen sollte. Mit Zustimmung des polnischen Nachrichtendienstes akzeptierte Halina Szymanska den Vorschlag von Canaris  ; sie wollte in Bern für den polnischen Dienst arbeiten und, wenn möglich, mit Canaris auf der Basis eines quid pro quo kooperieren. Es war nur eine Frage der Zeit, bis ihr neuer Posten in der Schweiz es ihr erlaubte, über ihre Vorgesetzten mit »C«, Sir Stewart Menzies, dem Chef des britischen Geheimdienstes MI6, Verbindung aufzunehmen. Binnen Jahresfrist avancierte Menzies zu Churchills oberstem Berater in geheimdienstlichen Angelegenheiten. Zwischenzeitig wurde Oberst Szymanski zum Kommandeur einer Einheit der polnischen Exilarmee ernannt, die später der britischen 8. Armee zur Verteidigung Ägyptens zugeteilt wurde. Nachdem sich Madame Szymanska auf ihrem neuen Posten in Bern eingerichtet hatte, arbeitete sie später mit Allen Welsh Dulles zusammen, dem Chef des bedeutenden Schweizer Außenpostens des amerikanischen Office of Strategic Services. Dulles tarnte seine Tätigkeit als die der Konsularabteilung der US-Botschaft in Bern.100 Da Portugal während des Krieges ebenfalls offiziell neutral war, gab es auch in Lissabon allerhand Spionageaktivitäten. Dort errichtete die polnische Exilregierung von London aus ein Spionagebüro unter Oberst Jan Kowalewski, einem Experten für Dechiffrierung. Kowalewski war ferner ein ausgewiesener Sprachexperte, der fließend Deutsch, Französisch, Russisch und andere Sprachen beherrschte. Durch Vermittlung von Halina Szymanska kontaktierten Canaris und Lahousen Oberst Kowalewski durch den Vertreter der »Abwehr« in Lissabon und trugen an ihn den Gedanken heran, mit dem Anti-Hitler-Widerstand in der »Abwehr« gemeinsame Sache zu machen. Eines der wichtigsten Projekte des polnischen Nachrichtendienstbüros in Lissabon im späteren Kriegsverlauf war Operation Tripod. Der Plan drehte sich um Verhandlungen über die Kapitulation von drei Staaten, die aufseiten der Achse am Krieg gegen die Sowjetunion und die übrigen Alliierten teilnahmen. Diese drei Staaten (Italien, Ungarn und Rumänien) waren eifrig darauf bedacht, – 88 –

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ein Ende der Kampfhandlungen zu erreichen, bevor die Rote Armee nach Osteuropa vorgedrungen sein würde. Dementsprechend traten sie an die polnische Exilregierung in London heran und diese wiederum übertrag die Verantwortung für entsprechende Verhandlungen an Oberst Kowalewski in Lissabon. Zwischenzeitig hatten freilich Roosevelt und Churchill (die Sowjetunion war nicht vertreten) auf der Konferenz von Casablanca im Januar 1943 die Formel von der bedingungslosen Kapitulation aller Staaten der Achse proklamiert. Dies hieß im Klartext, dass es mit diesen Staaten keinerlei Verhandlungen geben würde. Auf alle Anstrengungen seitens der Polen, die Achse aufzubrechen, kam aus London die notorische Antwort  : keine Verhandlungen, nur bedingungslose Kapitulation. Keiner der drei genannten Staaten ging auf solche Vorgaben ein.101 Die Unternehmungen des polnischen Nachrichtendienstes in Bern, Lissabon und Istanbul sind ein Beweis dafür, dass Polen den Kampf gegen das »Dritte Reich« Anfang Oktober 1939 keineswegs aufgegeben hatte. Viele polnische Soldaten, Matrosen und Piloten flüchteten aus ihrem Heimatland und setzten den Kampf gegen NS-Deutschland im Nahen Osten, in Westeuropa, in Nordafrika und später in Italien fort. Bereits im April 1940 schlossen sie sich ihren norwegischen, britischen und französischen Kameraden im Kampf gegen die Wehrmacht um den Besitz der nordnorwegischen Hafenstadt Narvik an. Die Kontrolle dieses Hafens sicherte den Zugang zu den strategisch wichtigen Eisenerzvorkommen in Schweden. In britischen Uniformen mit polnischen Schulterklappen dienten diese Polen in der britischen 8. Armee in Nordafrika, in Sizilien und Italien. Polnische Piloten griffen auch in die Luftschlacht um England ein und lenkten ihre Jäger vom Typ »Spitfire« und »Hurricane« mit den Hoheitszeichen der Royal Air Force gegen die Bomber und Jäger der deutschen Luftwaffe. Mord im Wald von Katyn Während des Polenfeldzugs von 1939 hatten die Wehrmacht und die Rote Armee unabhängig voneinander Tausende von polnischen Offizieren und eingezogenen Soldaten gefangen genommen. Beide Gewahrsamsmächte brachten ihre Gefangenen in getrennten Lagern unter, von denen keines auch nur den rudimentärsten Anforderungen für die Unterbringung von Kriegsgefangenen gerecht wurde, die nach dem damals gültigen Völkerrecht verbindlich waren. Sowohl die Wehrmacht als auch die Rote Armee widmeten den polnischen – 89 –

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Offizieren besondere Aufmerksamkeit  ; mehr als 15.000 von ihnen hielt die Rote Armee anfangs in Gefangenenlagern im ehemaligen Ostpolen fest. Mit Ausnahme von ganz wenigen, die zur Freude ihrer sowjetischen Wächter ihre Anhänglichkeit an den Kommunismus deklarierten, waren praktisch alle diese polnischen Offiziere zu dem Zeitpunkt, als am 22.  Juni 1941 der deutsche Überfall auf die Sowjetunion begann, spurlos verschwunden. Als Folge ihres Blitzkriegs gegen die Rote Armee besetzte die Wehrmacht rasch die bis dahin sowjetischen, ehemals polnischen Gebiete und das nach Osten angrenzende russische Gebiet bis etwa Smolensk. Anfang April 1943, als sich eine sowjetische Gegenoffensive dem Raum Smolensk näherte (die Sowjets konnten allerdings die Stadt erst im September 1943 zurückerobern), entdeckten die Deutschen im Wald von Katyn, etwa 15 Kilometer westlich von Smolensk, Massengräber mit rund 4.500 der vermissten ca. 15.000 polnischen Offiziere. Postwendend entstand unter den Alliierten ein heftiger Streit  : Die Sowjets behaupteten, die Deutschen hätten die Offiziere ermordet, die polnische Exilregierung verlangte eine Untersuchung und die Deutschen luden eine Kommission des Internationalen Roten Kreuzes zur Besichtigung vor Ort ein. Alle involvierten Seiten kümmerten sich bald mehr um die politischen Aspekte der Angelegenheit als um eine Erklärung, auf welche Weise die Opfer ums Leben gekommen waren.102 Erst im April 1990 gestand der sowjetische Präsident Michael Gorbatschow in Anwesenheit des damaligen polnischen Präsidenten Wojciech Jaruzelski in Moskau öffentlich ein, dass es die Sowjetunion gewesen war, die im September 1941 – bald nach Beginn des deutschen Überfalls vom Juni dieses Jahres – die Ermordung der polnischen Offiziere befohlen hatte. Das Problem Katyn vergiftete die sowjetisch-polnischen und später die russisch-polnischen Beziehungen viele Jahre hindurch, praktisch bis zur Gegenwart. Gorbatschows Eingeständnis besagte nichts weniger, als dass die Geheimpolizei eines Alliierten des Zweiten Weltkriegs die Schuld an der Ermordung von nahezu des halben Offizierskorps eines anderen Alliierten trug. Dieses Kapitalverbrechen war eines der wenigen, wenn nicht das einzige während des Zweiten Weltkriegs, für das die NS-Diktatur nicht verantwortlich war. Im Nürnberger Prozess versteifte sich die sowjetische Anklage darauf, die NS-Regierung für dieses Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen, sie konnte jedoch die übrigen Ankläger nicht überzeugen. Die sowjetische Anklage führte drei Zeugen als Beweis an, um das Gericht zu der Feststellung zu bewegen, dass die Sowjetunion an den Morden von Katyn unschuldig sei. Punkt 3 der Ankla– 90 –

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geschrift legte in der Tat dem NS-Regime die Schuld an Katyn zur Last. Auch Verteidiger Dr. Stahmer führte drei Zeugen an, um die Angeklagten wenigstens von einem der zahlreichen Verbrechen, die ihnen die Anklageschrift zur Last legte, zu entlasten. Das abschließende Nürnberger Urteil ging auf dieses Verbrechen nicht mehr ein. Inoffiziell und privat waren die meisten Angehörigen der amerikanischen, britischen und französischen Anklagebehörden davon überzeugt, dass die 15.000 polnischen Offiziere in der Tat von der sowjetischen Geheimpolizei  – höchstwahrscheinlich auf direkten Befehl Josef Stalins  – ermordet worden waren.103 Anfang Oktober 1939 hatte die Wehrmacht den Feldzug gegen Polen beendet. Zur gleichen Zeit steigerte sich die vom SD und der Gestapo ins Werk gesetzte Verfolgung ethnischer Polen und polnischer Juden. Es kam zu verbrecherischen Brandschatzungen zahlreicher Bauernhöfe, auf denen Polen und Juden ansässig waren, wie es Ribbentrop am 12. September in Hitlers Sonderzug erläutert hatte. Dies alles zusammen mit der Verhaftung bzw. Ermordung polnischer bzw. polnisch-jüdischer Intelligenzler erleichterte die Vertreibung ganzer Familien von ihrem Besitz. Ribbentrop verwendete einen erheblichen Teil seiner Arbeitszeit für diese ethnischen Säuberungen, zumal er in seiner offiziellen Funktion als Außenminister offensichtlich unterbeschäftigt war. Das so freigemachte Land wurde postwendend für die Ansiedlung ethnischer Deutscher bereitgestellt, von denen viele es für ihre patriotische Pflicht hielten, diese Flächen als Teil des vom »Dritten Reich« eroberten »Lebensraumes« in Besitz zu nehmen. Zeitlich gesehen, war der Aufenthalt dieser Neusiedler dort sehr begrenzt  : Nach der Niederlage von Stalingrad Anfang 1943 begannen viele dieser deutschen Siedler über eine Rückkehr zu ihren früheren Heimstätten nachzudenken. Zur gleichen Zeit setzten in den größeren Städten ähnliche Vorgänge wie auf dem Land ein. 1939 hatte die Stadt Krakau eine Bevölkerung von rund 300.000 Menschen. Gestapo und SD begannen damit, die in Krakau anwesende, zahlenmäßig beträchtliche jüdische Bevölkerung zwangsweise in Ghettos zu schicken, die näher bei den Fabriken lagen, in denen sie zur Arbeit gezwungen wurden. Dann wurden weitere polnische Juden aus den ländlichen Gebieten und aus anderen Städten ebenfalls in die neuen Ghettos eingewiesen. Die bisherigen Wohnungen der verschleppten polnischen Juden okkupierten die deutschen Neusiedler, deren Zahl binnen weniger Monate in Krakau rund 50.000 betrug. Krakau wurde Sitz der Regierung des Generalgouvernements Polen, dessen Zentrale sich auf dem Wawel mit Blick auf die Weichsel befand. Hans Frank, – 91 –

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einer der Prominentesten unter den 21  Angeklagten in Nürnberg, stand der Regierung als Generalgouverneur vor. Um seine expandierende Sammlung an Kunstwerken auszustellen und für Erholungszwecke beschlagnahmte er auch das wunderschöne Potocki-Schloss jenseits der neuen Grenze zu Deutschland in Krzeszowice (deutsch  : Kressendorf ), das heute eine reizende polnische Stadt in einem Kurgebiet nahe der Stadt Auschwitz (Oswiescim) ist. Vor dem Krieg war ein Artillerie-Regiment der polnischen Armee in diversen Ziegelhäusern in der ausgedehnten Befestigungsanlage in den Außenbezirken von Auschwitz garnisoniert gewesen. Im Herbst 1939 zog kurzfristig eine Abteilung Artillerie der Wehrmacht dort ein, danach übernahm die SS die Anlage und transformierte sie im Lauf einiger Monate in einen ausgedehnten KZKomplex. Auch einige große Fabrikanlagen der deutschen Industrie, darunter eine riesige Chemiefabrik der IG Farben, entstanden in der Nachbarschaft des neuen Lagers  ; hinzu kamen die Wohnungen der deutschen Manager. Die SS zwang die Insassen des Lagers, von dessen Lagertoren eines die Aufschrift »Arbeit macht frei« trug, viele Stunden pro Tag in den Fabriken zu arbeiten. Einige Kilometer entfernt errichtete die SS das Todeslager Birkenau, das über einen direkten Bahnanschluss sowie einen Versammlungsplatz innerhalb des Lagergeländes verfügte, wo die gesunden Arbeitskräfte von jenen getrennt wurden, die wegen ihres Alters oder Gesundheitszustandes arbeitsunfähig waren. Die zweite Gruppe wurde postwendend zu einem anderen Lagerteil gebracht, angeblich um dort in einem großen Raum zu duschen, der vorgeblich mit Entlausungsvorrichtungen und Duschen ausgestattet war. In Wahrheit wurden diese Menschen durch Giftgas getötet.104 Durch die Annexion angrenzenden polnischen Territoriums, das Polen erst unlängst durch die Friedensregelungen nach dem Ersten Weltkrieg zugesprochen worden war, sowie durch die Errichtung des Generalgouvernements mit seiner Zentrale in Krakau hatte NS-Deutschland zusammen mit der Sowjet­ union, welche die östlichen Teile Polens annektierte, eine weitere Teilung Polens durchgeführt.105 Die direkt an das Reich angeschlossenen Gebiete umfassten die Städte Posen (Poznan), Danzig (Gdansk), Bromberg (Bydgoszcz), Thorn (Torun) und Litzmannstadt (Lodz), jeweils mit dem sie umgebenden Gebiet, ferner den gesamten polnischen Korridor, der früher Ostpreußen vom übrigen Deutschland getrennt hatte. Die Städte Warschau, Krakau und (ab Sommer 1941) Lemberg (Lviv) blieben im Generalgouvernement. Die Sowjetunion besetzte das zumeist ländlich geprägte Ostpolen, zu dem die Städte Brest-Litowsk, Luck, Dubno sowie der Großteil des polnischen Anteils am jüdischen Ansied– 92 –

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lungsgebiet der Zarenzeit zählten.106 Falls die Sowjetunion den jüdischen Bewohnern dieses Gebiets überhaupt irgendeine Erleichterung verschaffte, sollte dies nur von kurzer Dauer sein  : Mitte Juni 1941 stand die Wehrmacht auf dem Sprung, um dieses zeitweilig verloren gegangene Gebiet für Deutschland wieder zu erobern. Diese Eroberung löste erneut verbrecherische Aktionen von SS, SD und Gestapo aus, die sich ein weiteres Mal auf Mord, Umsiedlung, Inhaftierung oder andere Spielarten der Verfolgung der jüdischen Bewohner des ehemaligen Ostpolens richteten. Darüber hinaus waren davon auch andere Nationalitäten wie die Roma und Sinti betroffen.107 Als im Widerspruch zum Völkerrecht stehend, hatte die »Abwehr« die vom NS-Regime angeordneten Morde, Umsiedlungen (sowohl von ethnischen Polen als auch von polnischen Juden) und Brandschatzungen von deren Bauernhöfen oder deren Übergabe an deutsche Neusiedler abgelehnt. Davon legte in Nürnberg Lahousens Aussage zu Ribbentrops Anweisungen vom 12. September 1939 in Hitlers Sonderzug und den darauf folgenden negativen Reaktionen höherer Abwehr-Offiziere auf diese verbrecherischen und rassistischen Direktiven ein eindeutiges Zeugnis ab. Aber was konnte die »Abwehr« unternehmen, um die Auswirkungen dieser Befehle anzuhalten, abzumildern oder ihre Wirkungen in andere Richtungen zu lenken  ? Mit den NS-Führern in einen argumentativen Diskurs über eine Reduzierung ihrer verbrecherischen Unternehmungen einzutreten, hatte sich als vollkommen wirkungslos erwiesen. Aber wie so oft steckte der Teufel im Detail. Sollte man einen, zwei oder drei der führenden Nazis verhaften oder ermorden  ? Oder sollte man die gesamte Führungsriege töten und dann die verbleibenden Führungskader verhaften  ? Konnte sich der Widerstand bei der zuverlässigen Durchführung solcher Festnahmen auf Verbände der Wehrmacht verlassen und wenn ja, auf welche Verbände unter wessen Befehl  ? Wollte die »Abwehr« ein Nachrichtendienst sein und kein Zusammenschluss von Mördern, würde sie dann befähigt sein, zu irgendeinem Zeitpunkt einen Teil der NS-Führung zu töten  ? Wenn die »Abwehr« wiederum dazu in der Lage wäre, welche Personen sollten getötet und welche nur verhaftet werden  ? Falls die »Abwehr« dazu nicht in der Lage wäre, welche anderen Teile des Widerstandes würden dann diese Mordanschläge und Festnahmen ausführen  ? In Anbetracht der von der NS-Führung verübten Verbrechen stellte sich auch die Frage, welche Rechte (falls überhaupt irgendwelche) den verhafteten NS-Führern seitens des Widerstandes bei einem Gerichtsverfahren gegen sie zugestanden werden sollten. Solche und damit zusammenhängende Fragen wurden oftmals intensiv im privaten Rahmen und über einen langen Zeitraum hinweg, üblicher– 93 –

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weise während der Nachtstunden, von den Führern des Widerstandes einschließlich Canaris und Lahousen erörtert. Während dieser Debatten war MAD vollauf damit beschäftigt, den Umfang und den Gehalt ihrer wichtigen Spionagetätigkeit zugunsten Frankreichs in Budapest zu verbessern. Gleichzeitig setzte auch Lahousen, dessen Aktivitäten allerdings auf Berlin konzentriert waren, die frühere Spionage-Partnerschaft fort. Es sollten einige Monate vergehen, bis sich die beiden Partner wieder persönlich treffen konnten. Aufgrund der Beschränkungen, die MAD durch das ihr erteilte ungarische Visum unweigerlich auferlegt waren, lag es an Lahousen bzw. seinem Vertreter Kurt Fechner, in ihrer Budapester Spionage-Partnerschaft den beweglichen Part zu übernehmen.

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Kapitel 6

NS-Verbrechen an den Juden Europas

L

ahousens Zeugenaussage hatte bereits einige Aspekte der nationalsozialistischen Politik zur Ausrottung der europäischen Juden berührt, insbesondere die vom Angeklagten von Ribbentrop dem Angeklagten Keitel auf Hitlers Anweisung zu Beginn des Polenfeldzugs erteilte Anordnung, »alle Juden zu beseitigen«. Von Ribbentrop hatte diese Direktive an die Wehrmacht am 12.  September 1939 in der Nähe Warschaus in Hitlers Sonderzug in Gegenwart Lahousens bekanntgegeben  ; dennoch war Lahousen nicht Kronzeuge der Anklage, was den Holocaust betraf. Diese Rolle kam besser informierten Zeugen zu, die von anderen Vertretern der Anklage dem Gericht präsentiert wurden. Die Verfolgung der europäischen Juden schloss sich unmittelbar an die bis Ende 1941 andauernden Siege der Wehrmacht und die Besetzung ausgedehnter Gebiete in Ost- und Westeuropa an. Diese Besetzungen waren das Ergebnis des Blitzkriegs gegen Polen im September 1939, der zwischen April und Juni 1940 erfochtenen deutschen Siege über Dänemark, Norwegen, Belgien, die Niederlande und Frankreich sowie der Niederwerfung Jugoslawiens und Griechenlands im April und Mai 1941  ; im Juni 1941 begann dann der Überfall auf die Sowjetunion. Nach allen diesen Siegen eröffneten RSHA und SS unmittelbar eine Serie von Morden in ländlichen Gegenden, worauf die Einweisung der in den Städten lebenden sowie der auf dem Land noch am Leben gebliebenen Juden in Ghettos, später dann in Konzentrations‑, Arbeits- und Todeslager folgte. Die nächsten Schritte waren Exekutionen durch Hinrichtungskommandos sowie die Vergasung der in den besetzten Gebieten lebenden Juden durch die SS und deren Helfershelfer. Mit jedem Sieg der Wehrmacht erhöhte sich die Zahl der im deutschen Machtbereich lebenden Juden. Dies galt vor allem für die kriegerischen Vorgänge in Polen 1939 und in der Sowjetunion ab 1941, wo Millionen von polnischen und sowjetischen Juden im ehemaligen jüdischen Siedlungsrayon des Zarenreiches lebten. Die Siege der Wehrmacht gegen die Niederlande, Frankreich und die Balkanstaaten zwangen auch die dort lebenden Juden, unter der NS-Diktatur einen Weg zu finden, um zu überleben. Viele trachteten natürlich danach, der tödlichen deutschen Herrschaft durch Flucht zu entkommen. Ähnlich verhielt es sich bei der deutschen Besetzung des bisherigen Verbündeten – 95 –

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Ungarn im März 1944, mit der die ungarischen Juden erstmals mit dem Holocaust in Berührung kamen. Der deutsche Einmarsch in Ungarn im März 1944 bedeutete für die ungarischen Juden den sofortigen Verlust ihrer bisherigen weitgehenden Immunität gegenüber den NS-Verfolgungsmaßnahmen. Nun war SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, der Leiter des Referates IV B 4 des RSHA, in der Lage, von seiner RSHA-Zentrale in Wien aus eine umfassende Aktion gegen die ungarischen Juden, die keinen Schutz mehr genossen, in die Wege zu leiten.108 Eines der Ziele der Anklage im Nürnberger Prozess bestand darin, die Zahl der vor und im Zweiten Weltkrieg ermordeten europäischen Juden zu bestimmen. Geht man von der Aktenüberlieferung des »Dritten Reiches« selbst sowie von einem Affidavit aus, das Dr. Wilhelm Höttl, ehemals ein Mitarbeiter Adolf Eichmanns und später ein Historiker der Geheimdienste, vorgelegt hat, so kann man mit einiger Sicherheit annehmen, dass die Zahl der getöteten Juden mindestens sechs Millionen betrug. In diese Zahl eingeschlossen sind die zwei Millionen von den SS-Einsatzgruppen und sonstigen SS-Verbänden Erschossenen sowie die rund vier Millionen in den Konzentrations- und Vernichtungslagern Ermordeten. Gegen Kriegsende, als die Ermordung der Juden nicht nur unvermindert weiterging, sondern deren Tempo sogar noch gesteigert wurde, machte Adolf Eichmann die oft zitierte Bemerkung, »dass er lachend in die Grube springen würde in dem Wissen, dass die fünf Millionen, die er auf dem Gewissen habe, ihm ein Gefühl außerordentlicher Befriedigung verschaffen würden.«109 Geht man von den eindeutigen und überzeugenden Beweisen der Anklage im Nürnberger Prozess aus, so entbehren die von diversen revisionistischen Kritikern unternommenen Versuche, das geschätzte Minimum von sechs Millionen jüdischen Opfern kleinzurechnen oder überhaupt zu bestreiten, dass diese Massenmorde stattfanden, jeder Grundlage. Morde der Einsatzgruppen an den Juden Europas Noch vor seiner formellen Gründung am 27.  September 1939 begann das RSHA mit der Errichtung und Ausbildung einer neuen Variante nationalsozialistischer militärischer Verbände  : der Einsatzgruppen. Ihr vollständiger Name lautete »Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes«. Sie traten erstmals nach dem Münchener Abkommen im Sudetenland in Erscheinung. Seit Herbst 1939 nahmen SS-Komponenten dieser Einsatzgruppen an – 96 –

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Aktionen gegen polnische Juden teil. Die Einsatzgruppen bestanden teilweise aus SS-Freiwilligen, deren Auftrag in der Durchführung von »Sonderaktionen« – einschließlich Mord – gegenüber Juden, Roma und Sinti, kommunistischen Führungskadern und anderen rassisch oder politisch definierten Feindgruppen der NS-Diktatur bestand. Ungeachtet ihres Tarnnamens bestand die wahre Aufgabe dieser Verbände darin, Männer, Frauen und Kinder zu töten, die zu jenen Feindgruppen gehörten, wobei die Juden ganz oben auf der Liste standen. Nach Beginn des Russlandfeldzuges im Sommer 1941 wurden schließlich vier dieser Einsatzgruppen (bezeichnet mit A bis D) in die frontnahen Bereiche entsandt. Jede dieser vier Einsatzgruppen, die jeweils rund 1.000 Mann umfassten, wurde den Heeresgruppen der Wehrmacht an den diversen Frontabschnitten zugeteilt. Dem Stil ihres Vorgehens entsprechend, variierte die Mannschaftsstärke der vier Gruppen, und es gab große personelle Fluktuationen. Nur die Einsatzgruppe  D am südlichen Flügel der Ostfront musste mit deutlich weniger als dem angestrebten Soll von 1.000 Mann auskommen. Allerdings ermutigte die oberste SS-Führung alle vier Einsatzgruppen dazu, gegen Bezahlung örtliche Helfer anzuheuern, die gewillt waren, an Mordaktionen gegen Juden und andere Zielgruppen mitzuwirken.110 Die Einsatzgruppen  A, B und C wurden den Heeresgruppen Nord, Mitte und Süd an der Ostfront zugeteilt  ; die Einsatzgruppe D ressortierte zur deutschen 11. Armee (Heeresgruppe Süd). Die Armee eröffnete am 22. Juni 1941 ihren Angriff auf die Ukraine vom Territorium des deutschen Verbündeten Rumänien aus und rückte dann ostwärts entlang des Schwarzen Meeres an ihrer rechten Flanke vor, wobei sie Odessa mit seiner vielköpfigen jüdischen Bevölkerung einnahm und in weiterer Folge auf die Halbinsel Krim vorstieß. Erst nach heftigen Kämpfen mit hohen Verlusten für beide Seiten konnte die Wehrmacht die Rote Armee von der Krim vertreiben. Am 9. November 1941 eroberten die Deutschen Jalta. Der sowjetische Flottenstützpunkt im belagerten Sewastopol hielt bis zum 3. Juli 1942 aus. Pioniere der Roten Armee ließen in zahlreichen sowjetischen Städten in Hotels und Regierungsgebäuden versteckte Sprengladungen zurück, die erst Tage oder Wochen nach dem deutschen Einmarsch explodierten und schwere Verluste verursachten.111 Für die amerikanischen Ankläger in Nürnberg stellte der offenkundige Mangel an glaubwürdigen überlebenden Augenzeugen des Holocaust ein schwerwiegendes Problem dar. Nach einer kurzen Weihnachtspause stellte sich der amerikanische Oberst Robert Storey am 2. Januar 1946 dieser Herausforderung und legte das Beweismaterial der amerikanischen Anklagebehörde gegen zwei – 97 –

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der angeklagten Institutionen, das RSHA und die Einsatzgruppen, vor. Dieses Beweismaterial bestand aus zwei Affidavits, unterzeichnet von Hermann Friedrich Gräbe. Gräbe war ein deutscher Bauingenieur, den die Wehrmacht zwischen 1941 und 1943 im Status eines Zivilangestellten in der besetzten Ukraine beschäftigt hatte. Am 5. Oktober 1942 wurde Gräbe Augenzeuge des Massenmords an ungefähr 5.000 Juden außerhalb der Stadt Dubno am Fluss Ikva in der Westukraine. Alle Opfer trugen den vorgeschriebenen gelben Davidstern an der Vorder- und Rückseite ihrer Kleidung, die sie ablegen und in separaten Stapeln  – Schuhe, Überbekleidung und Unterwäsche  – aufschichten mussten. Die Opfer waren auf Lastwagen familienweise zu den Hinrichtungsstätten gebracht worden, wobei eine angebliche Umsiedlung als Vorwand diente. Sobald die Opfer entkleidet waren, dirigierte sie die SS an den Rand eines tiefen Panzergrabens, der als Massengrab dienen sollte. Danach erschossen Exekutionskommandos der SS die Opfer in Gruppen zu je 20 Personen, worauf die Körper in den Graben fielen. Gräbe bemerkte, er habe einen Stapel von mehr als 1.000 Paar Schuhen gesehen. Ihm wurde später seitens der SS mitgeteilt, dass an diesem Tag sämtliche 5.000 jüdischen Bewohner von Dubno  – Männer, Frauen und Kinder – durch die besagte SS-Einheit unter aktiver Mithilfe ukrainischer Milizen ermordet worden waren.112 Am folgenden Vormittag, dem 3.  Januar 1946, stellte Oberst Amen den nächsten Zeugen vor  : SS-Gruppenführer Otto Ohlendorf, der von Juni 1941 bis Juni 1942 die Einsatzgruppe D befehligt hatte, bevor er durch einen anderen höheren SS-Führer namens Bierkamp abgelöst worden war. Ohlendorf war ein typischer SS-Offizier und überzeugter Nationalsozialist, der der NSDAP schon 1925 mit der Mitgliedsnummer 6.631 und im folgenden Jahr der SS beigetreten war. Er war ein vollkommen anderer Zeuge als Lahousen, der sich im Widerstand gegen Hitler und als Spion für Frankreich und Österreich gegen das »Dritte Reich« betätigt hatte. Wenngleich ohne jedes Bedauern für die von ihm verübten Verbrechen, erwies sich Ohlendorf als wirkungsvoller Zeuge für die Verbrechen der SS-Führung, besonders jene des Angeklagten Ernst Kaltenbrunner, der dem ermordeten Reinhard Heydrich 1943 nachgefolgt war. Ohlendorf verließ sich vorrangig auf den Befehlsgrundsatz als Rechtfertigung für die von ihm zu verantwortenden Morde und sorgte sich mehr um den psychischen Zustand seiner SS-Männer als um das Überleben der Opfer. Während des einjährigen Kommandos von Ohlendorf über die Einsatzgruppe D ermordete diese rund 90.000 Menschen, beinahe ausschließlich Juden, aber auch etliche Roma und Kommunisten. An einem einzigen Tag, dem – 98 –

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13. Dezember 1941, tötete die Einsatzgruppe in Simferopol auf der Krim 14.300 Personen, in der großen Mehrzahl Juden. Sie war mit ihren im Durchschnitt 500–600 Mann die kleinste der vier Einsatzgruppen  ; die übrigen drei umfassten jeweils rund 1.000 Mann oder mehr. Die SS ermutigte alle vier Gruppen dazu, lokale ukrainische Milizen als bezahlte Hilfskräfte anzuheuern. Ab und zu übertrug die Wehrmacht den Einsatzgruppen gewisse militärische Aufgaben, jedoch keine Tötungsaufträge. Beispielsweise sagte Ohlendorf aus, die Wehrmacht habe ihm aufgetragen, für die Rekrutierung von Krimtataren in die Wehrmacht zu sorgen.113 Viele der Mordaktionen der Einsatzgruppen spielten sich in oder nahe bei den Operationsgebieten des Heeres ab, was zu einigen Friktionen zwischen diesem und der SS führte. Um solche Konflikte zu verringern oder gar nicht aufkommen zu lassen, trafen die Befehlshaber beider Seiten diverse Übereinkommen, welche die Spielregeln für das jeweilige Vorgehen festlegten. Obwohl den Soldaten der Wehrmacht eine Teilnahme an den Erschießungen von Zivilisten nicht befohlen wurde, beteiligten sich während des Russlandfeldzuges sowie auf dem Balkan diverse Einheiten dennoch daran.114 Darüber hinaus leistete die Wehrmacht logistische Unterstützung für die Operationen der Einsatzgruppen.115 Bei der Ausführung ihrer Tötungsaktionen praktizierten die Einsatzgruppen stets eine mehr oder minder gleiche Methode. Unter dem Vorwand der Umsiedlung der Opfer in andere Gebiete versammelte die SS die jüdischen Opfer familienweise. Dafür bereitgestellte SS-Lastwagen brachten dann die Opfer zu einem nahe den jeweiligen Dörfern gelegenen Gelände, wo tiefe Panzergräben oder natürliche Vertiefungen im Boden vorhanden waren. Danach ließ die SS ihre Opfer von den Lastwagen absteigen und sich entkleiden, wobei Schuhe, Überbekleidung und Unterwäsche in separaten Stapeln abzulegen waren. Im Anschluss befahlen die Mörder ihren Opfern, sich in Gruppen zu 20 Personen an den Rändern der Gruben aufzustellen  ; danach erschossen sie die SS-Kommandos, die im Osten dabei manchmal von örtlichen Helfershelfern unterstützt wurden. Die toten oder sterbenden Körper fielen in die Grube und SS-Leute gaben etwaigen Überlebenden den Gnadenschuss. Zu den schockierendsten dieser zahllosen Verbrechen gehört zweifellos die Ermordung von rund 35.000 Juden aus Kiew in der Ukraine Ende September 1941. Sie erfolgte in der Schlucht von Babi Yar, ein wenig außerhalb der Stadt. Kurz zuvor hatte die Wehrmacht die Stadt nach heftigen Kämpfen gegen die Rote Armee eingenommen. Das deutsche Oberkommando befahl die Erschießung der Juden als Vergeltung für ausgedehnte Explosionen in den neu errich– 99 –

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teten deutschen Befehlsstellen im Hotel Continental und den umliegenden Gebieten  ; für diese Explosionen, welche die Stadt in Brand setzten und die vielen deutschen Soldaten das Leben kosteten, machten die Deutschen die Juden und nicht etwa die erfahrenen Pioniere der Roten Armee, die in Wahrheit die Täter waren, verantwortlich.116 Im Frühling 1942 befahl die SS einen Wechsel der Methode bei der Tötung jüdischer Frauen und Kinder, indem nunmehr Gaswagen verwendet wurden. Nachdem die zur Erschießung bestimmten Männer von ihren Familien getrennt worden waren, führte man Frauen und Kinder zu diesen neu konstruierten Spezialwagen, in denen die Opfer während der Fahrt zu den als Gräber dienenden Gruben durch Auspuffgase getötet wurden. Vom Beginn der Einleitung der Auspuffgasse ins Wageninnere bis zum Tod der Opfer dauerte es ca. 10 bis 15 Minuten. Unmittelbar nach dem Eintreffen der Lastwagen an den Gräbern, deren Lage die Offiziere der Einsatzgruppen zuvor ausgewählt hatten, erfolgte die massenweise Beisetzung der Ermordeten. Ohlendorf entging nicht einer angemessenen Bestrafung seiner Verbrechen als Kommandeur der Einsatzgruppe  D. Nach seiner Aussage im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess wurde er unter Anklage gestellt und gegen ihn als den Hauptangeklagten in einem der zwölf Nachfolgeprozesse in Nürnberg, bei denen die USA als alleiniger Ankläger auftraten, verhandelt. Der aus drei amerikanischen Richtern bestehende Gerichtshof fand ihn der Begehung von Kriegsverbrechen und von Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig und verurteilte ihn zusammen mit weiteren Angeklagten zum Tode. Am 7. Juni 1951 wurden Ohlendorf und drei weitere Befehlshaber von Einsatzgruppen gehängt.117 In seiner Nürnberger Zeugenaussage ging Lahousen auch auf seine nachrichtendienstliche Verbindung mit seinem Vorgänger als Leiter der Abwehr-Abteilung II (Sabotage und Zersetzung), Oberst Helmuth Groscurth, ein. Groscurth hatte seinerzeit Lahousen Admiral Canaris und dessen Abwehr-Kameraden, die im Widerstand tätig waren, bei einem Besuch in Wien zu nachrichtendienstlichen Zwecken vorgestellt. Dieser Begegnung vorausgegangen war ein Treffen in Wien 1937, das »der kleine Anschluss« genannt wurde. Das von den Regierungschefs beider Staaten im Vorfeld abgesegnete Treffen hatte den Zweck, neues Nachrichtenmaterial über die tschechoslowakische Armee zu prüfen  ; es fand zu einer Zeit gesteigerter Spannungen zwischen der NS-Regierung Deutschlands und der konservativen, aber antinationalsozialistischen Regierung Österreichs statt. Auf alle Fälle kannten sich Lahousen und Groscurth lange – 100 –

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genug, um im jeweils anderen einen hochrespektierten Kollegen im nachrichtendienstlichen Geschäft, der obendrein ähnliche Ansichten über die NS-Führung vertrat, zu sehen. Darüber hinaus arbeiteten beide innerhalb des Widerstandes der »Abwehr« zusammen. Gemeinsam waren beiden Offizieren auch ihre vergleichbaren literarischen Qualitäten, denn die von ihnen verfassten Schriftstücke zeichneten sich durch Direktheit und Klarheit der Formulierungen aus.118 Trotz Groscurths Auftreten, das Seriosität und seine totale Hingabe an seine militärischen Pflichten ebenso auszeichnete wie seine Verbundenheit mit seinen sonstigen Aufgaben als aktiver Angehöriger des Widerstandes, titulierten ihn seine Kameraden in der »Abwehr« gerne als »Muffel«.119 Bei einem der üblichen morgendlichen Stabsbesprechungen lobte ihn Admiral Canaris wie folgt   : »Muffel, Sie sind der richtige Mann für die Abwehr, denn Sie sagen immer die Wahrheit, und in unserem Dienst glaubt die niemand.« Groscurth selbst stellte seine Humanität gleich nach den schrecklichen Ereignissen der »Reichskristallnacht« (9.–10. November 1938) unter Beweis. Die Ausrede der Nationalsozialisten für diese Grausamkeit war die Ermordung Ernst vom Raths, eines deutschen Diplomaten der Botschaft in Paris, durch einen jungen jüdischen Studenten namens Herschel Grünspan (auf Polnisch  : Grynszpan). Grynszpan erschoss vom Rath als Vergeltung für die miserable Behandlung seiner in Polen geborenen Eltern durch die SS an der deutschpolnischen Grenze. Einige Tage später erlag vom Rath seinen Verletzungen, was dem NS-Regime Zeit für die Planung einer Vergeltungsaktion verschaffte. Das nachfolgende Verbrechen umfasste das Niederbrennen oder die Zerstörung jüdischer religiöser Stätten, Geschäfte und Wohnungen durch Nazi-Horden quer durch das ganze Reich, die »Ostmark« eingeschlossen. Die Polizei schritt nicht ein. Die »Reichskristallnacht« – die in Wahrheit eine ganze Woche, nicht nur eine Nacht andauerte – war von Joseph Goebbels, Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda sowie NSDAP-Gauleiter von Berlin, zum Zweck der Terrorisierung der noch im Reich lebenden 450.000 Juden befohlen worden. Zerstört oder beschädigt wurden 7.500 jüdische Geschäfte und 171 Synagogen  ; 91  Juden wurden ermordet und 26.000 von ihnen in Konzentrationslager verschleppt. Am 10. November 1938 schrieb Groscurth mit Blick auf die »Reichskristallnacht« in sein persönliches Tagebuch  : »Man muss sich jetzt schämen, ein Deutscher zu sein.«120 Die Verbindung zwischen Lahousen und Groscurth bestand während des Polenfeldzugs fort, bei dem Groscurth in neuer Verwendung als Verbindungsof– 101 –

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fizier zwischen »Abwehr« und Wehrmacht eingesetzt wurde. Anfang September 1939 wandte sich Groscurth an Lahousen, damit dieser ein Luftlandekommando der »Abwehr« in Bataillonsstärke für einen Angriff in Südpolen nahe der Grenze zu Rumänien bereitstelle. Das militärische Ziel bestand in der Zerstörung dreier Eisenbahnlinien zwischen Polen und Rumänien. Groscurth benötigte zu diesem Zweck den Luftlandeverband der »Abwehr«, denn so nahe an der Grenze konnte die Luftwaffe wegen der Gefahr von Beschädigungen auf dem Gebiet des deutschen Verbündeten Rumänien nicht eingesetzt werden. In seinem Tagebuch hielt Lahousen den Empfang dieser Anforderung seitens Groscurths mit 13.45 Uhr am 6. September 1939 fest. Aus dem Tagebucheintrag lässt sich ersehen, dass die Luftlandeeinheit ihre Operation von dem Feldflugplatz der Luftwaffe in Kamienace in der Ostslowakei, nahe der Stadt Humanne, aus beginnen sollte. Anscheinend wurde das Unternehmen erfolgreich abgeschlossen, auch wenn Lahousens Tagebuch hierüber keinen Aufschluss gibt.121 Vielleicht aus Enttäuschung über die Unmöglichkeit, einen Wechsel in der Staatsführung herbeizuführen, suchte Groscurth bald darauf um seine Versetzung zu einer Infanteriedivision an. Kurze Zeit später wurde er als Generalstabsoffizier der 295. Infanteriedivision zugeteilt, die im Rahmen der 11. Armee vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion in Rumänien stationiert war. In dieser Division diente Groscurth während des Russlandfeldzugs, bis sein Verband zusammen mit rund 260.000 weiteren Soldaten Deutschlands und der Achsenstaaten Anfang Februar 1943 im Kessel von Stalingrad zur Kapitulation gezwungen wurde. Am 7.  April 1943 starb Groscurth in einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager namens Frolow an Typhus. Etwa drei Jahre später, also nach Kriegsende, benachrichtigten die Sowjets seine Familie. Gegen Ende 1946 zelebrierte Groscurths Vater, ein lutheranischer Geistlicher, einen Gottesdienst zum Gedächtnis an das Leben seines Sohnes und dessen Dienst für sein Vaterland als ein überzeugter Aktivist des Abwehr-Widerstandes gegen die NSDiktatur und deren Verbrechen. Unter den 1970 veröffentlichten Korrespondenzen und sonstigen Papieren befand sich ein persönlicher Brief des führenden Widerständlers Carl Goerdeler, der sich für Groscurths Beileidbekundung anlässlich des Todes von Goerdelers zweitem Sohn, Leutnant Christian Goerdeler, an der Ostfront bedankte. Der junge Offizier war kurz vorher nach einer sechswöchigen Inhaftierung wegen schriftlich geäußerter Kritik an der NS-Führung zu seiner Truppe zurückgekehrt.122 Lahousen und Groscurth hatten noch etwas gemeinsam  : Beide führten Kriegstagebücher über ihren militärischen Einsatz (Groscurth führte zusätzlich – 102 –

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ein privates Tagebuch), die den Krieg und die angestrebte Vernichtung durch die Gestapo überdauerten. Lahousen bewahrte seine Ausfertigung des Kriegstagebuches der Abwehr-Abteilung II bei einem vertrauenswürdigen Rechtsanwalt in Wien auf  ; Groscurth brachte seine beide Tagebücher und seine sonstige Korrespondenz auf dem Gut seiner Frau weit entfernt von Berlin in Sicherheit. Dort wurden die Groscurth-Tagebücher zusammen mit weiteren wertvollen Unterlagen des Widerstandes sowie mit Niederschriften etc. in einem Garten, der einem Freund der Familie gehörte, sorgfältig vergraben. Nach dem Juli 1944 suchte die Gestapo nicht nach Groscurths Unterlagen, obwohl seine Beteiligung am Widerstand kein Geheimnis war  ; schließlich konnte man davon ausgehen, dass er in Stalingrad gefangen genommen worden war, was weitere Nachforschungen sinnlos machte.123 Als die Groscurth-Tagebücher und sein übriges Schrifttum nach Kriegsende wiederentdeckt wurden, war Historikern bald klar, dass dieses Material einen wertvollen Beitrag zur Geschichte des Abwehr-Widerstandes bedeutete sowie wichtige historische Dokumente über den Russlandfeldzug beinhaltete. Eine Edition der Groscurth-Dokumente erschien 1970.124 Darunter befand sich das Original eines Memorandums (von dem auch sechs Durchschläge existierten) mit dem Titel »Anhang  IV. Die Juden-Erschießungen in Bjelaja Zerkow im August 1941«. Groscurths vierseitige Aufzeichnung sowie weitere Dokumente beschreiben seine Eindrücke als Augenzeuge bei einem sich über zwei Tage erstreckenden Ereignis im August 1941. Das Sonderkommando 4a unter SS-Standartenführer Paul Blobel, ein Teil der Einsatzgruppe C unter dem Befehl von SS-Brigadeführer Dr. Otto Rasch mit Standort Kiew, hatte dort Juden ermordet. Andere Teile der Einsatzgruppe waren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit an der oben beschriebenen Mordaktion von Babi Yar im folgenden Monat beteiligt. Groscurth berichtete, die beiden Geistlichen seiner Division, sowohl der katholische als auch der protestantische, seien an ihn in seiner Eigenschaft als Generalstabsoffizier der 295.  Infanteriedivision mit Beschwerden herangetreten  ; diese betrafen den trostlosen Zustand von rund 90 jüdischen Kindern im Alter bis zu fünf Jahren, darunter neugeborene Säuglinge. Sie alle waren vollkommen allein in einem nahe gelegenen Gebäude ohne Nahrung und Wasser seit dem frühen Morgen dieses Tages zurückgelassen worden, denn die SS hatte ihre Eltern, nahen Verwandten und die übrigen Juden dieser Gegend  – geschätzte 500 bis 900 Personen – ermordet. Getrennt von ihren Familien waren die 90  jüdischen Kinder in einem Gebäude mit  – trotz der Augusthitze  – ge– 103 –

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schlossenen Fenstern verblieben. Sie schrien und bettelten um Wasser und Nahrung. Sowohl die beigestellten ukrainischen Wachen als auch die in der Nähe untergebrachten deutschen Soldaten konnten diese Schreie hören. Gros­ curth meldete seinen Vorgesetzten den Besuch der Feldgeistlichen und bestätigte deren Bericht. Dann wurde Sanitätspersonal zu den Kindern geschickt, um deren Los zu erleichtern. Am Morgen des folgenden Tages erschienen mehrere SS-Offiziere bei Groscurth und verlangten von ihm einen Befehl an seine Truppen, die Kinder zu töten. Er weigerte sich. Schließlich nahm die SS die Kinder fort und erschoss sie an einer Begräbnisstätte, wo ihre zuvor ermordeten Familienangehörigen lagen. Als Sohn eines Geistlichen von all dem zutiefst schockiert, konnte Groscurth nichts anderes tun, als sein Gefühl der Scham als deutscher Offizier über den Mord an diesen unschuldigen Kindern und deren Familien zum Ausdruck zu bringen. Sein Augenzeugenbericht über dieses Verbrechen wurde erst 1970, beinahe 30  Jahre nach der Niederschrift, publiziert und stand folglich für den Nürnberger Prozess nicht zur Verfügung. Das Dokument beweist in seiner lebendigen Sprache den brutalen und kaltblütigen Mord, den die Erschießungskommandos der Einsatzgruppen an jüdischen Männern, Frauen und Kindern begangen hatten.125 Die Anklage in Nürnberg verfügte allerdings über ausreiches Beweismaterial, um Verurteilungen jener Angeklagten zu erreichen, die aktiv die Einrichtung und die Operationen der Einsatzgruppen angeordnet hatten, welche die Ermordung der Juden Europas im Allgemeinen und der erwähnten spezifischen Opfer im Besonderen zum Ziel hatten. Gleichwohl plante das RSHA mit der Verwendung von Giftgas in Vernichtungslagern den Einsatz noch tödlicherer Mittel zur Ausrottung der Juden Europas. Der Mord an den europäischen Juden durch Giftgas in Konzentrations- und Vernichtungslagern Nach den meisten zuverlässigen Schätzungen betrug die Gesamtzahl der in den Konzentrations‑, Arbeits- und Todeslagern des »Dritten Reiches« durch Giftgas oder Überarbeitung getöteten europäischen Juden rund vier Millionen, zu denen noch weitere zwei Millionen Opfer von Exekutionen, überwiegend von den Einsatzgruppen und deren lokalen Helfershelfern ausgeführt, hinzukamen.126 Planung und Errichtung der Lager folgten keiner vorgegebenen Linie, sondern stellten eine Kette von Anpassungen dar, bei denen die widerstreitenden An– 104 –

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sprüche einer gesteigerten Rüstungsproduktion durch Ausbeutung von Zwangsarbeitern mit dem Ziel der Nationalsozialisten, die aufgrund ihres Alters oder Gesundheitszustandes arbeitsunfähigen oder arbeitsunwilligen Juden zu töten, graduell verschmolzen wurden. Wie auch immer, die Planungen der SS gingen von der Annahme aus, dass es wesentlich effizienter sei, die Opfer an einen zentralen Ort zu bringen, um sie dort in zwei Gruppen aufzuteilen  : in jene, die Zwangsarbeit leisten mussten, und in jene, die sofort ermordet werden sollten. Diese Methode erwies sich gegenüber dem Verfahren, die Opfer zu jagen und sie dann an Gruben in der Nähe ihrer Wohnstätten zu erschießen, als überlegen. Die ursprüngliche Planung der SS ging nur von wenigen großen Zentren dieser Art bzw. Konzentrationslagern aus, in denen die Opfer in die zwei erwähnten Gruppen unterteilt werden sollten. Für die SS-Planungen war es von zentraler Wichtigkeit, dass die für die KZs ausgewählten Orte über gute Bahnanschlüsse verfügten und ausreichend rollendes Material bereitgestellt werden konnte, um die Opfer in geordneter Weise dorthin zu transportieren. Für diesen Zweck Waggons und Lokomotiven abzustellen galt oft als wichtiger als der Bedarf der Wehrmacht für den Transport von Soldaten und Kriegsmaterial. Die meisten größeren Lager, denen Gaskammern angeschlossen waren, lagen im Osten Deutschlands oder im früheren Polen, sei es im Generalgouvernement oder in den an das Reich angeschlossenen polnischen Gebieten. Den größeren dieser Lager waren Außenlager, meist zu Arbeitszwecken, angegliedert. In der Regel befanden sich die Tötungseinrichtungen sowie die Krematorien zum Verbrennen der Leichen in nur wenigen der ganz großen Lager mit direkten Bahnanschlüssen. Die Separierung der dort eintreffenden Opfer erfolgte routinemäßig gleich nach ihrer Ankunft. Die zur Vergasung bestimmten Opfer mussten sich unter dem Vorwand der Entlausung oder des gemeinsamen Duschens in einem großen Raum, der über Gasdüsen verfügte, entkleiden. Nach der Vergasung trugen kräftige Gefangene die Leichen aus den Gaskammern zu den Verbrennungsstätten mit ihren großen Krematorien. Jene Opfer, die für die Zwangsarbeit selektiert worden waren, hatte man zuvor von den Todeskandidaten getrennt und brachte sie dann zu nahe gelegenen Arbeitsstätten. Die Vorgeschichte dieser Lager hatte schon früher begonnen. Bereits kurz nach dem 30. Januar 1933 wurde das erste KZ des »Dritten Reiches« in Dachau, nordwestlich von München am Fluss Amper, einem Zufluss der Isar, auf dem ausgedehnten Gelände einer früheren Fabrik errichtet. Später eröffneten die – 105 –

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NS-Machthaber die Lager Buchenwald bei Weimar in Mitteldeutschland und Sachsenhausen ca. 30  Kilometer nordöstlich von Berlin. Anfangs waren die meisten Opfer Deutsche, nämlich angebliche oder wirkliche Gegner des NSRegimes, einschließlich zahlreicher deutscher Juden. Der erste Transport mit nicht deutschen Opfern erreichte Dachau am 2.  April 1938, ca. drei Wochen nach dem »Anschluss« Österreichs. In einem Sonderzug aus Wien wurden ca. 100 österreichische NS-Gegner, etwa ein Drittel davon Juden, dorthin gebracht.127 Während dieses Transportes ereignete sich mindestens ein Selbstmord. In Ergänzung seiner sonstigen finsteren und todbringenden Funktionen diente Dachau später auch als eine Art Prominenten-KZ. Eine der ersten Häftlinge war der bekannte protestantische Theologe Dr. Martin Niemöller. Er kam 1937 als »persönlicher Häftling« Hitlers in dieses Lager, da er in seinen Predigten Kritik an der NS-Diktatur geübt hatte und weil er einer der engagiertesten Organisatoren der Bekennenden Kirche war. Diese Richtung innerhalb der evangelischen Kirche hatte das Christentum für unvereinbar mit der NS-Ideologie erklärt. Mit Niemöller waren zeitweilig der frühere österreichische Bundeskanzler Kurt (von) Schuschnigg und der französische Politiker Leon Blum in Dachau inhaftiert. Im Gegensatz zu den Millionen der »gewöhnlichen« Häftlinge konnten die allermeisten Prominenten bei Kriegsende von US-Truppen in Tirol lebend befreit werden. Am Tag vor Lahousens Zeugenaussage vom 30.  November 1945 hatte die amerikanische Anklagebehörde in Nürnberg Filme über die Befreiung der Konzentrationslager Dachau, Buchenwald und Bergen-Belsen durch amerikanische und britische Truppen, die das US Army Signal Corps aufgenommen hatte, vorgeführt. Die Aufnahmen zeigten die Zustände zum Zeitpunkt der Befreiung der Lager. Die größeren und noch tödlicheren Lager im Osten hatte das NSRegime länger unterhalten  ; sie wurden von der Roten Armee relativ spät befreit. Vor Aufgabe der Lager versuchte die SS alle Spuren der dort erfolgten Tötungen zu beseitigen, inklusive der Gaskammern und Krematorien. Die amerikanischen Ankläger hatten keinen Zugang zum Lagerkomplex von Auschwitz (Oswiecim) im Osten, wo rund zwei Millionen  – großenteils jüdische  – Opfer im Lager Birkenau durch Zyklon B vergast worden waren. Ihre Körper wurden dann in ebenfalls in Birkenau, einem Teil des Lagerkomplexes Auschwitz, errichteten Krematorien verbrannt. Entsprechend stützte sich die amerikanische Anklagevertretung eher auf Beweismittel aus den von Amerikanern und Briten befreiten Lagern als auf solche, die aus den größeren, von der Roten Armee befreiten, den Amerikanern aber nicht zugänglichen Lagern im Osten stammten. – 106 –

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Nur durch einen Glücksfall konnten die US-Ankläger im späteren Verlauf der Verhandlungen den berüchtigten Kommandanten von Auschwitz von Mai 1940 bis Dezember 1943, Rudolf Franz Ferdinand Höß, ins Kreuzverhör nehmen. Als im April 1946 die Anklage gegen Ernst Kaltenbrunner, Chef des RSHA und Nachfolger des ermordeten Reinhard Heydrich, erörtert wurde, rief Kaltenbrunners Verteidiger Dr.  Kurt Kauffmann Rudolf Höß als Zeuge der Verteidigung auf. Damit wollte er zeigen, dass Kaltenbrunner mit dem Betrieb der KZs und den Einsatzgruppen nichts zu tun gehabt hatte. Höß sagte freiwillig und mit Überzeugung aus, dass während seiner Kommandoführung in Auschwitz zwei Millionen Juden, »Männer, Frauen und Kinder ermordet worden waren.«128 Da die Aussage von Höß alleine dastand, war sie nicht glaubwürdig genug, um angesichts des überwältigenden sonstigen Beweismaterials über Schuld oder Unschuld Kaltenbrunners zu entscheiden. Höß war kurz zuvor von der britischen Militärpolizei verhaftet worden. Nach seinem Nürnberger Auftritt als Zeuge der Verteidigung für Kaltenbrunner wurde er der polnischen Justiz zur Aburteilung übergeben. Diese war zuständig, da Höß seine Verbrechen hauptsächlich auf ehemals polnischem Gebiet begangen hatte und da seine ersten Opfer polnische Staatsbürger waren. Er wurde vor einem polnischen Gericht angeklagt und am 29. März 1947 der Begehung von Kriegsverbrechen für schuldig befunden. Anfang April 1947 bestätigte das oberste polnische Gericht in Warschau das Todesurteil. Höß wurde am 16. April 1947 vor seinem früheren Haus in Auschwitz gehängt.129 Abgesehen von Auschwitz existierten fünf große Konzentrations- und Todeslager, alle auf dem Gebiet des einstigen Polen, entweder in den vom Deutschen Reich annektierten Gebieten wie dem Wartheland oder im Generalgouvernement, das der in Nürnberg angeklagte Hans Frank von Krakau aus regierte. Diese fünf Lager waren Belzec (mit Opfern aus den Ghettos von Lublin und Lemberg), Sobibor (mit Opfern aus Polen, den Niederlanden und der Slowakei), Treblinka (mit Opfern aus Warschau), Maidanek (mit Opfern aus Lublin) und Chelmno/Kulmhof am Fluss Ner (mit Opfern aus Lodz).130 Jedes dieser sechs großen Lager verfügte wenigstens über eine Todeszone, in der die Opfer gleich bei ihrer Ankunft selektiert wurden  ; die meisten brachte man unter dem Vorwand der Entlausung in einen geschlossenen Raum und ermordete sie dort mit Zyklon B. Ausgewählte Häftlinge des Lagers entfernten dann die Körper und brachten sie zur Verbrennung in die Krematorien. Das NS-Regime unternahm erhebliche Anstrengungen zur Verschleierung des Charakters und des Zweckes der von ihm errichteten Konzentrationslager. Abge– 107 –

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sehen von den auf Reichsgebiet bereits bestehenden Lagern wurden alle übrigen Lager so weit im Osten wie nur möglich und abseits von größeren städtischen Zentren erbaut. Bald schon erregten die Lager die Aufmerksamkeit von Joseph Goebbels, seit März 1933 Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, sowie der SS-Gewaltigen, allen voran Reinhard Heydrichs. Die führenden Männer des »Dritten Reiches« gelangten zur Überzeugung, man bedürfe eines – noch nicht existierenden  – »humanen« Konzentrationslagers, das sich in gehöriger Entfernung von den im früheren Polen befindlichen Lagern befinden sollte. Entsprechend fiel die Entscheidung, eine Art Musterlager oder ein Modellghetto in der Stadt Theresienstadt (Terezín) ca. 50 Kilometer nördlich von Prag im von den Deutschen besetzten Protektorat Böhmen und Mähren zu errichten. Diese ursprünglich von den Österreichern 1780 gegen einen preußischen Einfall errichtete Garnisonsstadt erlebte ab Mitte 1940 eine tief greifende Umwandlung seitens der Deutschen. Zu den Umgestaltungsmaßnahmen zählten die Aussiedlung der bisherigen rund 7.000 Bewohner und der Bau eines anfänglich nur für tschechische Juden bestimmten Lagers. Bald schon wurde der unverdiente Ruf Theresienstadts als eines »menschlichen« KZ gänzlich obsolet, als Heydrich das neue Lager als Transitstation zu den Todeslagern bestimmte. 1944 lud Goebbels das Internationale Rote Kreuz zu einem Besuch des Lagers und zur Teilnahme an dessen kulturellem Angebot ein  ; dazu gehörten ein Kammerund ein Symphonieorchester, das sich aus den Lagerinsassen zusammensetzte. Ein NS-Propagandafilm namens »Der Führer schenkt den Juden eine Stadt« zeigte Theresienstadt als eine Heimstatt für alte Menschen und als ein Musterghetto. Erst nach der Eroberung der Stadt durch die Rote Armee im Mai 1945 kam die Wahrheit ans Licht. Unter den rund 152.000 nach Theresienstadt verbrachten Juden gab es kaum 30.000 Überlebende. Im Lager selbst starben ca. 34.000 Menschen, und von den in die Todeslager in Polen verschleppten 86.000 früheren Insassen wurden mindestens 84.000 ermordet.131 Unter allen Todeslagern war Auschwitz mit seinem Nebenlager Birkenau zweifellos mit Abstand das größte. In ihm wurden während seiner rund vierjährigen Existenz mindestens zwei Millionen Menschen, die Mehrzahl davon Juden, ermordet. Im August 1939 war Auschwitz (Oswiecim) eine Stadt mit einigen tausend Einwohnern an der Weichsel rund 30  Kilometer westlich von Krakau. Die wichtigste bebaute Zone der Stadt bestand aus rund 40 großen Ziegelhäusern, in denen der Stab und die Mannschaftsunterkünfte eines polnischen Artillerieregiments untergebracht waren. Vor dem Ersten Weltkrieg hatte die Lokalität als Unterkunft einer österreichisch-ungarischen Kavallerieeinheit – 108 –

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gedient. Während der 1920er­-Jahre wurden zusätzliche Gebäude für das polnische Regiment errichtet, dessen Aufgabe in der Verteidigung der westlichen Zugänge nach Krakau gegen einen deutschen Angriff bestand. Anfang August 1939 war das Regiment aus seinen Unterkünften in Richtung einer möglichen Front verlegt worden und hatte seine Geschütze nach Westen, in Richtung des erwarteten Angriffs der Wehrmacht, in Stellung gebracht. Da die polnische Armee die Städte verließ, um außerhalb derselben zu kämpfen, und nur rückwärtige Dienste zur Wartung der Einrichtungen zurückblieben, erlitten die Stadt Auschwitz und die militärischen Anlagen während des Polenfeldzugs bis zu dessen Ende Anfang Oktober 1939 nur geringe Schäden durch Feindeinwirkung. Nach Ende des Feldzugs besetzte kurzfristig eine Artillerieeinheit der Wehrmacht die Anlage, aber das RSHA schmiedete bereits andere Pläne. Das ganze Gebiet rund um Auschwitz wurde zu einem riesigen Baugelände, denn es verfügte über ausgezeichnete Bahnanschlüsse sowie über viel freies Gelände in ländlicher Umgebung zur Errichtung von Tötungseinrichtungen und zur Unterbringung von Zwangsarbeitern, die Fabriken errichten sollten. Die SS siedelte die Bewohner des nahe gelegenen Ortes Birkenau (Brzezinka) aus, um ein Todeslager mit direktem Anschluss an das europaweite Eisenbahnnetz zu bauen. Weitere benachbarte Ortschaften wurden ebenfalls freigemacht und die Gebäude abgerissen, um Platz für die Errichtung von Fabriken für die deutsche Kriegswirtschaft zu gewinnen. Am 14.  Juni 1940 wurde die erste, 728 Personen umfassende Gruppe polnischer Gefangener aus dem Gefängnis in Tarnow nach Auschwitz verschickt.132 Weitere polnische Gefangene wurden bis zum Herbst 1944 in das Lager verschleppt. Auschwitz, das größte unter den Konzentrations- und Vernichtungslagern, spielte bei der Ermordung der Juden Europas eine herausragende Rolle. Über die Zahl der in Auschwitz ermordeten Juden existieren verschiedene, nicht immer übereinstimmende Schätzungen, die von 1,1 Millionen über eine Gesamtzahl der Ermordeten von 2 Millionen (die meisten davon Juden) bis zu 3 Millionen reichen. Die meisten Tötungen erfolgten in der zweiten Kriegshälfte, aber noch bevor sich die Rote Armee im Januar 1945 der Gegend näherte. Der sowjetische Vormarsch veranlasste die SS-Wachen zur Flucht, wobei sie vorher alle belastenden Beweise einschließlich der überlebenden Häftlinge und  – vor allem – die Gaskammern und Krematorien zu beseitigen trachteten. Das Vorhandensein solcher ausgedehnter Gaskammern und Krematorien ist ein unwiderlegbarer Beweis dafür, dass Auschwitz tatsächlich ein Vernichtungslager war. Auf alle Fälle ist unbestreitbar, dass die Mehrzahl der ermordeten Juden Euro– 109 –

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pas im Komplex Auschwitz-Birkenau ums Leben kam. Dieser Komplex bestand aus drei großen Lagern   : Auschwitz  I, Auschwitz  II-Birkenau und Auschwitz III-Monowitz, auch als Buna bezeichnet, weil dort synthetischer Gummi produziert wurde. Daneben gab es noch 50 Außenlager. Rudolf Franz Ferdinand Höß, Kommandant von Auschwitz vom Mai 1940 bis Dezember 1943, erklärte in einem vom US-Ankläger Oberst Amen verlesenen Affidavit, dass zwischen 1940 und dem 1. Dezember 1943 »mindestens 2,5 Millionen Opfer dort exekutiert, ermordet, vergast und dann verbrannt worden sind  ; eine weitere halbe Million fiel Entkräftung und Krankheiten zum Opfer, was insgesamt rund 3 Millionen ergibt.«133 Jüdische Opfer aus den Niederlanden wurden zuerst im Lager Westerbork konzentriert, um dann ins Reich deportiert und von dort letzten Endes in die Todeslager in Polen, allen voran Auschwitz, verschickt zu werden. SS-Gruppenführer Hanns Albin Rauter hatte die Deportation von 60.000 holländischen Juden nach Auschwitz angeordnet, wobei ihm Reichskommissar Arthur SeyßInquart, vor seiner Entsendung in die Niederlande ein erfolgreicher Wiener Rechtsanwalt, aktiv zur Hand ging. Ebenso aktiv war seine Rolle bei der Verschickung von (bis Mitte 1942) rund 250.000 holländischen Arbeitern zur Zwangsarbeit in Fabriken im Reichsgebiet. Obwohl er der NSDAP nicht formell angehörte, glaubte Seyß-Inquart zutiefst an einen unvermeidlichen Zusammenschluss Österreichs mit Deutschland und galt daher 1938 zu Recht mindestens als ein Krypto-Nationalsozialist. Während also Erwin Lahousen sich im Widerstand engagierte, als Spion für Österreich und Frankreich bzw. gegen das NS-Regime tätig war und im Nürnberger Prozess als erster amerikanischer Zeuge auftrat, war Seyß-Inquart in Nürnberg einer der 21 Angeklagten. Bei Prozessende im Oktober 1946 wurde er als einer von elf Angeklagten zum Tode verurteilt und bald darauf hingerichtet. Der Gerichtshof hatte ihn wegen seiner Tätigkeit in den besetzten Niederlanden der Begehung von Kriegsverbrechen für schuldig befunden. Während West- und Ostslawen aus offizieller NSSicht als »Untermenschen« galten, hatte Seyß-Inquart vergeblich versucht, mit Blick auf die nicht jüdischen Niederländer eine Linie kultureller und sozialer Freundschaft zu verfolgen. Dies schloss freilich die holländischen Juden nicht ein, denn diese behandelte er als Erzfeinde des »Dritten Reiches« und ließ sie in überfüllten Viehwaggons nach Auschwitz und zu den anderen von der SS im Osten betriebenen Vernichtungslagern bringen. In keinem von Deutschland besetzten Land konnten die dort lebenden Juden vor Verfolgung und Ermordung sicher sein. Norwegen zum Beispiel verlor 690 – 110 –

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seiner jüdischen Bürger in Auschwitz. Den heroischen, von ihrem König geleiteten Anstrengungen der Dänen gelang es, die Mehrzahl der dänischen Juden vor der Deportation in den Osten zu schützen. Auf der anderen Seite erhielt das Reich während der Kriegsjahre fünf Prozent seines Lebensmittelbedarfs aus Dänemark. Vom Herbst 1942 an spielte der Reichsbevollmächtige in Dänemark, Dr. Werner Best, der vorher in der Gestapo gedient hatte, eine wichtige Rolle bei der Verhaftung und Ermordung prominenter Dänen, die als Geiseln dienen sollten, um dänische Sabotageakte einzudämmen. Auf dem südlichen Balkan unterwarf die militärische Okkupation Jugoslawiens und Griechenlands im Frühjahr 1941 die dortigen jüdischen Bevölkerungen einer vergleichbaren Deportation zu den bekannten Todeslagern, insbesondere nach Auschwitz-Birkenau. Der deutsche Verbündete Italien hingegen erwies sich als wenig geeignet für eine Teilnahme am Holocaust. Vielmehr musste die Wehrmacht den italienischen Streitkräften, die bei ihrem Versuch, die griechische Armee zu besiegen, ein Desaster erlitten hatten, zu Hilfe kommen. Schon bald nach Beginn des deutschen Angriffs am 6. April 1941 konnte die SS den serbischen Teil Jugoslawiens »judenfrei« melden, da die SS und die Wehrmacht nahezu alle jüdischen Männer als Geiseln genommen und dann erschossen hatten. Die erste Erfassung der rund 55.000 Personen zählenden jüdischen Gemeinde Salonikis im März 1943 ging für die Opfer mit besonderer Grausamkeit und mit zahlreichen Belastungen einher.134 Der Großteil Griechenlands einschließlich Athens stand unter italienischer Verwaltung. Der deutsche Sektor beschränkte sich auf Mazedonien und das östliche Thrakien, wozu auch die Hafenstadt Saloniki gehörte. Jahrhunderte hindurch hatte die dortige jüdische Gemeinde ein blühendes Gemeindeleben entfaltet. Die fernen Vorfahren vieler der Opfer hatten sich nach ihrer Vertreibung aus Spanien gegen Ende des 15. Jahrhunderts in Saloniki niedergelassen. Viele Jahre lang war der Hafen von Saloniki als einziger in Europa am jüdischen Sabbat geschlossen – ein Akt des Respekts gegenüber den Juden, die rund ein Viertel der Stadtbevölkerung ausmachten. Diese Gemeinde, die in das Wirtschafts- und Kulturleben der mediterranen Hafenstadt mit ihrem heißen, doch milden Klima bestens integriert war, über Nacht festzusetzen und Mitte März 1943 in ungeheizten Viehwaggons nach Auschwitz zu deportieren, war ein grauenvoller Vorgang, der nur noch übertroffen wurde von der Trennung der Familien in solche, die zur Zwangsarbeit fähig schienen, und jene Männer, Frauen und Kinder, die dafür als zu jung oder als zu schwach galten. Diese zweite Gruppe wurde gleich nach – 111 –

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ihrer Ankunft unter dem üblichen Vorwand der Entlausung mit dem tödlichen Gas Zyklon B getötet. Nur 358 griechische Juden überlebten Auschwitz. Eine besondere Tragödie war das Schicksal der jüdischen Bevölkerung Ungarns. Die Regierung des bis März 1944 mit der Achse verbündeten Ungarn war bis zu diesem Zeitpunkt in der Lage, die Juden des Landes – wenigstens ansatzweise – vor der rassistisch motivierten Verfolgung seitens NS-Deutschlands zu bewahren. Zuvor hatten einige Gruppen innerhalb der Regierung Ungarns, die einen möglichen Sieg der Roten Armee voraussagten, versucht, entweder – wie Rumänien es am 23. August 1944 tun sollte – die Seite zu wechseln oder sich aus dem Achsenbündnis durch Kapitulation bzw. andere geeignete Schritte zurückzuziehen. Um das Ausscheren eines weiteren Verbündeten zu verhindern, befahl Hitler der Wehrmacht im März 1944, kurzfristig Ungarn zu besetzen (Unternehmen Margarethe). Die unzuverlässigen Mitglieder der ungarischen Regierung wurden verhaftet und durch zuverlässigere Männer ersetzt. Damit verloren die ungarischen Juden aber jeglichen Schutz seitens ihrer Regierung. Von seinem Büro im früheren Wiener Hotel Metropol am Schwedenplatz aus organisierte Adolf Eichmann mit großer Eile die Ermordung der ungarischen Juden. Die neue Regierung Ungarns hatte sich zur Bereitstellung von 100.000 jüdischen Zwangsarbeitern für deutsche Flugzeugfabriken verpflichtet. Binnen kurzer Zeit wurden 438.000 ungarische Juden in Viehwaggons in das rasch erweiterte Lager Auschwitz transportiert. Rund zehn Prozent selektierte man bei ihrer Ankunft zur Zwangsarbeit, die sie  – wie angenommen wurde  – nicht überleben würden. Die restlichen 90 Prozent wurden sofort vergast. Später zwang die SS weitere 150.000 Juden zu einem Fußmarsch über die rund 150 Kilometer lange Strecke von Budapest zur früheren österreichischen Grenze. Diejenigen, die überlebten, gelangten dann ins KZ Mauthausen nördlich von Linz in der »Ostmark«, wo sie kurzzeitig interniert wurden. Nach dem Abmarsch dieser 50.000 Juden ins Reich steckte man die verbliebenen Budapester Juden in ein Ghetto, um sie leichter kontrollieren zu können. Viele Gefangene aus unterschiedlichen Lagern, darunter jener nun im Osten von der Roten Armee bedrohten, wurden später ins überfüllte Lager Bergen-Belsen gebracht, wo weitere 50.000 Häftlinge an Krankheiten und Entkräftung starben, bevor die britische Armee das Lager befreite.135 Während die Rote Armee ihren Vormarsch auf das Reichsgebiet fortsetzte, begann die SS-Verwaltung mit dem Abbau der Konzentrationslager, wobei die am weitesten im Osten gelegenen zuerst an die Reihe kamen. Die noch lebenden Häftlinge wurden zu langen Märschen gezwungen, die nicht zuletzt den – 112 –

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Zweck verfolgten, dabei so viele wie möglich infolge ihres geschwächten Gesundheitszustandes zu eliminieren. Im Winter 1944/45 bzw. im Frühling 1945 hatte die SS diese Methode der Fußmärsche auf das gesamte KZ-System, nicht nur auf die im Osten gelegenen Lager, ausgedehnt. In Auschwitz begann dieser Todesmarsch am 17.  Januar 1945 und dauerte bis zur Befreiung des Lagers durch die Rote Armee am 27. Januar 1945 an. Der SS gelang die Evakuierung von beinahe 60.000 Gefangenen  ; in Auschwitz-Birkenau waren zum Zeitpunkt der Befreiung nur 7.000 Überlebende zurückgeblieben. Ganz oben auf der Prioritätenliste der SS stand ferner die Sprengung der zur Tötung der Opfer mittels Zyklon B benutzten, als Duschen getarnten Gaskammern sowie der zur Verbrennung der Leichen dienenden Krematorien. In Auschwitz-Birkenau zerstörte die SS so zwischen dem 21. und 26. Januar 1945 die Gaskammern und Krematorien und rückte dann ab, bevor die Rote Armee am folgenden Tag eintraf. Die sowjetischen Soldaten befreiten auch die übrigen KZ-Komplexe, welche die SS auf früher polnischem Gebiet unterhalten hatte, während amerikanische und britische Truppen dies mit den übrigen KZs innerhalb der Grenzen von Vorkriegsdeutschland taten.136 Rettungsaktionen der »Abwehr« zugunsten der Juden Europas Nachdem Canaris im Januar 1935 mit der Leitung der »Abwehr« betraut worden war, erweiterte er deren Apparat, indem er zahlreiche fachlich qualifizierte Offiziere und Zivilisten einstellte. Da sie an ihren hohen Standards festhielt und es sorgfältig vermied, Nationalsozialisten in ihren Reihen aufzunehmen, konnte die »Abwehr« während dieses Wachstumsprozesses ihr Renommee eines höchst qualifizierten, unabhängigen Nachrichtendienstes bewahren, ja sogar noch steigern. Ein damit gar nicht in Zusammenhang stehendes Ereignis, die Verkündung der sogenannten Nürnberger Rassegesetze auf dem NSDAP-Reichsparteitag in Nürnberg Anfang September 1935, erleichterte unbeabsichtigt die Expansion der »Abwehr«, denn ihr standen jetzt bestens qualifizierte Offiziere und Zivilisten zur Verfügung, die nach dem neuen Gesetz als Mischlinge galten.137 Da sie für ihre Unternehmungen Personen mit ganz unterschiedlichem Hintergrund benötigte, war die »Abwehr« von der Anwendung der Nürnberger Gesetze ausgenommen. Auch nach dem 30. Januar 1933 waren noch viele Mischlinge im Regierungsapparat beschäftigt. Später durfte aber beispielsweise Hans von Dohnanyi, ein – 113 –

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junger Jurist im Dienst des Auswärtigen Amtes, dort aufgrund der jüdischen Herkunft seiner Großmutter nicht mehr beschäftigt werden. Die »Abwehr« rekrutierte ihn sofort als zivilen »Sonderführer« und übertrug ihm ein wichtiges, mit außenpolitischen Fragen betrautes Referat. Hans von Dohnanyi war der Schwager von Pastor Dietrich Bonhoeffer  ; beide engagierten sich später im Widerstand. Kurz nach Beginn der Deportation deutscher Juden in die Konzentrationslager entwickelte von Dohnanyi eine Methode, um einzelne männliche Juden vor dieser Maßnahme zu bewahren. Er machte sich hierfür die der »Abwehr« zugestandene Ausnahme von den Nürnberger Gesetzen zunutze. Die dafür in Betracht kommenden Juden wurden in die »Abwehr« eingereiht, in einem Schnellkursus als Agenten ausgebildet und dann in dieser Funktion ins Ausland, häufig nach Lateinamerika, entsandt.138 Im März 1941 entwickelte die Dienststelle der »Abwehr« in Amsterdam unter der Leitung von Major Schulze-Bernett einen noch ausgefeilteren Plan, um mehrere hundert Juden aus Konzentrationslagern zur Infiltrierung Südamerikas zu verwenden. Der Plan wurde von Canaris genehmigt und mithilfe südamerikanischer Diplomaten in die Tat umgesetzt  ; 500 männliche Juden sollten aus den Niederlanden herausgeschmuggelt und auf diese Weise vor dem Holocaust gerettet werden. Selbst der Höhere SS- und Polizeiführer in den Niederlanden stimmte dem Plan zu. Die 500 Agenten stachen im Mai 1941 zu ihren neuen Posten in Südamerika auf neutralen Schiffen, die aus spanischen Häfen ausliefen, in See.139 Lahousen selbst verwendete die der »Abwehr« zugestandene Ausnahmerege­ lung zur Rettung einer österreichischen Mischlingsfamilie vor der NS-Verfolgung. Er arrangierte es, dass sein Jahrgangskamerad von der Militärakademie und enger Freund, Major Kurt Fechner, anfänglich der Abwehr-Dienststelle in Wien zugeteilt wurde   ; hierfür benutzte er die Vermittlung von Oberst Marogna-­ Redwitz, dem neuen Leiter dieser Dienststelle nach dem »Anschluss«. Später wurde Fechner zum Abwehr-Posten in Sofia und an weitere Stellen auf dem Balkan versetzt, wo er eng mit der französischen Spionin und Partnerin Lahousens, Madelaine Bihet-Richou, zusammenarbeitete. Während des ganzen Krieges konnte Lahousen seine Budapester Kameradin in Anspruch nehmen, um wichtige strategische Nachrichten über die Absichten der NS-Führung zu liefern. Selbst nach der Niederlage Frankreichs im Juni 1940 vermochte MAD es, weiterhin bedeutsames Nachrichtenmaterial an das Freie Frankreich zu liefern, wobei sie zeitweilig auch als Agentin für Vichy-Frankreich tätig war.140 – 114 –

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Nach dem Fehlschlag der Operation Pastorius (des Versuches, deutsche Saboteure in Long Island und Florida an Land zu setzen) ermunterte Hitler im Juni 1942 höchstpersönlich die »Abwehr«, Juden für ihre Operationen einzusetzen. Der Diktator beendete eine hitzige Aussprache mit Canaris und Lahousen in seinem ostpreußischen Hauptquartier Wolfsschanze mit der Frage  : »Warum haben Sie nicht Juden dafür verwendet  ?« Sowohl Canaris als auch Lahousen konnten Hitlers Vorschlag als offizielle Genehmigung für die weitere Verwendung von Juden in den Spionageunternehmen der »Abwehr« interpretieren  ; dies galt insbesondere für überseeische Gebiete, wo sie vor Verhaftungen der Gestapo in Sicherheit waren.141 Mit diesem Manöver konnte allerdings nur ein verschwindend kleiner Bruchteil der bedrohten Juden vor der Ermordung gerettet werden. Selbst sorgfältige Auswertungen der überlieferten Statistiken zur Ermordung von Juden in Konzentrationslagern durch die SS müssen sich mit der Gefahr auseinandersetzen, dass manche dieser Schätzungen überhöht sein könnten (insbesondere jene aus SS-Quellen), während andere Angaben viel niedriger liegen. Lagerkommandant Rudolf Höß behauptete beispielsweise, dass in Auschwitz-Birkenau drei  Millionen Gefangene (überwiegend Juden) getötet worden seien.142 Unterlagen der polnischen Behörden von Auschwitz gehen von 1,1 Millionen dorthin transportierten Juden aus. Die Zahl jener Gefangener, die infolge von Überbeanspruchung, Unterernährung oder Krankheiten verstarb, muss aus Gründen der Korrektheit in die Gesamtzahl der jüdischen Opfer eingerechnet werden, denn diese Opfer hatten massive Misshandlungen seitens der Wachen zu ertragen, die dazu angehalten und dafür bezahlt wurden, die Zahl der dem Tod geweihten Opfer zu erhöhen. Mit Sicherheit steht fest, dass die Anklage während des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses überzeugend nachwies, dass die Zahl der Juden, die in direkter Folge von den gegen sie ergriffenen Maßnahmen des »Dritten Reiches« zu Tode kamen, mehr als sechs Millionen Männer, Frauen und Kinder beträgt. In diese Zahl eingeschlossen sind die ungefähr zwei Millionen von den Einsatzgruppen, ihren örtlichen Helfershelfern und von anderen SS-Einheiten getöteten Juden sowie weitere rund vier Millionen, die in den Konzentrationslagern durch Gas oder auf andere Weise ermordet wurden. Aus diesen Gründen gilt der Holocaust als eines der schlimmsten Verbrechen der Weltgeschichte. Durch die Nürnberger Zeugenaussage von Erwin Lahousen am 30. November und am 1. Dezember 1945 als erster Zeuge der Anklage wurde über jeden Zweifel hinaus festgestellt, dass eines der hauptsächlichsten – 115 –

NS-Verbrechen an den Juden Europas

Kriegsziele der NS-Diktatur in der Ausrottung sämtlicher Juden Europas bestanden hatte. Diese Schlussfolgerung ergab sich unabweislich aus Lahousens Aussage zu jenen Direktiven, die Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop, ein Vertrauter Hitlers, in dessen Sonderzug in der Nähe von Warschau am 12. September 1939 ausgegeben hatte. Hatte der europäische Krieg am 3. September begonnen, als Großbritannien und Frankreich dem Deutschen Reich den Krieg erklärten, erfolgten nun gerade einmal neun Tage später diese Anweisung und die damit vorgegebene Zielsetzung. Lahousens Aussage vor dem Nürnberger Gericht machte deutlich, dass das vorrangige Ziel der NS-Diktatur die Vernichtung aller Juden Europas war.

