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German Pages 500 Year 2020
Sabrina Söchtig Absolute Wahrheit und Religion
Tillich Research
Tillich-Forschungen Recherches sur Tillich Edited by Christian Danz, Marc Dumas, Verna Ehret, and Werner Schüßler
Volume 19
Sabrina Söchtig
Absolute Wahrheit und Religion
Der Wahrheitsbegriff des frühen Tillich und seine Beurteilung außerchristlicher Religionen
ISBN 978-3-11-067155-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-067175-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-067185-8 ISSN 2192-1938 Library of Congress Control Number: 2020938217 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Meinen Eltern & Großeltern
Danksagung Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich für Geistes- und Kulturwissenschaften der Universität Kassel im November 2018 angenommen. Für die Veröffentlichung habe ich sie durch Hinzufügen neuerer Forschungsliteratur erweitert, in ihrer Gliederung geringfügig überarbeitet und ein Register ergänzt. Diese Arbeit hätte nicht ohne die Unterstützung verschiedenster Menschen entstehen können, mit denen ich in den letzten Jahren in Verbindung stand. An sie ist die folgende Danksagung gerichtet: Zunächst möchte ich ganz besonders meinem Doktorvater und Erstbetreuer Prof. Dr. Tom Kleffmann danken, der bereits während des Studiums in mir ein besonderes Interesse an den Schriften von Paul Tillich geweckt hat. Dieses Interesse verstärkte sich weiter durch den ersten gemeinsamen Besuch der Tagung der Deutschen-Paul-Tillich-Gesellschaft in der Evangelischen Akademie Hofgeismar im Jahr 2007. Die zielführenden Anregungen und regelmäßigen Gesprächsangebote von Seiten meines Doktorvaters waren während meines Schreibprozesses von sehr großem Nutzen für meine Arbeit. Weiterhin bin ich besonders PD Dr. Peter Haigis zu Dank verpflichtet, der mich beim Besuch jener ersten Paul-Tillich-Tagung in Hofgeismar und darüber hinaus bis zur Fertigstellung dieser Arbeit in meinem Vorhaben ermutigt, unterstützt und durch zahlreiche Gespräche bereichert hat. Durch ihn war es mir zudem möglich, gewinnbringende Kontakte, z. B. zu Prof. Dr. Erdmann Sturm und Prof. Dr. Christian Danz herzustellen. Mein Dank gilt auch ihnen in besonderem Maße: Prof. Dr. Erdmann Sturm möchte ich insbesondere dafür danken, dass er mich überhaupt erst auf die Forschungslücke zu meinem Thema aufmerksam gemacht und ebenfalls in meinem Vorhaben bestärkt hat. Prof. Dr. Christian Danz möchte ich für seine freundliche Unterstützung durch Gespräche sowie seine inspirierende Vorlesungsreihe „Tillich-Lectures“ zur Religionsphilosophie Tillichs an der Goethe-Universität Frankfurt am Main (2012) danken, die mir den Anstoß zu meinem endgültigen Grundkonzept der Arbeit geliefert hat. Freundliche Unterstützung habe ich außerdem vom Zweitgutachter meiner Arbeit, Prof. Dr. Stefan Dienstbeck, erhalten, von dessen bereichernder Perspektive auf mein Thema ich sehr profitiert habe. Einen großen Gewinn hat die Arbeit von meiner Mitgliedschaft als Kollegiatin des Geistes- und Kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs (GEKKO) erfahren. Der Austausch mit anderen Wissenschaftler*innen auf Tagungen sowie die Bereitstellung von Räumlichkeiten für das Schreiben an der Arbeit haben mein https://doi.org/10.1515/9783110671759-001
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Danksagung
Vorhaben sehr unterstützt. Für die finanzielle Unterstützung durch das Promotionsstipendium sowie die wissenschaftliche Förderung bedanke ich mich bei der Promotionsstipendienkommission der Universität Kassel. Auch Prof. Dr. PaulGerhard Klumbies möchte ich in diesem Zusammenhang dafür danken, dass er, ebenso wie mein Doktorvater, diese Förderung vorangebracht und ermöglicht hat. Ich danke den Herausgebern der Reihe Tillich Research für die Annahme meines Manuskripts. Für die gelungene und überaus freundliche Zusammenarbeit mit dem Verlag de Gruyter bedanke ich mich bei Dr. Albrecht Döhnert, Katrin Mittmann und André Horn. Mein Dank gilt darüber hinaus dem kollegialen und freundschaftlichen Beistand meiner Büromitbewohnerinnen im Fachbereich 02, Phoebe und Essi. Neben produktiven Gesprächen über meine Arbeit hat mir vor allem ihre gute Gesellschaft das Schreiben erleichtert. Auch meiner Freundin Lisa bin ich zu größtem Dank verpflichtet. Denn sie ist meine treue Freundin geblieben, obwohl sie mit mir in der ersten Schaffensphase zeitgleich zum Schreiben an ihrer Bachelorarbeit ein Carrel in der Universitätsbibliothek Kassel bewohnt hat. Meiner Kindheitsfreundin Sara möchte ich dafür danken, dass sie mir stets eine treue Weggefährtin ist, deren liebevoller und scharfsinniger Rat unverzichtbar für mich ist. Beiden Freundinnen danke ich für ihre Fähigkeiten, mir in allen Lebenssituationen, und so auch in jeder Phase meiner Arbeit an der Dissertation, durch die richtigen Worte und Taten über Hürden hinwegzuhelfen. Ich danke euch, dass ihr bedingungslos da seid. Die wichtigste Stütze für mich war stets der uneingeschränkte Rückhalt meiner Eltern Martina und Wolfgang Söchtig, meiner Großeltern Heidrun und Richard Kaiser und meines Ehemannes Florian Langbein. Ohne meine Familie wäre der Weg hin zur Promotion nie denkbar gewesen und ohne meinen Mann wäre die Begeisterung an Tillich nicht wieder so sehr entfacht worden, dass mir eine Fertigstellung der Arbeit gelungen wäre. Euch verdanke ich am meisten. Meine Arbeit widme ich meiner Familie. Bovenden, im Juni 2020
Sabrina Langbein
Inhalt Teil I Einführung
Themenrelevanz und Forschungsinteresse
Verortung des Themas in der aktuellen Forschungslandschaft
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Teil II Die religionsphilosophische Begründung des christlichen Wahrheitsanspruches . . .. .. .. .. .. .. . .. ... ... ... ... ..
Der apriorische Wahrheitsbegriff und die Methode der 29 Religionsphilosophie Kontext und Bedeutung der Religionsphilosophie für die 29 Wahrheitsfrage Konzeption und Wesen der Religionsphilosophie 47 48 Die werkhistorische Genese der Religionsphilosophie Aufbau, Ziele und Aufgaben der Religionsphilosophie 61 Die geltungstheoretische Grundlegung der 81 Religionsphilosophie Die sinntheoretische Präzision der Religionsphilosophie 97 Die Verortung der Religionsphilosophie im System der 126 Wissenschaften Erkenntnistheoretische Voraussetzungen 137 148 Methodenreflexion und Religionsbegriff Tillichs Tillichs Kritik an zeitgenössischen Methoden 148 Die supranaturalistische und spekulativ-rationalistische Methode 154 Die empirischen Methoden 158 Die kritische, geltungsphilosophische Methode 165 Tillichs Kritik an der Kantrezeption Hegels und Schleiermachers 170 Tillichs Methode der Religionsphilosophie und der 180 Religionsbegriff
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Inhalt
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Die geschichtsphilosophische Entfaltung des Wahrheitsbegriffs 202 Tillichs Einteilungsprinzip: Die Architektonik der 208 Religionstypologie Die „primitive Kulturreligion“ und der Übergang zur „autonomen Kulturreligion“ 222 252 Die politisch-sozialen Kulturreligionen Die chinesische Staatsreligion des Konfuzianismus und die 253 altrömische Religion Die ägyptische Religion 254 Die semitische Religion 256 257 Die persische Religion Die Religionen der ethischen Individualität: das Judentum, der Mohammedanismus, der europäische Rationalismus 260 266 Der Durchbruch der Gnadenreligion im Urchristentum Die Aufnahme des Durchbruchs im Augustinismus und im 272 Urprotestantismus Die philosophisch-ästhetischen Kulturreligionen 285 Die Entstehung der mystischen Kultlinie aus dem primitivbiologischen Ursprung 285 289 Die griechische Philosophie und die Götter Homers Die griechische Volksfrömmigkeit und die sakramentale Mystik 294 Die innere Unausgeglichenheit des Mönchstums 301 304 Die Religion des Paradox’ als ideale Synthese
Bestandsaufnahme I
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Teil III Die theologische Begründung des christlichen Wahrheitsanspruches 323
Einführung und Forschungsfragen
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Der Vollkommenheitsanspruch der Dogmatik 325 325 Thema und Aufbau der Dresdner Dogmatik-Vorlesung Wahrheit aus konkret-dogmatischer Perspektive 329 Der Angriffscharakter der Dogmatik als konkretes Ergriffensein 329
Inhalt
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Das Getragen-Sein des Menschen 337 Das Allgemeine als das Tragende 337 345 Das Unbedingte als das Tragende Der Mythos als Erschütterung und Umwendung des Erkenntnisaktes 347 352 Die Wirklichkeit Gottes im symbolischen Akt 363 Dogmatik als Zeugin von der vollkommenen Offenbarung Die Wahrheit des Offenbarungsverständnisses 363 Die Offenbarungskorrelation als Teilhabe des Menschen an der göttlichen Seinsfülle 365 Vollkommene Offenbarung und Wesen des Christentums 367 Die Bedeutung der Vorbereitungsperiode für den 368 Durchbruch Das Verhältnis von „Wesen des Christentums“ und 370 außerchristlichen Religionen Das Verhältnis von originalem Durchbruch und abhängiger 373 Offenbarung Die Beurteilung der nicht-christlichen Religionen vom Standpunkt der vollkommenen Offenbarung 379 Christus als Realisierungsort der vollkommenen 399 Offenbarung Bestandsaufnahme II
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Teil IV Ergebnisse und Beantwortung der Forschungsfragen
Zum Korrelationsverhältnis von Religionsphilosophie und Theologie 443
Zur Frage nach einem Systemwandel
Zum interreligiösen und religionstheologischen Ertrag
Abkürzungsverzeichnis Literaturverzeichnis Index
XI
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474 475
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Teil I Einführung „Manches ist nicht erschienen, obwohl es zu mir gehört, und unendlich vieles konnte nicht erscheinen, obwohl es zu mir gehört. […] Das gilt vom Leben wie vom Denken und gibt den hier angedeuteten [Inhalten] und Ideen etwas Fragmentarisches, Tastendes, Ungesichertes. Meinen Wunsch, den Gedanken eine abgeschlossene Form zu geben, hat das Schicksal der Grenze […] wieder einmal durchkreuzt. Die Vollendung in den Maßen meiner Möglichkeit ist Hoffnung, deren Erfüllung […] ungewiß ist. Aber ob erfüllt oder nicht erfüllt, es gibt eine Grenze menschlichen Tuns, die nicht mehr Grenze zwischen zwei Möglichkeiten ist, sondern Begrenzung durch das, was jenseits jeder menschlichen Möglichkeit liegt: das Gute und die Wahrheit selbst. Von ihr ist auch unsere Mitte nur Grenze und unser Vollendetes nur Bruchstück.“¹ (Paul Tillich, Auf der Grenze)
Tillich, P., Auf der Grenze, in: Albrecht, R. (Hrsg.), Paul Tillich. Begegnungen. Paul Tillich über sich selbst und andere (Gesammelte Werke, Bd. XII, 2. Aufl.), Stuttgart 1980, S. 57.
1 Themenrelevanz und Forschungsinteresse Zeitlebens hat sich der Religionsphilosoph und Theologe Paul Tillich, neben Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer einer der bedeutendsten evangelischen Theologen des 20. Jahrhunderts, mit der Wahrheitsfrage und dem Wahrheitsanspruch des Christentums im Verhältnis zu den außerchristlichen Religionen beschäftigt.¹ Bereits in seiner ersten systematisch-theologischen Examensarbeit von 1908 mit dem Titel Welche Bedeutung hat der Gegensatz von monistischer und dualistischer Weltanschauung für die christliche Religion? ² hat ihn diese Thematik beschäftigt und wurde von ihm im Laufe seines Lebens immer wieder und weiter durchdacht. Trotz der Fülle an Publikationen über Paul Tillich liegt der Fokus der TillichForschung deutlich stärker auf einer Thematisierung seiner amerikanischen Zeit – wenn auch spätestens das Erscheinen des Bandes Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (2008) bereits Akzente in Richtung des frühen Tillichs setzt. Es erschienen zwar erste Aufsätze, die die Bedeutung seiner Berliner Vorlesung über die Religionsphilosophie ³ (1920) aufgezeigt haben, umfassende Monografien, die sich mit dieser Schrift im Hinblick auf die Wahrheitsthematik und das Verhältnis des Christentums zu den außerchristlichen Religionsgemeinschaften auseinandersetzen, fehlen jedoch noch immer. Dies verwundert allerdings sehr, da die Religionsphilosophie-Vorlesung als Dokumentation einer erstmaligen selbstständigen Auseinandersetzung Tillichs mit den Themen Wahrheit (religionsphilosophisch) und dem Verhältnis der christlichen Religion zu den außerchristlichen Religionsgemeinschaften eine absolute Schlüsselfunktion einnimmt. Zwar hat sich Tillich auch schon vor 1920 intensiv mit der Thematik befasst und sucht beispielsweise in Auseinandersetzung mit Schelling⁴ nach Antworten auf die Frage, wie das Verhältnis Gottes (des Absoluten) und des Menschen so zu denken sein kann, dass die Religionsge-
Hintergründe zur Biografie Tillichs für „Einsteiger“ lassen sich in folgendem Werk finden: Tillich, P., Auf der Grenze. Eine Auswahl aus dem Lebenswerk mit einem Vorwort von Heinz Zahrnt zur Taschenbuchausgabe, Bd. 593, München 1987. Tillich, P., Welche Bedeutung hat der Gegensatz von monistischer und dualistischer Weltanschauung für die christliche Religion? (1908), in: Hummel, G., Lax, D. (Hrsg.), Paul Tillich. Frühe Werke (Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, Bd. IX), Berlin; New York 1998. Im Folgenden wird Religionsphilosophie gelegentlich mit RP abgekürzt werden. Tillich, P., Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien (1910), in: Hummel, G., Lax, D. (Hrsg.), Paul Tillich. Frühe Werke (Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, Bd. IX), Berlin; New York 1998, S. 154– 272. https://doi.org/10.1515/9783110671759-002
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schichte inklusive der außerchristlichen Religionsformen in ihrer geschichtlichen Kontinuität in die Beziehung zwischen Gott und Mensch integriert sein können. Dennoch stellt die in Berlin gehaltene Vorlesung erstmals das vorläufige Ergebnis seiner ganz eigenen Gedanken zum Thema dar, die dann bis in die späte Zeit immer weiter aufgearbeitet und intensiviert wurden. Aktuelle Publikationen rücken die Spätschriften Tillichs bezüglich der interreligiösen und religionstheologischen Fragestellung so sehr ins Zentrum, da sich hier die frühen, vagen, noch im Prozess befindlichen Gedanken Tillichs explizit und im Ausgang von seinen pneumatheologischen Überlegungen für die Frage nach einer konkreten interreligiösen Begegnung fruchtbar machen lassen.⁵ Denn der späte Tillich hat sich selbst durch Reisen nach Ägypten, Israel (1963)⁶ und Japan⁷ sowie eine kumulative Lehrveranstaltung mit Mircea Eliade⁸ (im Winter- und Frühjahrsquartal 1964 in Chicago) vermehrt gegen Ende seines Lebens mit den Möglichkeiten interreligiöser Begegnung und dem Dialog der Religionen beschäftigt.⁹ Tillichs vielzählige Gedanken dazu ermöglichen eine dezi-