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Kapitel 7

NS-Verbrechen an den Westalliierten

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ahousens dramatische und bedeutsame Aussage als Augenzeuge vor dem Gerichtshof in der Vormittagssitzung vom Freitag, dem 30.  November, sollte am Nachmittag fortgesetzt werden. Der Präsident des Gerichtshofes, Sir Geoffrey Lawrence, ein befähigter und erfahrener britischer Jurist, verkündete zuvor den Beschluss, die Sitzung für eine Mittagspause zu unterbrechen. Um Zeit zu sparen, hatten die USA als Gastgeber der Bereitstellung von Mahlzeiten zugestimmt, welche die US-Army anliefern und im wie außerhalb des Justizpalastes den Teilnehmern und den offiziellen Beobachtern des Prozesses servieren sollte. Die Zeit reichte nicht aus, um die Bewohner des Zeugenhauses – unter ihnen Lahousen – quer durch die Stadt zurück zu ihrer Unterkunft zu bringen, wo sie im Speisesaal ihr Mittagessen einnehmen konnten, um anschließend ins Gerichtsgebäude zurückgebracht zu werden, bevor die Verhandlung wieder eröffnet wurde. Gegen einen entsprechenden Kostenersatz trafen die USA vergleichbare Arrangements für die offiziell registrierten Pressevertreter. Für Zeugen wie Lahousen war vorgesehen, das Mittagessen getrennt von den übrigen Prozessteilnehmern einzunehmen. Oberst Amen versammelte einige bedeutsame Angehörige seines Stabes zu einem privaten Mittagsmahl in einem den amerikanischen Anklägern zur Verfügung stehenden Konferenzraum. Bei dieser Gelegenheit sollte die Zeugenaussage vom Vormittag durchbesprochen werden. Aufs Ganze gesehen waren Amen und seine Mitarbeiter mit dem Inhalt von Lahousens Aussage und der Art seines Auftretens während der vormittäglichen Sitzung durchaus zufrieden. Der erste und zentrale Zeuge der Anklage war gut vorbereitet, antwortete sicher auf die Fragen der Anklage und war ausgesprochen höflich, wenn nicht sogar unterwürfig gegenüber dem Gerichtshof und den Verteidigern. Im Laufe der Zeit zeigte der Zeuge sogar ab und zu Anzeichen von Humor. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Lahousen sich als effektiver und objektiver Zeuge erwiesen, der verständlicherweise von intensiven Gefühlen über die Besonderheiten seiner Tätigkeit vor und während des Krieges als Generalstabsoffizier der »Abwehr« und als führendes Mitglied des Widerstandes gegen die NS-Diktatur bewegt wurde  ; für ihn handelte es sich bei all dem um eine Frage seines Gewissens und der Ehre. – 117 –

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Lahousen hatte aber bis zu diesem Zeitpunkt in seiner Zeugenaussage nichts über seine Spionageaktivitäten zugunsten Österreichs und Frankreichs, die er zusammen mit seiner Partnerin MAD betrieben hatte, erzählt. Er blieb stets standhaft in seiner vehementen Ablehnung Hitlers und des Nationalsozialismus, obwohl von allen Offizieren und sonstigen Militärpersonen verlangt worden war, einen offiziellen persönlichen Eid auf Adolf Hitler, den sogenannten Hitler-Eid oder deutschen Eid, abzulegen.143 Unmittelbar nach Ende des Mittagessens, aber noch bevor die Nachtmittagssitzung beginnen sollte, nahm Oberst Amen seinen ersten Zeugen, Lahousen, zur Seite, um mit ihm außerhalb des Sitzungssaales 600 ein kurzes privates Gespräch zu führen. Im vollen Bewusstsein der Einzelheiten der Widerstandsaktivitäten seines Zeugen befragte Oberst Amen Lahousen höflich über seine französische Partnerin, Madame Bihet-Richou. Amen wusste bereits, dass MAD Lahousen erst kürzlich in seiner Unterkunft im Zeugengebäude über ein erweitertes Wochenende hinweg besucht hatte. Das Paar hatte alle Mahlzeiten im Speisesaal dieses Gebäudes gemeinsam eingenommen  ; Lahousens Wache von der Militärpolizei hatte das Zimmer mit seinem Bett und seinen persönlichen Sachen räumen und in eine Halle außerhalb dieses Raumes übersiedeln müssen. Lahousen antwortete, dass es ihr gut gehe und dass sie mit ihm ungeachtet seines Status als Kriegsgefangener der USA weiter in Kontakt bleiben werde. Amen forderte Lahousen dann auf, es die Anklage – insbesondere Amen selbst – wissen zu lassen, wenn er weitere Unterstützung benötige, sei es beim Treffen von Arrangements mit seiner früheren Partnerin und späteren engen Freundin oder in sonstigen Angelegenheiten. Lahousen war natürlich sehr erfreut darüber, dass die amerikanische Anklage sich ihm gegenüber weiterhin verpflichtet fühlte, da er als Offizier im deutschen Generalstab eine mutige und nicht erwartete Aussage gegen die 22 Angeklagten und die sechs angeklagten Organisationen gemacht hatte. Als Kriegsgefangener der US-Army kannte Lahousen das fortbestehende Interesse des britischen Counter-Intelligence Service (MI5) an der Befragung sämtlicher überlebender Generalstabs- oder Truppenoffiziere der »Abwehr«, die vor oder während des Krieges in direktem oder indirektem Kontakt mit der Irischen Republikanischen Armee (IRA) gestanden hatten. Vom Januar 1939 bis zum August 1943 war Lahousen als Chef der Abwehr-Abteilung  II (Sabotage und Zersetzung) mit der speziellen Aufgabe betraut gewesen, die Beziehungen der »Abwehr« mit der IRA zu überwachen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hatte der mit dem Fall betraute Offizier des OSS und des Army Counter-Intelligence Corps Lahousen bereits vor der Möglichkeit gewarnt, dass ihn der MI5 – 118 –

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im Anschluss an seine Aussage vor dem Gerichtshof intensiv über die IRA verhören würde.144 Die wiederholten Worte der Wertschätzung aus Oberst Amens Mund bewirkten zweifellos eine massive Verbesserung des moralischen Zustandes seines Kronzeugen in einem kritischen Moment von dessen Aussage gegen die angeklagten NS-Funktionäre. Die Morde an alliierten Kommandos In der Nachmittagssitzung des Nürnberger Prozesses am Freitag, dem 30. November 1945, brachte Oberst Amen ein neues Thema der Anklage gegenüber dem Zeugen Lahousen zur Sprache. Dieser neue Gegenstand betraf die Reaktionen der »Abwehr« auf eine Nachricht, die ihr der angeklagte Keitel im Februar 1942 hatte zukommen lassen. Darin hieß es, es werde ein Befehl vorbereitet, der die Umstände der sofortigen Exekution sämtlicher gefangen genommener Angehöriger feindlicher Kommandoeinheiten regeln würde  ; davon betroffen wären insbesondere britische und andere alliierte Kommandos.145 Lahousen antwortete dem Ankläger Amen, dass die »Abwehr« tatsächlich Hinweise auf einen solchen bevorstehenden Befehl erhalten hatte. Daraufhin hatte Canaris laut Lahousen eine Sonderbesprechung seiner Abteilungsleiter einberufen. Unter dem Vorsitz von Canaris selbst hatten sich Oberst Lahousen, Leiter von Abteilung II, die für die Abwehr-Kommandos verantwortlich war, und Vizeadmiral Leopold Bürkner, Leiter des Amtes Ausland, das bei der »Abwehr« für die relevanten völkerrechtlichen Fragen zuständig war, versammelt. Nach der Antwort der »Abwehr« auf den im Raum stehenden Befehl zur Exekution gefangener alliierter Kommandos befragt, antwortete Lahousen schlicht und einfach  : »Natürlich waren wir uns alle über dessen Zurückweisung einig.«146 Canaris und Lahousen entwarfen später zwei offizielle schriftliche Proteste der »Abwehr« gegen den Kommando-Befehl, die sie Keitel aushändigten. Die Ursachen für ihren Widerspruch waren zweifacher Natur  : 1. die bestehenden völkerrechtlichen Regeln, insbesondere die Bestimmungen der Genfer und Haager Konventionen, welche die Rechte von Kriegsgefangenen garantierten, und 2. das beträchtliche Risiko, wenn nicht die absolute Sicherheit von alliierter Vergeltung gegen das »Regiment Brandenburg« der »Abwehr«, das ähnliche militärische Aufgaben wie die Kommandos hatte. Als der für das »Regiment Brandenburg« verantwortliche Offizier protestierte Lahousen sofort und leidenschaftlich gegen den angekündigten Befehl ange– 119 –

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sichts solcher Vergeltungsmaßnahmen, die als seine Folge zu erwarten waren. Zunächst erhob die »Abwehr« ihre Einwände mündlich, da der Befehl noch nicht erlassen worden war. In der Folge unterbreitete sie dann zwei schriftliche Proteste  : den einen, nachdem der Befehl erlassen worden war, dass die Wehrmacht alle gefangenen alliierten Kommandos, selbst wenn sie ihre eigenen Uniformen trugen, sofort nach Gefangennahme erschießen müsse. Den zweiten schriftlichen Protest trug die »Abwehr« nach der Bekanntgabe der ersten Hinrichtung eines gefangenen britischen Kommandos vor. Alle Proteste in dieser Angelegenheit waren an Canaris’ Vorgesetzten, den Chef OKW, Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, einen der Angeklagten im Nürnberger Prozess, gesandt worden.147 General Nikittschenko, Richter für die Sowjetunion, unterbrach hier die Befragung durch Oberst Amen, um selbst dem Zeugen einige zusätzliche Fragen über die Behandlung sowjetischer Gefangener und über die am 12. September 1939 in Hitlers Zug erteilten Anordnungen zu stellen. Lahousen antwortete darauf, indem er bekräftigte, dass der Angeklagte von Ribbentrop persönlich diese Befehle erteilt habe. Dr.  Dix, Verteidiger des Angeklagten Hjalmar Horace Greeley Schacht, fragte den Gerichtshof, ob er dem Angeklagten drei kurze Fragen stellen dürfe.148 Bevor er dem zustimmte, bemerkte der Vorsitzende, dass es bereits nach 16.00 Uhr sei. Es war nun Zeit, den Zeugen und alle Angeklagten mit Ausnahme von Rudolf Heß zu entlassen und sich mit einem Antrag des Angeklagten Heß auf Niederschlagung der Anklage aufgrund seiner psychisch bedingten Prozessunfähigkeit zu befassen. Im weiteren Verlauf des Nachmittags lehnte das Gericht den Antrag von Heß ab. Am folgenden Vormittag, am Samstag, dem 1. Dezember, eröffnete der Vorsitzende die Sitzung, indem er den Beschluss verlas, wonach Heß fähig sei, dem Prozess zu folgen. Der Vorsitzende forderte dann Lahousen auf, den Zeugenstand zu verlassen und rief G. D. Roberts, den führenden Juristen des Vereinigten Königreiches, auf. Roberts stellte zu Beginn klar, dass die Frage der Verbrechen an Kriegsgefangenen ein Teil jener Anklagepunkte war, für den vorrangig die sowjetische Anklage verantwortlich zeichnete. Roberts berichtete aber auch über die Zustimmung des sowjetischen Hauptanklägers, General Rudenko, zur Befragung Lahousens durch ihn, Roberts. Er befragte Generalmajor Lahousen dann über dessen Kenntnisse betreffend die Hinrichtung von 50 Offizieren der Royal Air Force im März 1944. Die Offiziere hatten einen Massenausbruch aus dem Stalag Luft 3 in Sagan, Schlesien, durchgeführt  ; die meisten Entflohenen waren aber bald darauf wieder gefangen worden. Lahousen antwortete, dass er – 120 –

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dazu nichts aussagen könne, zumal er seit August 1943 einem Regiment an der Ostfront zugeteilt gewesen sei. Auf eine weitere Frage von Roberts fügte Lahousen noch hinzu, dass er darüber auch von seinen früheren Kameraden in der »Abwehr« absolut nichts erfahren habe.149 Die Anklage legte in einem späteren Stadium des Prozesses ihr Beweismaterial über die verbrecherische und brutale Hinrichtung der 50 kriegsgefangenen britischen RAF-Offiziere vor. Das Gericht stellte dazu fest, dass diese Hinrichtungen sowie weitere Tötungen alliierter Kriegsgefangener unter der unmittelbaren Verantwortung des Angeklagten Keitel stattgefunden hätten  ; Keitel habe direkte Befehle Hitlers weitergegeben. Ferner hob das Gericht hervor, dass diese Hinrichtungen ein Kriegsverbrechen vor dem Hintergrund des anwendbaren Völkerrechts, insbesondere der Genfer und Haager Konventionen, darstellten. Darüber hinaus war evident, dass die Hinrichtungen von Kriegsgefangenen wie im Fall der britischen Offiziere keine Einzelfälle darstellten, sondern im Verlauf des Krieges wiederholt vorgekommen waren. Darüber hinaus lagen Berichte vor über die Hinrichtung nicht britischer Kommandoangehöriger, darunter Norweger und Griechen, sowie von Personal der alliierten Luftwaffen, zum Beispiel von Amerikanern, Briten und Niederländern, durch SS und Wehrmacht. Eine weitere grauenhafte und verbrecherische Verletzung der Konventionen stellte die von der Waffen-SS zu verantwortende Tötung von mehr als 70 amerikanischen Soldaten im belgischen Malmedy Mitte Dezember 1944 dar, die im Zuge der Ardennen-Offensive gefangen genommen worden waren. Dieses Verbrechen wurde nicht den im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess Angeklagten zur Last gelegt, sondern stellte einen Anklagepunkt in einem späteren Verfahren dar. Die Frage nach den Kriegsverbrechen des »Dritten Reiches« gegen die alliierten Streitkräfte und insbesondere gegen die von Wehrmacht oder Waffen-SS gefangen genommenen alliierten Soldaten entwickelte sich alsbald zu einem viel breiteren Komplex als jenem der verbrecherischen Behandlung einer kleinen Anzahl kriegsgefangener alliierter Piloten. Der sogenannte Kommando-Befehl hatte eine komplizierte und komplexe historische Vorgeschichte.150 Nach einer frühen Erwähnung im Wehrmachtsbericht des OKW vom 8.  Februar 1942 begannen sich Frontoffiziere sowie Kommando-Soldaten beider Seiten für die diesem Thema gewidmeten einschlägigen Befehle zu interessieren. KommandoAngehörige interessierten sich ferner für Berichte über erfolgte Exekutionen in Ausführung eines OKW-Befehls zur Tötung solcher Kommando-Angehöriger gleich nach ihrer Gefangennahme oder später während ihrer Gefangenschaft. – 121 –

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Am 18.  Oktober 1942 erließ Hitler seinen streng geheimen KommandoBefehl.151 Aufgrund der Einstufung dieses Befehls als streng geheim war seine Weitergabe auf die zuvor hinsichtlich der Sicherheitsrisiken überprüften höheren Stabsoffiziere der Wehrmacht und die diversen Dienststellen des RSHA einschließlich der Gestapo, der SS, der Waffen-SS, der Einsatzgruppen und des SD begrenzt. Allgemein ging man davon aus, dass die höheren Stäbe der Wehrmacht den Befehl mündlich nach unten weitergeben würden, wobei dann rangniedrige Offiziere die Exekutionskommandos, die in der Regel unter dem Befehl des RSHA standen, bei der anstehendenden Tötungsaktion anweisen würden. Die üblicherweise komplizierte Befehlskette eröffnete diverse Freiräume, um den Befehl nicht weiterzugeben. Dies galt insbesondere für die gut ausgebildeten, dem Nationalsozialismus fernstehenden Offiziere der Wehrmacht, denen die von Deutschland übernommenen völkerrechtlichen Verpflichtungen bei der Behandlung von Kriegsgefangenen und von verwundeten feindlichen Soldaten in Erinnerung geblieben waren. Zu den internationalen Konventionen, denen Deutschland beigetreten war, zählte beispielsweise die Genfer Konvention »zur Erleichterung des Schicksals von Verwundeten« von 1864 (durch die ebenfalls in Genf unterzeichnete RoteKreuz-Konvention von 1906 ausgedehnt), das Haager Abkommen von 1899 »über Gesetze und Regeln des Landkrieges« sowie weitere Abkommen, die etwa bestimmte Waffen und Geschosse, unter anderem toxische Gase, verboten. Besonders wichtig war das zweite Haager Abkommen, das die Regeln des Landkrieges von 1907 betraf und das 40  Staaten, darunter alle größeren Staaten Europas einschließlich Deutschlands und der UdSSR, unterzeichnet hatten.152 Artikel 23 c des Haager Abkommens enthielt die folgende spezifische Bestimmung  : »Insbesondere ist die Tötung eines Feindes verboten, der seine Waffen niedergelegt oder keine Möglichkeit zur weiteren Verteidigung mehr hat.« Hitlers Kommando-Befehl stand in klarem Widerspruch zu dem Haager Abkommen. Die unzweideutige Regelung dieser Konvention ist vermutlich auch die Erklärung dafür, dass der Befehl als streng geheim eingestuft und nur mit erheblichen Einschränkungen in schriftlicher Form verbreitet wurde  ; man setzte stattdessen weitgehend auf mündliche Weitergabe. Daraus erklärt sich allerdings nicht der Umstand, dass das NS-Regime im weiteren Kriegsverlauf bereitwillig Meldungen über die Hinrichtung von alliierten Kommando-Angehörigen oder anderen Kriegsgefangenen bei ihrer Gefangennahme oder später durch die Wehrmacht oder die Waffen-SS veröffentlichte. Amerikanische und andere alliierte Ankläger bewiesen zuerst in Nürnberg, US-Ankläger danach – 122 –

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auch in späteren Kriegsverbrecherprozessen, dass die NS-Praxis der Exekution gefangener alliierter Soldaten zweifellos ein vom geltenden Völkerrecht pönalisiertes Kriegsverbrechen darstellte. Mit den deutschen Siegen über die Armeen von Dänemark, Norwegen, Holland, Belgien und Frankreich sowie mit der totalen Niederlage und der Evakuierung des Britischen Expeditionskorps (BEF) von Dünkirchen aus war die erste, europäische Phase des Zweiten Weltkrieges Ende Juni 1940 zu Ende gegangen. Von diesem überaus gelungenen Rückzug des geschlagenen BEF waren rund 225.000 Soldaten in zwölf Divisionen betroffen, von denen eine General (später Feldmarschall) Bernard Law Montgomery befehligte. Die BEF stellte die Elite des britischen Heeres dar. NS-Deutschland kontrollierte nun nahezu ganz Westeuropa, von Narvik jenseits des Polarkreises in Norwegen bis zu den Pyrenäen an der französisch-spanischen Grenze. Die strategische Lage Deutschlands stellte sich als ebenso stark wie gesichert dar, selbst wenn dessen Streitkräfte, was die restlose Kontrolle der eroberten Gebiete betraf, doch etwas überfordert, der deutsche Machtbereich überdehnt wirken mochte. Das im Osten Norwegens gelegene neutrale Schweden war mehr als gewillt, sein Eisenerz und sonstige wichtige Materialien an Deutschland zu verkaufen. Finnland unter Marschall Carl Gustav von Mannerheim, Oberbefehlshaber der finnischen Streitkräfte, erhoffte sich von Deutschland Schutz vor der Sowjetunion. Mit ihrem Angriff vom 30. November 1939 hatte die UdSSR den »Winterkrieg« eröffnet und Finnland am Ende unterworfen, worauf die Sowjetunion strategisch wichtige finnische Gebiete annektierte. Dem Überfall der Achse auf die UdSSR am 22. Juni 1941 schloss sich Finnland an, verfolgte aber kein anderes Ziel als die Rückgewinnung der verlorenen Gebiete. Finnische Truppen beteiligten sich deshalb auch nicht an der 900 Tage andauernden Belagerung von Leningrad. Südlich und westlich der Pyrenäen diente das neutrale Portugal, wie wir bereits sahen, als eine Spionagedrehscheibe. In Spanien hatten die Truppen des nationalistisch-faschistischen Generals Francisco Franco die linksgerichtete republikanische Regierung gestürzt. Am Ende eines blutigen Bürgerkriegs, in dessen Verlauf mehr als eine Million Spanier ums Leben gekommen war, stand im März 1939 der Sieg Francos. Das faschistische Italien, ein Mitglied der Achse mit einer nicht sehr stabilen Regierung unter Benito Mussolini, schickte Truppen ins Feld, von denen anzunehmen war, dass sie im Fall von eigenständigen Kämpfen gegen praktisch jeden der alliierten Staaten Hilfe seitens der Wehrmacht benötigen würden. Östlich und südlich von Deutschland lagen das besetzte Polen, das Protektorat Böhmen und Mähren und die »Ostmark« (das – 123 –

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frühere Österreich), nun alles Teile des Reiches mit Ausnahme des Generalgouvernements Polen. Dieses von den Nazis okkupierte Gebilde wurde vom Krakauer Wawel aus von Hans Frank regiert, später einer der Hauptangeklagten in Nürnberg. Daneben gab es mit der Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien vier nominell unabhängige Staaten, deren Regierungen mit dem »Dritten Reich« verbündet waren. Nur Jugoslawien und Griechenland blieben eine Zeit lang von direkter Beherrschung durch das »Dritte Reich« verschont, die beiden Staaten waren aber Objekt deutscher Machenschaften. Im Frühling 1941, kaum ein Jahr nach den Siegen vom Mai und Juni des Vorjahres, war die Wehrmacht in einem Angriff auf Jugoslawien und Griechenland engagiert, womit sie der bedrängten italienischen Armee zu Hilfe kam, deren eigener Angriff auf dem Balkan steckengeblieben war. Diese Notwendigkeit, auf dem Balkan zu intervenieren, zwang Hitler zur Verschiebung des Überfalls auf die Sowjetunion bis zum 22.  Juni 1941. Dadurch reduzierte sich die für größere Operationen in der UdSSR geeignete Periode guten Wetters um rund sechs Wochen, was es der Roten Armee ermöglichte, die Angriffe der Wehrmacht während des Sommers und Herbstes 1941 besser zu überstehen, bis dann der einbrechende Winter die Angriffsoperationen der Wehrmacht zum Stehen brachte. Schon bald nach den militärischen Niederlagen vom Mai und Juni 1940 begannen sich in den okkupierten Staaten Westeuropas heroische Widerstandsbewegungen gegen die deutsche Besatzung zu formieren. Diese Bewegungen umfassten das gesamte politische Spektrum  : von den Kommunisten und Sozialisten auf der Linken über die gemäßigten Parteien der Mitte bis zu einigen Konservativen auf der Rechten. Nicht alle Gruppierungen der Rechten schlossen sich allerdings dem Widerstand an, und es gelang dem »Dritten Reich«, in den meisten besetzten Staaten unter den rechtsgerichteten politischen Parteien Kollaborateure ausfindig zu machen und in Dienst zu nehmen. Zu den bekanntesten Kollaborateuren zählen Pierre Laval in Vichy-Frankreich und Vidkun Quisling in Norwegen, aber es gab zahlreiche mehr. Freiwillige aus den Reihen dieser Rechtsparteien in vielen europäischen Staaten traten in bestimmte Regimenter bzw. Divisionen der Waffen-SS ein, die speziell für Einsätze auf dem Balkan oder zum Kampf gegen die Rote Armee an der Ostfront formiert worden waren.153 Die nachhaltigsten Aktivitäten der jeweiligen Widerstandsgruppen reichten vom passiven Widerstand (zum Beispiel Sabotage, bewusst langsames Arbeiten in der Kriegsproduktion sowie zeitweilige oder länger dauernde Unterbrechung des militärischen und zivilen Verkehrssystems) bis zu aktiveren – 124 –

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Formen des Widerstandes (etwa Sprengstoffanschläge auf Rüstungsfabriken und das Verkehrsnetz oder gegen feindliche Soldaten). Von Beginn an gestaltete sich die deutsche Besatzung gegenüber den besetzten Ländern und deren Bevölkerungen ausgesprochen brutal. Das RSHA und alle seine Teile (Gestapo, Sicherheitsdienst/SD etc.) und die SS waren in die Besatzungspolitik restlos integriert. Allerdings wurden in Westeuropa keine Teile der Einsatzgruppen verwendet  ; diese hatten sich im Osten für ihre grausamen Tötungsaktionen gegen Juden und andere NS-Feindgruppen einen entsprechenden Ruf erworben, der rund um die Besetzung Polens Ende September 1939 einsetzte und mit der Okkupation von Gebieten der westlichen Sowjetunion noch intensiviert wurde. In strategischer Hinsicht stellte seit dem Sommer 1940 nur noch Großbritannien irgendeine von einer Großmacht herrührende Bedrohung dessen dar, was die Nationalsozialisten und einige Staaten der Achse bald »Festung Europa« nennen sollten. Nachdem die britische Armee auf dem Kontinent besiegt worden war und das Britische Expeditionskorps in Dünkirchen seine gesamte Ausrüstung hatte zurücklassen müssen, war Großbritannien zu irgendeiner Offensive nicht mehr in der Lage. Winston Churchill hielt zwar brillante, aufrüttelnde Reden über heftige Abwehrkämpfe an den Stränden und im Landesinneren, welche die britische Armee und Territorialtruppen gegen jeden Versuch einer Invasion der britischen Inseln führen würden  ; faktisch jedoch lag anfangs die Verteidigung der Inseln auf den Schultern der Royal Air Force (RAF) und der britischen Marine. In der Luftschlacht um England vom Mai bis November 1940 verteidigte die RAF Großbritannien erfolgreich gegen Angriffe der Luftwaffe. Dieser Sieg ging unter anderem auf erfolgreiche Vorkriegsplanungen zur Flugzeugproduktion mit ihrem Schwerpunkt auf der Serienfertigung effizienter Jäger vom Typ Spitfire und Hurricane in großen Stückzahlen (zulasten von Bombern) seit Ende der 1930er-Jahre zurück. Dank der Voraussicht von Air Chief Marshal Sir Hugh Dowding vom RAF Fighter Command ergab sich daraus ein strategischer Vorteil für die RAF. Da er auch die bevorstehende Luftschlacht um England voraussah, hatte Dowding im Frühjahr 1940 die Verlegung weiterer britischer Jäger nach Frankreich abgelehnt. Die Deutschen planten unter dem Decknamen »Operation Seelöwe« eine triphibische Landung in Großbritannien für den Sommer 1940, die jedoch wiederholt verschoben und schließlich gänzlich abgeblasen werden musste. Nachdem die Luftwaffe seit September 1940 in Luftkämpfen schwere Verluste erlitten hatte, sah sich Hitler am 9. Januar 1941 letztlich zur endgültigen Absage – 125 –

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der geplanten Invasion gezwungen. Die Wehrmacht benötigte ausreichend Zeit für die Vorbereitung des »Falles Barbarossa« – dies war der Deckname für den ursprünglich für das Frühjahr 1941 vorgesehenen Angriff auf die Sowjetunion. Die »Abwehr« erfuhr allerdings sofort von Hitlers Entscheidung zur Verschiebung von »Seelöwe«, und die Widerstandskreise innerhalb der »Abwehr« setzten ihre Kontaktpersonen im britischen und freifranzösischen Nachrichtendienst umgehend davon in Kenntnis.154 Die alliierten Nachrichtendienste konnten aber auch aus zahlreichen sonstigen Quellen die Verlegungen deutscher Truppen nach Osten bestätigen. Das britische Heer konnte natürlich nicht untätig zusehen, während die RAF und die Royal Navy die Hauptlast der Kämpfe während der Luftschlacht um England zu tragen hatten. Die britische militärische Planung in der Frühphase des Krieges (nach Dünkirchen) forderte die Aufstellung und Ausbildung einer reinen Freiwilligentruppe, die über See oder aus der Luft im Gebiet des Feindes landen und dort dann für kurze Zeiträume den Gegner bekämpfen sollte. Die Aufgabe dieser bald als Kommandos bezeichneten neuen Truppe bestand in dem kurzfristigen Ziel der Vernichtung feindlicher Truppen und militärischer Anlagen – danach sollte sie sich sofort zurückziehen. Das auf lange Sicht anvisierte Ziel der Rückeroberung Kontinentaleuropas und der Niederwerfung des »Dritten Reiches« erforderte allerdings nicht kurze Überfälle durch Kommandos, sondern starke Verbände von Landtruppen, um eine groß angelegte Invasion ausführen zu können. Die Raids der Kommandos waren jedoch wichtige frühe Vorstufen im Rahmen der Planung einer späteren Invasion. Im Spätsommer 1940 präsentierten sich weite Teile des von den Deutschen besetzten Kontinents den britischen Militärplanern als ein gewagtes Ziel. Vorerst musste freilich viel Energie in die Aufstellung und die Ausbildung der bald als »Special Forces« bezeichneten neuen Einheiten investiert werden.155 Aber bereits im Sommer 1940 verfügte Winston Churchill die Bildung solcher Kommandos, die deutsche Kräfte an der französischen Küste binden sollten. Binnen einiger Monate hatte die britische Armee mehr als zehn solcher Kommandos mit jeweils rund 500 Mann aufgestellt. Aus deutscher Perspektive gab es mehr als hinreichende Gründe, sich um die möglichen störenden Auswirkungen der Raids von Spezialkommandos zu sorgen, umso mehr, als ein erheblicher Teil der deutschen Truppen in Vorbereitung der Operation »Barbarossa« in den Osten verlegt wurde. Der erste Überfall im typischen Stil der Kommandos fand  – noch vor der Aufstellung der ersten Spezialeinheiten – Ende Juni 1940 nach dem Ende der – 126 –

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Kampfhandlungen in Norwegen in Narvik statt. Weitere solche Überfälle erfolgten danach entlang der ausgedehnten norwegischen Küste  ; sie sollten wohl auch die Deutschen zu Fehlannahmen über mögliche alliierte Landungen verleiten. Die Sorge um eine Niederlage der alliierten Streitkräfte in den Niederlanden, Belgien und Nordostfrankreich im Mai und Juni 1940 veranlasste die Briten dazu, ihre maritimen und ihre Landstreitkräfte aus Narvik zurückzuziehen, nachdem dort heftige Kämpfe zu Lande und zur See mit hohen Verlusten für beide Seiten stattgefunden hatten. Dieser britische Rückzug beraubte die noch kämpfenden Einheiten des norwegischen Heeres der Unterstützung durch Seestreitkräfte, die zur Aufrechterhaltung des Widerstandes gegen die Wehrmacht erforderlich gewesen wären. Der sogenannte Keyes-Raid britischer Kommandos auf Rommels Hauptquartier in Nordafrika am 17.  November 1941 zielte darauf ab, den »Wüstenfuchs« höchstpersönlich zu entführen oder zu töten. Das Unternehmen misslang, da Rommel wegen anderer Geschäfte nicht anwesend war. Im Jahr 1942 erreichten die Überfälle eine neue Dimension, wobei vor allem der Raid vom 28. März auf St. Nazaire, einen Hafen an der französischen Atlantikküste, Erwähnung verdient. Der zweifellos größte Raid in dieser Phase des Krieges erfolgte aber durch kanadische Spezialtruppen am 19.  August 1942 auf die schwerbefestigte französische Hafenstadt Dieppe am Kanal, nordöstlich der Normandie und südwestlich von Calais gelegen.156 Die Landungstruppen umfassten rund 6.000 Mann. Heftiger deutscher Widerstand zwang die hauptsächlich kanadischen Landungsverbände zum Rückzug, nachdem sie Verluste von nahezu 50 Prozent erlitten hatten. Der Raid auf Dieppe war als Test konzipiert, um die mit einer groß angelegten Invasion des vom Feind besetzten Kontinents einhergehenden Probleme studieren zu können  ; besonders wichtig waren Erfahrungen bei Angriffen auf schwer befestigtes Gelände. In weiterer Folge steigerten die Deutschen ihr Bauprogramm zur Befestigung des Küstenabschnitts südlich des Kanals. Während der Raids trugen fast alle Angreifer alliierte Uniformen, und beinahe in allen Fällen nahm die Wehrmacht einige Angreifer gefangen, die sich natürlich besorgt fragten, wann die vom Kommando-Befehl angeordneten Hinrichtungen beginnen würden. Nur zum Vergleich  : Bei der alliierten Invasion der Normandie am 6. Juni 1944 erstreckten sich die Landungszonen über eine Distanz von mehr als 70 Kilometern. Nach den beim Raid auf Dieppe erlittenen schweren Verlusten verlagerte die alliierte Strategie ihren Schwerpunkt bald von Kommandounternehmen auf die – 127 –

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Bombardierung von Zielen auf dem Kontinent. Die Maschinen des Bomber Command der Royal Air Force konzentrierten ihre anfänglichen Bombardierungen auf die französischen Küstengebiete bzw. dort gelegene Ziele des Feindes. Nachdem Hitler Anfang Januar 1941 befohlen hatte, alle Pläne für eine Invasion Großbritanniens aufzugeben, konnte das Bomber Command seine Zielauswahl von den Küstenregionen auf strategische Ziele im Binnenland des deutsch besetzten Europas und im Reichsgebiet selbst umstellen. Diese neue Strategie sollte den Krieg nach Deutschland hineintragen, inklusive der deutschen Städte mit ihren Rüstungsfabriken und ihrer vielköpfigen Zivilbevölkerung. Die Einbeziehung ziviler Ziele muss man teilweise als Vergeltung des Bomber Command für die Angriffe der Luftwaffe auf britische Städte und deren zivile Bevölkerung während und nach der Luftschlacht um England verstehen. Die für diese zunehmenden britischen Luftangriffe verwendeten Maschinen waren unter anderem vom Typ der großen, viermotorigen »Lancaster-« und »Stirling«-Bomber. Im Februar 1942 übernahm Air Chief Marshal Arthur Harris (auch »Bomber-Harris« genannt) den Befehl über das britische Bomber Command und änderte sogleich dessen Methode auf Flächenangriffe (»area bombing«) großer städtischer Konglomerate.157 Am 1.  Mai 1942 startete die RAF ihren ersten 1.000-Bomber-Angriff gegen allgemein definierte Ziele, in diesem Fall gegen die Rheinbrücken rund um Köln und Umgebung, wozu auch Rüstungsfabriken und Ziele des Transportsystems zählten. Nachdem die Vereinigten Staaten infolge der deutschen Kriegserklärung vom 11. Dezember 1941 in den Krieg eingetreten waren, begannen sie mit der Verlegung von Luftwaffeneinheiten des Army Air Corps auf Basen in Großbritannien. In Absprache mit dem britischen Bomber Command begannen die Amerikaner von diesen Basen aus mit der strategischen Bombardierung Deutschlands und des von ihm besetzten Europas. Die amerikanischen Luftkriegsstrategen setzten auf die Methode von Präzisionsangriffen bei Tag, während die Briten ihre Flächenangriffe vornehmlich bei Nacht flogen. Als übergeordnete Kommandobehörde aller in Großbritannien stationierten US-Luftstreitkräfte bildeten die Amerikaner die 8.  United States Air Force, also eine Luftflotte. Im weiteren Verlauf des Krieges und insbesondere während des Feldzugs im Mittelmeer formierten die USA die 15. United States Air Force mit ihrem Hauptquartier in Casserta an der italienischen Adriaküste. Casserta und die Basen in Foggia dienten den Amerikanern als Ausgangspunkte für Luftangriffe auf den Süden Deutschlands, Italien und den Balkan. Erfasst wurden militärische und industrielle Ziele sowie die Zivilbevölkerung von München, Salzburg und Wien – 128 –

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sowie die Ölraffinerien im rumänischen Ploesti, deren Förderung für die Kriegs­ anstrengungen des »Dritten Reiches« von entscheidender Bedeutung war. Die Koordinierung der Auswahl der zu bombardierenden Ziele unter den Alliierten war von ausschlaggebender Bedeutung. Bald einigten sich die Alliierten auf eine prinzipielle Aufteilung der Ziele, bei der das US Army Air Corps sich wie gesagt auf Präzisionsangriffe bei Tage konzentrierte und das britische Bomber Command die nächtlichen Flächenangriffe übernahm. Der Zweck dieser Arbeitsteilung bestand darin, den Druck auf das »Dritte Reich« durch kontinuierliche Bombardierungen bei Tag und bei Nacht zu erhöhen. Zugleich sollte die Gefahr von Fehlern reduziert werden, die als Folge der schwierigen gemeinsamen Unternehmungen getrennter Verbände zum Verlust von Flugzeugen und Piloten zu führen drohten. Die amerikanischen Bomberverbände verfügten anfangs über die Boeing B-17, »Fliegende Festung« (»Flying Fortress«) genannt, der später die ausgereiftere B-24 »Liberator« zur Seite trat. Beide dieser jeweils viermotorigen Maschinen hatten eine Besatzung von je zehn Mann. Das britische Bomber Command verließ sich grundsätzlich auf die viermotorige »Lancaster« mit ihrer Besatzung von sieben Mann. Auf der Konferenz von Casablanca vom 14. bis zum 25. Januar 1943 einigten sich Roosevelt und Churchill auf eine kombinierte Bomber-Offensive sowie auf die Formel der bedingungslosen Kapitulation gegenüber jedem Staat der Achse, der den Krieg beenden wollte. Diese Forderung wurde vereinbart, um sowjetisches Misstrauen zu zerstreuen, die Westalliierten könnten eine Separatfriedensstrategie verfolgen. Das »Dritte Reich« errichtete gegen die alliierten Bomber eine eindrucksvolle und oft tödliche Abwehrfront, zu der moderne Abfangjäger vom Typ Messerschmidt ME-109 und, gegen Ende des Krieges, die ME-262 oder »Schwalbe«, der erste einsatzfähige Düsenjäger, zählten. Die Deutschen setzten auch multifunktionsfähige Flak- und Panzerabwehrgeschütze wie etwa die 8,8‑cm-Kanone ein, die von fünf Mann bedient wurde.158 Um die Abfangjäger der Luftwaffe in Schach zu halten und um den angreifenden Bombern Geleitschutz zu geben, stellten die alliierten Luftwaffen eigene Jäger in Dienst, welche die Bomber wenigstens auf einem Teil ihres Anflugs zu den Zielgebieten begleiten und vor feindlichen Jägern schützen sollten. Erst in einer späteren Phase des Krieges kam der neue amerikanische Jäger P‑51 mit seiner größeren Reichweite zum Einsatz  ; er konnte den Bombern wirkungsvollen Schutz gegen feindliche Jäger gewähren. Gegen die deutschen 8,8‑cm-Flakgeschütze gab es aber weder für die alliierten Bomber noch für die Jäger einen effektiven Schutz. Deutschland produzierte Tausende dieser Geschütze, die ursprünglich in den frühen – 129 –

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1930er-Jahren für die deutsche Marine entwickelt worden waren. Viele dieser 8,8‑cm-Geschütze waren als Flak-Artillerie rund um deutsche militärische Anlagen, Rüstungsfabriken, Verkehrsknotenpunkte und bestimmte Städte in Stellung gebracht. Ihre Reichweite betrug in etwa 8.500 Meter, womit sie die Einsatzhöhe der Bomber leicht abdecken konnten.159 Als Auswirkung dieser kombinierten Feuerkraft aus Jägern und Flak erlitten die alliierten Luftwaffen schreckliche Verluste an Bombern und Besatzungen. Aber mit der Einführung des amerikanischen Langstreckenjägers P‑51 sowie der Massenproduktion von viermotorigen Bombern errangen die Alliierten schließlich bis zum Sommer 1944 die Luftherrschaft. Die deutsche Industrie produzierte mehr als 10.900 8,8‑cm-Geschütze sowohl für offensive als auch für defensive Zwecke NS-Deutschlands. Um diese Geschütze entbrannte ein heftiger Verteilungskonflikt  : Das Heer schätzte diese Kanonen als Feldartillerie und als Panzerabwehrwaffe, während die mit der Luftverteidigung des Reiches und der besetzten Gebiete betraute Luftwaffe sie für diesen Zweck benötigte. Die Verfügung über eine so vielfältig einsatzbare, wirkungsvolle Waffe in großen Stückzahlen bedeutete für die aggressiven Pläne des »Dritten Reiches« einen entscheidenden Vorteil. Die unterschiedlichen Verwendungen des 8,8‑cm-Geschützes erforderten je nach Einsatzart Anpassungen bei dessen Munition und Zündern. Das Vertrauen der Deutschen auf nur ein Flak-Geschütz gestaltete die Bombardierungen durch die Alliierten überaus gefahrvoll. Die Deutschen konstruierten und produzierten lichtstarke Suchscheinwerfer, um bei Nacht in Verbindung mit den 8,8‑cm-Geschützen die angreifenden Bomber und deren Begleitjäger auszumachen. Die Navigatoren der Bomber mussten ihre Flugrouten tief ins Feindesland sorgfältig planen  ; potenzielle Ziele waren unter anderem Berlin, Hamburg, München, Wien oder Dresden. Dabei mussten sie den Flak-Geschützen der Luftwaffe, die sonstige mögliche Ziele auf der Flugstrecke oder die eigentlichen Ziele mit 8,8‑cmGeschützen verteidigen sollten, nach Möglichkeit ausweichen. Die militärischen Instanzen NS-Deutschlands, die für die Luftverteidigung zuständig waren, befahlen bald die Errichtung sogenannter Flak-Türme in städtischen Ballungsgebieten, anfangs in Berlin, Hamburg und Wien. Die Türme bestanden beinahe zur Gänze aus verstärktem Beton, waren ursprünglich rechteckig und später rund und mindestens 45 Meter hoch. An der Spitze befanden sich eine Plattform für die 8,8‑cm-Geschütze und Platz für in der Nähe montierte, starke Suchscheinwerfer. Man errichtete die Türme immer paarweise im Abstand von einigen hundert Metern  ; ein Turm diente als Befehlsstand mit – 130 –

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entsprechenden Nachrichtenmitteln und vier Geschützen an den Ecken auf der Spitze  ; der zweite Turm hatte reine Kampfaufgaben und verfügte auf der oberen Plattform über acht bis zehn Geschütze. Die Türme standen entweder auf Hügeln oder inmitten ausgedehnter Parkanlagen in den Städten  ; sie boten ferner in ihren unteren Abschnitten einigen hundert Zivilisten Schutz vor Bomben. Die drei genannten Großstädte verfügten jeweils mindestens über sechs Türme in drei Gruppen zu je zwei Türmen mit ihren unterschiedlichen Aufgaben, wobei die Türme im Abstand von einigen Kilometern errichtet wurden. Die konzentrierte und gelenkte Feuerkraft der Flakgeschütze der drei Gruppen zu je zwei Türmen, in Summe mindestens 36  Rohre, entfaltete gegen angreifende Verbände alliierter Bomber und deren Besatzungen eine verheerende Wirkung.160 Da der Zweifrontenkrieg das Menschenpotenzial des »Dritten Reiches« sehr stark beanspruchte, entschloss sich die Führung zur Einziehung 17‑jähriger Jugendlicher beiderlei Geschlechts, die dann als Bedienung der Flakgeschütze ausgebildet wurden. Bald reichte allerdings die Zahl dieser minderjährigen Rekruten nicht aus, um den Personalbedarf der Flakartillerie zu decken  ; die Jugendlichen mussten obendrein andere halbmilitärische Aufgaben wie die Pflege von Pferden übernehmen. Folglich zwang die NS-Führung (vornehmlich sowjetische) Kriegsgefangene zur Bedienung der Flakgeschütze, was eine eindeutige Verletzung des internationalen Kriegsvölkerrechts nach den Haager und Genfer Konventionen darstellte.161 Die Auswirkungen all dieser zahlreichen und wirkungsvollen Luftabwehrmaßnahmen machten die Bombenangriffe für die alliierten Bomber und deren Besatzungen sehr riskant und gefährlich. Schon in einem frühen Stadium des Krieges stellte das Army Air Corps die »35‑Einsätze-Regel« auf, der zufolge Flugzeugbesatzungen, die erfolgreich 35  Einsätze absolviert hatten, von der Front abgezogen wurden, da sie die Anforderungen an ihre Kampfbereitschaft zur Gänze erfüllt hatten. Die den alliierten Bomberverbänden zugefügten Verluste waren umso erschreckender, wenn man bedenkt, dass schon einige der ersten Angriffe von mehr als 1.000 Maschinen mit ihren Besatzungen zwischen 7.000 und 10.000 Mann geflogen wurden. Als Folge der Verluste an Maschinen und Personal musste das Bomber Command 1943 seine wiederkehrenden, intensiven Angriffe auf Berlin einschränken. Die 8. US-Luftflotte verlor bei ihren Angriffen auf die Kugellagerfabriken in Schweinfurt im Oktober 1943 65 Maschinen mit rund 650 Mann Besatzung  ; dies entsprach 22,3 Prozent der eingesetzten 291 Flugzeuge. Den alliierten Luftkriegsstrategen erschienen derartige – 131 –

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bei den wiederholten Luftangriffen auf Berlin, Hamburg, München, Schweinfurt und andere deutsche Städte erlittene schwere Verluste bald nicht mehr tragbar. Die alliierten Befehlshaber änderten dann ihre Taktik und richteten die Angriffe auf weithin ungeschützte Ziele wie etwa am 13. und 14. Februar 1945 auf die Stadt Dresden, womit den vorrückenden sowjetischen Truppen Unterstützung zuteilwerden sollte. Die amerikanische und die britische Luftwaffe verloren während des ganzen Krieges zusammen 21.900 Maschinen und 158.000 Mann fliegendes Personal.162 Eine große Zahl der zum Absturz gebrachten alliierten Flugzeuge explodierte in der Luft oder schlug auf dem Boden auf, wobei nur wenige oder gar keine Besatzungsangehörige überlebten. Wer einen solchen Abschuss überstand oder sich mit dem Fallschirm aus der abstürzenden Maschine zu retten vermochte, sah sich der Gefahr ausgesetzt, bei seiner Gefangennahme von deutschen Zivilisten, insbesondere von Mitgliedern der NSDAP oder durch in der Nähe befindliche SS-Einheiten, gelyncht zu werden. Die NS-Führung ermunterte die Zivilbevölkerung sogar zu derartigen Lynchaktionen an alliierten Piloten, vor allem wenn angenommen wurde, dass sie mit ihren Flugzeugen zuvor zivile Ziele in der Umgebung wie etwa Passagierzüge angegriffen hatten. Die Intensivierung des Luftkrieges führte dazu, dass eine immer größere Zahl amerikanischer, britischer und sonstiger alliierter Luftwaffenoffiziere und ‑soldaten in deutsche Gefangenschaft geriet. Die Deutschen versuchten dabei, gefangen genommenes alliiertes Luftwaffenpersonal in eigenen Lagern, getrennt von anderen alliierten Staatsbürgern und von Soldaten anderer Waffengattungen, unterzubringen. Im September 1944 brachte die SS-Lagerführung des Konzentrationslagers Mauthausen in der »Ostmark«, dem früheren Österreich, insgesamt 47 amerikanische, britische und niederländische Luftwaffenoffiziere zu Tode, indem sie die bloßfüßigen Gefangenen zu erschöpfender Arbeit im Steinbruch zwang und sie auf ihrem anstrengenden Weg über die Stufen des Steinbruchs wiederholt prügelte.163 Ganz allgemein wurde die Behandlung dieser Gefangenen seitens der NS-Führung in der Regel nicht einmal den vom geltenden Völkerrecht für den Umgang mit Kriegsgefangenen normierten Mindeststandards gerecht. Dies galt insbesondere dann, wenn die Gefangenen einen Massenausbruch versuchten und dabei zunächst Erfolg hatten. Die Hinrichtung von fünfzig geflohenen und dann wieder aufgegriffenen RAF-Offizieren als eine von Hitler selbst befohlene Vergeltungsmaßnahme bewies, dass die deutsche Reaktion schnell und mit tödlicher Wirkung kommen konnte. Der Lagerkommandant und die SS-Mann– 132 –

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schaft erhielten wegen Vernachlässigung ihrer Dienstpflichten, welche die Massenflucht erst ermöglicht hatte, vergleichsweise mildere Strafen. Nach dem Krieg leiteten die Alliierten Untersuchungen ein, um jene ihrer gerechten Bestrafung zuzuführen, die gefangen genommenes alliiertes Luftwaffenpersonal kaltblütig ermordet hatten. Diese Morde widersprachen vollständig dem geltenden Völkerrecht und stellten daher Kriegsverbrechen nach der traditionellen Bedeutung dieses Begriffs dar. Die Einstufung der diversen Lager als Todes‑, Arbeits- oder reine Konzentrationslager war schon zeitgenössisch vollkommen irreführend und ist dies immer noch. Von Beginn des Krieges an zielte eine breite Palette von Maßnahmen darauf ab, die Lagerinsassen vorzeitig zu Tode zu bringen  : schwere Misshandlungen einschließlich unzureichender Ernährung und die vollkommen fehlende medizinische Betreuung, schwerste Arbeitslasten, ständiges Prügeln, unzureichende Ruhepausen und Schlafmöglichkeiten selbst in den wichtigen Arbeitslagern, die der Rüstungsproduktion dienten. So betrachtet, führte das »Dritte Reich« praktisch alle seine Lager auf die eine oder andere Art als Todeslager – insbesondere dann, wenn es sich bei den Insassen um Juden, gefangen genommene alliierte Flugzeugbesatzungen, Sinti und Roma, Homosexuelle, Zeugen Jehovas, politische, dem Nationalsozialismus feindlich gesinnte Gefangene oder sonstige Feindgruppen des Regimes handelte. Ein Beispiel für ein durchgehend als Todeslager verwendetes KZ ist das in der »Ostmark« ca. 20 Kilometer nördlich von Linz sowie der Donau gelegene Mauthausen. Das im August 1938, fünf Monate nach dem »Anschluss«, eröffnete KZ mit seinen 56 Außen- und Nebenlagern bildete ein riesiges Industrieunternehmen, dessen Eigentümer de facto die SS war. Bei Kriegsende befanden sich rund 50.000 Überlebende im Hauptlager und weitere 24.000 in den Nebenlagern. Die Gesamtzahl der Todesopfer wird auf mindestens 71.000 geschätzt  ; die meisten fielen Schlägen, Unterernährung und der mangelhaften medizinischen Versorgung zum Opfer. In Mauthausen fanden während der sechseinhalbjährigen Existenz des Lagers insgesamt 35.318 Hinrichtungen von Häftlingen statt – die höchste Zahl aller Lager auf deutschem Gebiet.164 Eine bei höheren SS-Offizieren beliebte, besonders brutale Mordmethode bestand darin, Gefangene vom Rand des Steinbruchs über eine Klippe in den Tod stürzen zu lassen. Häufig gingen den Tötungen unbeschreibliche Quälereien voraus. Im Zentrum des Wirtschaftsunternehmens stand der Steinbruch, in dem sich die Gefangenen buchstäblich zu Tode rackerten. Dieses Schicksal erlitten auch 47  amerikanische, britische und niederländische Luftwaffenoffiziere, die nach – 133 –

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dem Fallschirmabsprung aus ihren abgeschossenen Flugzeugen gefangen genommen worden waren. Im September 1944 kamen diese 47  Offiziere durch erzwungene Überarbeitung ums Leben  ; sie mussten ohne Schuhwerk schwere Steinladungen von der Basis des Steinbruchs bis an dessen Spitze schleppen und danach zum Ausgangspunkt zurücklaufen, um eine noch schwerere Ladung aufzunehmen. Es dauerte zwei Tage fortgesetzter Schinderei, um alle 47 Mann zu ermorden.165 Tötungen amerikanischer Kriegsgefangener durch die SS in Malmedy Das vielleicht grauenhafteste Verbrechen, das die Streitkräfte des »Dritten Reiches« an Soldaten der Westalliierten begingen, war die kaltblütige Ermordung von 71 amerikanischen Kriegsgefangenen durch eine Einheit der Waffen-SS am 17.  Dezember 1944 außerhalb des Städtchens Malmedy in Belgien. Malmedy liegt nahe der deutsch-belgischen Vorkriegsgrenze, die östlich der Stadt verläuft. Das Gebiet rund um Malmedy wurde 1940 von Belgien abgetrennt und dem Reich angeschlossen. Im Morgengrauen des 16. Dezember 1944 hatten Wehrmacht und Waffen-SS mit Infanterie und Panzern eine Offensive begonnen, die zu einer Abfolge schwerer Kämpfe führte, die später als »Battle of the Bulge« bzw. als Ardennenoffensive bezeichnet wurden.166 Für ihren Überraschungsangriff setzten die Deutschen acht SS-Panzerdivisionen und eine Panzergrenadierdivision gegen vier amerikanische Infanteriedivisionen ein, die einen ausgedehnten Frontabschnitt gegenüber den bewaldeten Ardennen verteidigen sollten. Das stürmische Dezemberwetter hielt die alliierten Luftstreitkräfte am Boden fest und begünstigte somit den Angriff. Hitlers mit dem Befehl für diese Offensive verbundene Absicht in einem so späten Stadium des Krieges  – die Rote Armee stieß bereits auf Berlin vor  – bestand darin, den Hafen Antwerpen auszuschalten sowie die britisch-kanadischen Kräfte im Norden von den amerikanischen Truppen im Süden zu trennen. Die Deutschen setzten auch Spezialkräfte ein, die aus englisch sprechenden Soldaten in amerikanischen Armeeuniformen bestanden. Ihre Aufgabe war es, den Verkehr hinter der Front in die Irre zu leiten und unter den amerikanischen Verteidigern Konfusion zu erzeugen.167 Zwar durchbrachen die Panzerverbände die amerikanischen Linien und erzielten eine fast 100 Kilometer tiefe Fronteinbuchtung, doch kam der Angriff nach rund zwei Wochen heftiger Kämpfe – 134 –

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durch den erbitterten Widerstand der Amerikaner zum Stehen. Das Fehlen ausreichender Treibstoffvorräte für die Panzer bremste den deutschen Vormarsch, und dieselbe Wirkung erzielte das sich bessernde Wetter, das den amerikanischen Luftstreitkräften gegen Ende Dezember die Wiederaufnahme ihrer üblichen Operationen gestattete. Nach einem Monat erbitterter Kämpfe verliefen die Fronten wieder wie vor der Offensive. Eine Auswirkung des Massakers von Malmedy war die von den Amerikanern möglicherweise praktizierte Vergeltung, indem sie nicht mehr wie vorher deutsche Soldaten in korrekter Weise gefangen nahmen. Bei jener SS-Einheit, welche die 71 amerikanischen Soldaten zuerst gefangen nahm und dann ermordete, handelte es sich um die 1. SS-Panzerdivision »Leibstandarte Adolf Hitler« unter dem Befehl von SS-Standartenführer Joachim Peiper. Ursprünglich hatte Josef (Sepp) Dietrich den Vorgänger dieser Einheit seit ihrer Aufstellung 1933 geführt. Beide Befehlshaber waren überzeugte Natio­ nalsozialisten und Günstlinge Hitlers. Peiper hatte persönlich den mündlichen Befehl zur kaltblütigen Tötung der 71 Amerikaner gleich nach ihrer Gefangennahme erteilt. Die SS verübte dieses Massaker, um unter den amerikanischen Truppen Panik zu erzeugen. Wenn dies das Ziel war, so wurde es verfehlt. Nach den anfänglichen deutschen Durchbrüchen kämpften die Amerikaner tapfer in Bastogne, St. Vith und an anderen Orten  ; sie hielten so den Vorstoß der WaffenSS auf und warfen die Angreifer auf ihre Ausgangspositionen zurück. Nach der Kapitulation NS-Deutschlands am 8.  Mai 1945 begannen amerikanische Ankläger mit Vorbereitungen für ein Strafverfahren gegen jene Waffen-­SS-Einheit und sonstige Militärpersonen, die an der Tötung der 71 USGefangenen durch Maschinengewehrfeuer in Malmedy beteiligt gewesen waren. Es lagen den amerikanischen Anklägern keine ausreichenden Beweise vor, um irgendeine der im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess angeklagten 21  Personen mit diesem Verbrechen in Verbindung zu bringen. Gleichwohl wurden 73 frühere Angehörige des besagten Waffen-SS-Verbandes in einem separaten Verfahren vor einem amerikanischen Militärgericht mit Sitz in Dachau wegen der Ermordung der 71 US-Soldaten angeklagt. Am 16. Juli 1946 verkündete das Gericht die Urteile  : Alle Angeklagten wurden für schuldig befunden und 43 von ihnen, darunter auch Peiper, zum Tode verurteilt. Die Todesurteile wurden nie vollstreckt, zumal seitens deutscher Prozessbeobachter Beschwerden über einen nicht fairen Verlauf des Dachauer Verfahrens laut wurden. Auch das politische Klima des Kalten Krieges beeinflusste die Vollstreckung der Strafen, denn die Alliierten strebten ein wiederbewaffnetes Deutschland an. – 135 –

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Mitte der 1950er-Jahre begnadigte der US-Hochkommissar für Deutschland alle Verurteilten unter Verweis auf die bisher in Militärgefängnissen verbrachte Haftzeit. Der letzte Akt der Malmedy-Tragödie hatte mit Peiper selbst zu tun  : Er ließ sich aus freien Stücken in Frankreich nieder, wo ihn unbekannte Täter 1976 in der Nähe seines Hauses ermordeten. Dieses und andere schwerwiegende Verbrechen des »Dritten Reiches« an westalliierten Kriegsgefangenen, von denen oben die Rede war, mögen im Vergleich mit der Unmenge monströser, bestens dokumentierter Grausamkeiten gegen Millionen von europäischen Juden und Millionen sowjetischer Kriegsgefangener (auf die an anderen Stellen dieses Buches eingegangen wird) bescheiden wirken. Die Tötung einiger hundert westalliierter Gefangener durch die Waffen-SS und die SS-Wachmannschaften der Lager wäre jedoch auch dann illegal und unverzeihlich, wenn es sich nur um die Hinrichtung einer Person handeln würde. Dies gilt selbst dann, wenn das RSHA samt seiner Bestandteile aus SS und Gestapo bei seinen unterschiedlichen Aktionen während des Krieges nur einen Zivilisten und nicht 10 bis 15 Millionen zivile Nicht-Kombattanten ermordet hätte. Was Kriegsgefangene betrifft, ist die Verantwortung der Gewahrsamsmacht  – in diesem Fall der Wehrmacht  – für die Sicherheit und Betreuung sämtlicher Gefangener klar geregelt  ; Wehrmachtsangehörige, die keine NS-Hardliner waren, haben dies auch anerkannt.168 Man könnte nun argumentieren, eine derartige Verantwortlichkeit der Wehrmacht habe erst ab dem Moment bestanden, in dem sie tatsächlich Macht über einen Gefangenen erlangte, und nicht schon vorher, wenn sich der Gefangene beispielsweise in der Verfügungsmacht von Verbänden der Waffen-SS oder der Streitkräfte der mit der Achse verbündeten Staaten befand.169 Dieses Argument mag zwar für viele im Gewahrsam der Wehrmacht befindliche westalliierte Gefangene zutreffen  ; dies ändert aber nichts daran, dass das Verhalten der Wehrmacht – blickt man auf ihren Umgang mit sowjetischen Kriegsgefangenen und alliierten Soldaten, die auf dem Balkan oder an einem anderen Ort gefangen genommen worden waren – indiskutabel war und eine eindeutige Verletzung der sich aus den Genfer und Haager Konventionen ergebenden Bestimmungen darstellte. Hinrichtungen ziviler Geiseln im besetzten Europa Ein weiteres – allerdings in geringerem Umfang als in Osteuropa praktiziertes – Kennzeichen der Besatzungspolitik der Wehrmacht in Westeuropa war die – 136 –

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Praxis, örtliche Geiseln zu nehmen, um für den Fall irgendwelcher Widerstandsakte, welche den Tod oder die Verwundung deutscher Soldaten oder von in die Besatzungsstrukturen eingebundener Personen des RSHA zur Folge hatten, entsprechende Maßnahmen ergreifen zu können – einschließlich deren Hinrichtung. Die Quote erschossener Geiseln für jeden getöteten deutschen Soldaten betrug oftmals 100 zu 1  ; es gab sogar bedeutende Ausnahmen von dieser Regel, bei denen die Quote noch höher war. Als sich der Widerstand in Westeuropa  – insbesondere nach der alliierten Invasion in der Normandie – steigerte, erhöhte sich auch das Ausmaß von Geiselnahmen und Geiselerschießungen. Die Gesamtzahl der vom »Dritten Reich« zu verantwortenden Hinrichtungen von Geiseln ist schlichtweg schockierend  ; allein in Frankreich waren rund 30.000 Zivilisten betroffen und in den Niederlanden 3.000. Vergleichbare Zahlen sind auch für alle anderen besetzten westeuropäischen Staaten, Dänemark ausgenommen, überliefert. In Dänemark agierte eine vergleichsweise – selbst für den Standard des RSHA – zivilisierte Besatzungsverwaltung, und der dänische Widerstand – begrenzt, aber effektiv – einschließlich des passiven Widerstandes brachte es fertig, das Leben vieler dänischer Juden zu retten. Abgesehen von den zahlreichen erschossenen Geiseln wurde eine bedeutende Zahl an Geiseln in Konzentrationslager oder an andere Bestimmungsorte verschleppt  ; man wollte auf diese Weise potenzielle Unruhestifter loswerden. Beispielsweise starben in französischen Gefängnissen, welche die Besatzungsmacht kontrollierte, weitere 40.000 französische Zivilisten. Die SS-Wachmannschaften dieser Gefängnisse unterwarfen nahezu alle Häftlinge ständig wiederkehrenden Quälereien durch Schläge, endlose Verhöre und andere auf Einschüchterung abzielende Maßnahmen. Auf dem Balkan schnellten die Zahlen erschossener Geiseln in die Höhe, weil dort die gesteigerten Aktivitäten des Widerstandes, ja ein sich ausdehnender Guerillakrieg ab 1943 an der Tagesordnung waren. Die italienische Kapitulation im September 1943 intensivierte den Druck auf die Wehrmacht und ihre noch loyalen Verbündeten auf dem Balkan, zu denen die Ustascha zählte, eine kroatische faschistisch-nationalistische Partei unter Führung von Ante Pavelič. Im ehemaligen Jugoslawien verlagerten die Briten ihre Unterstützung örtlicher Widerstandsgruppen ab April 1943 von den Tschetniks unter General Draža Mihailović zu den jugoslawischen Kommunisten unter Josip Broz, der den Kampfnamen Tito verwendete. Der Grund für diesen Wechsel war Titos weitaus aggressiveres militärisches Vorgehen gegen die NS-Okkupanten. Gleichzei– 137 –

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tig behielt das deklarierte Ziel des »Dritten Reiches«, alle europäischen Juden zu vernichten, oberste Priorität für alle Besatzungsverwaltungen  ; erfasst wurden nun auch die in Belgrad, Saloniki und sonstwo auf dem Balkan lebenden Opfer. Dieser Mission der feigen und mörderischen, umfassenden Vernichtung blieb die NS-Führung bis zum Ende des Krieges verpflichtet. Deutsche Repressalien nach der Ermordung von Reinhard Heydrich Das »Dritte Reich« reagierte sofort und in mörderischer Weise auf alle gewalttätigen Akte des Widerstandes, egal ob erfolgreich oder nicht, wenn sich diese gegen Angehörige der Führungsschicht oder gegen einzelne deutsche Soldaten richteten. Oftmals erfolgten diese Reaktionen nicht in der sonst üblichen Form der Geiselnahme und nachfolgender Exekution. Stattdessen richtete sich die deutsche Vergeltung direkt und unmittelbar gegen Zivilpersonen, denen man die Schuld für die Anschläge gab. Ein schlagendes Beispiel für diese Vergeltungsmethode der SS bildet die Ermordung von SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich im Juni 1942. Ende September 1941 war Heydrich zum Reichsprotektor für die ehemals tschechischen Landesteile Böhmen und Mähren ernannt worden. Er folgte in dieser Funktion dem eher gemäßigten früheren Reichsminister des Auswärtigen, Konstantin von Neurath, nach. Die Tschechen nannten Heydrich wegen seiner barbarischen und blutigen Amtsführung bald »Henker von Prag«. Rund 15 kleine Gruppen aus jeweils drei oder mehr tschechischen Soldaten, die bei den Streitkräften der Exil-Tschechen in Großbritannien dienten, wurden zwischen Frühling 1941 und Frühjahr 1942 (ausgenommen die Sommermonate) von der RAF mittels Fallschirmen im Protektorat abgesetzt. Ihr Auftrag bestand darin, Heydrich zu töten und die Bomber der RAF zu militärischen oder industriellen Zielen in Böhmen und Mähren zu dirigieren. Aus nachvollziehbaren Gründen trugen diese tschechischen Soldaten während ihrer gesamten Mission in ihrem Heimatland Zivilkleidung. Die tschechischen Verschwörer in Großbritannien tauften den Plan zur Ermordung Heydrichs »Operation Anthropoid«. Ende Dezember 1941 landeten Sergeant Josef Gabčik und Sergeant Jan Kubiš von der RAF mithilfe von Fallschirmen in der Nähe Prags. Nachdem sie Heydrich nahezu fünf Monate lang beobachtet hatten, überfielen die beiden am 27. Mai 1942 dessen ohne Eskorte fahrendes Auto in – 138 –

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einem Außenbezirk von Prag während der üblichen täglichen Fahrt zu Heydrichs Amtssitz. Heydrich wurde durch eine unter dem Auto explodierende Handgranate schwer verwundet und starb eine Woche später in einem Spital, wahrscheinlich an den Folgen einer durch die Explosion verursachten Sepsis.170 Die Gestapo und weiteres Personal des RSHA eröffneten umgehend eine brutale Menschenjagd, um die Attentäter ausfindig zu machen. Ihre Ermittlungen konzentrierten sich bald auf das Dorf Lidiče.171 Trotz intensiver Hausdurchsuchungen konnte die SS keinen überzeugenden Beweis für die Verwicklung von Bewohnern des Dorfes in den Mordanschlag finden. Die Spitzengarnitur von NSDAP und OKW wohnte Heydrichs Staatsbegräbnis in Berlin am 9. Juni 1942 bei  ; Hitler und Himmler hielten Traueransprachen, das Berliner Philharmonische Orchester sorgte für die Trauermusik. Um 9.30 Uhr, während der Trauerakt im Gange war, begann die Gestapo mit ihrer Vergeltungsaktion gegen Lidiče. Alle über 15 Jahre alten männlichen Personen, alles in allem 199, wurden in Zehnergruppen sofort erschossen. Insgesamt 195 Frauen wurden in Konzentrationslager verschleppt, wo sich ihre Spur verliert. Nur acht der 95  Kinder galten als »eindeutschungsfähig«  ; die restlichen 87  Kinder verschwanden spurlos, nur wenige fand man nach dem Krieg in Bayern. Der ganze Ort wurde dann bis auf die Grundmauern niedergebrannt und Bulldozer beseitigten die letzten, noch qualmenden Überreste. Wohl steht heute am Ort dieses Verbrechens ein Mahnmal, doch hat noch niemand vorgeschlagen, das Dorf der ermordeten unschuldigen Zivilisten wieder aufzubauen. So schrecklich all dies war  : Lidiče war nur der Auftakt zu einer ganzen Serie brutaler Vergeltungsaktionen des RSHA. Die wirklichen Attentäter und 120 weitere Angehörige des tschechischen Widerstandes fanden bei den Priestern der Karl-Borromäus-Kirche in Prag Unterschlupf  ; dort griff sie die SS an und tötete alle nach einem Kampf, der mehrere Tage bis zum 18. Juni dauerte. Die beiden Attentäter begingen Selbstmord, um der Rache der SS zu entgehen. Ihre Köpfe wurden später vom Rumpf getrennt und den trauernden Familien präsentiert. Nach dem Tod Heydrichs wurden mehr als 1.000 Tschechen, unter ihnen 200 Frauen, hingerichtet. Die SS übte auch grausame Rache an den Juden Prags und Berlins, die an der Ermordung Heydrichs und der nachfolgenden Flucht der Attentäter in keiner Weise beteiligt waren. Rund 3.000 Juden, die meisten stammten aus Prag und Brünn, wurden in drei Eisenbahnzügen aus dem KZ Theresienstadt (Terezín) von der SS in die Todeslager im Osten deportiert. Von diesen drei Transporten gab es, soweit bekannt, keine Überlebenden. Am 29.  Mai 1942 befahl Joseph – 139 –

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Goebbels in seiner Eigenschaft als NSDAP-Gauleiter von Berlin die Verhaftung von 500 der noch in Berlin verbliebenen Juden  ; am Todestag Heydrichs ordnete er die Hinrichtung von 152 Juden aus dieser Gruppe an.172 Insgesamt führten die soeben erwähnten Maßnahmen zum Tod von mehr als 5.000 Menschen. Abgesehen von den beiden Attentätern, hatte keiner dieser Menschen irgendetwas mit dem Anschlag auf Heydrich zu tun, und nur wenige Opfer – sieht man von den Angehörigen des bewaffneten tschechischen Widerstandes ab – waren an der Flucht der Attentäter beteiligt. Das letzte Opfer war einer der ursprünglichen Attentäter, den die britische Armee ausgebildet und den die RAF am 27.–28.  März 1942 im Gebiet um Telč in Mähren mittels Fallschirm abgesetzt hatte  : der tschechische Sergeant Karl Curda. Er mutierte nach der Ermordung Heydrichs und seiner eigenen Gefangennahme durch die Gestapo zu deren Informanten. Nach dem Krieg ließen ihn die tschechischen Behörden wegen seiner Mitteilungen, die er den Deutschen über seine früheren Kameraden aus dem tschechischen Widerstand gemacht hatte, hängen.173 Als Vergeltung für die Ermordung eines ihrer brutalsten Führer tötete die SS so mehr als 5.000 Menschen  : 2.000 Tschechen (einschließlich der bei den Kämpfen in der Prager Kirche getöteten 150 Personen), 3.000 tschechische und 150 Berliner Juden. Für einen ermordeten SS-Obergruppenführer mussten mehr als 5.000 Menschen sterben, wobei es sich mit Ausnahme der sich nicht einmal auf 200 belaufenden tschechischen Soldaten und Widerstandskämpfer um unbeteiligte, unschuldige Zivilisten handelte. Der versuchte Mord an den französischen Generälen Weygand und Giraud Aufgrund seiner Stellung in der »Abwehr« verfügte Lahousen über intime persönliche Einblicke in zwei der hinterhältigsten der vom »Dritten Reich« geplanten Mordanschläge. Die Rede ist von den Plänen zur Eliminierung der Generäle Maxime Weygand und Henri Giraud.174 Oberst Amen war über beide Vorhaben und deren Begleitumstände vollkommen im Bilde. Lahousens Aussage zu beiden Fällen vermittelte dem Gericht vertiefte Einblicke in die Methode des Widerstandes, direkte Befehle Keitels zur Ermordung höherer Befehlshaber des Feindes nicht auszuführen. Gleichzeitig sollte ein Konflikt mit Vorgesetzten für den Fall, dass ein Angehöriger des Widerstandes die Ausführung eines dem geltenden Kriegsrecht widersprechenden Befehls verweigern – 140 –

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würde, vermieden werden. Der Trick bestand darin, die Ausführung eines solchen ungesetzlichen Befehls faktisch zu verhindern, ihr aber nicht direkt zu widersprechen. In diesem Zusammenhang berichtete Lahousen dem Gericht von der unter den höheren Offizieren der »Abwehr« üblichen Praxis, sich zu Beginn des Dienstes in Canaris’ Büro zu treffen, um den aktuellen Stand aller laufenden nachrichtendienstlichen Vorgänge, sofern sie das Amt Ausland/Abwehr betrafen, zu erörtern. Oberst Amen eröffnete diesen Abschnitt der Befragung mit einer simplen Frage  : »Erinnern Sie sich, im Jahre 1940 an einer Besprechung teilgenommen zu haben, in welcher der Name Weygand fiel  ?«175 Nach seiner bejahenden Antwort erläuterte Lahousen ausführlich Keitels Anordnung und die Rolle, die er – Lahousen – selbst dabei spielen sollte. Irgendwann an einem Morgen etwa im November oder Dezember 1940 informierte Canaris seine engsten Mitarbeiter über einen gerade eingelaufenen Befehl Keitels  : Es ging um die Planung, Vorbereitung und Durchführung der Ermordung des französischen Befehlshabers in Nordafrika, General Weygand. Anscheinend hatte Hitler Keitel diesen Mordauftrag erteilt. Weygand stellte für das »Dritte Reich« ein Risiko dar, da er möglicherweise die Vereinigung der Streitkräfte Vichy-Frankreichs mit unabhängigen, nicht besiegten französischen Kräften in Nordafrika unter seinem Kommando bewerkstelligen konnte. Lahousen sagte vor dem Nürnberger Gericht aus, dass Keitels Forderung »von allen Anwesenden entrüstet und schärfstens zurückgewiesen« wurde. Da offenbar Lahousens Abteilung II den Auftrag ausführen sollte, stellte er vor allen bei der Besprechung Anwesenden klar, dass er nicht die leisesten Absichten hege, dem Folge zu leisten. »Meine Abteilung und meine Offiziere sind für den Kampf da, aber sie sind keine Mordorganisation oder sie sind keine Mörder.«176 Oberst Amen fragte dann seinen Zeugen nach der Reaktion Canaris’ auf diesen Auftrag. Lahousen antwortete, Canaris habe ihm aufgetragen, sich zu beruhigen, man werde später über die Angelegenheit sprechen. Nachdem die übrigen Anwesenden den Raum verlassen hätten, habe Canaris klargestellt, dass die »Abwehr« den Befehl weder ausführen noch auch nur weitergeben würde. So geschah es dann auch. Lahousen erklärte dem Gericht, dass die Abwehr-Abteilung II einen direkten Befehl ihres Vorgesetzten Keitel nicht explizit verweigern konnte. Keitel soll später auch nach dem Stand der Causa Weygand gefragt und die Antwort erhalten haben, alles sei sehr kompliziert, Lahousens Abteilung arbeite aber an der Sache und werde alles nur Mögliche unternehmen. Angesichts viel wichtigerer Materien, zum Beispiel des Aufstiegs General Charles de – 141 –

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Gaulles zum Führer des freien Frankreich, wurde der Auftrag zur Tötung Weygands schließlich beiseitegelegt und geriet dann in Vergessenheit. Im Zuge seiner weiteren Befragung lenkte Oberst Amen die Aussage Lahousens auf den französischen General Giraud, indem er ihn bat  : »Wollen Sie bitte dem Gerichtshof sagen, was ›Gustav‹ bedeutete  ?« Lahousen erwiderte, die geplante Ermordung von General Giraud sei im OKW als derart streng geheim eingestuft worden, dass man dafür nur den Decknamen »Gustav« verwendet habe.177 Giraud war bis Anfang 1942 auf der Festung Königstein in Sachsen gefangen gehalten worden und hatte sich danach durch seine Flucht aus dem dortigen Kriegsgefangenenlager und sein Verschwinden in Vichy-Frankreich den Hass Hitlers zugezogen. Keitels Befehl an Canaris, die Ermordung Girauds zu planen und durchzuführen, wurde niemals schriftlich fixiert, aber mündlich mehrmals wiederholt. Lahousen erinnerte sich, dass dieser Mordbefehl Anfang 1942 nach der Flucht des Generals, aber noch vor dem Anschlag auf Heydrich in Prag Ende Mai desselben Jahres erteilt worden war. Die anfängliche ablehnende Reaktion der »Abwehr« auf »Operation Gustav« glich der Antwort auf den Plan zur Ermordung Weygands. Keitel übte jedoch Druck auf Canaris und Lahousen aus, um sie zum Handeln zu veranlassen. Eines Abends – Canaris hielt sich bei der Abwehr-Dienststelle in Paris auf  – rief Keitel Lahousen in seiner Privatwohnung an und bedrängte ihn wegen der Angelegenheit. Er sagte  : »Ich muss es sofort wissen, es ist sehr dringend.« Lahousen antwortete, dass Canaris sich die Angelegenheit persönlich vorbehalten habe und dass er sich bei der Pariser Abwehr-Dienststelle aufhalte. Er sagte Keitel, dass er die Materie zusammen mit Canaris weiterverfolgen werde. Dann begab sich Lahousen sofort in die Berliner AbwehrZentrale, um die Sache mit Canaris’ Stellvertreter, Oberst Hans Oster, zu besprechen. Wegen der Dringlichkeit von Keitels Nachfragen befahl Oster Lahousen, sofort nach Paris zu fliegen und eine entsprechende Erwiderung mit Canaris persönlich zu besprechen. Am nächsten Tag in Paris angekommen, besprach Lahousen die Causa Giraud mit Canaris, Vizeadmiral Bürkner und zwei weiteren Nachrichtendienstoffizieren bei einem Abendessen. Canaris war zuerst bestürzt und glaubte zunächst, dem Dilemma nicht weiter aus dem Weg gehen zu können. In seinem üblichen schnellen Gedankengang trug er dann Lahousen auf, drei Termine zu ermitteln  : 1. den Tag der Flucht Girauds aus Königstein  ; 2. das Datum des Treffens von Abwehr-Abteilung III mit dem SD und Heydrich in Prag und 3. den Tag des Attentats auf Heydrich. Canaris sah kurzerhand einen Ausweg darin, eine glaubwürdige Erklärung vorzuschieben  : Indem er einen – 142 –

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angeblich von Canaris an Heydrich bei der besagten Konferenz in Prag weitergegebenen mündlichen Befehl erfand, konnte Canaris alle Vorwürfe wegen Inaktivität der »Abwehr« ins Leere laufen lassen. Heydrichs Tods sollte sich somit für die »Abwehr« als überaus nützlich erweisen.178 Laut Lahousen war Canaris, »sichtlich für alle Anwesenden, erleichtert, als er von mir oder durch mich die drei Zeitdaten erfahren hatte.« Am folgenden Tag flog die Abwehr-Gruppe von Paris nach Berlin und Canaris meldete die Sicht der »Abwehr« auf den Fall Giraud pflichtgemäß an Keitel. Keitel gab sich damit zufrieden. Als er von dem Gespräch zurückkehrte, bemerkte Canaris, er habe Keitel davon überzeugt, »dass die militärische Abwehr sich aus solchen Angelegenheiten heraushalten solle und alle weiteren Schritte dem SD überlassen werden sollten.«179

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Kapitel 8

NS-Verbrechen an sowjetischen Kriegsgefangenen und Zivilisten

K

urz bevor sich das Gericht für die Mittagspause vertagte, begann Oberst Amen mit der Befragung Lahousens über eine weitere Spielart nationalsozialistischer Untaten. Es handelte sich dabei um eine ganze Reihe weiterer mörderischer Verbrechen NS-Deutschlands gegenüber sowjetischen Kriegsgefangenen und sowjetischen Zivilisten. Wie üblich kam Oberst Amen gleich zur Sache  : »Haben Sie im Jahre 1941 einer Konferenz beigewohnt, bei welcher General Reinecke anwesend war  ?«180 Nachdem Lahousen dies bejaht hatte, bat Oberst Amen den Zeugen, eine detaillierte Beschreibung der Konferenz, ihrer Teilnehmer sowie ihres Themas zu geben. Wenngleich diese Konferenz bei Reinecke im Juli 1941, kurz nach Beginn des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion vom 22. Juni 1941, stattgefunden hatte, war die Frage der künftigen Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener schon in den vier Monaten davor in einer Reihe von Erörterungen und Entwürfen auf der Tagesordnung gestanden  ; im Ergebnis wurde etwa am 6. Juni 1941 der berüchtigte Kommissar-Befehl herausgegeben.181 Dieser Befehl charakterisierte den bevorstehenden Krieg gegen die Sowjetunion als eine weltanschauliche Auseinandersetzung, die mit bisher nie dagewesener Härte, ohne Mitleid und ohne Rücksichtnahmen geführt werden müsse. Von den sowjetischen Kommissaren hieß es, sie stünden für eine dem Nationalsozialismus diametral entgegengesetzte Weltanschauung. Daher, führte der Befehl aus, müssten die Kommissare eliminiert werden. Damit war nichts anderes als Mord gemeint. Lahousen berichtete dann über die Hintergründe der Konferenz bei Reinecke, deren Zweck darin bestand, die Auswirkungen des Kommissar-Befehls auf die ersten Gruppen sowjetischer Kriegsgefangener einzuschätzen. Die Wehrmacht hatte schon während der ersten Wochen des Feldzugs gegen Russland Hunderttausende Sowjetsoldaten gefangen genommen. Lahousen berichtete, dass Canaris ihn als seinen Vertreter zum offiziellen Repräsentanten des Amtes Ausland/Abwehr und seines Chefs bei dieser Konferenz und weiteren Nachfolge­ besprechungen ernannt habe. Nach den Gründen für diese Ernennung befragt, fasste Lahousen die Motive Canaris’ in vier Punkten zusammen  : – 144 –

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1. Canaris hatte eine tiefe Abneigung gegen Reinecke, den er als »Prototyp eines allzeit willfährigen nationalsozialistischen Generals ansah«. 2. Canaris befahl Lahousen zu versuchen, durch sachliche Argumente »diesen nicht nur brutalen, sondern völlig unsinnigen Befehl entweder zu Fall zu bringen oder in seiner Auswirkung herabzudrücken, soweit es möglich war.« 3. Canaris wählte Lahousen auch aus taktischen Gründen aus, weil er selbst als Chef der »Abwehr« sich nicht so weit vorwagen konnte wie Lahousen, der dank seiner untergeordneten Stellung eine viel schärfere Sprache führen konnte. 4. Canaris war mit Lahousens Einstellung in der Frage der sowjetischen Kriegsgefangenen, die er bei zahlreichen Reisen an die Front und zu den AbwehrAußenstellen kennengelernt hatte, bestens vertraut.182 Um die Erörterung dieses grauenhaften Themas etwas durch Humor aufzulockern, bemerkte Lahousen, General Reinecke sei nicht nur bei den Offizieren der »Abwehr«, sondern in weiteren militärischen Kreisen inoffiziell als der »kleine Keitel« oder der »andere Keitel« bezeichnet worden.183 Da Lahousen auf dieser Konferenz als Vertreter von Canaris und dessen Dienststelle anwesend war, wurden seine Notate in das Kriegstagebuch von Canaris und nicht in sein eigenes aufgenommen. Von diesen beiden Tagebüchern überstand nur jenes von Lahousen den Krieg, während das RSHA nach der Verhaftung von Canaris wegen Hochverrats nach dem 20.  Juli 1944 alle vorhandenen Ausfertigungen des Canaris-Tagebuches vernichtete. Lahousens Kriegstagebuch enthält keine Angaben zu seinen Aktivitäten rund um die ursprüngliche Konferenz bei Reinecke und die Folgebesprechungen, die sich um die Frage der sowjetischen Kriegsgefangenen drehten. Daher war Lahousens Zeugenaussage für das Gericht die vorrangige Quelle zu diesem Gegenstand. Auf Oberst Amens Fragen hin erläuterte Lahousen den Zweck der von General Reinecke geleiteten Besprechung. Das Offizierskorps der Wehrmacht kannte Reinecke als einen dem Nationalsozialismus besonders ergebenen General. Reinecke wiederum blickte auf das Offizierskorps herab, dem er vorwarf, dass es »sich anscheinend noch in den Gedankengängen der Eiszeit bewege und nicht in denen der nationalsozialistischen Gegenwart.«184 Reinecke führte in seiner Eigenschaft als Chef des Allgemeinen Wehrmachtsamtes den Vorsitz bei dieser Konferenz. Zu Beginn definierte er als Zweck der Besprechung eine Überprüfung aller die Ermordung der sowjetischen Kriegsgefangenen betreffenden Befehle, einschließlich des Kommissar-Befehls  ; die Direktiven sollten nä– 145 –