Vgl. Tillich, P., Systematische Theologie I/II, Berlin; New York, 1958 sowie: Ders., Systematische Theologie III, Berlin; New York 1984 sowie: Ders., Das Christentum und die Begegnung der Weltreligionen, Stuttgart 1964. Im Folgenden werden die Systematische Theologie I, II und III sowie die frühe Systematische Theologie (1913) mit dem Kürzel ST I, II, III und ST (1913) abgekürzt. Tillich, P., The Significance of the History of Religions for the Systematic Theologian (1966), in Danz, C., Schüßler, W., Sturm, E. (Hrsg.): Paul Tillich. Ausgewählte Texte, Berlin; New York 2008, S. 455. Tillich, P., The encounter of religions and quasi-religions, in: Thomas, T. (Hrsg.), Toronto studies in theology Volume 37, Toronto 1990, S. 64. Vgl. Woudenberg, Aad S.L., Jesus Christus – notwendige Mittebestimmung? Paul Tillich und Hendrikus Berkhof über Sinn und Mitte der Geschichte, in: Haigis, P., Hummel, G., Lax, D. (Hrsg.): Christus Jesus – Mitte der Geschichte!? Beiträge des X. Internationalen Paul-Tillich-Symposiums (Tillich-Studien, Bd. 13), Frankfurt/Main 2004, S. 207. Vgl. Tillich, P., Das Christentum und die Begegnung der Weltreligionen, in: Albrecht, R., (Hrsg.), Die Frage nach dem Unbedingten (Gesammelte Werke von Paul Tillich, Bd. V), Stuttgart 1964, S. 51– 137: Der Dialog zwischen den Religionen ist für den späten Tillich wesentlich durch eine existenzielle Teilhabe gekennzeichnet, die für einen echten Austausch unerlässlich sei. Ziel sollte es sein, durch die persönliche Begegnung mit anderen Religionen eine existenzielle Wandlung zu durchlaufen. Diese Erfahrungen reflektiert Tillich sowohl religionsphilosophisch, als auch theologisch in seinem Werk Das Christentum und die Begegnung der Weltreligionen, welches als eine Vorlesungsreihe der sog. Bampton Lectures von 1963 erschien. 1964 erschien der Text dann im fünften Band der Gesammelten Werke von Paul Tillich mit dem Titel Die Frage nach dem Unbedingten und ist von R. Albrecht herausgegeben worden. Die Ergebnisse von Tillichs Gedanken zur interreligiösen Begegnung finden ebenso in seinem letzten Vortrag Raum und werden hier systematisch zugespitzt. Seine vorherige Lehrtätigkeit, ein Manuskript sowie ein Tonband liegen diesem Vortrag zugrunde. (Vgl. Informationen über die Entstehungsgeschichte des Vortrags
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dierte Einordnung in die aktuelle interreligiöse und religionstheologische Debattenlage. Um möglichst unmittelbar und pointiert an Tillichs Gedanken zur Thematik zu gelangen und diese für den interreligiösen Dialog fruchtbar machen zu können, ist es absolut sinnvoll, sich zunächst auf Tillichs spätere Ergebnisse zu stützen. Das Interesse, Tillich stärker im Kontext des Religionsdiskurses zu betrachten, wurde explizit erst 2010 mit der Veröffentlichung des fünften Bandes des Jahrbuchs für die Tillich-Forschung mit dem Titel Religionstheologie und interreligiöser Dialog ¹⁰ initiiert. Das Projekt, Tillichs kulturtheoretische Gedanken bezüglich der interreligiösen Fragestellung mit Herausgabe des Bandes Paul Tillichs Theologie der Kultur weiterzudenken, schließt sich vor dem Hintergrund des modernen Säkularisierungsprozesses logisch daran an. Denn Antworten auf die Frage nach einem Verhältnis von Religion(en), Religionsgeschichte und spezifisch christlicher Religion schließt für Tillich auch die Lösung des Konfliktes „Kultur vs. Religion“ mit ein. Tillichs Kulturtheorie widmeten sich auch bereits Monografien (z. B. Haigis¹¹). Doch warum nun die Betrachtung des Frühwerkes, wenn doch alles zum Thema schon gesagt ist und Tillich sogar selbst sein Nachdenken darüber einem abschließenden Ergebnis explizit zugeführt hat? Diese Arbeit behauptet: Man muss bei seinem Frühwerk deshalb ansetzen, weil der Prozess des sich Aufeinander-Beziehens bei Tillich werkchronologisch nachvollzogen werden muss und es nicht genügt, nur seine schon abgeschlosseneren Gedanken zur Frage nach dem Verhältnis des Christentums zu den anderen Religionen einzubeziehen. Denn was schon Tillichs eigenes Fazit ist, spiegelt lediglich in gestraffter Form wider, was seine Überlegungen dazu sind. Diese Straffung stellt aber auch eine Verkürzung dar. Es widerstrebt Tillichs eigener Denkfigur, Wahrheitserkenntnis als Resultat zu betrachten. Deshalb soll diese Arbeit bei den Ursprüngen und im Prozess ansetzen, um in die Tiefe von Tillichs Denken einzudringen, aus ihr seine Gedanken hervorzuholen und diese wieder neu zu denken. Es soll das „[…] Fragmentarische[…], Tastende[…], Ungesicherte[…]“ (s.o.), das auch noch in seinen letzten Gedanken zum Thema steckt und sich in seinem letzten Vortrag vor seinem Tod niederschlug, als Chance betrachtet werden, die verborgene Tiefe seiner früheren Gedanken heraufzuholen und damit seinem „Wunsch, den Ge-
in der kritischen Textausgabe in: Tillich, P., The Significance of the History of Religions (1966), S. 455). Danz, C., Schüßler, W., Sturm, E. (Hrsg.): Religionstheologie und interreligiöser Dialog (Internationales Jahrbuch für die Tillich Forschung Bd. 5), Berlin 2010. Haigis, P., Im Horizont der Zeit. Paul Tillichs Projekt einer Theologie der Kultur (Marburger Theologische Studien 47), Marburg 1998.
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danken eine abgeschlossene Form zu geben“ zwar immer noch nicht zu erfüllen, aber wenigstens dem strengsten Richtmaß Tillichs treu zu bleiben: Der Grenze.¹² Einer Grenze, die aber gleichzeitig den Blick auf neue Ufer gewährt. Eine fruchtbare Grenze, die nie statisch als ein Ort angegeben werden kann, an dem das Denken an ein Ende gelangt wäre. Die Metapher der Grenze wird für Tillich zur Charakterisierung seines Lebenswerkes genutzt. Gleichzeitig steht sie für den Charakter des Denkens selbst und lässt sich demnach auf die Möglichkeit von Wahrheitserkenntnis anwenden. Tillichs frühe Gedanken zum Thema heraufzuholen bedeutet in diesem Zusammenhang, das Denken zu entschleunigen, sich Tillichs eigener, sein gesamtes Denken durchwaltenden Grundstruktur der Korrelation zu bedienen, um eine frühere Phase samt ihrer Grenzen und Chancen als notwendige Voraussetzung zu betrachten, den späten Tillich zu verstehen und damit auch das Verhältnis zu den außerchristlichen Religionen noch einmal neu und anders akzentuiert zu denken. Diese Arbeit kann dafür nur den Anstoß bieten und ermöglicht es nicht, die interreligiöse Debatte oder den religionstheologischen Diskurs in aller Gänze zu skizzieren, um die Ergebnisse dieser Arbeit hierin dezidiert einordnen zu können. Deshalb soll am Ende lediglich ein knapper Ausblick stehen, bei dem ich auf umfassende Arbeiten von Danz, Bernhard, Schwöbel u. a. hinsichtlich der Darstellung der Grundzüge des aktuellen Religionsdiskurses sowie der interreligiösen Debatte verweise.¹³ Die wenigen Ansätze¹⁴, die in der Tillich-Forschung bisher im
GW, Bd. XII, S. 57. Vgl. Danz, C., Einführung in die Theologie der Religionen, Wien 2005; Danz, C., Die Deutung der Religion in der Kultur. Aufgaben und Probleme der Theologie im Zeitalter des Pluralismus, Neukirchen-Vluyn 2008; Danz, C., Hermanni, F. (Hrsg.),Wahrheitsansprüche der Weltreligionen – Konturen gegenwärtiger Religionstheologie,Wien; Bielefeld 2006; Bernhard, R. Ende des Dialogs? Die Begegnung der Religionen und ihre theologische Reflexion (Beiträge zu einer Theologie der Religionen 2), TVZ Zürich 2006 sowie das von Bernhard (u. a.) herausgegebene mehrteilige Reihenwerk Beiträge zu einer Theologie der Religionen, hier speziell Band 5 (Multiple religiöse Identität. Aus verschiedenen religiösen Traditionen schöpfen, Zürich 2008), Band 7 (Komparative Theologie. Interreligiöse Vergleiche als Weg der Religionstheologie, 2009), Band 9 (Gott in und über den Religionen. Auseinandersetzung mit der „pluralistischen Religionstheologie“ und das Problem des Synkretismus, hrsg. v. Sung Ryul Kim, 2010) sowie Band 11 (Interreligiöse Theologie. Chancen und Perspektiven, 2013). Weiterhin beschäftigt sich Schwöbel mit der Thematik: Schwöbel, C., Christlicher Glaube im Pluralismus. Studien zu einer Theologie der Kultur, Tübingen 2003. Empfehlenswert ist weiterhin das von Dehn herausgegebene Handbuch zur Thematik: Dehn, U. (Hrsg.), Handbuch Dialog der Religionen, Frankfurt, M, Lembeck 2008. Beispielsweise beschäftigt sich Jäger vertieft mit einzelnen Aspekten bzw. Strukturen von Glaube und religiöser Rede bei Tillich und im Shin-Buddhismus, die als Basis für eine interreligiöse Dialogizität genutzt werden können. Hierbei wird auch Tillichs Frühwerk beleuchtet: Jäger, S., Glaube und Religiöse Ree bei Tillich und im Shin-Buddhismus. Eine religionshermeneutische