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her ausgeführt und die ihnen zugrunde liegenden Absichten dargestellt werden.185 Auf die Frage nach den vier Teilnehmern der von Reinecke in dessen Büro in der Berliner OKW-Zentrale am Tirpitzufer geleiteten Konferenz nannte Lahousen außer ihm selbst und Reinecke zwei weitere Personen  : SS-Gruppenführer Heinrich Müller, Amtschef des RSHA und verantwortlich für die Durchführung des Kommissar-Befehls, das heißt für die Auswahl und Hinrichtung der sowjetischen Kriegsgefangenen, sowie den Oberst der Wehrmacht Breyer, der die Abteilung Kriegsgefangenenwesen des OKW vertrat. Diese Abteilung war für sämtliche Kriegsgefangenen, auch die sowjetischen, zuständig. Korrekterweise muss man von sowjetischen bzw. von Gefangenen der Roten Armee, nicht von russischen, sprechen, da viele Gefangene keine ethnischen Russen waren.186 In weiterer Folge bilanzierte der Zeuge Hitlers Befehle, die sich gegen zwei verschiedene Kategorien unter den sowjetischen Kriegsgefangenen richteten  ; beide sollten nach ihrer Identifizierung und Separierung von den übrigen Gefangenen getötet werden. Dies betraf 1)  sämtliche Kommissare der Roten Armee, die man durch entsprechende Abzeichen auf den Uniformen erkennen würde, und 2) alle Personen (Lahousen sprach in diesem Zusammenhang des Öfteren von »Elementen«), die nach einem speziellen Selektionsschema des SD als vollkommen bolschewisiert oder als aktive Vertreter der bolschewistischen Weltanschauung galten. Selbst wenn Gefangene die erste Überprüfung bei ihrer Gefangennahme überstanden hatten, waren sie damit keineswegs vor einer Hinrichtung durch den SD sicher, denn SD-Vertreter waren jederzeit zur Überprüfung des Status der sowjetischen Gefangenen und zu entsprechenden Maßnahmen einschließlich Exekutionen befugt. Lahousen bemerkte an dieser Stelle, dass der Erlass des Kommissar-Befehls Anfang Juni dem Beginn des Angriffs auf die UdSSR am 22.  Juni 1941 um mehrere Wochen vorausging. Schon zu einem frühen Zeitpunkt und noch bevor Canaris die schroffe Ablehnung des Befehls seitens der »Abwehr« zum Ausdruck gebracht hatte, übermittelte Vizeadmiral Bürkner, Chef des Amtes Ausland der »Abwehr« und zuständig für völkerrechtliche Fragen, Keitel die negative Sicht der »Abwehr« auf den Kommissar-Befehl. Der zuständige Referent des Amtes Ausland war Graf Helmuth von Moltke, der führende Völkerrechtsexperte der »Abwehr«, engagierter Widerständler im engeren Kreis um Oster und führender Kopf des Kreisauer Kreises.187 Während der intensiven Debatten auf der Konferenz bei Reinecke trug Lahousen, wie von ihm erwartet, die allgemeinen und praktischen Einwände der – 146 –

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»Abwehr« gegen den Kommissar-Befehl vor. Er verwies darauf, dass das Bekanntwerden der neuen Politik der Tötung von Gefangenen höchstwahrscheinlich dazu führen werde, dass sich bestimmte Gruppen von Soldaten der Roten Armee nicht mehr ergeben würden. Darüber hinaus würde die neue Politik auch verhindern, dass sich Rotarmisten in den Dienst der »Abwehr« stellten – jetzt und in Zukunft, abhängig vom Kriegsverlauf. Schließlich verwies Lahousen auf die negativen Auswirkungen des Befehls auf die Moral der gewöhnlichen deutschen Soldaten, von denen viele unfreiwillige Zeugen der Hinrichtungen geworden waren. Lahousen bezeichnete die Folgen des Befehls für die Disziplin der Truppe als »verheerend«.188 Auf eine entsprechende Frage Oberst Amens legte Lahousen dar, dass es während der Konferenz bei Reinecke keine Erwähnung des geltenden Völkerrechts gegeben habe. Er bemerkte, dass die Selektion der Opfer hinsichtlich der Kategorie »überzeugte Kommunisten« vollkommen willkürlich erfolgt sei, denn es habe dafür keinerlei objektive Kriterien gegeben. Bei der Besprechung bei Reinecke hatte Lahousen, der dabei den Rat von Admiral Canaris genau befolgte, nicht humanitäre Argumente, sondern praktisch-militärische Gesichtspunkte vorgetragen. Besonders verwies er im Namen der »Abwehr« darauf, dass der Kommissar-Befehl sowjetische Soldaten davon abhalte, die Waffen zu ­strecken. Darüber hinaus mache es der Befehl sehr viel schwieriger, unter den zahlreichen Gefangenen der Roten Armee, die dem Sowjetsystem ablehnend gegenüberstanden, Agenten für die »Abwehr« zu rekrutieren. Die unter den sowjetischen Soldaten weit verbreitete Kenntnis des Kommissar-Befehls behinderte folglich die Bemühungen der »Abwehr«, unter den Gefangenen neue Agenten zu finden. Lahousen erklärte dem Gericht erneut, dass die von ihm auf der Konferenz vertretene Sichtweise nicht nur seine eigene oder jene von Canaris gewesen, sondern von der gesamten »Abwehr« geteilt worden sei. Dieser Anschauung sei jedoch Gruppenführer Müller entgegengetreten, »der mit den üblichen Schlagworten die Argumente, die ich vorgebracht habe, zurückwies.«189 Müllers einziges Zugeständnis betraf die angewandte Selektionsmethode und die Orte, an denen die zur Tötung bestimmten Gefangenen umgebracht wurden. Nach den neu gefassten Regeln mussten die Hinrichtungsstätten mindestens 500  Meter vom Standort der nächstgelegenen deutschen Truppen entfernt sein. Lahousen führte gegenüber dem Gericht weiter aus, er habe auf der Konferenz auch die Bedenken der »Abwehr« gegen die Art der Auswahl der zur Exekution bestimmten sowjetischen Gefangenen in den Kriegsgefangenenlagern – 147 –

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angesprochen. Diese Gefangenen waren, nachdem sie sich ergeben hatten, dort eingeliefert worden und standen theoretisch im Gewahrsam der Wehrmacht. Die folgenden Selektionen durch den SD fanden unter – laut Lahousen – »ganz eigenartigen und willkürlichen Gesichtspunkten« statt.190 Nach dem später festgelegten Verfahren führte das SD-Personal, das die Selektionen vorgenommen hatte, auch die Hinrichtungen durch. Bei dieser Auswahl dürften rassische Kriterien, insbesondere Antisemitismus, eine ausschlaggebende Rolle gespielt haben. Bestanden Zweifel, ob bestimmte Gefangene jüdisch waren, stützte sich das SD-Personal zur Unterscheidung auf die bei Juden übliche Beschneidung. Da diese jedoch auch bei bestimmten Gruppen von Moslems üblich war und der SD dies nicht wusste, wurden etliche moslemische Gefangene exekutiert.191 Lahousen und andere Abwehr-Offiziere klärten später gegenüber den Verantwortlichen des RSHA diesen Irrtum auf. Während der 1920er-Jahre hatten etliche jüdische Eltern in der Sowjetunion aus Angst vor künftiger Verfolgung ihrer männlichen Kinder die traditionelle Beschneidung unterlassen  – diese weise Voraussicht sollte sich viele Jahre später angesichts der Selektionsmethoden des SD bewähren. Die Angst dieser Eltern gründete sich dabei eher auf die fortgesetzte Repression von Juden durch die Sowjetunion als auf Furcht vor Verfolgung durch künftige Feinde der UdSSR. Lahousen berichtete, dass die Debatten über den Selektionsvorgang während der Konferenz vom Juli 1941 in Reineckes Büro leidenschaftlich und hitzig ausgetragen worden waren. Den damals vorliegenden Berichten zufolge hatte der SD sowjetische Gefangene zur Tötung ausgewählt, die einen intelligenten oder gebildeten Eindruck machten, auch wenn sie nicht »rassisch minderwertig« wirkten. Zu guter Letzt musste Lahousen eine Frage an Müller richten, um herauszubekommen, ob einige objektive Kriterien festgelegt werden könnten, um wenigstens etwas Ordnung in den chaotischen Selektionsprozess zu bringen  : »Sagen Sie, abgesehen von allem anderen, nach welchen Grundsätzen wird diese Aussonderung durchgeführt  ? Geht man nach Körpergröße oder nach Schuhnummer  ?«192 Lahousen hatte während der ganzen Besprechung in Reineckes Büro gehofft, die praktischen Argumente der »Abwehr« würden Reinecke und Müller von der Notwendigkeit überzeugen, die erteilten Befehle zur Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener – insbesondere zur Selektion der zu Exekutierenden – in einigen Bereichen abzuändern. Ungeachtet der Rivalitäten und der tiefen Meinungsverschiedenheiten zwischen »Abwehr« und RSHA schwebte Lahousen – 148 –

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eine Art goldene Brücke vor, die Reinecke wenigstens einige minimale Korrekturen beim Selektionsvorgang erlauben würden. Müller lehnte jedoch entschieden alle von Lahousen vorgetragenen Ideen der »Abwehr« ab. Reinecke hielt kompromisslos an dem damals etablierten System der Selektion und Tötung sowjetischer Gefangener fest. Die einzige Ergänzung, auf die man sich bei der Konferenz einigte, bestand darin, die Hinrichtungsorte mindestens 500 Meter von den anwesenden deutschen Truppen entfernt zu wählen. Die Sorgen höherer Wehrmachtsoffiziere – eine Ausnahme bildeten hier freilich Keitel, Reinecke und ähnlich Gesinnte – um Disziplin und Moral der Fronttruppen waren verständlich. Wenn die Deutschen sowjetische Soldaten nach ihrer Gefangennahme töteten und wenn sich diese Praxis allgemein herumsprach, dann war zu erwarten, dass die Sowjets zur Vergeltung dasselbe tun würden. Um Lahousens Insiderwissen zur Frage der sowjetischen Gefangenen einschätzen zu können, fragte ihn Oberst Amen, wie er Informationen über die Durchführung dieser Exekutionen erhalten habe. Lahousen teilte dem Gericht mit, dass das Amt »Abwehr« damals regelmäßig vollständige Nachrichten über alle wichtigen Vorgänge an der Ostfront und in den Kriegsgefangenenlagern erhalten habe. Beispielsweise befanden sich Offiziere der Abwehr-Abteilung III (Gegenspionage) in den Lagern, um dort unter den sowjetischen Gefangenen geeignete Agenten zwecks Spionage für Deutschland und gegen die UdSSR zu rekrutieren.193 Dank der Verteilung schriftlicher Meldungen und der in Besprechungen vorgetragenen Berichte von Nachrichtendienstoffizieren, die von der Front und von Besuchen der Lager zurückgekehrt waren, glaubte die »Abwehr« über die Situation der sowjetischen Gefangenen bestens im Bilde zu sein. Zwar waren diese Berichte als geheim eingestuft und daher nicht allgemein zugänglich, doch wussten große Teile der Wehrmacht – sowohl Stabs- als auch Truppenoffiziere – genau, was in den Gefangenenlagern generell und bei der Selektion und Exekution von Gefangenen im Besonderen vorging. Lahousens Aussage über die Konferenz bei Reinecke bezog sich auf die ersten Wochen des Russlandfeldzugs, als der Blitzkrieg der Wehrmacht laufend starke Verbände der Roten Armee einkesselte und die Gefangenenzahlen folglich dramatisch anstiegen. Solcherart eingekesselten Soldaten blieb nur die Wahl zwischen Kapitulation und Fortsetzung des Kampfes in Partisanenverbänden. Die überwältigende Stoßkraft des deutschen Angriffs verhinderte zu ­Beginn die Befreiung eingeschlossener Truppen durch starke sowjetische Gegenangriffe. Bis Kriegsende nahm die Wehrmacht ungefähr 5 Millionen Rotarmisten gefangen. Nachdem die deutschen Wachen die Kommissare der Roten – 149 –

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Armee identifiziert und erschossen hatten, wandten sie ihre ganze Aufmerksamkeit den riesigen Massen der übrigen Gefangenen zu  : Über sie ging nun jener Selektionsprozess hinweg, der überzeugte Kommunisten herausfiltern sollte. Jene, die diese anfänglichen Selektionen überlebt hatten, wurden dann seitens der deutschen Lagerverwaltungen mit größter Brutalität behandelt. Misshandlung von Rotarmisten in den Kriegsgefangenenlagern Lahousens Aussage schwenkte dann von der Thematik der summarischen, manchmal auch erst späteren Tötung bestimmter Gefangener zur Frage der brutalen Behandlung der überlebenden Gefangenen durch das Wachpersonal. Die bereits erwähnte Konferenz bei Reinecke im Juli 1941 befasste sich auch mit der langfristigen Behandlung der am Leben gebliebenen sowjetischen Gefangenen in den Kriegsgefangenenlagern. Eingangs dieser Erörterung stellte General Reinecke mit Nachdruck fest, der Umgang mit den Sowjets müsse sich fundamental von der Behandlung aller übrigen alliierten Gefangenen unterscheiden – die Sowjets sollten weitaus brutaler behandelt werden. Dies erfordere, so Reinecke, der vom »Dritten Reich« verkündete Weltanschauungskrieg gegen die Sowjetunion und den Kommunismus. Reinecke hatte daher die Verteilung von Peitschen an das Wachpersonal angeordnet. Beim kleinsten Anzeichen von Fluchtabsichten oder sonstigem unerwünschten Verhalten konnten die Wachen auch zu ihren Waffen greifen.194 Oberst Amen fragte Lahousen nach den Plänen, die Gefangenen zu brandmarken, und insbesondere darüber, ob ihm ein entsprechender offizieller Befehl bekannt sei. An dieser Stelle forderte der Vorsitzende Oberst Amen auf, nicht mehr von »russischen« Kriegsgefangenen zu sprechen, da nicht alle ethnische Russen waren. Stattdessen sollte von sowjetischen Gefangenen die Rede sein. Oberst Amen stimmte dem zu, wenngleich vielen in der amerikanischen Anklagebehörde bekannt war, dass zumindest ein Teil der Gefangenen antisowjetisch eingestellt war.195 Lahousen antwortete auf die Frage nach den Brandmarkungen, er habe von dieser unmenschlichen Methode erstmals bei einer der regelmäßigen morgendlichen Besprechungen der Abteilungsleiter der »Abwehr« erfahren, vermutlich im Herbst 1941. Postwendend ließ die »Abwehr« durch die Dienststelle des Vizeadmirals Bürkner Protest gegen diesen Befehl einlegen. Bürkner war der langjährige Chef des Amtes Ausland, also der mit völkerrechtlichen Fragen – 150 –

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befassten Sektion der »Abwehr«. Die Begründung für den Protest lautete, dass der Brandmarkungsbefehl vor dem Hintergrund des geltenden Völkerrechts illegal sei. Die »Abwehr« unterstrich aber nicht nur die Unmenschlichkeit der Anordnung  ; ihre Abteilungsleiter erörterten zudem ein damit zusammenhängendes Thema, nämlich einen entsprechenden Vorschlag, den eine Gruppe von NS-Ärzten in einem medizinischen Gutachten unterbreitet hatte. Laut Lahousen waren sämtliche Abteilungsleiter empört, dass sich angesehene Ärzte für derartiges hergeben konnten. Denn diese ließen verlauten, es sei für die Gefangenen medizinisch von Vorteil, wenn sie mittels Brandmarkung identifiziert werden könnten.196 Als Nächstes stand die Frage der später vorgeschlagenen Überführung eines Teils der sowjetischen Kriegsgefangenen aus den Lagern im Osten in neue Lager, die in Deutschland einschließlich der angeschlossenen Gebiete errichtet werden sollten, auf der Tagesordnung. In der Führungsriege des »Dritten Reiches« hatte es lange Debatten über die Vor- und Nachteile einer solchen Überführung gegeben, für die ja ein ausgedehntes Bauprogramm zur Unterbringung der Gefangenen erforderlich war. Hitler entschied, das Vorhaben für den Augenblick aufzugeben. Das wirkte sich laut Lahousen katastrophal aus und »führte zu den Zuständen, die sich dann in den Lagern draußen im Operationsgebiet entwickelt haben, wo man Gefangene zusammenstopfte, die nicht ernährt, nicht entsprechend bekleidet oder entsprechend untergebracht werden konnten. Infolgedessen brachen Seuchen und Kannibalismus aus.«197 Lahousens lebendige Schilderung des in den Lagern herrschenden Schreckens, einschließlich der erwähnten Fälle von Kannibalismus, verblüfften das Gericht und die Dolmetscher. Um sicherzugehen, forderte das Gericht Lahousen auf, diesen Teil seiner Aussage zu wiederholen. Um es den Übersetzern leichter zu machen, erweiterte Lahousen seine Darlegung  : »Enorme Massen von Kriegsgefangenen blieben im Freien ohne jede angemessene Betreuung, und zwar Betreuung im Sinne des Kriegsgefangenenabkommens  ; ich meine Unterbringung, Verpflegung, ärztliche Betreuung und dergleichen  ; es gab keine angemessene Verpflegung, keine ärztliche Betreuung , keine angemessene Unterbringung  ; die meisten von ihnen mußten auf dem nackten Boden schlafen, so daß sehr viele von ihnen ums Leben gekommen sind. Seuchen sind ausgebrochen, ja, sogar Kannibalismus, das heißt, daß menschliche Wesen durch Hunger dazu getrieben wurden, einander aufzufressen.«198 Lahousens Ausführungen lassen die zivilisierte Einstellung und die Sorge um die Menschlichkeit seitens der »Abwehr« eindeutig erkennen  ; im Kontrast dazu – 151 –

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stehen die brutalen, verbrecherischen Handlungen sowie die Weltanschauung des Nationalsozialismus. Lahousen bestätigte auch seine und Canaris’ wiederholte Reisen an die Front und zu den Lagern, um eine gesicherte Faktengrundlage zur Beurteilung der den Kriegsgefangenen in den Lagern zuteilwerdenden Behandlung zu erlangen. Dieses durch die Besuche erworbene Wissen aus erster Hand floss in Lahousens Schilderungen der Lebensbedingungen der sowjetischen Kriegsgefangenen vor dem Gerichtshof ein. Wie erwähnt hatte Hitler selbst befohlen, die geplante Überstellung sowjetischer Gefangener in Lager in Deutschland auszusetzen. Man kann spekulieren, ob Hitlers Motiv dabei seine Entschlossenheit war, den Kommunismus restlos auszumerzen, was auch die noch lebenden Gefangenen einschloss. Die NSFührung nahm an, die fortgesetzten Massenmorde würden sich in den eroberten Gebieten leichter verbergen lassen als im Reich. Daneben bestand auch die Hoffnung, die für den Spätfrühling 1942 angesetzte neuerliche deutsche Offensive würde ein weiteres Mal große Mengen sowjetischer Soldaten in die Gefangenschaft führen  ; am besten würde man sie einfach in diesen Gebieten belassen. Als Folge einer angepassteren zivilen und militärischen Strategie hatte sich jedoch der sowjetische Widerstand im zweiten Kriegsjahr versteift. Die Verteidigung wurde nun als der »Große Vaterländische Krieg« ausgegeben  ; die Rüstungsproduktion in den neuen Fabriken hinter dem Ural stieg steil an, und hinter sowjetischen Kampfverbänden wurden spezielle Maschinengewehr-Abteilungen postiert, die den Auftrag hatten, auf alle sich zurückziehenden sowjetischen Soldaten das Feuer zu eröffnen.199 Schon lange vor dem 23. November 1942, als die Rote Armee die deutsche 6.  Armee und weitere Truppen der Achsenstaaten im Kessel von Stalingrad einschloss, waren die Verluste von Wehrmacht und Waffen-SS an der Ostfront dramatisch angestiegen. Hitler lehnte jeden Rückzug der 6.  Armee sowie des XI. Armeekorps aus Stalingrad ab und befahl dem Oberbefehlshaber der Armee, Generaloberst Friedrich Paulus, an der Wolga auszuhalten und bis zum letzten Mann zu kämpfen. Als Paulus Anfang 1943 unter Missachtung dieses Befehls kapitulierte, waren die deutschen Verluste während des Feldzugs im Kaukasus und an die Wolga auf mindestens eine Million, möglicherweise sogar auf 1,5  Millionen Gefallene, Verwundete, Vermisste und Gefangene angestiegen. Auch die mit Deutschland verbündeten Streitkräfte Ungarns und Rumäniens erlitten schwere Verluste. Diese gigantischen Ausfälle überstiegen bei Weitem die enormen Anforderungen an das Menschenpotenzial des »Dritten Reiches«, zumal nun die Rote Armee an der Ostfront zur Offensive überging. An der – 152 –

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Mittelmeer- bzw. Westfront begannen die Alliierten ihre Invasion Siziliens und später des italienischen Festlandes  ; sie bereiteten sich ferner auf eine Landung in Frankreich vor. Vor diesem Hintergrund widerrief Hitler seine frühere Entscheidung, keine sowjetischen Kriegsgefangenen nach Deutschland zu überstellen. Folglich reihten sich diese Gefangenen in den Strom von mehr als fünf Millionen zivilen Sklavenarbeitern aus dem Osten, aus Frankreich und den Niederlanden ein. Der in Nürnberg angeklagte Verantwortliche für dieses Zwangsarbeiterprogramm, Fritz Sauckel, hatte im März 1944 erklärt, dass »von den fünf Millionen bis dahin im Reich eingetroffenen Arbeitern keine 200.000 freiwillig gekommen sind.«200 Unter Verstoß gegen das geltende Kriegsrecht zwang man sowjetische Kriegsgefangene und Sklavenarbeiter dabei auch zur Produktion von Waffen für das »Dritte Reich«, ja in einigen Fällen wurden sie sogar im Kampf eingesetzt. Die Farbe der Uniformen von sämtlichen Offizieren und Soldaten der Luftwaffe war taubenblau  ; auch die zur Luftwaffe zählenden Bedienungsmannschaften der Flak-Artillerie sowie die Soldaten der Division »Hermann Göring« trugen solche Uniformen. Diese für den Erdkampf bestimmte Division hatte man aus überzähligem Personal der Luftwaffe gebildet, nachdem diese von der Royal Air Force in der Luftschlacht um England zwischen Mai und November 1940 besiegt worden war.201 Generalfeldmarschall Erhard Milch, der zweite Mann der Luftwaffe nach Göring und daher ein Kenner aller sie betreffenden Fragen, machte im Februar 1943 während einer Besprechung in Gegenwart von Rüstungsminister Albert Speer und Sauckel folgende Bemerkung  : »Wir haben um eine Anweisung ersucht, wonach ein bestimmter Prozentsatz der Bedienungen der Flak-Geschütze Russen sein sollen. 50.000 werden es insgesamt sein, 30.000 sind bereits als Kanoniere eingesetzt. Es ist amüsant, dass Russen die Geschütze bedienen müssen.«202 Die wichtigste und wirkungsvollste Waffe der deutschen Luftabwehr war die bereits genannte 8,8‑cm-Kanone, die bei entsprechenden Adaptierungen auch zur Panzerabwehr und als allgemeines Artilleriegeschütz verwendet wurde. Mit einer Reichweite von knapp unter 9.000 Meter benötigte das Geschütz eine Bedienung von fünf Mann, wofür später im Krieg teilweise auch Frauen und sowjetische Kriegsgefangene herangezogen wurden. Bis Mitte 1944 wurden geschätzte 10.000 Stück dieses Modells produziert, und für deren Bedienung spielten sowjetische Kriegsgefangene eine immer wichtigere Rolle  ; sie feuerten die Geschütze auf alliierte Bomber und Jäger ab, welche mit Bomben und Bordwaffen Streitkräfte, militärische Anlagen und zentrale deutsche Rüstungswerke – 153 –

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angriffen.203 Laut internationalem Kriegsgefangenenrecht war es jedoch sämtlichen Gewahrsamsmächten untersagt, die bei ihnen verbliebenen Gefangenen für irgendwelche Kampfeinsätze heranzuziehen. Im deutschen Generalstab und bei zahlreichen sonstigen Offizieren der Wehrmacht wusste man dies ganz genau. Im Zuge der weiteren Ausführungen Lahousens zum Gegenstand der sowjetischen Kriegsgefangenen stellte Oberst Amen seinem ersten Zeugen einige weitere Fragen zu der allgemeinen Verantwortlichkeit der Wehrmacht für ihre Gefangenen. Zunächst ging es um die übergeordnete Zuständigkeit. Lahousen antwortete, dass die Gefangenen dem Oberkommando der Wehrmacht (OKW) unterstanden. Im Fall der sowjetischen Kriegsgefangenen der Wehrmacht übernahm sie jedoch zuerst der Sicherheitsdienst (SD) des RSHA, bevor sie in die Kriegsgefangenenlager gebracht wurden. Der SD unterwarf die Gefangenen einem Selektionsvorgang und führte dann die Exekutionen der hierzu bestimmten Personen aus. Darin war die Wehrmacht insofern verwickelt, als sie dem SD überhaupt erst den Zugang zu diesen Gefangenen gestattete.204 Oberst Amen war an diesem Punkt mit seiner direkten Befragung Generalmajor Lahousens zu Ende. Lahousen wurde nun vom sowjetischen Hauptankläger, General R.  A. Rudenko, verhört. Wie kaum anders zu erwarten, stellte Rudenko zu Beginn eine als militärisch getarnte politische Frage. Rudenko interessierte sich besonders für die von ihm so bezeichneten »terroristischen Handlungen« ukrainischer Nationalisten, die das OKW in militärische Verbände eingegliedert hatte. Lahousen bestätigte, dass die »Abwehr« diese ukrainischen Einheiten aufgestellt hatte, bestritt aber deren politische oder terroristische Zwecke. Viele dieser Kommando-Angehörigen waren in deutschen Gefängnissen und Konzentrationslagern angeworben worden. Lahousen zufolge erteilte die »Abwehr« diesen Trupps rein militärische Aufträge für Sabotage hinter den sowjetischen Linien. Als Ziele galten Eisenbahnlinien, Brücken, Tunnel und sonstige wichtige Einrichtungen des Verkehrswesens. Die Sowjets bezeichneten diese Aktivitäten der auf deutscher Seite kämpfenden ukrainischen Verbände naturgemäß als terroristisch und konterrevolutionär.205 Sodann kam Rudenko auf die Befehle zur Exekution sowjetischer Kriegsgefangener zurück. Er fragte Lahousen, ob der SD die Gefangenen in zwei Gruppen habe einteilen müssen, wobei die einen einer »Sonderbehandlung«, im Klartext also einer Erschießung, unterzogen und die anderen interniert worden seien. Lahousen bestätigte die wahre Bedeutung des SD-Begriffes »Sonderbehandlung« und führte weiters aus, das für die Selektionen verantwortliche SD– 154 –

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Personal habe auch die Tötungen vorgenommen. General Rudenko stellte fest, dass die für alle diese Handlungen verantwortlichen Leiter der SD-Kommandos gemäß geltendem Kriegsgefangenenrecht für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden würden. Seine weiteren Fragen drehten sich um die Proteste der »Abwehr« gegen die Ermordung der sowjetischen Gefangenen. Zynisch hielt er fest, dass die von Reinecke und Müller zugestandene sogenannte Reform nur darin bestanden habe, dass die Erschießungen fortgesetzt wurden, nur eben mindestens 500 Meter von deutschen Truppen entfernt. Hierauf verwies Lahousen neuerlich auf seine und Canaris’ ständigen Proteste gegen diese Grausamkeiten. Was die Identität diverser sowjetischer Ankläger betraf, die Lahousen in Vorbereitung auf seine Aussage befragt hatten, geriet Rudenko in gehörige Konfusion. Er erwähnte zuerst General Alexandrow, verbesserte sich dann und nannte Oberst Rosenblith, den er nur als »Vertreter der Sowjetdelegation« bezeichnete. Der sowjetische Hauptankläger zielte mit seinen Fragen darauf ab, den Inhalt privater Gespräche zwischen Lahousen und Müller zu erfahren. Lahousen zufolge hatte er, sich redlich darum bemüht, Müller hinsichtlich der zahlreichen ethnischen Gruppen der Sowjetunion, von denen etliche dem Kommunismus zutiefst ablehnend gegenüberstanden, aufzuklären. Hierzu zählten etwa Krimtataren und andere Moslems, die irrtümlich wegen ihrer rituellen Beschneidung als Juden erschossen wurden. Ganz allgemein habe er, Lahousen, als der von Canaris mit Kriegsgefangenenfragen und dem Problem von Selektion und Exekution betraute Mann zahlreiche Diskussionen mit Müller geführt. An dieser Stelle beendete Rudenko seine Befragung Lahousens.206 Nach diesem Kreuzverhör durch den sowjetischen Hauptankläger realisierte Lahousen sein Glück, ein Gefangener der Amerikaner, nicht der Sowjets zu sein. Die deutsche Strategie an der Ostfront Zu Beginn des Überfalls der Achsenstreitkräfte auf die Sowjetunion im Morgengrauen des 22. Juni 1941 zählten die Angreifer etwas mehr als drei Millionen Mann, ungefähr gleich viele wie die sowjetischen Verteidiger. Die Sowjettruppen waren zu nahe an ihren eigenen westlichen Grenzen aufgestellt, um einen erfolgreichen Verteidigungskampf zu führen. Der Angreifer Deutschland mit seinen Verbündeten Rumänien, Ungarn und der Slowakei sowie ab dem 30. Juni 1941 auch Finnland verfügte anfangs über den eindeutigen Vorteil, den – 155 –

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Gegner nahezu vollkommen zu überraschen. 1937 hatte der unter dem bürgerlichen Namen Dschugaschwili im später sowjetischen Georgien geborene Stalin mit einer intensiven Säuberung der Roten Armee begonnen  ; ihr fielen Tausende Offiziere, vom General bis hinunter zum Hauptmann, zum Opfer, da Stalin sie für Verräter hielt. Noch Jahre später litt die Rote Armee an den Folgen dieser stalinistischen Säuberungen. Darüber hinaus wollte Stalin auch die Warnungen der britischen und französischen Nachrichtendienste nicht glauben, die zum Teil auf Informationen des bestplatzierten französischen Spions, Erwin Lahousen, über einen bevorstehenden deutschen Überfall im Frühling 1941 beruhten. Die angreifenden Achsentruppen hatten ferner den Vorteil ihrer ausgedehnten Erfahrung in moderner Kriegführung mit Panzerverbänden  ; die Rote Armee hatte hingegen während des begrenzten Winterkrieges gegen Finnland zwischen dem 30. November 1939 und dem 13. März 1940 nur wenig aktuelle Kampferfahrung sammeln können. Die im Mai und Juni 1940 gegen die westlichen Alliierten praktizierte Strategie des »Sichelschnitts« war ursprünglich von General (später Generalfeldmarschall) Erich von Manstein entwickelt und von Hitler gutgeheißen worden. Im Rahmen dieser Strategie kamen sieben oder noch mehr Panzerdivisionen zum Einsatz, welche die Alliierten in zwei getrennten parallelen Stoßkeilen im Abstand von etlichen Kilometern, aber mit einer jeweiligen Tiefe von 40 oder mehr Kilometern angriffen. Die Stoßkeile folgten in der Regel Straßen oder Bahnlinien. Beschädigte oder zerstörte deutsche Panzer wurden einfach vom nachfolgenden Fahrzeug von der Fahrbahn geschoben. Dieselbe Methode wiederholten die Deutschen bei ihren Offensiven während des ganzen Krieges im Osten – sogar noch im Januar 1945, als Hitler der Wehrmacht und der Waffen-SS den Einsatz von einigen noch vorhandenen Panzerdivisionen zum Aufbrechen der sowjetischen Belagerung Budapests befahl. Die Panzer der Waffen-SS kamen bis auf 20 Kilometer an die Stadt heran und hätten den Belagerungsring vermutlich gesprengt, wenn auch die Verteidiger in der Stadt einen Ausbruch unternommen hätten. Aber wie schon in Stalingrad hatte Hitler den Verteidigern den Kampf bis zum letzten Mann befohlen. Im Ergebnis wurde nahezu ganz Budapest zerstört, und die Zivilbevölkerung erlitt ebenso schreckliche Verluste wie die deutschen und ungarischen Truppen.207 Im Frühjahr und Sommer 1941 waren die kommunistischen Führer der UdSSR und der Roten Armee in keiner Weise auf den massiven Überfall durch die Streitkräfte ihres bisherigen Verbündeten, des »Dritten Reiches«, vorberei– 156 –

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tet.208 Die Führung der Roten Armee, soweit sie Stalins Säuberungen vor dem Krieg überlebt hatte, bestand zum großen Teil aus ergebenen, aber alten Parteigenossen, so etwa den Generälen Woroschilow, Timoschenko und Budjonny. Diese verfügten über viel mehr Erfahrung im Kampf mit Kavallerieverbänden und in sonstigen antiquierten Taktiken als über Routine im modernen Gefecht mit Panzerverbänden, deren Stoßkeile aus mehreren Panzerdivisionen bestehen konnten. Zu Beginn des Ostfeldzugs, lange vor der Reorganisation und der enormen Vergrößerung der Roten Armee während des später so bezeichneten »Großen Vaterländischen Krieges«, hatte die Rote Armee den Kampftaktiken der Wehrmacht und ihrer Panzer nichts entgegenzusetzen. Dabei handelte es sich teilweise um eine Wiederholung bzw. um eine aktualisierte Version von Mansteins Sichelschnitt-Taktik, mit der im Mai und Juni 1940 die Westalliierten besiegt worden waren. Die sowjetische Führung hatte die notwendigen Anpassungen ihrer Verteidigungsdoktrin an die Bedingungen des deutschen Blitzkriegs verabsäumt. Die grundlegende Idee des Blitzkriegs bestand darin, mit massierten Panzerverbänden und begleitender motorisierter Infanterie die Stellungen der Roten Armee zu durchstoßen und dann schnell vorzurücken  ; dabei wurden große Zahlen von Rotarmisten von ihren Kameraden getrennt und eingeschlossen  ; diese Kessel wurden dann ausgeräumt. Die Verteidigungsstellungen der Roten Armee trugen zum Erfolg des Blitzkriegs bei, denn sie lagen im äußersten Westen der Sowjetunion, in Ostpolen und in den drei baltischen Staaten, die 1939 von der UdSSR okkupiert worden waren. An der Ostfront gab es 1941 keine Operation wie in Dünkirchen, mit der die eingeschlossenen Verbände der Roten Armee hätten gerettet werden können. Als Folge dieses Desasters wurden während der ersten Wochen des Feldzugs Hunderttausende Rotarmisten gefangen genommen. Am 28. Juni schlossen die zur Heeresgruppe Mitte gehörenden Panzergruppen 2 und 3 im Zuge einer doppelseitigen Umfassung der Stadt Minsk die 3. und 10. sowjetische Armee ein  ; 280.000 Sowjetsoldaten ergaben sich und wurden zu Kriegsgefangenen. Im Süden sahen sich Anfang August rund 100.000 Mann im Kessel von Uman in der Ukraine zur Aufgabe gezwungen. Am 15.  September schlossen die Deutschen 650.000 Sowjets im Kessel von Kiew ein, wovon 150.000 entkamen  ; 500.000 Mann gingen in Gefangenschaft. Eine Verteidigungstaktik der Roten Armee in diesem Frühstadium bestand darin, die Zivilbevölkerung von Großstädten wie Kiew und Odessa sowie die dortigen militärischen Besatzungen einer lang dauernden Belagerung auszusetzen. Da die Belagerten irgendwann aufgeben mussten, sorgte diese Methode für – 157 –

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einen ständigen Zustrom weiterer Kriegsgefangener  ; die Zivilbevölkerung erlitt durch Beschießung und Luftbombardements schwere Verluste. Beispielsweise dauerte die Belagerung Odessas vom 5. August bis zum 16. Oktober 1941, als die Sowjets ihre Truppen an der Küste des Schwarzen Meeres auf die Halbinsel Krim evakuierten. Im Herbst 1941 vermochte die Rote Armee einige erfolgreiche Gegenangriffe zu starten, die den deutschen Angriff aufhielten, zumal die rasch vorgedrungenen Truppen der Achse an Nachschubproblemen (Treibstoff, Ersatzteile für Fahrzeuge, Munition) litten und sich der russische Herbst in Form von heftigen Regen- und frühen Schneefällen bemerkbar machte. Während des restlichen Jahres 1941 und bis weit in die Zeit der deutschen Sommeroffensive von 1942 hinein (die im deutschen Desaster in Stalingrad zwischen November 1942 und Anfang Februar 1943 endete), war der Zustrom weiterer sowjetischer Kriegsgefangener ausreichend, um die zuvor eingetretenen Verluste auszugleichen. Diese früheren Verluste stammten von den Exekutionen sowjetischer Kommissare und sonstiger Opfer durch den SD sowie von Todesfällen als Folge unzureichender Unterbringung, Verpflegung und medizinischer Betreuung. Die Todesrate unter den Gefangenen, die oft nur Hungerrationen erhielten und keine festen Unterkünfte hatten, war in jeder Hinsicht erschreckend hoch. Millionen Rotarmisten hatten sich dem Feind ergeben, viele von ihnen wurden dann ermordet und die Überlebenden wurden misshandelt. Obwohl ihr Überleben als Gefangene alles andere als gesichert war, ergaben sich sowjetische Soldaten weiterhin. Sie hatten häufig nur die Wahl zwischen Tod durch die Hand des Feindes, Tod durch die sowjetischen Maschinengewehrschützen, die Rückzüge vom Schlachtfeld verhindern sollten, oder Kapitulation gegenüber dem Feind. Die Zahl der sowjetischen Gefangenen war in jeder Hinsicht frappierend. Für die Zeit bis zum Kriegsende gehen die meisten unabhängigen Schätzungen von etwa fünf Millionen aus  ; andere nehmen vier Millionen an. Nach Kriegsende überführten amerikanische und britische Streitkräfte bis zu einer Million überlebender Kriegsgefangener an die Sowjets. Dies ging meist nur mittels Gewaltanwendung – eine sehr unerfreuliche Angelegenheit. Die meisten Repatriierten fürchteten eine weitere Serie grausamer Bestrafungen, einschließlich möglicher Hinrichtungen wegen Verrat  – diesmal auf Befehl Stalins. Sie versuchten sich daher der erzwungenen Überstellung an die Rote Armee zu widersetzen. Wegen ihres geschwächten Zustandes fiel es den Amerikanern und Briten leicht, diesen Widerstand zu brechen. Im Ergebnis blieben aus dieser erzwungenen Repatriierung zahlreiche schlechte Erinnerungen an die Westalli– 158 –

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ierten zurück, ganz zu schweigen von den fortgesetzten Bestrafungen der Kriegsgefangenen, die nun Stalin anordnete. Der Geheimdienstkrieg an der Ostfront Wenngleich das Amt »Abwehr« sogar schon vor dem Angriff auf Polen vom 1.  September 1939 im Osten aktiv war, wurde die neu gebildete nachrichtendienstliche Abteilung Fremde Heere Ost (FHO) damit beauftragt, strategische und taktische Informationen über die Ostfront an die Wehrmacht und ihre Achsenverbündeten zu liefern. Vom 1.  April 1942 an bis zu seiner Absetzung durch Hitler einen Monat vor Kriegsende leitete Generalmajor Reinhard Gehlen die Abteilung FHO.209 Am 6. Dezember 1940 hatte Hitler Generalleutnant Alfred Jodl und seinem Stellvertreter, Generalmajor Walther Warlimont, die Ausarbeitung eines allgemeinen Angriffsplans auf die UdSSR befohlen. Einige Tage später wurde ein solcher Befehl als Weisung Nr. 21 erlassen. Die Angriffsplanungen verbargen sich hinter dem Decknamen »Unternehmen Barbarossa«, gelegentlich auch »Fall Barbarossa«, benannt nach Friedrich  I. (1123–1190), Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Die Planungsarbeiten waren sehr ausgedehnt und gingen detailliert auf alle denkbaren Aspekte des Überfalls ein. An der Ausarbeitung der Angriffspläne war auch der damalige Oberst und spätere General Adolf Heusinger maßgeblich beteiligt. Mit der Übernahme von FHO am 1.  April 1942 trat Gehlen seine erste Dienststellung auf nachrichtendienstlichem Gebiet an. Während der Feldzüge im Westen 1940 hatte Gehlen als Verbindungsoffizier von General Franz Halder fungiert, zuerst zu General Walter Model und dann zu General Heinz Guderian, dem Experten der Wehrmacht für motorisierte Kriegführung. Bis Oktober 1940 diente Gehlen dann als Adjutant Halders, der ihn bei der Gruppe Ost des Generalstabes einteilte. Seit Anfang 1941 arbeitete Gehlen für die Kurse an der Berliner Kriegsakademie zwei umfangreiche Studien mit Hintergrundinformationen aus.210 Eine dieser Studien beschäftigte sich mit einem Vergleich des für eine Mobilisierung theoretisch verfügbaren Menschenpotenzials und der Armeestärken Deutschlands und der Sowjetunion, wobei die Zahlen für Letztere bis zum 1. April 1942 mit Rücksicht auf die von den Sowjets in den ersten zehn Monaten des Krieges erlittenen gigantischen Verluste korrigiert wurden. Die zweite Ausarbeitung betraf das wirtschaftlich-industrielle Potenzial der UdSSR. In der Studie über das Menschenreservoir legte Gehlen eine – 159 –

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von ihm entwickelte 10‑Prozent-Regel zugrunde, der zufolge im Schnitt etwa ein Zehntel der gesamten Bevölkerung zum direkten Kriegseinsatz herangezogen werden konnte, typischerweise Männer im Alter zwischen 18 und 30 Jahren. Auf dieser Grundlage zog Gehlen den Schluss, dass die UdSSR mit ihrer Bevölkerung von 190 Millionen Menschen Streitkräfte im Umfang von mindestens 19  Millionen Mann aufstellen konnte. Unter den gleichen Prämissen konnte Deutschland mit 80 Millionen Bewohnern circa acht Millionen Mann zu den Waffen rufen. Diese Zahl würde sich durch Einbeziehung der volksdeutschen Minderheiten in Osteuropa noch etwas erhöhen. Auf der anderen Seite erhöhte das generell niedrigere Durchschnittsalter der Sowjetbürger die verfügbaren Zahlen von Frontsoldaten, wodurch sich der Abstand zwischen dem deutschen und dem sowjetischen Streitkräftepotenzial weiter vergrößern musste, selbst wenn die sowjetische Bevölkerung zum ungewöhnlich hohen Prozentsatz von 52 Prozent aus Frauen bestand. Vor allem anfangs des Krieges wurden allerdings Sowjetbürger deutscher, polnischer oder zentralasiatischer Abstammung vom Dienst in der Roten Armee ausgenommen. In seiner Aktualisierung vom 1. April 1942 bezifferte Gehlen die Gesamtverluste der Roten Armee im ersten Kriegsjahr mit circa 7,5  Millionen Mann (3,6 Millionen Gefangene, 1,7 Millionen Gefallene und 1,6 Millionen Verwundete), zu denen noch 430.000 im Winterkrieg gegen Finnland Gefallene oder Verwundete hinzukamen. Somit bewegten sich die Gesamtverluste mit Stand vom 1. April 1942 um die acht Millionen Mann. Die jährlichen Einberufungen 17‑jähriger Jungen in der UdSSR erbrachten jeweils 1,4 Millionen Neuzugänge. Gehlens wissenschaftliche Analyse der jeweiligen Bevölkerungszahlen vermochte es aber nicht, die Auswirkungen der erfolgreichen sowjetischen Propagandakampagne zur Verringerung des Stellenwerts des Kommunismus und zum Anfeuern eines russischen Nationalismus im Zeichen des »Großen Vaterländischen Krieges« in Rechnung stellen. Gehlens Vorträge an der Kriegsakademie steigerten sein Renommee als ein nachrichtendienstlicher Experte für die Rote Armee einschließlich deren Potenzials. Seine breit gestreuten Kenntnisse über den sowjetischen Gegner gaben für seine Ernennung zum Chef von FHO für den Rest des Krieges den Ausschlag. Wenngleich er sich nicht selbst im Widerstand gegen Hitler engagierte, kam Gehlen im ersten Jahr nach seiner Ernennung zu der Auffassung, dass Deutschland den Krieg nicht gewinnen könne. Das Beste, was er glaubte tun zu können, war, die FHO-Akten über die Rote Armee intakt zu halten und sich selbst bei nahendem Kriegsende zusammen mit seinen Mitarbeitern und Unterlagen bei – 160 –

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der erstbesten Gelegenheit der US-Armee zu ergeben. Gehlen gelang dies auf dem Gebiet der sogenannten Alpenfestung in Bayern, wohin er sich mit seinem Stab zurückgezogen hatte  ; dort ergaben sie sich einer Einheit des Counter-Intelligence Corps der amerikanischen Streitkräfte. Auf diese Übergabe folgte eine lange Zusammenarbeit zwischen den Nachrichtendiensten der USA und der Gehlen-Gruppe  ; aus ihr wurde später der Nukleus des westdeutschen Bundesnachrichtendienstes (BND).211 Ungeachtet der von Gehlen errechneten, für Deutschland nicht erfreulichen Zahlen ignorierte die NS-Führung alle ihr nicht genehmen Informationen. Stattdessen setzte sie ihre riesige Aufgabe, die Auslöschung des Kommunismus in seinem Heimatland und die Zerstörung seiner wichtigsten Machtbasis, der Sowjetunion, fort. Sieht man vom rivalisierenden RSHA einmal ab, so herrschte unter sämtlichen Profis des gesamten deutschen Nachrichtenapparates, in der Abwehr-Zentrale in Berlin genauso wie im FHO-Hauptquartier an der Ostfront, die drückende, permanente Sorge, dass der Ostfeldzug gegen die Sowjetunion – selbst wenn es ein Krieg an nur einer Front war – bestenfalls ein Spiel mit hohem Einsatz sei, bei dem es um nichts weniger als Deutschlands Überleben gehen würde. Die Hindernisse, die einem Erfolg bei diesem Glücksspiel entgegenstanden, wurden noch erheblich größer, als die Westalliierten bei ihren militärischen Operationen gegen das »Dritte Reich« in Nordafrika, Sizilien und Italien sowie letztlich mit der zweiten Front in der Normandie ab Juni 1944 viel energischer vorgingen. Im Frühjahr 1942 hatte Hitler über das OKW Generalfeldmarschall Rommels Anforderung zweier zusätzlicher deutscher Panzerdivisionen zur Fortsetzung der Offensive gegen die Briten bei El Alamein, beinahe in Sichtweite von Alexandria an der Nilmündung, zurückgewiesen. Jenseits des Nils lag der ganze Nahe Osten, der Suezkanal und vielleicht die erhoffte Verbindung mit jenen deutschen Kräften, die über den Kaukasus in die Region vorstoßen sollten. Der Sieg der britischen und der Commonwealth-Truppen bei El Alamein unterstrich die gravierenden Lücken der Wehrmacht bei Männern und Ausrüstung, zumal die Wehrmacht auf den zahlreichen Kriegsschauplätzen zur Abwehr der feindlichen Angriffe zu schwach war. Gleichermaßen war sie zu schwach zur Aufrechterhaltung der Ruhe in den zuvor eroberten Gebieten. Bis zum bitteren Ende des Krieges weigerte sich die NS-Führung, die alliierte Forderung nach bedingungsloser Kapitulation zu akzeptieren, und setzte daher den Kampf gegen alle ihre Feinde fort. Der Kampf ging selbst nach dem amerikanischen Sieg in den Ardennen Anfang Januar 1945 noch für mehrere Monate weiter. Es war die letzte Offensive des Krieges, welche die Wehrmacht – 161 –

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zu beginnen in der Lage war. Danach waren Zusammenbruch und Kapitulation des Reiches nur mehr eine Frage der Zeit. Bis dahin gingen die Kämpfe jedoch unvermindert fort. Die Sowjets hatten nicht nur das Schwergewicht ihrer Verteidigung auf den »Großen Vaterländischen Krieg« (zulasten des Kommunismus) gelegt  ; sie stützten sich auf ihre enormen Menschenreserven und erzielten bei der Rüstungsproduktion durch neue Fabriken hinter dem Ural gewaltige Steigerungen, insbesondere bei Artillerie, Flugzeugen und Panzern. Trotz der Kampfkraft des in großen Stückzahlen eingesetzten sowjetischen Panzers T‑34 wurden jedoch im Spätfrühling und Sommer 1942 neuerlich Zehntausende Rotarmisten im Zuge der wieder aufgenommenen deutschen Offensive gefangen genommen. Die deutschen Panzerverbände waren durch die Einführung der neuen Panzer vom Typ »Tiger« ­verstärkt worden. Die deutsche Taktik, durch die Massierung mehrerer Panzerdivisionen eine numerische Überlegenheit an einzelnen Frontabschnitten zu erzielen, war auch bei der Sommeroffensive 1942 noch erfolgreich und schnitt erhebliche Teile der Roten Armee von ihren Nachbarn ab. Diese neue Offensive im Süden der Ostfront richtete sich auf die Wolga und den Kaukasus. Die deutschen Kriegsgefangenenlager füllten sich mit neuen Insassen. Da die Sowjets mit Maschinengewehren auf ihre eigenen, sich zurückziehenden Soldaten schossen, fanden es viele von ihnen sicherer, sich zu ergeben – zumindest für den Augenblick. Bis zum Sommer 1942 machten sich die Auswirkungen der letzten alliierten Offensiven im Osten und im Mittelmeerraum auf Deutschland bemerkbar. Albert Speer, Reichsminister für Bewaffnung und Munition, kontrollierte bis zu fünf Millionen ausländischer Zwangsarbeiter, die unter brutalen Umständen viele Stunden pro Tag in den deutschen Produktionsstätten ziviler und militärischer Natur arbeiten mussten. Speer und die sonstige Prominenz des deutschen militärisch-industriellen Komplexes wurden sich irgendwann darüber klar, dass die sowjetischen Kriegsgefangenen ebenfalls als Pool für den Bedarf an Zwangsarbeitern dienen könnten  ; darüber hinaus konnte man sie militärisch bei den Flak-Batterien der Luftwaffe einsetzen. Beide Varianten waren durch die auch von Deutschland unterzeichneten Kriegsgefangenenkonventionen strikt untersagt. Mindestens 30.000 gefangene Rotarmisten wurden den Bedienungen der 8,8‑cm-Flak-Geschütze zugewiesen. In einer Ansprache an die führenden Köpfe der deutschen Rüstungsproduktion erklärte Görings Stellvertreter, Generalfeldmarschall Erhard Milch, ganz unumwunden, dass man weitere 50.000 sowjetische Gefangene zu diesem Zweck heranziehen werde.212 – 162 –

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Von den fünf Millionen gefangen genommenen Rotarmisten waren bei Kriegsende weniger als eine Million am Leben. Viele der Überlebenden wie auch viele der Zwangsarbeiter befanden sich anscheinend in einem etwas besseren Gesundheitszustand als die ausgemergelten, halb verhungerten Überlebenden der Konzentrationslager. Anlässlich der Repatriierung dieser überlebenden Kriegsgefangenen präsentierte sich der Empfang durch die siegreiche Rote Armee als kühl, wenn nicht feindselig. Hinrichtung oder Inhaftierung waren das Schicksal vieler Repatriierter. NS-Verbrechen an sowjetischen Zivilisten Mit der einzigen Ausnahme seiner Informationen über die Verfolgung und Ermordung der sowjetischen Juden konnte Lahousen dem Gericht nur wenig Konkretes über die vom »Dritten Reich« gegen Sowjetbürger verübten Verbrechen berichten. Die sowjetischen Ankläger wollten natürlich ihr eigenes Material gegen die solcher Verbrechen Angeklagten präsentieren. Davon ganz abgesehen hegten die Sowjets von Natur aus ein tiefes Misstrauen gegen jegliches Interesse der Westalliierten an Entwicklungen und Vorgängen innerhalb der UdSSR und der von der Roten Armee besetzten Gebiete. Das galt vor allem für sämtliche Anzeichen von Instabilität und Schwäche. Aus diesem Grund verweigerten die Sowjetbehörden regelmäßig allen Bürgern westalliierter Staaten  – egal, ob sie im Regierungsauftrag tätig waren oder nicht – den Zutritt zum gesamten von der Roten Armee kontrollierten Gebiet. Von dieser Regel gab es nur wenige und begrenzte Ausnahmen, etwa die Besichtigungen von Katyn und einiger anderer Wälder im Raum Smolensk, wo man während des Krieges die Gräber von 15.000 kriegsgefangenen polnischen Offizieren gefunden hatte.213 Über die »Sonderbehandlung« sowjetischer Juden war die »Abwehr« durch ihre zahlreichen frontnahen Dienststellen sowie durch schriftliche Berichte von Offizieren über Besuche an der Front und in den Kriegsgefangenenlagern bestens informiert. Den Begriff »Sonderbehandlung« hatte das RSHA als Euphemismus erfunden, um damit die Erschießung jüdischer Männer, Frauen und Kinder durch die Einsatzgruppen und die Tötung durch Giftgas in den Todeslagern im Osten zu kaschieren. Nimmt man die Grenzen der UdSSR vor dem August 1939 als Maßstab, so wird die Zahl der in der Nähe ihrer Wohnstätten im sogenannten jüdischen Ansiedlungsrayon ermordeten Juden auf rund eine Million geschätzt. Als Folge des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes mit – 163 –

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seinem geheimen, die Einflusssphären aufteilenden Zusatzprotokoll, die beide am 23. August 1939 in Moskau unterzeichnet wurden, gerieten zeitweilig zahlreiche polnische Juden im ostpolnischen Teil des Rayons unter sowjetische Herrschaft, nachdem die Rote Armee am 17.  September 1939 ihre Invasion Ostpolens begonnen hatte. Abgesehen von der »Sonderbehandlung« der sowjetischen Juden war der deutsche Angriff auf die UdSSR von Beginn an so geplant worden, dass maximale zivile Verluste eintreten mussten. Die Planer der Wehrmacht wollten dieses Ziel erreichen, indem sie ihre gepanzerten Stoßkeile zuerst an den Großstädten vorbeistoßen und diese sodann einschließen ließen, so dass Zivilisten nicht mehr flüchten konnten. Die sowjetische Abwehr gegen die Invasoren diente unweigerlich denselben Zielen. Die sowjetische Strategie, den Städten eine heroisch zu ertragende Belagerung aufzubürden, führte lediglich zu einem intensivierten Beschuss ganzer Städte durch die Angreifer. Selbst wenn die Wehrmacht eine belagerte Stadt nicht angriff, waren Zivilisten meist unter den ersten, denen es an Lebensmitteln und Wasser mangelte, denn für die Verteilung aller dieser knappen Güter war die Rote Armee zuständig. Im Spätsommer 1941 hielten die Verteidiger Kiews massiven Angriffen der Wehrmacht trotz massiver Beschießungen und Luftangriffe rund 45 Tage lang stand. Beim Rückzug der Roten Armee aus der Stadt versteckten deren Pioniere in der Innenstadt Sprengkörper mit Zeitzündern, die erst einige Tage nach Eintreffen deutscher Truppen explodieren sollten. Diese Bomben und die von ihnen ausgelösten Brände töteten mehrere hundert deutsche Soldaten. Als Vergeltung befahlen die deutschen Verantwortlichen die Erschießung von rund 35.000 Kiewer Juden. Zwei Tage hindurch wurden diese unschuldigen Opfer gruppenweise in der nahe gelegenen Schlucht von Babi Yar erschossen. Identische Sprengladungen versteckten sowjetische Pioniere auch in anderen Städten wie etwa Odessa, und auch sie gingen nach der Besetzung der jeweiligen Stadt durch die Wehrmacht in die Luft.214 900 Tage lang wurde Leningrad belagert. Während der Herrschaft der Zaren hieß die Stadt seit ihrer Gründung 1703 St. Petersburg, und so heißt sie nach dem jahrzehntelangen sowjetischen Intermezzo seit 1990 auch heute wieder. Die zivilen Opfer der Belagerung werden auf deutlich höher als eine Million Menschen geschätzt. Die Vorkriegsbevölkerung zählte rund 2,5  Millionen, zu denen dann ca. 100.000 Kriegsflüchtlinge hinzukamen. Mit der Einschließung der Stadt und ihrer Umgebung am 15. September 1941 begann die Wehrmacht die Belagerung. Zuvor hatten die Sowjets hastig Industrieanlagen aus der Stadt – 164 –

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in Gebiete hinter dem Ural verlagert  ; an den Bedürfnissen der Zivilbevölkerung zeigten sie kaum Interesse. Obendrein war die Zeit zu knapp, um in der bald belagerten Stadt ausreichende Lebensmittelvorräte zu lagern. Lediglich die zeitweilige Benutzung einer Straße über den zugefrorenen Ladogasee im eiskalten Winter erlaubte die Heranschaffung dringend benötigter Lebensmittel und Heizmaterialien sowie von Waffen und Munition für die Rote Armee. Damit war es beim Einsetzen der warmen Jahreszeit im Frühling vorbei, da die Straße über das Eis nicht mehr benutzbar war. Ungeachtet aller Anstrengungen starben zahlreiche Zivilisten an Unterernährung und Hunger. Die Sowjets schienen es mit einem Aufbrechen des deutschen Belagerungsringes nicht besonders eilig zu haben  ; aus politischen Gründen spielten sie auch die Zahlen der an Hunger gestorbenen Zivilisten stark herunter. Stellt man in Rechnung, dass bereits 1942 mehr als 1,1 Millionen verstorbene Zivilisten in Massengräbern auf zwei riesigen Friedhöfen beigesetzt wurden, dann muss die allgemein angenommene Zahl sämtlicher Opfer deutlich darüber liegen. Außerdem erlitt die Rote Armee während der Belagerung Verluste von rund 200.000 Mann. Die Gesamtzahl ziviler und militärischer sowjetischer Opfer der Belagerung Leningrads dürfte daher in der Größenordnung von 1,5 Millionen Menschen liegen.215 Wenngleich sie sich auf ihre primären Opfer, die Juden, konzentrierten, führten die Einsatzgruppen auch »ethnische Säuberungen« unter anderen Bevölkerungsgruppen durch, etwa unter Roma und Sinti sowie unter den ansässigen Slawen. In der Sowjetunion setzten die Einsatzgruppen ihr landesweites Mordprogramm an Juden und sonstigen zivilen Opfern fort, das sie beinahe zwei Jahre zuvor in Polen begonnen hatten und das Lahousen in seiner Nürnberger Aussage über von Ribbentrops am 12. September 1939 in Hitlers Sonderzug in der Nähe Warschaus erlassene Direktiven beschrieb. Selbst Experten des deutsch-sowjetischen Krieges von 1941 bis 1945 können inmitten abweichender Schätzungen sämtlicher ziviler sowjetischer Todesopfer, die auf Feindeinwirkung zurückgingen, nur schwer ein klares Urteil fällen. Vom Beginn des Angriffs auf die Sowjetunion an war es das erklärte Ziel der Deutschen, auch die Zivilisten im Angriffsraum zu Opfern zu stempeln. Vor allem während der ersten Jahre des Kampfes auf sowjetischem Territorium trieb dieses Ziel die deutschen Kriegsanstrengungen voran. Diese Opferung sowjetischer Zivilisten begann gleich bei Einsetzen des Überfalls am 22.  Juni 1941. Die Schusswechsel zwischen den feindlichen Streitkräften brachten vielen sowjetischen Zivilisten den Tod. Viele von ihnen starben in den dichtbesiedelten westlichen Regionen der UdSSR, und oft konnte für die Toten außer deren Beiset– 165 –

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zung in Massengräbern nichts getan werden  ; nicht einmal die Verzeichnung der Namen der Verstorbenen war immer durchführbar. Fast in jeder Hinsicht war der 1941 bis 1945 im Osten ausgefochtene Krieg ein schmutziger Krieg, in dessen Verlauf fast keine oder gar keine Rücksicht auf das geltende Völkerrecht genommen wurde. Das NS-Regime setzte zwar Giftgas nicht gegen feindliche Truppen im Kampf ein, wohl aber verwendete es das Giftgas Zyklon B zur Ermordung von Millionen jüdischer Männer, Frauen und Kinder sowie sonstiger – sämtlich ziviler – Opfer in den Vernichtungslagern. Als sich das Kriegsglück gewendet hatte und die Rote Armee 1945 auf dem Vormarsch ins Reichsgebiet war, nahmen ihre Soldaten, insbesondere jene der rückwärtigen Dienste, Rache an deutschen Zivilpersonen, auch an Frauen jeglichen Alters von der Pubertät aufwärts. Eine wissenschaftliche Studie geht davon aus, dass während des Ostkrieges infolge von Feindeinwirkung rund zehn Millionen sowjetischer Zivilisten ums Leben kamen.216 Vermutlich sind in diese Zahl die eine Million ermordeten sowjetischen Juden eingerechnet. In dem der Statistik gewidmeten Abschnitt des erwähnten Buches evaluiert der Autor die Quellen für die Schätzungen sowjetischer Ziviltoter und reiht diese Annahmen in die drei Kategorien niedrig, mittel und hoch ein. Er unterteilt den Zweiten Weltkrieg auch in neun separate Konflikte, von denen sich drei in Osteuropa abspielten. Was die von den Deutschen zu verantwortenden Opfer unter der sowjetischen Zivilbevölkerung angeht, differenziert er eine niedrige Schätzung mit 6.074.000 Opfern, eine mittlere mit zehn Millionen und eine hohe mit 14  Millionen. Aufgrund von Durchschnittsberechnungen nimmt er die Zahl von zehn Millionen als die wahrscheinlichste an. Basierend auf denselben statistischen und komparativen Faktengrundlagen ist die Zahl der von sowjetischen Truppen zu Tode gebrachten deutschen Zivilisten mit 500.000 anzusetzen.217 Überall dort, wo sich in modernen Kriegen die Kämpfe großer Armeen in dicht besiedelten Gebieten abspielen, gestaltet sich die Schätzung der zivilen Opfer als überaus schwierig, wenn nicht unmöglich. In solchen Situationen fortdauernder Kampfhandlungen müssen die Toten  – egal ob Zivilisten oder Soldaten – rasch beerdigt werden, um den Ausbruch von Seuchen zu verhindern. Heftige Kämpfe in besiedelten Gebieten mit ihren hohen Verlustzahlen führen leicht zum Zusammenbruch der zivilen Verwaltungen, was wiederum dazu führt, dass es später kaum Unterlagen über die Namen der Verstorbenen und deren Begräbnisstätten gibt. Besucher der amerikanischen und alliierten Friedhöfe in der Normandie wie auch alle jene, die die dort angelegten deutschen Soldaten– 166 –

NS-Verbrechen an sowjetischen Kriegsgefangenen und Zivilisten

friedhöfe gesehen haben, können sich die ganz anders gelagerten Zustände an der Ostfront schwer vorstellen. Die Friedhöfe in der Normandie sind heute das Ergebnis langjähriger Bemühungen sowohl der alliierten als auch der deutschen militärischen Gräberverwaltungen. Egal wie viel Zeit und Geld aufgewendet wurden  : Im Osten konnten keine derart gründlichen und geordneten Resultate erzielt werden. Dort war die Beisetzung ziviler und militärischer Toter in Massengräbern die Regel, nicht die Ausnahme. Selbst wo man die Namen einzelner sowjetischer Offiziere in die Inschriften von Einzelgräbern eingravierte (wobei diese Gedenkstätten meist erst Jahre nach Kriegsende errichtet wurden), gab es keine Möglichkeit, den Namen mit dem darunter beerdigten Leichnam in Verbindung zu bringen. Ein solches Vorgehen kam nach dem Krieg beispielsweise auf dem sowjetischen Militärfriedhof auf den Hügeln über der slowakischen Hauptstadt Bratislava zum Zuge. Er wurde über einem früheren Friedhof für Adelige, den er ersetzte, errichtet. Üblicherweise wurden im Osten verstorbene einfache Soldaten in Massengräbern beigesetzt, und nur bei größeren Friedhöfen fand eine Trennung nach Waffengattungen statt. Offiziere wurden auch im Osten einzeln beigesetzt. Das sowjetische Kriegerdenkmal und der Friedhof in Treptow in Ostberlin bestehen aus fünf Massengräbern mit jeweils 5.000 Leichnamen, die je eine der fünf wichtigsten Waffengattungen der Roten Armee repräsentieren. Zusätzlich zu diesen 25.000 Begrabenen gibt es Einzelgräber für sowjetische Offiziere.218 Kein Zweifel  : Eine zivilisierte, menschliche Antwort auf alle diese Tötungen während des Zweiten Weltkrieges, mögen sie ziviler oder militärischer Natur sein, kann nur in der Erinnerung an die 50  Millionen oder mehr Toten aller Seiten bestehen. Damit einhergehen muss der feste Wille, dass ein solches Morden niemals wieder geschehen darf. Freilich sind in der Zahl von 50 Millionen auch Millionen militärischer oder ziviler Aggressoren oder gar Verbrecher eingeschlossen. Alle Menschen guten Willens sollten jedenfalls dem kürzlich gewählten Wahlspruch des Wiener Heeresgeschichtlichen Museums beipflichten  : »Kriege gehören ins Museum«.

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Kapitel 9

Die Doppelrolle der »Abwehr«

A

m späten Nachmittag des 30.  November 1945 musste das Gericht die Befragung Lahousens unterbrechen, um sich mit der dringenden Frage des psychischen Zustandes von Rudolf Heß sowie seiner Prozessfähigkeit zu befassen und darüber eine Entscheidung zu treffen.219 Lahousens Aussage sollte am folgenden Vormittag, einem Samstag, fortgesetzt werden. In Begleitung seines von der Militärpolizei gestellten persönlichen Bewachers verließ Lahousen den Gerichtssaal Nr. 600 über einen Aufzug und begab sich zum amerikanischen Logistikzentrum im Keller des Gebäudes. Im daran anschließenden Hinterhof warteten ein Armeefahrzeug und seine Eskorte auf ihn. Während der Wagen am Gerichtsgebäude vorbei zum Zeugenhaus fuhr, ließ Lahousen gedanklich seine Aussage an diesem ersten Tag vor Gericht Revue passieren. Ihn befiel Erleichterung darüber, den wichtigsten Teil seiner Aussage bereits hinter sich zu haben  ; für den folgenden Tag rechnete er nur mehr mit einigen Fragen im Kreuzverhör durch die Verteidiger der Angeklagten. Lahousen erwartete an diesem Abend noch den Besuch des erfahrenen Leiters der Auswertungsgruppe der amerikanischen Anklagebehörde, US Army Sergeant Richard W. Sonnenfeldt. Wie eine Besprechung des Sergeants mit Oberst Amen und den übrigen amerikanischen Anklägern ergeben hatte, sollten er und Lahousen einige noch offene Punkte erörtern. General William Donovan, Chef des US Office for Strategic Services, hatte Sonnenfeldt persönlich unter den Soldaten einer amerikanischen Einheit, die in Österreich stationiert war, ausgewählt. Sonnenfeldt war als deutscher Jude im Alter von 15 Jahren vor den Nazis geflüchtet, Deutsch war seine Muttersprache und er hatte in Großbritannien eine Internatsschule besucht. Die Briten hatten ihn als »feindlichen Ausländer« nach Australien geschickt, von wo aus er zu Studienzwecken in die USA kam. Er erhielt die amerikanische Staatsbürgerschaft und wurde zur US Army eingezogen. Während der Ardennenoffensive kam er am Rande zu einem Kampfeinsatz  ; später war er bei der Befreiung des Konzentrationslagers Dachau westlich von München beteiligt. Seine Auswahl durch Donovan sowie seine militärische und dann zivile Verwendung beim Nürnberger Prozess waren Ereignisse, die sein Leben veränderten.220 – 168 –

Die Doppelrolle der »Abwehr«

Unmittelbar vor Kriegsbeginn und in der ersten Phase des Krieges konzentrierte sich der Abwehr-Widerstand auf Versuche, auf den Ebenen von OKW und OKH mit sanfter Überredung und mit Empfehlungen zu arbeiten. Dadurch sollte das Vorgehen der deutschen Streitkräfte im Kampf sowie jenes der Sicherheitskräfte in den besetzten Gebieten beeinflusst und in die gewünschte Richtung gelenkt werden. Das ursprüngliche Konzept der Widerständler umfasste Proteste gegen das brutale und tatsächlich verbrecherische Handeln von SS, SD sowie gewisser Verbände des Heeres und der Luftwaffe. Schon mit dem am 1. September 1939 begonnenen Polenfeldzug hatten derlei kriminelle Aktionen gegen die Streitkräfte der Alliierten eingesetzt, und der Zivilbevölkerung der Feindstaaten waren unter Verletzung der Genfer und Haager Konventionen absichtlich Verluste zugefügt worden. Selbst nach den Maßstäben des »Dritten Reiches« konnte keiner dieser moderaten Versuche der »Abwehr«, Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel und andere hohe Wehrmachtsoffiziere zu einer Änderung des Vorgehens der deutschen Truppen zu bewegen, als Verrat eingestuft werden. Die Methode der »Abwehr«, einige von Keitels Anordnungen abzulehnen und Änderungen vorzuschlagen, war zu Beginn des Krieges keineswegs unzulässig. Die »Abwehr« hatte damals keine Absicht, diese vorgeschlagenen Änderungen mit Gewalt durchzusetzen, noch wollte sie der militärischen, zivilen oder NSDAP-Führung Deutschlands mit Amtsenthebung oder Verhaftung drohen, falls das Gewünschte nicht umgesetzt würde. Bei seinen prompten ablehnenden Antworten auf derartige Kritik blieb Keitel recht oberflächlich und kurz angebunden. Mit ziemlicher Sicherheit informierte Keitel in der Anfangsphase des Krieges die NS-Führung über die kritischen Stellungnahmen der »Abwehr«. Es sollte noch vieler weiterer Beispiele für die von der NS-Diktatur befohlene Gewalt der Wehrmacht und des RSHA gegen die Juden Europas, feindliche Zivilisten, Kommando-Angehörige und sowjetische sowie sonstige alliierte Kriegsgefangene bedürfen, um die Abwehr-Widerständler davon zu überzeugen, dass es unumgänglich war, die Führungsgarnitur des »Dritten Reiches« zu verhaften und ins Gefängnis zu stecken, ja sogar zu ermorden. Nur so konnte ein baldiger Waffenstillstand erreicht werden, der Deutschland und den Rest Europas vor totaler Zerstörung retten würde. Als hochgebildete und überzeugte antinationalsozialistische deutsche Patrioten konnten die Angehörigen des Abwehr-Widerstandes weder tatenlos beiseite stehen noch hilflos zusehen, als die von ihnen befürchtete Politik der NS-Diktatur unausweichlich zu einem Zweifrontenkrieg gegen die Feinde Deutsch– 169 –

Die Doppelrolle der »Abwehr«

lands einschließlich der USA und der Sowjetunion führte. Verglichen mit Deutschland verfügte jeder dieser zwei mächtigen Hauptgegner über eine überlegene industrielle Kapazität und ein deutlich größeres Menschenreservoir. In der wohlbegründeten und objektiven Lageeinschätzung der Abwehr-Offiziere musste Deutschland einen solchen Zweifrontenkrieg unweigerlich verlieren und im Ergebnis komplett zerstört werden, zumal die NS-Führung bekanntlich entschlossen war, bis zum letzten Mann weiterzukämpfen. Lahousen beschrieb in Nürnberg seine höherrangigen Kameraden in der »Abwehr« zutreffend als Männer, die über vielseitige Kenntnisse in aktuellen militärischen und politischen Angelegenheiten verfügten. Er bezog sich auch selbst in den Kreis jener Abwehr-Angehörigen ein, die an die wahrscheinliche Niederlage und Zerstörung Deutschlands im Zweiten Weltkrieg glaubten. Genauso wie seine Abwehr-Kameraden durchlief Lahousen einen Prozess des sich herausbildenden Widerstandes gegen das »Dritte Reich«, der mit anfänglichem mündlichen Widerspruch gegen die brutale und verbrecherische Kriegführung begann und sich bis zu der Schlussfolgerung steigerte, dass diese nur durch eine Beseitigung Hitlers und seines engsten Kreises – zumindest Göring, Goebbels, Himmler, Heydrich (bzw. dessen Nachfolger Kaltenbrunner) und Ribbentrop – beendet werden könne. Vom Sommer 1938 bis zu seinem freiwilligen Wechsel von der Abwehr-Zentrale in Berlin zu einem Regimentskommando bei der Infanterie an der Ostfront im Kampf gegen die Rote Armee Anfang August 1943 blieb Lahousen innerhalb der Widerstandszirkel der »Abwehr« stets persönlich beteiligt und aktiv.221 Die von den rund 50 höheren Offizieren der Abwehr-Zentrale betriebenen Widerstandshandlungen mussten zeitlich mehr oder minder parallel zu ihren sonstigen täglichen Dienstpflichten durchgeführt werden. Einige Beobachter sprechen davon, diese Offiziere seien bei Tag Nachrichtendienstler und bei Nacht Widerstandskämpfer gewesen. Die Natur des Widerstands lässt allerdings eine derart simple Zweiteilung nicht zu. Um bei der Gestapo keinen Verdacht zu erregen, mussten Zusammenkünfte der führenden Köpfe des Widerstandes sowohl ziviler als auch militärischer Spielart sorgfältig für die Abendstunden geplant und hinter einer geeigneten Tarnung verborgen werden. Die im Krieg vorgeschriebene Verdunkelung während der Nachtstunden erleichterte solche Treffen. In diesem Sinne umfasst der Begriff »Doppelrolle der Abwehr« sowohl deren nachrichtendienstliche Tätigkeit für das »Dritte Reich« als auch ihre Widerstandshandlungen, die auf einen Regimewechsel abzielten. Lahousen beschrieb diese Doppelrolle sowohl gegenüber dem Gericht als auch – 170 –

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in seinen dort vorgelegten Kriegstagebüchern. Bevor nun auf den Abwehr-Widerstand eingegangen wird, soll das normale nachrichtendienstliche Geschäft der »Abwehr« anhand der »Operation Pastorius«, der Entsendung deutscher Saboteure in die Vereinigten Staaten, dargestellt werden. Operation Pastorius Am 1. April 1942 machte Lahousen in seinem Kriegstagebuch die erste Eintragung zur »Operation Pastorius«.222 Hinter diesem Decknamen verbarg sich ein von der »Abwehr« 1942 vorgeschlagenes Sabotage-Unternehmen, bei dem mindestens 10 bis 20 ausgebildete Agenten von einem oder mehreren deutschen U-Booten über den Atlantik gebracht und an der Ostküste der USA an Land gesetzt werden sollten. Dann sollten sie auftragsgemäß in amerikanischen Rüstungsfabriken, insbesondere in jenen der Aluminiumerzeugung, Sprengladungen zünden. Lahousen bezeichnete die Aluminiumproduktion als das Nadelöhr der amerikanischen Wirtschaft.223 Die Natur dieses geplanten Unternehmens bedingte die Zuständigkeit der vom damaligen Oberst i. G. Erwin Lahousen geleiteten Abwehr-Abteilung II (Sabotage und Zersetzung). Der Tagebucheintrag vom 1. April erwähnt auch die Weiterentwicklung des Operationsplans in Zusammenarbeit mit dem Oberkommando der Kriegsmarine. Die deutschen U-Boote waren bereits intensiv in der Schlacht um den Atlantik engagiert  ; sie sollten alliierte Konvois angreifen und so Großbritannien von seinen maritimen Verbindungen abschneiden. Die mit dem Absetzen von Saboteuren und deren Ausrüstung an der amerikanischen Ostküste einhergehende Ablenkung muss die Geduld der Kriegsmarine auf eine harte Probe gestellt haben, denn der Marine standen wichtigere Kriegsziele vor Augen. Die Zuständigkeit der »Abwehr« umfasste neben der Operationsplanung auch die Ausbildung jener Agenten, welche die NSDAP unter den nach Deutschland zurückgekehrten, einsatzwilligen jungen deutsch-amerikanischen Nazis rekrutiert hatte. Einige von ihnen hatten zuvor in den USA dem DeutschAmerikanischen Bund angehört. Die sonstigen Sabotage- und Zersetzungsunternehmen der »Abwehr« stützten sich überwiegend auf von ihr selbst rekrutierte und im Rahmen der Division Brandenburg ausgebildete Agenten. Die NSDAP war an der Auswahl der acht Männer einschließlich der beiden Führer der zwei Sabotagetrupps, die dann tatsächlich in Marsch gesetzt wurden, maßgeblich beteiligt.224 – 171 –

Die Doppelrolle der »Abwehr«

Kein anderes Unternehmen der »Abwehr« endete mit einem derartigen Fehlschlag wie »Operation Pastorius«. In Lahousens Tagebuch finden sich wiederholt Eintragungen zu dieser Angelegenheit, etwa zum Verlauf der Ausbildung und des Transports der Agenten. Die Planung muss schon vor dem 1.  April 1942 eingesetzt haben, denn an diesem Tag lag bereits die Zustimmung der Kriegsmarine vor. Am 14.  April notierte Lahousen seine Rückkehr von einer Reise nach Bukarest und Budapest, wo er mit seinen Kollegen vom rumänischen bzw. ungarischen Nachrichtendienst Gespräche geführt hatte. Am folgenden Tag hielt er einen Flug zu Hitlers Hauptquartier in Rastenburg fest. Die Teilnahme von Canaris an diesem Flug wird im Tagebuch nicht erwähnt, ist aber sehr wahrscheinlich. Die für den 15. April angesetzte Besprechung mit General Jodl hatte Planung und Ausführung von Einsätzen der Abwehr-Abteilung II an der Ostfront zum Gegenstand. Lahousen notierte ferner, es sei ihm zuvor mitgeteilt worden, dass aus diesem Anlass eine Begegnung mit Hitler nicht vorgesehen sei. Dennoch fand am folgenden Tag ein solches Treffen statt  ; an ihm nahmen Lahousen und Canaris teil, und es wurde auch über »Pastorius« gesprochen. Lahousens Eintrag vom 16. April schloss mit der lakonischen Bemerkung  : »Ich hatte Gelegenheit für eine sehr kurze Meldung beim Führer«.225 Am 20.  Mai war Lahousen persönlich in Berlin der Gastgeber eines Abschiedsessens für die inzwischen auf acht Mann geschrumpfte Sabotagegruppe, die von zwei U-Booten über den Atlantik gebracht werden sollte. Eines setzte seine Passagiere am 13. Juni in der Bucht von Amagansett in Long Island, New York, ab und das zweite brachte seinen Trupp am 17. Juni in Ponte Vedra, Florida, an Land. Vom französischen Brest, dem Haupthafen der deutschen U‑Boot-Flotte, waren beide Boote Ende Mai mit ganz unterschiedlichem Kurs in See gestochen. Bald nach dem Landgang in den USA löste sich das ganze »Unternehmen Pastorius« in Luft auf, denn die Führer der beiden Gruppen, George John Dasch und Ernst Peter Burger, beschlossen, sich dem Federal Bureau of Investigation (FBI) zu stellen und mit den vom Attorney General, Francis Biddle, koordinierten amerikanischen Staatsanwälten zu kooperieren. Die Amerikaner, insbesondere FBI-Direktor J. Edgar Hoover, waren mit sich selbst sehr zufrieden. Die US-Behörden beschlossen, die acht Saboteure vor einem Militärgericht anzuklagen, nachdem Präsident Franklin D. Roosevelt hatte wissen lassen, in einem Fall wie diesem sei die Todesstrafe »nahezu zwingend«.226 Lahousens Tagebuch hielt die wichtigsten Stationen dieses gescheiterten Unternehmens sorgfältig fest, auch den unvermeidlichen Besuch Lahousens und seines Chefs Canaris in der »Wolfs– 172 –

Die Doppelrolle der »Abwehr«

schanze« am 30.  Juni 1942. In Erwiderung auf Hitlers Beschimpfung der »Abwehr« betonte Canaris lakonisch, nicht sein Amt, sondern Funktionäre der ­NSDAP hätten die Saboteure ausgewählt. Die Besprechung gab auch den Anlass, dass Hitler die Heranziehung von Juden für derlei gefährliche Einsätze vorschlug. Die »Abwehr« griff später diese Idee auf, indem sie zu diesem Zweck aus Konzentrationslagern entlassene männliche Juden ausbildete und ins Ausland schickte.227 Die Besprechung in Hitlers Sonderzug am 12. September 1939 Am 12. September 1939 waren Lahousen und sein Vorgesetzter, Admiral Canaris, persönlich in Hitlers Sonderzug in der Nähe Warschaus anwesend  ; dort fanden Besprechungen mit Hitler selbst, Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop, dem Chef des OKW, Generaloberst Wilhelm Keitel, und dem Chef des Wehrmachtführungsamtes, Generalmajor Alfred Jodl, statt. Hitler nahm erst an den späteren Unterredungen dieses Tages teil, was ein Indiz dafür ist, dass sie schon am frühen Vormittag begonnen haben dürften. Da Hitler spät nachts zu Bett zu gehen pflegte, begann sein Arbeitstag oftmals erst gegen Mittag. Bei den ersten Besprechungen waren folglich von Ribbentrop, Keitel, Jodl, Canaris und Lahousen zugegen. Letzterer trug persönlich das zusammenfassende Protokoll der Gespräche in Canaris’ Diensttagebuch ein. Im Frühjahr 1945, kurz nachdem Canaris, Oster und andere am 9. April 1945 durch ein von SS-Standartenführer Walter Huppenkothen geleitetes Exekutionskommando gehängt worden waren, zerstörte die Gestapo alle Ausfertigungen dieses Tagebuches.228 Lahousen, der die ursprünglichen Aufzeichnungen der »Abwehr« über die Besprechungen vom 12. September angefertigt hatte, konnte jedoch in Nürnberg genaue Auskünfte über die Inhalte dieser Unterredungen geben.229 Lahousen zufolge wurden an diesem Tag im Zug zwei verschiedene Fragen behandelt  : die Bombardierung Warschaus sowie die Tötung von Polen und polnisch-jüdischen Zivilisten. Diese Morde waren Teil einer »politischen Flurbereinigung«, zu der auch ein Aufstand ukrainischer Guerillas gegen besagte Zivilisten gehörte. Hitler hatte durch Keitel der »Abwehr« die Organisierung dieser Erhebung im galizischen Teil Polens befohlen. Ausgehend von seinem Verständnis der anstehenden Operationen der Wehrmacht erörterte Canaris mit Keitel als ersten Tagesordnungspunkt die geplante Bombardierung der belagerten Stadt Warschau. Canaris hielt Keitel vor, Luftangriffe und Beschießungen mit Artillerie einer feindlichen Großstadt, die mit – 173 –