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Hinblick auf eine Untersuchung von Tillichs Frühwerk¹⁵ im Kontext des Wahrheitsverhältnisses der christlichen Religion zu den außerchristlichen Religionen vorhanden sind, müssten noch viel stärker und in Form von Monografien ausgearbeitet werden, um das Anliegen dieser Arbeit ernst zu nehmen und Früheres als verborgene Tiefe der Wirklichkeit nach ihrem Nutzen für heute zu befragen. Diese Dissertation versucht nun eine Forschungslücke zu füllen und die Themen Wahrheitsverständnis, die religionsphilosophische Entfaltung der Religionsgeschichte inklusive der Beurteilung außerchristlicher Religionen (Religionstypologie) sowie die Darstellung der Idealreligion (Religion des Paradox‘) bzw. die Christologie Tillichs jeweils aus religionsphilosophischer und theologischer Perspektive zu beleuchten. Dabei sollen am Ende beide Ausgangspunkte der Betrachtung (Religionsphilosophie und Theologie) so miteinander in ein Verhältnis gebracht werden, dass sich eine komplexe und korrelative Beziehung darstellen lässt. Von dieser Beziehungsdarstellung sollte sich ein Gesamtkonzept der frühen Gedanken Tillichs (in den 20er Jahren) zum Thema Wahrheit und Wahrheitsverhältnis der christlichen Religion gegenüber außerchristlicher Religionen ableiten lassen. Die oben genannten Themenkomplexe (Wahrheit, das Verhältnis von Religionsphilosophie und Theologie, der Wahrheitsanspruch der christlichen Religion ausgehend von Tillichs Spätwerk, die Bedeutung der Religionsgeschichte usf.) sind im Einzelnen in der Vergangenheit bereits ausführlich erforscht worden.¹⁶ Diese Arbeit setzt nun durch die Betrachtung des Verhält-
Studie (Tillich Research. Tillich-Forschungen. Recherches sur Tillich, Vol. 2), Berlin; Boston 2011; Weiterhin beschäftigt sich Dienstbeck mit Tillich und der griechischen Philosophie / Religion: Dienstbeck, S., Kulturtheologie und hellenistische Philosophie. Zu ihrem Bezug in Paul Tillichs Berliner Vorlesung Der religiöse Gehalt und die religionsgeschichtliche Bedeutung der griechischen Philosophie im Wintersemester 1920/21, in: Danz C., Schüßler W. (Hrsg.), Paul Tillichs Theologie der Kultur. Aspekte – Probleme – Perspektiven (Tillich Research. Tillich-Studien. Recherches sur Tillich, Vol. 1), Berlin; Boston 2011, S. 251– 278. Beispielsweise ist über folgende Vorlesung Tillichs noch nicht monografisch publiziert worden: Tillich, P., Der religiöse Gehalt und die religionsgeschichtliche Bedeutung der griechischen Philosophie (Wintersemester 1920/21), in: Sturm, E. (Hrsg.), Berliner Vorlesungen II / Paul Tillich. (1920 – 1924) (Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, Bd. XIII), Stuttgart 2003, S. 1– 198. Tillichs Wahrheitsverständnis ausgehend von seinen Frühschriften ist beispielsweise u. a. von folgenden Autoren erforscht worden: Dienstbeck (Dienstbeck, S., Transzendentale Strukturtheorie. Stadien der Systembildung Paul Tillichs (Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, Bd. 132), Göttingen 2001), Lax (Lax, D., Rechtfertigung des Denkens. Grundzüge der Genese von Paul Tillichs Denken dargestellt und erläutert an vier frühen Schriften aus den Jahren 1911– 1913, Göttingen 2006),Weiß (Weiß, T., Religio vera? Zur religionsphilosophischen Lösung der Wahrheitsproblematik im deutschen Werk Paul Tillichs, Weimar 2000) u. a.; Das
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nisses von Religionsphilosophie und Theologie und der daraus resultierenden Haltung der christlichen zu den außerchristlichen Religionen sowie durch den Einbezug der Religionsphilosophie-Vorlesung einen neuen Fokus. Denn in dieser Untersuchung soll Tillichs Wahrheitsverständnis aus religionsphilosophischer und theologischer Sicht die Grundlage für eine Bewertung außerchristlicher Religionen bilden. Um beide Perspektiven am Ende so zusammenzuführen, dass ein Ertrag für die religionstheologische Debatte abgeleitet werden kann, sollen diese im Folgenden in Form von zwei Teilen abgehandelt werden. Religionsphilosophie und Theologie werden also nicht schon in ihrer Korrelation behandelt, sondern nacheinander untersucht und in einem anschließenden Ergebnis zusammengeführt. Diese neue Akzentrichtung ermöglicht es auch, neue Impulse für eine interreligiöse und religionstheologische Diskussion zu gewinnen. Hierfür lassen sich folgende Fragen an Tillich richten: Wie lässt sich Wahrheit ausgehend vom Verhältnis zwischen Gott und Menschen aus religionsphilosophischer und theologischer Sicht definieren? Oder anders: Über welche Wahrheit lässt sich religionsphilosophisch und theologisch überhaupt sprechen? Damit verbunden ist die Vergewisserung über den eigenen religiösen Standpunkt (Schritt eins in Teil II und III dieser Arbeit). Darauf folgt die Frage nach der Beurteilung der Wahrheit anderer, außerchristlicher Religionen aus beiden Sichtweisen (Schritt 2 in Teil II und III). Das bedeutet, es wird nachgespürt, wie Tillich aus religionsphilosophischer und theologischer Sicht jenen eigenen (christlichen) Wahrheitsanspruch mit konkurrierenden Wahrheitsansprüchen vereint. Dabei soll überprüft werden, ob Tillich von beiden Standpunkten aus auf dasselbe hinauskommt. Anschließend daran lässt sich fragen, ob sich einer der beiden Standpunkte Tillichs (der religionsphilosophische oder der theologische) eventuell besser für einen interreligiösen Dialog eignet. Um dem Verhältnis des Christentums zu den anderen Religionen nachspüren zu können, soll also die Tiefe der frühen Gedanken Tillichs wieder neu beleuchtet werden. Anhaltspunkt für ein Ziel dieses Bestrebens liefert aber der späte Tillich: Ihm ist mehr als alles andere daran gelegen, dass die Theologie die Fragen unserer Zeit aufgreift, den Menschen in seiner existentiellen Situation abholt und die Botschaft für uns heute in Krisenzeiten und nach Krisenerfahrungen wie den zwei Weltkriegen wieder und immer noch verständlich werden lässt. Dafür kann und darf sie sich aber nicht über den Fakt der Pluralität hinwegtäuschen oder sich isolieren. Bereits zu Beginn seiner Systematischen Theologie III leitet er dieses
Thema Religionstheologie und interreligiöser Dialog ist primär mit Blick auf Tillichs Spätwerk behandelt worden (Autorennennungen siehe Kapitel 2, Teil I).
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Anliegen ein und betont dort den „immer wichtiger werdende[n] Austausch zwischen den geschichtlichen Religionen“¹⁷, welcher einerseits aufgrund des wachsenden Säkularismus erforderlich, andererseits aber auch ein Resultat der modernen, multikulturellen Gesellschaft sei, in der es aufgrund der immer größer werdenden Mobilisierung und Technisierung zu einem Aneinanderrücken der religiösen Metropolen der Welt komme. Das Anliegen, sich als Theologe und Religionsphilosoph den Möglichkeiten einer interreligiösen Begegnung sowie dem Säkularismus widmen zu wollen, wird für Tillich folglich rückblickend als brennendste, aber nur fragmentarisch zu erreichende „Hoffnung“ bezeichnet.¹⁸ Tillich steht mit dem Anliegen, das Christentum als Religion im Religionsgefüge zu betrachten, in der Tradition einer Debatte um die Einführung der Religionsgeschichte als Teildisziplin in theologische Fakultäten. Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde dieses Thema in einer Kontroverse zwischen Adolf von Harnack (1851– 1930) und Martin Rade (1857– 1940) diskutiert. Daraus folgte, dass das Christentum¹⁹ erneut im Gefüge der Religionsgeschichte und somit als Religion unter den Religionen ins Augenmerk genommen wurde.²⁰ So lässt sich auch zu Tillichs Lebzeiten ein Aufleben des Intereses an der Religionsgeschichte verzeichnen. Zusätzlich kommt der Standortbestimmung des Christlichen im Kontext des modernen religionstheologischen Diskurses sowie der aktuellen Situation der christlichen Kirche(n) neben alternativen Religionen und Weltanschauungsmodellen besondere Brisanz zu. In unserem modernen Europa, in dem eine Vielfalt von Lebensentwürfen herrscht, die kulturellen Grenzen nicht mehr zu trennen Tillich, P., ST III, S. 16. Vgl. GW, Bd. XII, S. 57. wie schon in der Alten Kirche (zum Beispiel bei Augustinus von Hippo) oder dem Deutschen Idealismus (zum Beispiel bei Schelling und Hegel). Vgl. Jantsch, J. (Hrsg.), Der Briefwechsel zwischen Adolf von Harnack und Martin Rade. Theologie auf dem öffentlichen Markt, Berlin; New York 1996. Der Schülerkreis um Adolf von Harnack, dem u. a. auch Martin Rade zugehörte, war vor allem geprägt von der Anwendung der historisch-kritischen Methode innerhalb der Bibelexegese, der Verbindung von Geschichte und Dogma sowie dem Einfluss Ritschls: „Harnack – und ihm folgend Rade – übernahmen von Ritschl die Ablehnung von Metaphysik, Philosophie und Mystik als Grundlagen der Theologie sowie die Überzeugung, dadurch die protestantische Theologie auf das eigentliche reformatorische Anliegen Luthers zurückgeführt und ihren Platz in der Reihe der modernen Wissenschaften gesichert zu haben. Die Abwendung von aller ‚natürlichen Theologieʼ und allem spekulativen Denken als Grundlage der Theologie führte bei Harnack zur Ausgestaltung seines historischen Ansatzes […]. Auch Rade übernahm die Verbindung des dogmatischen Denkens mit der Geschichte. Die Bedeutung der „Geschichte des Christentums“ bzw. des Christentums als „geschichtliches Phänomen“ (S. 9), welches zu dem zentralen Programm Harnacks Theologie avancierte, findet auch in Tillichs Werk einen entscheidenden Einzug.
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sind und ein überwältigendes Spektrum an religiösen und kulturellen Identitätsangeboten existiert, wird es als zunehmend bedeutender empfunden, die eigene Identität im Kontext von Vielfalt zu definieren. Die aktuelle religionstheologische Debatte setzt sich diesbezüglich vor allem mit der Frage auseinander, ob sich ein christlicher Absolutheitsanspruch im Gefüge der geschichtlichen Weltreligionen und zahlreichen religiösen Strömungen halten lässt. Doch was wäre die Alternative? Eine christliche Theologie, die im Sinne eines Pluralismus²¹ jeglichen Anspruch auf Absolutheit verweigert und sich im Kontext der anderen Religionen lediglich als einer der vielen Wege zum Heil erweist? Genau dieser Spannung ist die christliche Theologie, die zudem noch den Herausforderungen zweier Weltkriege und den damit verbundenen Krisen, Umbrüchen und Neuordnungen gegenübersteht, ausgesetzt. Theologen wie Heinrich, Rahner, Troeltsch, K. Barth und Knitter – um nur wenige zu nennen – bemühten sich in der Vergangenheit um eine auf je unterschiedlichen Akzentuierungen basierende Positionierung des Christentums im Kontext der Religionsgeschichte. Dabei reichen die Schwerpunktsetzungen von der Vorstellung des Christentums als höchst entwickelte Religion (Troeltsch) über den Standpunkt eines religiösen Pluralismus (Knitter) bis hin zur Vorstellung von Religion als Unglaube (K. Barth). Es überwiegen die Aspekte, die dem Christentum aus theologischer Perspektive aufgrund seines besonderen Kriteriums, welches in Jesus als dem Christus begründet liegt, zumindest eine Vorrangstellung gegenüber anderen Religionen zusprechen. Kritisch anfragen ließe sich, ob andere Religionen, die nicht auf diesem Kriterium beruhen, von der Heilswirkung Gottes ausgeschlossen sind oder ob sie auch unabhängig von der Anerkennung Jesu als Christus die Möglichkeit Vgl. Knitter, P.-F., Nochmals die Absolutheitsfrage. Gründe für eine pluralistische Theologie der Religionen, in: Kuschel, K.-J. (Hrsg.): Christentum und nichtchristliche Religionen. Theologische Modelle im 20. Jahrhundert, Darmstadt 1994: Als die zwei bedeutendsten Vertreter des pluralistischen Ansatzes sind Paul F. Knitter und John Hick zu betrachten. Knitter möchte „Pluralismus hauptsächlich verstanden wissen als eine Anschauung, die nicht [fragt], ob Jesus der universale Erlöser ist, [sondern] […] vielmehr, ob er der einzige universale Erlöser ist.“ (S. 88). Er stellt in Frage, ob Jesus Christus als „Fenster […], durch das wir auf das Universum des göttlichen Mysteriums schauen können“ das einzige Fenster dieser Art sein muss. „Wenn man sagt, Jesus ist ganz Gott (totus Deus), so bedeutet das noch nicht, daß er das Ganze Gottes (totum Dei hervorbringt.“ (S. 92).Vgl. Grube, D.-M., Die christologische Relativierung absoluter Geltungsansprüche, Zu Paul Tillichs Auseinandersetzung mit den nicht-christlichen Religionen und der Unterscheidung zwischen Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus, in: Danz, C., Schüßler, W., Sturm, E. (Hrsg.): Religionstheologie und interreligiöser Dialog (Internationales Jahrbuch für die Tillich Forschung, Bd. 5), Berlin 2010, S. 120: Wobei Knitter scheinbar keine Unvereinbarkeit von christlicher Binnenperspektive und Pluralismus sieht, vertritt Hick die philosophische Sichtweise. „Für Hick ist es ein zentrales Anliegen, einen Heilsexklusivismus zu vermeiden, den er vor allem in der Inkarnationschristologie präsent sieht.“ (S. 120).
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zur Erlösung bereithalten. Setzt ein interreligiöser Dialog, der als Austausch zwischen den Religionen bei gleichzeitiger Anerkennung und Wertschätzung gedacht ist, zwangsläufig eine Haltung voraus, die jeglichem Anspruch auf Letztgültigkeit, einziger Wahrheit oder Absolutheit entsagen muss?²² Die aktuelle religionstheologische Debatte ist „besonders durch das Anliegen charakterisiert, einen Beitrag zu einer positiven Würdigung nicht-christlicher Religionen zu leisten.“²³ Doch wie ist solch eine Würdigung möglich, ohne die eigene standortgebundene und damit gläubige Perspektive aufzugeben? Wie kann einerseits vermieden werden, dass ein Exklusivismus in einen religiösen Pluralismus umschlägt, der jeglichen Wahrheitsanspruch aufgibt? Und wie kann andererseits der Anspruch erfüllt werden, diesen eigenen Wahrheitsanspruch ohne Vereinnahmung zu vertreten? Genau auf dieser Spannung beruhen die seit Beginn des 20. Jahrhunderts und während und nach dem Zweiten Weltkrieg präsenter denn je gewordenen Diskussionen in theologischen sowie philosophischen Kreisen. Hier äußert sich die Suche nach einer sinnvollen Antwort auf die Frage nach dem christlichen Selbstverständnis und der Rolle der Kirche in einer Welt, die durch Pluralität von Werten und Normen und damit verbundenen Unsicherheiten, oftmals sogar durch völlige Sinnentleerung, gekennzeichnet ist. Vordergründiges Interesse dieser Arbeit ist es folglich, herauszufinden, welche Ansätze und Impulse sich diesbezüglich aus Tillichs religionsphilosophischem und theologischem Frühwerk entnehmen lassen und wie Tillich diese Spannung bewältigt, eine positive Würdigung außerchristlicher Religionen trotz Wahrung der eigenen christlich-religiösen Identität zu vollziehen. Dabei wird davon ausgegangen, dass Tillich in besonderem Maße der Spagat zwischen dem Bewahren des eigenen und der gleichzeitigen Anerkennung und Würdigung des Fremden gelingt, sodass Öffnung gegenüber dem Anderen nicht mit Verlust der eigenen religiösen Identität einhergeht, Selbstbewahrung aber auch nicht in Fremdenhass und Diskriminierung mündet. Denn beide Extreme werden im Kontext dieser Untersuchung und in Tillichs Diktion als „Perversion“ gewertet. Aus obiger Erklärung ergeben sich die genauen Quellen, die dieser Untersuchung zugrunde liegen und aus welchen sich eine zu verfolgende Kernthese sowie weitere Thesen und Forschungsfragen entwickeln: Es soll sich ganz speziell dem Frühwerk Tillichs gewidmet werden, welches bisher noch nicht aus der oben
Indem beispielsweise davon ausgegangen wird, dass allen Religionen dieselbe Wahrheit zugrunde liegt, die sich lediglich auf unterschiedliche Arten manifestiert und offenbart. Danz, C., Erkundung des Eigenen im Lichte des Fremden. Paul Tillichs Beitrag zur religionstheologischen Debatte der Gegenwart, in: Danz, C., Schüßler, W., Sturm, E. (Hrsg.): Religionstheologie und interreligiöser Dialog (Internationales Jahrbuch für die Tillich Forschung Bd. 5), Berlin 2010, S. 83.