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zivilen polnischen und jüdischen Flüchtlingen vollgestopft war, würden das Ansehen der Wehrmacht beschädigen. Keitel erwiderte nur, diese Beschießungen seien bereits von Hitler genehmigt. Während des Nürnberger Prozesses versuchte Keitels Verteidigung dessen Haltung zu rechtfertigen, indem sie vorbrachte, der Beschuss sollte nur nach Ablehnung einer Kapitulationsaufforderung seitens der polnischen Verteidiger der Stadt beginnen.230 Die Polen lehnten ein derartiges Ultimatum in der Tat ab, und es folgten heftige Luftangriffe und Artilleriefeuer, die unter der Zivilbevölkerung bis zur endgültigen Kapitulation der Stadt Ende September schwere Verluste verursachten. Die beabsichtigte Tötung von polnischen bzw. polnisch-jüdischen Zivilisten war ein Teil der verbrecherischen nationalsozialistischen Politik zur Gewinnung von »Lebensraum«, indem Städte und ländliche Gegenden durch die Ermordung der Bewohner und das Niederbrennen von deren Häusern freigemacht wurden. Privat waren Canaris und Lahousen darüber empört, dass das Heer durch Befehle Hitlers, die von Ribbentrop an Keitel übermittelte, angehalten war, Zivilisten zu töten und ihre Dörfer niederzubrennen. Von Ribbentrop gab als Ziel dieser Anordnung bekannt, »daß alle Gehöfte der Polen in Flammen aufgingen und alle Juden totgeschlagen würden.«231 Canaris sprach sich in sehr scharfen Worten gegen die beabsichtigten Erschießungen und Ausrottungen der polnischen Intelligenz, des Adels, des Klerus und weiterer Gruppen wie der polnischen Juden aus. In diese Zeit fällt dann auch Canaris’ pessimistische Äußerung  : »Für diese Methoden wird einmal die Welt auch die Wehrmacht, unter deren Augen diese Dinge stattfinden, verantwortlich machen.«232 Nachdem er seine eigenen Aufzeichnungen konsultiert hatte, gab Lahousen in Nürnberg die Antwort Keitels dem Sinn nach so wieder  : »daß diese Dinge bereits vom Führer entschieden seien, und der Führer, der Oberbefehlshaber des Heeres [Fehler in der Protokollierung, richtig  : … der Führer den Oberbefehlshaber des Heeres …], habe wissen lassen, daß, wenn die Wehrmacht diese Dinge nicht durchführen wolle, beziehungsweise damit nicht einverstanden sei, sie es sich auch gefallen lassen müsse, wenn neben ihr SS, Sicherheitspolizei und dergleichen Organisationen in Erscheinung träten und diese Maßnahmen ausführen würden. Es würde daher neben jedem Militärbefehlshaber auch ein entsprechender ziviler Funktionär eingesetzt werden.«233 Oberst Amen fragte weiter nach der sogenannten »politischen Flurbereinigung«, womit die geplanten Erschießungen und Ausrottungsmaßnahmen in Polen gemeint waren. Lahousen erwiderte  : »Ja, der damalige Chef OKW gebrauchte in diesem Zusammenhang einen Ausdruck, der jedenfalls von Hitler stammte, und der diese – 174 –

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Maßnahmen als politische ›Flurbereinigung‹ bezeichnete. Dieser Ausdruck ist mir ganz klar in Erinnerung geblieben, auch ohne meine Aufzeichnungen.«234 Keitels Mitteilung vom 12.  September 1939 an den Abwehr-Chef Canaris und dessen Stellvertreter Lahousen war klar und unzweideutig. Hitler als Oberbefehlshaber der Wehrmacht hatte Erschießungen und Ausrottungsmaßnahmen in Polen angeordnet, die jedoch unter dem von ihm selbst erfundenen Tarnbegriff »politische Flurbereinigung« vor sich gehen sollten. An der Spitze des Staates herrschte Konsens »über das Bombardement Warschaus und über die Erschießungen der von mir bezeichneten Volkskategorien oder Gruppen in Polen […] Ja, das waren vor allem die polnische Intelligenz, Adel, Geistlichkeit und selbstverständlich die Juden.«235 Keitels Erwiderung auf die Einwände Canaris’ und Lahousens zielte auf eine schroffe und vollständige Zurückweisung aller Versuche der »Abwehr« oder anderer Teile des Offizierskorps des Heeres ab, die kriminelle und verbrecherische Politik der NS-Diktatur, wie sie der Oberbefehlshaber der Wehrmacht, Adolf Hitler, angeordnet hatte, zu ändern. Indem er sich auf Hitlers Kriegspolitik berief, schloss er in der Tat jeglichen Dialog und jede Diskussion mit der »Abwehr« über diese Politik aus. Hinzu kam noch die explizite Drohung, neben den Heeresverbänden spezielle paramilitärische oder Parteiformationen einzusetzen, die fest entschlossen waren, die NS-Politik der Ermordung von Männern, Frauen und Kindern umzusetzen. Der letzte Schlag gegen den Stolz und die Verantwortlichkeit der Wehrmacht im Kampf war der Verweis darauf, dass jedem militärischen Befehlshaber ein ziviler NS-Amtsträger zur Seite gestellt werden würde. Abgesehen davon, dass solche Ernennungen die tatsächliche Kommandoführung beeinflussen mussten, stand die weitere Frage im Raum, ob der militärische oder der zivile Befehlshaber den Oberbefehl innehaben sollte. Ein erfahrener militärischer Befehlshaber konnte sich nur wenige Situationen vorstellen, die ihn so in Rage brachten wie die Befürchtung, auch nur teilweise dem taktischen Befehl eines zivilen NS-Funktionärs unterstellt zu werden, der es bewusst auf die Tötung von Zivilisten abgesehen hatte. Sowjetische Kriegsgefangene In der ersten Phase des Krieges gab die »Abwehr« ihre Versuche, gegen die mörderische Politik der NS-Diktatur zu argumentieren, nicht so schnell auf. Solches auf Vernunft basierendes Agieren der Wehrmacht versteht man am – 175 –

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besten, wenn man die Positionen betrachtet, welche die »Abwehr« bei diversen Besprechungen des Heeres zum Thema sowjetische Kriegsgefangene ab Sommer 1941 vertrat. 18  Monate nach dem Kriegsbeginn am 1.  September 1939, nachdem inzwischen bereits Millionen Zivilisten ums Leben gekommen waren, entbrannten im Sommer 1941 hitzige Diskussionen zwischen der »Abwehr« und dem OKW, vor allem mit dessen Abteilung Kriegsgefangenenwesen. Insbesondere ging es dabei um die brutale, ja kriminelle Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener. An diesen Debatten nahm Lahousen als verantwortlicher Vertreter der »Abwehr« anstelle von Canaris teil. Entsprechend basierten seine Nürnberger Aussagen über sowjetische Gefangene auf seinen persönlichen Erfahrungen als Repräsentant der »Abwehr«. Abwehr-Offiziere hatten Canaris und Lahousen in der Abwehr-Zentrale über die Zustände in den Lagern für sowjetische Kriegsgefangene, die sie zu Rekrutierungszwecken aufgesucht hatten, berichtet. In diesen Lagern befanden sich jene Gefangenen, welche die anfängliche Selektion von Kommissaren und sonstigen zur Erschießung durch die Einsatzgruppen und andere Verbände bestimmten Gruppen überlebt hatten. Selbst diese Überlebenden wurden noch weiteren Überprüfungen unterzogen und liefen Gefahr, für eine spätere Hinrichtung ausgewählt zu werden. Lahousen erläuterte dem Gerichtshof sein Wissen über das, was in den Lagern vorgefallen war und immer noch vorfiel. Dazu gehörten die ständigen Selektionen weiterer Gefangener zur Erschießung. Aus dem Wissen heraus, dass kaum etwas gegen diese durch die NS-Machthaber direkt veranlassten Hinrichtungen unternommen werden konnte, entschloss sich Lahousen, seine Proteste bei General Reinecke auf die den Selektionen zugrunde liegenden, ganz willkürlichen Kriterien zu konzentrieren. Wie konnte man die Gesichtspunkte für die Selektion der Gefangenen objektiv definieren  ? »Geht man nach Körpergröße oder Schuhnummer  ?«  – diese Frage habe er, gab Lahousen in Nürnberg an, General Reinecke gestellt.236 Die Besprechung sei immer hitziger verlaufen, keine Seite habe die andere überzeugen können. Das einzige Zugeständnis seitens der Abteilung Kriegsgefangenenwesen des OKW bestand Lahousen zufolge in der Herausgabe einer neuen Richtlinie, der zufolge Hinrichtungen in einiger Entfernung von deutschen Truppen zu erfolgen hatten, weil deren Moral ansonsten negativ beeinflusst werden würde. Da es zwischen der »Abwehr« und der NS-Führung kein Übereinkommen und keinen allgemeinen Kompromiss geben konnte, blieb dem Abwehr-Widerstand letztlich nur die Möglichkeit, einen Staatsstreich zu unternehmen, in dessen Verlauf Hitler und sein engerer Führungskreis getötet oder verhaftet – 176 –

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werden würden. Das Problem solcher Pläne lag in der prinzipiellen Ablehnung von Mord seitens der »Abwehr«. Dies zeigt sich deutlich in den befohlenen Anschlägen auf die französischen Generäle Weygand und Giraud, welche die »Abwehr« gerade nicht ausführte. »Wir sind keine Mordorganisation«, so lautete die übliche Antwort der Abwehr-Offiziere auf alle Ideen Keitels zur Tötung feindlicher Offiziere oder eingezogener Soldaten.237 Mit welchen Waffen und Methoden sollte man Hitler töten  ? Glücklicherweise waren andere im Widerstand tätige deutsche Offiziere weniger zimperlich als ihre Kameraden von der »Abwehr«. In den Kreisen des Widerstands konnte man immer einen Freiwilligen – Offizier oder nicht – für die Ausführung eines wahrscheinlich selbstmörderischen Anschlags auf Hitler finden.238 Probleme verursachte allerdings Hitlers Vorliebe für häufige und unerwartete Änderungen seines Tagesablaufs, wodurch jeder noch so gut geplante Anschlag ins Leere laufen musste. Während des Krieges unterhielt Hitler im deutschen Machtbereich in Europa mehr als zehn verschiedene Führerhauptquartiere, bis diese durch den Vormarsch des Feindes bedroht waren  ; dann gab man sie auf und deutsche Pioniere zerstörten die Anlagen. Abgesehen vom Sicherheitspersonal bewachten rund 3.000 Soldaten Hitlers Hauptquartier »Wolfsschanze« bei Rastenburg in Ostpreußen (heute das polnische Ketrzyn). Die »Wolfsschanze« war der Schauplatz des Anschlags von Oberst i. G. Claus Graf Schenk von Stauffenberg auf Hitler am 20. Juli 1944.239 Selbst wenn Hitler bei einem Ereignis wie vorgesehen zugegen war, konnte er sich spontan für eine vorzeitige Abreise entscheiden  – oftmals ohne jede Vorinformation an seine Gastgeber. Ein gutes Beispiel liefert der 8. November 1939, als sich rund 1.500 »Alte Kämpfer« im Münchener Bürgerbräukeller versammelten. Um 21.07 Uhr beendete Hitler, der sonst im Schnitt zweieinhalb Stunden zu sprechen pflegte, seine Rede zur alljährlichen Erinnerung an den Putsch vom November 1923 abrupt nach lediglich 20 Minuten. Das vorhergesagte Schlechtwetter hatte bereits zur Absage des für den frühen Morgen des folgenden Tages angesetzten Rückflugs nach Berlin gezwungen  ; für die Reise blieb nur der Nachtzug, den Hitler erreichen wollte. Kaum zehn Minuten später, um 21.20  Uhr, als Hitler zum Münchener Hauptbahnhof gefahren wurde, explodierte eine im Verlauf des vorangegangenen Jahres von Georg Elser (ein ursprünglich aus Stuttgart stammender, der deutschen Linken verbundener Ein– 177 –

Die Doppelrolle der »Abwehr«

zelgänger) sorgfältig installierte Bombe  ; sie tötete sieben und verletzte mehr als 60 der alten NS-Kameraden. Einer der Getöteten stand am Rednerpult, das Hitler kurz vorher verlassen hatte. Eine Hakenkreuzfahne hinter dem Podium hatte den hölzerner Pfeiler, in dem Elser die Bombe versteckt hatte, bedeckt. Deutsche Polizisten und Grenzorgane verhafteten Elser etwa zeitgleich bei dem Versuch, in die Schweiz zu entkommen. Es folgten lange, intensive Verhöre durch die Gestapo, die vergeblich eine britische Beteiligung an dem Mordplan aufzudecken bemüht war. Elser blieb für mehr als fünf Jahre in Haft, bis dann in Ausführung eines Befehls Hitlers ein Standgericht des RSHA die Hinrichtung Elsers anordnete und sie am 9. April 1945 durchführte – am selben Tag, an dem auch Canaris, Oster, von Dohnanyi, Pastor Dietrich Bonhoeffer und andere hingerichtet wurden.240 Bei einem anderen Anlass verschob Hitler während seiner Inspektionsreise nach Smolensk am 13. März 1943 die jährliche Zeremonie rund um den Heldengedenktag in Berlin vom 14. auf den 21. März. Alljährlich fand eine solche Feier zur Erinnerung an gefallene oder verwundete deutsche Soldaten beider Weltkriege beim Zeughaus (später in das Deutsche Historische Museum umgewandelt) nahe bei dem Kriegerdenkmal Neue Wache an der Straße Unter den Linden statt. Grund für die Anweisung Hitlers zur Verschiebung der Feier war sein Wunsch, die erwartete Rückeroberung der ostukrainischen Stadt Charkow durch mehrere SS-Panzer-Divisionen, von denen eine von SS-Obergruppenführer Josef (Sepp) Dietrich befehligt wurde, würdig zu feiern. Dietrich war im Zivilberuf Fleischer gewesen  ; er war ein ganz frühes Mitglied der NSDAP in München und einer der von Hitler am meisten geschätzten Kommandeure der Waffen-SS. Der Waffen-SS glückte die termingerechte Rückeroberung der Stadt, was es Hitler erlaubte, in seiner Rede  – bestenfalls verfrüht  – über die bevorstehende Vernichtung einer ganzen Reihe von Feinden zu fantasieren  : Kommunismus, Kapitalismus, asiatische Barbarenhorden, Winston Churchill und die Juden  ! Das Märzwetter in Berlin war recht kühl, und da das Zeughaus nicht beheizt wurde, trugen alle Besucher Wintermäntel. Zu der Zeremonie, bei der ein Symphonieorchester Trauermusik spielte, gehörte auch die Eröffnung einer Ausstellung sowjetischer Beutewaffen, die Oberst i. G. Rudolf-Christoph Freiherr von Gersdorff, ein Nachrichtendienstoffizier beim Stab der Heeresgruppe Mitte, zusammengestellt hatte. Gersdorff war ein engagierter Angehöriger des Abwehr-Widerstandes. Abgesehen davon, dass er die Ausstellung mit zusammengetragen hatte, gab es für ihn noch einen weiteren Grund, bei der Eröffnung anwesend zu sein und Hitler durch die Schau– 178 –

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räume zu führen. Gersdorffs Frau war kürzlich an einer Krankheit verstorben, und der Witwer hatte zugestimmt, zwei in den Taschen seines Wintermantels versteckte Bomben zu zünden, wobei er Hitler in diesem Moment festhalten würde. Alles schien nach Plan zu laufen, Gersdorff machte den Zünder in seiner linken Manteltasche mit einer Verzögerung von zehn Minuten scharf, als Hitler ihn begrüßte. Gersdorff hob seinen rechten Arm zum Hitler-Gruß. Aber plötzlich, als ob er eine Gefahr gewittert hätte, durchlief Hitler die Ausstellung in kaum zwei Minuten und ging danach wieder zu der im Freien an der Westseite des Zeughauses stattfindenden Zeremonie. Gersdorff blieb im Inneren des Zeughauses allein zurück und hatte jetzt eine lautlos tickende Bombe in seiner linken Manteltasche. Zum Glück für ihn fand er gleich in der Nähe eine öffentliche Toilette, wo er unbemerkt den Zünder entschärfen und so die Explosion verhindern konnte. Später gelang es ihm auch, beide Bomben los zu werden. Die zu Hitlers Schutz abgestellten Sicherheitsleute hatten überhaupt nichts Verdächtiges bemerkt und erfuhren erst viel später von diesem Anschlagsversuch. Ohne Hitlers unberechenbares Verhalten wäre dieser Selbstmordanschlag Gersdorffs vermutlich geglückt.241 Er bekam keine zweite Chance, »Emil« (so lautete der Deckname der Widerständler für Hitler) zu töten. Diese Aufgabe ging nun auf andere im Widerstand aktive Offiziere über. Zu den drängendsten, aber ungelösten Problemen bei allen Versuchen des Widerstandes, die NS-Führer zu töten, gehörte die erforderliche Beschaffung lautloser Zünder, um Sprengladungen hochgehen zu lassen. Der kürzeste deutsche Zünder, wie er in Handgranaten verwendet wurde, brannte ungefähr fünf Sekunden bis zur Detonation. Handgranaten waren aber nicht nur umständlich zu bedienen, sie hätten auch unmittelbar die Aufmerksamkeit der allgegenwärtigen Leibwächter auf sich gezogen. Nahezu alle anderen deutschen Zünder gaben nach Aktivierung laute Geräusche von sich und waren daher nicht verwendbar. Bald fanden die Verschwörer des Widerstandes heraus, dass die beste Lösung für ihre Suche nach einem perfekten Zünder im Erfindungsreichtum und in den Fähigkeiten der britischen Munitionsindustrie lag. Diese hatte einen neuen britischen Zünder entwickelt, der auf eine minimale Zeit von zehn Minuten und eine maximale von 30 Minuten eingestellt werden konnte, bevor er den damit verbundenen Sprengstoff zur Explosion brachte. Ein solcher Zeitrahmen erschien als praktikabel. Ein weiterer Vorteil der britischen Zünder bestand in ihrer weiten Verbreitung. Um gegen das »Dritte Reich« gerichtete Sabotageakte zu unterstützen, hatten britische Flugzeuge über dem von Deutschland – 179 –

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besetzten Teil Europas Hunderte solcher Zünder zusammen mit Sprengstoffen an Fallschirmen abgeworfen. Agenten der Special Operations Executive (SOE) sollten dieses Material verwenden.242 Die zur Verteidigung der »Festung Europa« (ein von der NS-Propaganda bis zur Landung in der Normandie häufig verwendeter Begriff ) bestimmten Verbände von Heer und Luftwaffe hatten viele dieser Zünder erbeutet, die dann in die Bestände der »Abwehr«, insbesondere zu deren Abteilung II (Sabotage und Zersetzung unter dem Befehl Lahousens), gelangten. Man konnte sie für normale, alltägliche Sabotageaktionen wie zum Beispiel für die in der Frühphase des Krieges vorgenommenen Sprengungen griechischer Frachter, die Kohle für das belagerte Malta geladen hatten, verwenden. Man konnte sie aber auch für Zwecke des Widerstandes wie einen Anschlag auf Hitler einsetzen. Diese Bestände der »Abwehr« ließen sich ferner leicht vergrößern, indem Doppelagenten bei den Lieferanten weitere Fallschirmabwürfe von Zündern anforderten. Operation Erna in der Ostsee Zu den vielen offiziellen Aufgaben – im Gegensatz zu den nächtlichen Angelegenheiten des Widerstandes  – der Abwehr-Abteilung  II sowie weiterer Abwehr-Dienststellen gehörte die Zusammenarbeit mit wohlgesinnten Regierungen und politischen Bewegungen in Osteuropa. Diese strebten alle nach deutscher Unterstützung gegen einen gemeinsamen Feind  : die Sowjetunion. Ausgenommen war nur die Zeit vom 23. August 1939 bis zum 22. Juni 1941, als die UdSSR und das »Dritte Reich« aufgrund des zwischen ihnen abgeschlossenen Nichtangriffspaktes nominell verbündet waren. Diesem Abkommen war ein geheimes Zusatzprotokoll angeschlossen, das Polen zwischen den beiden Vertragsparteien aufteilte und den Sowjets freie Hand gegenüber den drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen einräumte. Finnland hatte lange zu Schweden gehört, bevor es im Kieler Frieden von 1814 ein Teil des zaristischen Russlands wurde, allerdings ein wenig Autonomie zugebilligt bekam. In den Turbulenzen der Russischen Revolution erlangte Finnland 1917 seine volle Unabhängigkeit. Der deutsche Kaiser Wilhelm  II. entsandte deutsche Truppen zur Unterstützung der vom damaligen General Carl Gustav von Mannerheim, einem ehemaligen General der zaristischen Armee, angeführten finnischen Unabhängigkeitsbewegung. Die bilateralen Beziehungen zwischen der Weimarer Republik und später zwischen NS-Deutschland – 180 –

Die Doppelrolle der »Abwehr«

und Finnland wurden durch regelmäßige Besuche und den Informationsaustausch der Nachrichtendienste beider Staaten aufrechterhalten. Der Winterkrieg vom 30. November 1939 bis zum 13. März 1940 endete mit einer finnischen Niederlage gegen die Rote Armee  ; die Sowjets erlitten allerdings schwere Verluste. Die UdSSR eignete sich daraufhin strategisch wichtige Gebiete etwa in Karelien in der Nähe Leningrads an. Das geheime Zusatzprotokoll zum Molotow-Ribbentrop-Pakt gestattete der Roten Armee die Besetzung der drei baltischen Staaten und die Errichtung einer brutalen Herrschaft, um den Freiheitswillen der dortigen Bevölkerung zu unterdrücken. In Estland wurde die Verwendung der estnischen Flagge verboten  ; im Juni 1940 befanden sich 115.000 sowjetische Soldaten im Land, um die nur ca. 1.130.000 Köpfe zählende Bevölkerung in Schach zu halten. Die kleine estnische Armee von rund 16.000 Mann wurde aufgelöst.243 Weitere im September 1939 getroffene Abkommen sahen die Umsiedlung der Volksdeutschen aus den drei baltischen Staaten ins Reich vor  ; es wurden auch Regelungen zu ihrem Grundbesitz und ihrem sonstigen Vermögen vereinbart. Zu dieser Zeit verließen rund 12.000 Volksdeutsche Estland und 48.000 weitere Lettland.244 Hunderte männliche Esten flüchteten über den Finnischen Meerbusen nach Finnland, da sie Angst vor der brutalen sowjetischen Besatzung und vor einer möglichen Einziehung in die Rote Armee hatten. Die meisten überquerten die Ostsee auf Booten, bevor sie im folgenden Winter zufror  ; dann konnte die Flucht auf Skiern und mittels pferdebespannter Schlitten unternommen werden. Der noch im Amt befindliche estnische Militärattaché in Helsinki registrierte die in Finnland ankommenden Esten im wehrfähigen Alter. Beide Länder fürchteten sich vor der sowjetischen Herrschaft bzw. einer Invasion, und der Sowjetkommunismus steigerte diese Furcht noch weiter. Während Finnland bis zum Winterkrieg unabhängig blieb, wurde Estland nach dem September 1939 von der UdSSR annektiert. In Kooperation mit der Abwehr-Abteilung  II begann der finnische Nachrichtendienst mit der Planung gemeinsamer Unternehmungen unter dem Decknamen »Erna«, die Ende Juni 1941 im sowjetisch besetzten Estland westlich von Leningrad und somit im Rücken der Roten Armee anlaufen sollten.245 Die Finnen begrenzten ihre Beteiligung am Zweiten Weltkrieg auf die Rückeroberung der im Winterkrieg an die Sowjets verlorenen Gebiete. Folglich nahmen sie an der 900 Tage währenden Belagerung Leningrads nicht direkt teil, leisteten aber logistische Unterstützung. Die Esten strebten schlicht und ergreifend die Befreiung ihres Landes von der brutalen Sowjetherrschaft und die Wiedererlangung ihrer Unabhängigkeit an. Der »Abwehr« fiel bei all dem die – 181 –

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Aufgabe zu, technische Ratschläge zu möglicher Sabotage und Zersetzung zu erteilen, Waffen und Munition zu liefern sowie geschultes Abwehr-Personal für Ausbildungs- und Überwachungszwecke zur Verfügung zu stellen. Anfänglich bildete die finnische Armee mindestens 16  Esten zu Funkern aus  ; sie sollten ihren Führungsstellen in Finnland grundlegende Informationen zum Beispiel über sowjetische Armeeverbände und Truppenbewegungen liefern. Die übrigen Esten, die sich dem Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 anschlossen, sollten die Aufklärungsaktionen der Funker abschirmen. Die Vertreter der »Abwehr« in Finnland versuchten, die Esten zur Ablegung des Eides auf Hitler zu veranlassen, diese weigerten sich jedoch. Es wurde dann folgender Kompromiss erzielt  : Die estnischen Freiwilligen trugen finnische Armee-Uniformen und schworen der finnischen Regierung Gehorsam.246 Von Beginn an lief die Zusammenarbeit dieser drei Partner unter dem Decknamen »Erna«. Dies war der Name der Tochter eines bäuerlichen Anführers, die in den altnordischen Edda-Dichtungen den Sohn eines Adeligen heiratet. Im Kriegstagebuch Lahousens findet sich der erste die »Operation Erna« betreffende Eintrag am 19. Juni 1941. Festgehalten ist der Befehl von Canaris an die KO (Kriegsorganisation) Finnland zur Ausführung des Unternehmens, wobei die deutschen Wehrmachtsdienststellen in Finnland die Befehlsgebung innehaben sollten. Das Tagebuch erwähnt auch die Bereitstellung von zwei Transportmaschinen der Luftwaffe in Pillau in der Nähe von Königsberg für diese Operation. Die übrigen Beteiligten wollten den deutschen Oberbefehl zunächst nicht akzeptieren, woraus einige Belastungen für das Bündnis resultierten. Vor allem wegen der Tapferkeit und der Kampfeigenschaften der estnischen Freiwilligen erwies sich »Erna« als ein erfolgreiches militärisches Unternehmen. Dazu trugen noch die Ortskenntnisse der Finnen und die Bemühungen der Berater der »Abwehr« bei. Am frühen Morgen des 10. Juli 1941 versuchten rund 40 Freiwillige, die mit kleinen Booten den Finnischen Meerbusen überquert hatten, ungefähr 15 Kilometer westlich der estnischen Hauptstadt Tallinn in einer Bucht an Land zu gehen. Nur knapp entging die kleine Flottille einem Konvoi der sowjetischen Marine, der von Tallinn in Richtung Leningrad unterwegs war. Ein Teil der Landungstruppe, darunter auch Oberleutnant Kurt Reinhardt von der »Abwehr«, musste nach Finnland zurückkehren. Diese 17‑köpfige Gruppe mit Reinhardt wurde am 28. Juli per Fallschirm in Estland abgesetzt. Kurz nach der Landung konnten für das »Unternehmen Erna« Hunderte weitere estnische Freiwillige angeworben werden. Diesen als »Waldbrüder« bezeichneten Freiwil– 182 –

Die Doppelrolle der »Abwehr«

ligen mangelte es jedoch an geeigneten Waffen und Munition. Nachdem der Verband die entsprechende Ausrüstung per Funk bei seinen Führungsstellen in Finnland angefordert hatte, ließ die »Abwehr« die benötigten modernen finnischen Gewehre, Pistolen und Munition per Fallschirm abwerfen. Dank der Funkmeldungen waren die durch Litauen und Lettland ins südliche Estland rasch vorstoßenden Panzerverbände der Wehrmacht über die Bewegungen der sowjetischen Verteidiger bestens im Bilde. Als Reaktion hierauf setzten die Sowjets sogenannte Vernichtungsbataillone und die motorisierte 22.  NKWDDivision ein, um die estnischen Freischärler, welche die Sowjets naturgemäß als »Banditen« einstuften, auszuschalten. Auf deutscher Seite gab es einige Besorgnis, dass estnische Freischärler der bevorstehenden Eroberung von Tallinn durch die Wehrmacht durch eine eigene Befreiungsaktion zuvorkommen könnten. Lahousen erhielt daher den – von ihm nicht zu umgehenden  – Befehl, die Esten daran zu hindern. Eine estnische Darstellung der Kämpfe des Sommers 1941 schildert die Unstimmigkeiten zwischen der »Abwehr« und der estnischen Einheit folgendermaßen  : »Die ›Waldbrüder‹ konnten ihr Verlangen nach Waffen nur teilweise befriedigen. Kaum hatten Flugzeuge der ›Abwehr‹ die ersten Waffenlieferungen per Fallschirm abgeworfen, da stoppte schon das deutsche Oberkommando weiteren Nachschub. Der offensichtliche Grund war politischer Natur, denn der Befehl war von Oberst, später Generalmajor Lahousen unterzeichnet, dem alle Unternehmungen im Rücken des Feindes unterstanden.«247 Binnen Wochen wurde die estnische Einheit von direkten Kampfeinsätzen gegen die Rote Armee an der Hauptkampflinie zurückgezogen  ; sie hatte sich den rasch vorstoßenden deutschen Heeresverbänden anzuschließen. Auch Lahousens Kriegstagebuch berichtet von Schusswechseln der Esten mit der Roten Armee  ; es erwähnt auch die notwendige Bereitstellung zusätzlicher Bewaffnung und Munition durch Flugzeuge der »Abwehr«, das Hinzutreten weiterer Freiwilliger einschließlich eines ehemaligen estnischen Offiziers und die Beschaffung von Pferden und Waffen.248 Mit den nachrichtendienstlichen Ergebnissen von »Erna« war die »Abwehr« durchaus zufrieden  ; zu den Resultaten zählte die nachhaltige Verwirrung der Roten Armee, die anderswo dringend benötigte Kampfverbände abziehen musste. Auch die Esten und die Finnen waren zufrieden. Bald darauf hielt Lahousen weitere gemeinsame Unternehmungen mit Finnen und Esten fest  ; sie bekamen die Decknamen »Erna  I« und »Erna  II« und sollten von größeren Kontingenten estnischer Milizen durchgeführt werden.249 – 183 –

Die Doppelrolle der »Abwehr«

Ein wohlinformierter estnischer Beobachter stellte fest, das vorrangige Motiv der Esten für ihre Aktivitäten 1941 und danach sei die Erlangung der Unabhängigkeit für ihre Heimat bzw. das Verhindern sowjetischer oder deutscher Herrschaft gewesen.250 Weder die sowjetische noch die NS-Diktatur anerkannte das legitime Streben der Esten nach einem freien und unabhängigen Estland. Die Esten hofften schlicht und einfach, der Krieg würde ebenso enden wie der Erste Weltkrieg  : mit der Niederlage Deutschlands und Russlands. Zum Unglück für die Esten trat dies nicht ein. In Osteuropa war die Sowjetunion 1945 der überragende Sieger, und alle drei baltischen Staaten wurden erneut in die UdSSR eingegliedert. Sie litten unter der brutalen Sowjetherrschaft, bis die drei Staaten 1990 ihre Unabhängigkeit wiederzuerlangen vermochten. Weitere Operationen der »Abwehr« im Osten Für die Monate Februar und März 1943 enthält Lahousens Tagebuch an zwei Tagen knappe Eintragungen über die Reise höherer Abwehr-Offiziere zum Hauptquartier der Heeresgruppe Mitte in Smolensk  : »20.2.43. Abreise mit dem Amtschef [Canaris] nach Smolensk und zum Führerhauptquartier.« »7.3.43. Abreise in Begleitung des Amtschefs [Canaris] per Flugzeug zum Führerhauptquartier und nach Smolensk«.251 Mit dem Führerhauptquartier ist zweifelsfrei die »Wolfsschanze« bei Rastenburg in Ostpreußen gemeint. In seiner Nürnberger Aussage ging Lahousen auf diese Reisen nicht ein. Das Kriegstagebuch enthält hierzu keine weiteren Details, auch nichts über die Rückreise. Offenbar hatten beide Reisen in der kürzlich bezogenen, neuen Abwehr-Zentrale in Zossen, ca. 35 Kilometer südwestlich des Berliner Stadtzentrums, ihren Ausgangspunkt. Dorthin war die Zentrale kurz zuvor vom Tirpitzufer in der Nähe des Berliner Tiergartens wegen der amerikanischen und britischen Luftangriffe auf die Stadt verlegt worden. Wir können aus diesen Eintragungen jedoch deren Zweck herauslesen  : Sie waren dazu bestimmt, in verkürzter Form hochrangige und wichtige Besprechungen von relativ kurzer Dauer festzuhalten. Der »Abwehr« stand ein eigener Flugzeugpark aus Junkers-52-Transportmaschinen zur Verfügung, die hohe Beweglichkeit garantierten. Die Führung der »Abwehr« traf am 7. März 1943 in Smolensk ein. Sie konnte aber unmöglich auf eigene Faust eine Besprechung über den Fortgang des Krieges an der Ostfront einberufen. Sie konnte nur eine Konferenz der »Abwehr« zur Besprechung nachrichtendienstlicher Angelegen– 184 –

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heiten in Smolensk ansetzen  – zur gleichen Zeit wurde Hitler dort für einen seiner seltenen und kurzen Frontbesuche erwartet. Folglich fand zeitgleich mit Hitlers Besuch an der Ostfront und der von ihm geleiteten Lagebesprechung des OKW über die Situation an der Ostfront eine ausgedehnte Konferenz der »Abwehr« zu nachrichtendienstlichen Fragen statt. Canaris wurde gelegentlich zu den OKW-Besprechungen beigezogen   ; er konnte sich auch durch einen hochrangigen Offizier vertreten lassen. Jedenfalls ermöglichte es die zeitgleiche Einberufung der Abwehr-Konferenz einer beträchtlichen Anzahl höherer Abwehr-Offiziere, parallel zu den Erörterungen nachrichtendienstlicher Angelegenheiten die Probleme rund um Planung und Ausführung eines Mordanschlags auf Hitler zu besprechen bzw. zu einer Lösung zu kommen. Smolensk eignete sich hierfür bestens, denn hier befand sich das Hauptquartier der Heeresgruppe Mitte, das als eines der wichtigsten Befehlszentren der Wehrmacht an der gesamten Ostfront die notwendige Infrastruktur bereitstellen konnte. Für ihre Zusammenkunft in Smolensk hatten die Widerständler noch weitere Motive  : Im Stab der Heeresgruppe Mitte gab es eine Reihe von dem Widerstand zugeneigten Offizieren, von denen einige sogar in einem eigenen Widerstandszirkel aktiv waren. Ende 1942 hatte sich die Notwenigkeit ergeben, eine kampfstarke KavallerieEinheit als Reserve bzw. als »Feuerwehr-Einheit« der Heeresgruppe Mitte aufzustellen  ; sie sollte unerwarteten Vorstößen der Sowjets Paroli bieten. Generalmajor Henning von Tresckow, Mitarbeiter von Generalfeldmarschall Günther von Kluge und einer der führenden Köpfe des militärischen Widerstandes, lernte einen anderen Mitarbeiter von Kluges kennen  : Leutnant Philipp Freiherr von Boeselager, ein in der Wolle gefärbter Kavallerieoffizier. Philipp von Boeselager hatte einen älteren Bruder, Hauptmann Georg von Boeselager. Von Kluges Mitarbeiter hatten ihn von der Notwendigkeit der Aufstellung eines aus zwei Abteilungen bestehenden Kavallerie-Verbandes überzeugt. In diesem dienten insgesamt 2.200 Mann, darunter 650 Kosaken, die sich auf die deutsche Seite geschlagen hatten. Der Verband war in zehn Schwadronen gegliedert und firmierte später als »Kavallerie-Regiment Mitte«. Das Kommando führte Georg von Boeselager  ; nahezu alle Offiziere galten als zuverlässig und als dem Widerstand gegenüber positiv eingestellt.252 Wenn also Smolensk als Ort der nachrichtendienstlichen Konferenz ausgewählt wurde, so bot dies den zusätzlichen Vorteil, dass dort das Kavallerie-Regiment als besondere Reserve zur Verfügung stand, um das nach einer Ermordung Hitlers zu erwartende Chaos und etwaige Interventionen von SS-Verbänden abzuwenden. – 185 –

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Kein Zweifel  : Die militärische Lage an der Ostfront war der wichtigste Besprechungspunkt der OKW-Konferenz, nachdem Hitler am Vormittag des 13. März per Flugzeug eingetroffen war. Die zahlenmäßige Überlegenheit der umgruppierten und neu ausgerüsteten Roten Armee gegenüber der geschwächten Wehrmacht war in den sowjetischen Offensiven klar zutage getreten, welche der Kapitulation der eingeschlossenen deutschen 6.  Armee und weiterer Achsentruppen in Stalingrad Anfang Februar 1943 gefolgt waren. Erst kurz zuvor hatte Hitler den dortigen Befehlshaber, Generaloberst Friedrich Paulus, zum Generalfeldmarschall befördert und ihm aufgetragen, den Kampf bis zum letzten Mann fortzusetzen. Abgesehen vom Verlust der 6. Armee waren noch die 11. Armee, die 4. Panzerarmee sowie die 3. und 4. Armee der Rumänen und die 8. Armee Italiens durch die sowjetische Offensive arg in Mitleidenschaft gezogen worden.253 Hitlers seit Ende 1942 notorische Durchhaltebefehle verstießen gegen einen von sämtlichen Militärtheoretikern seit Napoleon und Clausewitz immer wieder betonten militärischen Führungsgrundsatz  : Das Personal der Streitkräfte musste im Gegensatz zu den sonstigen militärischen Ressourcen unbedingt bewahrt werden. Die deutschen Gesamtverluste bei der gescheiterten Sommeroffensive 1942 in den Kaukasus und nach Stalingrad betrugen mehr als 1,5 Millionen Mann. Vielen deutschen Generalstabsoffizieren war vollkommen klar, dass derartige Verluste auf Dauer unmöglich hingenommen werden konnten, wenn Deutschland noch über ausreichend Soldaten für eine Verteidigung des Reiches an der Ostfront und, nach der alliierten Landung in der Normandie im Juni 1944, auch im Westen verfügen wollte. Da die sowjetische Überlegenheit über die deutschen Truppen in einigen der wichtigsten Schlachten das Verhältnis von 3 zu 1 oder noch mehr erreichte, wurde eine Verteidigung Deutschlands unmöglich. Keiner der Generäle des OKW konnte dies jedoch Hitler melden, denn dieser hielt solche Gedanken für »defätistisch« und sanktionierte sie postwendend. Im höheren Offizierskorps bzw. im Generalstab machte man sich hingegen über die personellen Defizite der Wehrmacht keine Illusionen.254 An der Ostfront spielte die »Abwehr« in nachrichtendienstlichen Belangen eine komplexe Rolle, denn die dortigen deutschen Truppen hatten mit der Abteilung »Fremde Heere Ost« (FHO) ihren eigenen militärischen Nachrichtendienst, den Generalmajor Reinhard Gehlen leitete. Dieser beteiligte sich zu keiner Zeit an Widerstandsaktivitäten.255 Die »Abwehr« behielt aber an der Ostfront weiterhin die Aufgabe, Nachrichten einzuholen und zu sammeln  ; dafür war Abteilung I (Geheimer Meldedienst) unter Oberst Hans Piekenbrock – 186 –

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zuständig. Abteilung II unter Oberst Lahousen befasste sich mit Sabotage und Zersetzung, die vor allem durch Einsätze der Division Brandenburg ausgeführt wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg nannte man die für derlei Aufgaben verantwortlichen Verbände »Spezialeinheiten«. Die unter anderem infolge des Molotow-Ribbentrop-Pakts vom 23. August 1939 durchgeführten Umsiedlungen von Volksdeutschen verschafften der »Abwehr« optimale Rekrutierungsmöglichkeiten unter den davon betroffenen jüngeren Männern. Abgesehen von der deutschen beherrschten die meisten dieser Männer eine oder mehrere osteuropäische Sprachen und eigneten sich daher bestens für Spezialeinheiten mit nachrichtendienstlichen Aufträgen. Im Krieg gegen die Sowjetunion intensivierten die »Abwehr« und einige Generalstabsoffiziere ferner die Rekrutierung sowjetfeindlicher Gruppen wie der Krimtataren und der Kosaken  ; sie sollten sich umso mehr in den Dienst der deutschen Kriegführung stellen, als der Personalbedarf der Wehrmacht immer schwerer zu decken war. Die Sowjetführung stufte die in der UdSSR lebenden Volksdeutschen als unzuverlässig ein  ; dies galt insbesondere für die mehrere Hunderttausend Köpfe zählenden Wolga-Deutschen, die seit Jahrhunderten im Süden Russlands an der Wolga oder in deren Nähe gelebt hatten. Bald nach Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges befahl Stalin die sofortige Zwangsumsiedlung der WolgaDeutschen in ein zuvor dafür bestimmtes Gebiet östlich des Urals. Nach den anfänglichen schweren Verlusten der Roten Armee gegen die deutschen Invasoren änderte die Sowjetführung ihre Propagandalinie, indem sie nun den »Großen Vaterländischen Krieg« unter Betonung des russischen Nationalgefühls und unter Zurückdrängung der Idee der Weltrevolution in den Mittelpunkt stellte. Selbst unter den nicht russischen Ethnien steigerten die Appelle an den russischen Patriotismus die Moral der Rotarmisten und drehten den früheren militärischen Defätismus ins Gegenteil um. Da die sowjetische Führung die moderne industrielle Basis ihrer Rüstungsproduktion in Gebiete hinter dem Ural transferiert hatte, verfügte sie über enorme Mengen moderner und effizienter Waffen sowie über einen nicht abreißenden Strom neuer Rekruten. Die Kampagne des Stalin-Regimes rund um den »Großen Vaterländischen Krieg« bedeutete keineswegs ein Nachlassen der faktischen Kontrolle sämtlicher Lebensgebiete in der UdSSR durch die Kommunistische Partei (KPdSU). Im Gegenteil, diese Überwachung wurde, als sich der Krieg an der Ostfront intensivierte, noch ausgedehnt und erfasste die gesamte Rote Armee, vom Marschall bis zum Rekruten. Im Juli 1943 wurde die sowjetische militärische Gegenspio– 187 –

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nage in eine von der KPdSU gelenkte Organisation namens SMERSH überführt  ; sie überwachte den gesamten sowjetischen Militärapparat lückenlos.256 Unter Führung des bewährten Stalinisten Viktor Abakumow kontrollierte SMERSH sowohl das rückwärtige Frontgebiet als auch die Partisanenverbände. Die Opferzahlen der SMERSH-Operationen waren gigantisch   : Mehr als 500.000 Soldaten wurden in Strafbataillone der Roten Armee gesteckt und mehr als 225.000 Rotarmisten beiderlei Geschlechts wurden exekutiert. Das Personal von SMERSH stand zu jenem der deutschen »Abwehr« in einem Verhältnis von zwanzig zu eins. Nach Kriegsende übertrug Stalin der SMERSH eine neue Aufgabe  : Sie sollte nun die ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter in Empfang nehmen und entsprechend bestrafen  ; viele von ihnen wurden gegen ihren Willen von den Westalliierten, ihren »Befreiern«, in die UdSSR repatriiert. Man nimmt an, dass mehr als 5,4 Millionen solcher Unglücksraben von SMERSH verhört wurden. Geschätzte 600.000 Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter wurden bestraft, indem man sie in den GULAG einlieferte.257 Der Bombenanschlag mit Cointreau-Flaschen vom 13. März 1943 Die Nachrichten über die totale Niederlage und die Kapitulation der deutschen Truppen und ihrer Verbündeten im Kessel von Stalingrad Anfang Februar 1943 verbreiteten sich schnell in Europa und im Rest der Welt. Die unter deutscher Besatzung stehenden Völker Europas freuten sich in der Regel darüber – ausgenommen die Quislinge und sonstigen Kollaborateure unter ihnen. Die deutsche Bevölkerung hingegen war über die niederschmetternde Niederlage ihrer hochgeschätzten Armee zutiefst schockiert. Schon ab dem 22.  Juni 1941 war die Zahl der in deutschen Zeitungen abgedruckten Gefallenenmeldungen steil nach oben gegangen. Viele deutsche Familien mussten mit den ihnen seitens der Wehrmachtsverwaltung zugeschickten Meldungen über ihre »vermissten« Angehörigen zurechtkommen. Selbst wenn ihre Lieben von der Roten Armee lebend gefangen genommen worden waren, gab es keine Garantie für ihr Überleben angesichts der Bedingungen in den sowjetischen Kriegsgefangenenlagern. Etliche der deutschen Gefangenen wurden als Kriegsverbrecher für rund zehn Jahre nach Kriegsende inhaftiert und kehrten erst dann in die Heimat zurück. Im Dezember 1942, bald nachdem die Rote Armee die Einschließung Stalingrads vollzogen hatte, versuchten deutsche Verbände von außerhalb des Kes– 188 –

Die Doppelrolle der »Abwehr«

sels den Belagerungsring um Stalingrad zu durchbrechen  ; sie näherten sich den Truppen im Kessel bis auf 20 Kilometer. Wären diese ausgebrochen, hätte die Einschließung vermutlich beendet werden können. Selbst eine nur kurzzeitige Durchbrechung des Ringes hätte das Entkommen großer Teile der eingekesselten Truppen ermöglicht  ; Hitler aber untersagte jeden Ausbruchsversuch. Die knapp 100.000 Überlebenden von Stalingrad galten in Deutschland offiziell als vermisst. Deren Familien mussten in vielen Fällen lange warten, bis sie über das Schicksal ihrer Angehörigen sichere Nachrichten erhielten. Beispielsweise verständigten die Sowjets erst im April 1946 die Familie von Oberst Helmuth Groscurth, der als Mitglied des Widerstandes am 2. Februar 1943 in Stalingrad in Gefangenschaft geraten war, dass er am 7. April 1943, drei Jahre zuvor, im sowjetischen Lager Frolow an Typhus gestorben war.258 Die Verluste in Stalingrad hatten auf die Widerstandsaktivisten unmittelbare Auswirkungen  : Sie rüttelten sie in ihrem Denken wach und überzeugten sie davon, dass dringend etwas unternommen werden musste, sollte Deutschland den Krieg überstehen. Zu den scheinbar endlosen Diskussionen über denkbare Mordanschläge zwischen Beck, Oster, Goerdeler, von Tresckow und anderen gesellte sich bald ein weiterer zum Handeln entschlossener Offizier hinzu  : Oberst i. G. Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Stauffenberg hatte den Polen- und den Frankreichfeldzug als Panzeroffizier mitgemacht. Im April 1943 diente er bei der 10. Panzer-Division, die zu Rommels Afrika-Korps gehörte, als ein britischer Tiefflieger einen Pkw beschoss, in dem der Oberst und weitere Soldaten saßen. Schwer verwundet, verlor Stauffenberg seinen linken Arm vom Ellbogen abwärts, zwei Finger der rechten Hand und sein linkes Auge. Nach einer langwierigen Rekonvaleszenz diente Stauffenberg im Generalstab und wurde Stabschef beim Befehlshaber des Ersatzheeres. Durch diese Funktion erhielt er regelmäßig Zutritt zu Hitler und zu dessen Besprechungen beim OKW.259 Mittlerweile waren die in Smolensk versammelten Verschwörer der »Abwehr« zum Losschlagen gegen Hitler entschlossen. Als Tarnung hatten sie eine nachrichtendienstliche Besprechung angesetzt, die Mitte März zeitgleich mit Hitlers erwartetem Eintreffen beim Hauptquartier der Heeresgruppe Mitte stattfinden sollte. Ab dem 7.  März waren folgende Abwehr-Offiziere in Smolensk versammelt  : Canaris, Lahousen, Oster, Piekenbrock und von Dohnanyi. Lahousen brachte eine Packung Sprengstoff sowie die zuverlässigen, lautlosen britischen Zünder mit.260 Die Vertreter der »Abwehr« besprachen sich mehrmals mit Generalmajor Henning von Tresckow, einem der frühesten Aktivisten – 189 –

Die Doppelrolle der »Abwehr«

des militärischen Widerstands, der von Berlin zur Heeresgruppe Mitte in Smolensk versetzt worden war. Am frühen Morgen des 13.  März trafen Hitler und sein Gefolge mit drei viermotorigen Focke-Wulf-200 »Condor«, die eigens für Hitler umgebaut worden waren, in Smolensk ein. Hitler hatte es wie immer eilig, sein Wagen samt Chauffeur war schon zuvor nach Smolensk geflogen worden und wartete am Flugplatz auf ihn. Er benötigte daher kein von der Heeresgruppe Mitte gestelltes Fahrzeug. Diese Vorgangsweise Hitlers ging möglicherweise auf sein Gespür für drohende Gefahren zurück, welche von der unbestimmbaren Haltung einer Heeresgruppe herrührten, die seit einem Jahr auf permanentem Rückzug vor der verstärkten und neu bewaffneten Roten Armee war. Die Widerständler rieten zwar nicht direkt davon ab, doch waren die Chancen eines einzelnen Offiziers oder selbst einer Gruppe des Kavallerie-Regiments Mitte in Smolensk, Hitler mit einer Pistole zu erschießen, auf einen Schuss pro Mann – wenn überhaupt – begrenzt. Darüber hinaus konnte jede solche Spontanaktion zu einem Chaos führen, wenn nicht zeitgleich den Mitverschwörern in Berlin der Alarmplan »Blitz« durchgegeben würde. Die Verschwörer aus »Abwehr« und Heeresgruppe Mitte in Smolensk vertrauten also nicht auf einen spontanen, aber ungeplanten Anschlag, sondern setzten den Schlussstein zu einem Komplott, zu dem eine als Geschenk getarnte Zeitzünderbombe gehörte. Die Bombe sollte in einem Paket versteckt werden, das von außen wie zwei Flaschen Cointreau aussah. Dieser angenehm schmeckende französische Likör wurde üblicherweise in eckigen Flaschen abgefüllt und war bei deutschen Offizieren überaus beliebt. Wenn Hitler und sein Stab den Rückflug zur »Wolfsschanze« antreten würden, sollte das angebliche Geschenk an Bord von Hitlers »Condor« gebracht und später an Oberst Stieff übergeben werden, der als Stabsoffizier im nahe gelegenen ostpreußischen Hauptquartier des OKH diente.261 Während des Mittagessens fragte Generalmajor von Tresckow Oberstleutnant Heinz Brandt von der Operationsabteilung des OKH, ob er im Flugzeug ein Paket für Oberst Stieff mitnehmen könne. Da dies nichts Ungewöhnliches war, stimmte Brandt zu. Tresckow baute die Bombe in seiner persönlichen Unterkunft zusammen und übergab sie dann seinem Gehilfen und Schwiegersohn, Leutnant Fabian von Schlabrendorff, der sie zu Hitlers Flugzeug brachte. Als Hitler das Flugzeug bestieg, stellte Schlabrendorff den Zeitzünder auf 30  Minuten ein. Dann übergab er Brandt das Paket, der ebenfalls an Bord der Maschine ging.262 Die Verschwörer rechneten mit einer Explosion der Bombe nach rund einer halben Stunde, wenn sich die Maschine auf ihrem Flug nach Rasten– 190 –

Die Doppelrolle der »Abwehr«

burg etwa im Raum Minsk, ca. 180 Kilometer von Smolensk entfernt, befinden würde. Stattdessen landete Hitlers Maschine jedoch kurz in Kiew und flog erst dann nach Rastenburg weiter. Die ängstlich wartenden Verschwörer erhielten Stunden hindurch keinerlei Nachricht  ; erst dann traf im Hauptquartier der Heeresgruppe die Meldung ein, dass das Flugzeug ohne Zwischenfälle in Rastenburg gelandet war. Nun mussten die Verschwörer dringend das Paket zurückholen, bevor es der Empfänger öffnen konnte. Dies war eine besonders gefährliche Situation, denn niemand konnte wissen, ob die Bombe noch scharf war. Mit dem Auftrag der Rückholung des Pakets wurde der stets zuverlässige Leutnant der Reserve und Rechtsanwalt im Zivilberuf, Fabian von Schlabrendorff, betraut. Am selben Abend rief von Tresckow Oberstleutnant Brandt im OKH-Hauptquartier Mauerwald in Ostpreußen, nicht weit von Rastenburg entfernt, an und erklärte ihm, mit den Cointreau-Flaschen sei etwas schiefgegangen. Brandt solle das Paket bei sich behalten und auf ein von Schlabrendorff zu überbringendes anderes Paket warten. Am folgenden Morgen bestieg der junge Leutnant die reguläre Kuriermaschine nach Rastenburg und fuhr dann mit einem Pkw nach Mauerwald. Dort tauschte er bei Brandt das erste Paket mit der Bombe gegen ein neues mit zwei echten Flaschen Cointreau aus. Der Austausch ging glatt über die Bühne und erregte anscheinend keinerlei Verdacht. Als Schlabrendorff später am Abend das erste Paket öffnete, stellte er fest, dass der Zünder funktioniert hatte. Es war aber zu keiner Explosion gekommen – möglicherweise wegen der extrem niedrigen Temperaturen im Gepäckraum des Flugzeugs.263 Der Materialfehler der Cointreau-Bomben war natürlich für die Verschwörer einschließlich Lahousen eine herbe Enttäuschung. Ohne diesen Fehler wäre es ein sorgfältig geplanter und vermutlich auch erfolgreicher Versuch zur Ausschaltung Hitlers gewesen, noch dazu mit eher begrenztem persönlichem Risiko für die Attentäter. Wäre die Bombe explodiert, hätte sie mit hoher Wahrscheinlichkeit das Flugzeug zerstört und seine Passagiere getötet  ; dabei wären durch die Explosion, den Absturz und den Brand der Wrackteile des Flugzeugs auch alle Hinweise auf die Herkunft der Bombe vernichtet worden. Dann hätte zwangsläufig ein wohlinszeniertes baldiges Staatsbegräbnis der Opfer auf dem Programm gestanden, und dies hätte die Frage der Nachfolge für Hitler beschleunigt. Der Widerstand hätte so eine Chance bekommen, den Nationalsozialisten die Macht zu entreißen und Verhandlungen mit den Alliierten zur Beendigung des Krieges aufzunehmen. – 191 –

Die Doppelrolle der »Abwehr«

Die Rettung von Widerstandsaktivisten durch deren Einreihung in die »Abwehr« Admiral Canaris erteilte höheren Abwehr-Offizieren zusätzlich zu ihren sonstigen Pflichten den Auftrag, an der Rekrutierung weiterer qualifizierter Mitarbeiter, insbesondere von Widerstandsaktivisten, für die »Abwehr« mitzuwirken. Solche Rekrutierungen hatten nach 1935 begonnen und wurden mindestens bis Ende 1943 fortgesetzt. Dienstorte der neu Eingestellten waren unter anderem die Berliner Abwehr-Zentrale am Landwehrkanal (später wegen der alliierten Luftangriffe nach Zossen südlich von Berlin verlegt), örtliche und regionale Abwehr-Dienststellen im ganzen deutsch besetzten Europa und taktische Abwehr-Verbände an den Fronten. Nachdem mit dem Einsatz der Division Brandenburg  – entgegen den eigentlichen Aufgaben dieser Einheit  – zur Abwehr alliierter Durchbrüche begonnen worden war, wurden ihr keine weiteren Widerstandsaktivisten mehr zugeteilt. Canaris wies alle mit den Rekrutierungen befassten Mitarbeiter mündlich an, ja keine die nationalsozialistische Ideologie und Politik bejahenden Kandidaten einzustellen.264 Die höherrangigen Abwehr-Offiziere und auch Hitler selbst wussten, dass Canaris persönlich den begabten Juristen Hans von Dohnanyi 1938 als Sonderführer und als höheren Zivilangestellten der »Abwehr« eingestellt hatte  ; er sollte mit Oberst Hans Oster zusammenarbeiten. Seit 1929 hatte von Dohnanyi als Jurist auf verschiedenen wichtigen Posten im Reichsjustizministerium gedient  ; ihm waren dort immer verantwortungsvollere Aufgaben anvertraut worden. Nach den im September 1935 beschlossenen »Nürnberger Gesetzen« galt er als Mischling, denn er hatte eine jüdische Großmutter. Folglich konnte er nicht länger in allen jenen Zweigen des Staatsapparates, auf die diese Gesetze anwendbar waren, als Jurist tätig sein. Aus naheliegenden Gründen galt dies nicht für die »Abwehr«. Canaris schätzte sich glücklich, von Dohnanyi in die »Abwehr« einzureihen, wo er seine wertvolle Widerstandsarbeit fortsetzen konnte. Lahousen rettet Fritz Molden durch Eingliederung in die »Abwehr« Vor dem deutschen Einmarsch in Österreich am 12. März 1938 war die Familie des Chefredakteurs der »Neuen Freien Presse«, Dr. Ernst Molden, als dem Nationalsozialismus offen und explizit feindlich gesinnt bekannt. Ernst Molden – 192 –

Die Doppelrolle der »Abwehr«

war mit der begabten Schriftstellerin und Dichterin Paula von Preradović verheiratet. Dieser Ehe entstammten zwei Söhne  : Otto Molden (geboren 1918) und Fritz Molden (geboren 1924). Beide Söhne betätigten sich nach 1935 im Rahmen der Christlichsozialen Partei gegen den Nationalsozialismus, und Otto stieg im paramilitärischen Wehrverband der Partei rasch auf. Zu seinem Schutz ließen die Eltern ihren Sohn Fritz von der politisierten Neuland-Schule ins Schottengymnasium wechseln, eine angesehene, von einem katholischen Männerorden geführte Privatschule. Unter den mehr als 70.000 Österreichern, welche die deutschen Invasoren gleich nach dem 12. März 1938 verhaften ließen, befanden sich auch Ernst und Otto Molden. Anfang April ließ die Gestapo Otto frei und er konnte sein Studium an der Universität Wien fortsetzen. Fritz war weiter Schüler des Schottengymnasiums. Buchstäblich über Nacht war Österreich von der Landkarte verschwunden, sein Name wurde durch »Ostmark« ersetzt und sofort wurden die Nürnberger Gesetze und weitere gegen die österreichischen Juden und sonstige Zielgruppen gerichtete Verfolgungsmaßnahmen eingeführt. Die neuen Herren stellten die »Neue Freie Presse« ein und Ernst Molden musste sich bei einem neuen Wirtschaftsblatt in Wien eine Anstellung suchen.265 Während Europa in den letzten Monaten des Jahres 1938 auf einen Krieg zusteuerte, führte das NS-Regime in der »Ostmark« die allgemeine Wehrpflicht ein. Otto Molden wurde in die Wehrmacht eingezogen und der 2. Panzer-Division zugeteilt, die im Spätsommer 1938 an die tschechoslowakische Grenze verlegt wurde. Das Münchener Abkommen vom 30. September 1938, durch das Großbritannien und Frankreich die Tschechoslowakei verkauften, beruhigte die angespannte Lage wieder – aber nur für kurze Zeit. Otto erhielt bei der 2. Panzer-Division übers Wochenende Urlaub und konnte Wien besuchen  – jedoch nur vorübergehend, denn Hitler löste mit seinen Forderungen gegenüber Polen eine neue Krise aus. Der am 1. September 1939 begonnene Feldzug gegen Polen war binnen fünf Wochen beendet. Ottos Division wurde in Vorbereitung auf den Westfeldzug, der im Mai 1940 beginnen sollte, in den Westen verlegt. Sie war eine von sieben Panzer-Divisionen der Wehrmacht, welche die Alliierten durch die Ardennen angriffen, auf die Kanalküste zustrebten und das Britische Expeditionskorps sowie die französische Armee in Belgien einschlossen. Am 22. Juni schloss Frankreich mit NS-Deutschland einen Waffenstillstand ab, der am 25. Juni in Kraft trat. Gleichzeitig zog der Schüler Fritz Molden, der 1940 erst 16  Jahre alt war, wegen seiner von der Gestapo als NS-feindlich eingestuften Betätigung die – 193 –

Die Doppelrolle der »Abwehr«

Aufmerksamkeit der Geheimpolizei auf sich. In seiner 1976 publizierten Autobiografie schildert Fritz Molden die von der Gestapo Ende September 1940 vorgenommene Verhaftung einer großen Gruppe von Schülern und Studenten, zu der er selbst gehörte. Ihnen wurde vorgeworfen, eine Vorstellung der Tanzgruppe und des Orchesters der Kuban-Kosaken im Wiener Konzerthaus besucht zu haben. Ihr behauptetes Fehlverhalten bestand im Mitsingen der weithin bekannten Kosaken-Lieder auf Russisch und im stürmischen Applaus für die zahlreichen Zugaben des Ensembles. Die Übeltäter konnten aufgrund des Umstands, dass sie österreichische Tracht und nicht die obligate Uniform der Hitler-Jugend trugen, leicht ermittelt werden. Vor dem Konzerthaus fuhren 15 bis 20 Lastwagen der Gestapo vor, um die Verhafteten ins Gestapo-Hauptquartier im ehemaligen Hotel Metropol am Morzinplatz zu transportieren. Dort wurden sie sofort in Haft genommen, die mehrere Monate andauerte.266 Als Fritz 1941 endlich freigelassen wurde und nach Hause zurückkehrte, fand er seine Mutter Paula dort alleine vor. Die Gestapo hatte nicht auf die Verfolgung seines Vaters Ernst vergessen  ; sie erließ ein sogenanntes Ostmark-Verbot, welches es Ernst untersagte, sich weiterhin im ehemaligen Österreich aufzuhalten. Zu seinem Glück konnte er in die Niederlande reisen, wo er während des Ersten Weltkrieges als österreichischer Diplomat in dem damals neutralen Land gedient hatte. Durch Vermittlung von Freunden konnte Ernst sogar eine Anstellung als Archivar bei einer deutschen Wochenzeitung finden. Zur gleichen Zeit hatte Fritz das Leben im »Dritten Reich« satt und versuchte, zusammen mit seinem Vater per Schiff unerlaubt von den Niederlanden nach Großbritannien zu entkommen. Der Versuch schlug fehl, aber Ernst und Fritz entkamen mit heiler Haut. Gleichwohl hatte irgendjemand in den Niederlanden die Gestapo informiert, und Fritz wurde bei seiner Rückkehr nach Wien erneut verhaftet. Für seine versuchte Flucht nach Großbritannien wurden ihm acht Jahre Haft angedroht. Im Juni 1941 begann der deutsche Überfall auf die Sowjetunion. Erst nach den damit einhergehenden schweren deutschen Verlusten eröffneten sich sehr begrenzte Möglichkeiten, einer weiteren Inhaftierung durch Meldung zu einem der sogenannten Bewährungsbataillone zu entgehen, die durch einen eigenen Führer-Erlass aufgestellt worden waren. Um weiterer Haft zu entkommen, entschloss sich Fritz, sich einer dieser Einheiten anzuschließen, womit er mit hoher Wahrscheinlichkeit seinen Tod im Kampfeinsatz in Kauf nahm. Der Fritz zugestellte Stellungsbefehl hatte folgenden Wortlaut  : »Meldung am 2. Juli 1942 bei dem Infanterie-Ersatz-Bataillon I/482 in Mistelbach a. d. Zaya.«267 – 194 –

Die Doppelrolle der »Abwehr«

Anfang September 1942 hatte das Bewährungsbataillon mit seinen rund 600  Mann seine militärische Ausbildung abgeschlossen und wurde per Eisenbahn nach Kiew in der Ukraine verlegt. In einer Einheit wie dieser standen die Überlebenschancen bestenfalls bei 10  Prozent, die durchschnittliche Überlebensdauer betrug rund sechs Monate. Unter den Mannschaften befanden sich viele aus Gefängnissen entlassene Kriminelle. Fritz trug das Abzeichen »PU«, was so viel wie »politisch unzuverlässig« bedeutete. Viele junge Männer, deren Einstellung zum Nationalsozialismus wenigstens als ablehnend, wenn nicht als direkt oppositionell galt, teilten sein Schicksal. Im Herbst 1942 fungierte Kiew als ein zentraler Verkehrsknotenpunkt für den deutschen Vormarsch in Richtung Stalingrad und Kaukasus.268 Der Verband, dem Fritz angehörte, wurde aber nicht der deutschen 6. Armee für ihren Angriff auf Stalingrad, der mit der Vernichtung der Armee enden sollte, zugeführt. Die Einheit wurde vielmehr in nordwestlicher Richtung in Marsch gesetzt, um einen SS-Verband bei einem Unternehmen gegen Partisanen zu unterstützen. Dabei fiel rund die Hälfte der 110  Köpfe zählenden Einheit bei Kämpfen im Sumpfgelände aus  ; Fritz wurde verwundet und erkrankte dann auch noch an einem Herzleiden. Er wurde in ein Heereslazarett eingeliefert, wo ihn ein menschlich gesinnter Arzt behandelte. Dieser diagnostizierte die Frontuntauglichkeit von Fritz und empfahl, ihn für die kommenden sechs Monate für administrative Aufgaben einzuteilen. Danach sollte er für zwei weitere Jahre in der Heimat Garnisonsdienst versehen. Damit war die Zuteilung von Fritz zu einem Bewährungsbataillon – wenigstens für den Augenblick – beendet.269 Im November 1942 wurde Fritz in die Normandie verlegt. Auf der Durchreise nutzte er in Paris die Chance, einen österreichischen Landsmann zu treffen  : Sonderführer Eric (Riki) Posch-Pastor, welcher dem deutschen Beschaffungsstab im Palais Eiffel zugeteilt war. Posch-Pastor gelang es, Fritz als Dolmetscher zu seiner Dienststelle versetzen zu lassen. Wegen der speziellen Natur ihrer Beschaffungsaufgaben durften Riki und Fritz stets Zivilkleidung tragen. Gegen den Nationalsozialismus gerichtete Literatur von Thomas Mann, Franz Werfel und Stefan Zweig konnte man in französischen Buchhandlungen problemlos erwerben. Das Leben in Paris – und sei es nur für drei Monate – war ein Traum  ! Zu diesem Traum gehörte Fräulein Ulli Rüdt von Kollenberg, eine attraktive, der Deutschen Botschaft in Paris zugeteilte Kurierin, die sich später dem Widerstand anschloss. Den Weihnachtsurlaub 1942 konnte Fritz Molden mit seiner Mutter und seinem Bruder Otto in Wien verbringen. Bei seiner Rückkehr nach Paris wurde – 195 –

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aus dem Traum urplötzlich ein Alptraum, denn es tauchte General von Unruh auf, der in Hitlers Auftrag alle rückwärtigen Dienststellen durchkämmen und frontdiensttaugliche Soldaten für die Ostfront namhaft machen sollte. Der deutsche Beschaffungsstab wurde aufgelöst  ; Riki blieb jedoch in Paris. Über Nacht erhielt Fritz einen Marschbefehl und musste sich bei einem Ersatzbataillon in Spandau, einem Berliner Stadtbezirk, melden. Von dort sollte er weiter an die Ostfront geschickt werden.270 In seiner berüchtigten Rede im Berliner Sportpalast proklamierte Joseph Goebbels am 18. Februar 1943 den »totalen Krieg«. Kurz nach seiner Ankunft in Berlin beeilte sich Fritz Molden, seine dortigen Freunde und Bekannten zu kontaktieren. Unter ihnen befand sich sein Onkel Karl Staudinger, ein Beamter des Reichsernährungsministeriums. Während des Weihnachtsurlaubs hatte Major Alfons Stillfried Fritz von einer Gruppe österreichischer Offiziere berichtet, die in Berlin einen Widerstandszirkel aufbauten. Stillfried übergab Fritz eine Berliner Kontaktadresse und ein Empfehlungsschreiben. Ungefähr zehn Tage, nachdem Fritz dieses Schreiben übergeben hatte, erhielt er die Nachricht, dass Erwin Lahousen nicht in Berlin sei. Zwei Tage später lud Karl Staudinger seinen Neffen Fritz in ein Restaurant neben dem Hotel Adlon ein. Fritz war sehr überrascht, dass Oberst Lahousen schon an ihrem Tisch auf sie wartete. Lahousen erörterte mit Fritz die Umstände seines Aufenthalts in Frankreich sowie seine Schwierigkeiten mit der Gestapo in Wien. Fritz kam es vor, als wisse Lahousen bereits alles hierüber. Die beiden hatten sich jedoch nie zuvor getroffen und begegneten sich auch später nie mehr.271 Nach dem Abendessen erbot sich Lahousen, Fritz nach Spandau zu chauffieren. Die beiden Männer gingen zu Lahousens Auto. Lahousen fragte Fritz nach der Einheit, der er zugeteilt war, und nach dem Namen von deren Kommandeur. Er sagte Fritz, er würde mit einer Einheit des Wehrwirtschaftskommandos II nach Italien gehen. Lahousens letzte Worte waren  : »Du hörst wieder von mir.« Dann fuhr Lahousen davon und Fritz musste selbst nach Spandau kommen. Er stand nun unter dem zeitweilig wirksamen Schutz der »Abwehr«. Bald darauf arrangierte es Lahousen, dass sich Fritz Molden bei einer Abwehr-Dienststelle am Chiemsee in Bayern zu melden hatte. Nach Vertiefung seiner Ausbildung wurde er zu einer anderen Abwehr-Stelle nach Italien geschickt.272 Wenngleich Lahousen und Fritz Molden keinen weiteren Kontakt mehr miteinander hatten, rettete die Zuteilung zur »Abwehr« in Italien höchstwahrscheinlich Fritz das Leben. Er desertierte später in Italien von der Wehrmacht, um getarnt für die österreichische Widerstandsgruppe O5 zu arbeiten. Dann – 196 –

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begab er sich in die neutrale Schweiz, wobei er nur knapp einer Verhaftung durch die Schweizer Behörden entging. In Bern arbeitete Molden mit Allen Welsh Dulles, dem dortigen OSS-Stationsleiter, zusammen. Nach dem Krieg heiratete er eine von Dulles’ Töchtern. Im Frieden avancierte Fritz Molden zu einem bekannten österreichischen Autor und Publizisten. Seine Mutter Paula von Preradović schrieb den Text für die neue österreichische Nationalhymne, deren Melodie Mozarts Freimaurerkantate war.273

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Kapitel 10

Die Spionage-Partnerschaft von Lahousen und MAD

U

nmittelbar nach dem »Anschluss« Österreichs an Deutschland im März 1938 kehrte Madame Bihet-Richou mit der Eisenbahn über die Schweiz nach Paris zurück. Es hatte sie an den Rand der Verzweiflung gebracht, dem sofortigen und für jedermann sichtbaren NS-Terror gegen österreichische Juden und sonstige Gegner des Nationalsozialismus zusehen zu müssen. Es bot ihr keinen Schutz, dass sie ein französisches Fähnchen an ihrem Mantel trug. Sie brauchte jetzt eine seit Langem überfällige Zeit der Ruhe und Erholung  ; sie entschied sich für einen reizvollen Badeort an der Biskaya in der Nähe von La Rochelle. Lahousen hatte sich mittlerweile in Berlin niedergelassen und arbeitete für die »Abwehr«  ; er sandte MAD weiterhin Briefe und Postkarten, wobei er sich eines speziellen Codes bediente. Um seine Zuneigung auszudrücken, fügte er einem seiner Briefe einen kleinen Zweig einer Lilie bei – ein romantischer französischer Brauch, von dem MAD ihm einige Jahre zuvor zu Beginn ihrer Freundschaft erzählt hatte.274 Zu dieser Zeit war Lahousen vorübergehend einer Gruppe deutscher Stabsoffiziere zugeteilt, die den französischen General Vuillemin bei seinen  – auf spezielle Einladung des Oberbefehlshabers der Luftwaffe, Generalfeldmarschall Hermann Göring, unternommenen  – Besuchen deutscher Flugzeugfabriken begleiten sollten. In einem Brief an MAD erwähnte Lahousen, dass der französische General beim Anblick der hocheffizienten Fließbänder, welche die neuesten Bombertypen in großen Stückzahlen produzierten, sichtlich erbleicht war. Diese Reaktion des Generals veranlasste Lahousen, in seiner Korrespondenz vermehrt zu versuchen, MAD zur Wiederaufnahme ihrer Spionage-Partnerschaft zu bewegen. Er tat dies, indem er seine Befremdung über ihr neues, relativ beschauliches Leben in Frankreich zum Ausdruck brachte  : »Was treibst Du  ? Du verschwendest in Frankreich Deine Zeit … Warum engagierst Du Dich nicht  ? Es ist dafür jetzt genau die richtige Zeit.«275 Das Drängen ihres Geliebten veranlasste MAD zu einer sofortigen Reaktion. Sie schrieb sogleich an ihren alten Freund von der Militärattaché-Abteilung der französischen Botschaft in Wien, Oberst Salland, der zu dieser Zeit ebenfalls – 198 –

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nach Frankreich zurückgekehrt war  ; sie ließ ihn wissen, dass sie ihm etwas Vertrauliches mitzuteilen habe. Prompt kam eine Antwort – aber nicht von Oberst Salland, sondern von Oberst Rivet, dem Chef der 5.  Abteilung des französischen Nachrichtendienstes. Rivet schrieb, dass er ihr einen Kontaktmann benennen würde, dass sie aber zuvor einen Treffpunkt aus einer Liste von drei möglichen Orten auswählen müsse. MAD wählte den nahe gelegenen reizenden Ort Angouleme aus. Ein paar Tage später traf sie dort Major Brochu vom französischen Nachrichtendienst in einem kleinen Hotel, welches das Tal überblickte. Die ersten Worte des Majors überraschten MAD  : »Ja, wir wissen, dass Sie von Oberst  X [Lahousen] auf dem Laufenden gehalten werden und wir wertschätzen alles, was Sie sagen.«276 Madeleine schlussfolgerte daraus, dass Oberst Salland den französischen Nachrichtendienst über ihre Beziehung zu Lahousen in Kenntnis gesetzt hatte. Ihr wurde auch klar, dass Lahousen von einem unmittelbar bevorstehenden Kriegsausbruch überzeugt war. Sie ließ Major Brouchu ferner wissen, dass der französische Geheimdienst absolutes Vertrauen in Lahousens Zuverlässigkeit haben könne  – sowohl in dessen Eigenschaft als Widerstandskämpfer gegen Hitler als auch als verlässliche Quelle strategisch wichtiger Meldungen betreffend das zunehmende Potenzial und die aggressiven Absichten des »Dritten Reiches«. Seit diesem Treffen führte der französische Nachrichtendienst Madame Bihet-Richou unter dem Decknamen »MAD«. Von da an arbeitete sie in diesem Dienst als vollwertige Agentin mit dem Auftrag, den Spion Oberst Erwin Lahousen zu führen. Kritisch bleibt zu fragen, welchen Schaden die Spionage-Partnerschaft zwischen Lahousen und MAD dem »Dritten Reich« zugefügt hat. Weder in den Verhandlungen des Nürnberger Kriegsverbrechertribunals noch in Lahousens dortigen Zeugenaussagen findet sich irgendein Hinweis darauf, was Lahousen im Rahmen seiner Spionagetätigkeit durch MAD an die Franzosen übermittelte. Natürlich gibt es dazu auch keine Belegstellen in Lahousens Kriegstagebuch, das er ab dem 22. August 1939 bis zum 3. August 1943 über seinen Dienst in der »Abwehr« als Chef von deren Abteilung II führte. MAD war ihrerseits überaus vorsichtig und enthüllte – abgesehen von ihren Vorgesetzten beim französischen Nachrichtendienst  – niemandem gegenüber ihre Beziehung zu Lahousen. Selbst in ihren ab 1953 niedergeschriebenen Erinnerungen tarnte sie ihre vielfachen Bezugnahmen auf Lahousen hinter dem Pseudonym »Oberst X«. Erst nach dem Tod Lahousens im Februar 1955 fügte MAD ihren Memoiren einen Anhang hinzu, in dem sie »X« als Erwin Lahousen von Vivremont iden– 199 –

Die Spionage-Partnerschaft von Lahousen und MAD

tifizierte. Und erst Jahrzehnte nach dem Tod von MAD 1987 wurden diese Erinnerungen für den allgemeinen Gebrauch freigegeben. Die aussagekräftigsten Originalquellen zur Beurteilung des dem »Dritten Reich« durch die Spionage-Partnerschaft von MAD und Lahousen zugefügten Schadens, die natürlich quellenkritisch geprüft werden müssen, erfordern ein genaues Studium folgender Dokumente  : a) Die umfangreichen MAD-Memoiren, die 172 einzeilig maschinebeschriebene Seiten umfassen und den Zeitraum vom Sommer 1933 bis zu MADs Rückkehr nach Frankreich im Sommer 1945 zum Gegenstand haben. b) Der die Seiten 10 bis 12 umfassende Abschnitt, der mit »Persönliche französische Verbindungen zum Widerstand« überschrieben und in den Erinnerungsfragmenten Lahousens enthalten ist. Lahousen schrieb diese Zeilen während seiner Inhaftierung durch die Alliierten als Kriegsgefangener nach dem Krieg bis 1948 nieder.277 c) Die besonderen Aktivitäten beider Seiten, die aus anderen Quellen aus der Zeit vor, während und nach dem Weltkrieg erhellt werden können. Die Partnerschaft vor dem Krieg bis zum 1. September 1939 Zwar hatte Lahousen mit der Übermittlung von geheimen Nachrichten an MAD begonnen, kurz nachdem die beiden in Wien 1934 enge Freunde geworden waren, doch konnte die Spionage-Partnerschaft nach Mitte März 1938 bis zum Herbst dieses Jahres nicht fortgesetzt werden. Nach seiner Übernahme in die »Abwehr« ließ sich Lahousen Ende April 1938 in Berlin nieder. Ende Oktober hatte es der französische Nachrichtendienst endlich geschafft, alle erforderlichen Papiere für die Entsendung von MAD unter der Tarnung als Angestellte des renommierten Institute Française nach Berlin zu beschaffen. In Berlin ging es damals turbulent zu, wenn man nur an die »Reichskristallnacht« am 9. und 10.  November denkt. Einige Tage zuvor hatte Lahousen in einem Gespräch MAD über die bevorstehenden geheimen Absichten der NS-Führung, reichsweite Pogrome, die auch die »Ostmark« einschlossen, zu lancieren, in Kenntnis gesetzt. Postwendend gab MAD diese Information über die gegen die wehrlosen deutschen Juden geplanten Maßnahmen an ihre Vorgesetzten im französischen Nachrichtendienst weiter.278 Oberst Rivet war über die Genauigkeit und die rasche Übermittlung dieser Pogrom-Pläne sehr erfreut. Er hielt – 200 –

Die Spionage-Partnerschaft von Lahousen und MAD

auch MADs Beobachtung über deutsche Arbeiterfrauen, die in Berlin mit von eingeschüchterten Jüdinnen gestohlenen Pelzmänteln herumgingen, genau fest. Alle diese Enthüllungen festigten Lahousens Ansehen beim französischen Nachrichtendienst als eine verlässliche Quelle für im Geheimen geplante Aktionen der NS-Führung. Ein weiteres Beispiel für die erfolgreiche Spionage-Partnerschaft zwischen Lahousen und MAD drehte sich um den geplanten deutschen Einmarsch in die Rest-Tschechoslowakei am 15. März 1939. Nach dem Münchener Abkommen vom 30. September 1938 war dieser die Hauptstadt Prag einschließende Rest vorläufig unabhängig geblieben. Um den »Frieden für unsere Zeit« zu sichern, hatten der britische Premierminister Neville Chamberlain und der französische Ministerpräsident Édouard Daladier in München dem Anschluss des Sudetenlandes und des Erzgebirges an NS-Deutschland zugestimmt. Diese Gebiete waren in den Friedensverträgen nach dem Ersten Weltkrieg der Tschechoslowakei zugesprochen worden. Zu den Konsequenzen des Münchener Abkommens zählte der Umstand, dass die Tschechoslowakei nun militärisch vollkommen wehrlos war. Basierend auf Informationen Lahousens, hielt MAD für Anfang März 1939 in ihren Erinnerungen fest, sie habe Paris von den aktuellen und ständig zunehmenden deutschen Truppenkonzentrationen an der deutsch-tschechischen Grenze in Kenntnis gesetzt. Paris beauftragte daraufhin den französischen Militärattaché in Berlin mit einer Überprüfung dieser Meldung. Dessen Antwort fiel nach einer oberflächlichen Besichtigung des Grenzgebietes, wie nicht anders zu erwarten, negativ aus – die an der Grenze stationierten deutschen Verbände hatten ihre Stellungen sorgfältig getarnt, um Aufklärung seitens der Tschechen und durch deren Verbündete zu vermeiden. Die SS bereitete im Geheimen sogar Provokationen gegen die in der Tschechoslowakei lebenden Deutschen vor, um den bevorstehenden deutschen Einmarsch zu rechtfertigen.279 Bei einem gemeinsamen Abendessen in einem Lokal nahe MADs Wohnung bestätigte Lahousen am 13. März, dass der Einmarsch am frühen Morgen des 15. März beginnen werde. Er teilte MAD auch mit, dass er am folgenden Morgen, dem 14. März, mit Canaris nach Prag reisen werde. Noch am Abend des 13. März übermittelte MAD diese Meldung nach Paris. Dieses schmale Zeitfenster reichte jedoch nicht aus, um es den tschechischen Behörden zu ermöglichen, das Beste aus der vertrackten Situation zu machen. Folgt man den Memoiren, dann gehörte dazu auch der Versuch, die erheblichen tschechischen Goldreserven im Ausland in Sicherheit zu bringen. Dem »Dritten Reich« sollte – 201 –