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dargestellten Perspektive analysiert worden ist. Dabei werden vor allem die im Jahre 2001 von Sturm posthum veröffentlichte Vorlesung über die Religionsphilosophie (1920)²⁴, der gleichnamige Systementwurf von 1925 sowie (als theologisches Pendant) die ebenfalls 1925 entstandene Dresdner Dogmatik-Vorlesung ²⁵ die drei Hauptquellen meiner Forschung darstellen. Ausgangspunkt jener neuen Blickrichtung bildet eine bei Tillich selbst schon korrelativ gedachte Grundfigur (die auch im Ergebnis dazu dienen soll, das getrennt Behandelte zusammenzuführen). Denn die eingangs zitierte Grenzmetapher lässt sich nicht nur auf Tillichs Werk im Gesamten, sondern auch auf die einzelnen Teile sowie seine methodische Arbeit und die zwei Perspektiven der Religionsphilosophie und Theologie anwenden: das Tillich auszeichnende sowohl (religions‐)philosophisch als auch theologisch geprägte Selbstverständnis. „‚Der ungewöhnliche Name für den Lehrstuhl, den ich vertrete, ist philosophische Theologie. Für mich paßt diese Bezeichnung besser als jede andere, da die Grenzlinie zwischen Philosophie und Theologie das Zentrum meines Denkens und Arbeitens ist’.“²⁶ Diese Grenzlinie und die Gratwanderung zwischen Tillichs philosophischen und theologischen Gedanken über die Frage nach dem Verhältnis christlicher Identität (und damit einhergehend des christlichen Wahrheitsanspruches) zu den außerchristlichen Religionen werden das Zentrum dieser Dissertation darstellen, führen zur Aufteilung der Arbeit in Teil II und III (Perspektive der Religionsphilosophie vs. Perspektive der Theologie) und zwingen zu einer abschließenden Verhältnisbetrachtung. Bezüglich dieses Verhältnisses behauptet die in dieser Arbeit zu verfolgende Kernthese, dass für Tillichs Religionsphilosophie²⁷, inklusive der in seiner Religionsphilosophie-Vorlesung entfalteten Religionstypologie, an deren Ende die religionsphilosophischen Erwägungen in das Konstrukt einer idealen Religion münden, immer schon sein christologisches Denken prägend ist, eine latente Theologie in seiner RP immer schon erkennbar ist und somit bereits seine frühen, religionsphilosophischen Schriften unter theologisch-christologischen Prämissen entwickelt worden sind. Das würde konkret bedeuten, dass die systematische Trennung in die beiden Teildisziplinen der Religionsphilosophie und Theologie für die Darstellung des gesamten (religionsgeschichtlichen) Prozesses des GottMensch-Verhältnisses lediglich eine formale Abgrenzung darstellen würde: Die
Tillich, P. Berliner Vorlesungen I (1919 – 1920) (Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, Bd. XII), Berlin; New York 2001. Tillich, P., Dogmatik-Vorlesung (Dresden 1925 – 1927) (Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, Bd. XIV), Berlin; New York 2005. Tillich, P., Auf der Grenze, S. 2. Gemeint sind die RP-Vorlesung (1920) und die RP von 1925.
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Religionsphilosophie würde sich demnach nicht nur in der Kategorienlehre und geschichtsphilosophischen Einordnung und Entfaltung des Religiösen erschöpfen, während erst dem Theologie als deren Fortsetzung die Aufgabe zukäme, vom spezifisch christlichen Kriterium Zeugnis abzulegen. Die Grundannahme dieser Untersuchung behauptet, dass sich diese Trennung beider Disziplinen bei Tillich inhaltlich nicht begründen lässt: Religionsphilosophie und Theologie sprechen nicht von zwei verschiedenen Wahrheiten und Wirklichkeiten, sondern rekurrieren auf ein und dieselbe Sache. Der in der Religionsphilosophie zu entwickelnde Formbegriff der Religion, der, so Tillich, innerhalb des geschichtlichen Prozesses auf einen Normbegriff (ein Ideal) von Religion zuläuft, trägt bereits „unter der Hand“²⁸ alle Merkmale des Normbegriffs in sich, als der er sich a posteriori, also nach der Analyse der Verwirklichung des Formbegriffs in der Geschichte, erweist. Die Kernthese unterstellt also erstens: Trotz der wechselseitigen Verzahnung von Theologie und Philosophie bzw. Religionsphilosophie lässt sich eine Dominanz der christozentrischen Prägung und der Voraussetzung göttlichen Wirkens in der Geschichte im Tillichschen Gedankengut vermuten, welche explizit erst innerhalb der Dogmatik bzw. Theologie entfaltet wird. Um diese Kernthese überprüfen zu können, müssen nach der Untersuchung abschließend Überlegungen angestellt werden, wie Tillichs theologische an die religionsphilosophische Arbeit anschließt und wie das Verhältnis von Religionsphilosophie und Theologie bestimmt werden kann (Teil III, Kapitel 3). Weiterhin ergeben sich aus der Kernthese weitere Thesen und kritische Anfragen an Tillich: So lässt sich zweitens in Bezug auf die erste Annahme in Tillichs Gesamtwerk eine methodische wie inhaltliche Stringenz²⁹ vermuten. Dadurch wird vorausgesetzt, dass der Einbezug der oben genannten Quellen im Hinblick auf Tillichs Gesamtwerk keine prinzipientheoretische Neustrukturierung bedeutet, wohl aber andere Akzente dadurch gesetzt und neue Blickrichtungen eröffnet werden. Es wird folglich angenommen, dass Tillichs Grundhaltung bezüglich der Wahrheit des Menschen im Gottesverhältnis und der daraus resultierende Beurteilung außerchristlicher Religionen bestehen bleibt. Die Behauptung einer werkimmanenten Stringenz der Gedanken Tillichs ist in der Tillich-Forschung nicht neu. Allerdings wird zu erwägen sein, ob sie sich auch in Anbetracht der noch unerforschten RP-Vorlesung (1920) halten lässt. Über
Vgl. EN, Bd. XII, S. 358. Wenn ich im Folgenden von einer werkimmanenten Stringenz von Tillichs Gesamtwerk spreche, so meine ich damit, dass Tillichs Gedanken über eine aufeinander aufbauende und sich ergänzende innere Logik verfügen. Stringent wäre dann z. B. der sich in unterschiedlichen Texten ausbildende Gedankenzusammenhang als solcher. Es würde demnach im Hinblick auf sein Gesamtwerk keine Widersprüchlichkeit herrschen.
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die fünf Jahre später verfasste RP (1925)³⁰, die – ebenso wie das System der Wissenschaft nach Gegenständen und Methoden ³¹ (1923) – in Ansätzen und Vorstufen bereits 1920 grundgelegt worden war, behauptet Tillich zum Beispiel in seinem im Jahre 1959 entworfenen Vorwort zum ersten Band der Gesammelten Werke, dass sie „Gedanken [enthalte], die [er] nie verneint, wohl aber in vielen Richtungen weiterentwickelt habe“³². Fraglich bleibt jedoch bisher noch, ob eine solche Aussage auch auf seine RP-Vorlesung zutrifft. Deren primäre Analyse soll also – unter ständig vergleichendem Rückgriff auf den Systementwurf (1925) sowie das System der Wissenschaften – ein erweitertes Gesamtbild der frühen Tillichschen Religionsphilosophie ergeben. Nicht zuletzt soll durch einen Vergleich von Tillichs religionsphilosophischem (RP-Vorlesung von 1920 und RP von 1925) mit seinem theologischen Frühwerk (Dresdner Dogmatik-Vorlesung) erforscht werden, ob sich sein gesamtes Frühwerk stringent (unabhängig davon, ob dies auf religionsphilosophischer oder theologischer Basis geschieht) gegenüber den außerchristlichen Religionen und dem Selbstverständnis des Christentums verhält. Es wird davon ausgegangen, dass die von Tillich im Sommersemester 1920 an der Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin gehaltene Vorlesung über die Religionsphilosophie eine Schlüsselfunktion für das Verhältnis des Christentums zu den außerchristlichen Religionen einnimmt und folglich eine geeignete Basis für die Begründung meiner Arbeitshypothese sowie die Beantwortung meiner Forschungsfrage darstellt. Die Vermutung, dass Tillich (auch auf religionsphilosophischer Ebene) stets aus der Perspektive eines Theologen argumentiert, hat wiederum Auswirkungen auf die Beurteilung der nicht-christlichen Religionen, da ihm damit unterstellt wird, keinen neutralen (außerchristlichen) Standpunkt diesen gegenüber zu vertreten. Die Anwendung dieser Sichtweise auf die Beurteilung außerchristlicher Religionen knüpft an die Ergebnisse von Danz an, welcher dem späten Tillich eine „inklusivistische Haltung“³³ im Religionsdiskurs unterstellt, was bedeuten würde, dass Tillich mit seinem Anliegen, mit fremden Kulturen in einen „schöpferischen Dialog“ treten zu wollen, eine Fremdwahrnehmung aus eigener Perspektive
Tillich, P., Religionsphilosophie (1925) (Gesammelte Werke Bd. 1, 1. Auflage), Stuttgart 1959, S. 296 – 365. Tillich, P., Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden (Gesammelte Werke, Bd. 1, 1. Auflage), Stuttgart 1959, S. 109 – 294; Im Folgenden wird das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden mit System der Wissenschaften abgekürzt werden. GW, Bd. I, Vorwort. Vgl. Danz, C., Einführung in die Theologie der Religionen (Lehr- und Studienbücher zur Theologie, Bd. 1), Wien 2005, S. 62 f.