Die Spionage-Partnerschaft von Lahousen und MAD

der Zugriff auf dieses Gold verwehrt werden. Allerdings konnte diese Behauptung MADs seitens der Nationalbank der Tschechischen Republik nicht bestätigt werden. Ganz im Gegenteil teilte die Bank am 27. November 2012 mit, dass die Bank of England einen Teil dieses Goldes am 18. März 1939 an die deutsche Reichsbank übergeben habe. An diesem Tag, so meldete »The Telegraph« am 31. Juli 2013, erhielt die Reichsbank 23,1 Tonnen tschechischen Goldes im damaligen Wert von sechs Millionen britischen Pfund  ; weitere 27 Tonnen Gold, die der tschechoslowakischen Nationalbank gehörten, wurden in London zurückgehalten.280 Anfang Mai 1939 tat sich dank der Zusammenarbeit zwischen MAD und Lahousen eine weitere Möglichkeit für das Aufdecken eines strategischen Geheimnisses zulasten des »Dritten Reiches« auf. Bei einem geheimen Treffen deutscher Generalstabsoffiziere, das kurz davor stattgefunden hatte und an dem unter anderem auch höhere Abwehr-Offiziere teilgenommen hatten, hatte sich Hitler vage über eine mögliche Aufteilung Osteuropas geäußert. Canaris, Lahousen und einige weitere anwesende Abwehr-Offiziere zogen daraus den Schluss, Hitler könnte eine Verständigung mit der Sowjetunion anstreben – ungeachtet des ständigen Getöses der Nationalsozialisten, der Kommunismus sei das Erzübel der Menschheit. Nachdem sie diese beunruhigende Mitteilung von Lahousen erhalten hatte, gab MAD, wie erwartet, sie postwendend nach Paris weiter. Die Meldung war von herausragender Bedeutung, denn sie lieferte eine logische und überzeugende Erklärung für das nur sehr langsame Vorankommen der Moskauer Gespräche zwischen einer französisch-britischen Delegation und der Sowjetführung. Lahousen verwendete das Wort »Gummiteig« zur Charakterisierung dieser Verhandlungen.281 Binnen 90 Tagen führte Hitlers Plan der Aufteilung Europas schnurstracks zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt, der manchmal auch als Hitler-Stalin-Pakt bezeichnet wird. Das Abkommen wurde am 23.  August 1939 in Moskau vom deutschen Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop und seinem sowjetischen Amtskollegen Wjatscheslaw Molotow unterzeichnet.282 Der mit einem geheimen Zusatzprotokoll versehene Pakt ermöglichte die Aufteilung Osteuropas zwischen NS-Deutschland und der Sowjetunion  ; Finnland, Polen und die baltischen Staaten bildeten den Auftakt hierzu. Die Spionage-Partnerschaft verschaffte dem französischen Nachrichtendienst noch weitere strategisch wichtige Informationen  ; der Dienst gab einen Teil davon während der Monate bis zum Kriegsbeginn am 1. September 1939 an den britischen Verbündeten weiter. Zu diesen wichtigen Nachrichten über – 202 –

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bevorstehende politische Manöver und von Deutschland künftig zu erhebende Forderungen gehörten unter anderem der sogenannte Stahlpakt oder Achsenpakt, ein formelles Bündnis zwischen dem Reich und Italien, das am 22. Mai 1939 unterzeichnet wurde, sowie die deutschen Forderungen nach Rückgabe von Danzig und des Memellandes an der Ostsee. Allerdings waren MAD und ihre Vorgesetzten im französischen Nachrichtendienst zunehmend enttäuscht über den anhaltenden Pazifismus der französischen Regierung – ungeachtet der offenkundigen Hinweise auf die bedrohliche Expansionspolitik der NS-Diktatur.283 Am 3. April erteilte Hitler der Wehrmacht den geheimen, von Lahousen aber sofort an MAD weitergegebenen Befehl zur Planung des »Unternehmens Weiß«. Dies war der für den Spätsommer 1939 vorgesehene Angriff auf Polen.284 Nach Lektüre ihres Berichts beorderte Oberst Rivet MAD nach Paris. Ihr Kollege Hauptmann Navarre holte sie am Bahnhof ab. Obwohl der Frieden ernstlich in Gefahr war, schickte Navarre sie, nachdem sie ihre Meldung abgeliefert hatte, in den Urlaub, wofür er einen einwöchigen Aufenthalt an der Côte d’Azur vorschlug. Danach begaben sich die beiden in ein elegantes Restaurant, wo sie Oberst Rivet trafen und ihm beim Mittagessen ausgiebig Bericht erstatteten. Erst Monate später besuchte MAD erstmalig die Büros des französischen Nachrichtendienstes. Nach dieser ausführlichen Erörterung war auch MAD überzeugt, dass es jetzt die richtige Zeit für einen Sommerurlaub sei. Allerdings reiste sie nicht nach Südfrankreich, sondern nach Trouville, einem kleinen Küstenstädtchen am Kanal, das viel näher bei Paris lag. In diesen Urlaub nahm sie ihren 16‑jährigen Sohn Pierre mit. Ihr hatte das von Claude Monet 1870 gemalte Bild des Strandes von Trouville stets sehr gut gefallen. Das Gemälde zeigt elegant gekleidete Besucher, Frauen in langen Kleidern, mit Hüten und Sonnenschirmen, während die Herren dunkle Anzüge und Strohhüte tragen. Nach einem zehntägigen Aufenthalt in Frankreich kehrte MAD dann nach Berlin zurück. Wie verabredet, holte Lahousen sie am Bahnhof ab und erzählte ihr von seiner bevorstehenden Reise nach Schweden. Vielleicht um ihre Neugier auf Skandinavien zu wecken, riet er ihr zu einem eintägigen Schiffsausflug von Stettin nach Kopenhagen, der nur 20 Reichsmark kostete. Stettin liegt nördlich von Berlin an der Ostsee und gehört seit dem Zweiten Weltkrieg unter dem Namen Szczecin zu Polen. Immer einem kleinen Abenteuer zugeneigt, unternahm MAD während Lahousens Abwesenheit diesen Ausflug, wobei sie aber in Kopenhagen übernachtete und nach zwei Tagen erholt nach Berlin zurück– 203 –

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kehrte. Bei ihrer Rückkehr traf sie Lahousen an einem ihrer verabredeten Treffpunkte in Berlin. Lahousen platzte förmlich vor lauter aufregenden Neuigkeiten – keine davon war allerdings unter dem Gesichtspunkt der Bewahrung des Friedens in Europa eine gute Nachricht. Hitlers Pläne für einen Feldzug gegen Polen waren nahezu abgeschlossen. Den Angriffsbeginn hatte er nunmehr auf die Zeit vom 20. bis zum 30.  August festgelegt. Lahousen machte dann noch einige ergänzende, präzise Angaben zu Hitlers Vorgehen. Zu Hitlers bevorzugten Methoden gehörte das Losschlagen an Wochenenden, wenn seine Gegner vermutlich vorausgeplante soziale oder innenpolitische Verpflichtungen haben würden. Hitlers aggressive Pläne gingen mitunter auch mit Perioden des Wartens einher, wodurch der Druck auf seine Widersacher erhöht wurde. Nachrichtendienstliche Informationen dieser Art über die Methoden und den Stil des Gegners sind stets sehr hilfreich und erlauben es den Nachrichtendienstlern, eine geeignete Gegenstrategie zu entwickeln.285 Admiral Canaris hatte Oberst Lahousen mit dem Auftrag nach Schweden geschickt, sich bei schwedischen Unternehmen der Weiterlieferung schwedischen Eisenerzes nach Deutschland auch im Kriegsfall zu versichern. Die Lahousen erteilten Zusagen waren ausreichend, und man konnte ihnen nach Einschätzung der »Abwehr« vertrauen, sofern es nicht den Alliierten gelingen würde, die Zufuhrwege des Erzes zu unterbrechen. Monate später, im Frühling 1940 nach Beendigung des Polenfeldzugs, sollte Deutschland mit dem »Unternehmen Weserübung« Dänemark und Norwegen angreifen und besetzen, um die weitere Belieferung mit schwedischen Erzen in Kriegszeiten zu sichern – in Berlin hatte man offensichtlich Sorge, dass die Briten die Transportwege aus Schweden unterbrechen könnten. Tatsächlich versuchten dies die Briten mittels ihrer Landung im nordnorwegischen Narvik. In Ergänzung hierzu unternahm die Royal Navy einen Vorstoß in das Skagerrak, um das neutrale Schweden einzuschüchtern. Der Rückzug britischer Marine- und Landstreitkräfte aus Narvik Ende Mai 1940 ließ bei ihren norwegischen Verbündeten, die nun allein weiterkämpfen mussten, Verbitterung aufkommen. Allerdings war er angesichts der Erfolge der Wehrmacht in den Niederlanden, Belgien und Frankreich, wo deutsche Verbände das Britische Expeditionskorps und Teile des französischen Heeres in Belgien abschnitten, notwendig geworden. Den eingeschlossenen alliierten Truppen gelang schließlich mithilfe der Royal Navy der Rückzug aus Dünkirchen nach England. Für Lahousens Reise nach Schweden gab es noch einen weiteren, streng geheimen Grund. Aus verständlichen Sicherheitsbedenken heraus hatte er MAD – 204 –

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von diesem Grund vorher nichts berichtet. Einige Wochen später erzählte er ihr dann, es habe sich um die Beschaffung einer britischen Bombe in Schweden gehandelt, die bei einem der frühen Mordanschläge auf Hitler hätte Verwendung finden sollen. In ihren Memoiren berichtet MAD von diesem Vorhaben. Man muss sich in Erinnerung rufen, dass Lahousens Reise nach Stockholm und dieser Plan eines Anschlags auf Hitler in die Zeit vor Kriegsbeginn fielen.286 Die Entscheidung der Widerstandskämpfer innerhalb der »Abwehr«, für eine zur Tötung Hitlers bestimmte Bombe britisches Material zu verwenden, war aus zwei Gründen ein kluger Schachzug  : 1. Für den Sprengstoff sollte ein lautloser britischer Zünder verwendet werden, der den geräuschvollen deutschen Zündern weit überlegen und daher als Mordwerkzeug bestens geeignet war. 2. Die Gestapo konnte so in die Irre geführt werden, denn ihre Suche nach dem Bombenbauer würde in Richtung des britischen Ursprungs des Sprengstoffs verlaufen – und nicht zu den tatsächlichen Tätern aus den Kreisen der »Abwehr«. Als Offizier mit einer Spezialausbildung in Sprengstoffkunde und als Leiter der Sabotage-Abteilung der »Abwehr« war Lahousen in den Augen von Canaris dafür prädestiniert, den erwähnten Auftrag in Stockholm auszuführen. Lahousen selbst konnte schlecht eigene, unabhängige Verbindungen zum britischen Geheimdienst unterhalten – dies stand nur Canaris zu, nachdem er im Januar 1935 zum Chef der »Abwehr« ernannt worden war. Bei der Reise nach Schweden und bei der Beschaffung der britischen Bombe handelt es sich um einen der ersten Hinweise darauf, dass Canaris solche Kontakte zum britischen Geheimdienst unterhielt. Manche meinen sogar, Canaris wäre schon vor Beginn des Krieges ein Spion für Großbritannien gewesen.287 In den Jahren vor dem Krieg begegnete der französische Nachrichtendienst allerhand schwerwiegenden Hemmnissen, denn die linke Volksfront-Regierung unter Premierminister Leon Blum räumte sozialen Reformen höchste Priorität ein, nicht der Landesverteidigung. In allen Staaten der späteren Alliierten war vor dem Krieg der Pazifismus eine einflussreiche Strömung. Diese Bewegung hatte in Frankreich und anderswo – freilich nicht in NS-Deutschland – einen populären Wahlspruch  : Sterben für Danzig  ?288 Auch wenn die französische VolksfrontRegierung ihren Nachrichtendienst nur halbherzig unterstützte, gelang es dessen Talenten, die Spionageabwehr des »Dritten Reiches« zu überwinden. – 205 –

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Mittlerweile war im Sommer 1939 MADs 16  Jahre alter Sohn Pierre erkrankt – woran, wird in den Memoiren seiner Mutter nicht mitgeteilt. Davon in Kenntnis gesetzt, verfolgten MADs Vorgesetzte im französischen Nachrichtendienst mit Besorgnis den gesundheitlichen Verfall des Jungen, der von MADs Mutter und ihrer Schwester gepflegt wurde. Nachdem sich die Krankheit drei Wochen hindurch ständig verschlimmert hatte, beschlossen Oberst Rivet und seine Kollegen, MAD sofort und für immer zurückzurufen – dies sollte aber so geschehen, dass es nicht wie eine Flucht aus NS-Deutschland wirkte. Dementsprechend verließ sie Berlin per Bahn mit nur einem kleinen Koffer  ; den Großteil ihrer persönlichen Besitztümer musste sie zurücklassen. Problemlos traf MAD Mitte August in Paris ein, gerade rechtzeitig, um ihren Sohn für eine Operation in eine Klinik zu begleiten.289 Am 20.  August ging MAD zusammen mit Major Navarre in der Avenue St.  Claude in Versailles spazieren. Sie sahen französische Truppen auf dem Marsch zu ihrer nahegelegenen Kaserne. Navarre sagte ihr, die gerade anlaufende Mobilisierung Frankreichs sei durch ihre Zusammenarbeit mit Lahousen ausgelöst worden. Der französische Nachrichtendienst – MAD eingeschlossen – machte sich naturgemäß Sorgen darüber, ob Lahousen seine Zusage, Frankreich durch Ausspionieren von Geheimnissen des »Dritten Reiches« zu unterstützen, weiter einhalten würde, nachdem der heiße Krieg am 3. September begonnen hatte.290 Lahousen schickte ihr nach wie vor Postkarten, von denen eine in verschlüsselter Form den 26. August als Tag des deutschen Angriffs auf Polen benannte. An diesem Tag wurde der Angriff jedoch verschoben. In ihren Erinnerungen führte MAD dies irrtümlicherweise auf die Standhaftigkeit der Briten zurück. Diese Fehleinschätzung ging wiederum auf eine unzutreffende Information Lahousens zurück. Faktisch hatte Mussolini um diese Verschiebung ersucht.291 Am 1. September 1939 setzte der deutsche Großangriff auf Polen dann tatsächlich ein. Den Auftakt machte das aus dem Ersten Weltkrieg stammende Linienschiff »Schleswig-Holstein« mit seiner Beschießung der polnischen Befestigungen auf der Westerplatte. Das Schiff, das seit dem 25. August zu einem schlau eingefädelten Freundschaftsbesuch im Hafen von Danzig lag, setzte danach auch Truppen auf der Westerplatte ab, die, außerhalb des Danziger Hafens in der Nähe der Weichselmündung gelegen, vor dem Ersten Weltkrieg ein beliebter Badeort gewesen war.292 Im Rumpf des Schiffes hatten sich rund 200 deutsche Marineinfanteristen mehr als eine Woche lang versteckt. Da der deutsche Angriff fortgesetzt wurde, erklärten Großbritannien und Frankreich am 3. September Deutschland den Krieg. – 206 –

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MAD, die Angriffe der deutschen Luftwaffe befürchtete, hatte Mitte August ihren Sohn, der seine Krankheit nach einer erfolgreichen Operation überstanden hatte, nach La Bourboule bei Vichy in einem gebirgigen Teil Frankreichs geschickt. MADs Mutter fuhr als Betreuerin ihres Enkels mit. Allein nach Paris zurückgekehrt, wurde MAD Ende August erstmals zu einem Besuch der Zentrale des 5. Büros in der Avenue de Tourville Nr. 2 eingeladen. Ihre Führungsoffiziere beim Nachrichtendienst hatten mittlerweile ihre letzten Bedenken, MAD könnte eine Doppelagentin sein und auch für die NS-Diktatur arbeiten, ad acta gelegt.293 Mittels eines Briefes aus Budapest forderte Lahousen sie verschlüsselt auf, ihre Aktivitäten in die ungarische Hauptstadt zu verlegen. Am Tag ihres Besuches in der Zentrale des 5. Büros zeigte sie diesen Brief Oberst Rivet und seinen Mitarbeitern. Die französischen Nachrichtendienstler waren über den Inhalt des Schreibens überaus erfreut, denn er beseitigte auf einen Schlag zwei ernste Sorgen, die den französischen Dienst beschäftigt hatten. Punkt 1 betraf die fortgesetzte Loyalität Lahousens gegenüber den Anti-Hitler-Kräften, da er zusammen mit Madame Richou weiter als Spion zur Verfügung stehen wollte. An dieser Loyalität konnte es jetzt keinen vernünftigen Zweifel mehr geben. Wenngleich in verschlüsselter Form, so hatte sich Lahousen doch schriftlich zur weiteren Zusammenarbeit mit dem französischen Nachrichtendienst für die Dauer des Krieges bereit erklärt. Punkt  2 war die Frage nach einem geeigneten Standort von MAD, um getarnt den Spion Lahousen zu führen. Mehrere Möglichkeiten wurden in Erwägung gezogen, dann aber wieder verworfen, darunter die Schweiz (vermutlich der sicherste Ort für MAD) und Schweden. Lahousen reiste nie in die Schweiz und nur selten nach Schweden. Er löste die Standortfrage durch seine Empfehlung, dass MAD unter geeigneter diplomatischer Tarnung ihre Aktivitäten nach Budapest verlagern und auf diese Weise ihre Zusammenarbeit wieder aufnehmen solle. Die Hauptstadt Ungarns bildete des Öfteren die erste und letzte Station der regelmäßigen nachrichtendienstlichen Reisen Lahousens von der Abwehr-Zentrale in Berlin in die Balkanstaaten.294 Aus der Perspektive des französischen Nachrichtendienstes verfügte Budapest darüber hinaus über einen weiteren wichtigen Vorzug  : Zwischen Frankreich und Ungarn bestanden weiterhin normale diplomatische Beziehungen. Wenngleich Ungarn lange vor Beginn des »Unternehmens Barbarossa« im Juni 1941 mit NS-Deutschland verbündet war, hatte weder Frankreich Ungarn den Krieg erklärt noch umgekehrt. Als die Entscheidung zugunsten Budapests als neuer Standort für MAD gefallen war, begann das 5. Büro mit der Beschaffung des notwendigen Passes – 207 –

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und des Visums, wobei mit ziemlicher Sicherheit falsche Namen und Berufsangaben verwendet wurden, die sich von den zur Tarnung von MADs Arbeit als französische Agentin in Berlin benutzten Daten unterschieden.295 Diesmal schuf der Erfindungsreichtum des französischen Nachrichtendienstes nicht nur eine Agentin, sondern ein ganzes, wenn auch kleines Büro bzw. Team, das aus zwei französischen Staatsbürgern und einer vor Ort eingestellten ungarischen Sekretärin bestand. Zuerst kreierte man ein Reisebüro, das den ungarischen Tourismus nach Frankreich ankurbeln sollte – dies mochte während des »Sitzkrieges« im Winter 1939/40 noch plausibel erscheinen, nicht mehr allerdings nach der Niederlage Frankreichs im Juni 1940  – die Etablierung von VichyFrankreich war dem Tourismus nicht gerade förderlich. MAD und die überwiegende Mehrheit der französischen Nachrichtendienstler unterstützten später die Bewegung »Freies Frankreich« unter General Charles de Gaulle, kaum hingegen die Regierung in Vichy, die mit der NS-Diktatur kollaborierte. Während ihre Auftraggeber noch mit dem Aufbau ihrer Tarnung in Budapest beschäftigt waren, unternahm MAD einen Abstecher nach La Bourboule, um ihren Sohn und ihre Mutter abzuholen  ; sie brachte beide nach Angers, einer Kleinstadt an der Loire ca. 180  Kilometer südwestlich von Paris. Sie schrieb Pierre im dortigen Lyzeum ein und fand für die beiden in dieser reizvollen französischen Stadt eine passende Unterkunft. Diese Übersiedlung ihrer Familie führte MAD mit Billigung ihrer Vorgesetzten, ja höchstwahrscheinlich sogar auf deren Anregung durch. Zwischenzeitig war der Krieg durch den deutschen Angriff auf Polen am 1. September und die Kriegserklärungen Großbritanniens und Frankreichs an Deutschland, das seine Invasion in Polen nicht beenden wollte, am 3. September ausgebrochen. Die Partnerschaft während des Krieges (1. September 1939 bis 8. Mai 1945) Als MAD Anfang September in ihr Pariser Büro in der Avenue de Tourville zurückkehrte, stellte Oberst Rivet sie einem »Leutnant  S« vor, der sie auf der Reise nach Budapest begleiten würde. Die beiden Agenten sollten in Budapest ein französisches Reisebüro eröffnen und betreiben. Leutnant S war in spezieller Mission von den französischen Eisenbahnen abgestellt  ; er sollte die büromäßigen und verkehrstechnischen Kontakte zu den ungarischen Eisenbahnen herstellen und obendrein MADs Spionage-Aktivitäten abschirmen. MAD sollte – 208 –

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das neue Büro leiten, womit ihre Erfahrung und ihre Kenntnisse der französischen Kultur und Reisebedingungen anerkannt wurden. Die folgenden Wochen hindurch erledigte der französische Nachrichtendienst den für die Eröffnung des Reisebüros in Budapest notwendigen Papierkrieg.296 Am 25. Oktober 1939 verließen MAD und Leutnant S Paris per Eisenbahn. Ihre Reise führte sie zuerst durch die neutrale Schweiz, dann nach Mailand, Venedig und Triest im damals ebenfalls noch neutralen Italien. Weiter ging es durch die beiden neutralen Staaten Jugoslawien und Ungarn und am Ufer des Plattensees entlang nach Budapest, wo die beiden 36  Stunden nach ihrer Abreise am 27. Oktober eintrafen. Auf Empfehlung des Personals ihres Schlafwagens bezog das Duo nebeneinander liegende Zimmer im angesehenen Hotel Carlton auf der Pester Seite der Donau. Im Carlton sollte MAD die folgenden acht Monate wohnen. Gleich nach ihrer Ankunft in Budapest stellte MAD den Kontakt zur französischen Gesandtschaft in der Fö-Straße, auf der anderen Seite der Donau im Stadtteil Buda, her. Der Chef der Gesandtschaft war kurz zuvor diskret über die  – wie er es nannte  – herausragenden Qualitäten von MAD unterrichtet worden. Die Gesandtschaft war MAD und Leutnant S bei der Eröffnung des Reisebüros im Stadtteil Pest, der stärker von Wirtschaftsbetrieben geprägt war, behilflich. Sie empfahl auch ein kleines, aber gut sichtbares Geschäftslokal am südlichen Ende der Vaci-Straße am Vorosmarty-Platz, in einer der belebtesten Straßen von Pest. In derselben Straße, ganz in der Nähe, hatte das Deutsche Reich ein viel größeres Propagandabüro eröffnet. In der Auslage stand ein mehr als lebensgroßes Porträt von Adolf Hitler in Uniform  ; ferner zeigte die Auslage deutsche Zeitungen, die täglich ausgewechselt wurden. Die Titelseiten dieser Zeitungen veranschaulichten durch Landkarten und Grafiken die Erfolge der Wehrmacht in Polen. Anfang Oktober war der Polen-Feldzug beendet  ; der »Sitzkrieg« im Westen ging jedoch weiter.297 Weder MAD noch Leutnant S fanden, bevor sie so überstürzt nach Ungarn entsandt wurden, Zeit zum Erlernen der Landessprache. Folglich mussten sie für den Betrieb des Reisebüros eine Französisch sprechende ungarische Sekretärin anstellen. MAD freute sich, dass sie so rasch eine passende Bewerberin fanden  ; sie bezeichnete sie als »charmant, diensteifrig und loyal.«298 Bedauerlicherweise kam es bei der Wiederaufnahme von Lahousens Kontakten mit MAD in der Zeit zwischen ihrer Ankunft in Budapest Ende Oktober und dem Jahresende 1939 zu beträchtlichen Verzögerungen. Schließlich empfing MAD Anfang Januar 1940 seine üblichen Neujahrsgrüße, diesmal in Form – 209 –

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einer in Rom aufgegebenen Postkarte. MAD beriet sich hierüber telegrafisch mit Hauptmann Navarre in Paris. Er wies sie an, nach Rom zu reisen und dort auf Lahousen zu warten. Nach einer neuerlichen zweitägigen Bahnfahrt über Triest – das faschistische Italien war noch nicht in den Krieg eingetreten – traf sie am 8. Januar in Rom ein. Sie logierte im Hotel Savoia, von dem sie notierte, dass Mussolini 1922 nach dem »Marsch auf Rom« hier sein Hauptquartier gehabt hatte – bei ihren Reisen und bei ihren Niederschriften legte MAD wiederholt eine Vorliebe für das Ungewöhnliche und das Dramatische der zeitgeschichtlichen Ereignisse an den Tag. Während des Wartens auf Lahousens nächsten Besuch verfügte sie über viel freie Zeit, die sie dazu nutzte, die Architektur, die Museen, die Kirchen sowie die Geschichte Roms und seiner Umgebung für sich zu entdecken. Nach mehreren Wochen des Wartens ließ sie Hauptmann Navarre wissen, sie solle ihn in der zweiten Februarhälfte im französischen Konsulat in Mailand treffen. Wie vereinbart traf MAD am 24.  Februar dort ein  ; nach ausgiebigen Erörterungen entschied Navarre, MAD solle nach Rom zurückkehren und dort auf eine weitere Kontaktaufnahme seitens Lahousens warten. Als MAD am 26.  Februar in ihr Hotel in Rom zurückkehrte, fand sie ein Telegramm von Leutnant  S aus Budapest vor, das sie wissen ließ, Lahousen befinde sich gerade im Carlton, sei aber auf dem Weg nach Griechenland  ; er sei in Kenntnis ihrer Reise nach Rom. Als Lahousen in MADs römischem Hotel anrief, wurde ihm lediglich mitgeteilt, sie befinde sich bereits auf der Rückreise nach Budapest. Am späten Abend des folgenden Tages wartete Lahousen am Budapester Südbahnhof auf das Eintreffen ihres Zuges. Er konnte sich aber nicht zeigen, da Leutnant S sie am Bahnhof erwartete. Beim Eintreffen in ihrem Hotelzimmer im Pester Carlton läutete das Telefon – es war Lahousen, der von einem Kaffeehaus gleich um die Ecke anrief. Seine hochwillkommene Mitteilung lautete, dass er auf sie bei dem Denkmal für Sandor Petöfi an dem kleinem Platz bei ihrem Hotel warten würde – ein ihr bestens bekannter Ort.299 Nach einer mehr als siebenmonatigen Trennung seit Mitte August 1939 waren die beiden Freunde sichtlich froh über ihr Wiedersehen, insbesondere da es im neutralen Ungarn stattfand. Ihr lang ersehntes Wiedersehen fand mitten im »Sitzkrieg« an der Westfront statt. Das Wetter Ende Februar gestattete keine ausgedehnten Spaziergänge. Lahousen geleitete MAD zu einem in der Nähe befindlichen kleinen Kaffeehaus, wo sie ungestört würden reden können. Es gab viel zu besprechen  : zunächst einmal in Form einer knappen Schilderung von MADs Tarnung durch das Reisebüro sowie ihrer jüngsten Reise nach Italien. – 210 –

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Sie beabsichtigte jetzt, in Budapest zu bleiben, was Lahousen in Anbetracht seiner häufigen Balkanreisen via Budapest sehr angenehm war. Lahousen gab dann einen Überblick seiner Aktivitäten während der ersten sechs Kriegsmonate und der Angriffspläne der NS-Führung  ; MAD folgte dem mit großer Aufmerksamkeit. Lahousens Schilderungen waren zwar in der Regel ebenso prägnant wie auf das Wesentliche zugespitzt, dennoch nahmen seine Berichte mehrere Stunden in Anspruch und waren erst um 2  Uhr morgens beendet. MAD war sich bewusst, dass vor ihr ein langer Tag mit nur wenig Schlaf lag, denn sie wollte noch am folgenden Morgen eine Zusammenfassung von Lahousens Mitteilungen nach Paris durchgeben. Zu Beginn schilderte Lahousen kurz den Polenfeldzug. Er begann mit der Erwähnung von Himmlers Aufforderung an die »Abwehr«, mehr als 125 polnische Armeeuniformen mit falschen Identifikationen zu liefern. Die Absicht dieses Täuschungsunternehmens lief darauf hinaus, den Polen die Schuld am Kriegsausbruch zuzuschieben, indem ein Überfall auf den deutschen Rundfunksender in Gleiwitz und zwei weitere Objekte auf deutschem Boden fingiert wurde. Alle noch lebenden Beteiligten beider Seiten an diesem Unternehmen wurden später von der SS ermordet, um Stillschweigen über die ganze Angelegenheit zu gewährleisten.300 Danach schilderte Lahousen den Mordanschlag auf Hitler am 8.  November 1939 im Münchner Bürgerbräukeller bei einem Treffen der »Alten Kämpfer«  ; er hielt den Anschlag für einen weiteren Trick der SS. In diesem Punkt ging Lahousen in die Irre  : Der wirkliche Attentäter war ein gewisser Georg Elser, ein linksorientierter Einzelgänger, der dem Ziel, Hitler zu töten, am nächsten kam. Der Fehlschlag von Elsers Attentat ging nur darauf zurück, dass Hitler, anstatt seine übliche vierstündige Rede zu halten, die Zusammenkunft frühzeitig verließ, um einen Zug nach Berlin zu erreichen, denn die Wetteraussichten für den folgenden Morgen waren überaus schlecht.301 Daraufhin widmete sich Lahousen dem aus nachrichtendienstlicher Perspektive interessantesten Gegenstand, dem unter dem Decknamen »Unternehmen Weserübung« geplanten deutschen Angriff auf Dänemark und Norwegen. Lahousen war sich sicher, dass im Frühling 1940 der Krieg im Westen mit einem Großangriff der Wehrmacht zuerst auf Dänemark und unmittelbar darauf auf Norwegen eröffnet werden würde. Im Dezember 1939 hatte Hitler die Vorbereitung dieser Angriffsplanungen angeordnet. Deren Zweck bestand darin, die alliierte Blockade aufzubrechen, den Alliierten den Zugriff auf die Ostsee zu verwehren und die weitere Belieferung mit schwedischem Eisenerz im Kriegsfall sicherzustellen. Am 19. Februar 1940 befahl Hitler eine Intensivierung der – 211 –

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Angriffsplanungen  ; der Überfall sollte jetzt während der ersten April-Tage 1940 beginnen. Sowohl Lahousen als auch MAD hielten diesen Plan für »verrückt« und Canaris schätzte jede Dislokation deutscher Truppen in Skandinavien als eine »riskante Unternehmung« ein.302 Anfänglich war der französische Nachrichtendienst von den durch MAD übermittelten Nachrichten Lahousens keineswegs überzeugt. MAD verfasste einen Bericht über das »Unternehmen Weserübung«, den Leutnant S persönlich auf der üblichen Route von der französischen Gesandtschaft in Budapest durch das noch immer neutrale Italien nach Paris überbrachte. Darüber hinaus sandte MAD ein verschlüsseltes Telegramm an Oberst Rivet, in dem sie die Meldungen des reaktivierten Spions Lahousen zusammenfasste. Am 11. März empfing sie einen schockierenden Brief ihres Führungsoffiziers, Hauptmann Navarre. Darin brachte dieser ohne Umschweife zum Ausdruck, dass der französische Nachrichtendienst Lahousens Meldungen für komplett »unglaubwürdig« hielt. Obendrein unterstellte das Büro Lahousen, dass er vermutlich die Seiten gewechselt habe und nun, in Erfüllung seiner Pflicht als deutscher Offizier, versuche, durch MAD die Alliierten in die Irre zu führen. Auf diesen verblüffenden Brief reagierte MAD, indem sie sofort ihre Rückreise nach Paris per Eisenbahn in Angriff nahm, um dort den Ansichten ihrer Vorgesetzten entgegenzutreten.303 Am folgenden Tag, dem 12. März, bestieg sie in Budapest einen Zug und traf am 14. März um 11 Uhr in Paris ein. Hauptmann Navarre holte sie am Bahnhof Saint-Lazare ab und begleitete sie ins Hotel Terminus, wo sie sich für das für 13 Uhr angesetzte Mittagessen frisch machte. Navarre holte sie wieder im Hotel ab und begleitete sie zum Mittagessen mit Oberst Rivet im Restaurant RondPoint auf den Champs Elysées. Schon während sie das Essen bestellte, bestätigte sie die Zuverlässigkeit von Lahousens Meldungen. Sie bot an, ihre Hand dafür ins Feuer zu legen, aber auch das konnte ihre Gesprächspartner nicht überzeugen. Hitlers Vorhaben einer Invasion in Dänemark und Norwegen überstieg jegliche Fantasie und widersprach obendrein jeglicher Logik. Während des Essens verhielt sich Hauptmann Navarre still und ungläubig. Gegen Ende gab MAD bekannt, sie wolle nicht nach Budapest zurückkehren, um dort ihren Dienst wieder anzutreten. Erst auf diese Drohung hin gewann sie die Aufmerksamkeit ihrer Gesprächspartner, denn diese konnten nicht riskieren, ihre dortige wertvollste Agentin zu verlieren. Oberst Rivet beruhigte sie schließlich  ; er konnte sie auch überreden, nach einem mehrtägigen Urlaub nach Ungarn zurückzukehren.304 – 212 –

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Der wie immer verlässliche Hauptmann Navarre holte sie am 19.  März in ihrem Hotel ab und begleitete sie zum Simplon-Express. Ihr Kopf war voller Sorgen über die Effizienz des französischen Geheimdienstes, als sie einige Tage später zu den profanen Pflichten in ihrem Fremdenverkehrsbüro zurückkehrte. Am frühen Morgen des 9. April 1940 begann plangemäß der deutsche Angriff auf Dänemark und – mit nur geringer Verzögerung – auf Norwegen. Beide Invasionen verliefen genau so, wie von Lahousen angekündigt. Der französische Nachrichtendienst machte seinen Lapsus bald wett und schätzte die Effizienz und die Präzision seines Spionagenetzwerks dann wieder höher ein. Sowohl MAD als auch Lahousen wurden, was ihre Berichterstattung betraf, vollständig rehabilitiert. Es oblag Hauptmann Navarre, einen Entschuldigungsbrief zu schrei­ben, worin er MAD bat, über Lahousen weiterhin erstrangige nachrichtendienstliche Informationen zu beschaffen  ; Lahousen galt nun (wieder) als ein vollkommen vertrauenswürdiger, erstklassiger Spion, platziert an einer strategisch wichtigen Stelle. Da Lahousen in den Feldzug gegen Dänemark und Norwegen stark involviert war, konnten der Spion und seine Führungsoffizierin sich im April 1940 nicht persönlich treffen. Obwohl in Norwegen sehr in Anspruch genommen, schaffte es Lahousen jedoch, unvermindert zutreffende und strategisch wichtige Nachrichten an MAD zu übermitteln, wobei er Postkarten mit einem nur den beiden Partnern bekannten Code verwendete. Mitte April 1940 informierte er sie über konkrete Vorbereitungen für einen über die Niederlande geführten deutschen Angriff auf Frankreich. Anfang Mai ließ er MAD wissen, das genaue Datum für den deutschen Angriff auf Belgien, die Niederlande und Luxemburg sei auf den 10. Mai festgesetzt worden  ; dieser Termin sollte nicht mehr verschoben werden. MAD gab die Warnung sofort an ihre Vorgesetzten im französischen Nachrichtendienst weiter.305 In ihren Memoiren äußerte sich MAD nicht über den Empfang oder die Weitergabe von taktischen Nachrichten über die tatsächliche Gefechtsgliederung der Wehrmacht beim Angriff am 10. Mai 1940  ; sie enthüllt auch nichts über die verdeckte Aufstellung von sieben der zehn deutschen Panzer-Divisionen in den Ardennen. Hätten die Alliierten diese Aufstellung vorweg gekannt, wäre das Ergebnis der folgenden Kämpfe kaum ein anderes gewesen. Die deutschen Panzer waren in Panzer-Divisionen zusammengefasst, während die britischen Tanks weitgehend auf die rund zwölf Divisionen des Britischen Expeditionskorps mit seinen rund 225.000 Soldaten verteilt waren. In ähnlicher Weise hatten die Franzosen ihre Panzer auf die erste französische Armeegruppe auf– 213 –

Die Spionage-Partnerschaft von Lahousen und MAD

geteilt, die Belgien verteidigen sollte. Zahlenmäßig übertrafen die britischen und französischen Truppen die deutschen Verbände, und auch ihre Panzer waren den deutschen zahlenmäßig und qualitativ überlegen. Der militärische Erfolg des Angriffs der Wehrmacht vom 10. Mai 1940 war überwältigend, und er trat sofort ein  ; es misslang lediglich, die gesamten alliierten Verbände, die Ende Mai nach dem deutschen Vorstoß bis nach Abbeville an der Kanalküste eingekesselt waren, gefangen zu nehmen. Der einzige, allerdings auch sehr bedeutsame alliierte Erfolg bestand in der sicheren Evakuierung von 338.226 ihrer Soldaten (zwei Drittel davon Briten) aus dem Kessel von Dünkirchen durch die Royal Navy und zivile Schiffe. Die Hälfte der französischen Panzerverbände wurde in Belgien zerschlagen, die Fahrzeuge wurden zerstört oder von den Deutschen erbeutet. Die BEF mussten bei der Evakuierung aus Dünkirchen ebenfalls ihre gesamte Ausrüstung einschließlich Panzer und Waffen zurücklassen.306 Binnen weniger Tage nach Angriffsbeginn am 10.  Mai entfalteten die Erfolge der Wehrmacht eine niederschmetternde Wirkung auf die Moral der französischen Armee und der Regierung. Es musste eine neue Regierung gebildet werden, die Deutschland um einen Waffenstillstand ersuchte. Am 16. Juni wurde Marschall Pétain zum Regierungschef ernannt. Zwar sprach Churchill auf Betreiben von General Charles de Gaulle noch am selben Tag von der »unauflösbaren Verbindung« zwischen Großbritannien und Frankreich, dies hatte aber keine Konsequenzen, denn Pétain ersuchte am 19. Juni die Deutschen um einen Waffenstillstand. Dieser trat am 25.  Juni in Kraft. Innerhalb von sechs Wochen nach Beginn des Angriffs am 10. Mai hatten die Alliierten verheerende Schläge hinnehmen müssen  ; Deutschland schien den Krieg in Europa gewonnen zu haben. Einem Sieg entgegen stand einzig und allein Großbritannien, das unter seinem neuen Premierminister, Winston Churchill, zur Fortsetzung des Krieges entschlossen war. Gemäß den Waffenstillstandsbedingungen verlegte die neue französische Regierung ihren Sitz nach Vichy  ; sowohl im besetzten Teil Frankreichs als auch in Vichy-Frankreich unterstützten französische Kollaborateure die Sieger dabei, dem französischen Volk ihren Willen aufzuzwingen.307 Auch auf den französischen Nachrichtendienst hatte der Waffenstillstand katastrophale Auswirkungen. Die Zentrale des Dienstes konnte nicht im von den Deutschen besetzten Paris bzw. überhaupt im besetzten Landesteil bleiben. Die verantwortlichen Offiziere entschieden sich rasch für eine Verlegung ins unbesetzte Gebiet, und zwar in die Auvergne in der Nähe von Vichy, dem neuen – 214 –

Die Spionage-Partnerschaft von Lahousen und MAD

Regierungssitz. Die Wahl fiel auf das Städtchen Royat, ca. 15  Kilometer südwestlich von Vichy. Für eine kurze Zeit litt der Nachrichtendienst unter dem Streit zwischen den Mitarbeitern, die teils mit Pétain, teils mit de Gaulle sympathisierten, bis sich die zweite Gruppe durchsetzte. Die meisten Mitarbeiter, auch Oberst Rivet, wurden rasch überzeugte Gaullisten. In ihren Erinnerungen beschrieb MAD ihre Stellung in Budapest nach der Niederlage Frankreichs als prekär. Die Anwesenheit ihres minderjährigen Sohnes bot immerhin etwas Trost. Bald schon schickte MAD wieder Berichte an ihre Vorgesetzten, nun an den neuen Zielort Royat. Für sie wurde es nun auch Zeit, sich bei der französischen Gesandtschaft in Budapest eine neue Tarnung zuzulegen. Hatte sie bislang das französische Reisebüro in Budapest und danach eine französische Propaganda-Dienststelle geleitet, waren mittlerweile beide Büros geschlossen worden. Im Herbst 1940 benötigte MAD mithin eine neue Tarnung, die ihr auch diplomatische Immunität verschaffen sollte. Auf Vorschlag von Oberst Rivet beschloss die französische Gesandtschaft in Budapest, dass der dortige Handelsattaché eine Hilfskraft in Gestalt eines Vertreters der französischen Staatsbahnen benötige.308 Für diesen Posten wurde MAD namhaft gemacht  ; die Beschaffung der nötigen Papiere dauerte einige Monate. Die Gesandtschaft erneuerte ihren französischen Reisepass, die erforderlichen ungarischen Visa wurden eingeholt und in den neuen Pass gestempelt. Nun konnte MAD ihre Tätigkeit in ihrem neuen Büro in der Gesandtschaft fortsetzen und für ihre Vorgesetzten in Royat nachrichtendienstliche Berichte, die auf Informationen Lahousens basierten, verfassen. Besonders erfreulich war der Umstand, dass ihr neuer Posten mit diplomatischer Immunität verbunden war. Ihr war allerdings klar, dass im Verkehr mit NS-Deutschland jeder Verweis auf diese Immunität einzig und allein von der Anwendung des Grundsatzes der Gegenseitigkeit zwischen dem eingeschränkt souveränen Ungarn und dem bestenfalls halb-souveränen Vichy-Frankreich abhing. Die formellen Beziehungen zwischen Frankreich und Ungarn waren weiterhin friedlicher Natur, wenngleich ab Mitte 1940 der deutsche Einfluss zunahm. NS-Deutschland hatte zuerst eine Landung in Großbritannien und die Eroberung der Insel angestrebt, doch im Sommer und Herbst 1940 gewann die Royal Air Force durch ihren heroischen Widerstand die Luftschlacht um England gegen die deutsche Luftwaffe. Hitler wandte seine Aufmerksamkeit daraufhin dem Osten zu, wobei er anfangs diplomatische Mittel einsetzte. Durch den Wiener Schiedsspruch vom 30.  August 1940 erhielt Ungarn das nördliche Transsylvanien zurück und am 7. September bekam Bulgarien die südliche Do– 215 –

Die Spionage-Partnerschaft von Lahousen und MAD

brudscha. Am 20. November 1940 traten die Regierungen Ungarns und Rumäniens der Achse bei  ; Bulgarien folgte im März 1941. Die Entscheidung der Regierung Jugoslawiens vom 25.  März 1941, der Achse beizutreten, löste wenige Tage darauf einen antimonarchistischen Staatsstreich aus, in dessen Folge der Beitrittsvertrag widerrufen wurde. Nun schwenkte Hitler blitzartig vom Einsatz diplomatischer Mittel auf militärische um  ; er befahl der Wehrmacht den Angriff auf Jugoslawien und Griechenland. MAD konnte in ihrer neuen Stellung weiter der Führungsoffizier des Spions Lahousen sein. Er schaffte es, die Tage vom 28. bis 31. März 1941 in Budapest zu verbringen, und hatte viel Zeit für private Treffen mit MAD. Nach Wiederaufnahme der Beziehung zwischen den beiden setzte ein neuer Strom nachrichtendienstlicher Meldungen von Lahousen zu MAD ein und hielt zumindest für einige Monate an. Mit Wirkung von Anfang August 1943 suchte Lahousen um sein Ausscheiden aus der »Abwehr« an  ; er wurde für seine neue Verwendung als Regiments-Kommandeur an der Ostfront geschult. Schon zuvor hatte Lahousen arrangiert, dass sein Jahrgangskamerad von der Militärakademie und lebenslanger Freund, Major Kurt Fechner, ihn unter dem Decknamen »Friedrich« als Kontaktmann für MAD ersetzen würde. Mit Unterstützung von Admiral Canaris hatte Lahousen faktisch Fechner gerettet, indem er ihm Aufgaben außerhalb Deutschlands (wo Fechner wegen seiner jüdischen Großmutter Schwierigkeiten bekommen konnte) zuwies. Fechner wurde diversen Dienststellen der »Abwehr«, vor allem jener in Sofia, zugeteilt. Bulgarien war damals mit dem »Dritten Reich« verbündet  ; seine dortige Stellung erlaubte Fechner häufiges Reisen in nachrichtendienstlichen Angelegenheiten nach oder durch Budapest, in der Regel mindestens ein- oder zweimal pro Monat. Nachdem MAD eine zehntägige ärztliche Behandlung in Budapest erfolgreich beendet hatte, besuchte sie Fechner im August 1944 das letzte Mal in Balatonfüred am Plattensee.309 Lahousen war Fechners wichtigste geheimdienstliche Quelle  ; Fechner gab die Meldungen dann an MAD weiter. Noch in seiner Berliner Zeit hatte Lahousen dafür gesorgt, dass mehrere Angehörige seines persönlichen Stabes in einige der freundschaftlichen Kontakte zu MADs Familie eingebunden wurden. Beispielsweise waren sein Adjutant, Hauptmann Wolfgang Abshagen, und seine persönliche Sekretärin, Frau Inge Haag (eine geborene Abshagen), angewiesen, während Lahousens Abwesenheit Korrespondenz an MAD weiterzuleiten, die von ihrer Familie an sie geschickt worden war.310 Ab und zu übermittelte Lahousen seiner Kollegin eine als nötig erachtete Warnung vor den Gegenspionage-Aktivitäten der Budapester Abwehr-Dienst– 216 –

Die Spionage-Partnerschaft von Lahousen und MAD

stelle (Ast Budapest) unter Leitung von Oberstleutnant Pfannenstiel.311 Anfang August 1941 hatte die Ast Budapest Madame Madeleine Bihet-Richou nicht nur als »Vertrauensperson« des französischen Nachrichtendienstes identifiziert, sondern auch als Gaullistin. Diese geheime Information hatte sich Lahousen im Spätsommer 1941 bei einer seiner Inspektionsreisen in die ungarische Hauptstadt beschafft. Postwendend setzte er MAD von dieser drohenden Gefahr in Kenntnis und wies sie an, bei ihren Kontakten zu sämtlichen Mitarbeitern der »Abwehr« (ausgenommen Major Fechner, Lahousens Adjutant Abshagen und die Sekretärin Frau Haag) außerordentlich vorsichtig zu sein. Lahousen ließ MAD wissen, dass viele der jüngeren Abwehr-Offiziere in der Tat schon früh durch die NS-Ideologie infiziert worden waren. Bei irgendwelchen Aktivitäten des Widerstandes konnte solchen Offizieren kein Vertrauen geschenkt werden  ; von ihnen war vielmehr zu erwarten, dass sie jede als feindlicher Agent verdächtige Person rücksichtslos verfolgen würden. In weiterer Folge war MAD eifrig darum bemüht, jegliches öffentliches Auftreten, das über ihre Aufgaben bei der Gesandtschaft hinausging, zu vermeiden. In der ersten Kriegsphase erstellten Lahousen und sein Führungsoffizier MAD zwei überaus wichtige und miteinander zusammenhängende strategische Geheimdienstberichte. Diese Meldungen zu dem abgeblasenen »Unternehmen Seelöwe« (die Invasion Großbritanniens) und die Planung des »Unternehmens Barbarossa« (der Angriff auf die Sowjetunion) verschafften den Alliierten frühzeitig Kenntnis über fundamentale Änderungen der gegnerischen Angriffspläne. »Unternehmen Seelöwe«, von Hitler am 16.  Juli 1940 angeordnet, war der Deckname für die geplante Landung in Großbritannien aus der Luft und von See aus, nachdem die Luftwaffe die totale Luftherrschaft errungen haben würde. Der eigentlichen Invasion sollten heftige Luftangriffe auf die Infrastruktur der Royal Air Force vorausgehen  ; daraus entwickelte sich die Luftschlacht um England. Während mehrmonatiger Kämpfe fügte das Fighter Command der Royal Air Force, welches das kürzlich erfundene Radar nutzen konnte, der Luftwaffe schwere Verluste zu. Im Herbst 1940 überdachte Hitler seine Pläne einer Invasion Großbritanniens, und Anfang 1941 befahl er definitiv die Aufgabe von »Seelöwe«. Eine Meldung hierüber ging von Lahousen zu MAD und von ihr weiter nach Royat. Diese vertrauenswürdige Nachricht gestattete es den Briten, den Schwerpunkt ihrer Luftrüstung von Abfangjägern auf Bomber und Langstreckenjäger zu verlagern. Bis zum Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 kämpfte Großbritannien im Westen immer noch allein gegen Hitler, der sich rühmen konnte, den Krieg in Europa bis dahin gewonnen zu haben. – 217 –

Die Spionage-Partnerschaft von Lahousen und MAD

Dennoch blieb Hitler ein ruheloser, um höchste Einsätze wettender Spieler, stets auf neue Herausforderungen bedacht. Als er sich im Spätjahr 1940 vom Gegner jenseits des Kanals allmählich abwandte, wies er seine Planungsstäbe an, für das kommende Frühjahr einen Überfall auf seinen Verbündeten während des Polenfeldzugs, die Sowjetunion, vorzubereiten. Der Operationsplan der Wehrmacht trug zuerst den Decknamen »Fritz«. In seiner Weisung Nr.  21 vom 18.  Dezember 1940 ließ Hitler diesen Namen fallen und ersetzte ihn durch »Unternehmen Barbarossa«  ; ein deutscher Kaiser des 12.  Jahrhunderts stand hierfür Pate.312 Zum Leidwesen Hitlers fand dann aber in Belgrad am 26. und 27. März 1941 ein Staatsstreich statt, und die neue Regierung widerrief umgehend den Beitritt des Landes zur Achse vom 25. März. Hitler tobte und befahl den Angriff auf Jugoslawien. Zu dieser Zeit befand sich MAD in Budapest, wo sie den Durchmarsch deutscher Truppen beobachtete, der 48 Stunden dauerte.313 Sie hielt fest, die deutschen Verbände wären schneller in den Kampf gekommen, hätten sie die Stadt umgangen. Die Deutschen zwangen Ungarn, sich dem Krieg gegen Jugoslawien und Griechenland anzuschließen  ; aus diesem Grund verübte der ungarische Ministerpräsident Pal Teleki Selbstmord. Zwischen dem 6. und dem 13.  April bombardierte die Luftwaffe das unverteidigte Belgrad, was Zehntausenden Zivilisten das Leben kostete. Am folgenden Tag kapitulierte Jugoslawien. Die Wehrmacht setzte die Operationen gegen Griechenland fort  ; Athen fiel am 27.  April. Bis zum Abschluss des gesamten Feldzugs gegen Jugoslawien und Griechenland vergingen beinahe sechs Wochen  ; beide Länder wurden von Truppen der Achse besetzt. In diesem Feldzug kamen zahlreiche deutsche Verbände, die für den Angriff auf die Sowjetunion vorgesehen waren, zum Einsatz, sodass der Überfall im Osten bis zum 22. Juni verschoben werden musste. Neuerlich beschaffte die Spionage-Partnerschaft Oberst Rivet absolut zuverlässige und frühzeitige Nachrichten über den für das Frühjahr 1941 geplanten Angriff. Das Problem lag also nicht in der Vertrauenswürdigkeit dieser Meldungen oder in deren rechtzeitiger Beschaffung, sondern in der Unfähigkeit der Sowjetführung, das Offensichtliche zu glauben  : dass Hitler, ihr formeller Verbündeter, wirklich einen Überfall auf die UdSSR planen könnte, da er entschlossen war, den Kommunismus vom Angesicht der Erde verschwinden zu lassen. Als Stalin sich wirklich mit dem Angriff konfrontiert sah, reagierte er zunächst unentschlossen, proklamierte dann aber den »Großen Vaterländischen Krieg«, der die Völker der Sowjetunion einte. Stalin befahl auch die Massenproduktion von Kriegsmaterial in Fabriken, die man hinter den Ural verlegt hatte.314 – 218 –

Die Spionage-Partnerschaft von Lahousen und MAD

Nach 1943, als der Krieg an der Ostfront und in Italien seinen Zenit erreicht hatte, konnte die Spionage-Partnerschaft zwischen Lahousen und MAD nicht fortgesetzt werden. Lahousen hatte die »Abwehr« verlassen und diente als Regiments-Kommandeur an der Ostfront. Im Februar 1944 befahl Hitler die Auflösung der »Abwehr« und die Übertragung ihrer Aufgaben an SS-Gruppenführer Walter Schellenberg im RSHA. Nach dem Anschlag auf Hitler vom 20. Juli 1944 ließen Himmler und Kaltenbrunner alle führenden Abwehr-Offiziere verhaften  ; dabei übersahen sie aus ungeklärten Gründen Lahousen, der am 19. Juli schwer verwundet worden war. MAD versteckte sich für den Rest des Krieges vor der ungarischen Polizei, später vor der Gestapo und danach vor dem KGB und der GRU. Die Sicherstellung des Überlebens ihrer eigenen Person und ihres Sohnes Pierre, der 1945 22  Jahre alt war, erforderte alle ihre Zeit, Energie und Talente. MADs Erinnerungen verzeichnen den letzten Besuch von »Friedrich« (Major Kurt Fechner) für Anfang September 1944 in Balatonfüred am Nordufer des Plattensees, ca. 120 Kilometer südwestlich von Budapest. »Friedrich« traf sie im Hotel Astoria, wo die französische Gesandtschaft ihre Büros in der Nähe einer Regierungsdienststelle für ausländische Diplomaten eingerichtet hatte. Fechner überbrachte MAD letzte Neuigkeiten von Lahousen, der sich von seiner Verwundung erholte, und von ihrer Familie. MAD und ihr Sohn waren bereits im April 1944 nach Balatonfüred gekommen, als die schweren alliierten Luftangriffe auf Budapest und dessen Umgebung einsetzten. Unmittelbar nach »Friedrichs« Besuch erfuhr MAD von deutschen Truppenkonzentrationen rund um den Plattensee. Sie schrieb, dass sämtliche Grenzen geschlossen worden seien, auch jene zum nahen Jugoslawien, wo ein intensiver werdender, brutaler Krieg zwischen drei Gruppen tobte  : den Kommunisten unter Josip Broz »Tito«, den serbischen Tschetniks und den prodeutschen kroatischen Ustascha-Verbänden. MAD musste nun entscheiden, wo sie und ihr Sohn das Eintreffen der Sowjets abwarten sollten. Am 15. September kehrte das gesamte Personal der französischen Gesandtschaft, auch MAD und ihr Sohn, nach Budapest zurück. Einige Tage später beschlagnahmten die Deutschen das Hotel Astoria zu ihrem alleinigen Gebrauch. Von da an bis zum 14. Mai 1945 durchlebte MAD acht Monate des Terrors, der Bombardierungen, Zerstörungen und Entbehrungen, wobei sie zuerst den Sicherheitskräften und Truppen der NS-Diktatur und später jenen der Sowjetunion ausweichen musste. Die zu Weihnachten 1944 einsetzende Schlacht um Budapest dauerte vier Monate. Ende Mai 1945 verließen die Überlebenden der französischen Gesandt– 219 –

Die Spionage-Partnerschaft von Lahousen und MAD

schaft Budapest in einem Güterzug bzw. in Viehwagons. Mit einigem Galgenhumor bezeichneten die Passagiere den Zug als den »Diplomaten-Express«. Nach zahlreichen und langwierigen Verzögerungen passierte der Zug die Grenze nach Rumänien, fuhr durch das bombardierte Ploesti und durch Bukarest, passierte weiters die Grenzen nach Bulgarien, Griechenland und der Türkei, bevor MAD in einem anderen, von den Türken gestellten Sonderzug Istanbul erreichte. Französische Nachrichtendienstoffiziere holten sie dort ab und wiesen ihr eine Aufgabe in der türkischen Hauptstadt Ankara zu. Am 26.  Juni 1945 verließen die französischen Überlebenden endlich Istanbul an Bord eines alten türkischen Frachters namens »Djumerit«, was so viel wie Freiheit bedeutet. Drei Wochen später trafen sie in Marseille ein. Die Partnerschaft nach dem Krieg (November 1945) Ende November 1945, unmittelbar vor Lahousens Auftritt als erster Zeuge der Anklage im Nürnberger Prozess, ereignete sich das wichtigste Nachkriegsereignis der Spionage-Partnerschaft. Lahousen und MAD hatten beide den Krieg überlebt, Lahousen mit einer schweren, an der Ostfront erlittenen Verwundung und MAD nach einer haarsträubenden Flucht vor Nationalsozialismus und Kommunismus. Die US Army nahm Lahousen gefangen und erkannte rasch seinen Wert als ein Offizier im Generalsrang. William J. Donovan vom Office of Strategic Services schlug dann dem amerikanischen Chefankläger, Justice Jackson, Lahousens Verwendung als Zeuge vor. Als Lahousen jedoch zur Vorbereitung seiner Aussage im Prozess in Nürnberg eintraf und vom Tod fast aller seiner einstigen Abwehr-Kameraden erfuhr, erlitt er einen Nervenzusammenbruch. Die Angehörigen der Anklagebehörde kontaktierten angesichts dieser Situation MAD, seine Spionage-Partnerin seit den gemeinsam verbrachten Tagen in Wien. Nach mehrjähriger Trennung brannte MAD darauf, Lahousen wiederzusehen. Keiner wusste vom Schicksal des anderen während der letzten Kriegsjahre. Nur ihr konnte es gelingen, Lahousen von seiner Fixierung auf seine toten bzw. ermordeten Kameraden abzulenken und ihm seine Verpflichtung, deren Tod im Krieg zu vergelten, in Erinnerung zu rufen. Das Wochenende vor Prozessbeginn nutzten die beiden zunächst dazu, sich zu erzählen, was seit der Trennung passiert war. Dann ging es an die Hauptaufgabe  : Lahousen in seiner Entschlossenheit zu bestärken, die Wahrheit über die – 220 –

Die Spionage-Partnerschaft von Lahousen und MAD

NS-Diktatur und deren Verbrechen auszusagen. Er sollte zugleich den Mut der Männer des Widerstandes schildern und deren Glauben bekunden, dass die Geschichte danach verlange, die Wahrheit über diesen Kampf zu hören. Diese Wahrheit bestand darin, der Welt zu zeigen, dass es vor und im Zweiten Weltkrieg in Deutschland einen aktiven Widerstand gegeben hatte  – in der »Abwehr« und anderswo  – und dass dieser Widerstand beachtliche Fortschritte dabei gemacht hatte, die beschädigte Ehre und das ramponierte Ansehen des deutschen Militärs – insbesondere seines wichtigsten Nachrichtendienstes, des Amtes Ausland/Abwehr – wiederherzustellen.315

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Kapitel 11

Hitler beseitigt die »Abwehr«

D

er intensive Machtkampf und die Rivalitäten zwischen der »Abwehr« und ihrem NS-Konkurrenten, dem Reichssicherheitshauptamt (RSHA), hielten den ganzen Krieg hindurch mit sich steigernder Intensität an  ; im Februar 1944 erreichte diese Auseinandersetzung ihren Höhepunkt. Die Anfang Juni 1942 erfolgte Ermordung von SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich in Prag durch zwei in Zivil gekleidete tschechische Soldaten, die ein britisches Flugzeug im Großraum Prag abgesetzt hatte, beendete die jahrzehntelange Freundschaft zwischen Canaris und Heydrich, seinem Nachbarn im Berliner Vorort Schlachtensee. Durch den Mordanschlag fiel somit der aus dieser Freundschaft resultierende, wie auch immer beschaffene Schutz des RSHA für Canaris persönlich und für die »Abwehr« im Allgemeinen weg. Im Februar 1944 lief der Krieg für die NS-Diktatur ausgesprochen schlecht, insbesondere an den Fronten im Osten und in Italien. Ein Jahr war seit der Kapitulation der deutschen 6. Armee, des deutschen XI. Armeekorps und weiterer Achsentruppen in Stalingrad Anfang Februar 1943 vergangen  ; im Sommer 1943 waren weitere Vorstöße der Roten Armee nach Westen, also in Richtung auf das Reich, erfolgt. Zur Vorbereitung der für Anfang Juli 1943 angesetzten deutschen Offensive »Operation Zitadelle« im Frontbogen von Kursk versammelte Hitler dort 70  Prozent der deutschen Panzer und 65  Prozent der Kampfflugzeuge, die an der gesamten Ostfront verfügbar waren. Die Rote Armee hielt in heftigen Kämpfen, zu denen die größte Panzerschlacht der Geschichte gehörte, dem deutschen Ansturm stand und trieb die deutschen Verbände einige Wochen danach sogar nach Westen zurück. Am 6. November 1943 eroberte die Rote Armee die ukrainische Hauptstadt Kiew zurück. Auch im Westen bereitete die erwartete alliierte Invasion Frankreichs durch Überquerung des Kanals dem deutschen Generalstab und den in Frankreich stationierten deutschen Verbänden viel Kopfzerbrechen. Die NS-Führung rekrutierte mehrere Millionen zusätzlicher, unbezahlter Zwangsarbeiter und sowjetischer Kriegsgefangener, die an der Kanalküste vom Pas de Calais im Osten bis nach Brest im Westen beim Bau von Befestigungen helfen mussten. Hitlers Gewohnheit, immer andere für deutsche militärische Rückschläge – auch für die durch seine eigenen Fehler verursachten  – verantwortlich zu ma– 222 –

Hitler beseitigt die »Abwehr«

chen, trat nun immer massiver zutage. Wiederholt enthob er Generäle, die seine expliziten Befehle nicht befolgt hatten, ihrer Posten und bestand auf der bedingungslosen Ausführung selbst undurchführbarer Befehle, wie hoch auch immer der menschliche und materielle Preis dafür sein mochte. Während der letzten Kriegsjahre untersagte Hitler seinen Truppen immer wieder jeglichen Rückzug  ; sie sollten stattdessen an der Ostfront in sogenannten Festungen, die von der vorstoßenden Roten Armee eingeschlossen worden waren, bis zum letzten Mann weiterkämpfen. Abgesehen von der Schlacht um Stalingrad gibt es mehrere weitere Beispiele für diese Verteidigungsmethode Hitlers  : den Kessel von Budapest ab Ende Dezember 1944 sowie weitere Kessel in Ostpreußen. Hitler erließ allerdings keinen allgemeinen Befehl, überall an der Ostfront bis zum letzten Mann zu kämpfen. In zahlreichen Fällen, in denen deutsche Truppen durch die vorstürmende Rote Armee eingeschlossen wurden, wie etwa im ukrainischen Tscherkassy, konnten die eingekreisten Verbände erfolgreich aus den Kesseln ausbrechen. Gegen Ende des Jahres 1944 war Hitler von der Aussicht auf eine neuerliche Offensive gegen die US Army im Westen (Ardennenoffensive) wie besessen. Er opferte hierfür mehrere SS-Panzer-Divisionen, die zur Verteidigung der Ostgrenzen des Reiches gegen die Rote Armee dringend benötigt wurden. Hitler weigerte sich, die präzisen nachrichtendienstlichen Vorhersagen General Gehlens über die hohe Wahrscheinlichkeit weiterer sowjetischer Offensiven im Osten in Rechnung zu stellen. Er glaubte stattdessen, die sowjetischen Panzerverbände seien ernsthaft geschwächt und der Großteil ihrer Panzer sei schon in einem früheren Stadium des Krieges vernichtet worden. Diese Verluste hielt Hitler für unersetzbar. Gehlen schätzte hingegen die sowjetische Panzerfabrikation in den Anlagen jenseits des Urals auf mehr als 60.000 Stück des Modells T‑34.316 Die aus Hitlers Befehlen resultierenden hohen deutsche Verluste an Soldaten und Ausrüstung führten unweigerlich zu ernsthaften personellen Lücken bei den künftigen Kämpfen der Wehrmacht gegen die Westalliierten und die vorrückende Rote Armee, die durch die jährlichen Aushebungen großer Zahlen sowjetischer junger Männer und Frauen, welche mit Hass gegen die NSDiktatur erfüllt waren, verstärkt wurde. Im Laufe der Zeit wurde Hitlers äußerst störanfälliges Vertrauen in seinen wichtigsten militärischen Nachrichtendienst, die »Abwehr«, ernsthaft auf die Probe gestellt und dabei sukzessive verringert. Häufig war dies die Folge beabsichtigter oder unbeabsichtigter nachrichtendienstlicher Fehler der »Abwehr«. Es dauerte nicht lange, bis Hitlers früheres halbherziges Vertrauen von einem – 223 –

Hitler beseitigt die »Abwehr«

ausgeprägten Misstrauen ersetzt wurde. Fehlschläge der »Abwehr« lösten bei Hitler regelmäßig Wutanfälle aus, zum Beispiel nach dem Scheitern der »Operation Pastorius«, bei der im Frühjahr 1942 acht NS-Saboteure in Zivilkleidung in Long Island und Florida an Land gesetzt wurden. Lahousens Abwehr-Abteilung II hatte die Saboteure ausgebildet und ausgerüstet  ; sie sollten in den USA und hier vor allem in amerikanischen Aluminiumfabriken Explosionen auslösen. Die beiden nationalsozialistisch gesinnten Führer der zwei getrennt operierenden Teams hatten sich aber schon vorher dazu entschlossen, sich dem FBI zu stellen. In weiterer Folge wurde das ganze Team vor einem Militärgericht angeklagt und schuldig gesprochen  : Sechs Männer wurden hingerichtet und die beiden Anführer zu Haftstrafen verurteilt  ; sie wurden nach Kriegsende freigelassen.317 Im Januar 1944 erreichte Hitlers Wut einen neuen Höhepunkt  : Angeblich hatte Canaris ihm und den Stäben des OKW gemeldet, die Versammlung alliierter Schiffe im Hafen von Neapel werde von der »Abwehr« laufend überwacht  ; es bestehe keine Gefahr einer alliierten Landung weiter im Norden Italiens. Nur wenige Tage später setzten 300 alliierte Schiffe das alliierte VI.  Korps an der Küste bei Anzio, 50 Kilometer hinter den deutschen Linien, an Land. Nachdem britische und amerikanische Kräfte so im Raum Anzio Fuß gefasst hatten, fürchtete die Wehrmacht, die günstige strategische Position des VI. Korps würde ihm die rasche Einnahme von Rom ermöglichen. Anstatt aber anzugreifen, verwendete das Korps viel Energie und Zeit für den Ausbau seines Brückenkopfes, was den deutschen Verteidigern Gelegenheit zur Umgruppierung ihrer Verbände und zum Aufbau einer Abwehrlinie verschaffte. Erst beinahe sechs Monate später, Anfang Juni, wurde Rom von den Amerikanern besetzt. Es gab noch zahlreiche weitere (angebliche) nachrichtendienstliche Pannen der »Abwehr«, etwa den gescheiterten Plan eines Umsturzes in Afghanistan oder die Unfähigkeit, die beiden französischen Generäle Weygand und Giraud zu ermorden.318 Hitler war vollkommen klar, dass es in der Wehrmacht zumindest etliche Offiziere im Generalsrang gab, die sich selbst als überzeugte Nationalsozialisten betrachteten, dass aber in der »Abwehr« – wenn überhaupt – nur ganz wenige deklarierte Nazis in höheren Positionen zu finden waren. Im Vergleich zu den eher zurückhaltend und militärisch korrekt auftretenden höheren Offizieren der »Abwehr« verfügte die oberste Führung des RSHA, darunter Himmler, Heydrich und Kaltenbrunner, über den großen Vorteil des relativ mühelosen Zugangs zu Hitler persönlich und zu den anderen NS-Führern. Vielleicht hätte sich »Emil« (Hitler) mehr über die Loyalität aller seiner höheren Nachrichtendienst– 224 –

Hitler beseitigt die »Abwehr«

ler sorgen sollen. Erst gegen Jahresende 1944 erfuhr Hitler, dass sich unter den im Widerstand aktiven Personen auch ein hoher Funktionär des RSHA befand  : Arthur Nebe, Chef der Kriminalpolizei, die eine der sieben Ämter des RSHA bildete.319 Nach dem Fehlschlag des Attentats vom 20. Juli hatte sich Nebe in den Untergrund begeben  ; er entging monatelang seiner Verhaftung, bis er entdeckt und verhaftet wurde. Eine Freundin Nebes hatte ihn widerstrebend bei intensiven Gestapo-Verhören verraten. Die Folterung Nebes bereitete der Gestapo ein besonderes Vergnügen  ; er wurde dann vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und durch die Gestapo im März 1945 gehängt. Auf jeden Fall zwangen diverse gravierende, überaus beunruhigende Fälle des Überlaufens von Abwehr-Leuten des Istanbuler Büros (KO-Nebenstelle) zum britischen Nachrichtendienst im Februar 1944 Hitler zu sofortigem Handeln gegen die »Abwehr«. Es handelte sich um eine der exponiertesten Außenstellen der »Abwehr« in der damals neutralen Türkei, von wo aus die deutschen Interessen im Balkanraum wahrgenommen werden sollten. Ein von RSHA-Chef Kaltenbrunner unter dem Datum des 7. Februar Hitler vorgelegter Bericht bezeichnete die Vorgänge in Istanbul als ein »neuerliches Fiasko der Abwehr«. Gemeint war damit unter anderem das Überlaufen von Erich Maria Vermehren und seiner Frau Elisabeth zum britischen Nachrichtendienst SIS. Vermehren hatte zuvor als Berater des Leiters des Istanbuler Abwehr-Büros, Hauptmann Paul Leverkuehn, gedient. Insgesamt sollen nicht weniger als acht bisherige Agenten der »Abwehr« in der Türkei zum SIS übergelaufen sein  ; einige von ihnen setzten die Briten danach in ihrer Rundfunkpropaganda ein. Hitler war schon früher gegenüber Dr.  Leverkuehn misstrauisch geworden, da dieser in Istanbul freundliche Unterhaltungen mit Vertretern der USA, etwa dem früheren Gouverneur Pennsylvanias und Sonderbotschafter von Präsident Franklin Delano Roosevelt, George Earle, geführt hatte.320 Nach diesen Fällen des Überlaufens zum britischen Gegner entschied sich Hitler rasch dafür, künftig nur noch dem RSHA zu vertrauen. Ohne weiteres Zuwarten unterzeichnete er am 12. Februar 1944 einen knappen Führer-Befehl folgenden Wortlauts  : Befehl des Führers betreffend Auftrag an Himmler zur Schaffung eines einheitlichen geheimen Meldedienstes. Ich befehle  :

1. Es ist ein einheitlicher deutscher geheimer Meldedienst zu schaffen.

2. Mit der Führung dieses deutschen Meldedienstes beauftrage ich den Reichsführer SS [Heinrich Himmler].

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Hitler beseitigt die »Abwehr«

3. Soweit hierdurch der militärische Nachrichten- und Abwehrdienst berührt wird,

treffen der Reichsführer SS und der Chef OKW [Wilhelm Keitel] die notwendi-

gen Maßnahmen im beiderseitigen Einvernehmen.

gez.: Adolf Hitler321

Himmler und das RSHA begannen sofort und in großer Eile mit der Umsetzung dieses Befehls – sie fürchteten, Hitler könne es sich wieder anders überlegen. Die Aufgabe, beide Dienste miteinander zu verschmelzen, war jedoch kompliziert, denn Keitel sollte beteiligt werden, sofern es um Fragen des militärischen Nachrichtendienstes ging. Beispielsweise wurde der Abwehr-Dienststelle in Wien aufgetragen, ihre bisher eigenständigen Büros aufzugeben und in das Hotel Metropol umzuziehen, das die Gestapo seit dem »Anschluss« Österreichs im März 1938 okkupiert hatte. Von all dem waren kaum Aspekte des militärischen Nachrichtenwesens betroffen, denn die Wiener Abwehr-Dienststelle hatte sich vor allem mit der Gewinnung von Informationen über den österreichischen Widerstand und den kommunistischen Untergrund beschäftigt. Das RSHA befahl den zehn noch vorhandenen Offizieren dieser Wiener Dienststelle, alle ihre Akten und persönlichen Gegenstände vom zu schließenden Abwehr-Büro am Ring zu dem wenige Hundert Meter entfernten ehemaligen Hotel Metropol zu transferieren, das die Büros der Gestapo, deren Verhörund Folterräume sowie ein Gefängnis beherbergte  ; das Hotel befand sich damals am Morzinplatz, der nach dem Krieg in Leopold-Figl-Hof umbenannt wurde. In ihrer neuen Unterkunft im früheren Hotel Metropol fiel es den bisherigen Abwehr-Offizieren schwer, Distanz zu den dort vor sich gehenden Aktivitäten der Gestapo und anderer Dienststellen des RSHA zu wahren.322 Aufgrund seiner Verbindung mit den berüchtigten Verhören und Folterungen der Gestapo, aber auch wegen der schweren Beschädigung durch alliierte Bombenangriffe wurde das Gebäude nach der Einnahme Wiens durch die Rote Armee im Frühjahr 1945 abgerissen. Parallele Übernahmen früheren AbwehrPersonals in die Gestapo oder andere Zweige des RSHA fanden an zahlreichen weiteren Schauplätzen statt  – ausgenommen in Ländern wie der Türkei, bei denen ein hohes Risiko der Infiltration durch Doppelagenten bzw. des Überlaufens eigener Agenten bestand. Bei einigen Zweigen der »Abwehr«, insbesondere dem Amt Ausland, lief die Übernahme durch das RSHA verzögert ab. Ursprünglich war das RSHA lediglich an der Einverleibung einiger wichtiger Abteilungen der bisherigen »Abwehr« interessiert, insbesondere an Abteilung II (Sabotage und Zersetzung) und – 226 –

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an den Resten des Spezialverbandes Division Brandenburg.323 Himmler und Kaltenbrunner hatten aber überhaupt kein Interesse an der Amtsgruppe Ausland unter Vizeadmiral Leopold Bürkner. Abgesehen von sonstigen Auslandsaufgaben befasste sich diese Abteilung mit völkerrechtlichen Fragen. Der militärische Chefunterhändler, Generalfeldmarschall Keitel, wäre die ungeliebte Amtsgruppe Ausland gern losgeworden  ; er wollte aber die Division Brandenburg bei der Wehrmacht belassen, denn sie war von Abwehr-Offizieren, darunter von Lahousen als Leiter der Abteilung II, speziell ausgebildet worden. Freilich hatte der eklatante Mangel der Wehrmacht an Soldaten dazu geführt, dass die Division bei verschiedenen kritischen Anlässen für gewöhnliche Kampfeinsätze missbraucht wurde, da keine sonstigen Infanterieeinheiten zur Verfügung standen. Die oberste Spitze der »Abwehr«, angefangen von Admiral Canaris und seinem ständigen Stellvertreter Hans Oster (für den Hans von Dohnanyi arbeitete) über Oberst Georg Hansen (Nachfolger von Oberst Piekenbrock als Leiter von Abteilung I, Geheimer Meldedienst) bis zu Oberst Wessel von Freytag-Loringhoven (der Lahousen ersetzt hatte)  – sie alle befanden sich plötzlich auf der Wartebank und mussten auf weitere Verfügungen des RSHA warten. Mit Berufung auf die htsinnigen Aktivitäten von Dohnanyis hatte Keitel Oster befohlen, keine Verbindung mit sonstigen Abwehr-Offizieren aufzunehmen. Bis zu diesem Zeitpunkt verfügte das RSHA über keine echten Beweise für Hochverrat innerhalb des militärischen Widerstandes einschließlich der »Abwehr«. Im März 1943 entdeckte die Gestapo in Büros der »Abwehr« jedoch belastende Hinweise auf von Dohnanyis Widerstandsaktivitäten, in die auch Oster verwickelt war. Mit Fortschreiten der Untersuchungen der Gestapo wurden Oster und von Dohnanyi am 31. März 1943 von ihren Dienstpflichten enthoben. Nach seiner Amtsenthebung befand sich Admiral Canaris in einer überaus schwierigen Lage. Einer Quelle zufolge suchten Keitel und Jodl persönlich den Admiral Mitte März 1944 im Hauptquartier Maybach II in Zossen, südlich von Berlin, auf.324 Der Zweck des Besuchs bestand in einer Anweisung an den Admiral, sich auf der Burg Lauenstein bis zum Abschluss der Reorganisation durch Himmler und Keitel zur Verfügung zu halten. Canaris wurden nur wenige Stunden für die Räumung seines Büros zugebilligt. Er konnte sich nicht von seiner Familie verabschieden  ; dann packte er einen Koffer und machte seine beiden Dachshunde für die lange Reise nach Ostdeutschland bereit. Sein Fahrer Lüdecke chauffierte Canaris in seinem Mercedes-Dienstwagen nach Lauenstein, wo er de facto unter Hausarrest stand und von jeglichem Kontakt zu seinen – 227 –

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bisherigen höheren Abwehr-Mitarbeitern abgeschnitten war. In der Burg gingen diverse geheime Operationen der »Abwehr« vor sich, etwa das Fälschen von Pässen und Visa, die Herstellung unsichtbarer Tinte und sonstiger wichtiger Instrumente für das Spionage-Geschäft. Lauenstein stand unter dem Befehl von Oberst Albrecht Focke, einem der wenigen überzeugten Nationalsozialisten unter den Abwehr-Offizieren. Canaris fühlte sich von der gesamten Außenwelt, ja vom Kriegsgeschehen selbst abgeschnitten. Sogar nach einem Besuch seiner Frau Erika war er zutiefst deprimiert und vertrieb sich die Zeit durch Spielen mit seinen beiden Dachshunden, Sabine und Kaspar. Aber im Juni 1944 – der Frühling hatte gerade erst in diese bergige Gegend Einzug gehalten – traf eine wirklich überraschende Nachricht auf der Burg ein. Kommandant Focke überbrachte Canaris die Mitteilung, dass Hitler ihn plötzlich und in unerwarteter Weise zum Leiter des Sonderstabes Handelskrieg und Wirtschaftliche Kampfmaßnahmen (HWK) ernannt habe – dies war ein durchaus seltsamer Ausgedingeposten. Über Hitlers Motive rund um diese Ernennung kann man nur spekulieren. Wenigstens vorübergehend war Canaris jetzt wieder ein freier Mann  ; er brannte darauf, mit seinen beiden Dachshunden zu seiner Familie und seinem Heim in Schlachtensee zurückzukehren. Rasch packte Lüdecke alles zusammen und verlud es in den Mercedes. Am frühen Morgen des folgenden Tages fuhr er Canaris und die beiden Hunde zurück in die Betazeile 10 in Berlin-Schlachtensee.325 Am 1. Juli meldete sich Canaris bei der HWK-Dienststelle in Eiche bei Potsdam, eine halbe Stunde Fahrzeit mit dem Pkw von seinem Haus entfernt, zum Dienst. Angeblich langweilte sich Canaris rasch auf seinem neuen Posten. Aber kurz nach Mittag am Donnerstag, 20.  Juli, verübte Stauffenberg in der »Wolfsschanze« einen Mordanschlag auf Hitler, der das Geschick von Canaris und seiner Abwehr-Kameraden umgehend radikal verändern sollte – zu ihrem großen Nachteil. Nachdem sie im Februar 1944 ihre früheren Stellungen in der dann aufgelösten »Abwehr« an das RSHA verloren hatten, hatten die verbliebenen genauso wie die ausgeschiedenen höheren Abwehr-Offiziere für ihre Aktivitäten im Anti-Hitler-Widerstand Verhöre, Folterungen und Hinrichtungen durch das RSHA bzw. die Gestapo zu gewärtigen. Die Offiziere waren ihren langjährigen Konkurrenten praktisch vom 20.  Juli weg ausgeliefert, und dies sollte mindestens sieben weitere Monate, wenn nicht überhaupt bis zum Ende des Krieges, so bleiben. Darüber hinaus war die Gestapo nicht dazu befugt  – und sie tat es auch nicht –, vor gegenwärtigen oder künftigen Verfolgungen schützende Freibriefe für jene einstigen Abwehr-Mitarbeiter auszustellen, die – 228 –

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sich nicht am Widerstand gegen das »Dritte Reich« beteiligt hatten. Bis zur Kapitulation NS-Deutschlands am 8.  Mai 1945 spürte jeder Angehörige der nun offiziell verfemten »Abwehr« die Gefahr von Verhaftung und Verhören seitens der Gestapo, die mit den Mitgliedern ihres nachrichtendienstlichen Rivalen abrechnen wollte.

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Kapitel 12

Stauffenbergs Attentat und die Rache des RSHA

H

öhere Abwehr-Offiziere hatten im März 1943 eine bedeutende Rolle in jener Verschwörung gespielt, bei der eine getarnte Bombe, die wie ein aus zwei Flaschen Cointreau bestehendes Geschenk aussah, in Smolensk an Bord von Hitlers Flugzeug geschmuggelt wurde. Von Lahousen abgesehen, der die Bombenteile nach Smolensk gebracht hatte, gehörten zu den Verschwörern bei der dortigen nachrichtendienstlichen Konferenz der »Abwehr« auch Canaris, Piekenbrock, Oster und von Dohnanyi sowie eine beträchtliche Anzahl weiterer Offiziere, die sich unter dem Vorwand der besagten Konferenz mit Generalmajor von Tresckow dort versammelt hatten.326 Nachdem die Bombe nicht hochgegangen war, übernahm eine andere Gruppe von im militärischen Widerstand aktiven Offizieren die Aufgabe, weitere Mordanschläge auf die oberste Führung des »Dritten Reiches« zu planen und auszuführen. Hitler war mittlerweile noch öffentlichkeitsscheuer geworden  ; er verbrachte die meiste Zeit arbeitend in einem seiner mehr als zehn Hauptquartiere, die jeweils von Hunderten, wenn nicht Tausenden deutscher Soldaten bewacht wurden.327 Wenn man ab 1944 in eines dieser Hauptquartiere vordringen wollte, brauchte man einen höheren, dem Widerstand verbundenen Offizier, der über offiziellen und regelmäßigen Zutritt zu den Führerhauptquartieren bzw. zu den von Hitler persönlich geleiteten Besprechungen verfügte. Man musste nicht mehr nach einem geeigneten Mann suchen, denn es hatte sich bereits ein Freiwilliger gemeldet. Oberst i. G. Claus Graf von Stauffenberg hatte sich bei den Feldzügen gegen Polen und Frankreich bewährt. Während seines Einsatzes an der Ostfront kamen ihm dann Zweifel über das HitlerRegime. Trotz seiner schweren Kriegsverletzungen übernahm Stauffenberg in dem Plan zur Ermordung Hitlers sukzessive eine Doppelrolle. Er avancierte sowohl zum Chefplaner des Umsturzes als auch zum Hauptattentäter – zwei ebenso verschiedene wie schwierige Aufgaben, die jeweils unterschiedliche Fertigkeiten voraussetzten.328 Im Februar 1943 wurde Stauffenberg von der Ostfront zum Afrika-Korps versetzt  ; bei diesem diente er als Operationsoffizier im Stab der 10.  PanzerDivision. Am 7. April 1943 wurde er schwer verwundet, als ein britisches Jagdflugzeug bei Gafsa in Tunesien seinen Wagen angriff. Noch bevor er aus Afrika – 230 –

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abtransportiert wurde, mussten sein rechter Unterarm vom Ellbogen abwärts sowie der dritte und vierte Finger der linken Hand amputiert werden. Zudem verlor er sein stark beschädigtes linkes Auge. Stauffenberg verließ Tunesien in Richtung Italien auf einem der letzten Evakuierungsflüge vor Inkrafttreten der Kapitulation der 10. Panzer-Division gegenüber den Alliierten im Mai 1943. In weiterer Folge wurde er monatelang in einem großen Militärlazarett in München, nicht weit von seiner in Bamberg wohnenden, wachsenden Familie entfernt, behandelt.329 Wenngleich die Wunden verheilten, bedeutete der Verlust des rechten Unterarms sowie von zwei Fingern der linken Hand eine erhebliche Einschränkung von Stauffenbergs Fähigkeit, eine Bombe scharf zu machen und den lautlosen Zünder in Gang zu setzen. Am 1. Oktober 1943 war er so weit auskuriert, dass er seinen neuen Posten als Stabschef von General Friedrich Olbricht, Chef des Allgemeines Heeresamtes, antreten konnte. Hier wurde Stauffenberg auf die zunehmend wichtige Rolle des Ersatzheeres aufmerksam. Anfang Juli 1944 avancierte er dann zum Stabschef bei Generaloberst Friedrich Fromm, dem Befehlshaber des Ersatzheeres.330 Nach wie vor verließen sich die Verschwörer auf die Bestände an lautlosen britischen Zündern, die Lahousens Abwehr-Abteilung II verwahrte. Auf eigenen Wunsch wurde Lahousen Anfang August 1943 nach Absolvierung einer entsprechenden Ausbildung von der »Abwehr« als Kommandeur eines Regiments an die Ostfront versetzt. Sein Nachfolger als Chef von Abteilung  II wurde Oberst i. G. Freiherr Wessel von Freytag-Loringhoven. Canaris und andere höhere Abwehr-Offiziere weihten Freytag-Loringhoven zur Gänze in die geheimen, von Lahousen vor seinem Ausscheiden getroffenen Arrangements seiner Abteilung zur Abgabe lautloser Zünder an die Verschwörer ein. Zu diesen Vorbereitungen gehörte die zeitgerechte Übergabe solcher Zünder an Generalmajor von Tresckow in Berlin, einen der führenden Köpfe des militärischen Widerstandes. Im Laufe der Zeit gelangten diese Bombenbestandteile, die am 20. Juli 1944 wie auch schon bei früheren Gelegenheiten verwendet wurden, in die Hände von Stauffenberg.331 Die zunehmend kritische militärische Lage an der Ostfront wie auch die zu erwartende Invasion in Westeuropa hatten die Bedeutung des Ersatzheeres erhöht. Widerstandskreise entwarfen mit großer Sorgfalt Pläne für »Walküre«  – dies war in der offiziellen Lesart der Deckname für Vorbereitungen zur Bekämpfung ziviler Unruhen innerhalb von NS-Deutschland. Der Widerstand verwendete »Walküre« als einen zweiten, geheimen Decknamen für den geplanten Staatsstreich, der Hitler töten, das NS-Regime restlos beseitigen und eine – 231 –

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neue Regierung einsetzen sollte, die mit den Alliierten über eine Beendigung des Krieges verhandeln würde. Vor dem Anschlag vom 20. Juli boten sich Stauffenberg mindestens zwei Gelegenheiten, Hitler zu töten – beide Male im Verlauf von Besprechungen auf dem Berghof, Hitlers Hauptquartier in den Alpen bei Berchtesgaden. Am 6. und am 11.  Juli befand sich Stauffenberg zu Besprechungen auf dem »Berghof«  ; eine Bombe hatte er mitgebracht. Stauffenberg führte seine Pläne jedoch nicht aus, da Göring an keiner dieser Unterredungen teilnahm und Himmler am 11. Juli fehlte. Am 14. Juli verlegte Hitler sein Hauptquartier dann wieder in die »Wolfsschanze« bei Rastenburg. Schon am folgenden Tag, dem 15. Juli, hätte Stauffenberg seine dritte Chance gehabt  ; er fand aber nicht genug Zeit, die Bombe vor Beginn der Besprechung scharf zu machen. Jede dieser drei verpassten Gelegenheiten ließ Stauffenberg und seine Mitverschwörer erschöpft zurück, denn jedes Mal hatte Hochspannung geherrscht. Hinzu kam noch die Notwendigkeit, am frühen Morgen von Berlin nach Rastenburg und später am selben Tag wieder zurückzufliegen. Am Donnerstag, dem 20. Juli 1944, sollte sich die vierte Gelegenheit bieten. Am frühen Morgen des 20. Juli flogen Stauffenberg und sein Adjutant, Leutnant Werner von Haeften, an Bord einer Kuriermaschine vom Typ Heinkel He 111 von Berlin nach Rastenburg, wo sie irgendwann am mittleren Vormittag eintrafen. Ein auf sie wartender Wagen der Wehrmacht brachte sie dann vom Flugplatz zu der von 3.000 deutschen Soldaten bewachten »Wolfsschanze«. An diesem Tag herrschte extreme Hitze, und so wurde die Lagebesprechung von ihrem üblichen Ort, einem Betonbunker, bei dem die Wucht der Explosion im Inneren des Raumes zur Wirkung gekommen wäre, in einen anderen Besprechungsraum verlegt  ; dessen Fenster standen offen, sodass die Explosionswelle ins Freie entweichen konnte. Nach seiner Ankunft im Inneren des großen, inmitten der ostpreußischen Seen und Wälder errichteten Lagers, dessen Gelände den deutschen Kaisern früher als geheimer Rückzugsort und als Jagdrevier gedient hatte, betrat Stauffenberg eine Unterkunftsbaracke, um sich auf mögliche Fragen bei der Besprechung vorzubereiten. Hier platzierte er die Bomben in seiner Aktentasche  ; er hatte aber nur Zeit, eine der beiden Bomben scharf zu machen, bevor er zu der Besprechung gerufen wurde. Nach Betreten des Raumes stellte Stauffenberg die Aktentasche ganz nahe bei Hitler unter dem Tisch ab. Kurz danach entschuldigte er sich  ; er müsse ein Telefongespräch führen. Stauffenberg bemerkte daher nicht mehr, dass einer der anwesenden Offiziere die fragliche Aktentasche von Hitler weg und hinter ein massives hölzernes Tischbein verfrachtete. Dadurch wurde die Wirkung der Explosion von ihrem Ziel abgelenkt – 232 –

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und Hitler überlebte mit nur kleinen Verletzungen. Vier Anwesende wurden so schwer verwundet, dass sie im Lauf der folgenden Tage starben. Nahezu alle Übrigen, Keitel und Jodl eingeschlossen, erlitten unterschiedlich gravierende Verletzungen, in der Mehrzahl der Fälle zumindest geplatzte Trommelfelle. Kurz vor 13 Uhr hörte Stauffenberg die Explosion  ; zusammen mit der zweiten, nicht explodierten Bombe und seinem Adjutanten Leutnant von Haeften fuhr er in einem weiteren, bereitgestellten Wagen zum Flugplatz. Stauffenberg befahl Haeften, die Bombe in einem Augenblick, als der Fahrer abgelenkt war, in den Wald zu werfen. Beim Verlassen des Sperrkreises musste Stauffenberg gegenüber der Fragen stellenden Wache seinen Dienstgrad herauskehren  ; es gelang ihm aber, das Gelände zu verlassen und das Flugzeug zu erreichen, bevor irgendetwas gegen ihn unternommen werden konnte. Am späteren Nachmittag landete er in Berlin, und ein bereitstehender Wagen brachte die beiden Offiziere zur Zentrale des Ersatzheeres in der Bendlerstraße. Hier befand sich das Nervenzentrum des Putsches, und von hier aus schickten die Widerständler militärische Anweisungen quer durch Deutschland und das besetzte Europa, darunter in wichtige Städte wie Wien und Paris. Erst am frühen Abend erlangten die Verschwörer die Gewissheit, dass Hitler den Anschlag tatsächlich überlebt hatte. Stauffenbergs körperliche Behinderung, die das Scharfmachen der zweiten Bombe verhindert hatte, sowie der nicht einkalkulierbare Umstand, dass die Aktentasche hinter ein massives hölzernes Tischbein geschoben worden war, hatten Hitler höchstwahrscheinlich das Leben gerettet. Als der Umsturz zusammenbrach, besetzten rasch dem NS-Regime gegenüber loyale Truppen die Zentrale des Ersatzheeres und verhafteten die dort anwesenden Verschwörer. Generaloberst Fromm, den die Putschisten gegen 17  Uhr ihrerseits festgesetzt hatten, wurde von den hitlertreuen Einheiten befreit. Gegen 22 Uhr übernahm Fromm neuerlich den Befehl über das Ersatzheer und setzte kurzerhand ein Standgericht ein, das die sofortige Hinrichtung von vier an dem Umsturz beteiligten Offizieren im Innenhof des Bendlerblocks verfügte. Dies waren  – an erster Stelle  – Stauffenberg und sein Gehilfe von Haeften, General Friedrich Olbricht und Oberst Mertz von Quirnheim. Generaloberst Ludwig Beck wurde von Fromm gestattet, mit seiner Pistole Selbstmord zu begehen. Erst nach mehreren, von einer dritten Person abgegebenen Kopfschüssen war Beck tot.332 Im Lauf der Nacht, als die Nachrichtenverbindungen zur »Wolfsschanze« wieder funktionierten, sprach Hitler über den Rundfunk. Es ging ihm übrigens so gut, dass er seinen Gast Benito Mussolini, der am selben Nachmittag gegen – 233 –

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14.30  Uhr mit seinem Gefolge per Bahn eingetroffen war, empfangen konnte. Die Verschwörer hatten in wichtigen deutschen Städten wie auch in Städten in den besetzten Gebieten Militärverbände in Alarmbereitschaft versetzt. Noch am selben Tag befahl Hitler Himmler und Kaltenbrunner eine sofortige, gründliche Untersuchung des Mordanschlags. Die Führung des RSHA setzte zu diesem Zweck sogleich eine Sonderkommission ein, die alle Hintergründe des Widerstandes und seiner Versuche, die NS-Führung zu töten und selbst die Macht zu ergreifen, erforschen sollte. Schon am folgenden Tag  – Freitag, 21. Juli – nahm die Kommission ihre Arbeit auf. Sie gliederte sich bald in elf Gruppen mit mehr als 400 Mann Untersuchungspersonal, welche die Kriminalpolizei und die Gestapo hierfür abstellten.333 Anfang August 1943, als Lahousen die »Abwehr« verließ und als Regimentskommandeur an die Ostfront ging, wandelte sich die Spionage-Partnerschaft zwischen dem Spion Lahousen und seinem Führungsoffizier Madeleine BihetRichou grundlegend. Major Kurt Fechner, sein Jahrgangskamerad von der Militärakademie, ersetzte ihn unter dem Decknamen »Friedrich«. Fechner stellte den Kontakt zu MAD während eines Besuches in Budapest her  ; sie übte dort eine Tarnfunktion bei der französischen Gesandtschaft aus und führte nach wie vor ihren Decknamen MAD. Rund um Weihnachten 1944 war Budapest zur Gänze von der Roten Armee eingeschlossen, und inmitten des Überlebenskampfes der ganzen französischen Kolonie in Budapest blieb für SpionageAktivitäten kein Spielraum. Eine der letzten Aufgaben Lahousens bei der »Abwehr« bestand im Sommer 1943 darin, seinen Nachfolger als Chef der Abteilung II, Freiherr von FreytagLoringhoven, sowie Admiral Canaris am 29. Juli auf einer Reise nach Venedig zu begleiten  ; dort fanden Besprechungen mit dem Chef des italienischen Nachrichtendienstes, General Cesare Amé, statt. Die Gespräche drehten sich um das wahrscheinliche Ausscheiden Italiens aus dem Achsenbündnis, nachdem Mussolini am 25. Juli 1943 entmachtet worden war. Lahousen kehrte mit den beiden anderen am 31. Juli nach Berlin zurück  ; er nahm einen mehrwöchigen Urlaub und übersiedelte seine Gattin und den Hund Fely zurück nach Österreich, das damals noch als der Luftschutzkeller des »Dritten Reiches« galt. Am 1. August übergab Lahousen seine Dienstgeschäfte an Freytag-Loringhoven  ; er und Canaris flogen noch am selben Tag zu abschließenden Besprechungen in Hitlers Hauptquartier und kehrten am 3. August nach Berlin zurück.334 Während der Vorgänge des 20. Juli 1944 in der »Wolfsschanze«, in Berlin, in sonstigen größeren Städten in Deutschland und den besetzten Gebieten stand – 234 –

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Oberst Erwin Lahousen am Anfang einer längeren Erholung von schweren Verwundungen, die er kurz zuvor an der Ostfront davongetragen hatte.335 Nach einer mehrmonatigen Vertiefung seiner Ausbildung, die Ende August 1943 begonnen hatte, wurde Lahousen der Heeresgruppe Mitte an der Ostfront zugeteilt  ; er kam zuerst zum Grenadier-Regiment  96 und dann zum GrenadierRegiment  4 in der Gegend von Nevel im Großraum Pskov/Pleskau im nordwestlichen Russland, in der Nähe der heutigen Grenze zwischen Weißrussland und Russland. Mit Wirkung vom 2. April 1944 übernahm Lahousen das Kommando über das Jäger-Regiment  41 (L), das sich damals in Marnevo befand. Dieses Gebiet liegt ebenfalls im Großraum Pskov in Russland, nördlich von Nevel und direkt ostwärts der Grenze zu Lettland. Bald nach der alliierten Invasion in der Normandie am 6. Juni nahm die Rote Armee mit mehr als zwei Millionen Mann frischer Truppen, viele davon in asiatischen Teilen der Sowjet­ union aufgestellt, ihre Offensiven an der Ostfront wieder auf. Plötzlich war Deutschland mit heftigen Kämpfen an zwei Fronten konfrontiert  ; es fehlten ihm eindeutig die Menschenreserven, um die feindlichen Angriffe an diesen beiden Fronten abzuwehren. Gegen Mitte Juli 1944 traf eine Artilleriesalve der Roten Armee den Regimentsgefechtsstand in Marnevo, tötete den Funker und verwundete weitere Anwesende, unter ihnen Lahousen, schwer. Lahousens Männer trugen ihn querfeldein zu einem Verbandsplatz  ; später kam er in ein Feldlazarett und erhielt danach das Eiserne Kreuz I. Klasse. Mit Wirkung vom 1. Januar 1945 wurde Lahousen zum Generalmajor befördert. Seine langwierige Genesung stand erst an ihrem Anfang, und trotz intensiver Bemühungen war es ihm nicht mehr möglich, in der Wehrmacht weiter Dienst zu tun.336 Wie beinahe alle höheren Offiziere der Wehrmacht, insbesondere die Generalität, plante Lahousen während der ihm noch verbliebenen Dienstzeit seine Kapitulation gegenüber den britischen oder amerikanischen Truppen, die Deutschland aus westlicher Richtung angriffen. Aufgrund seiner familiären Beziehungen zu Wien, auf das die Rote Armee vorstieß, wollte er möglichst in Süddeutschland, also in der Nähe, bleiben, doch dies hing davon ab, in welchem Militärspital er weiter behandelt werden würde. Lahousen zog natürlich eine Gefangennahme durch die US Army bei Weitem vor. Als erfahrenem Nachrichtendienstoffizier war ihm das große Interesse der Briten an den Kontakten der »Abwehr« zur illegalen Irisch-Republikanischen Armee (IRA) vollkommen klar. Es gelang ihm, sich den Amerikanern zu ergeben. Freilich konnten die Amerikaner als getreue Verbündete das Ersuchen des britischen Nachrichtendienstes, – 235 –

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Lahousen nach seiner Zeugenaussage wochenlang in Bad Nenndorf, dem britischen Nachrichtenzentrum, zu verhören, nicht einfach zurückweisen. Folgt man seiner Familie, dann war Lahousens Internierung dort für ihn eine mehr als unangenehme Erfahrung.337 Rache des RSHA am Widerstand Bei der Aufnahme seiner tiefschürfenden, mit höchster Priorität versehenen Untersuchung des von Oberst Claus Stauffenberg unternommenen Mordanschlags sowie der gesamten gegen das »Dritte Reich« gerichteten Widerstandsbewegung verschwendete das RSHA keine Zeit. Die von Himmler geleitete Untersuchungskommission bedauerte die Exekutionen der vier Offiziere des Ersatzheeres sowie den Selbstmord von Generaloberst Beck in der Nacht vom 20. auf den 21. Juli im Bendlerblock  ; dies galt insbesondere für die Erschießung von Stauffenbergs und seines Adjutanten von Haeften, denn diese Hinrichtungen beraubten das RSHA und seine Untersuchungsorgane der Möglichkeit, die Ausführenden des Mordanschlags zu verhören bzw. sie durch Folter zu Aussagen zu zwingen. Das RSHA verfügte, dass die Untersuchungskommission über ihre Fortschritte täglich Bericht zu erstatten habe, der an Hitlers Sekretär Martin Bormann zu richten war. Offizieller Absender dieser Meldungen war Ernst Kaltenbrunner, und viele Einzelberichte tragen auch seine Unterschrift. Die täglich in drei Ausfertigungen erstellten ursprünglichen Meldungen wurden 1961 unter dem Titel »Spiegelbild einer Verschwörung. Die Opposition gegen Hitler und der Staatsstreich vom 20.  Juli 1944 in der SD-Berichterstattung. Geheime Dokumente des ehemaligen Reichssicherheitshauptamtes« ediert.338 Zwar wurden diese Rapporte unter dem Kopf von SS-Obergruppenführer Kaltenbrunner versandt, tatsächlich verfasste sie jedoch der SS-Obersturmbannführer von Kielpinski. Die erwähnte Edition der Meldungen umfasst den Zeitraum vom 21.  Juli bis 15.  Dezember 1944  ; einbezogen wurden auch Berichte über die Verhandlung des Volksgerichtshofs gegen den führenden Widerständler und ehemaligen Oberbürgermeister von Leipzig, Carl Friedrich Goerdeler. Als Präsident des Volksgerichtshofs amtierte der fanatische Nationalsozialist Roland Freisler. Hitler selbst hatte die Abwicklung dieser Prozesse vor dem Volksgerichtshof und nicht etwa vor einem Militärgericht angeordnet. Der erste von mehreren Prozessen gegen sieben höherrangige Offiziere sowie gegen Leutnant Peter von Yorck, einen Cousin und Bewunderer Stauffen– 236 –

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bergs, begann bereits am 7. August und wurde schon am folgenden Nachmittag beendet  – mit jener »blitzartigen Schnelligkeit«, die Hitler befohlen hatte.339 Auf Goebbels’ Anordnung wurden sämtliche Verhandlungen sowie die Erhängungen mittels Klaviersaiten an Fleischerhaken oder die Enthauptungen durch die Guillotine gefilmt. Die erste durch Hängen verwirklichte Rache des RSHA traf eine Gruppe von acht verurteilten Männern in der Nacht des 8. August. Zu ihr gehörten Generalfeldmarschall von Witzleben, Generaloberst Erich Hoepner, Generalmajor von Stieff, Generalleutnant von Haase, Oberstleutnant Bernardis, Hauptmann Klausing, Leutnant von Hagen und Leutnant Graf von Yorck.340 Noch bevor der erste Prozess mit derartiger Hast beendet war, setzte unter den Widerständlern eine Selbstmordserie ein. Als einer der Ersten beging am 21.  Juli Generalmajor Henning von Tresckow Selbstmord  : Er marschierte an der Ostfront ins Niemandsland und zündete eine Handgranate, die er an sein Kinn hielt. Wenig später, am 23. Juli, tötete sich Lahousens Nachfolger als Leiter der Abwehr-Abteilung II, Oberst Wessel Freiherr von Freytag-Loringhoven. Der Oberst war als deren Leiter zur Heerwesenabteilung des OKH versetzt worden, nachdem Hitler die »Abwehr« am 12. Februar 1944 faktisch aufgelöst hatte. Er erschoss sich im Hauptquartier des OKH. Um Folterung durch die Gestapo zu entgehen, nahmen sich zahlreiche weitere Offiziere vor ihrer Verhaftung durch die Gestapo – in wenigen Fällen sogar während der Gestapo-Haft – das Leben. Einigen führenden Köpfen des Widerstandes gelang es, wochenlang in den Untergrund abzutauchen, bevor sie verhaftet und in einem Eilverfahren vor dem Volksgerichtshof abgeurteilt wurden  ; fast immer folgte darauf binnen Stunden die Hinrichtung. Unter diesen Widerständlern befand sich Dr. Carl Goerdeler, der frühere Leipziger Oberbürgermeister, und Arthur Nebe, als Chef des Amtes Kriminalpolizei einer der führenden Männer des RSHA. Die von der Sonderkommission und aufgrund sonstiger Haftbefehle angeordneten Hinrichtungen betrafen mehr als 5.000 Menschen. Allein am 22. August führte die Gestapo in einer lange im Vorfeld geplanten Aktion, die ganz Deutschland erfasste, die Verhaftung von mehr als 5.000 Funktionären der früheren demokratischen Parteien durch  ; unter den Festgenommenen befanden sich auch Konrad Adenauer und Kurt Schuhmacher, die beide im Nachkriegs-Deutschland in führende Positionen aufsteigen sollten. Darüber hinaus wurden Tausende weitere Verdächtige verhaftet, darunter die Familienangehörigen der eigentlichen Täter, die der nationalsozialistischen Vorstellung von »Sippenhaft« zum Opfer fielen.341 – 237 –

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Ganz abgesehen von jenen, die im Rahmen des Ersatzheeres in dessen Zentrale im Berliner Bendlerblock im Widerstand aktiv waren, spielten hochrangige Offiziere in ganz Deutschland und in den besetzten Gebieten im Westen zentrale Rollen in dem Vorhaben, nach Hitlers Tod die Macht zu ergreifen. Die Kaltenbrunner-Berichte beinhalten auch lange Ausführungen über die Aktivitäten dieser Offiziere, die auf Geheiß der Sonder-Kommission verhaftet wurden. Am 22. September 1944 gelang der Gestapo in Zossen der Fund wichtiger Dokumente, was bald darauf einen weiteren Bericht Kaltenbrunners zur Folge hatte.342 Nach dem Auffinden des kompletten, in Zossen versteckten Tagebuches von Admiral Canaris durch die Gestapo Anfang April 1945 befahl ein wütender Hitler die Hinrichtung sämtlicher Häftlinge aus den Reihen der »Abwehr«. Am frühen Morgen des 9.  April 1945 führte SS-Standartenführer Walter Huppenkothen diesen Exekutionsbefehl an dem ahnungslosen Dr. Hans von Dohnanyi im Konzentrationslager Sachsenhausen aus  ; dann folgten im KZ Flossenbürg Canaris, Oster, drei weitere Offiziere sowie der evangelische Pastor Dr. Dietrich Bonhoeffer.343 Die wenigen glücklichen Überlebenden Aus welchen Gründen auch immer verhaftete die Gestapo keineswegs eine große Zahl von Widerstandsaktivisten  ; zumindest gelang ihr dies nicht. Unter den nicht Verhafteten befand sich auch Generalmajor Erwin Lahousen von Vivremont. Der vorliegende Index zu den Kaltenbrunner-Berichten wurde nicht vom RSHA angelegt, sondern erst später von amerikanischen Dienststellen. Darin gibt es lediglich zwei Verweise auf Lahousen, von denen jedoch keiner ihn als Mitglied jener Verschwörung, die Hitler töten wollte, anführt.344 Vielleicht hatte Hermann Göring mit seiner in Nürnberg getätigten Bemerkung, man habe auf Lahousen nach dem 20. Juli schlichtweg vergessen, alles in allem doch recht. Andere Verschwörer entkamen den Fängen des RSHA, so etwa Hans Bernd Gisevius, der sich versteckte, bevor ihm im Januar 1945 die Flucht über die Grenze zur Schweiz glückte. Gisevius hatte sich am Nachmittag des 20.  Juli persönlich in der Zentrale des Ersatzheeres aufgehalten. Irgendwie entging er einer Verhaftung durch die Gestapo und überlebte  ; er verfasste dann einen der frühesten Insiderberichte über den Widerstand.345 Gisevius’ diplomatische Tarnung war die eines Konsularangestellten beim deutschen Konsulat in Zürich. Er war der wichtigste Kontaktmann zwischen dem Widerstand und dem OSS– 238 –

Stauffenbergs Attentat und die Rache des RSHA

Büro in der schweizerischen Hauptstadt Bern, das seit November 1942 Allen Welsh Dulles leitete. Zu den weiteren Verschwörern, welche dem Zugriff der Gestapo entkamen, gehörte Leutnant Ewald-Heinrich von Kleist, der am 20.  Juli als ein Gehilfe von Oberst Stauffenberg im Hauptquartier des Ersatzheeres anwesend gewesen war und beispielsweise bei der Festsetzung von Generaloberst Fromm geholfen hatte. Ewald von Kleist-Schmenzin, der Vater von Ewald-Heinrich von Kleist, wurde hingegen von der Gestapo wegen seiner aktiven Beteiligung am Widerstand hingerichtet. Sein Sohn starb am 13. März 2013 im Alter von 90 Jahren in München eines natürlichen Todes. Er war Beteiligter eines fehlgeschlagenen Planes von Anfang 1944, Hitler durch die Zündung zweier in den Manteltaschen verborgener Handgranaten zu töten. Ewald-Heinrich von Kleists militärische Dienstlaufbahn verzeichnet unter anderem eine Zuteilung zu dem in Potsdam stationierten Infanterie-Regiment  9. Die Liste der Offiziere dieses prestigeträchtigen Regiments liest sich wie ein Ausschnitt aus dem berühmten »Gotha«, dem Who is Who des deutschen Adels.346 Ein weiterer Glücklicher, der den Nachstellungen der Gestapo entkam, war Leutnant Fabian von Schlabrendorff, Schwiegersohn und Gehilfe von Generalmajor von Tresckow  ; er war 1943 auch an dem Versuch, Hitler mit zwei Cointreau-Bomben zu töten, beteiligt gewesen. Schlabrendorff wurde tatsächlich vor dem Volksgerichtshof unter seinem Präsidenten Dr. Roland Freisler angeklagt  ; die am 21. Dezember 1944 begonnene Hauptverhandlung wurde auf den 3. Februar 1945 vertagt. An diesem Tag erfolgte ein Tagesangriff amerikanischer Bomberverbände auf Berlin. Als die Sirenen losgingen, hatten alle Teilnehmer der Verhandlung in den Luftschutzraum des Gerichtsgebäudes zu gehen. Eine Bombe traf das Gebäude, das Dach stürzte ein und verletzte dabei Freisler so schwer, dass er kurz darauf in einem Spital starb. Die Fortsetzung der Verhandlung wurde für den 16.  März festgesetzt. Der Angeklagte behauptete, die Gestapo habe ihn gefoltert, wobei er ausführte, dass Friedrich der Große die Folter in Preußen vor rund 200 Jahren abgeschafft habe. Schlabrendorff und weitere Gefangene wurden anschließend ins Konzentrationslager Flossenbürg gebracht  ; sie sollten dort am Tag nach der Hinrichtung von Canaris und seiner Gefährten exekutiert werden. Die bevorstehende Ankunft amerikanischer Truppen führte dazu, dass diese Hinrichtungen verschoben wurden  ; man brachte die Häftlinge zuerst nach Dachau und dann weiter nach Südtirol, wo man sie Anfang Mai 1945 freiließ. Schlabrendorff verfasste ebenfalls ein Buch über die militärischen Aspekte des Widerstandes.347 – 239 –

Stauffenbergs Attentat und die Rache des RSHA

Die meisten jener höheren deutschen Offiziere, die auf ihren im deutsch besetzten Europa verteilten Posten am Staatsstreich vom 20. Juli beteiligt gewesen waren, wurden in den Wochen und Monaten nach dem Fehlschlag dieses Unternehmens verhaftet. Eine Ausnahme war der Leiter des Umsturzes in Wien, Major Carl Szokoll, der eng mit dem für die Ausführung von »Walküre« in Wien bestimmten, aber in Berlin verbliebenen Oberstleutnant i. G. Robert Bernardis zusammenarbeitete. Bernardis gehörte zu jenen acht Offizieren, die als erste und binnen zweier Tage angeklagt, abgeurteilt und hingerichtet wurden. Zur Zeit des »Anschlusses« Österreichs an das Deutsche Reich hatte Bernardis als Offizier im österreichischen Bundesheer gedient und war wegen seines hohen Ansehens von der Muff-Kommission in die Wehrmacht übernommen worden. Bald schon registrierte er die enormen Verluste, die sich für alle Kriegführenden aus dem Zweifrontenkrieg ergaben. Rasch schloss er sich dem Widerstand an und gehörte als dessen Kontaktperson nach Österreich dem inneren Kreis um Stauffenberg an, wenngleich er in Berlin stationiert war. Am 8. August 1944 wurde Bernardis im Gestapo-Gefängnis in Berlin-Plötzensee hingerichtet.348 Major Szokoll hingegen entging der Gestapo. Er hatte es so eingerichtet, dass seine sämtlichen Kontakte zu Stauffenberg über eine Dienststelle des Wiener Wehrkreiskommandos, die für die Beschaffung von Militärstiefeln zuständig war, liefen. Bald verlor die Gestapo das Interesse an den Spuren einer Verschwörung, die bloß in die profane Welt von Stiefeln zu führen schienen. Noch war der Krieg für Szokoll freilich nicht vorüber. Anfang April 1945 näherte sich die Rote Armee aus südlicher und südwestlicher Richtung her Wien. Bald befand sich jene Quelle auf der Rax, welche die ganze Stadt mit Wasser versorgte, in der Hand der Sowjets. Das beachtliche deutsche Aufgebot zur Verteidigung Wiens umfasste vier Waffen-SS-Divisionen unter dem Befehl von SS-Oberstgruppenführer Sepp Dietrich.349 Erneut hatte Hitler den Kampf bis zum letzten Mann befohlen  ; in Ausführung dieses Befehls wurde die Sprengung großer Teile der Stadt vorbereitet. Major Szokoll und die sonstigen Angehörigen des österreichischen Widerstandes – zumeist Österreicher in deutschen Wehrmachtsuniformen – wollten diesen Befehl zur Zerstörung ihrer geliebten Stadt natürlich nicht ausführen. Entsprechend nahmen sie Verbindung zu den Alliierten bzw. zur Roten Armee auf, um dieser die Stadt zu übergeben und sie so vor der Vernichtung zu bewahren. Die militärische Lage Deutschlands hatte sich noch weiter verschlechtert, und Dietrich zog daher seine SS-Divisionen in nordwestlicher Richtung in die angebliche »Alpenfestung« zurück. Am 13. April besetzte die Rote Armee Wien. Szokoll selbst entkam aus SS-Haft, doch – 240 –

Stauffenbergs Attentat und die Rache des RSHA

mehrere seiner Mitverschwörer, darunter Major Karl Biedermann, Hauptmann Alfred Huth und Leutnant Rudolf Raschke, wurden noch beim Abzug der deutschen Truppen aus Wien öffentlich gehängt.350 Am 25. April 1945 trafen sich Einheiten der 1. US-Armee und Vorausabteilungen der Roten Armee in Torgau an der Elbe, nordöstlich von Leipzig. Das Kriegsende stand nun unmittelbar bevor. Damit hatten die Westalliierten und die Sowjetunion zahlreiche Probleme zu lösen, die sich aus der Besetzung Deutschlands ergaben. Dazu gehörte auch die Frage der Aburteilung der Kriegsverbrecher der beiden wichtigsten besiegten Achsenmächte, Deutschland und Japan. Lahousen erholte sich nach wie vor von seinen Kriegsverwundungen. Als deutscher Offizier im Generalsrang blieb er in amerikanischer Kriegsgefangenschaft, bis geklärt war, dass er nicht etwa selbst Kriegsverbrechen begangen hatte. Der bloße Umstand seiner Zeugenaussage vor dem Nürnberger Gerichtshof bedeutete nicht automatisch, dass ihn das Gericht als schuldlos einstufte. Einige Personen, die wie SS-Gruppenführer Otto Ohlendorf und der berüchtigte Kommandant des Vernichtungslagers Auschwitz, Rudolf Franz Höß, vor dem Nürnberger Hauptkriegsverbrechertribunal als Zeugen ausgesagt hatten, wurden später selbst vor anderen Gerichten angeklagt, verurteilt und hingerichtet. Lahousen benötigte also eine Bestätigung der Alliierten, die ihm Schuldlosigkeit attestierte  ; später war eine ähnliche Erklärung seitens der österreichischen Regierung erforderlich – erst dann konnte er ein normales ziviles Leben führen. Der amerikanische Gefangene Erwin Lahousen entwickelte sich bald zu einem begehrten Zeugen der amerikanischen Ankläger, als diese daran gingen, dem Gericht die Anklagepunkte vorzutragen. Lahousen war der höchstrangige Offizier der »Abwehr«, der den Krieg überlebt hatte. Er war bei vielen Kriegsverbrechen des »Dritten Reiches« Zeuge gewesen. Er hatte sich aktiv am Widerstand der »Abwehr« gegen Hitler beteiligt und als einer der wenigen dieses Engagement überlebt. Als er als Zeuge der Anklage ausgewählt wurde, war nur den Franzosen bekannt, dass er vor und während des Krieges für Frankreich spioniert hatte. Doch davon wurde in Nürnberg ebenso wenig etwas erwähnt wie von Lahousens Eintreten für die Freiheit seiner österreichischen Heimat.

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Kapitel 13

Konflikte nach dem Krieg

A

m 22. Oktober 1945 sandte Lahousen aus einem Kriegsgefangenenlager im Raum Nürnberg eine Postkarte an seine Frau Marga. Die Karte war in englischer Sprache zur Gänze mit der Schreibmaschine und in Blockbuchstaben getippt  ; datiert war sie auf einen Zeitpunkt ungefähr drei Wochen vor Lahousens tatsächlicher Ankunft im Nürnberger Zeugentrakt. Auf der Karte befanden sich ferner ein handschriftlicher Zusatz »für E. Lahousen« sowie der maschinen­ geschriebene Name und die Adresse des Absenders  : Leutnant John Martin, Büro des Chefanklägers, US Army, Feldpostnummer 403. Wie es scheint, hatte Lahousen die Nachricht konzipiert und sie war danach übersetzt und vom Büro der Anklage geprüft worden. Mit ihr teilte Lahousen Marga in etwa das Folgende mit  : Er sei als Zeuge in Nürnberg, sie solle sich also keine Sorgen machen. Er werde aber für längere Zeit nicht nach Österreich zurückkehren können und habe sehr viel an die arme, aber glückliche Fely gedacht. Er schloss mit der Bemerkung, es gehe ihm körperlich gut und Marga solle den Mut nicht verlieren. Zu den wichtigsten Aspekten dieser nicht unterzeichneten Nachricht gehört der Hinweis auf »Fely«, den Hund der Lahousen-Familie. Marga wusste dadurch, dass die Karte tatsächlich von ihrem Mann stammte, und konnte sich dementsprechend freuen. Ein Mitglied der Familie ist überzeugt, das Ehepaar sei irgendwann übereingekommen, den Namen des Hundes in ihrer Korrespondenz zu verwenden, um deren Echtheit unter Beweis zu stellen.351 Der frühere Schriftwechsel des Paares musste aktualisiert werden, da Lahousen eine neue, wenn auch vorübergehende Anschrift hatte. Einige Wochen danach, Anfang Dezember, strich die europäische Presse Lahousens Aussage als erster Zeuge der Anklage umfassend heraus. Mit der Postkarte wollte Lahousen seine Frau über sein aktuelles Befinden informieren und zugleich verhindern, dass sie bei der Lektüre von Zeitungsmeldungen über seine Zeugenaussage schockiert sein könnte. Lahousen wollte Marga auch auf die Wahrscheinlichkeit vorbereiten, dass er noch lange den Status eines Kriegsgefangenen innehaben würde. Dies sollte sich als zutreffend erweisen, denn Lahousen verbrachte mehr als zwei Jahre in amerikanischer Gefangenschaft, davon anderthalb Jahre nach seiner Aussage in Nürnberg. Nach Beendigung seiner Zeugenaussage vor dem Nürnberger Ge– 242 –

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richt am Samstag, 1. Dezember 1945, blieb Lahousen bis zu seiner endgültigen Freilassung am 4. Juni 1947 als Gefangener in US-Gewahrsam. Während dieser Haftzeit bemühte er sich nach besten Kräften um eine positive Grundhaltung und um die genaue Aufzeichnung seiner persönlichen und militärischen nachrichtendienstlichen Biografie im Dienst der »Abwehr«. Um ihn dabei zu unterstützten, stellte die Gefängnisverwaltung der US Army Lahousen eine Schreibmaschine mit deutschen Typen zur Verfügung. Damit sollte er seine militärischen Erinnerungen zu Papier bringen, wobei er selber tippen musste – er hatte diese Fähigkeit früher erlernt. Während dieser Zeit schrieb Lahousen den Hauptteil des ersten Entwurfs seiner diversen autobiografischen Skizzen nieder  ; er fasste sie unter dem Titel »Fragmente der Erinnerungen« zusammen. Diese Niederschriften befassen sich mit einer Vielzahl an Themen und nehmen etwas weniger als 100 maschingeschriebene Seiten mit zweizeiligem Abstand ein. Hier findet sich auch die Korrespondenz mit dem japanischen Militärattaché in Berlin, ebenso Notizen über führende Militärs und Zivilisten, die aktiv oder passiv dem Widerstandszirkel rund um Admiral Canaris angehörten, eine weitere detailgenaue Beschreibung des Widerstands unter dem Titel »Die Geheimorganisation von Canaris«, eine Zusammenfassung der bedeutenden Besprechung bei General Jodls Stellvertreter, Generalmajor Warlimont, Anfang 1943 in Hitlers Hauptquartier in Berchtesgaden und weiteres ähnliches Material.352 Bedauerlicherweise hatte Lahousen vor seinem frühen Tod Ende Februar 1955 keine Zeit mehr, um diese Fragmente zu erweitern und sie in die Form echter Memoiren zu bringen. Dessen ungeachtet bleiben seine »Fragmente« eine unschätzbare Originalquelle für den Verlauf des Zweiten Weltkrieges und die Rolle der »Abwehr« im Widerstand gegen die NS-Diktatur. Die Amerikaner, die Lahousen gefangen hielten, akzeptierten das legitime Interesse des britischen Nachrichtendienstes, Lahousen über seine militärischen Aktivitäten als Leiter der Abwehr-Abteilung II (Sabotage, Zersetzung und Spezialaufgaben) vom Januar 1939 bis Juli 1943 sowie als der höchstrangige überlebende Offizier der »Abwehr« zu befragen. Die »Abwehr« unterhielt intensive Beziehungen zur Irisch-Republikanischen Armee (IRA)  ; sie versorgte die IRA unter anderem mit den benötigten Gewehren, Munition und Sprengstoffen, die gegen die britischen Feinde der IRA eingesetzt werden sollten. Mittels U-Booten oder Flugzeugen wurde diese Ausrüstung direkt an die IRA in der Republik Irland oder an andere Stellen in neutralen oder besetzten europäischen Staaten geliefert. Diese neue Nachschubquelle ersetzte jenes Material, das zuvor Anhän– 243 –

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ger der IRA in den Vereinigten Staaten zur Verfügung gestellt hatten. Gleich nach Kriegsausbruch begann die IRA mit der Planung und Durchführung von Sprengstoffanschlägen gegen Munitionsfabriken und diverse zivile Ziele in Großbritannien. Die »Abwehr« versuchte auch, zahlreiche Agenten in das Vereinigte Königreich oder die Republik Irland einzuschleusen. Die Briten verhafteten nahezu alle diese Agenten, drehten sie zu Doppelagenten um, welche der »Abwehr« falsche bzw. irreführende Informationen lieferten, oder richteten sie hin. Nach dem Krieg lag MI5 viel daran, die tatsächlichen Beteiligten an den Sprengstoffanschlägen bzw. sonstigen antibritischen IRA-Aktionen zu ermitteln. Darüber hinaus schmiedete die »Abwehr« auch Pläne für antibritische Operationen in so weit entfernten Gebieten wie Afghanistan oder dem Nahen Osten. Als ein versierter, vielgereister höherer Abwehr-Offizier wurde Lahousen, der fließend Französisch sprach, in der ersten Phase des Krieges des Öfteren mit der Aufgabe betraut, hochrangige Besucher in Berlin zu betreuen  ; er besuchte diese Gäste manchmal auch in ihren Heimatländern. Zu ihnen zählten etwa der berüchtigte achsenfreundliche Großmufti von Jerusalem oder Regierungsbeamte und höhere Offiziere aus den mit Deutschland verbündeten oder ihm nahestehenden Staaten, wie zum Beispiel Japan, Italien, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Finnland  ; es fanden sich darunter aber auch Vertreter aus Ländern, die sich um die Bewahrung ihrer Neutralität bemühten. Der britische Nachrichtendienst wollte nun nach dem Sieg über Deutschland aber auch Genaueres über die möglicherweise noch intakten Verbindungen der »Abwehr« zu Francos Spanien erfahren. Federführend bei diesen nachrichtendienstlichen Ermittlungen waren vor allem MI6, mitunter auch Secret Intelligence Service (SIS, der Auslandsnachrichtendienst) genannt, sowie der Gegenspionagedienst MI5. Für alle diese Informationen war Lahousen eine erstklassige Auskunftsperson. Die USA stimmten zu, dass Lahousen den Briten in dem Spezial-Verhörlager von Bad Nenndorf in der britischen Besatzungszone Deutschlands zur Verfügung stand. Die offizielle Bezeichnung dieses Lagers lautete »Nr. 74 Combined Services Detailed Interrogation Centre (CSDIC)«. Die britische Armee hatte das Camp im Juni 1945 in einem bisherigen Kurort eingerichtet. Britisches Armeepersonal führte das Lager  ; die Verhörspezialisten entsandten MI5 und MI6. Mehr als dreieinhalb Monate lang, vom 23. August bis zum 8. Dezember 1946, hielt sich Lahousen als Kriegsgefangener in Bad Nenndorf auf, um dort befragt zu werden. Folgt man den Aussagen von Lahousens Familienangehörigen, ging ein Teil des Lagerpersonals mit physischer Gewalt gegen gefangene Offiziere vor. Dieses Los traf auch Lahousen, der durch diese brutale Behand– 244 –

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lung mehrere Zähne eingebüßt haben soll. Stellt man Lahousens schlechten Gesundheitszustand in Rechnung, konnte er froh sein, die unmenschlichen Bedingungen in dem Lager (beispielsweise die Unterbringung der Gefangenen in ungeheizten Räumen) überlebt zu haben. Anscheinend waren Misshandlungen einzelner Gefangener, die auch zu einigen Todesfällen führten, in Bad Nenndorf an der Tagesordnung. Dies alles führte zu einer britischen polizeilichen Untersuchung und zu Anfragen im Parlament. Am Ende wurden vier britische Offiziere vor ein Kriegsgericht gestellt  ; einer wurde aus dem Dienst entlassen. Im Juli 1947 wurde das Lager geschlossen.353 Unter anderem wegen der Gefahr einer ähnlichen Behandlung entschloss sich Lahousen nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft, nicht nach Linz zurückzukehren, wo er und seine Frau Marga während der ersten Jahre ihrer Ehe glücklich gelebt hatten. Linz war auch der Standort des Traditionsregiments der Familie Lahousen gewesen, der sogenannten Linzer Hessen. In dieser drittgrößten Stadt Österreichs konnte sich Lahousen nicht sicher fühlen. Zwar lag Linz an der Donau, die Hauptstadt des Bundeslandes Oberösterreich, in der amerikanischen Besatzungszone, doch begann die sowjetische Zone gleich am anderen Ufer der Donau im Mühlviertel, einem weiteren Teil Oberösterreichs. Noch vor Lahousens Zeugenaussage Ende November 1945 hatte die amerikanische Anklagebehörde sich davon überzeugt, dass es bis dato keinerlei überzeugende Beweise dafür gab, Lahousen könnte selbst irgendwelche Kriegsverbre­ chen, Verbrechen gegen den Frieden oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben. Wäre es anders gewesen, hätten ihn die amerikanischen Ankläger nicht als ihren ersten Zeugen aufgerufen. Bis zum heutigen Tag sind keine derartigen Beweise aufgetaucht. Dennoch musste sich Lahousen später von den österreichischen Nachkriegsbehörden seine Unschuld bescheinigen lassen, bevor er sich in Österreich niederlassen durfte.354 Während der österreichische Staatsvertrag von 1955 über einen langen Zeitraum hinweg ausverhandelt wurde, erwogen die Sicherheitsbehörden Österreichs die künftige Ernennung Lahousens zum Leiter eines österreichischen militärischen Nachrichtendienstes.355 Kurz nach dem 8.  Dezember 1946 überstellte der britische Nachrichtendienst Lahousen wieder in amerikanische Kriegsgefangenschaft, wo die erforderliche Entnazifizierung weitergeführt wurde. Am 4. Juni 1947 wurde er endgültig aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft entlassen. Zu dieser Zeit war Österreich in vier Besatzungszonen aufgeteilt, und die Stadt Wien war ihrerseits in vier solcher Zonen geteilt  ; nur der 1. Bezirk stand unter gemeinsamer Ver– 245 –

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waltung der vier Siegermächte.356 Der Ostteil des Landes inklusive des Mühlviertels sowie große Teile Wiens standen unter direkter sowjetischer Verwaltung. Die in diesem Gebiet lebenden Österreicher konnten sich vor den Sowjets nicht sicher fühlen. Häufig kam es zu Verhaftungen oder Verhören österreichischer Zivilisten und Kriegsveteranen wegen angeblicher Kriegsverbrechen. Zwar führten alle vier Alliierten Untersuchungen durch, um die zahlreichen Kriegsverbrecher der Achsenstaaten, die sich in Europa oder anderswo verbargen, ausfindig zu machen. Die Sowjetunion betrieb jedoch derartige Nachforschungen mit der größten Energie  – vielleicht weil sie offiziell die Verbreitung des Kommunismus in Europa auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Zu den wichtigsten kriegsbedingten Aufgaben des in der »Ostmark« (so hieß Österreich nach dem »Anschluss« an Deutschland) stationierten Personals der »Abwehr« hatten die Ausforschung und Ausschaltung jeglichen gegen das »Dritte Reich« gerichteten Widerstandes gehört. Dies hatte vor allem dortige Kommunisten und sonstige Linksparteien, aber auch die Widerstandsaktivitäten ihrer eigenen Abwehr-Kameraden betroffen. In Wien hatte sich die Abwehrstelle Wien bzw. Abwehrstelle XVII (Ast Wien bzw. Ast XVII) befunden. Da es den drei westlichen Alliierten nun langsam dämmerte, dass sie der Ausbreitung des Kommunismus zumindest in Mittel- und Ostmitteleuropa entgegentreten müssten, war zu erwarten, dass sie nach jenem kriegserfahrenen, ­versierten Personal der »Abwehr« Ausschau halten würden, das über Spezialkenntnisse der örtlichen Kommunisten verfügte, aber in keine Kriegsverbrechen verwickelt war. Die zehn früheren Angehörigen der Ast Wien passten perfekt in dieses Schema.357 Ihr einstiger Chef war Oberst Rudolf Graf MarognaRedwitz, den Admiral Canaris gleich nach dem Einmarsch vom 12. März 1938 an die Spitze der Wiener Abwehr-Dienststelle, welche das österreichische Evidenzbüro ablöste, berufen hatte. Wegen seiner Aktivitäten im Widerstand wurde Oberst Marogna-Redwitz nach dem 20.  Juli 1944 verhaftet, vor dem Berliner Volksgerichtshof angeklagt, verurteilt und am 12.  Oktober 1944 im Gefängnis Plötzensee bei Berlin durch Hängen in nacktem Zustand hingerichtet. Üblicherweise filmte die Gestapo die Erhängung von Widerstandsaktivisten, damit Hitler sich später an den Filmen ergötzen konnte. In den Augen der sowjetischen Geheimdienste wussten die früheren Angehörigen der »Abwehr« einfach zu viel  ; sie sollten daher verhaftet, vor ein Sondergericht gestellt und für lange Zeit inhaftiert werden, drohten doch andernfalls die Westalliierten diese Männer für ihre Dienste anzuwerben. Die Situation wurde noch dadurch komplizierter, dass es in der Sowjetunion zumindest zwei – 246 –

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unabhängige, miteinander rivalisierende Geheimdienste gab  : den für die Staatssicherheit verantwortlichen KGB und die GRU, den militärischen Nachrichtendienst. Zur Regierungszeit Stalins gab es während und unmittelbar nach dem Krieg noch einen dritten Dienst  : SMERSH, der befugt war, explizite Gegner des Kommunismus summarisch zu verhaften und hinzurichten. Erst Jahre später wurde bekannt, dass Lahousens Adjutant Wolfgang Abshagen einen schweren Leidensweg gehen musste  : Verhaftung durch die Gestapo, Freilassung, Festnahme und Hinrichtung durch SMERSH.358 Stand jemand bei einem dieser drei Dienste nicht unter Verdacht, hieß dies noch lange nicht, dass einer der beiden übrigen Dienste oder auch alle beide nicht eigene Untersuchungen gegen diese Person einleiteten. Nach der Entlassung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft im Juni 1947 mussten Lahousen und seine Frau Margarete als Erstes die Frage klären, wo in Österreich sie ihren künftigen Wohnsitz nehmen sollten. Am leichtesten war es festzustellen, wo sie aus Gründen ihrer persönlichen Sicherheit nicht wohnen wollten. Lahousen wäre für eine Entführung durch sowjetische Nachrichtendienste ein lohnendes Zielobjekt gewesen, und im Vergleich zu den Fragen, denen er sich dann ausgesetzt gesehen hätte, wären die wenigen Fragen, die ihm beim Nürnberger Prozess der sowjetische Richter, Generalmajor I. T. Nikit­ tschenko, gestellt hatte, geradezu ein Kinderspiel gewesen. Im Juni 1947, mehr als zwei Jahre nach Kriegsende, hatte sich bei den ehemaligen Angehörigen der deutschen Nachrichtendienste in Österreich allgemein herumgesprochen, welcher Vorgehensweise sich die Sowjets gegenüber Nachrichtendienstlern ihrer einstigen Feinde bedienten. Diese Methode sah normalerweise so aus  : Zwei sowjetische Nachrichtendienstoffiziere, in Zivil gekleidet, suchten einen Verdächtigen auf, verhafteten ihn auf der Stelle und brachten ihn zu ihrem Auto, nachdem sie dem Verdächtigen gesagt hatten, er solle seine Zahnbürste mitnehmen. Dann fuhren sie gemeinsam zur nächstgelegenen sowjetischen Kommandantur, wo eine in russischer Sprache geführte Verhandlung vor einem Tribunal stattfand, das aus höheren Sowjetoffizieren zusammengesetzt war. Kein dort Angeklagter wurde von einem Verteidiger unterstützt. Es folgte der unvermeidliche Schuldspruch wegen Kriegsverbrechen und das Urteil  : zehn Jahre Haft, danach der Lufttransport des Verurteilten in einem sowjetischen Militärflugzeug in die UdSSR, üblicherweise nach Moskau. Dann setzte sofort Zwangsarbeit im Gulag ein, in der Regel an äußerst ungesunden Arbeitsplätzen wie zum Beispiel in Wäschereien. Essen gab es nur wenig, Zigaretten waren hingegen in beschränkter Menge zugelassen. – 247 –

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Die Familien der von den Sowjets eingekerkerten ehemaligen Nachrichtendienst-Offiziere erhielten über diese Urteile und Strafen weder eine offizielle noch eine inoffizielle Mitteilung. Nach drei Jahren war es dann noch lebenden Gefangenen seitens der sowjetischen Behörden gestattet, ihren Angehörigen auf dem normalen Postweg eine Postkarte zu schicken  ; sie durften darin mitteilen, dass sie wegen Kriegsverbrechen in Haft seien. Nach Ende der obligaten zehn Jahre im Gulag wurden die Überlebenden – sofern es welche gab – repatriiert, wobei ihre Namen und Ankunftsorte zuvor in der sowjetischen Besatzungszone bekannt gegeben wurden, wofür man üblicherweise die örtlichen kommunistischen Zeitungen verwendete. Von den zehn Offizieren der Abwehrstelle Wien überlebte nur einer diese zehnjährige Haft  : Hauptmann Wolfgang Richter war der einzige Nichtraucher  ; er tauschte seine Zigarettenration gegen zusätzliche Lebensmittel ein, was ihm das Überleben erleichterte.359 Lahousen war sich darüber klar geworden, dass die von allen vier Mächten besetzte Stadt Wien kein sicherer Ort für ihn war, denn dort konnten die sowjetischen Geheimdienste operieren. Linz bot zwar eine gewisse Möglichkeit, zumal das Ehepaar dort nach seiner Hochzeit am 22. Februar 1922 jahrelang gelebt hatte. Aber selbst an diesem Ort mitten in Österreich, in der amerikanischen Besatzungszone, konnte Lahousen vor einer Entführung durch sowjetische Agenten nicht ganz sicher sein, da die sowjetische Zone das unmittelbar an Linz nördlich der Donau angrenzende Mühlviertel einschloss. Lahousen traf daher sicher die vernünftigste Wahl, wobei er auf seine frühere Zusammenarbeit mit dem französischen Nachrichtendienst zurückgriff  : Er wählte das westliche österreichische Bundesland Tirol, das in der französischen Besatzungszone lag. Er entschied sich aber nicht für die Landeshauptstadt Innsbruck als neuen Wohnsitz, sondern für das nahegelegene Seefeld, das 1947 weniger als 5.000 Einwohner hatte. Seefeld liegt rund 15 Kilometer nordwestlich von Innsbruck und ist von dort aus verkehrsmäßig leicht zu erreichen. Da ganz Tirol von den Franzosen besetzt war und diese mit der österreichischen Polizei eng zusammenarbeiteten, bestand für das Ehepaar Lahousen in Seefeld ein hohes Maß an Sicherheit, nicht von den Sowjets entführt zu werden. Ein weiteres ernsthaftes Problem, dem das Ehepaar gegenüberstand, war der schlechte Gesundheitszustand sowohl von Erwin als auch – und noch stärker – von Marga. Während des Krieges war das »Dritte Reich« genötigt gewesen, das gesamte Gesundheitswesen vorrangig auf die Wehrmacht auszurichten. Dadurch litt freilich die medizinische Versorgung der Zivilbevölkerung. Ausgenommen hiervon waren jene, die durch die ständigen und intensiven alliierten – 248 –

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Bombardements verwundet worden waren. Davon abgesehen, pflegte Marga Lahousen zweifellos einen extrem ungesunden Lebensstil, denn sie war seit vielen Jahren eine starke Raucherin und konsumierte große Mengen an Memphis-Zigaretten.360 Im Europa der unmittelbaren Nachkriegszeit waren jährliche medizinische Untersuchungen noch nicht üblich, und der Standard des Gesundheitssystems war allgemein noch relativ niedrig. Viele der uns heute selbstverständlichen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden waren damals noch nicht erfunden oder nicht eingeführt. Margas Gesundheit verursachte Lahousen jedenfalls viel Kopfzerbrechen – schon vor ihrer Übersiedlung nach Seefeld. Im Familien- oder Freundeskreis machte er sich des Öfteren über ihre Rauchgewohnheiten lustig.361 Irgendwann lag dann eine medizinische Diagnose vor  : Bei Margas Krankheit handelte es sich um einen nicht operablen Hirntumor. Sie starb im Alter von 54 Jahren am 13. November 1950  ; ihre Ehe mit Erwin Lahousen hatte 28 Jahre gedauert. Aufgrund ihrer Herkunft aus der Familie Roth, einer der erstrangigen Militärdynastien der Monarchie, die der Habsburgermonarchie stets treu gedient hatte, verfügte Marga über die idealen Voraussetzungen, um ein vom Militär geprägtes Leben an der Seite des späteren Generalmajors Erwin Lahousen zu führen – mit militärischen Gepflogenheiten war sie von Kindesbeinen an bestens vertraut. Zum Zeitpunkt der Eheschließung 1922 war Marga geringfügig älter als ihr Gatte. Erwin Lahousen hatte seine eigenen ernsthaften gesundheitlichen Probleme, und die Behandlung in Bad Nenndorf hatte diese zweifellos verschlimmert. Als österreichischer Infanterieoffizier hatte er im Ersten Weltkrieg an der Südwestfront gegen Italien zwei schwere Verwundungen erlitten. Die erste und schwerere dieser Verwundungen erlitt er am 25. Mai 1916 durch eine von einem italienischen Soldaten abgefeuerte Kugel, die in seine rechte Lunge eindrang. Sein getreuer Korporal rettete Lahousen das Leben, indem er ihn sofort zu einem nahe gelegenen Verbandsplatz schleppte – jedes Zuwarten hätte zu seinem raschen Tod führen können. Aussagen von Familienmitgliedern zufolge durchlebte Lahousen eine lange Periode der Rekonvaleszenz, bewegte sich immer auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod. Den Durchbruch brachte erst eine Operation durch Prof. Dr. Eiselsberg, der später in Wien ein berühmter Arzt wurde.362 Nach seiner Rückkehr zur Truppe am selben Frontabschnitt nahm Lahousen im Rahmen der 11. Isonzo-Schlacht Anfang September 1917 an den erbitterten Kämpfen um den Monte San Gabriele teil. Eine zweite Lungenverletzung erlitt Lahousen, als eine italienische Giftgasgranate in der Nähe – 249 –

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seiner Stellung einschlug. Auch davon erholte er sich Schritt für Schritt und diente dann Ende 1918 als Ordonanz-Offizier im Stab der österreichisch-ungarischen 50. Infanterie-Division. Auch während des Zweiten Weltkrieges wurde Lahousen einmal schwer verwundet. Am 19. Juli 1944 traf eine sowjetische Artilleriesalve, vermutlich von Granatwerfern abgefeuert, südlich von Pskov in der Nähe der russisch-lettischen Grenze Lahousens Regimentsgefechtsstand. Nur das sofortige Handeln seines ergebenen Fahrers, der Lahousen in einen Tarnanzug steckte und zum nächsten Verbandsplatz brachte, rettete diesem das Leben. Diese Verwundung war so schwer, dass Lahousen in der Wehrmacht keinen aktiven Dienst mehr leisten konnte. Am 1. August 1944 wurde er der Reserve im Wiener Wehrkreis XVII zugeteilt und Anfang Januar 1945 zum Generalmajor befördert. Damit war sein Wunsch, diesen Rang zu erreichen, in Erfüllung gegangen. Im Sommer 1944 verfügte die Wehrmacht, insbesondere an der Ostfront, über einen Überhang an Regimentskommandeuren, von denen viele weitaus mehr Kampferfahrung aufwiesen als Lahousen. Dies war eine Folge der schweren Verluste, die das Heer an allen Fronten erlitten hatte  : Viele Regimenter waren aufgerieben worden, ihre Kommandeure hatten aber überlebt. Es gab schlicht und einfach mehr Regimentskommandeure als Regimenter ohne Befehlshaber. Lahousens Verwundung ereignete sich exakt einen Tag vor dem Anschlag von Oberst Stauffenberg auf Hitler vom 20.  Juli 1944, bei dem von der »Abwehr« bereitgestellter Sprengstoff verwendet wurde. Zu Lahousens Glück wurde er nie in die Untersuchungen der Gestapo einbezogen. Der Angeklagte Göring äußerte im Nürnberger Prozess wiederholt im privaten Rahmen  : »Nach dem 20. Juli haben wir auf ihn [i. e. Lahousen] vergessen.« Wie auch immer  : Lahousens direkter Nachfolger als Chef der Abwehr-Abteilung II, Oberst Wessel von Freytag-Loringhoven, beging einige Tage nach dem 20. Juli 1944 Selbstmord, um der Erniedrigung und der unmenschlichen Folter durch die ihm sicher bevorstehende Gestapo-Untersuchung zu entgehen. Allein dieser Selbstmord verweist auf die Beteiligung der »Abwehr« an dem Attentatsversuch vom 20. Juli, und diese Beteiligung haben die Resultate der nachfolgenden Untersuchungen der Gestapo bestätigt.363 Bei einer ärztlichen Routineuntersuchung, der sich Lahousen 1943 vor seinem Ausscheiden aus der »Abwehr« unterzog, hielt der Arzt in seinen Unterlagen ernste Probleme rund um Lahousens Herz fest.364 Während eines Großteils des zurückliegenden Jahrzehnts hatte Lahousen ein zunehmend stressiges, kompliziertes Leben geführt  ; dies galt für die Jahre vor dem »Anschluss« Öster– 250 –

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reichs an Deutschland, die Dienstleistung bei der »Abwehr« und das Engagement im Widerstand der »Abwehr« gegen Hitler, die Sorgen um die Gesundheit seiner Frau sowie für die Furcht vor einer Verhaftung durch das RSHA wegen seiner Spionage für Frankreich zusammen mit MAD als seiner engen Freundin und Führungsperson. Zu all dem kam noch die Sorge, welche Konsequenzen es haben würde, im Krieg gegen die Sowjetunion auf der falschen Seite gestanden zu haben. Im Hinblick auf einige dieser nervenaufreibenden Faktoren bewahrte sich Lahousen seinen Sinn für Humor. Während des Nürnberger Prozesses scherzte er etwa ab und zu  : Wäre er in der »Abwehr« geblieben, wäre er jetzt einen Kopf kürzer.365 Im Frühling 1943 befand sich die Wehrmacht allerorten in der Defensive  ; sie hatte jedoch noch die vielfach bewiesene Fähigkeit bewahrt, begrenzte, aber tödliche Gegenangriffe wie etwa jenen, der zur Wiedereroberung Charkows Mitte März 1943 führte, zu unternehmen. Der gravierende Personalmangel auf deutscher Seite ließ die Entlassung bewährter Offiziere aus Gesundheitsgründen nur begrenzt zu. Lahousen konnte deshalb, wenigstens im Sommer 1943, trotz seiner schlechten Gesundheit schlichtweg nicht entlassen werden. Hätten die Ärzte dies versucht, hätte Lahousen alles in seiner Macht Stehende unternommen, um in seiner Position an der Ostfront zu verbleiben. Kein patriotischer Offizier der Wehrmacht wollte die Gelegenheit, in einem großen Krieg Erfahrungen zu sammeln, versäumen – nicht einmal, wenn es um die Ostfront ging, wo die Aussichten, den Vormarsch der Roten Armee aufhalten zu können, immer ungünstiger wurden. Im Zuge seiner langsamen Erholung von der in Russland erlittenen Verwundung hatte Lahousen ausreichend Zeit, um über die Aussichten seines künftigen Lebens nachzudenken. Er ging dabei davon aus, dass der Krieg bald enden und er selbst nicht nur den Krieg, sondern auch die Verfolgung der Widerständler seitens des RSHA nach dem 20. Juli 1944 überleben würde. Lahousen wurde sich seiner durch die nachrichtendienstliche Arbeit erworbenen bedeutenden schriftstellerischen Fähigkeiten bewusst. Vielleicht würde er ins nachrichtendienstliche Geschäft zurückkehren können, falls Österreich nach dem Krieg seine Unabhängigkeit wieder erlangen sollte. Vor der Niederlage und der bedingungslosen Kapitulation der NS-Diktatur vermochte es Lahousen nicht mehr, seine gesammelten Erinnerungen niederzuschreiben. Freilich ging ihm dieser Gedanke durch den Kopf, als er eine Ausfertigung seines Kriegstagebuchs zur sicheren Aufbewahrung bei einem Wiener Rechtsanwalt deponierte. Er tat dies in Verbindung mit dem Umzug seiner Frau Marga von Berlin nach Wien im August 1943. Dieses Tage– 251 –

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buch umfasst den Zeitraum vom 17. August 1939 bis zum 3. August 1943 – jene Periode also, in der Lahousen Chef der Abwehr-Abteilung  II (Subversion, Zersetzung und Spezialaufgaben) war. Auch wenn das Tagebuch keinen Hinweis auf den Abwehr-Widerstand gegen Hitler oder Lahousens Aktivitäten als Spion zugunsten Frankreichs enthält, erwies es sich für die amerikanischen Ankläger bei der Vorbereitung des Nürnberger Prozesses und insbesondere bei der Vorbereitung Lahousens auf seine Aussage als unbezahlbar. Zwar haben die Tagebücher und Erinnerungen einiger bedeutender Köpfe des Widerstandes den Krieg überstanden, doch die meisten derartigen Quellen hat das RSHA vernichtet.366 Der gravierendste Verlust betrifft die Dokumentensammlung von Admiral Wilhelm Canaris, welche die Gestapo im Frühjahr 1945 in ihrem Versteck – in »Hübers Panzerschrank«, wie es genannt wurde – in der Nachrichtenzentrale des deutschen Heeres entdeckte. Diese Zentrale befand sich in einem Bunker in der Nähe von Maybach II (Deckname »Zeppelin«) bei Zossen, rund 35 Kilometer südlich von Berlin. Canaris schrieb ein sechsbändiges Tagebuch, worin alle Verbrechen der NS-Führung detailliert aufgelistet waren. Daneben bewahrte er, ebenfalls sechs Bände umfassend, schriftliche Berichte über seine ausgedehnten Reisen in- und außerhalb Europas auf. Insgesamt umfassten die Canaris-Papiere rund 2.000 Seiten  ; die Gestapo studierte sie sorgfältig und fügte ihnen dann die geheimen, dem Widerstand gewidmeten Tagebücher sowie ähnliche Unterlagen von Hans Oster und Hans von Dohnanyi hinzu. Das RSHA ließ diese ganze Sammlung verfilmen  ; die zahlreichen Filmrollen füllten zwei metallene Schachteln. Es sollen vier Ausfertigungen hergestellt worden sein. Mit Sicherheit wurden drei Kopien vernichtet, darunter die für Hitler und Himmler bestimmten. Anfang Mai 1945, unmittelbar vor der deutschen Kapitulation, verbrannten SS-Standartenführer Walter Huppenkothen und der Gestapo-Chef Heinrich Müller den vierten Film sowie die erhaltenen Originale sämtlicher Sammlungen im historischen Schloss Mittersill in Tirol. Anwesend war auch der Chef des RSHA, Ernst Kaltenbrunner, von dem der explizite Befehl zur sofortigen Vernichtung dieser Unterlagen stammte. Hitler und Himmler hatten Anfang April 1945 ausgewählte Stellen der Canaris-Tagebücher zu lesen bekommen. Sie bestimmten dann Huppenkothen als Ankläger von Admiral Canaris  ; der SS-Standartenführer hatte den Prozess und die Hinrichtung des Admirals und einiger anderer durchzuführen. Am frühen Morgen des 9. April 1945 erfüllte Huppenkothen diesen Auftrag.367 In seinem eigenen Kriegsverbrecherprozess gab er im Februar 1951 zu  : »Ich habe jede einzelne Seite verbrannt.« Wohl gibt es immer wieder Gerüchte über die Wie– 252 –

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derentdeckung einer Ausfertigung der Canaris-Papiere, doch ist bis jetzt keine aufgetaucht. Da Lahousen de facto der Verfasser eines Teils der Canaris-Aufzeichnungen war, erhöht die unzweifelhafte Vernichtung sämtlicher Ausfertigungen der Tagebücher von Canaris den Quellenwert der wenigen sonstigen noch erhaltenen Tagebücher und Erinnerungen der Überlebenden. Dies gilt auch für das Tagebuch Lahousens. Darin findet man wenig Überraschendes oder aufrüttelnde Detailinformationen über den Widerstand – diese wären wohl eher in den vernichteten Canaris-Papieren zu erwarten. Alles in allem bieten Lahousens Tagebücher eine ausgesprochen fachmännische, summarische Protokollierung wichtiger Besprechungen und getroffener Entscheidungen. Wie auch immer, dieses Tagebuch wird für den Historiker zu einer lebendigen, aussagekräftigen Primärquelle, wenn es zusammen mit Lahousens Aussage in Nürnberg gelesen wird. Nach dem Tod seiner Frau Margarete verfiel Lahousen erneut in eine depressive Phase. Er stand nach wie vor im Kontakt zu MAD, die sich zwischenzeitig dazu entschlossen hatte, ihre Verbindung zum französischen Nachrichtendienst wieder aufzunehmen, indem sie sich auf einen Dienstposten in Westdeutschland entsenden ließ. Anscheinend gibt es keinen erhaltenen schriftlichen Beleg dafür, dass die beiden ihre Freundschaft wieder aufnahmen  ; allerdings ist ein Mitglied der Roth-Familie davon überzeugt, dass sie zumindest für kurze Zeit in Seefeld zusammenlebten.368 Zwischenzeitig hatte Lahousen zwei Herzinfarkte, von denen er sich – wenngleich deutlich geschwächt – wieder erholte. Zweifellos wurde Lahousen wegen der ihm aufgezwungenen Inaktivität und wegen der Lebensumstände in dem kleinen, aber liebenswerten Städtchen Seefeld, in bergiger Umgebung zwischen Innsbruck und der Grenze zu Deutschland gelegen, zunehmend ungeduldig. In Seefeld überwältigten ihn die vielen Erinnerungen an die letzten drei Jahre seiner Ehe mit Marga. Ein Ortswechsel stand ganz oben auf der Tagesordnung. Lahousen glaubte, aus Gründen seiner persönlichen Sicherheit in Tirol bleiben zu müssen, bis der österreichische Staatsvertrag unterzeichnet und Österreich wieder vollkommen unabhängig wäre. Erst nach dem Tod Stalins Anfang März 1953 kamen aus der Sowjetunion unter Stalins Nachfolger Nikita S. Chruschtschow vielversprechende Signale in diese Richtung. Lahousen beschloss, in die geschichtsträchtige Stadt Hall zu übersiedeln  ; sie liegt ein wenig ostwärts von Innsbruck. Dort verwendete er zunehmend mehr Zeit auf das Verfassen von Artikeln für Innsbrucker Zeitungen. Seine Beiträge für die Tageszeitung »Tiroler Tagesblatt« schrieb er unter dem Pseudonym – 253 –

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»D’Artagnan«. Lahousen wollte mit diesen Artikeln keine Aufmerksamkeit auf seine Anwesenheit in Tirol lenken  ; seine Artikel konnten ihm daher nicht zugeordnet werden. Beispielsweise veröffentlichte er anonym einen umfassenden Aufsatz zum Thema »Admiral Canaris – Legende und Wirklichkeit«, der in der »Wochenpost« am Samstag, dem 10.  Juli 1948, abgedruckt wurde. Über den Verfasser heißt es dort, er sei »ein vertrauenswürdiger, überlebender enger Kamerad« und es handle sich um »den ersten Auszug aus seinem Tagebuch-Fragment«. Diese Beschreibung passt präzise auf Lahousen – und nur auf ihn.369 Nach seiner Übersiedlung nach Hall engagierte sich Lahousen auch vermehrt im dortigen gesellschaftlichen Leben. So wurde er beispielsweise zum Beitritt zu einer Bridge-Partie eingeladen. Bei einem dieser Bridge-Abende stellte man Lahousen Stefanie Znidaric vor  ; sie war die Witwe des einstigen Staatssekretärs im zweiten Kabinett Schuschnigg von 1938, Georg Znidaric. Stefanie war Mutter von drei kleinen Kindern (zwei Jungen und ein Mädchen) und arbeitete als Französischlehrerin an einem Innsbrucker Gymnasium. Darüber hinaus war sie eine staatlich anerkannte Übersetzerin vom Französischen ins Deutsche. Bei dem gemeinsamen Interesse an der französischen Sprache und Kultur war es nur folgerichtig, dass sich Lahousen und Frau Znidaric einander annäherten. Für Lahousen bot sich hier eine weitere ausgezeichnete Gelegenheit, seine Französischkenntnisse zu perfektionieren. Seine Ehe mit Marga war kinderlos geblieben  ; die Aussicht, Stiefvater für drei lebendige, vielversprechende Kinder, von denen das älteste 1941 geboren worden war, zu werden, schreckte ihn nicht ab. Mehr und mehr erschien ihm die mögliche Heirat mit Stefanie Znidaric, einschließlich ihrer schon vorhandenen Familie, verlockend. Stefanie empfand das offenkundige Interesse eines pensionierten, in ganz Europa bekannten Generals ihr gegenüber als ein hochwillkommenes Kompliment. Lahousens gesellschaftliche und finanzielle Stellung konnten als gefestigt gelten, selbst wenn keine größere Erbschaft zu erwarten war. Klar war freilich, dass zu seiner Familie keine alten Adeligen zählten, die auf eine vielhundertjährige Geschichte zurückblicken konnten. Vielmehr zählte er zum sogenannten Dienstadel, dessen Angehörige wegen kurze Zeit zurückliegender, aber herausragender Verdienste um die Habsburgermonarchie geadelt wurden. 1880 verlieh Kaiser Franz Joseph  I. Erwin Lahousens Großvater, General Heinrich Lahousen, das Adelsprädikat »Edler von Vivremont«. Dies bedeutete eine Anerkennung seiner herausragenden Dienste als General der Kavallerie in der k. u. k. Armee. Der amtliche Name des Enkels Erwin Lahousen lautete entsprechend Erwin Heinrich René Lahousen Edler von Vivremont. Nach der Eheschließung nannte sich Stefanie Znidaric »Stefanie Lahousen-Vivremont«.370 – 254 –

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Die Hochzeit des Paares fand im Mai 1953 in Hall statt  ; es gab nur eine stille, kleine Feier mit dem engsten Freundeskreis. Angesichts der allgemeinen Situation der Familie war an eine Hochzeitsreise nicht zu denken. Um ständiges Pendeln zu vermeiden, beschloss das Paar bald, von Hall nach Innsbruck umzuziehen. Dort wurden die Kinder an geeigneten Schulen angemeldet, und sowohl Lahousen als auch seine Frau Stefanie konnten in der Landeshauptstadt von Tirol leichter Anschluss an die ihnen entsprechenden gesellschaftlichen Kreise finden. Die Erinnerungen der drei Znidaric-Kinder an ihren Stiefvater Erwin Lahousen werfen auf dessen Charakter ein zusätzliches Licht.371 Als er eines Tages von seiner Arbeit für eine Zeitung heimkehrte, traf Lahousen auf den jüngeren Stiefsohn, der mit Gleichaltrigen »Krieg« spielte. Lahousen unterbrach sofort das Spiel und erklärte den Kindern, Krieg sei grundsätzlich etwas Böses, denn darin kämen Millionen Menschen ums Leben, darunter auch die eigenen besten Freunde und unschuldige Zivilisten. Diese Worte kamen mit tiefster Überzeugung aus seinem Herzen, denn er selbst hatte im vergangenen Krieg nahezu alle seiner Kameraden und Freunde in der »Abwehr« verloren – ganz abgesehen von den Millionen sonstigen Opfern. Aus einer weiteren Episode geht Lahousens Wunsch nach einem freundlichen Verhalten gegenüber Untergebenen beim Militär und im Zivilleben hervor. Er verwendete viel Zeit darauf, seiner Frau Stefanie und den drei Stiefkindern seine Erlebnisse in beiden Weltkriegen und im zivilen Leben zu erzählen. Als (bis 1918) Offizier der Habsburgermonarchie war Lahousen einem spezifischen Ehrenkodex verpflichtet, der gebot, Untergebene (sowohl Offiziere mit einem niederen Rang als auch Mannschaftssoldaten) auf eine menschliche und respektvolle Weise zu behandeln. Mit solchem Respekt behandelte er auch Offiziere, die im Rang über ihm standen  ; ihre Befehle führte er prompt und zuverlässig aus. Lahousen registrierte aber auch, dass viele seiner Offizierskameraden ihre Untergebenen vollkommen respektlos behandelten. Dies sah er als einen Fehler an, und er erläuterte seine Einschätzung anhand von zwei Beispielen  : Zweimal hatten ihm loyale Mannschaftssoldaten das Leben gerettet, als er jeweils im Verlauf beider Weltkriege schwer verwundet worden war. Im Ersten Weltkrieg schleppte sein Korporal den schwer verwundeten Lahousen bergab zu einem Verbandsplatz  ; im Zweiten Weltkrieg packte ihn sein Fahrer in einen Tarnanzug und brachte ihn zu einem nahe gelegenen Feldlazarett.372 In den Alpen lebende Menschen beklagen sich häufig über die ungesunden Auswirkungen des Föhns, eines warmen Fallwindes, der in den nördlichen Al– 255 –

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pen vor allem gegen Winterende auftritt. Es gibt dafür zwar keinerlei medizinischen Beweis, aber die österreichischen, deutschen und schweizerischen Bewohner des nördlichen Alpenraums schreiben eine ganze Reihe von Beschwerden, die überhaupt nicht miteinander zusammenhängen, wie zum Beispiel Migräne, Kopfschmerzen und Appetitmangel, dem Föhn zu. Schwerwiegendere Leiden wie etwa eine Degeneration der Herzgefäße werden dem Wind ebenfalls zur Last gelegt. Als sich Lahousens Gesundheit nach dem Neujahrstag des Jahres 1955 verschlechterte, stellte seine Familie eine Verbindung mit den ungesunden Wirkungen des Föhns her. Plötzlich, ohne jede Ankündigung, erlitt Lahousen dann am 24. Februar 1955 seinen dritten und tödlichen Herzinfarkt. Ein paar Tage darauf wurde er mit vollen militärischen Ehren auf dem kleinen Militärfriedhof von Innsbruck beigesetzt. Das Grab befand sich in einem Teil des Friedhofs, der verstorbenen Adeligen vorbehalten ist. Die Innsbrucker Zeitungen berichteten ausführlich über die Beerdigung. Anfang Februar 2003 verbrachten der Autor und seine Gattin den Großteil eines Sonntagvormittags damit, auf diesem Friedhof nach Lahousens Grab zu suchen  ; sie konnten es unter der dünnen Schneedecke jedoch nicht finden. Während eines von mehreren Interviews teilte Stefanie Lahousen etliche Jahre später mit, dass die sterblichen Überreste ihres Gatten auf ihre Veranlassung hin von Innsbruck auf den Zentralfriedhof in Wien-Simmering umgebettet worden waren  ; dies geschah zu jener Zeit, als sie selbst nach Abschluss des österreichischen Staatsvertrages (Mai 1955) nach Wien übersiedelte. Sie beschrieb den Weg zu dem neuen Grab  : Eingang  2, geradeaus, dann nach links in Parzelle  38. Die Stelle liegt neben dem Grab des Operettenkomponisten Emmerich Kálmán. Der geschmackvolle Grabstein besteht aus schönem Marmor und trägt die eingemeißelte lapidare Inschrift »Erwin Lahousen von Vivremont«. Die Grabplatte enthält keine weiteren Angaben wie etwa Geburts- und Todesdaten, Verdienste usw. Nach Abschluss des österreichischen Staatsvertrages zogen die vier Besatzungsmächte ihre Truppen ab und Österreich erklärte seine Unabhängigkeit und immerwährende Neutralität. Die Gefahr, entführt zu werden, war schon lange verschwunden und in ganz Österreich herrschten wieder sichere Zustände. Bei der Wiederaufstellung des Bundesheeres durch die souveräne österreichische Regierung setzte diese – wenig verwunderlich – als Leiter des österreichischen Militärnachrichtendienstes jenen Oberst (später Brigadier) Kurt Fechner ein, der einst im Widerstand den Decknamen »Friedrich« verwendet hatte und der Jahrgangskamerad und enger Freund von Generalmajor Erwin Lahousen gewesen war. – 256 –

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Abb. 1  : Erwin Lahousen, 1944  ; Quelle  : Nachlass Fechner

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Abb. 2  : Hochzeitsbild Erwin v. Lahousen-Vivremeont und Marga geb. Baronesse RothLimonawa, Wien 1922  ; Quelle  : Archiv Erika Roth-Limanowa/Foto  : Österreichisches Staatsarchiv

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Abb. 3  : Trauerkondukt des Staatsbegräbnisses von Generaloberst Josef Frh. von Roth-Limanowa (Lahousens Schwiegervater), Wien 1927 (Lahousen rechts in Uniform)  ; Quelle  : Archiv Erika Roth-Limanowa

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Abb. 4  : Madeleine Richou, ca. 1920  ; Quelle  : Archiv Familie Richou, Pressigny, Frankreich

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Abb. 5  : Madeleine Richou im Kreis ihrer Familie, ca. 1926  ; Quelle  : Archiv Familie Richou

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Abb. 6  : Kurt Fechner, 1944  ; Quelle  : Nachlass Fechner

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Abb. 7  : Das Innere der Grabkapelle der Familie Richou, März 2015, Pressigny, Frankreich Quelle  : Archiv der Familie Richou

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Abb. 8  : Erwin Lahousen bei seiner Zeugenaussage im Nürnberger Kriegsverbrecher­ prozess 1946  ; Quelle  : http://www.trumanlibrary.org

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Anmerkungen 1 Zu weiteren Informationen über General Erwin Lahousens Eintreffen im Gästehaus der US-Army vgl. Countess Ingeborg Kalnoky with Ilona Herisko, The Guest House (Indianapolis, New York 1974), S. 77. Das Eintreffen der mysteriösen Frau wird beschrieben in  : Christian Kolb, Das Zeugenhaus (Nürnberg 1945  ; München 2005), S. 75. Ein weiterer aufschlussreicher Augenzeugenbericht ist »Witness to Nuremberg« (New York 2006) von Richard W. Sonnenfeldt, Chefdolmetscher der amerikanischen Anklage. Vgl. ebenda, S. 53 für eine Schilderung der Arrangements für die Ankunft einer »certain young lady« im Gästehaus als Gast Lahousens. Falls die junge Dame tatsächlich Madeleine Bihet-Richou war, war sie damals bereits mehr als 44 Jahre alt, da Bihet-Richou am 16. Juni 1901 geboren worden war. 2 Für Details des Bombenanschlags mit den Cointreau-Flaschen Anfang März 1943 vgl. Kapitel 9, Unterabschnitt  : Sonstige Abwehr-Operationen im Osten. Vgl. auch Peter Hoffmann, The History of the German Resistance, 1933–1945 (London 1977), S. 278 ff. 3 General Alfred Jodls Bemerkungen finden sich in  : Internationaler Militärgerichtshof (Hg.), Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg 14. November 1945 – 1. Oktober 1946 (Nürnberg 1947–1949), Bd. 15, S. 329. Künftig zitiert als  : IMT, danach folgende Ziffern bezeichnen den Band bzw. die Seitenangabe. 4 Das Manuskript der Memoiren befindet sich beim französischen Verteidigungsministerium, Generalsekretariat für Verwaltung, Historischer Dienst, Chateau Vincennes, F-94306 Vincennes, unter der Signatur »Richou-Bihet, Akt  : GR 1 Kt 271«. 5 Oberst Amens Vorstellung von Generalmajor Erwin Lahousen als erster Zeuge der Anklage findet sich in IMT 2  : 485. Während des Prozesses bezog sich Lahousen wiederholt auf die Zusammenfassung seines Kriegstagebuchs für den Zeitraum 22. August 1939 bis 3. August 1943. Ich zitiere diese Quelle als Lahousen-KTB. Kopien dieser unveröffentlichten Quelle befinden sich in den United States National Archives, im Bundesarchiv/Militärarchiv in Freiburg/Breisgau und im Institut für Zeitgeschichte in München. Kopien von Lahousens militärischen Personalunterlagen befinden sich in denselben drei Archiven, ich zitiere sie hier als »Lahousen-Militärunterlagen«. Das große öffentliche Interesse an den Nürnberger Prozessen und an späteren Fällen von Völkermord hat zu einer Unzahl von Büchern, Erinnerungen, Tagebüchern und sonstigem Schrifttum unterschiedlicher Qualität geführt. Zu den am tiefsten schürfenden und genauesten Darstellungen zählt das folgende Buch, das einer der amerikanischen Hauptankläger in Nürnberg mehr als 45 Jahre nach Ende des Hauptkriegsverbrecherprozesses 1946 verfasste  : Telford Taylor, The Anatomy of the Nuremberg Trials (New York 1992). 6 Hitler errichtete das OKW am 4. Februar 1938 als Nachfolger des bisherigen Kriegsministeriums  ; es war eine übergeordnete Kommandobehörde für Heer, Kriegsmarine und Luftwaffe. Mit dem Ziel ausgestattet, den Einfluss der NSDAP auf das Militär zu verstärken, bestand das OKW aus Hitler als Oberstem Befehlshaber der Wehrmacht und Wilhelm Keitel als Chef OKW, de facto Hitlers Stabschef. Das Amt Ausland/Abwehr unterstand direkt dem OKW. Vgl. Hoffmann, History, S. 36 ff. sowie Harold C. Deutsch, The Conspiracy against Hitler in the Twilight War (Minneapolis 1968), S. 27. 7 Görings Tiraden gegen Lahousen gingen nach dessen zweitägiger Zeugenaussage auch außerhalb

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Anmerkungen des Gerichtssaales weiter. Die amerikanische Anklagebehörde stützte sich unter anderem auf die Dienste von Dr. G. M. Gilbert, einem deutsch sprechenden Offizier des militärischen Nachrichtendienstes, der im Hauptberuf Psychologe war. Vom 20. Oktober 1945 bis zum 16. Oktober 1946, dem Tag der Hinrichtung der zum Tode verurteilten Angeklagten, fungierte er als Gefängnispsychologe. Zu Oberst Gilberts Pflichten gehörte täglicher enger Kontakt zu den Gefangenen, um dem Gefängniskommandanten, Oberst B. C. Andrus, über deren psychologisch-moralischen Zustand berichten zu können. Nach dem Selbstmord von Robert Ley gehörte die Verhinderung weiterer Selbstmorde unter den Häftlingen zu Gilberts wichtigsten Aufgaben. Erstmals 1947 publiziert, erlebte Gilberts Tagebuch diverse Auflagen, deren neueste ist  : G. M. Gilbert, Nuremberg Dairy (New York 1995). Vgl. ebenda, S. 49 ff. und die Feststellung »Göring was fuming« (Göring tobte  ; gemeint ist nach Lahousens Aussage am Morgen des 30. November 1945) auf Seite 50. Die deutsche Ausgabe wird herangezogen  : Gustave M. Gilbert, Nürnberger Tagebuch. Gespräche der Angeklagten mit dem Gerichtspsychologen (Frankfurt am Main 1962).   8 Taylor, Anatomy, S. 219 ff.   9 Der Wortlaut des Eides war ungewöhnlich und möglicherweise ein Kompromiss zwischen den unterschiedlichen Rechtssystemen der vier Mächte, die den Gerichtshof bildeten. Vgl. IMT 2  : 485. 10 Interviews mit Dr. Erika Roth-Limanova (Nichte von Lahousens erster Gattin). Der Hinweis auf die acht Generationen im Militärdienst wird bestätigt bei Karl Glaubauf/Stefanie Lahousen, Generalmajor Erwin Lahousen Edler von Vivremont (Münster 2004), S. 12. 11 Die Geschichte des österreichischen Infanterie-Regiments Nr. 14 (der Linzer »Hessen«) setzt mit dessen Gründung am 4. November 1733 in Linz an der Donau (Oberösterreich) ein. Ursprünglich finanzierte der Herzog von Hessen (ein deutscher Teilstaat ungefähr 200 Kilometer nordwestlich von Linz gelegen) das Regiment. Sein Motiv war die Abwehr künftiger Einfälle der Osmanen. Das Regiment gehörte jedoch zur österreichischen Armee und führte zeitweilig den offiziellen Namen »k. u. k. Infanterie-Regiment Nr. 14«. Während des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges verwendete die britische Regierung für ihren Kampf gegen die aufständischen Kolonisten auch Söldner, die der Herzog von Hessen zur Verfügung stellte. Diese als die »Hessen« bezeichneten Söldner machten zeitweilig bis zu 30 Prozent der gegen die Kolonisten kämpfenden britischen Truppen aus. Die Linzer »Hessen« der österreichischen Armee hatten allerdings mit den in den britischen Streitkräften kämpfenden Hessen nichts zu tun. Es liegt eine 600 Seiten starke Regimentsgeschichte des Linzer Verbandes vor  : Hessen-Offiziersbund, Verfasser Oberst d. R. Heinrich, Linzer Hessen, 1733–1936 (Linz 1936). 12 Die Musik des Lahousen-Marsches ist für ein Orchester mit 45 verschiedenen Instrumenten komponiert und firmiert als »© Copyright 1936 by Johann Kliment, Wien«. Inhaber des Copyrights ist die Johann Kliment KG (eine Musikalienhandlung, an welche die Komposition verkauft wurde). Die Noten enthalten die Beifügung »Marsch von Franz Rezek arrangiert von E. Rameis«. Franz Rezek blieb wohl nichts anderes übrig, als den Auftrag der Familie Lahousen zur Komposition des Marsches anzunehmen, denn Oberst Wilhelm Lahousen war der frühere Kommandeur des Infanterie-Regiments Nr. 14, und bei dem Komponisten handelte es sich um den Kapellmeister der Regimentsmusik. 13 Interviews mit Familienmitgliedern, darunter Stefanie Lahousen. 14 Vgl. Lahousen-Militärunterlagen, Seite 2, überschrieben mit »Dienstlaufbahn«. 15 Für vertiefte Informationen zu den Schritten des RSHA gegen die Familie Lahousen siehe Kapitel 3. 16 Für das Ehepaar Erwin und Marga Lahousen wird diese Linzer Wohnadresse angegeben. Vgl. Wiener Genealogisches Taschenbuch (Wien 1926), S. 172. Im Feld benutzte Lahousen zusammen mit seiner Einheit der österreichischen Armee eine militärische Unterkunft.