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vollzieht und sich damit des eigenen religiösen Standpunkts trotz Begegnung mit und Aussetzung des Fremden nicht entledigt. Zu fragen wäre folglich drittens, ob auch der frühe Tillich mit seinen religionsphilosophischen und theologischen Überlegungen so gelesen werden kann, dass der eigene theologische Standpunkt in der Beurteilung anderer Religionen nicht aufgegeben werden darf und ob das für seine Religionsphilosophie und Theologie in gleichem Maße gilt. So scheint Tillich doch im Hinblick auf diese Herausforderung einen Weg gefunden zu haben, der es ermöglicht, das interreligiöse Verstehen so weit auszudehnen, bis am Ende eine Grenze auftaucht, die nicht mehr als eine Barriere erscheint, sondern als eine positive Rückbesinnung auf das identitätsstiftende Eigene. Es ist eine Grenze, die von Tillich als „‚[…] eigentlich fruchtbare[r] Ort der Erkenntnis’“³⁴ beschrieben wird und die eine Begegnung des Eigenen im Licht des Fremden ermöglicht. Sie dient zwar der Selbstbewahrung und verhindert dadurch den eigenen Identitätsverlust, schränkt aber keinesfalls den Prozess des Verstehens und Einfühlens in ein fremdes Selbstkonzept ein. Aus der religionsphilosophischen Entfaltung des christlichen Wahrheitsverständnisses im Verhältnis zu den nicht-christlichen Religionen und der Behauptung, Tillichs Religionsphilosophie ermögliche keine neutrale Haltung anderen Religionen gegenüber, ergibt sich eine vierte kritische Anfrage an Tillich: Kann nicht gerade nur eine „neutrale“ und außerchristlich konzipierte Religionsphilosophie ob ihrer Unbeteiligtheit und Unvoreingenommenheit eine geeignete Plattform für die geforderte Offenheit im Religionsdiskurs unter den verschiedenen Religionsgemeinschaften gewährleisten? Und wäre eine so konzipierte Religionsphilosophie nicht besser als Basis für interreligiöse Debatten geeignet als die theologische (oder implizit theologische) Haltung? Man könnte Tillich folglich – wenn diese Behauptung zuträfe – vorwerfen, dass die Art der Beurteilung anderer Religionen aus christlicher Perspektive innerhalb einer interreligiösen Begegnung demnach schon vorentschieden wäre: Das Fremde kann nur am eigenen gemessen werden, wenn der eigene Wahrheitsanspruch nicht völlig fallen gelassen werden soll. Es stellt sich also die Frage, ob Tillich – falls sich diese Vermutung für ihn bestätigen lässt – überhaupt ein wichtiger Impulsgeber für die religionstheologische Debatte sein kann. Punkt zwei bis vier thematisieren folglich Überlegungen zu den Konsequenzen, die sich aus der von mir behaupteten reziproken Verzahnung von Religionsphilosophie und Theologie (Kernthese) für die Lösung der Wahrheitsfrage und dem Verhältnis des christlichen Wahrheitsanspruchs zu alternativen Lebensentwürfen und -konzepten ableiten lassen.
Tillich, P., Paul Tillich. Auf der Grenze, S. 13.
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Schließlich muss fünftens Tillichs Theologie (und – falls erste Behauptung zutrifft – auch seine Religionsphilosophie als impliziter Theologie) als Grundpfeiler der Selbstvergewisserung der eigenen religiösen Überzeugung daraufhin befragt werden, was sie dem einzelnen Christen in seiner religiösen Selbstreflexion bringen kann, um sich im Kontext der Religionen als Christ*in ausweisen zu können und dabei nicht an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Kurz: Welchen Nutzen haben Tillichs religionsphilosophische und theologische Überlegungen für den Christen in der modernen Welt, der sich mit Anhängern anderer Religionen in einen Diskurs begeben möchte? Ausgehend von den fünf dargestellten Thesen und Forschungsfragen ergibt sich ein Aufbau dieser Untersuchung, der das Ziel verfolgt, diese in Teil IV zu prüfen und zu beantworten. Im folgenden Kapitel (Teil I, Kapitel 2), soll die hier dargestellte Thematik noch etwas genauer innerhalb der aktuellen Forschungslandschaft verortet werden. Hierzu sollen einerseits die wissenschaftlichen Untersuchungen der bisherigen Tillich-Rezeption in Betracht gezogen werden, die sich in den vergangenen Jahren dem Thema Wahrheit und Wahrheitsanspruch des Christentums im Verhältnis zu anderen Religionen bei Tillich gewidmet haben. In Teil II dieser Arbeit wird die Begründung des christlichen Wahrheitsanspruches aus religionsphilosophischer Perspektive im Verhältnis zu den außerchristlichen Religionen dargestellt. Diese Darstellung zielt auf die Prüfung der Kernthese, Tillichs Religionsphilosophie sei eine implizite Darstellung der theologischen Zentralinhalte aus dem Absoluten. Es sollen in diesem Hauptteil zunächst Tillichs frühe (religions‐)philosophische Schriften – speziell die Vorlesung über die RP (1920), die RP (1925) und des Systems der Wissenschaften (1923) in wesentlichen Aspekten gegenübergestellt und so in ihrer werkgeschichtlichen Entwicklung nachvollzogen werden. Diese Vorgehensweise ist sinnvoll, da die RPVorlesung bereits besagte Ansätze und Vorstufen der fünf Jahre später erschienenen RP und des Systems der Wissenschaften enthält, weshalb sowohl Ähnlichkeiten als auch Unterschiede ausgemacht werden können. Im Zentrum von Tillichs RP von 1920 steht die von ihm entwickelte Religionstypologie, die die verschiedenen empirischen Religionen in ein Verhältnis setzt. Die beiden Hauptkapitel von Teil II umfassen eine apriorische Deduktion (Kapitel 1) und geschichtsphilosophische Entfaltung des Wahrheitsbegriffs (Kapitel 2). Das erste Kapitel zielt darauf, der Konzeption der Tillichschen Religionsphilosophie (Kontext und Bedeutung sowie Konzeption und Wesen) nachzuspüren, um herauszufinden, wie überhaupt das menschliche Wahrheitsverhältnis ausgehend von ihr gedacht werden kann, welches dann als Voraussetzung für ein Verständnis von Tillichs Beurteilung außerchristlicher Religionen in der geschichtsphilosophischen Typenlehre (Kapitel 2) dient. Hierfür sollen in Kapitel 1 u. a. philosophische Voraussetzungen geklärt werden, die Tillichs Religionsphilosophie zugrunde
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liegen. Zwei komplexe philosophische Debattenlagen bilden dabei den Hintergrund für Tillichs Denken: Prägend für die Entstehung der Vorlesung wirkt sich zunächst die sog. Geltungs- bzw. Wertphilosophie aus (Kapitel 1.2.3). Den zweiten philosophischen Hintergrund, welcher nun vor allem für den Systementwurf entscheidend ist, bildet die sog. Sinntheorie (Kapitel 1.2.4). Die Entschlüsselung dieser Theorien ist erneut für die Kernthese relevant und dafür, am Ende dieser Dissertation aus der Verzahnung von Religionsphilosophie und Theologie einen Ertrag für die Profilierung christlicher Wahrheit abzuleiten und diesen zu beurteilen. Da die Religionsphilosophie prinzipientheoretisch konzipiert ist und damit auch ihre Fähigkeit, Wahrheit zu generieren, von einem Prinzip abhängt, werden in Kapitel 1.2.5 und 1.2.6 die Konstituenten (Denken und Sein bzw. Form und Gehalt) dieses Wahrheitsprinzips erörtert: Zunächst als Konstituenten von Wissen³⁵ (Was zu einer Verortung der RP im Wissenschaftsgefüge führt) und schließlich als Konstituenten von Wahrheit. Beide sind korrelativ miteinander verzahnt. Ausgehend von diesem prinzipientheoretischen Hintergrund kann die Methodenreflexion Tillichs (Kapitel 1.3) besser erschlossen werden. Ihre Darstellung zielt darauf, eine eigene Methode zu begründen, welche sich als Basis für die Genese eines Religionsbegriffs eignet, der das Wahrheitsverhältnis von Gott und Mensch adäquat(er) zum Ausdruck bringt. Dieser Religionsbegriff soll zudem dargestellt werden (Kapitel 1.3.2). Dies geschieht sowohl mittels einer Methodenkritik (Kapitel 1.3.1) als auch in Form einer Kontextanalyse, die das Spezifische des Phänomens „Religion“ im Vergleich zu anderen Geistesfunktionen (praktischen und theoretischen Funktionen) zu ermitteln sucht. Die drei Hauptquellen (RP-Vorlesung (1920), RP von 1925 und System der Wissenschaften (1925)) werden in diesem Kapitel stets im Vergleich betrachtet. Indem der Wahrheitsbegriff geschichtsphilosophisch entfaltet wird (Kapitel 2), kann ein Bezug zu anderen religiösen Formen hergestellt und illustriert werden, wie sich der eigene Religionsbegriff „[…] gegenüber der Mannichfaltigkeit [sic!] der empirischen Religionsformen“³⁶ bewährt. Dies geschieht in Form einer geschichtsphilosophischen Typenlehre der Religionen mit gleichzeitiger Verortung des genuin Christlichen, welches in der sog. Religion des Paradox‘ in idealer Weise dargestellt wird (Kapitel 2). Diese Idealvorstellung von Religion wird dann als Ergebnis der metaphysischen Typenlehre und geschichtsphilosophischen Entfaltung des Unbedingtheitserlebnisses in Kapitel 2.6 erörtert. Zunächst sollen als Voraussetzung hierfür in Kapitel 2.1. das der Architektonik der Religionsty-
GW, Bd. I, S. 118: Denken und Sein werden von Tillich auch als „Urelemente des Wissens“ bezeichnet. EN, Bd. XII, S. 440.