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Anmerkungen 17 Interviews mit Familienmitgliedern, darunter Stefanie Lahousen und Dr. Erika Roth-Limanova. 18 Lahousen-Militärunterlagen, S. 4. Nach seiner Beförderung zum Major beschleunigten sich Lahousens weitere Vorrückungen, worin sich die Anerkennung seiner zahlreichen Talente und Leistungen, insbesondere seines Schreibtalents, ausdrückt. 19 Lahousen-Militärunterlagen, S. 1 ff. Vgl. auch Lahousens Aussage in  : IMT 2  : 486. 20 IMT 2  : 486 f. Colonel Amen bemühte sich sehr, Lahousens Verdienste als Nachrichtendienstoffizier mit ausgedehnter Erfahrung darzulegen. 21 Der Gerichtshof interessierte sich kaum für die nachrichtendienstliche Karriere von General Böhme, sehr wohl aber für die spätere Laufbahn des Zeugen Erwin Lahousen und dessen Beziehung zu Admiral Wilhelm Canaris, Chef der »Abwehr«. IMT 2  : 487 f. 22 MADs Memoiren enthalten viele detaillierte Information über Lahousens Bemühungen, seine Führungsoffizierin Madeleine und deren Vorgesetzte im französischen Nachrichtendienst über die Gesamtstrategie und die Taktik NS-Deutschlands ins Bild zu setzen. Keine Biografie Lahousens kann sein wahres Leben vor und im Zweiten Weltkrieg ohne vertieftes Verständnis für die in diesen Erinnerungen festgehaltenen Ereignisse beschreiben. Freilich müssen die Memoiren auch immer auf ihre Glaubwürdigkeit hin kritisch befragt und mit sonstigen verfügbaren Informationen abgeglichen werden. Ein treffliches Beispiel für die Notwendigkeit solcher Überprüfungen bildet MADs Geschichte der im März 1939 in London gelagerten tschechoslowakischen Goldreserven. Sie behauptet, sie habe die französische Regierung gewarnt, und diese habe den tschechoslowakischen Behörden geraten, das Gold in London zu schützen. Dies ist bestenfalls gut erfunden. Die tschechische Nationalbank teilte dem Verfasser mit, dass in Wahrheit ein Großteil dieser Goldreserven von London an NS-Deutschland übergeben worden war. Ungeachtet solcher Fehler stellen die MADMemoiren eine verlässliche Quelle für Informationen über Lahousens Leben dar. Nachfolgende Seitenangaben beziehen sich auf das französische Original dieser Memoiren. 23 MAD-Memoiren, S. 2. 24 Oberst Sallant schätzte MADs Qualitäten zweifellos sehr hoch ein. Er spielte eine bedeutende Rolle bei der Entscheidung des französischen Nachrichtendienstes, MAD als Führungsoffizier Oberst Lahousens einzusetzen. 25 MAD-Memoiren, S. 4. 26 Das Café Schwarzenberg ist noch immer ein beliebtes Kaffeehaus an der Wiener Ringstraße, gegenüber dem Schwarzenbergplatz. Hinweise auf MADs diverse Wiener Wohnsitze stammen aus den Unterlagen des Magistrats der Stadt Wien. Europäische Städte verlangen von ihren Einwohnern üblicherweise eine amtliche Meldung ihres Wohnsitzes. 27 Interview mit Dr. Erika Roth-Limanova. Lahousens Replik belegt seinen ausgedehnten Sinn für Humor. 28 Interview mit Mag. Peter Steiner, Mitarbeiter der Österreichischen Nationalbibliothek und Oberst der Reserve des Österreichischen Bundesheeres. 29 Ebenda. 30 MAD-Memoiren, S. 10. 31 Ebenda. 32 Interview in Wien mit Fritz Molden, führende Figur des österreichischen Widerstandes, später Autor und Publizist. Michael Burleigh, The Third Reich  : A New History (London, Oxford 2000), S. 271, hält fest, dass bis Anfang 1932 der Stimmenanteil für die NSDAP in Österreich auf über 16 Prozent angestiegen war und dass die Wahlbeteiligung üblicherweise bei 90 Prozent lag. Die beiden Großparteien (Christlichsoziale und Sozialdemokraten) erhielten im Schnitt etwa 80 Prozent der Stimmen. 33 Die Mehrzahl der Mitglieder dieser von Oberst Muff geleiteten Kommission bildeten dem Na-

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Anmerkungen tionalsozialismus positiv gegenüberstehende Offiziere beider Armeen. Durch Lahousens direkte Übernahme in den deutschen Generalstab bzw. die »Abwehr« vermied Canaris in seinem Fall die Einschaltung der Muff-Kommission. Bedenkt man die vorherigen Aktivitäten der Familie Lahousen, insbesondere jene von Erwins Bruder Wilhelm, der gleich nach dem »Anschluss« von der Gestapo verhaftet wurde, dann ist es unwahrscheinlich, dass Erwin Lahousen von der Muff-Kommission akzeptiert worden wäre. Zur Tätigkeit des Generals Muff vor und nach dem »Anschluss« siehe Gerhard Artl, Zur Tätigkeit des Deutschen Militärattaché in Wien General Wolfgang Muff (1933–1938), in  : Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 47 (1999), S. 197–247. 34 Informationen zu den Uniformen stammen von Peter Steiner im Verlauf zahlreicher Gespräche in Wien. Siehe Anmerkung 28. 35 Bemerkung von Oberst Amen gegenüber dem Gerichtshof. IMT 2  : 487. 36 Felix Frankfurter studierte 1920 in Oxford, bis er im folgenden Jahr den Ruf auf einen Lehrstuhl an der Harvard Law School annahm. Im akademischen Jahr 1933/34 kehrte er als Gastprofessor der Juridischen Fakultät nach Oxford zurück. Während dieser Zeit verkehrte er mit zahlreichen Personen der britischen Gesellschaft und freundete sich mit Lady Astor ungeachtet deren rechtsgerichteter politischer Ansichten an. Diese Freundschaft war maßgeblich beteiligt an der Entscheidung der NS-Machthaber, Frankfurters 82‑jährigen Onkel freizulassen und dessen Emigration zu gestatten. Vgl. Noah Feldman, The Scorpions (New York 2011), S. 152 ff. für eine detaillierte Beschreibung von Verhaftung und späterer Freilassung von Dr. Solomon Frankfurter. 37 Siehe Daniela Claudia Angetter, Gott schütze Österreich. Wilhelm Zehner (1883–1938) (Wien 2006). Das Buch enthält ein Vorwort von Otto (von) Habsburg. Nicht alle österreichischen Generäle widersetzten sich den NS-Invasoren. General Alexander Löhr diente dem »Dritten Reich« in Polen und auf dem Balkan, wo die Wehrmacht in einen ausgedehnten Krieg gegen die dortigen Partisanen sowie in verbrecherische Erschießungen ziviler Geiseln, darunter auch Juden, verwickelt war. Wegen der vom Luftwaffengeneral Löhr geleiteten Bombardierung Belgrads am Ostersonntag, den 6. April 1941, wurde er bereits im Juni 1941 von einem jugoslawischen Gericht in Abwesenheit schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt. Nach seiner Gefangennahme bei Kriegsende wurde er am 16. Februar 1947 in Belgrad hingerichtet. 38 Diese Buchstaben befinden sich noch immer beim Haupteingang zum Wiener Stephansdom. 39 Republik Österreich, Bundesministerium für Inneres, Austria’s Secret and Intelligence Services (Wien 2008), S. 42. 40 Der Entschluss zur Säuberung der österreichischen nachrichtendienstlichen Akten war schon einige Zeit vor dem deutschen Einmarsch in der Nacht vom 11. auf den 12. März 1938 getroffen worden. Beteiligt daran waren Generalmajor Maximilian Ronge (Leiter des Evidenzbüros), Oberst d. G. Lahousen und mindestens sechs weitere dem Evidenzbüro zugeteilte Offiziere. Canaris beschloss, Oberst Rudolf Graf Marogna-Redwitz zum Leiter der neuen Wiener Dienststelle der »Abwehr« zu ernennen. Canaris und Marogna-Redwitz brachten sich in den Besitz der geheimen österreichischen Akten für Zwecke der »Abwehr«. Die von der »Abwehr« gestellte Gruppe flog nach Mitternacht mit einer Transportmaschine vom Typ Junkers JU-52 aus dem seitens der Luftwaffe der »Abwehr« zur Verfügung gestellten Kontingent von Flugzeugen von Berlin-Tempelhof ab. Vgl. Glaubauf/Lahousen, Generalmajor, S. 26 f. 41 Ebenda, S. 16. Mit Unterstützung des Grazer Historikers Dr. Martin Moll sichtete der Verfasser die Akten von Polizei und Sicherheitsapparat im Steiermärkischen Landesarchiv und im Grazer Stadtarchiv, konnte jedoch keinen Beleg dafür finden, dass Wilhelm Gustav Lahousen irgendeinen Posten im staatlichen Sicherheitswesen – sei es im Bundesland Steiermark oder der Stadt Graz – zwischen 1936 und 1938 innehatte. Daher fehlt ein Beleg für die auf Seite 16 des Buches von Glaubauf und Stefanie Lahousen aufgestellte Behauptung, Wilhelm Gustav Lahousen sei die Nr. 2

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Anmerkungen auf der Verhaftungsliste des NS-Regimes für die »Ostmark« gewesen. Es gibt aber keinen Zweifel daran, dass ihn die Gestapo tatsächlich nach dem »Anschluss« verhaftete. 42 Interviews mit Stefanie Lahousen in Wien und mit Marita Lahousen in Graz. 43 Siehe Deutsch, Conspiracy, S. 87 f. für eine Beschreibung von Lahousens Meldung zum Dienst in Berlin, April 1938, zuerst bei Canaris und dann bei Oster. Hier auch Osters Frage an Lahousen sowie Osters Charakterisierung Hitlers als »größter Verbrecher aller Zeiten«. Bestätigung hierfür auch in MAD-Memoiren, S. 20. 44 Wegen seiner vielen Reisen ins Ausland war Lahousen für die Kommunikation verantwortlich. Als erfahrenem Offizier im Nachrichtendienst waren ihm die Risiken einer Korrespondenz bekannt. Dieses Wissen sowie sein Dienstgrad verschafften ihm ebenso einigen Schutz wie der Umstand, dass MAD eine alte Freundin war, wenngleich sie eine Französin war. Nach dem »Anschluss« konnte MAD den ersten Zug von Wien in die Schweiz nehmen. Lahousen warnte sie davor, auf dieser Reise über Salzburg in die Schweiz Geld mitzuführen, denn die österreichischen Zöllner und das Eisenbahnpersonal beraubten ganz ungeniert jene Passagiere, die aus Österreich flohen. Viele Passagiere wurden auch von hakenkreuzgeschmückten Beamten aus dem Zug entfernt, bevor dieser die Schweiz erreichte. Nur drei Passagiere blieben im Zug, nachdem die Schweizer Grenzorgane alle Passagiere ohne Schweizer Visum aus dem Zug gewiesen hatten. MAD-Memoiren, S. 16 f. 45 Siehe die Zusammenfassung von Lahousens Tätigkeit im Rahmen seiner neuen Stellung bei der »Abwehr« zwischen März und September 1938 in MAD-Memoiren, S. 20. 46 Siehe Lahousens Erklärung gegenüber dem Nürnberger Tribunal. IMT 2  : 491. 47 Die Schilderung von Erwin Lahousens Meldung zum Dienst bei Admiral Wilhelm Canaris und Oberst Hans Oster im April 1938 in der Abwehrzentrale in Berlin wird bestätigt durch MADMemoiren, S. 20. Anlässlich von MADs erstem Besuch in Berlin Ende September 1938 gab Lahousen ihr beim Frühstück am folgenden Morgen eine Zusammenfassung seiner neuen Stellung in der »Abwehr«. MAD notierte dies sowie die Reaktionen von Canaris und Oster. Lahousen selbst erzählte diese Geschichte wiederholt. 48 IMT 2  : 487. 49 Bei einem Besuch des Autors im Mai 2011 schien, was das Straßenbild und die Villen in der ehemaligen Nachbarschaft von Canaris betrifft, die Zeit stehen geblieben zu sein. Allerdings wurde der Straßenname mehrfach geändert, zuerst im Mai 1939 auf Betazeile und am 31. Juli 1947 auf seinen gegenwärtigen Namen Waldsängerpfad. Vgl. Henning Schröder/Hans Lemke, Schlachtensee-West (Berlin 2010), S. 193–198. 50 In seinen Erinnerungsnotizen beschrieb Lahousen seine »persönliche« Beziehung zu Madeleine Bihet-Richou (»MAD«) auf Seite 39. Im Jahr 2000 veröffentlichte der französische Autor Raymond Ruffin »Les espionnes du XXe siècle«, worin er die Spionagekarriere von MAD (und weiterer weiblicher Agenten Frankreichs) sowie ihre dienstliche und persönliche Beziehung zu Lahousen schildert. Nach dem Krieg ernannte die französische Regierung MAD zum Ritter der Ehrenlegion, womit ihre Verdienste um Frankreich während des Krieges geehrt wurden. Siehe Raymond Ruffin, Les espionnes du XXe siècle (Paris 2000), S. 293–307. Vgl. auch Peter Broucek, Ein Verschwörer gegen Hitler und für Österreich. Generalmajor Erwin Lahousen, in  : Österreich in Geschichte und Literatur 49 (2005), S. 76–97, der die Partnerschaft zwischen Lahousen und MAD beschreibt. 51 Der für die organisierten, verbrecherischen Verfolgungen gegen Juden und deren Eigentum in ganz Deutschland im November 1938 verwendete Begriff »Kristallnacht« bedeutet faktisch nicht, dass diese Ereignisse auf eine Nacht begrenzt waren  ; sie dauerten vielmehr mindestens eine ganze Woche an. Vgl. Ingrid Weckert, Feuerzeichen  : Die Reichskristallnacht (Tübingen 1981). 52 MAD-Memoiren, S. 26. 53 IMT 2  : 489 f.

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Anmerkungen 54 Zu anderen Schlüssen gelangt Theodore S. Hamerow, On the Road to the Wolf ’s Lair  : German Resistance to Hitler (Cambridge, MS 1997), S. 235. Hamerow nennt die Bemerkung von Canaris »one of the many apocryphal stories«, die in Deutschland nach dem Krieg im Umlauf waren. Er bemerkt, dass der Autor Karl Heinz Abshagen Lahousen »a few times« getroffen habe, womit er seine offenbare Unkenntnis der engen persönlichen Beziehung zwischen Lahousen und den Brüdern Abshagen zu erkennen gibt. Die Bemerkung von Canaris wird nicht nur von Karl Heinz Abshagen, Canaris (Stuttgart 1955  ; engl.: London 1956), S. 183 zitiert, sondern in den MAD-Memoiren bestätigt. Zumindest ein vom Autor interviewtes Mitglied der Familie eines deutschen Marineoffiziers, der Canaris sehr gut kannte, bestätigte ebenfalls, dass die Äußerung authentisch klingt. Interview in Philadelphia mit Otto Reichert-Facilides, American Institute of Architects. 55 MAD-Memoiren, S. 21. 56 Die unwiderstehliche Sogkraft der nationalsozialistischen Machtergreifung wird beschrieben bei Hoffmann, History, S. 3–35. 57 Zu den Umständen der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes vom 23. März 1933 vgl. ebenda, S. 7. 58 Andere Beispiele für den bei den Widerständlern typischen Galgenhumor sind etwa die Verwendung des Begriffs Lakai oder Lakeitel für Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel und von »Scheiß in Quark« zur Beschreibung von Arthur Seyß-Inquart, des österreichischen NS-Führers. Keitel und Seyß-Inquart waren im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess angeklagt, sie wurden dort wegen Kriegsverbrechen zum Tode verurteilt und hingerichtet. Vgl. Heinz Höhne, Canaris. Patriot im Zwielicht (München 1976), S. 285 für Bezüge auf General »Lakeitel«. Siehe Sibylle Niemöller-von Sell, Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag (Berlin 1996), S. 29 mit Bezug auf Seyß-Inquart. Sibylle Niemöller-von Sell ist die Witwe des Pastors Martin Niemöller, der beginnend mit dem 1. Juli 1937 bis Kriegsende als persönlicher Prominentenhäftling Hitlers eingekerkert war, da seine Predigten und sonstigen Aktivitäten dem Nationalsozialismus dezidiert feindlich gegenüberstanden. Vgl. William L. Shirer, The Rise and Fall of the Third Reich (London 1998), S. 235–239. 59 Der Hintergrund der Hoßbach-Niederschrift und der ihr vorausgegangenen Besprechung wird in zahlreichen Büchern beschrieben, darunter Hoffmann, History, S. 36–40. Der Text der Niederschrift findet sich in Louis L. Snyder, Encyclopedia of The Third Reich (New York 1976), S. 172 ff. Vgl. auch Taylor, Anatomy, S. 198. 60 Siehe Hoffmann, History, S. 37. 61 Interviews des Autors in Wien mit Dr. Peter Broucek, früherer Mitarbeiter des Österreichischen Staatsarchivs. 62 Der Begriff »principal motor of the opposition« zur Charakterisierung von Carl Friedrich Goerdeler stammt von Deutsch, Conspiracy, S. 11. 63 Vgl. ebenda, S. 8 ff. Siehe auch Terry M. Parssinen, The Oster Conspiracy of 1938 (London 2004). Erweiterte deutsche Ausgabe  : Terry M. Parssinen, Die vergessene Verschwörung. Hans Oster und der militärische Widerstand gegen Hitler (München 2008). 64 Für eine vertiefte, detaillierte (mehr als 1.000 Seiten umfassende) Darstellung des Wegs zur Münchener Konferenz von 1938 vgl. Telford Taylor, Munich. The Price of Peace (New York 1979). 65 Oberst Groscurth wurde eine neue und herausfordernde Dienststellung als Verbindungsoffizier zwischen der »Abwehr« und dem OKH angeboten. Später wurde er der deutschen 6. Armee unter Generaloberst Friedrich Paulus und dann dem XI. Armeekorps zugeteilt. Bis zu seiner Gefangennahme in Stalingrad Anfang Februar 1943 blieb Groscurth im Widerstand aktiv. Er starb am 7. April 1943 in sowjetischer Gefangenschaft an Typhus. Nach dem 20. Juli 1944 blieb sein Tagebuch dem Zugriff der Gestapo entzogen, das seine Witwe versteckt hatte. Die Edition dieses Tagebuchs verzögerte sich bis 1970, da dessen Herausgeber noch weitere Korrespondenz sammeln wollten. Vgl.

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Anmerkungen Helmuth Groscurth, Tagebücher eines Abwehroffiziers 1938–1940 (hg. v. Helmut Krausnick und Harold C. Deutsch, Stuttgart 1970). 66 Siehe Erwin Lahousen, Fragmente der Erinnerungen, S. 27. 67 Das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) wurde im September 1939 als eine staatliche und NSDienststellen unter einem Dach vereinigende Behörde mit Zuständigkeit für alle Sicherheitsbelange in NS-Deutschland gegründet. Seine Untergliederung bestand unter anderem aus der Gestapo, dem Sicherheitsdienst (SD) und der Kriminalpolizei. Reinhard Heydrich war der erste Chef des RSHA bis zu seinem Tod am 4. Juni 1942  ; ihm folgte Ernst Kaltenbrunner nach, der im Nürnberger Prozess zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. 68 Vgl. Broucek, Verschwörer. In Fußnote 41 (S. 86) zitiert Broucek folgende Charakterisierungen für Lahousen  : »antifaschistischer Monarchist« sowie »ernsthafter vertrauenswürdiger Gesprächspartner und Ehrenmann«. 69 Zeugnis über den Abschluss des Kurses vom Juni 1929 (Fotokopie im Besitz des Verfassers). 70 Hoffmann, History, S. 273 ff. beschreibt detailliert die Vorräte der »Abwehr« an Sprengstoffen und Zündern. 71 Der gescheiterte Bombenanschlag mit den Cointreau-Flaschen vom 13. März 1943 wurde wiederholt beschrieben und kommt auch zu Beginn des 2008 fertiggestellten Films »Operation Walküre« vor, in dem Tom Cruise die Rolle des Claus Schenk Graf von Stauffenberg spielt. Siehe auch Kapitel 9. 72 Hoffmann, History, S. 275 ff. beschreibt die Geschichte der Division Brandenburg. 73 Die Dora-Mission wird geschildert in  : Deutsche Militärzeitschrift, Sonderausgabe  : Rommel und das Deutsche Afrikakorps 1941–1943, Nr. 1 (2009), S. 94–98. 74 Lahousens letzter Eintrag in seinem Kriegstagebuch datiert vom 3. August 1943, jenem Tag, an dem er als Leiter der Abwehr-Abteilung II abgelöst wurde und sich auf seinen neuen Posten als Regimentskommandeur an der Ostfront vorbereitete. Während eines von drei Interviews des Verfassers mit Stefanie Lahousen (seiner zweiten Gattin, die er 1953 heiratete) in Wien äußerte diese Verständnis für den Wunsch ihres Mannes, nach vier Jahren Dienst bei der »Abwehr« eine neue Dienststellung zu erhalten. Als Motiv für diesen Wunsch nimmt sie – neben der Erwartung, so zum General befördert zu werden – Lahousens Befürchtungen wegen der Sorglosigkeit einiger seiner Kameraden im Abwehr-Widerstand an. Lahousen übergab sein persönliches Kriegstagebuch seinem Rechtsanwalt in Wien, und er brachte auch seine erste Gattin und die persönlichen Gegenstände der Familie im August 1943 nach Wien zurück. Bis zum 15. Juli 1944 griffen weder die Royal Air Force noch das U. S. Army Air Corps Wien mit starken Kräften an. Folglich bot Wien Frau Lahousen größere Sicherheit als das vielfach bombardierte Berlin. Schon in einer frühen Phase des Krieges hatten die drohenden britischen und später amerikanischen Bombenangriffe die Führungsstäbe des OKW einschließlich jener der »Abwehr« zur Verlegung ihrer Dienststellen nach Zossen, circa 30 Kilometer südlich des Berliner Tiergartens, gezwungen. 75 MAD-Memoiren, S. 47. 76 Hitler wurde seitens der Widerständler im privaten Rahmen oft als der »böhmische Gefreite« bzw. nur als »der Gefreite« tituliert  ; dies war der höchste Dienstgrad, den er im Ersten Weltkrieg erreicht hatte. Der Begriff »böhmisch« konnte als Ausdruck einer ethnischen Verunglimpfung verwendet werden oder als Hinweis auf Hitlers nicht restlos geklärte Familiengeschichte. 77 Wolfgang Neugebauer/Peter Schwarz, Stacheldraht, mit Tod geladen … Der erste Österreichertransport in das KZ Dachau 1938 (Wien 2008). 78 Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und des Kalten Krieges wurden in der Tschechischen Republik am 19. Oktober 1991 eine künstlerische Erinnerungsausstellung sowie ein Konzert zur Erinnerung an das Leid der Juden in Theresienstadt veranstaltet. Beim Konzert hielt der tschechische Präsident Vaclav Havel eine Ansprache. Danach gastierte die Ausstellung in vielen Staaten

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Anmerkungen Europas und in den USA, unter anderem in der Library of Haverford College, Pennsylvania. Der Autor besitzt einen Katalog dieser Ausstellung mit dem Titel »Theresienstadt«, veröffentlicht von der Meisterschule Lehmden. 79 Zitiert in Richard Bassett, Hitler’s Spy Chief. The Wilhelm Canaris Mystery (New York 2012), S. 71. 80 MAD-Memoiren, S. 49 f. 81 IMT 2  : 492. 82 Interviews mit Dr. Peter Broucek in Wien. Siehe auch Alfried Spieß/Heiner Lichtenstein, Das Unternehmen Tannenberg. Der Anlaß zum Zweiten Weltkrieg (Frankfurt am Main 1989). 83 Der Befehl zur Beschaffung polnischer Armeeuniformen und Rangabzeichen wurde der AbwehrAbteilung II erteilt. Folgt man Lahousens Aussage in Nürnberg (IMT 2  : 495–497), dann wurde dieser Befehl ausgeführt, wobei man sich damals schon »eigene Gedanken« machte, zumal dessen Zweck nicht bekanntgegeben wurde. Noch gegen Kriegsende wurde dieser vermeintliche gescheiterte Anschlagsversuch debattiert, als Lahousen während seiner Rekonvaleszenz von den an der Ostfront erlittenen Verwundungen seinen Wiener Landsmann SS-Hauptsturmführer Birckel traf, der sich über den Zwischenfall ausließ. Birckel behauptete, dass alle an dem Unternehmen beteiligten Angehörigen des Sicherheitsdiensts (SD) ebenfalls exekutiert worden seien. IMT 2  : 497. 84 IMT 2  : 492–495. 85 Die vier Anklagepunkte lauteten  : 1) Verschwörung zur Führung eines Angriffskrieges  ; 2) Führung eines Angriffskrieges  ; 3) Kriegsverbrechen  ; 4) Verbrechen gegen die Menschlichkeit. 86 IMT 2  : 494. 87 Ebenda. 88 Ebenda. 89 Während einer Reise nach London im September 1965 besuchte der Verfasser ein Memorialkonzert in der Royal Albert Hall zum Gedenken an den 25. Jahrestag der Teilnahme polnischer Piloten an der Luftschlacht um England. Eines der neuesten Bücher über die Luftschlacht ist James Holland, The Battle of Britain  : Five Months That Changed History. May–October 1940 (New York 2010). 90 Während des Angriffs der Wehrmacht auf die Niederlande, Belgien und Frankreich im Mai 1940 führte die Luftwaffe am 14. Mai 1940 einen Flächenangriff auf Rotterdam durch, während Verhandlungen zwischen dem deutschen und dem niederländischen Oberkommando über eine Kapitulation der Niederlande bereits liefen. 91 IMT 2  : 518 f. 92 John Keegan, The Times Atlas of the Second World War (London 1989), S. 27. Friedemann Bedürftig bestätigt dieselben Schätzungen in  : Lexikon Drittes Reich (München, Hamburg 1994), S. 266. 93 Jacek Lachendro, German Places of Extermination in Poland (Marki 2007) erläutert die Orte der NS-Todeslager in Polen. 94 Der Verfasser dankt Schwester Danuta Kozial, Historikerin des Ordens der Schwestern der Heiligen Familie von Nazareth in Krakau, für eine Führung durch das Museum sowie für eine Begegnung mit dessen Direktor. Am selben Tag begleitete Schwester Danuta den Autor bei einem Besuch des in der Nähe gelegenen polnischen Armee-Hauptquartiers und zu den militärischen Unterkünften in Krakau. Nach der Eroberung Warschaus waren diese Kasernen von der Wehrmacht genutzt worden. 95 Interview mit Schwester Danuta Kozial in Krakau. 96 Der Autor dankt Dr. Steven Medvec, Professor für Geschichte an der Holy Family University in Philadelphia, dafür, Informationen über das Leben von Janusz Kusocinski als Läufer bei den Olympischen Spielen und später als polnischer Soldat und Patriot zur Verfügung gestellt zu haben.

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Anmerkungen   97 Die amerikanische Anklage in Nürnberg führte als Beweismittel den Stroop-Bericht über den jüdischen Ghetto-Aufstand in Warschau ein, um die Anklagen gegen die SS als kriminelle Organisation wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu untermauern. SSGruppenführer Jürgen Stroop war für die Zerstörung des Ghettos verantwortlich. Der Aufstand wurde von Waffen-SS-Verbänden brutal niedergeschlagen, die während der Kämpfe das Ghetto in Brand steckten und es später bis auf die Grundmauern zerstörten. Heutige Besucher Warschaus sehen die Gedenkstätten für die Ghetto-Kämpfer und können dann den Spuren des zerstörten Ghettos in dem weitläufigen Park, der es ersetzt hat, folgen. Vgl. Taylor, Anatomy, S. 170 und 202 sowie Burleigh, The Third Reich, S. 753–755.   98 Portugal diente während des Weltkrieges als eine bedeutende Spionagedrehscheibe. Trotz seiner Neutralität und seiner Lage am äußersten westlichen Rand der Iberischen Halbinsel konnten alle daran interessierten Staaten (sowohl kriegführende als auch neutrale) dort diplomatische oder Wirtschaftsdienststellen unterhalten, die ihre geheimen Aktivitäten abschirmten. Aufgrund der ausgesprochen freundschaftlichen Beziehungen zu Francos Spanien verfügte die »Abwehr« über einen unkomplizierten Zugang zu Portugal. Insbesondere Canaris fühlte sich in Spanien wie zu Hause  ; er besuchte das Land oft unter dem Aliasnamen Señor Reed Rosas. Lahousen begleitete Canaris des Öfteren auf diesen Spanienreisen. Canaris hatte im Ersten Weltkrieg fließend Spanisch zu sprechen gelernt  ; vertrauliche Gespräche zwischen ihm und Franco wurden auf Spanisch geführt. Die Agenten des konkurrierenden RSHA taten sich hingegen schwer, Zugang zu höchsten Stellen, wie es der »Abwehr« möglich war, zu erlangen.   99 Lahousen, Fragmente der Erinnerung, S. 55. Lahousen beschrieb detailliert den jüngsten Lebensabschnitt dieser mutigen Polin mit Standort im schweizerischen Bern und ihre herausragenden Fähigkeiten als Agentin. Er erwähnt auch das Lob von Canaris für sie als eine der engagiertesten Unterstützerinnen des Widerstandes. Halina Szymanska verschaffte der »Abwehr« durch ihr Berner Büro direkten Zugang zu alliierten Nachrichtendiensten, unter anderem zum MI5 und MI6 und später zur OSS-Dienststelle in Bern unter der Leitung von Alan Dulles. 100 Ebenda. Siehe auch Ian Colvin, Chief of Intelligence (London 1951), S. 81 und Bassett, Hitler’s Spy Chief, S. 180–183, 196. 101 Im Januar 1943 nahmen Roosevelt und Churchill auf der Konferenz von Casablanca die alliierte Politik der bedingungslosen Kapitulation an, um den dort nicht anwesenden Stalin von ihren ehrlichen Absichten zu überzeugen. Ursprünglich galt diese Forderung gegenüber sämtlichen Staaten der Achse und wurde erst später auf Deutschland, Italien und Japan beschränkt. Diese alliierte Politik stellte für den Widerstand ein erhebliches Problem dar. Seine Angehörigen versuchten wiederholt die alliierte Bereitschaft zu Verhandlungen mit einer neuen deutschen Regierung nach einem erfolgreichen Staatsstreich gegen die NS-Führung auszuloten. 102 Janusz K. Zawodny, Death in the Forest  : The Story of the Katyn Forest Massacre (Notre Dame, IN 1980), beinhaltet eine vollständige Schilderung der Gefangennahme der 15.000 polnischen Offiziere durch die Rote Armee sowie der nachfolgenden Exekutionen. Er schildert auch die deutschen und sowjetischen Versuche, jeweils die andere Seite dafür verantwortlich zu machen, sowie damit zusammenhängende amerikanische Vertuschungsmanöver. Zu den hochrangigen Amerikanern, die sich darum bemühten, zählten Präsident Roosevelt und der US-Botschafter in der Sowjetunion, Averell Harriman, sowie dessen 25‑jährige Tochter, aus deren Feder jener Bericht des State Department stammt, der die Deutschen für die Morde verantwortlich macht. Um den Kriegseintritt der UdSSR gegen Japan herbeizuführen, untersagte Roosevelt sogar seinem alten Freund aus der Demokratischen Partei, dem Marineoffizier George Earle, die Veröffentlichung eines Artikels über die sowjetische Schuld an Katyn. Um die Befolgung dieser Anweisung des Präsidenten sicherzustellen, versetzte Roosevelt Earle auf einen Posten ins amerikanische Sa-

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Anmerkungen

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moa. Stalins Nachfolger brauchten beinahe 50 Jahre, um die Wahrheit über den Mord an mehr als 15.000 polnischen Offizieren einzugestehen. Für viele Polen ist die Erinnerung an Katyn bis heute eine Art Fluch, den sie nicht loswerden können. Im Juni 2010 stürzte ein Flugzeug, in dem sich der polnische Staatspräsident und viele weitere offizielle Besucher auf dem Weg zur jährlichen Erinnerungsfeier befanden, beim Landeanflug auf den nahe gelegenen Flugplatz von Smolensk ab, möglicherweise wegen des herrschenden schlechten Wetters. Alle Passagiere kamen dabei ums Leben. Siehe Taylor, Anatomy, S. 466–472. Schon bald nach Errichtung der Konzentrationslager ging man dort zur Verwendung von Giftgas über, um die Häftlinge zu töten. Ursprünglich gebrauchte die SS Kohlenmonoxid  ; nach zahlreichen Versuchen fand die SS dann aber heraus, dass das Gas Zyklon B (bestehend aus Hydrozyanid) am effektivsten wirkte. Dieses Gas wurde daher weithin für die Tötungen verwendet. Die bewegte Geschichte Polens wird durch diverse Gebietsaufteilungen seitens seiner feindlichen Nachbarn Russland, Preußen und Österreich gekennzeichnet. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gab es drei solcher Teilungen, die letzte fand 1795 statt. Weitere Gebietsveränderungen erfolgten nach dem Wiener Kongress 1815  ; man spricht deshalb auch von der vierten Teilung Polens. Ab 1795 existierte Polen 123 Jahre lang nicht mehr als unabhängiger Staat, bevor ein solcher durch den Versailler Vertrag erneut anerkannt wurde. Die 20 Jahre später, 1939, zwischen NS-Deutschland und der Sowjetunion vereinbarte Teilung Polens war in dieser Zählung daher die fünfte. Der Begriff »jüdischer Siedlungsrayon« bezeichnet ein Gebiet des zaristischen Russlands, zu dem große Teile der heutigen Ukraine, Moldawiens, Weißrusslands, des westlichen Russland und des östlichen Polen einschließlich Warschau und Litauen gehörten. Juden durften sich nur in diesem Gebiet auf Dauer ansiedeln. Nach 1918 blieben die meisten Juden in diesem Rayon ansässig. »Jenseits des Rayons« meint jenes Gebiet, in dem jüdische Ansiedlungen zur Zarenzeit untersagt waren. Selbst innerhalb des Rayons waren solche Ansiedlungen in diversen Städten verboten. Das Territorium des Deutschen Reiches und Österreich-Ungarns bildete die westliche Begrenzung des Rayons. Ernsthafte Vorbereitungen des »Dritten Reiches« für einen Überfall auf die Sowjetunion setzten schon im Januar 1941 ein. Es handelte sich nicht nur um militärische Vorkehrungen, sondern auch um die Entwicklung fortgeschrittener, organisierter Tötungsverfahren, die sich gegen Juden und andere Feindgruppen auf dem Gebiet der UdSSR bzw. der von ihr besetzten Territorien wie zum Beispiel Ostpolen richten sollten. Aus dieser Zeit stammt auch die Aufstellung der Einsatzgruppen. Vgl. Taylor, Anatomy, S. 39, 186 f. und die Ausführungen zum Schicksal der ungarischen Juden, nachdem die Wehrmacht das bis dahin verbündete Ungarn besetzt hatte. Taylor, Anatomy, S. 248. Vgl. ebenda, S. 169, wo die wechselnden Ansichten des Richters Jackson über die Rolle und die Aktivitäten der Einsatzgruppen geschildert werden. Ursprünglich konnte Jackson all dies gar nicht glauben. Nachdem die amerikanischen Ankläger zur Vorbereitung des Falls Beweismaterial vorgelegt hatten, änderte Jackson seine Meinung dahingehend, dass die Einsatzgruppen eine kriminelle Organisation gewesen seien, die Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen habe. Das Verstecken von Zeitzünderbomben durch die Rote Armee, die nach der deutschen Besetzung diverser sowjetischer Städte detonierten, hatte auf die Wehrmacht eine zweifache Wirkung. Zum einen fügten die Bomben den ahnungslosen Okkupatoren schwere Verluste zu. Zum anderen wurde deren Moral erheblich getroffen. Daraufhin griffen die Deutschen rasch zu einer Politik

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Anmerkungen

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von Repressalien gegen sowjetische Zivilisten, insbesondere gegen Juden. Solche Repressalien verstießen allerdings gegen das geltende Völkerrecht. Taylor, Anatomy, S. 244–246, mit einer Zusammenfassung der Aussage von Hermann Friedrich Gräbe. Dessen Aussage in Leon Poliakov, Harvest of Hate (Syracuse, NY 1954), S. 125 f. Taylor, Anatomy, S. 246–248, mit Zusammenfassung der Aussage von Otto Ohlendorf vom 3. Januar 1946. Die Aussage selbst in IMT 4  : 344–393. Siehe auch das Affidavit von Otto Ohlendorf vom 20. November 1945, gedruckt in  : Nazi Conspiracy and Aggression. Volume VIII. USGPO 3. Januar 1946. Dokument UK 81. Der Begriff »Ohlendorf Affidavit« bezieht sich auf dieses Dokument. Ebenda, Ohlendorf Affidavit, S. 3. Sowohl Daniel Jonah Goldhagen, Hitler’s Willing Executioners  : Ordinary Germans and the Holocaust (New York 1996) als auch Christopher R. Browning, Ordinary Men  : Reserve Police Battalion 101 and the Final Solution in Poland (New York 1992) belegen, dass es gegen die These von der »sauberen Wehrmacht« unzählige widersprechende Gegenbeispiele gab. Das schreckliche, verbrecherische Massaker von Babi Yar wird behandelt bei Taylor, Anatomy, S. 169 und 462. Weitere Informationen bei Snyder, Encyclopedia, S. 15. Da diese zwölf Verfahren hauptsächlich im ehemaligen KZ Dachau stattfanden, werden sie auch »Dachauer Prozesse« genannt. Ohlendorf war der Hauptangeklagte im Verfahren Nr. 9, dem Einsatzgruppenprozess. Dieser fand gegen 24 Angeklagte in Nürnberg statt. Am 10. April 1948 wurden Ohlendorf und 13 weitere Angeklagte zum Tode verurteilt. Ohlendorf und drei weitere Kommandeure von Einsatzgruppen wurden am 7. Juni 1951 hingerichtet. Vgl. Valerie Geneviève Hébert, Hitler’s Generals on Trial. The Last War Crimes Tribunal at Nuremberg (Lawrence, KS 2010). Die Autorin beschreibt diesen Nürnberger Nachfolgeprozess, doch ihr Buch enthält leider zahlreiche Fehler  ; zum Beispiel findet sich auf Seite 13 eine Verwechslung von US-Präsident Theodor Roosevelt mit Franklin Delano Roosevelt – an Letzteren war der Morgenthau-Plan adressiert. Sie verwechselt auch Rudolf Heß (Hitlers Stellvertreter bis Mai 1941) mit Rudolf Höß, dem Lagerkommandanten von Auschwitz (S. 23). Lahousen hob hervor, dass Canaris für die »Abwehr« stets Nachrichtendienstoffiziere mit ausgeprägten Kenntnissen diverser europäischer Sprachen sowie der Befähigung zu Klarheit und Objektivität beim Abfassen schriftlicher Meldungen zu rekrutieren trachtete. Dies wurde durch Interviews des Autors mit Angehörigen der Familie Lahousen in Wien bestätigt. Groscurths zwei Tagebücher überstanden sowohl den Krieg als auch die Zerstörungsaktionen der Gestapo nach dem 20. Juli 1944. Sein persönliches Tagebuch umfasst den Zeitraum vom 16. März 1935 (an diesem Tag wurde in Deutschland die allgemeine Wehrpflicht wieder eingeführt) bis zum 14. Februar 1940 und beinhaltet detaillierte Beschreibungen des Widerstandes gegen Hitler. Das Kriegstagebuch umfasst die Zeit vom 1. September 1939 bis zum 1. Februar 1940. Damit zusammenhängende Niederschriften und Korrespondenzen, viele davon von Hand geschrieben, sind ebenfalls wichtige Dokumente für die Aktivitäten des Widerstandes. Der frühere amerikanische Generalkonsul in Bremen, Hon. Maurice W. Altaffer, half 1947 beim Wiederauffinden der Groscurth-Papiere an jener Stelle, wo sie während des Krieges vergraben worden waren. Die Historiker Helmut Krausnick, Harold C. Deutsch und Hildegard von Kotze ergänzten diese Papiere für deren Publikation um ein Vorwort und eine ausführliche Einleitung. Groscurth, Tagebücher. Lahousen beschrieb Groscurth als »Muffel« oder »Muffl« in Abshagen, Canaris, S. 124. Aufgrund dieses und vieler anderer Zitate ist der Autor davon überzeugt, dass Lahousen eine wichtige Quelle für diese erste Biografie von Canaris war. Siehe auch den Artikel  : Wilhelm Canaris – Legende und Wirklichkeit, in  : Die Wochenpost (Innsbruck), 10. Juli 1948, S. 3. Diese Aufzeichnungen »stammen von einem überlebenden engen Mitarbeiter und Vertrauten des Admirals.« Nur auf Lahousen trifft diese Beschreibung zu.

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Anmerkungen 120 Der Beleg für Groscurths Schamgefühl als Deutscher wegen der »Reichskristallnacht« in  : Groscurth, Tagebücher, S. 157. 121 Siehe Lahousen-KTB, 6. September 1939, S. 13 f., bestätigt in Groscurth, Tagebücher, S. 200. 122 Siehe ebenda, Anhang VI, S. 553. 123 Siehe ebenda, Einleitung, S. 95. 124 Siehe Anmerkung 117. 125 Groscurth, Tagebücher, Anhang IV, S. 534–542. 126 Siehe Taylor, Anatomy, S. 242, der über ein Affidavit von Dr. Wilhelm Höttl berichtet, das eine Bemerkung von Adolf Eichmann ihm gegenüber festhält. 127 Die Geschichte der frühen Deportationen österreichischer Häftlinge, darunter österreichische Juden, ins KZ Dachau ab dem 1. April 1938 ist dargestellt in Neugebauer/Schwarz, Stacheldraht. Für den Stichtag 1. Mai 1938 wird die Gesamtzahl der nach Dachau verschleppten österreichischen Häftlinge auf 50.000 bis 76.000 geschätzt. 128 Zitiert in Taylor, Anatomy, S. 363. 129 Hébert, Hitler’s Generals, S. XX. 130 Informationen über die Konzentrations‑, Arbeits- und Todeslager des »Dritten Reiches« in Polen finden sich in Lachendro, German Places. 131 Informationen zu dem sogenannten Musterlager Terezín (Theresienstadt) stammen aus einem Ausstellungskatalog der Akademie der Bildenden Künste, Meisterschule Lehmden (Theresienstadt 1993). Der Katalog widmet sich einer Exposition von Malereien und Skulpturen, die Studenten der Wiener Akademie zum Thema Unmenschlichkeit in Zusammenhang mit den Misshandlungen der jüdischen Insassen von Theresienstadt angefertigt hatten. Ausgestattet mit einem vom Oktober 1991 datierten Vorwort von Vaclav Havel, bietet der Katalog Zusammenfassungen der Geschichte der einstigen Festung, die in ein KZ umgewandelt worden war, ferner Abbildungen künstlerischer Werke der Akademiestudenten. Shirer, Rise and Fall, S. 991, erwähnt die 3.000 Juden, die unmittelbar nach der Ermordung Heydrichs aus dem »privilegierten« Ghetto Theresienstadt in den Osten verschleppt wurden, um dort ermordet zu werden. 132 Besuche des Verfassers beim Museum in Auschwitz und im nahe gelegenen Todeslager Birkenau 2009. Siehe Sybille Steinbacher, Auschwitz  : Geschichte und Nachgeschichte (München 2004), S. 109. 133 Zitiert in Taylor, Anatomy, S. 363. 134 Burleigh, Third Reich, S. 653–655 schildert die traurige Geschichte der jüdischen Gemeinde Salonikis. 135 Im Kreuzverhör von Albert Speer, Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion, erreichte Richter Jackson Speers Eingeständnis, dass mit seiner Zustimmung 100.000 ungarische Juden gegen ihren Willen zur Zwangsarbeit in unterirdischen Flugzeugfabriken ins »Dritte Reich« verbracht worden waren. Taylor, Anatomy, S. 452. Mit Zwangsarbeitern wurde rund ein Drittel der gesamten während des Krieges erzielten Produktion des Jägers Messerschmidt ME-109 in Wiener Neustadt, rund 40 Kilometer südlich von Wien, bewerkstelligt. Speers Ministerium sorgte für eine Gesamtproduktion der ME-109 von mehr als 33.000 Stück. Seit Anfang 2010 hat das Theater in der Josefstadt in Wien ein von Silke Hassler und Peter Turrini verfasstes Theaterstück über das Schicksal der ungarischen Juden aufgeführt. Unter dem Titel »Jedem das Seine« wird das Schicksal von mehr als 15.000 ungarischen Juden auf die Bühne gebracht, die von der SS in Fußmärschen nach Österreich verschleppt wurden. Die ansässige österreichische Bevölkerung beschäftigte sich mehr mit dem Näherrücken der Roten Armee als mit dem Los dieser bedauernswerten Häftlinge. Das Stück behandelt das Schicksal dieser Gruppe als exemplarisch für das Los von beinahe 800.000 ungarischen Juden, von denen die meisten in Auschwitz ermordet wur-

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Anmerkungen den. Ferner wird der seinerzeitige Vorschlag von Adolf Eichmann erwähnt, wonach eine Million ungarische Juden gegen von den Alliierten zu beschaffende 10.000 Lastkraftwagen ausgetauscht werden sollten  ; die Alliierten lehnten dies ab. 136 Vgl. Taylor, Anatomy, S. 39, 186 f. 137 Der eigentlich schon funktionslose Reichstag nahm Anfang September 1935 die Nürnberger Rassengesetze in einer eigenen Sitzung, zeitgleich mit dem Reichsparteitag der NSDAP, an. Rudolf Heß unterzeichnete die Gesetze. Die Nürnberger Gesetze zielten darauf ab, Deutsche von Personen mit nicht deutschem Blut fernzuhalten  ; bei Letzteren waren auch deren beruflich-geschäftlicher sowie ihr politischer und sozialer Status betroffen. Bei diesem Reichsparteitag 1935 kam auch Leni Riefenstahls Propagandafilm »Triumph des Willens« über den Parteitag von 1934, der die Stärke und Entschlossenheit des »Dritten Reiches« glorifizierte, zur Uraufführung. 138 Höhne, Canaris, S. 466. 139 Winfried Meyer, Unternehmen Sieben. Eine Rettungsaktion für vom Holocaust Bedrohte aus dem Amt Ausland/Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht (Frankfurt am Main 1992), S. 230–241. 140 Siehe Lahousen, Fragmente der Erinnerungen, S. 31  ; MAD-Memoiren, S. 86. 141 Michael Dobbs, Saboteurs  : The Nazi Raid on America (New York 2005), S. 201. Lahousen-KTB, 19. und 30. Juni 1942. 142 Höß wollte anscheinend dem Gericht seine Effizienz als Mörder darlegen. Siehe Taylor, Anatomy, S. 363. 143 Reichspräsident Paul von Hindenburg starb am 2. August 1934 auf seinem Landgut Neudeck. Am selben Tag verkündete Hitler die Zusammenlegung der Ämter des Reichspräsidenten und des Reichskanzlers in seiner Person unter der Amtsbezeichnung »Führer und Reichskanzler«. Am folgenden Tag wurde das Führungskorps der Reichswehr auf Hitler persönlich vereidigt. Ihm folgten innerhalb kurzer Zeit alle Angehörigen der Reichswehr  ; die damals Militärdienst Leistenden und auch alle künftigen Soldaten mussten, häufig im Rahmen ihrer Einheiten, denselben Loyalitätseid auf Hitler schwören. Siehe John W. Wheeler-Bennett, The Nemesis of Power  : The German Army in Politics (New York 1953), S. 331 f. 144 Lahousens Witwe Stefanie Lahousen erzählte dem Autor bei einem von mehreren Interviews, dass Lahousen während seiner Internierung beim britischen No. 74 Combined Service Interrogation Center (CSDIC) in Bad Nenndorf, Deutschland, vom 23. August bis 8. Dezember 1945 misshandelt worden sei, wobei man ihm einige Zähne ausgeschlagen habe. Dieses Center wurde 1947 geschlossen  ; eine offizielle Untersuchung der britischen Regierung führte zu einem Kriegsgerichtsverfahren gegen vier verantwortliche Offiziere wegen Misshandlung und Vernachlässigung, die zum Tod einiger angeblich nationalsozialistischer bzw. kommunistischer Häftlinge geführt haben sollen. Siehe auch den Bericht von Ian Cobain in  : The Guardian, 3. April 2006. 145 IMT 2  : 509 f. 146 Ebenda. In der Quelle wird Bürkner irrtümlich als »Bürckner« geschrieben. 147 Ebenda. 148 IMT 2  : 528. Der Angeklagte Schacht hatte einen deutschen Vater und eine amerikanische Mutter. Sie war vermutlich verantwortlich für die Auswahl von Schachts weiteren Vornamen Horace Greeley. 149 IMT 3  :7 f. 150 Für eine kurze Zusammenfassung der Geschichte des Kommando-Befehls vgl. Taylor, Anatomy, S. 253–255. Lahousens Aussage hierzu in  : IMT 2  : 509 f. und 523. 151 IcL, S. 28. Der Kommando-Befehl wird selbst als Beweis für deutsche Kriegsverbrechen angeführt. 152 Ebenda, S. 10–20.

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Anmerkungen 153 Siehe John Keegan, Waffen SS (New York 1970). In seiner Verzeichnung der Verbände im Anhang listet Keegan insgesamt 38 Divisionen der Waffen-SS oder kleinere Einheiten auf, vermerkt aber auch, dass beinahe die Hälfte davon von zweifelhaftem Kampfwert oder nicht vollständig aufgefüllt gewesen seien. 154 Die direkten und indirekten Verbindungen zwischen der »Abwehr« und dem britischen Nachrichtendienst MI6 bleiben ein wohl verschlossenes Geheimnis. Die wahrscheinlichsten Kontakte fanden in Bern und Zürich statt. Hans Bernd Gisevius war deutscher Konsul in Zürich und Madame Halina Szymanska leitete in Bern ein Büro der polnischen Exilregierung. Beide hatten leicht Zugang zur »Abwehr« und zum MI6. 155 Eine Übersicht über Aufstellung und frühe Einsätze der British Special Forces bei Keegan, Atlas, S. 90. 156 Eine Bilanz des Desasters von Dieppe findet sich bei Andrew Roberts, The Storm of War. A New History of the Second World War (London 2010), S. 180. 157 Eine kurze Geschichte des Bomber Command findet sich ebenda, S. 180 ff. 158 Das deutsche 8,8‑cm-Geschütz feuerte Granaten mit hoher Mündungsgeschwindigkeit ab und konnte Ziele direkt oder indirekt beschießen. Eine gut ausgebildete und eingespielte Bedienungsmannschaft (fünf Mann) konnte bis zu zehn Schuss pro Minute (ohne Stellungswechsel) abfeuern. Diese Angaben beruhen auf Gesprächen des Autors mit wissenschaftlichen Mitarbeitern des Heeresgeschichtlichen Museums in Wien am 24. November 2010. Dieses Museum zeigt ein deutsches 8,8‑cm-Flak-Geschütz in einer Dauerausstellung, zu der auch eine 2‑cm-Flak 38 mit ihrer Schussfolge von 450 Schuss pro Minute gehört. 159 Im August 1944 befanden sich 10.900 Geschütze vom Typ 8,8 cm im Einsatz (Angaben der Museumsmitarbeiter, wie in vorheriger Anmerkung). Eingerechnet in diese Zahl sind von Zugmaschinen gezogene, auf Panzer montierte sowie selbstfahrende Versionen dieses exzellenten Geschützes. Weitere Ausführungen dienten als Luftabwehr- oder Panzerabwehrgeschütz oder als normale Artillerie. 160 Über die Flaktürme gibt es inzwischen eigene Spezialliteratur, insbesondere über Wien, wo diese Bauten nach dem Krieg nicht abgetragen wurden. Die Wiener Stadtplaner verfügten die Umwandlung eines Kommandoturmes im 8. Bezirk (Mariahilf ) in ein noch immer bestehendes Aquarium bzw. einen Zoo im Esterhazy-Park. Der Gefechtsturm steht in der nahe gelegenen Stiftskaserne. Die beiden anderen Türme-Paare stehen im Augartenpark und im Arenbergpark. Siehe Stadtentwicklung, Wiener Flaktürme (Wien 2002) und Ute Bauer, Die Wiener Flaktürme (Wien 2003). 161 Die Inhaftierung und Ausbeutung von nicht weniger als fünf Millionen ausländischer Zwangsarbeiter durch das »Dritte Reich« stellt ein weiteres von der Anklage zitiertes Beispiel von Kriegsverbrechen dar. Die NS-Führung zwang diese Zahl an Arbeitern aus Polen, der Sowjetunion, Frankreich, den Niederlanden und anderen Staaten zur Arbeit in deutschen Fabriken oder Konzentrationslagern. Vgl. Taylor, Anatomy, S. 201. 162 Keegan, Atlas, S. 121. 163 Taylor, Anatomy, S. 300. 164 Für zusätzliche Informationen zu Mauthausen vgl. Snyder, Encyclopedia, S. 2. 165 Besuch des Autors in Mauthausen im August 2010. 166 Für eine Synopse der Ardennenoffensive siehe Roberts, Storm, S. 504 ff. 167 Anfang 1944 hatte die »Abwehr« ihren langen Kampf gegen das RSHA verloren  ; alle ihre noch bestehenden Aufgaben und das Personal wurden durch einen Befehl Hitlers vom 12. Februar 1944 ins RSHA überführt. Siehe Shirer, Rise and Fall, S. 1026. Daher unterstanden diese Spezialeinheiten nicht länger der Division Brandenburg der »Abwehr«, sondern dem RSHA.

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Anmerkungen 168 In seiner Aussage unmittelbar vor und nach der Mittagspause der Sitzung vom 30. November 1945 erläuterte Lahousen sorgfältig die rechtliche Verantwortlichkeit des OKW als Repräsentantin der deutschen Streitkräfte für Sicherheit und Betreuung aller Kriegsgefangenen. Siehe IMT 2  : 499–510. 169 Da die Selektion der Gefangenen und die Erschießung der hierzu Ausgewählten der SS oblag, stellte sich die Aufgabe der angemessenen Sorge für die Überlebenden erst, als diese Vorgänge beendet und die Überlebenden der Wehrmacht zur weiteren Betreuung übergeben worden waren. Wie in Kapitel 8 noch dargelegt wird, verletzte die Wehrmacht allerdings bei den sowjetischen Kriegsgefangenen die ihr obliegenden Pflichten einer entsprechenden Fürsorge für die Gefangenen. 170 Siehe Galium MacDonald, The Killing of SS Obergruppenführer Reinhard Heydrich, 27 May 1942 (New York 1989), S. 169. 171 Detaillierte Angaben zu den Repressalien gegen Lidiče und andere Dörfer nach Heydrichs Tod finden sich ebenda, S. 184–208. 172 Ebenda, S. 184. 173 Ebenda, S. 190, 206. 174 Lahousens Aussage über diese Mordpläne findet sich in IMT 2  : 497–499 (Weygand) und 510– 514 (Giraud, hier unter dem Decknamen »Gustav«). Das Kreuzverhör Lahousens durch den französischen Ankläger Dubost in IMT 2  : 523 f. und durch Keitels Verteidiger Dr. Otto Nelte IMT 3  : 22–27. 175 IMT 2  : 497. 176 IMT 2  : 498. 177 IMT 2  : 511. 178 IMT 2  : 514. 179 Ebenda. 180 IMT 2  : 499. 181 Nach Durchsicht diverser Entwürfe billigte und unterzeichnete Hitler den geheimen KommissarBefehl als einen zentralen Bestandteil des NS-Angriffs auf die UdSSR, der die Basis des Kommunismus auslöschen sollte. Eine Ausfertigung des Befehls ist wiedergegeben bei Snyder, Encyclopedia, S. 199. 182 IMT 2  : 501. 183 Ebenda. 184 IMT 2  : 503. 185 Ebenda. 186 Ein Teil der sowjetischen Kriegsgefangenen war sicherlich antisowjetisch eingestellt, sodass der Begriff »sowjetische Gefangene« in vielen Fällen unzutreffend ist. Dennoch hielt der Vorsitzende des Gerichts später die amerikanischen Ankläger dazu an, diesen Terminus zu gebrauchen. IMT 2  : 507. Entsprechend verwendet auch der Verfasser diesen Ausdruck das ganze Buch hindurch. 187 IMT 2  : 501 f. 188 IMT 2  : 504. 189 Ebenda. 190 IMT 2  : 505. 191 IMT 2  : 521. 192 IMT 2  : 505. 193 Ebenda. 194 IMT 2  : 506 f.

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Siehe Anmerkung 186. IMT 2  : 507. IMT 2  : 507. IMT 2  : 508. Den Auftrag, Truppen der Roten Armee an Rückzügen zu hindern, führte eine im Juli 1943 unter dem Namen GUKR SMERSH oder in Kurzform SMERSH gegründete sowjetische Spezialeinheit aus. Der Name ist ein russisches Akronym mit der Bedeutung »Hauptverwaltung Gegenspionage«. Eine vorhergehende militärische Gegenspionage-Dienststelle spielte während der »Großen Säuberungen« der 1930er-Jahre eine wichtige Rolle. Ihre Aufgaben während des Krieges gingen noch weiter  : Überwachung sowjetischer Partisanen und aller Militärpersonen, vom einfachen Soldaten bis zum Marschall, sowie Befragung von Heimkehrern nach dem Krieg. Von Letzteren wurden mehr als 5,4 Millionen verhört, von denen 600.000 in den GULAG geschickt wurden. Vgl. Vadim J. Birstein, SMERSH  : Stalin’s Secret Weapon. Soviet Military Counterintelligence in WWII (London 2011). Vgl. auch die Rezension von Robert W. Pringle, Jr., in  : Journal of Intelligence and Counterintelligence 26 (2013), S. 196–200. Taylor, Anatomy, S. 429. Interviews in Philadelphia mit dem Architekten Otto Reichert-Facilides, der 1942 im Alter von 18 Jahren in die Division »Hermann Göring« einberufen worden war. Taylor, Anatomy, S. 201. Erhard Milch war der einzige Angeklagte im Fall Nr. 2 vor einem USMilitärgericht, das auf der Basis des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 tätig wurde. Milch wurde wegen Kriegsverbrechen schuldig gesprochen und zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, jedoch 1954 freigelassen. Hébert, Hitler’s Generals, S. 249 f. Siehe Anmerkung 158 für weitere Informationen zum 8,8‑cm-Geschütz. IMT 2  : 500–506 sowie 520 f. IMT 2  : 518 f. IMT 2  : 523. MAD-Memoiren, S. 107 (Einsetzen britischer und amerikanischer Bombenangriffe auf Budapest, gefolgt von der Evakuierung des diplomatischen Korps aus Budapest nach Balatonfüred am Nord­ufer des Plattensees)  ; S. 112 (ohne einen Zufluchtsort oblag MAD die Entscheidung, wo sie die »russischen Alliierten« treffen würde)  ; S. 113 (Rückkehr nach Budapest Mitte September 1944 zusammen mit weiteren Angehörigen der französischen Kolonie)  ; S. 152 (nach der Einschließung Budapests durch die Rote Armee am 25. Dezember 1944 verbrachte MAD die folgenden acht Monate in einem der großen Luftschutzbunker auf dem Var, einem Hügel auf der Budaer Seite der Stadt, während die Rote Armee die noch überlebenden Verteidiger – Deutsche und ungarische Faschisten – liquidierte). Diverse zuverlässige Quellen aus den Reihen der Westalliierten hatten die Sowjetführung vor einem bevorstehenden deutschen Angriff auf die UdSSR gewarnt, der ursprünglich im Frühling 1941 beginnen sollte. Da Stalin den mit der Weitergabe dieser Informationen verbundenen Motiven misstraute, ergriff er im Vorfeld des Überfalls keine Verteidigungsmaßnahmen. Generalmajor Gehlen schrieb nach dem Krieg seine Memoiren  : Reinhard Gehlen, Der Dienst. Erinnerungen 1942–1971 (München 1971). Vgl. Heinz Höhne/Hermann Zolling, The General was a Spy. The Truth about General Gehlen and his Spy Ring (New York 1972), S. 46 f. und Edward Henry Cookridge, Gehlen. Spy of the Century (London 1971), S. 112–125. Gehlen fasst mit eigenen Worten seine beiden Ausarbeitungen für die Berliner Kriegsakademie zusammen  : Gehlen, Dienst, S. 19–29 und 29–37. Die gefahrenreichen letzten Tage der Abteilung FHO, die Auslagerung von Mitarbeitern und seiner genau sortierten Akten nach Bayern in die fiktive »Alpenfestung« sowie die Kapitulations-

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Anmerkungen gespräche mit dem Counterintelligence Corps der U. S. Army sind beschrieben bei Cookridge, Gehlen. Die Nachkriegszusammenarbeit zwischen der Intelligence Community der USA und dem Bundesnachrichtendienst beschreibt James H. Critchfield, Partners at the Creation. The Men behind Postwar Germany’s Defense and Intelligence Establishments (Annapolis, MD 2003). 212 Siehe Anmerkung 209. 213 Vgl. Kapitel 5, Unterkapitel »Mord im Wald von Katyn«. 214 Interview mit Otto Reichert-Facilides (vgl. Anmerkung 54). 215 Harrison E. Salisbury, The 900 Days  : The Siege of Leningrad (New York 1960), S. 582 schätzt die Gesamtzahl sowjetischer Toter während dieser grauenhaften Belagerung auf 1,5 Millionen Menschen. 216 Alexander B. Downes, Targeting Civilians in War (Ithaca, NY 2008), S. 45–47, Tabelle 2.1  : Cases of civilian victimization and mass killing in interstate wars, 1816–2003, mit Schätzungen ziviler Verluste. 217 Ebenda. 218 Besuche des Verfassers im Park Treptow in Ostberlin und beim sowjetischen Gefallenenfriedhof in Bratislava, Slowakei. 219 IMT 2  : 528. Am folgenden Morgen (Samstag, 1. Dezember 1945) wurde die Verhandlung fortgesetzt  ; das Gericht entschied, dass Heß verhandlungsfähig sei. Lahousen wurde zurück in den Zeugenstand gerufen. IMT 3  : 7. 220 Richard W. Sonnenfeldt, Witness to Nuremberg (New York 2006) ist eine faszinierende Autobiografie. Die deutsche Ausgabe erschien unter dem Titel  : Mehr als ein Leben (Bern 2002). 221 Interviews des Autors in Wien mit Stefanie Znidaric-Lahousen, der Witwe von Generalmajor Erwin Lahousen. Zur Sprache kamen hierbei unter anderem Lahousens Motive für sein Gesuch um Versetzung als Regimentskommandeur an die Ostfront. Die Befragte nannte mehrere Gründe, etwa Lahousens Wunsch, nicht so viele Dienstreisen von Berlin zu den diversen Abwehr-Dienststellen absolvieren zu müssen. Hinzu kam sein Wunsch nach Beförderung zum Generalmajor. Die »Abwehr« durfte aber nur einen Offizier im Generalsrang haben, und dies war Admiral Canaris. Um eine solche Beförderung zu erreichen, musste Lahousen sich folglich versetzen lassen. Als Regimentskommandeur kam er für eine Beförderung infrage. Am 19. Juli 1944 wurde Lahousen durch sowjetisches Granatwerferfeuer schwer verwundet und verbrachte von da an mehr als sechs Monate im Lazarett. Am 1. Januar 1945 wurde er zum Generalmajor befördert. 222 Lahousen-KTB, S. 194–196. Der 1. April 1942 war für Lahousen ein sehr anstrengender Tag  : Er musste sich mit laufenden nachrichtendienstlichen Operationen in Kabul, dem Staatsbesuch des Führers der indischen Unabhängigkeitsbewegung, Subhas Chandra Bose, in Berlin sowie mit der Planung der »Operation Pastorius« gegen die USA befassen. 223 Ebenda, S. 196. Lahousen verwendete den Begriff »Engpaß«. 224 Michael Dobbs, Saboteurs  : The Nazi Raid on America (New York 2004). 225 Lahousen-KTB, S. 197. 226 Dobbs, Saboteurs, S. 223. 227 Ebenda, S. 201. 228 Horst Mühleisen, Die Canaris-Tagebücher – Legenden und Wirklichkeit, in  : Militärgeschichtliche Zeitschrift 65 (2006), S. 169–186. 229 IMT 2  : 492 ff. 230 IMT 3  : 15. 231 IMT 2  : 494. 232 IMT 2  : 493. 233 Ebenda.

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Anmerkungen 234 IMT 2  : 494. 235 Ebenda. 236 IMT 2  : 505. 237 Zu General Weygand siehe IMT 2  : 497 f., zu General Giraud (Deckname »Gustav«) siehe IMT 2  : 510–514. 238 Unter den im Widerstand aktiven Offizieren der Wehrmacht, die direkte Augenzeugen der an allen Fronten während des Krieges begangenen Verbrechen geworden waren, gab es Freiwillige für Selbstmordanschläge, zum Beispiel unter den höheren Frontoffizieren Oberst Freiherr von Gersdorff und Oberst Claus Graf Schenk von Stauffenberg. Unter den jüngeren Offizieren, die gegenüber der NS-Diktatur unglaublichen Mut bewiesen, stach Leutnant Fabian von Schlabrendorff hervor. Vor dem Krieg arbeitete Schlabrendorff als Rechtsanwalt  ; er war mit der Tochter von Generalmajor Henning von Tresckow verheiratet. Schlabrendorff war der Urenkel des privaten Arztes und persönlichen Beraters von Königin Victoria, Baron von Stockmar. Siehe Shirer, Rise and Fall, S. 373. 239 Im Herbst 2008 besuchte der Autor die Ruinen und das nach dem Krieg errichtete Museum in Hitlers einstigem Hauptquartier »Wolfsschanze«. Diese Anlage war in den Masurischen Seen (Ostpreußen) in einem Jagdrevier nahe dem Städtchen Rastenburg (heute Ketrzyn in Polen) errichtet worden. Als sich die Rote Armee im Herbst 1944 der »Wolfsschanze« näherte, wurde sie aufgegeben und von deutschen Pionieren zerstört. Die polnischen Behörden strebten keine Rekonstruktion der militärischen Anlage an, wenngleich sie alles zur Förderung des Tourismus in diesem Seengebiet unternehmen, wobei Hitlers Hauptquartier eine besondere Attraktion darstellt. 240 Vor seinem Selbstmord zusammen mit Eva Braun am 30. April 1945 ordnete Hitler die Hinrichtung von etlichen seiner Gegner an. Am 20. April feierte er seinen Geburtstag mit einem vegetarischen Menü (Ravioli). 241 Interview in Freiburg im Breisgau mit Dr. Eberhard Freiherr von Rummel, LL. M., ein deutscher Rechtsanwalt, der als Gast in der Rechtsanwaltskanzlei des Autors in Philadelphia (Montgomery, McCracken, Walker & Rhoads) gearbeitet hatte. Dr. Rummels Gattin ist eine entfernte Verwandte von Oberst Gersdorff. 242 Die Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Sprengstoffen aus Lahousens Beständen, mit denen Hitler und andere NS-Führer getötet werden sollten, diskutiert Hoffmann, History, S. 256. Lahousens Name taucht im offiziellen Untersuchungsbericht des RSHA über Stauffenbergs Anschlag nur am Rande auf. Vgl. Hans-Adolf Jacobsen (Hg.), Spiegelbild einer Verschwörung. Die Opposition gegen Hitler und der Staatsstreich vom 20. Juli 1944 in der SD-Berichterstattung. Geheime Dokumente des ehemaligen Reichssicherheitshauptamtes (Stuttgart 1984), S. 370 und 427. Selbst das auf S. 194 abgedruckte Organigramm, das die »Abwehr« und die britischen Quellen des Sprengstoffs nennt, stellt keine Verbindung zwischen Lahousen und der Verschwörung her. 243 Interviews in Philadelphia am 8. Dezember 2013 und 16. Februar 2014 mit Jaan Kangilaski, ein in Estland geborener und fließend Estnisch sprechender amerikanischer Zeitungsmann. Herr Kangilaski zeichnet für alle Übersetzungen aus dem Schwedischen und Estnischen in diesem Buch verantwortlich. 244 Ebenda. 245 Lahousen-KTB, S. 150 und 153. 246 Interviews in Philadelphia am 8. Dezember 2013 und 16. Februar 2014 mit Jaan Kangilaski. 247 Eesti Riil Ja Rahuas Teises Maailmasosasl (= Der estnische Staat und die estnische Nation im Zweiten Weltkrieg) (Spånga Tryckeri Schweden 1957), S. 172. 248 Lahousen-KTB, S. 163. 249 Ebenda, S. 162.

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Anmerkungen 250 Jaan Kangilaski traf diese Feststellung im Zuge mehrerer Interviews mit dem Autor. Vgl. Anmerkung 243. 251 Lahousen-KTB, S. 246 (20. Februar 1943) und 247 (7. März 1943). 252 Weitere Informationen über das Ende 1942 von der Heeresgruppe Mitte aufgestellte Kavallerie-Regiment Mitte bei Hoffmann, History, S. 276. Der Autor schildert die Aufstellung dieses Verbandes zusammen mit der schon früher erfolgten Bildung der Division Brandenburg der »Abwehr« als Beispiel für die Spezialeinheiten der Wehrmacht. 253 Die Komplexität des deutschen, gemeinsam mit Achsenstreitkräften vorgetragenen Angriffs auf Stalingrad sowie die Zangenstrategie des sowjetischen Marschalls Georgi Schukow schildert Burleigh, Third Reich, S. 503–508. Siehe auch Keegan, Atlas, S. 80 f. und 84 f. 254 Die im weiteren Kriegsverlauf sprunghaft ansteigenden personellen Verluste der Wehrmacht überzeugten sogar im Lager der Achse objektive Beobachter davon, dass die Aussichten auf einen Sieg der Achse schon seit dem Spätsommer 1941 zu schwinden begannen. Kurz danach brachte die Rote Armee den deutschen Vormarsch vor Moskau zum Stehen. Ab 1942 kämpften sowohl die Sowjetunion als auch die USA mit ihren enormen Menschenreserven im Lager der Alliierten, was diese Beobachter noch mehr an die wahrscheinliche Niederlage der Achse glauben ließ. Bis dahin sollten jedoch noch mehrere Jahre blutiger Kämpfe folgen. 255 Es gibt keinen überzeugenden Beweis dafür, dass Generalmajor Gehlen vor oder während des Krieges an irgendwelchen Aktivitäten des Widerstandes beteiligt war. 256 Die sowjetische bzw. russische Geheimniskrämerei, was alle internen nachrichtendienstlichen Angelegenheiten betrifft, hält auch noch lange nach Ende des Kalten Krieges an. Dieser Zustand behindert wissenschaftliche Forschungen. Eine Ausnahme bildet Vadim J. Birstein, SMERSH. Stalin’s Secret Weapon  : Soviet Military Intelligence in World War II (London 2011). Robert W. Pringle hat dieses Buch kürzlich rezensiert in  : The International Journal of Intelligence and Counterintelligence 26, Nr. 1 (2013), S. 196–201. 257 Ebenda, S. 199. 258 Groscurth, Tagebücher, S. 95 (Einführung). 259 Trotz seiner Kriegsverletzungen hatte Stauffenberg bei dem Mordanschlag zwei verschiedene und vermutlich einander widersprechende Rollen zu spielen. Er war der einzige potenzielle Attentäter, der im Zuge von Lagebesprechungen mühelos Zugang zu Hitler hatte, und er war zugleich der wichtigste Planer des Umsturzversuches. Für keine dieser beiden Aufgaben gab es einen Ersatz. 260 Hoffmann, History, S. 281. 261 Ebenda, S. 282 f. 262 Ebenda. 263 Ebenda. 264 Anmerkung 43 bestätigt die Mitteilung von Canaris, wie Lahousen sie wiedergab. 265 Fritz Molden, Exploding Star  : A Young Austrian Against Hitler (New York 1979). Die deutsche Originalausgabe trägt den Titel  : Fepolinski und Waschlapski auf dem berstenden Stern. Bericht einer unruhigen Jugend (Wien, München, Zürich 1976). Fritz Molden starb am 11. Januar 2014 im 90. Lebensjahr. Nachdem er in Bern eng mit Allen Welsh Dulles, dem Leiter des dortigen OSS-Büros, zusammengearbeitet hatte, heiratete Fritz Molden 1948 in erster Ehe Dulles’ Tochter Joan Dulles. 266 Molden, Exploding Star, S. 91. 267 Ebenda, S. 105. 268 Ebenda, S. 106. 269 Ebenda, S. 112–118. 270 Ebenda, S. 120–128.

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Anmerkungen 271 Das Berliner Abendessen Oberst Lahousens mit dem jungen Fritz Molden wird beschrieben ebenda, S. 130 f. Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, trug Lahousen bei Treffen mit Zivilisten öfters Zivilkleidung. Bei offiziellen Begegnungen im Rahmen der Tätigkeit bei der »Abwehr« hatten Lahousen und andere Militärs Uniform zu tragen. 272 Bei einem Interview des Autors mit Dr. Fritz Molden in dessen Büro in Wien am 25. November 1998 konnte sich Molden an keine Begegnung mit Lahousen erinnern, weder in Berlin noch anderswo. Er verwies für weitere Informationen an Dr. Peter Broucek. Glücklicherweise brachte der Verfasser sein Exemplar von »Fepolinski und Waschlapski« zu dem Interview mit. Molden signierte freundlicherweise dieses Exemplar, das der Autor noch immer in seiner Bibliothek aufbewahrt. 273 In seiner Autobiografie erwähnt Molden wiederholt liebevoll seine berühmte Mutter, die Schläge und sonstige Misshandlungen seitens der Nationalsozialisten hatte ertragen müssen. Er bewunderte auch seinen Vater Ernst Molden und trat in dessen Fußstapfen, indem er nach dem Krieg die in Wien erscheinende überregionale Zeitung »Die Presse« neu gründete. 274 Eine Französischlehrerin, die in der Nachbarschaft der Familie des Autors in Philadelphia wohnt, war sehr erfreut zu lesen, dass Lahousen nicht nur diesen romantischen Frühlingsbrauch kannte, sondern dass er sogar ein Lilienblatt einem an MAD adressierten Brief beifügte. Dies bestärkt die Vermutung, dass es in der Spionage-Partnerschaft auch einen romantischen Zug gab. 275 MAD-Memoiren, S. 19. Diese Nachricht wurde sofort nach dem Besuch von General Vuillemin in deutschen Flugzeugfabriken abgeschickt. Lahousens Bitte an seinen Führungsoffizier zeigt offensichtlich, wie dringlich es ihm damit war. 276 MADs Erstaunen über den Hinweis auf Oberst X ist verständlich. MAD-Memoiren, S. 19. 277 Dieser dreiseitige Abschnitt des Memoiren-Fragments ist das erste Eingeständnis Lahousens seiner persönlichen Beziehung zu MAD im Rahmen des Widerstandes. Es wird auch festgehalten, dass ihre Freundschaft 1933 in Wien begann. 278 Die unglaublichen Einzelheiten, die Lahousens Voraussagen des Geschehens während der Kristallnacht zugeschrieben werden, könnten übertrieben worden sein, um MADs Vorgesetzte beim französischen Nachrichtendienst zu beeindrucken. 279 Durch ihre neue Beschäftigung in Berlin, die ihr als Angestellte des Institute Française auch diplomatischen Schutz gewährte, konnte sich MAD häufig mit Lahousen treffen. Von ihm erhielt sie geheime Nachrichten über deutsche Truppenbewegungen im soeben erst annektierten Sudetenland und im Erzgebirge. Sie berichtete ihren Pariser Vorgesetzten über alle Ereignisse, die zum deutschen Einmarsch in die »Resttschechei« am 15. März 1939 und zur Unabhängigkeitserklärung der Slowakei unter dem Geistlichen Tiso führten, wobei die Slowakei mit Deutschland verbündet war. MAD-Memoiren, S. 32 und 36. MAD musste bei der Übermittlung geheimer Nachrichten über die französische Botschaft sehr vorsichtig sein. Sie rief bei der Botschaft an, ließ sich mit dem Chiffrierbeamten verbinden und verabredete mit ihm ein Treffen außerhalb der Botschaft. Am Telefon benutzte sie den Decknamen »Marthe« – ein Name, den häufig Prostituierte führten. 280 In einem Gespräch mit dem Autor im November 2012 meldeten tschechische Diplomaten starke Zweifel an MADs Behauptung an, sie habe bei der Rettung der in London aufbewahrten tschechoslowakischen Goldreserven geholfen. Nachdem sie bei der Münchener Konferenz im September 1938 faktisch an Hitler verkauft worden waren, sprachen die Tschechen sowohl Großbritannien als auch Frankreich jedes Recht ab, sich weiterhin als Wahrer tschechischer Interessen auszugeben. 281 MAD meldete diese verblüffenden Neuigkeiten über eine mögliche deutsch-sowjetische Annäherung sofort ihren Pariser Vorgesetzten, wobei sie auch den von Lahousen verwendeten Begriff »Gummiteig« zitierte. MAD-Memoiren, S. 40.

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Anmerkungen 282 Im Spätfrühling 1939 rief der französische Nachrichtendienst MAD zu Konsultationen nach Erhalt der frühzeitigen Warnungen durch Lahousen zurück. MAD-Memoiren, S. 42. 283 Die pazifistische Parole »Sterben für Danzig  ?« stieß sowohl in Großbritannien als auch in Frankreich auf breite öffentliche Zustimmung. Auch die NS-Presse verwendete diese Parole. MADMemoiren, S. 46. Die behauptete Unüberwindlichkeit der Maginot-Linie vermittelte der französischen Öffentlichkeit das trügerische Gefühl eigener Sicherheit. 284 MAD-Memoiren, S. 39. 285 MAD übermittelte diese Kommentare sofort an ihre Vorgesetzten. MAD-Memoiren, S. 45–47. 286 Kritiker des Widerstandes werfen diesem vor, er habe keine ernsthaften Aktionen unternommen, bevor in Anbetracht der deutschen Niederlage bei Stalingrad offenkundig gewesen sei, dass Deutschland den Krieg verlieren würde. Lahousens Auftrag in Schweden Anfang 1939, also vor Kriegsbeginn, widerlegt diesen Vorwurf. 287 Vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges hatte die »Abwehr« ein ausgedehntes Agentennetz aufgebaut. Es ist jedoch zweifelhaft, ob man diese Agenten für die sichere Übermittlung von Nachrichten an die britischen Geheimdienste MI5 und MI6 hätte verwenden können. Im weiteren Kriegsverlauf versuchte die »Abwehr«, über Dr. George Kennedy Allen Bell, Bischof von Chichester, solche Kontakte herzustellen. Vgl. Hoffmann, History, S. 217–223. 288 Siehe Anmerkung 283. Vgl. auch Hans Bernd Gisevius, To the Bitter End (New York 1998), S. 345, der auf die fortgesetzte Bedeutung der britischen und französischen Appeasement-Politik hinweist. Diese ließ sich von der NS-Parole »Sterben für Danzig  ?« beeinflussen. 289 MAD-Memoiren, S. 48. 290 Ebenda. 291 Ebenda. 292 Roberts, Storm of War, S. 21. 293 MAD-Memoiren, S. 49. 294 Ebenda. 295 Ebenda. 296 Ebenda. 297 Ebenda. 298 Ebenda, S. 50. 299 Ebenda, S. 55. 300 Ebenda. 301 Ebenda, S. 56. 302 Ebenda, S. 57. 303 Ebenda. 304 Ebenda, S. 57 f. 305 Ebenda. 306 Roberts, Storm of War, S. 59–69. 307 Burleigh, Third Reich, S. 466–471. 308 MAD-Memoiren, S. 60 f. 309 Ebenda, S. 107 f. 310 Ebenda, S. 77. Lahousens Adjutant, Major Wolfgang Abshagen, wird von Harold C. Deutsch als ein Mann beschrieben, der Canaris sehr nahe stand. Deutsch, Conspiracy, S. 84. Als Quelle gibt Deutsch in seiner Anmerkung 49 einen Eintrag vom 19. September 1939 in den GroßcurthTagebüchern an. 311 MAD-Memoiren, S. 74. 312 Hugh Trevor-Roper, Hitler’s War Directives, 1939–1945 (London 1964), S. 93.

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Anmerkungen 313 MAD-Memoiren, S. 72. Ihr fiel auf, dass viele der Wehrmacht-Lkws nagelneu aussahen  ; sie waren in Renault-Fabriken im besetzten Frankreich hergestellt worden. 314 Keegan, Atlas, S. 42–51, 80–87, 104–107, 128–133, 154–161 und 164–169. Hier werden die anfänglichen Niederlagen und späteren Erfolge der Roten Armee zusammengefasst. Bilanzierend auch Shirer, Rise and Fall, S. 862 f. 315 Der renommierte französische Historiker Philippe Masson widmete sich dieser Aufgabe, die Ehre der »Abwehr« und anderer Teile der Wehrmacht, die sich der NS-Diktatur widersetzt und selbst keine Kriegsverbrechen begangen hatten, wiederherzustellen. Masson verwies unter anderem auf die Aktivitäten von Generalmajor Henning von Tresckow nach dem 6. Juni 1944, als feststand, dass kein Weg an einer bedingungslosen deutschen Kapitulation vorbeiführen würde. »Koste es, was es wolle«, es müsse die Ermordung Hitlers in Angriff genommen werden, verlangte Tresckow. Masson zufolge wurde Tresckow zur Symbolfigur des Widerstandes. Masson, Die deutsche Armee (München 1996), S. 409  : »Die neuen Tatsachen treiben die Verschwörer nur noch zu schnellerem Handeln an. Nach der geglückten Invasion vom 6. Juni scheint Deutschland einer totalen Kapitulation nicht mehr entgehen zu können. Tresckow sagt, daß das Attentat jetzt unternommen werden müsse – ›coute que coute‹. Der General wird zur Symbolfigur des Widerstandes, zum lebenden Beweis dafür, daß es einen Deutschen Widerstand gegeben hat, und er wird der Mann sein, der die Ehre der Deutschen Armee rettet.« 316 Die sowjetische Gesamtproduktion an Panzern vom Typ T‑34 betrug während des Zweiten Weltkrieges mehr als 70.000 Stück, womit sie die deutsche Produktion an Kampfpanzern bei Weitem übertraf. Im direkten Kampf waren die neueren deutschen Modelle (Panther und Tiger) dem T‑34 zwar überlegen, aber die nach 1942 erzeugten Stückzahlen waren viel zu gering, um die Massen an sowjetischen gepanzerten Fahrzeugen daran zu hindern, die zahlenmäßig unterlegenen deutschen Kräfte zu überwältigen. Vgl. Roberts, Storm of War, S. 525–528 mit Darlegungen zur deutschen und sowjetischen Panzerproduktion. 317 Vgl. Kapitel 9, Abschnitt  : Operation Pastorius, für zusätzliche Informationen über dieses fehlgeschlagene Sabotage-Unternehmen, für dessen Scheitern Hitler die »Abwehr« verantwortlich machte. 318 Vgl. oben in Kapitel 7, Abschnitt  : Der versuchte Mord an den französischen Generälen Weygand und Giraud, zu den Plänen zur Ermordung der französischen Generäle. 319 Die beste Darstellung der Karriere von SS-Obergruppenführer Arthur Nebe stammt von seinem Widerstandskameraden Gisevius, Bitter End. Auf den Seiten 582 und 586 werden Nebes Versuche, zusammen mit Gisevius zu fliehen, beschrieben. 320 George Earle wurde später zum Commander in der US-Marine ernannt und diente auf diversen Posten auf dem Balkan  ; unter anderem amtierte er für seinen Freund, US-Präsident Franklin Roosevelt, als amerikanischer Gesandter in Bulgarien. Da Earle nicht bereit war, die sowjetische Verantwortung für die Ermordung von 15.000 kriegsgefangenen polnischen Offizieren in Katyn zu verschweigen, versetzte ihn Roosevelt auf einen ganz entlegenen Marineposten auf dem USStützpunkt Samoa im Pazifik. Lediglich Roosevelts plötzlicher Tod am 12. April 1945 ermöglichte Earles Rückkehr auf einen bedeutenderen Posten zu einer Zeit, als der Krieg seinem Ende entgegenging. Vgl. J. K. Zawodny, Death in the Forest, S. 182. 321 Abgedruckt bei Martin Moll (Hg.), »Führer-Erlasse« 1939–1945. Edition sämtlicher überlieferter, nicht im Reichsgesetzblatt abgedruckter, von Hitler während des Zweiten Weltkrieges schriftlich erteilter Direktiven aus den Bereichen Staat, Partei, Wirtschaft, Besatzungspolitik und Militärverwaltung (Stuttgart 1997), Nr. 302, S. 393. Zu den Hintergründen vgl. Höhne, Canaris, S. 545–554. 322 Interviews mit Rechtsanwalt Dr. Wolfgang Mayer, dessen Onkel Dr. Wolfgang Richter bei der Abwehrstelle Wien als Offizier gedient hatte.

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Anmerkungen 323 Dem RSHA war auch an der Übernahme von Teilen der Abteilungen I (Geheimer Meldedienst) und III (Gegenspionage) der »Abwehr« gelegen. 324 Höhne, Canaris, S. 555. 325 Ebenda, S. 556–561. 326 Die Abwehr-Konferenz in Smolensk im März 1943 bedeutete so etwas wie eine Wendemarke für den Widerstand der »Abwehr«. Die entgegen den Erwartungen ausgebliebene Detonation der Cointreau-Sprengsätze erforderte umgehendes Handeln, um den Anschlagsversuch zu kaschieren. Generalmajor Tresckows entschlossenes Vorgehen schuf eine Gelegenheit, die Sprengkörper gegen echte Cointreau-Flaschen auszutauschen, was am folgenden Tag dank des Einsatzes von Tresckows Gehilfen und Schwiegersohn, Fabian von Schlabrendorff, glatt über die Bühne ging. Dennoch entschloss sich Lahousen kurz danach, um eine neue Verwendung als Regimentskommandeur an der Ostfront anzusuchen. 327 Zu dieser Zeit wurde Hitlers Verhalten immer unvorhersehbarer. Er änderte Details seiner ohnedies seltenen öffentlichen Auftritte häufig und ohne vorherige Ankündigung. Einige Tage später schlug ein weiterer Anschlag auf ihn in Berlin fehl, da es Oberst von Gersdorff nicht gelang, lange genug in Hitlers Nähe zu bleiben, um eine Bombe zu zünden. Seit dem Frühling 1943 verbrachte Hitler den Großteil seiner Zeit in seinen unterschiedlichen Hauptquartieren und auf Reisen von einem zum anderen. 328 Seit Anfang Juli 1944 war Stauffenberg der einzige im Widerstand aktive Offizier, der bei Hitlers täglichen militärischen Besprechungen direkten Zugang zum Diktator hatte, sei es auf dem Obersalzberg oder in der Wolfschanze. Innerhalb einiger Wochen reiste Stauffenberg mehrmals zu beiden Hauptquartieren. 329 Wenngleich anfänglich ein Anhänger Hitlers, änderte Stauffenberg wegen der Innen- und Außenpolitik des NS-Regimes alsbald seine Meinung. Insbesondere kritisierte er Hitlers militärische Strategie und Taktik. Stauffenbergs nur langsame Erholung von seinen schweren Verwundungen gab ihm Zeit, über die dem Widerstand offenstehenden Möglichkeiten nachzudenken. 330 Stauffenbergs rasche Beförderung vom Stabschef des Allgemeinen Heeresamtes zum Chef des Stabes des gesamten Ersatzheeres stellte vermutlich das Vertrauen unter Beweis, das er als eine Art Vorzeigeoffizier sowohl beim Widerstand als auch bei seinen dienstlichen Vorgesetzten genoss, da er seinen Pflichten trotz seiner schweren Verwundungen nachkam. 331 Die offizielle Untersuchung des Stauffenberg-Attentats durch das RSHA, die eine nominell von Kaltenbrunner geleitete Sonderkommission durchführte, brachte deutliche Hinweise darauf zutage, dass Stauffenberg seinerseits den Sprengstoff einschließlich der britischen Zünder aus unterschiedlichen Quellen zur Verfügung gestellt bekommen hatte. Es gab unter anderem mehrere Hinweise auf »Lieferant  : Militär-Abwehr« und auf »Baron v. Freytag-Loringhoven«, der Lahousen im August 1943 als Chef der Abwehr-Abteilung II nachgefolgt war. Vgl. die Aufstellung zu den Quellen der Bomben in  : Jacobsen (Hg.), Spiegelbild, S. 194. 332 Der 20. Juli 1944 ist fürwahr ein dramatisches Ereignis. Die beste Darstellung zu Vorgeschichte und Verlauf des Putschversuchs bietet Hoffmann, History, S. 373–503. 333 Die Einleitung zu »Spiegelbild einer Verschwörung« wurde 1961 von Karl Heinrich Peter geschrieben  ; sie nimmt nur die Seiten V–VII ein. Die gesamte Edition basiert auf dem Mikrofilm T‑84, Rollen 19 und 20 in den U. S. National Archives. 334 Lahousen, KTB, S. 261. 335 Interviews mit Familienangehörigen, darunter an verschiedenen Tagen mit Stephanie Lahousen und mit ihrem Sohn, Botschafter a. D. Georg Znidaric. 336 Die letzten Eintragungen in Lahousens Militärpapieren betreffen in Punkt 39 seine am 1. August

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Anmerkungen

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1944 wirksam gewordene Versetzung zur Führer-Reserve des OKH sowie in Punkt 40 die Beförderung zum Generalmajor am 1. Januar 1945. Die Briten eröffneten im Juni 1945 in Bad Nenndorf bei Hannover das sowohl für den MI5 als auch den MI6 bestimmte »No. 74 Combined Services Detailed Interrogation Centre (CSDIC)«. Zwar war das CSDIC ursprünglich zur Befragung von Nationalsozialisten bestimmt, doch wurde es später dafür genutzt, Personen zu verhören, die der Teilnahme an sowjetischen Spionageoperationen verdächtigt wurden. Lahousen klagte gegenüber seiner Familie über die rüde Behandlung während der dortigen Befragungen, die ihm einige Zähne gekostet habe. Das Lager wurde im Juli 1947 geschlossen. Vgl. für weiterführende Informationen Anmerkung 331. Hitler vertraute viel stärker auf die automatischen Verurteilungen durch den nazifizierten Volksgerichtshof unter seinem berüchtigten Präsidenten Roland Freisler als auf die Militärgerichte. Unter den Angeklagten des ersten Prozesses, die das RSHA ausgewählt hatte, befand sich eine seltsame Mischung aus Generälen, einem Frontoffizier (dem einzigen Österreicher, Oberstleutnant Robert Bernardis) und einigen jüngeren Offizieren. Vgl. Anmerkung 348. Die nationalsozialistische Methode der Sippenhaft führte dazu, dass enge Verwandte derjenigen, die wegen Landesverrats verhaftet worden waren, ihrerseits festgenommen wurden. Kinder konnten bei ihnen fremden Personen, die als loyal gegenüber dem Regime galten, in Obhut gegeben werden. Das Eigentum der Verhafteten konnte durch einen eigenen Rechtsakt faktisch konfisziert werden, zumal die früheren Eigentümer in zahlreichen Fällen hingerichtet wurden. Die Widerständler mussten häufig eine schwierige Entscheidung zwischen zwei Optionen treffen  : Sollten sie umfangreiche Aufzeichnungen über die Verbrechen des NS-Regimes anfertigen und aufbewahren oder sollten sie nichts hinterlassen, was gegen sie verwendet werden könnte  ? Canaris vertrat bis zum bitteren Ende die erste Option, während Lahousen vorsichtig war und die zweite Linie befolgte  ; er überlebte Krieg und Verfolgung durch die Gestapo. Hoffmann, History, S. 530 fasst die Hinrichtungen vom 9. April 1945 zusammen. Jacobsen (Hg.), Spiegelbild, S. 370 und 427 nimmt auf Lahousen im Rahmen von Ausführungen zur Division Brandenburg und zur Verhaftung Kaulbars Bezug. Bei weiteren Gestapo-Verhören wäre es für Lahousen schwierig gewesen, seine Nähe zu Canaris und dessen Ansichten zu leugnen. In seiner detailreichen Autobiografie »To the Bitter End« beschreibt Hans Bernd Gisevius die Jahre 1933 bis 1944, vom Reichstagsbrand bis zum 20. Juli 1944. Er arbeitete von November 1942 bis Kriegsende in Bern eng mit Allen W. Dulles, dem Leiter des OSS-Büros in der Schweiz, zusammen. Allen Dulles schrieb das Vorwort zu einer späteren Ausgabe von »To the Bitter End«. Offensichtlich vernichteten Einheiten der Roten Armee bei Kriegsende die Unterlagen des für die Herausgabe des Almanachs Gotha verantwortlichen Verlages, weil Teile dieser Unterlagen angeblich das Haus Romanow betrafen. 2013 erschien eine in London verlegte Neuausgabe, nachdem einige strittige Rechtsfragen rund um diese Neuausgabe hatten geklärt werden können. Das grundlegende Werk über den militärischen Widerstand »Offiziere gegen Hitler«, das mit Hilfe von Gero von Gaevernitz, dem Assistenten des Berner OSS-Residenten Allen Dulles, entstand, schrieb Fabian von Schlabrendorff 1945. Eine weitere Ausgabe dieser Erinnerungen erschien 1966 in englischer Sprache unter dem Titel »The Secret War against Hitler« (übersetzt von Hilda Simon). Zur militärischen Karriere von Oberstleutnant i. G. Robert Bernardis vgl. Karl Glaubauf, Robert Bernardis  : Österreichs Stauffenberg (Wien 1994), S. 41–48. Vgl. Carl Szokoll, Die Rettung Wiens 1945. Mein Leben, mein Anteil an der Verschwörung gegen Hitler und an der Befreiung Österreichs (Wien 2001), S. 308 ff. Ebenda, S. 291 ff.

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Anmerkungen 351 Interviews in Wien mit Dr. Erika Roth-Limanowa, Nichte von Erwin Lahousens erster Gattin, Margarete Lahousen von Vivremont. 352 Das Zitat aus dem Erinnerungsfragment Lahousens trägt die Signatur MSg 1/28/2 im Deutschen Militärarchiv Freiburg im Breisgau. 353 Die Informationen über Bad Nenndorf finden sich in einem »Special Report of Germany« von Ian Cobain, in  : Guardian Unlimited, 3. April 2006. 354 Aus der Rückschau mögen die zahllosen Erfordernisse, dass Kriegsgefangene ihre Nichtbeteiligung an Kriegsverbrechen nachweisen sollten, unnötig oder schikanös anmuten. Dies gilt insbesondere für jene Gefangenen, die sich aktiv am Widerstand gegen das NS-Regime beteiligt hatten. Dennoch nahmen die demokratischen Regierungen Westdeutschlands und Österreichs diese Anforderungen an Unbedenklichkeitsnachweise sehr ernst. 355 Basierend auf Interviews in Wien mit mehreren Familienmitgliedern, bestätigt durch Dr. Peter Broucek in weiteren Interviews. Vgl. auch Broucek, Verschwörer, insbesondere S. 96 und Anmerkung 79. 356 Zu den alliierten Besatzungszonen in Österreich und der Sonderregelung für Wien vgl. Fritz Molden, Besetzer, Toren, Biedermänner  : Ein Bericht aus Österreich, 1945–1962 (Wien, München, Zürich 1980), S. 57–60. 357 Dr. Wolfgang Mayer, ein angesehener Wiener Anwalt und Freund des Verfassers, stellt die Hauptquelle für die Ast Wien dar. Mayer und der Autor führten im Laufe von sieben Jahren zahlreiche Gespräche über Lahousen und die »Abwehr«. Gegen Kriegsende noch in den Volkssturm eingezogen, stand Mayer seinem Onkel, Hauptmann Wolfgang Richter, ebenso nahe wie sonstigen Offizieren der Ast Wien. Im Sommer 1945 wurden alle diese zehn Offiziere in ihren nun in Friedenszeiten weiterbestehenden Büros vom sowjetischen Geheimdienst, vermutlich von der GRU, verhaftet. Nach einem Blitzverfahren in der sowjetischen Kommandantur in Baden bei Wien wurden alle zehn Offiziere schuldig gesprochen und zu zehn Jahren Haft in der Sowjetunion verurteilt. Von den zu Zwangsarbeit unter widrigsten Umständen gezwungenen Verurteilten überlebte nur einer. Mayer und seine Mutter trafen Hauptmann Richter am Bahnhof von Wiener Neustadt, dem üblichen Ort für die Ankunft heimkehrender Gefangener aus der UdSSR. Danach wurden die Namen der Heimkehrer in der Wiener kommunistischen Zeitung publiziert. Das Wiedersehen fand zehn Jahre nach der Verhaftung und Verurteilung der Offiziere der Ast Wien statt. 358 Die Informationen über das Schicksal von Major Wolfgang Abshagen basieren auf Interviews mit Lahousens Familienangehörigen sowie auf einer Stelle in  : Lahousen, Fragmente der Erinnerung, S. 86. Abshagen wurde im Juli 1945 in Berlin von den Sowjets verschleppt. Diese Entführung und spätere Hinrichtung durch Hängen ging höchstwahrscheinlich auf SMERSH zurück. 359 Siehe Anmerkung 357 mit Hinweis auf das Interview des Verfassers mit Dr. Wolfgang Mayer. 360 Interviews in Wien mit Dr. Erika Roth-Limanowa, Nichte von Margarete Roth Lahousen. 361 Ebenda. Lahousen scherzte einmal über die Rauchgewohnheiten seiner Frau, indem er sagte, sie erwarte ein »Baby Memphis«. Dies bezog sich auf die von Marga Lahousen bevorzugte Zigarettenmarke und den unerfüllten Kinderwunsch Lahousens. 362 Interview des Autors in Wien mit Stefanie Znidaric-Lahousen. 363 Der schriftliche Bericht der RSHA-Untersuchung, veröffentlicht von Jacobsen (Hg.), Spiegelbild, auch als Kaltenbrunner-Berichte bezeichnet, beinhaltet mehrere Hinweise auf die Verwicklung von Lahousens Nachfolger in die Verschwörung. Ferner verweist der Bericht auf den Selbstmord von Oberst Wessel Freiherr von Freytag-Loringhoven (S. 129 und 368)  ; auf S. 368 wird dieser als »ein weicher Mann« bezeichnet. 364 Die Personalunterlagen von Erwin Lahousen enthalten diverse Hinweise auf eine gründliche me-

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Anmerkungen dizinische Untersuchung, die von Militärärzten am 15. November 1943 im Wiener Reservehospital durchgeführt wurde. Dabei bestätigten sich ernsthafte Gesundheitsprobleme, unter anderem aufgrund der im Ersten Weltkrieg verletzten Lunge, sowie diverse Herzleiden, zum Beispiel eine Vergrößerung der linken Herzkammer. Lahousens Blutdruck wurde mit 135 zu 80 gemessen. Lahousen bezeugte seine Bereitschaft zu einer Kur, sodass er dann selbst seine Eignung für einen neuerlichen Fronteinsatz beurteilen können würde. 365 Diese von mehreren Mitgliedern der Familie Lahousen bestätigte Anekdote veranschaulicht Erwin Lahousens Sinn für Humor. 366 Peter Hoffmann schildert die während der letzten Kriegstage vorgenommenen Verhaftungen und Hinrichtungen führender Abwehr-Offiziere sowie die Vernichtung von deren Tagebüchern. Vgl. Hoffmann, History, S. 530 ff. Ausführlich zu Entstehung und Vernichtung der Kopien des Canaris-Tagebuches Horst Mühleisen, Die Canaris-Tagebücher – Legenden und Wirklichkeit, in  : Militärgeschichtliche Zeitschrift 65 (2006), S. 169–186. 367 Ebenda. 368 Interviews des Verfassers in Wien mit Dr. Erika Roth-Limanowa. 369 Lahousen war, was das Schreiben betraf, der beflissenste unter allen Mitarbeitern von Canaris. 370 Interviews des Verfassers in Wien und Graz mit Angehörigen der Familie. 371 Interview des Autors in Wien, 20. Juni 2013, mit Botschafter a. D. Georg Znidaric (Stiefsohn von Erwin Lahousen). 372 Ebenda.

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Lebenslauf Generalmajor Erwin Heinrich René Lahousen Edler von Vivremont 1897

25. Oktober

1911–1913

Geboren in Wien, 3. Bezirk. Sohn des Wilhelm Lahousen Edler von Vivremont, k. u. k. Feldmarschallleutnant d. R., und der Gabriele Aloisia Penther (Marxergasse 20, Wien 3)

Internat k. u. k. Militär-Oberrealschule, MährischWeißkirchen

1915

18. August

1915/16

15. November – Zugs- und Kompanie-Kommandant beim Inf. Regt. Nr. 25. Mai 14 (I.R., »Linzer Hessen«). Dienst in Russland, dann an der Südwest-Front

1916

25. Mai

Zum Leutnant ausgemustert an Militärakademie mit Rang 18/8/15 (Rangnr. 163) anlässlich zeitgleichen Eintritts in das k. u. k. Heer

Lungensteckschuss bei der Erstürmung des Monte Cimone (Südwest-Front)

1917

1. Mai

1. August – 11. November

2. Regiments-Adjutant im I.R. Nr. 14

1918

1. September – 1. Dezember

Zur 50. Inf. Div. kommandiert, Ordonnanz-Offizier

1919

8. September

Befördert zum Oberleutnant bei den Linzer Hessen

Gasvergiftung bei den Kämpfen am Monte San Gabriele

1. Januar – 1. März

Volkswehr-Bataillon, Zugskommandant Korneuburg

1. September

Tag des Diensteintritts beim Bundesheer

1921

30. Mai

1921

1. Juni

Alpenjäger-Regiment Nr. 7 (AJR 7, früher Linzer Hessen)

1920

2. März – 1. Juli Depotwache in Kaiserebersdorf

25. Oktober

8. Juli

2. November

Diensteid abgelegt. Berufsheer der Ersten Republik

MGK III/AJR 7

Beförderung zum Hauptmann

Weiterbelassung im aktiven Dienst bewilligt

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Lebenslauf

1922

25. Februar

15. Oktober 1923

1924

1928

1929

1930/31 1933

Versetzung von MGK III zur 8. Kompanie, stationiert in Freistadt

1. März

Versetzung von der 8. Kompanie zur 7. Kompanie

15. Oktober

Zur MG II Kompanie versetzt

1. Februar – 31. Oktober

Seminaristische und praktische Ausbildung zum Pyrotechniker für Heereszwecke

21. Februar

8. November

Skiausbildung beim III/AJR 7 mit »sehr geeignet«, als Lehrer verwendbar Für 1928 zum s. MG Scharfschützen ernannt

20. Oktober – 20. Juli

Fachprüfung für den höheren Mil. Dienst. Lahousen erreicht Rang 2 unter mehr als 200 Bewerbern

25. August

Beförderung zum Major

19. Mai

1. September 15. Oktober

1935

1. Januar

1936

15. Januar

8. Juni

1938

Heirat in Wien mit Margarete Ida Marie Freifrau von Roth-Limanova-Lapanow (Tochter des Joseph Freiherr v. R-L-L, k. u. k. Generaloberst d. R., und der Malvine geb. Gräfin Lazanska Freifrau von Bukowa). Wohnung  : Linz, Marienstraße 11

11.–12. März

Neuerlich vereidigt

Zur Heeresverwaltungsstelle N.Ö. zur Erprobung für den höheren Mil. Dienst versetzt Zum Brigade-Kommando Nr. 2 versetzt

Zum Bundesministerium für Landesverteidigung (Abt. 1/A) versetzt. Französischer Militärattaché Colonel Salland stellt Madeleine Bihet-Richou als Tutorin der französischen Sprache vor

Ernannt zum Major des Generalstabes gem. Entschließung des Bundespräsidenten vom 3.1.1936. Erl. Z1. 305PRÄS/1936 Zum Oberstleutnant des Generalstabs ernannt gem. Erlass 1.16.676 PRÄS/1936. VBL. Nr. 81/1936. Erste Unterredung zwischen Vize-Admiral Canaris und Oberst i.G. Lahousen im Hotel Sacher, Wien, über Heer der Tschechoslowakei Rücktritt Schuschniggs. Am Morgen des 12. März Einmarsch der deutschen Wehrnacht. Eine Abwehreinheit sichert die Akten des Evidenzbüros vor dem Eintreffen des SD. Lahousen und Canaris begrüßen sich. Canaris

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Lebenslauf

16. März

6.-7. April

Ende April

1938

Ende April Oktober – November

1939

1. Januar 20. April

Anfang Mai 1939

Frühsommer

8. August 1. September 25. Oktober

bietet Lahousen eine Stellung im Amt Ausland/Abwehr an. Lahousen fliegt nach Berlin, spricht später mit General Ludwig Beck

Frau Bihet fährt mit dem Zug nach Paris  ; sie steht im Kontakt mit dem »Services Spéciaux Français« durch Colonel Salland. Ihr Deckname lautet MAD

General Beck sendet ein Telegramm an Lahousen, wonach Lahousen ins OKW kommen soll  ; »er hat die Uniform des Generalstabs zu tragen.« Mit Wirkung vom 11. April 1938 wird Lahousen versetzt

SS-Chef Heinrich Himmler versucht vergeblich die Ernennung Lahousens zu blockieren. Lahousen und Gattin Marga planen ihre neue Wohnung in Berlin/Charlottenburg

Zum OKW, Abwehr-Abteilung I (Geheimer Meldedienst) versetzt

Eine Woche lang als Besucher in Berlin (Hotel am Nollendorferplatz). MAD findet eine Stellung als Lehrerin am Französischen Institut Berlin. MAD kommt wieder nach Berlin kurz vor der Reichskristallnacht und bleibt dort bis Ende August 1939 als Führungsoffizier Lahousens Leiter der Abwehr-Abteilung II (Sabotage und Zersetzung) bis August 1943

MAD fährt nach Paris, um mit Colonel Rivet zu sprechen. Lahousen absolviert die Prüfung in Französisch mit »geeignet best«. Militärparade über 5 Stunden in Berlin zu Hitlers 50. Geburtstag Erwähnung der Möglichkeit eines Paktes zwischen Hitler und Stalin (abgeschlossen am 23. August 1939) Dienstreise Lahousens nach Schweden  : Schwedische Zusicherung weiterer Eisenerzlieferungen, Erhalt einer englischen Bombe (um Hitler zu töten). MAD macht 10 Tage Urlaub in Paris und Trouville mit Sohn Pierre (geboren 1923) MAD fährt mit dem Zug von Berlin nach Paris, weil Sohn Pierre im Krankenhaus liegt

Kriegsbeginn

MAD verlässt Paris mit einem Zug nach Budapest, um dort ein Verkehrsbüro zu gründen

– 299 –

Lebenslauf

1940

1941

1943

Februar

Ende August 27. September

22. Januar – 15. Februar

Lahousen kommt zum Inf. Regt. 50

20. Februar

Abreise in Begleitung des Amtschefs Canaris nach Smolensk und zum Führerhauptquartier

16. Februar – 15. Marz

1. August

3. August Herbst

1945

1946

2. Februar

19. Juli

1. Januar Mai

23. August – 8. Dezember

4. Juni

1950

13. November

1953 1955

Nach 1955

Lahousen dient beim Stab des Inf. Regt. 71

Abflug als Begleiter des Amtschefs zum Führerhauptquartier und nach Smolensk

Übergabe der Geschäfte des Abteilungschefs an Oberst d. G. Baron Freytag-Loringhoven. Abflug als Begleiter des Amtschefs zu einer Besprechung im Führerhauptquartier

Rückkehr vom Flug ins Führerhauptquartier. Russische Front  : Heeresgruppe Mitte  ; verschiedene Grenadier-Regimenter in Nevel, Stodoly (Russland) Kommandeur Grenadier-Regiment 4

Schwere Verwundung durch eine sowjetische Artilleriesalve

Zum Generalmajor befördert

Kriegsgefangenschaft bei der U.S. Army

30. November – Erster amerikanischer Zeuge vor dem Internationalen 1. Dezember Militärgerichtshof in Nürnberg

1947

1948

Ungarn verbündet sich mit den Achsenmächten

2. Hälfte Januar Erster Besuch von Major Kurt Fechner in Budapest bei MAD

3. März

1944

Erste Unterredung von Lahousen und MAD in Budapest

Wiener Schiedsspruch. Der Balkan wird zum Brennpunkt der Politik

Mai

24. Februar

Als Kriegsgefangener im britischen Verhörlager Bad Nenndorf

Entlassung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft

Wohnung in Seefeld/Tirol in der französischen Besatzungszone. Berichterstatter für Zeitungen in Innsbruck/Tirol

Tod von Margarete Lahousen in Seefeld durch Gehirntumor Heirat mit Stefanie Znidaric in Hall/Tirol

Tod Erwin Lahousens in Innsbruck durch Herzinfarkt

Beisetzung von Generalmajor Lahousen am Zentralfriedhof, Wien, Tor 2.

– 300 –

Danksagung

D

iese Biografie Erwin Lahousens sowie die Würdigung seiner Rolle im Widerstand der »Abwehr« und bei den Nürnberger Prozessen hätte ich ohne die Ratschläge, die Ermutigung und die Unterstützung seitens einer großen Zahl von Widerstands- bzw. Nachrichtendienstexperten und -forschern sowie von Kollegen und Freunden niemals schreiben können. Wolfgang Mayer, mein Wiener Kollege und Freund, hat mich als erster auf die erstaunliche militärische und literarische Karriere von Erwin Lahousen sowie darauf, dass sie weithin unbekannt ist, aufmerksam gemacht. Nach Beginn der Recherchen für mein Buch über Erwin Lahousen wurde ich von meinem Kollegen Dr.  iur. Martin Eichtinger motiviert und beraten. Ab 1995 amtierte Dr. Eichtinger als Leiter der Presse- und Informationsabteilung der österreichischen Botschaft in Washington, D. C. Parallel hierzu hatte ich für mehr als 20 Jahre die Funktion eines Honorarkonsuls der Republik Österreich ad personam inne. Für Hilfe bei meinen Archivrecherchen in Österreich bin ich Dr. Peter Broucek, bis zu seiner Pensionierung leitender Archivbeamter im Österreichischen Staatsarchiv in Wien, sowie dem gesamten Personal dieses Archivs zutiefst dankbar – sie haben mir fachmännischen Zugang zu den Beständen ihres Hauses ermöglicht. Dr. Broucek gilt mein besonderer Dank, weil er in zahlreichen Gesprächen sein umfassendes Wissen über die Operationen der »Abwehr« und des Evidenzbüros mit mir teilte. Dankbar verbunden bin ich Herrn Botschafter Harald Miltner dafür, dass er in kritischen Momenten als Ratgeber zur Verfügung stand  ; er half auch bei der Auffindung des Grabes von Madeleine Bihet-Richou (»MAD«) im Tal der Loire in Frankreich. Großen Dank schulde ich ferner Mag. Peter Steiner (Österreichische Nationalbibliothek, Wien), der mich durch die riesigen Sammlungen der Wiener Bibliotheken lotste und für mich entlegene, aber wertvolle historische Quellen ausfindig machte. Auch Mag. Steiner gab in zahlreichen Gesprächen sein ausgedehntes Wissen über protokollarische und militärische Fragen an mich weiter. Hilfestellung erhielt ich ferner vom Personal des deutschen Militärarchivs in Freiburg im Breisgau, das mir den Zugang zu den dortigen wichtigen Beständen, – 301 –

Danksagung

welche die »Abwehr« und den Militärdienst Lahousens in der deutschen Wehrmacht betreffen, erleichterte. Dort lagern auch die Fragmente von Lahousens Erinnerungen, die er während seiner Gefangenschaft bei den Alliierten niederschrieb. Meinem Juristenkollegen in Freiburg, Dr.  Eberhard von Rummel, danke ich für die Beschaffung von Fotokopien dieser Fragmente. Rechtsanwalt Gol von Hardenberg, der nun in München lebt, war zeitweilig in meiner Anwaltskanzlei tätig und ließ mich an seinem beträchtlichen Wissen über den europäischen Adel teilhaben. Dank schulde ich Oberst Thomas Vogel und Hauptmann Thomas Reuter vom (früheren) Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr in Potsdam, wo sie mir während meiner zwei Besuche mit Rat und Tat zur Seite standen. Das Münchener Institut für Zeitgeschichte machte mir im Zuge mehrerer Aufenthalte sowie bei einem Besuch der von diesem Institut betreuten Dokumentation Obersalzberg im Juni 2013 sein Material über den Widerstand zugänglich. Dr.  Hans Schaub führte mich bei einer ausgedehnten Besichtigung Nürnbergs, die auch das frühere Reichsparteitagsgelände der NSDAP, die Museen und den Justizpalast einschloss. Er stellte mich ferner einer Richterin des dortigen Oberlandesgerichtes, Frau Gerda-Marie von Reitzenstein, vor. Frau von Reitzenstein ermöglichte mir eine genaue Besichtigung des historischen Verhandlungssaales  600 samt einer Fahrt in dem 1945/46 für die Häftlinge bestimmten Aufzug. Sie stellte uns auch dem Vizepräsidenten des Gerichts, Ewald Behrschmidt, vor, der uns die im Wachsen begriffene Sammlung des Gerichts von Erinnerungsstücken des Nürnberger Prozesses zeigte. Was die Familiengeschichte (einschließlich einer Reihe Anekdoten) betrifft, erwiesen sich die Angehörigen der Familie Lahousen als ausgesprochen hilfreich. Erwin Lahousens Witwe, Stefanie Znidaric-Lahousen, gewährte mir in der Anfangsphase meiner Forschungen drei ausgedehnte Interviews. Ihr Sohn, Botschafter a. D. Georg Znidaric, der nach der Heirat seiner Mutter mit Lahousen im Mai 1953 bei dem frischvermählten Paar gelebt hatte, teilte seine Kindheitserinnerungen mit mir. Dem Botschafter und seiner Mutter danke ich ganz besonders für ihre Freundlichkeit und ihr Entgegenkommen. Ein weiteres, bestens informiertes Mitglied der Familie, Dr.  Erika Roth-Limanowa, die Nichte von Erwin Lahousens erster Gattin, stellte mir zahlreiche Informationen zur Familiengeschichte sowie Fotos und Anekdoten über die Ehe ihrer Tante mit Lahousen zwischen 1922 und dem Tod ihrer Tante 1950 zur Verfügung. – 302 –

Danksagung

Während eines Besuchs in Graz chauffierte mich Dr. Karlheinz Morré zum Haus der verwitweten Marita Lahousen. Sie hütet nach wie vor die Erinnerungsstücke der Familie, die sie von ihrem Schwiegervater, Wilhelm Lahousen, dem älteren Bruder Erwins, geerbt hat. Stolz zeigte uns Marita Lahousen die materiellen Erinnerungen an Erwin  ; sie erzählte zudem weitere Anekdoten über die Probleme der Familie mit der Gestapo nach dem »Anschluss« Österreichs im März 1938. Zusammen mit dem Historiker Univ.-Dozent Dr. Martin Moll sichtete ich später Verhaftungsakten für Graz und das Bundesland Steiermark. Karlheinz Morré organisierte auch einen Besuch des Evangelischen Friedhofs von Graz, um dort das Grab der Familie Burckhardt-Lahousen zu lokalisieren. Karlheinz war ferner der Organisator und die treibende Kraft mehrerer Reisen nach Osteuropa, die wir auf den Spuren Lahousens unternahmen. Wir besuchten unter anderem die »Wolfsschanze«, Danzig, Prag, Sarajevo, Warschau und Krakau sowie westlich von Krakau das einstige Konzentrationslager Auschwitz und das angeschlossene Vernichtungslager Birkenau. Bei einem weiteren Besuch Krakaus interessierte ich mich besonders für die brutale NS-Besatzung der Stadt und für das jüdische Ghetto. Die Holy Family University arrangierte für mich ein Treffen mit Schwester Danuta Koziel, der Historikerin der Kongregation der Schwestern der Heiligen Familie von Nazareth, die in Krakau ihren Sitz hat. Schwester Danuta und ich verbrachten mehrere Tage mit Besichtigungen der historischen Stätten Krakaus, darunter des Ghettos und des Wawels, der einstigen Residenz des deutschen Generalgouverneurs Hans Frank. Schwester Danuta danke ich herzlich dafür, dass sie mich an ihrem reichen Wissen teilhaben ließ. Etienne Léger, der so wie ich dem Rittenhouse Club of Philadelphia angehört, erkannte die Notwendigkeit, Fotographien von MAD zu beschaffen.  Er schaltete seine umtriebige Großmutter Louise Léger ein und kontaktierte über sie MADs Familie sowie den Bürgermeister jener Gemeinde, in der sie lebt. Madame Léger nahm eine mehrstündige Autofahrt auf sich, fuhr zu jener Gemeinde und fotografierte das Familiengrab, auf dem sich MADs Name an letzter Stelle befindet. Dann suchte sie die in der Nähe wohnende Familie auf und bat sie um die Überlassung von Familienfotos, die in dieses Buch Aufnahme gefunden haben. Etienne Léger und seiner Großmutter Louise Léger danke ich herzlichst für ihre ebenso intensiven wie erfolgreichen Bemühungen um die Anerkennung der großen französischen Patriotin Madeleine Bihet-­ Richou. – 303 –

Danksagung

Unter den Historikern des Widerstandes, die mir wertvolle Hinweise gaben, nenne ich dankend Dr. Peter Hoffmann von der McGill University, Dr. Martin Moll von der Karl-Franzens-Universität Graz, Dr. Terry Parssinen von der Universität Tampa, Dr. Robert Wolfe von den U. S. National Archives und Nicholas Reynolds, Verfasser einer 1976 erschienenen Biografie von Generaloberst Ludwig Beck. Den Verleger Fritz Molden interviewte ich in seinem Wiener Büro über seine Begegnung mit Lahousen in Berlin Ende 1942. Zu den spannendsten meiner Interviews zählen jene mit Otto Reichert-Facilides, der nach dem Krieg von Deutschland in die USA auswanderte und in Philadelphia ein berühmter Architekt wurde. Otto wuchs als Sohn eines höheren deutschen Marineoffiziers auf  ; die gesamte Familie einschließlich Otto war mit Admiral Wilhelm Canaris persönlich bekannt. Ich danke Otto herzlich dafür, dass er mir seine tiefschürfenden Einsichten in Canaris’ Charakter und diverse Anekdoten über ihn mitteilte. Für die Beschaffung der Memoiren von Madeleine Bihet-Richou (MAD) stehe ich in der Schuld zahlreicher Personen  – darunter befindet sich auch meine der französischen Sprache mächtige Frau Kathryn Deans Schaub, welche die erfolgte Freigabe der MAD-Memoiren herausgefunden hat. Ich danke ferner unserem Pariser Freund Bernard Jourdan, der das Archiv des französischen Verteidigungsministeriums in Vincennes aufsuchte, um dort das Original der mit Schreibmaschine geschriebenen Memoiren einzusehen und eine Fotokopie anzufertigen. Zu danken ist auch James Mallinson für seine Übersetzung der MAD-Memoiren vom Französischen ins Englische. Mein Dank gilt Jaan Kangilaski für seine Hinweise zum Widerstand der estnischen »Waldbrüder« gegen die Rote Armee und für Einsichtnahme in seine Materialsammlung über diesen weithin unbekannten Widerstand, von dem es eine erstaunliche Verbindung zu Lahousen gibt  : Eine in Finnland stationierte Einheit der »Abwehr« unter dem Kommando Lahousens stellte den Esten logistische Unterstützung zur Verfügung. Mein besonderer Dank für ihre Hilfe gilt auch den Direktoren und dem Personal mehrerer Bibliotheken in Philadelphia, darunter die Library of the University of Pennsylvania (Ancil R. George), die Library of the University of Pennsylvania Law School (Alvin Dong), die Library of The Union League of Philadelphia ( James Mundy und Beth De George) sowie die Library of Montgomery McCracken Walker & Rhoads, LLP (Kathleen M. Coon). Herzlich danke ich schließlich meinen Partnern bei Montgomery McCracken Walker & Rhoads, LLP, für ihre Unterstützung während der Entstehung – 304 –

Danksagung

dieses Buches. Darüber hinaus stehe ich in der Dankesschuld aller Mitarbeiter meiner Firma, die mir mit ihren stets zuverlässigen Kenntnissen und ihrer Freundlichkeit zur Seite standen. Admiral Canaris pflegte seine engsten Mitarbeiter seine »Kolonne« zu nennen. Den Angehörigen meiner Kolonne bin ich zu besonderem Dank verpflichtet   : Zu ihr gehören der verstorbene Dr.  Garold Thumm (mein Mentor), Dr.  Stephen Medvec (Historiker), Jessica Richman, Esq. (Redakteurin), Dr.  Martin Moll (Historiker), Lara Pokorny (Ratgeberin in Wien) und Lawrence Dunham (Berater in Protokollfragen). Die Liste weiterer Ratgeber und Freunde umfasst Frank Trommler, Ph.  D., Elliott Shore, Ph. D., Hon. Wilhelm Joseph Sebastian, Peter Clauss, Esq., Hon. Peter A. Rafaeli, Hon. George Sfedu, Hon. Gregory P. Montanaro, Mark Lupke, Sandra L. Tatman, Ph.  D., Peter W. Fairbairn, Hon. Harold Berger, David Richards, MD, Joseph T. Stapleton, Esq., William D. Bell, Hernan Guaracao, Daniel J. Lippard, Esq., Robert Rico, Brandon Egren, Esq. und meine Assistentin Sophie Klus. Ich entschuldige mich bei allen, die ich eventuell zu erwähnen vergessen habe. Wenngleich ich allen oben Genannten zutiefst dankbar bin, trage ich allein für sämtliche Fehler und Irrtümer, die dieses Buch möglicherweise enthält, die Verantwortung. Juni 2015 Harry Carl Schaub Philadelphia, Pennsylvania

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Register Erfasst sind alle im Haupttext angeführten Personen; Erwin Lahousen wird wegen zu häufiger Nennung nicht angeführt. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, werden die Personen mit jenen Funktionen erwähnt, die für ihre Nennung in diesem Buch relevant sind. Abakumow, Viktor, Chef der sowjetischen Geheimpolizei SMERSH 188 Abshagen, Irmgard, Gattin von Wolfgang ­Abshagen 54 Abshagen, Karl Heinz, deutscher Journalist 10, 54 Abshagen, Wolfgang, deutscher Offizier und Adjutant Lahousens 54, 216–217, 247 Adenauer, Konrad, deutscher Politiker und Bundeskanzler (CDU) 237 Amé, Cesare, italienischer General und Chef des Nachrichtendienstes 234 Amen, John Harlan, US-Oberst, Ankläger beim Nürnberger Prozess 20–22, 24–25, 34–35, 50, 53, 74, 76, 98, 110, 117–120, 140–142, 144–145, 147, 149, 150, 154, 168, 174 Astor, Nancy Lady 42 Baukhage, H.R., US-Journalist beim Nürnberger Prozess 21 Beck, Ludwig, deutscher Generaloberst und Widerstandskämpfer 41, 45, 53, 58–59, 189, 233, 236 Bernardis, Robert, deutsch-österreichischer Oberstleutnant und Widerstandskämpfer 237, 240 Best, Werner, SS-Obergruppenführer, Mitbegründer des RSHA und deutscher Reichsbevollmächtigter in Dänemark 1942–1945 111 Biddle, Francis, US-Attorney General 172 Biedermann, Karl, deutsch-österreichischer Major und Widerstandskämpfer 241 Bierkamp, Walther, SS-Brigadeführer 98

Bihet, Marius Fernand, Ehemann von Madeleine Bihet-Richou 35 Bihet-Richou, Madeleine (Deckname MAD), französische Geheimdienstagentin 9, 13–14, 16–19, 23, 34–37, 40, 47–54, 63, 68–69, 72–73, 86, 94, 114, 118, 198–213, 215–220, 234, 251, 253 Bihet-Richou, Pierre, deren Sohn 13, 68, 73, 203, 206–208, 215, 219 Blobel, Paul, SS-Standartenführer 103 Blomberg, Werner von, deutscher Generalfeldmarschall und Reichskriegsminister 57–58 Blum, Leon, französischer Politiker und Ministerpräsident 106, 205 Böhme, Franz, Offizier des österreichischen Nachrichtendienstes 34, 44 Boeselager, Georg, Freiherr von, deutscher Hauptmann 185 Boeselager, Philipp, Freiherr von, deutscher Offizier 185 Bonhoeffer, Dietrich, deutscher evangelischer Theologe und Widerstandskämpfer 16, 114, 178, 238 Bormann, Martin, Leiter der Partei-Kanzlei der NSDAP 236 Brandt, Heinz, deutscher Oberst im OKH 15, 190–191 Breyer, Hans-Joachim, deutscher Oberst und Chef Abt. Kriegsgefangene des OKW 1939–1941 146 Brochu, N.N., Major des französischen Nachrichtendienstes 199 Budjonny, Semjon Michailowitsch, Marschall der Sowjetunion 157

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Register Bürkner, Leopold, deutscher Vizeadmiral und Chef des Amtes Ausland der »Abwehr« 119, 142, 146, 150, 227 Bullitt, William C., Vertrauter von US-Präsident Roosevelt 58 Burckhardt, Maria Luise, Gattin von Wilhelm Gustav Lahousen 30 Burger, Ernst Peter, Deutsch-Amerikaner, Führer eines Abwehr-Unternehmens 172 Canaris, Erika, Gattin von Wilhelm Canaris 228 Canaris, Wilhelm, Admiral, Chef der deutschen »Abwehr« 10, 13–16, 23, 41, 43–51, 53–55, 58–59, 61–62, 67–68, 72, 74–77, 80, 86–88, 94, 100–101, 113–115, 119–120, 141–145, 147, 152, 155, 172–176, 178, 182, 184–185, 189, 192, 201–202, 204–205, 212, 216, 222, 224, 227–228, 230–231, 234, 238–239, 243, 246, 252–254 Chamberlain, Neville, britischer Premierminister 201 Chruschtschow, Nikita Sergejewitsch, sowjetischer Politiker 253 Churchill, Winston, britischer Politiker und Premierminister 88–89, 125–126, 129, 178, 214 Clausewitz, Carl von, deutscher General und Militärtheoretiker 186 Cronkite, Walter, US-Journalist beim Nürnberger Prozess 21 Curda, Karl, tschechischer Sergeant und Verräter 140 Daladier, Édouard, französischer Ministerpräsident 201 Daniell, Ray, US-Journalist beim Nürnberger Prozess 21 Dasch, George John, Deutsch-Amerikaner, Führer eines Abwehr-Unternehmens 172 Dietrich, Josef (Sepp), SS-Oberstgruppenführer und Befehlshaber von Verbänden der WaffenSS 135, 240 Dietrich, Marlene, deutsch-amerikanische Filmschauspielerin 56 Dirlewanger, Oskar, SS-Standartenführer 85 Dix, Rudolf, deutscher Verteidiger beim Nürnberger Prozess 120

Dohnanyi, Hans von, deutscher Jurist und Mitarbeiter der »Abwehr« 15–16, 45, 53, 113, 178, 189, 192, 227, 230, 238, 252 Dollfuß, Engelbert, österreichischer Politiker und Bundeskanzler 1932–1934 40 Donovon, William (Bill) J., US-General, Chef der OSS 168, 220 Dowding, Sir Hugh, britischer Air Chief Marshal 125 Dulles, Allen Welsh, US-Geheimdienstmitarbeiter 9, 88, 197, 239 Earle, George, US-Diplomat und Politiker 225 Ehrenburg, Ilja, sowjetischer Journalist und Propagandist 21 Eichmann, Adolf, SS-Obersturmbannführer, Organisator des Judenmordes 96, 112 Eiselsberg, Anton Freiherr von, österreichischer Chirurg und Medizinprofessor 29, 249 Elisabeth, Kaiserin von Österreich, Gattin von Kaiser Franz Joseph I. 26 Elser, Georg, Urheber eines Attentates auf Hitler 1939 177–178, 211 Faber-Castell, Roland Graf von, Schlossbesitzer bei Nürnberg 21 Fechner, Kurt, deutscher Offizier der »Abwehr« 10, 16, 25, 47, 69, 72, 94, 114, 216–217, 219, 234, 256 Figl, Leopold, österreichischer Politiker und Bundeskanzler 70 Focke, Albrecht, deutscher Oberst der »Abwehr« 228 Franco, Francisco, spanischer General und Staatschef 1939–1975 123, 244 Frank, Hans, deutscher Generalgouverneur in Polen 1939–1945 81, 83, 91–92, 107, 123 Frankfurter, Felix, US-Jurist 42 Frankfurter, Solomon, Onkel von Felix Frankfurter 42 Franz Joseph I., Kaiser von Österreich und König von Ungarn 1848–1916 26, 28, 254 Freisler, Roland, deutscher Jurist und Präsident des Volksgerichtshofes 236, 239 Freud, Sigmund, Begründer der Psychoanalyse 27 Freytag-Loringhoven, Wessel Freiherr von,

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Register deutscher Oberst und Widerstandskämpfer 16, 65–66, 227, 230, 234, 237, 250 Friedrich I. »Barbarossa«, römisch-deutscher Kaiser des 12. Jahrhunderts 159, 218 Friedrich II. »der Große«, König von Preußen 1740–1786 239 Fritsch, Werner von, deutscher Generaloberst und Oberbefehlshaber des Heeres 57–58 Fromm, Friedrich, deutscher Generaloberst und Befehlshaber des Ersatzheeres 231, 233, 239 Gabčik, Josef, tschechischer Sergeant und Heydrich-Attentäter 138 Gallagher, Wes, US-Journalist beim Nürnberger Prozess 21 Gaulle, Charles de, französischer General und Staatspräsident 16, 141–142, 208, 214–215 Gehlen, Reinhard, deutscher Generalmajor, Chef der Abteilung Fremde Heere Ost 1942–1945 159–161, 186, 223 Gersdorff, Rudolf-Christoph Freiherr von, deutscher Oberst und Widerstandskämpfer 178–179 Giraud, Henri, französischer General 140, 142–143, 177, 224 Gisevius, Hans Bernd, deutscher Diplomat und Widerstandskämpfer 238 Goebbels, Joseph, Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda 52, 55–56, 75, 101, 108, 140, 179, 196, 237 Goerdeler, Carl Friedrich, Oberbürgermeister von Leipzig und Widerstandskämpfer 59, 102, 189, 236–237 Goerdeler, Christian, deutscher Offizier, Sohn von Carl Friedrich Goerdeler 102 Göring, Hermann, Reichsmarschall, Inhaber zahlreicher Ämter im NS-Staat 20, 23–24, 56–57, 77, 153, 162, 170, 198, 232, 238, 250 Gorbach, Alfons, österreichischer Politiker und Bundeskanzler 70 Gorbatschow, Michael, Staatschef der UdSSR vor deren Auflösung 90 Gräbe, Hermann Friedrich, deutscher Bauingenieur 98 Groscurth, Hellmuth, deutscher Offizier 54, 61, 100–104, 189

Guderian, Heinz, deutscher Generaloberst 83, 159 Grynszpan (auch Grünspan), Herschel, Mörder von Ernst vom Rath 52, 101 Haag, Inge, Sekretärin von Wolfgang Abshagen 216–217 Haase, Paul von, deutscher General und Widerstandskämpfer 237 Haeften, Werner von, deutscher Leutnant und Adjutant Graf Stauffenbergs 232–233, 236 Händel, Georg Friedrich, deutscher Komponist 12 Hagen, Albrecht von, deutscher Leutnant und Widerstandskämpfer 237 Halder, Franz, deutscher Generaloberst und Generalstabschef des Heeres 1938–1942 59, 159 Hansen, Georg, deutscher Oberst und Leiter der Abwehr-Abteilung I 227 Harris, Sir Arthur, britischer Luftwaffengeneral und Chef des Bomber Command 128 Heß, Rudolf, Stellvertreter Hitlers 1933–1941 120, 168 Heusinger, Adolf, deutscher Generalleutnant und Chef der Operationsabteilung des OKH 159 Heydrich, Reinhard, SS-Obergruppenführer, Chef des RSHA 1939–1942 51, 75, 98, 107– 108, 138–140, 142–143, 170, 222, 224 Higgins, Marguerite, US-Journalistin beim Nürnberger Prozess 21 Himmler, Heinrich, Reichsführer-SS 5, 45–46, 51, 58, 75, 139, 170, 211, 219, 224–227, 232, 234, 236, 252 Hindenburg, Paul von, deutscher Generalfeldmarschall und Reichspräsident 1925–1934 40, 62 Hitler, Adolf 14–15, 17, 20, 38, 40, 45, 47, 49, 53, 55–57, 59–63, 65–67, 69, 72–79, 82–84, 91, 93, 95, 106, 112, 115–116, 121–126, 128, 132, 134–135, 139, 141–142, 146, 151–153, 156, 159–161, 165, 170, 172–180, 182, 186, 189–193, 196, 199, 202–205, 209, 211–212, 215–219, 223–226, 228, 230–234, 236–241, 250, 252 Hoepner, Erich, deutscher Generaloberst und Widerstandskämpfer 237

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Register Höß, Rudolf Franz Ferdinand, SS-Obersturmbannführer und Kommandant des KZ Auschwitz 107, 110, 115, 241 Höttl, Wilhelm, SS-Obersturmbannführer im RSHA 96 Hoover, Edgar J., Chef des amerikanischen FBI 172 Hoßbach, Friedrich, deutscher General 57 Hull, Cordell, US-Politiker und Außenminister 54 Huppenkothen, Walther, SS-Standartenführer im RSHA 16, 173, 238, 252 Huth, Alfred, deutsch-österreichischer Hauptmann und Widerstandskämpfer 241 Jackson, Robert K., US-Hauptankläger beim Nürnberger Prozess 20, 24, 220 Jaruzelski, Wojciech, polnischer General und Staatschef 90 Jodl, Alfred, deutscher Generaloberst, Chef des Wehrmachtführungsstabes 16, 23, 159, 172–173, 227, 233, 243 Kafka, Franz, österreichischer Schriftsteller 27 Kálmán, Emmerich, österreichischer Operettenkomponist 256 Kaltenbrunner, Ernst, SS-Obergruppenführer, Chef des RSHA 1943–1945 98, 107, 170, 219, 224–225, 227, 234, 236, 238, 252 Kaminski, Bronislaw Wladislawowitsch, polnischer Kollaborateur mit der SS 85 Kauffmann, Kurt, deutscher Verteidiger im Nürnberger Prozess 107 Keitel, Wilhelm, deutscher Generalfeldmarschall, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht 23–24, 58, 76–77, 82, 95, 119–121, 141–143, 145–146, 149, 169, 173–175, 177, 226–227, 233 Kielpinski, Walter von, SS-Obersturmbannführer im RSHA 236 Klausing, Friedrich Karl, deutscher Hauptmann und Widerstandskämpfer 237 Kleist, Ewald-Heinrich von, deutscher Leutnant und Widerstandskämpfer 239 Kleist-Schmenzin, Ewald von, Vater von EwaldHeinrich von Kleist 239 Kluge, Günther von, deutscher Generalfeldmarschall 185

Koenen, Friedrich, deutscher Oberleutnant 67 Kowalewski, Jan, polnischer Oberst 88–89 Kraus, Karl, österreichischer Schriftsteller und Publizist 27 Kreisky, Bruno, österreichischer Politiker und Bundeskanzler 70 Kubiš, Jan, tschechischer Sergeant und Heydrich-Attentäter 138 Kusocinski, Janusz, polnischer Sportler und Olympiasieger 84–85 Lahousen, Heinrich, österreichischer General und Großvater Erwin Lahousens 254 Lahousen, Margarete (Marga), Gattin Erwin Lahousens 17, 30–31, 37, 39, 48, 50–51, 234, 242, 245, 247–249, 251, 253–254 Lahousen, Stefanie, geborene Znidaric, zweite Gattin Erwin Lahousens 54 Lahousen, Wilhelm, österreichischer General, Vater von Erwin Lahousen 27–28 Lahousen, Wilhelm Gustav, Bruder von Erwin Lahousen 29, 45–46 Lanner, Joseph, österreichischer Komponist 27 Laval, Pierre, französischer Politiker und Kollaborateur mit Deutschland 124 Lawrence, Sir Geoffrey, britischer Vorsitzender Richter beim Nürnberger Prozess 20, 117 Lehár, Franz, österreichischer Komponist 27 Lehár, Franz, Vater des obigen, österreichischer Kapellmeister 27 Leverkuehn, Paul, deutscher Hauptmann der »Abwehr« 225 Liebitzky, Erich, österreichischer General 10 Lochner, Louis, US-Journalist beim Nürnberger Prozess 21 Luccheni, Luigi, Anarchist, Mörder von Kaiserin Elisabeth 26 Lüdecke, N.N., Chauffeur von Admiral Canaris 227–228 MAD siehe Bihet-Richou, Madeleine Mann, Thomas, deutscher Schriftsteller 56, 195 Mannerheim, Carl Gustav von, finnischer Generalfeldmarschall 123, 180 Manstein, Erich von, deutscher Generalfeldmarschall 156–157 Marogna-Redwitz, Rudolf Graf, deutscher

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Register Oberst der »Abwehr« und Widerstandskämpfer 47, 114, 246 Martin, John, US-Leutnant beim US-Chefankläger 242 Menzies, Stewart Sir, Chef des britischen Geheimdienstes MI6 88 Mertz von Quirnheim, Albrecht, deutscher Oberst und Widerstandskämpfer 233 Mihailović, Draža, Führer königstreuer jugoslawischer Partisanen 137 Milch, Erhard, deutscher Generalfeldmarschall im Reichsluftfahrtministerium 153, 162 Millöcker, Carl, österreichischer Komponist 27 Model, Walter, deutscher Generalfeldmarschall 159 Molden, Ernst, Chefredakteur der »Neuen Freien Presse« 192–194 Molden, Fritz, österreichischer Widerstandskämpfer 9, 192–197 Molden, Otto, Bruder von Fritz Molden 193, 195 Molotow, Wjatscheslaw M., Außenminister der UdSSR 68, 181, 187, 202 Moltke, Helmuth James Graf von, Jurist der »Abwehr« und Widerstandskämpfer 146 Monet, Claude, französischer impressionistischer Maler 203 Montgomery, Bernard Law, britischer Feldmarschall 123 Mozart, Johann Wolfgang, österreichischer Komponist 197 Müller, Heinrich, SS-Gruppenführer und Chef der Gestapo 146–149, 155, 252 Muff, Wolfgang, deutscher Generalleutnant und Militärattaché in Wien 40, 240 Mussolini, Benito, Diktator Italiens ab 1922 69, 123, 206, 210, 233–234 Napoleon Bonaparte, französischer General und Kaiser der Franzosen 186 Navarre, Henri, französischer Hauptmann im Nachrichtendienst 203, 206, 210, 212–213 Nebe, Arthur, Chef des Reichskriminalpolizeiamtes 225, 237 Nelte, Otto, deutscher Verteidiger beim Nürnberger Prozess 24, 76–77 Neurath, Konstantin von, deutscher Reichsaußenminister 1932–1938 57, 138

Niemöller, Martin, deutscher evangelischer Theologe und NS-Gegner 106 Nikittschenko, Iona Timofejewitsch, sowjetischer General und Richter beim Nürnberger Prozess 120, 247 Ohlendorf, Otto, SS-Gruppenführer im RSHA 98–100, 241 Olbricht, Friedrich, deutscher General und Verschwörer des 20. Juli 1944 231, 233 Oster, Hans, deutscher Generalmajor, Stellvertreter von Canaris 15–16, 45, 48–49, 53, 58–59, 62, 67, 73, 86, 142, 146, 173, 178, 189, 192, 227, 230, 238, 252 Paulus, Friedrich, deutscher Generalfeldmarschall, Oberbefehlshaber der deutschen Truppen in Stalingrad 1942/43 152, 186 Pavelič, Ante, Staatschef des kroatischen Ustascha-Staates 1941–1945 137 Peiper, Joachim, SS-Standartenführer in der »Leibstandarte Adolf Hitler« 135–136 Pétain, Philippe, französischer Marschall und Staatschef 1940–1945 214–215 Petöfi, Sandor, ungarischer Revolutionär 1848/49 210 Pfannenstiel, Hubert, deutscher Oberstleutnant und Leiter der Abwehrstelle Budapest 217 Pfuhlstein, Alexander von, deutscher Generalmajor 67 Piekenbrock, Hans, deutscher Oberst und Leiter der Abwehr-Abteilung I 186, 189, 227, 230 Porter, Roy, US-Journalist beim Nürnberger Prozess 21 Posch-Pastor, Eric (Riki), deutscher Offizier in Paris 195–196 Preradović, Paula von, österreichische Literatin, Mutter von Fritz Molden 193–195, 197 Quisling, Vidkun, norwegischer Politiker und Kollaborateur mit Deutschland 124 Raeder, Erich, deutscher Großadmiral und Oberbefehlshaber der Kriegsmarine 57 Rasch, Otto, SS-Brigadeführer, Chef der Einsatzgruppe C 103

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Register Raschke, Rudolf, deutsch-österreichischer Leutnant und Widerstandskämpfer 241 Rath, Ernst vom, deutscher Diplomat 52, 101 Rauter, Hanns Albin, SS-Obergruppenführer und deutscher Höherer SS- und Polizeiführer in den Niederlanden 1940–1945 110 Reinecke, Hermann, deutscher General und Chef des Allgemeinen Wehrmachtsamtes 144–150, 155, 176 Reinhardt, Kurt, deutscher Oberleutnant der »Abwehr« 182 Rezek, Franz, österreichischer Militärmusiker und Komponist 27 Ribbentrop, Joachim von, Reichsminister des Auswärtigen 1938–1945 23, 58, 68, 76–77, 82, 91, 93, 95, 116, 120, 165, 173–174, 181, 187, 202 Richter, Wolfgang, deutscher Hauptmann der »Abwehr« 248 Rivet, Louis, französischer Oberst im Nachrichtendienst 199–200, 203, 206–208, 212, 215, 218 Roberts, G.D., britischer Jurist 120–121 Rommel, Erwin, deutscher Generalfeldmarschall 67, 127, 161, 189 Ronge, Maximilian, österreichischer Geheimdienstoffizier 9 Roosevelt, Franklin Delano, US-Präsident 1933–1945 42, 58, 89, 129, 172, 225 Rosenblith, N.N., sowjetischer Oberst und Ankläger im Nürnberger Prozess 155 Roth-Limanowa, Erika, Verwandte von Margarete Lahousen 10 Roth-Limanowa-Lapanow, Josef Freiherr von, österreichisch-ungarischer Generaloberst und Schwiegervater Erwin Lahousens 30, 37 Roth-Limanowa-Lapanow, Malvine, geborene Gräfin Lazansky, Freifrau von Bukowa, Schwiegermutter Erwin Lahousens 30 Roth-Limanowa-Lapanow, Margarete Ida Marie Freifrau von, Gattin Erwin Lahousens, siehe Lahousen, Margarete Rudenko, Roman Andrejewitsch, sowjetischer General und Ankläger beim Nürnberger Prozess 120, 154–155 Rudolf von Habsburg, Kronprinz ÖsterreichUngarns 27

Rüdt von Kollenberg, Ulli, Kurierin an der deutschen Botschaft Paris 195 Sallant, Roger, französischer Oberst und Militärattaché in Wien 36, 48, 198–199 Sas, Gijsbertus Jacobus, niederländischer Offizier und Militärattaché in Berlin 73 Sauckel, Fritz, NSDAP-Gauleiter von Thüringen und Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz 153 Sauter, Friedrich, deutscher Verteidiger im Nürnberger Prozess 76–77 Schacht, Hjalmar Horace Greeley, deutscher Wirtschaftspolitiker 120 Schellenberg, Walter, SS-Gruppenführer, Chef des Auslands-SD 43–44, 219 Schlabrendorff, Fabian von, deutscher Oberleutnant und Aktivist des Widerstandes 15, 190–191, 239 Schnitzler, Arthur, österreichischer Schriftsteller 27 Schuhmacher, Kurt, deutscher Politiker (SPD) 237 Schulze-Bernett, Walter, deutscher Major der »Abwehr« 114 Schuschnigg, Kurt, österreichischer Politiker und Bundeskanzler 1934–1938 39–40, 42, 106 Seyß-Inquart, Arthur, österreichischer NSAktivist und deutscher Reichskommissar in den Niederlanden 1940–1945 110 Shirer, William L., US-Journalist beim Nürnberger Prozess 21, 56 Sonnenfeldt, Richard W., US-Sergeant, Mitglied der US-Anklage im Nürnberger Prozess 168 Speer, Albert, deutscher Rüstungsminister 1942–1945 153, 162 Stahmer, Otto, deutscher Verteidiger beim Nürnberger Prozess 24, 91 Stalin, Josef, sowjetischer Diktator 91, 156–159, 187, 218, 247, 253 Staudinger, Karl, Onkel von Fritz Molden 196 Stauffenberg, Claus Graf Schenk von, deutscher Oberst und Hitlerattentäter 14, 16–17, 20, 65–66, 177, 189, 228, 230–232, 236, 239–240, 250

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Register Stieff, Hellmuth, deutscher Generalmajor und Aktivist des Widerstandes 15, 190, 237 Stillfried, Alfons, deutscher Major und Widerstandskämpfer 196 Stokes, Richard, US-Journalist beim Nürnberger Prozess 21 Storey, Robert, US-Oberst und Ankläger im Nürnberger Prozess 97 Strauß, Johann Sohn, österreichischer Komponist 27, 37 Strauß, Johann Vater, österreichischer Komponist 27 Stroop, Jürgen, SS-Gruppenführer und Liquidator des jüdischen Ghettos in Warschau 85 Suppé, Franz von, österreichischer Komponist 27 Szokoll, Carl, deutsch-österreichischer Major und Widerstandskämpfer 240 Szymanska, Halina, Gattin von Roman Szy­ manski 87–88 Szymanski, Roman, polnischer Oberst 87–88

Vermehren, Elisabeth, Gattin von Erich Maria Vermehren 225 Vermehren, Erich Maria, deutscher Abwehroffizier und Überläufer 225 Vetsera, Marie Baronin, Geliebte von Kronprinz Rudolf 27 Vuillemin, Joseph, französischer General 198

Teleki, Pal, Ministerpräsident Ungarns 218 Timoschenko, Semjon Konstantinowitsch, Marschall der Sowjetunion 157 Tito, Josip Broz, Führer kommunistischer Partisanen und Staatspräsident Jugoslawiens 1945–1980 137, 219 Tresckow, Henning von, deutscher Generalmajor und Aktivist des Widerstandes 15, 185, 189–191, 230–231, 237, 239

Yorck von Wartenburg, Peter Graf, deutscher Leutnant und Widerstandskämpfer 236–237

Unruh, Fritz von, deutscher General 196

Warlimont, Walther, deutscher Generalleutnant, stellvertretender Chef des Wehrmachtführungsstabes 159, 243 Werfel, Franz, deutsch-jüdischer Schriftsteller 195 Weygand, Maxime, französischer General und Ministerpräsident 140–142, 177, 224 Wilhelm II., deutscher Kaiser 1888–1918 180 Witzleben, Erwin von, deutscher Generalfeldmarschall und Widerstandskämpfer 237 Woroschilow, Kliment Jefremowitsch, Marschall der Sowjetunion 157

Zehner, Wilhelm Petrus, österreichischer General und Verteidigungsminister 42 Znidaric, Georg, erster Gatte von Stefanie Znidaric 254–255 Zdinaric, Stefanie, zweite Gattin Erwin Lahousens 254 Zweig, Stefan, österreichischer Schriftsteller 195

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RICHARD BASSETT

HITLERS MEISTERSPION DAS RÄTSEL WILHELM CANARIS ÜBERSETZT AUS DEM ENGLISCHEN VON MARIE-THERESE PITNER UND SUSANNA GRABMAYR. MIT EINEM VORWORT VON INA HAAG, ZEITZEUGIN UND EHEMALIGE MITARBEITERIN VON WILHELM CANARIS

In einer bemerkenswerten und faszinierenden wahren Spionagegeschichte deckt Richard Bassett auf, wie die geheimdienstliche Tätigkeit des Admirals Wilhelm Canaris den Lauf des Zweiten Weltkriegs verändert hat. Ina Haag, enge Mitarbeiterin von Wilhelm Canaris und letzte lebende Zeitzeugin, erzählt in ihrem Vorwort über die Arbeit mit dem legendären Admiral und darüber, wie sie Pariser Juden Pässe aushändigte. Admiral Wilhelm Canaris, der Chef der deutschen Abwehr, wurde von seinen russischen Gegenspielern als der gefährlichste Spion der Welt bezeichnet. Seine durch die kaiserliche deutsche Marine geprägte Loyalität galt jedoch einem älteren Deutschland, nicht der aggressiven, rassistischen Herrschaft von Adolf Hitler. Im Zuge der Verschwörung vom 20. Juli 1944 wurde Canaris verhaftet und von den Nationalsozialisten in der letzten Kriegswoche hingerichtet. Das Ausmaß seiner Beteiligung am Attentat auf Hitler blieb jedoch im Dunkeln. »Eine völlige Neubewertung des aktiven Widerstandes des militärischen Nachrichtendienstes gegen das NS-Regime und seiner Bemühungen um einen Waffenstillstand mit den West-Alliierten.« (Dr. Peter Broucek) 2007. XVI, 309 S. 16 S. S/W-ABB. GB. 155 X 235 MM | ISBN 978-3-205-77625-3

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Carl Goerdeler gegen die Verfolgung der Juden PETER HOFFMANN Peter Hoffmann

CARL GOERDELER GEGEN DIE VERFOLGUNG DER JUDEN

Carl Friedrich Goerdeler war einer der führenden Köpfe der konservativen Widerstandsbewegung im „Dritten Reich“. Seine Vorstellungen über eine Neuordnung der Stellung der Juden in der Welt brachten ihm von einigen Historikern den Vorwurf des Antisemitismus ein. Peter Hoffmann, Kenner des deutschen Widerstands und Stauffenberg-Biograf, zeigt dagegen auf Grundlage neu ermittelter und analysierter Quellen Goerdelers unablässiges Bemühen um den Schutz der Juden vor Verfolgung, Verlust ihrer Staatsangehörigkeit und Ermordung. Eine zentrale Persönlichkeit der bürgerlichen Opposition und der Umsturzbewegung gegen den Nationalsozialismus erfährt hier eine neue Bewertung und Würdigung.

2013. 368 S. 12 S/W-ABB. GB. MIT SU. 155 X 230 MM. | € 39,90 [D] | € 41,10 [A]

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ANNE C. NAGEL

JOHANNES POPITZ (1884–1945) GÖRINGS FINANZMINISTER UND VERSCHWÖRER GEGEN HITLER. EINE BIOGRAPHIE

Kaum einer kennt ihn mehr, den Mann, der Hermann Göring das Geld beschaffte: Johannes Popitz war ein Spitzenbeamter in der Weimarer Republik und im »Dritten Reich« der Finanzminister Görings. Gleichzeitig gehörte er, als einziger aktiver Minister, dem Widerstand an und konspirierte mit Ulrich von Hassell und Carl Goerdeler gegen Hitler. Die Historikerin Anne C. Nagel fügt die Widersprüche dieses Lebens zur umfassenden Biographie: Görings Finanzminister war ein kultivierter Bürger, ein Liebhaber Goethes und Fontanes. Er besaß den Mut, seinem Gewissen zu folgen, spielte ein doppeltes Spiel und verlor. Am 2. Februar 1945 wurde Johannes Popitz von den Nationalsozialisten hingerichtet. 2015. 251 S. 21 S/W-ABB. GB. 135 X 210 MM | ISBN 978-3-412-22456-1

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PETER BROUCEK (HG.)

EIN ÖSTERREICHISCHER GENERAL GEGEN HITLER FELDMARSCHALLEUTNANT ALFRED JANSA ERINNERUNGEN

Alfred Jansa schildert sein Leben als Generalstabsoffi zier bei österreichischen, deutschen und bulgarischen Armeekommanden im Ersten Weltkrieg und im Bundesheer der Republik Österreich, sowie als Militärdiplomat in Berlin, schließlich als militärischer Mitarbeiter (Chef des Generalstabes der Bewaffneten Macht) des österreichischen Bundeskanzlers Kurt Schuschnigg. 2011. 830, XVI S. ZAHLR. FARB- UND S/W-ABB. GB. MIT SU. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-205-78148-6

„Dieses fesselnde, wissenschaftlich durch den Herausgeber abgerundete Buch kann zur Lektüre auch jenen empfohlen werden, die zu Darstellungen aus der Zeit des ausgehenden 19. und anbrechenden 20. Jahrhunderts üblicherweise keine Beziehung finden.“ Österreichische Militärische Zeitschrift

„Ein gewichtiges Buch mit aussergewöhnlichem Hintergrund.“ Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift

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Rudolf von StR aSSeR

lebenSkReiSe WideRStand und WiedeR aufbau Redak tionelle betReuung: Cl audia lehneR-JobSt

Rudolf von Strasser, Jahrgang 1919, blickt auf ein Leben zurück, das der persönlichen Freiheit, aber auch der Österreichs gewidmet war. Auf Schloss Majorháza in der Slowakei war der Autor in seiner Jugend von Kunst und einem ausgeprägten Sinn für Verantwortung umgeben. Daraus resultierte sein Interesse für Geschichte und Politik, aber auch die Selbstverständlichkeit seines Widerstandes gegen die Nationalsozialisten als Mitglied der Österreichischen Freiheitsbewegung um Karl Roman Scholz. Rudolf von Strasser schildert die Jahre seiner Haft ebenso wie die Zeit als Leiter der Presseabteilung der Bundeshandelskammer an der Seite von Julius Raab, an der Außenhandelsstelle in New York sowie als Investmentbanker in New York. Die Lebenskreise führen schließlich zurück nach Wien, wo auch seine bedeutende Glassammlung ihren gebührenden Platz fand. 2011. 208 S. 40 S/w- und 14 farb. abb. Gb. mit Su. 155 x 235 mm. iSbn 978-3-205-78742-6

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PETER BROUCEK

MILITÄRISCHER WIDERSTAND STUDIEN ZUR ÖSTERREICHISCHEN STAATSGESINNUNG UND NS-ABWEHR

Der bekannte ehemalige Staatsarchivar und Militärhistoriker Peter Broucek untersucht die Rolle der »Gesamten bewaff neten Macht« des österreichischen Staatswesens, von der Theresianischen Staatsreform 1749 bis ins 20. Jahrhundert. Einen Schwerpunkt bildet dabei der Widerstand von Militärpersonen gegen das Dritte Reich und den Nationalsozia lismus. Die Geschichte des österreichischen Staatswillens bis zur europäschen Integration wird dabei anhand zentraler Themen nachgezeichnet. Peter Broucek, geb. 1938; Studium der Geschichte und Ger manistik sowie der Historischen Hilfswissenschaften an der Universität Wien; 1963–2003 im Österreichischen Staatsarchiv/Kriegsarchiv als Referent für Kriegsakten und persönliche Aufzeichnungen der Angehörigen des Offi zierskorps tätig. 2008. 456 S. 1 KARTE. GB. 155 X 235 MM | ISBN 978-3-205-77728-1

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HANNES FERNOW

ZYKLISCHES ERINNERN ALFRED HRDLICKAS RADIERZYKLUS „WIE EIN TOTENTANZ“ – DIE EREIGNISSE DES 20. JULI 1944

Im Zentrum der Studie steht die Interpretation von Alfred Hrdlickas Radierzyklus zur Widerstandsbewegung des 20. Juli 1944. Auf 53 Radierungen entfaltete der Wiener Künstler 1974 ein erschütterndes Panorama, dessen nicht nur kunsthistorische Bedeutung für die deutsche Erinnerungskultur herausgestellt wird. In chronologisch ausgewählten Momenten stellt der Zyklus den späten Attentatsversuch der Wehrmacht-Offi ziere in den Kontext des preußischen Militarismus. So setzt die Folge 1764 bei Friedrich II. ein und behandelt im Weiteren zahlreiche Exempel für militärische Disziplinierung und Vernichtungswahn, aber auch für zivilen Ungehorsam. Die Arbeit von Hannes Fernow beleuchtet insbesondere die Frage, wie Grausamkeit und Gewalt in modernen Realismus übersetzbar ist und warum sich ein Künstler ihrer Darstellung verschreibt. 2012. 156 S. 55 S/W-ABB. GB. 280 X 210 MM. | ISBN 978-3-205-78857-7

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HORST DIETER SCHLOSSER

SPRACHE UNTERM HAKENKREUZ EINE ANDERE GESCHICHTE DES NATIONALSOZIALISMUS

Diktatorische Herrschaft beruht in erster Linie auf physischer Gewalt. Sie nutzt aber auch sprachliche Mittel, um ihren Machtanspruch durchzusetzen und zu etablieren. Die NS-Diktatur ist in dieser Hinsicht ein besonders eindrückliches Beispiel. Das neue Buch des Sprachwissenschaftlers Horst Dieter Schlosser widmet sich der „Sprache unterm Hakenkreuz“ und ihren Mechanismen zur Machterhaltung. Er arbeitet insbesondere das Wechselspiel zwischen sprachlicher Diskriminierung und Vernichtung von tatsächlichen und mutmaßlichen Gegnern des Regimes heraus und stellt auch die Positionen des Widerstands gegen das Regime umfassend dar. Schlossers Analyse bietet eine profunde Basis zum Verständnis der Massenwirksamkeit von Propaganda und eine Grundlage, ihr mit sprachlichen Mitteln zu begegnen. 2013. 424 S. GB. 155 X 230 MM ISBN 978-3-412-21023-6 [BUCH] | ISBN 978-3-412-21654-2 [E-READER]

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