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pologie zugrundeliegende Einteilungsprinzip beleuchtet werden sowie der ideale Ausgangspunkt der Typologie in der sog. „Primitiven Kulturreligion“ und ihr Übergang zur „autonomen Kulturreligion“ erörtert werden (Kapitel 2.2).³⁷ Im Vordergrund stehen Tillichs Einteilungsprinzip im Verhältnis zu anderen religionstypologischen Modellen sowie eine Charakterisierung der in der Typologie enthaltenen Religionstypen.³⁸ Diese erkenntnistheoretischen Erörterungen sind wiederum wichtig, um die These der Stringenz zu prüfen und nachzuvollziehen, ob die Ergebnisse aus Kapitel 1 (mit dem Ziel der Gewinnung eines Religionsbegriffs) sich hier nahtlos anschließen. Weiterhin sollte sich am Ende von Kapitel 2 ein Verständnis der Genese von Tillichs idealer Religionsvorstellung inklusive des diesem vorangehenden problemgeschichtlichen Hintergrundes erschließen (Kapitel 2.6). Die Darstellung der in der Religionstypologie enthaltenen Religionsformen auf der ethisch-sozialen Linie (Kapitel 2.3) und auf der mystischen Kultlinie (Kapitel 2.4) inklusive der Beschreibung der senkrechten Mittellinie (Kultus) als der den beiden Extrempunkten inhärenten Linie und der Mönchs-Sekten-Linie als waagerechter Verbindung dieser Extrempunkte erfolgt in den jeweiligen Unterkapiteln von Kapitel 2.3 und 2.4 sowie in Kapitel 2.5 (Die innere Unausgeglichenheit des Mönchstums). Der zweite Teil schließt mit einer Bestandsaufnahme (Kapitel 3), die primär darauf zielt, die komplexen Zusammenhänge der vorangehenden Kapitel knapp zusammenzufassen. In Teil III dieser Arbeit wird die religionsphilosophische Ebene verlassen und sich Tillichs Theologie (inkl. Christologie) zugewandt. Diese wird dabei als explizite Realisierung der religionsphilosophischen Zentralinhalte im Konkreten gelesen. Entsprechend der Behauptung der Kernthese (s.o.) wird vermutet, dass das zuvor auf religionsphilosophischer Ebene implizit Dargestellte nun explizit den Hintergrund des dogmatischen Konzepts bildet. Zu prüfen ist ferner, ob der auf religionsphilosophischer Basis entwickelte Normbegriff bereits die erst in der Theologie konkret begründeten christologischen Inhalte verkörpert, die dort konsequent in Form einer theologischen Sinn- und Geschichtsdeutung durchgeführt werden. Das würde bedeuten, dass die Religionsphilosophie formal lediglich das philosophische „Werkzeug“ liefert, um die Inhalte der Theologie noch adäquater zu explizieren und in einen größeren Kontext einzuordnen, inhaltlich jedoch von derselben Sache³⁹ wie die Theologie zeugt. Um das Ergebnis dieser Vermutungen in Teil IV unter weiteren Ergebnissen darstellen zu können, widmet sich Kapitel 3 des dritten Teils explizit dem Ver-
EN, Bd. XII, S. 453. Diese Tillichsche Typologie wurde bisher in der Forschung noch nicht genauer analysiert. Dem christlichen „Kriterium“.
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hältnis von Religionsphilosophie und Theologie und ihrer Verzahnung. Alle weiteren Ergebnisse, die zur Prüfung der übrigen Thesen ins Fazit eingehen sollen, ergeben sich aus anderen Kapiteln der Arbeit oder werden bereits in Kapitel 2.4 (Beurteilung der nicht-christlichen Religionen vom Standpunkt der vollkommenen Offenbarung und 2.5 (Christus als Realisierungsort der vollkommenen Offenbarung) erörtert. Die folgenden Kapitel wollen dem Vollkommenheitsanspruch der Christusoffenbarung erkenntnistheoretisch nachgehen, indem zunächst – analog zur Religionsphilosophie – die Möglichkeit von Wahrheitserkenntnis umrissen wird. Hierfür werden einführend Thema und Aufbau der Dresdner Dogmatik-Vorlesung beleuchtet (Kapitel 2.1). Im Anschluss wird der Frage nachgegangen, wie sich Wahrheit vom konkreten Standpunkt der Offenbarung aus erfüllen kann (Kapitel 2.2). Diesbezüglich wird zunächst der Angriffscharakter der Dogmatik als konkretes Ergriffensein (Kapitel 2.2.1) erläutert um anschließend der Bedeutung des Getragen-Seins des Menschen vom Unbedingten als Grundlage der Offenbarungsgewissheit nachzuspüren (Kapitel 2.2.2). Kapitel 2.2.3 erörtert die Wahrheit der Wirklichkeit Gottes ob seiner „nur“ symbolischen Erschließbarkeit.⁴⁰ Kapitel 2.3 bereitet die Beurteilung der außerchristlichen Religionen (Heidentum, Judentum, Griechentum) vom Standpunkt der vollkommenen Offenbarung aus (Kapitel 2.4) vor. Dies geschieht, indem sich Kapitel 2.3.1 bis 2.3.3 dem Wesen und der Wahrheit des Offenbarungsverhältnisses widmen sowie erörtert wird, was für Tillich das sog. Wesen des Christentums ausmacht und wie dieses mit anderen Religionen in ein Verhältnis gebracht werden kann (Kapitel 2.3.3.2). Es wird dabei vorausgesetzt, dass auch die offenbarungstheologischen Äußerungen Tillichs inklusive der Interpretation des Heilsereignisses (Jesus in seiner Erscheinung als Christus) als „letztgültige“ Offenbarung als Profilierung der eigenen christlich-religiösen Identität für die Beurteilung anderer Religionen fruchtbar gemacht werden kann, obwohl dadurch unterstellt wird, dass dem zentralen Inhalt der christlichen Religion eine Vorrangstellung gegenüber anderen Religionen eingeräumt wird. Zu prüfen wird sein – falls sich dies bestätigen lässt –, ob sich Tillichs Religionsphilosophie und Theologie diesbezüglich unterscheiden. Eine zweite Bestandsaufnahme soll abschließend das Verhältnis von Religionsphilosophie und Theologie erörtern und in Tillichs werkhistorischer Genese darstellen (Teil III, Kapitel 3). Hierauf wird ein großer abschließender Schwerpunkt gelegt, da sich durch diese Darstellung und Entwicklung von Tillichs Ge-
Dies ist sinnvoll, um im Schlusskapitel (Teil IV) die oben aufgeworfene Forschungsfrage nach der Bedeutung der Tillichschen Theologie (und Religionsphilosophie) für die Wahrheitsfrage und dem Verhältnis zu den außerchristlichen Religionen beantworten zu können.
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danken aufzeigen lässt, wie sich das Verhältnis von Religionsphilosophie und Theologie für die Schriften in den 20er Jahren bestimmen lässt. Dies ist für die Prüfung der oben aufgestellten Kernthese von Belang. Nur wenn diese Basis präzise geklärt ist, lassen sich davon ausgehend auch alle anderen Thesen und Forschungsfragen beantworten. Dies wiederum soll in einem letzten Teil (Teil IV, s.o.) geschehen. Dort werden alle in dieser Einleitung aufgeworfenen Thesen und Forschungsanliegen einer abschließenden Prüfung und Begründung unterzogen sowie kritisch beleuchtet. Der Ertrag dieser Arbeit für den möglichen Nutzen im religionstheologischen und interreligiösen Diskurs der Moderne wird ob der Grenzen des Raumes dieser Untersuchung als knapper Ausblick skizziert und versteht sich eher als ein Impuls, an den nachfolgende Arbeiten anschließen können.
2 Verortung des Themas in der aktuellen Forschungslandschaft In der Forschung wurde bisher vor allem Tillichs Spätwerk bezüglich der interreligiösen Fragestellung analysiert, da dieses sich explizit diesem Thema widmet.¹ So lautet es in der Einleitung von Tillichs Systematischer Theologie III: „Eine christliche Theologie, die nicht imstande ist mit den anderen Religionen in einen schöpferischen Dialog einzutreten, [verpasst] ihre weltgeschichtliche Chance […] [und] bleibt provinziell“². Vor allem im Zuge seiner Japanreise im Jahre 1960 setzt sich Tillich in Form von zahlreichen Gesprächen mit Vertretern fernöstlicher Religionen³ mit der Begegnung der Weltreligionen auseinander und verarbeitet diese Erfahrungen primär während seiner Lehrtätigkeit in Chicago in seinen Bampton Lectures. In dem Werk Das Christentum und die Begegnung der Weltreligionen sind diese Vorträge zusammengefasst. Einschlägige Publikationen nehmen darauf Bezug⁴: So wurde zum Beispiel von Danz, Schüßler und Sturm in Verbindung mit der Deutschen Paul-Tillich-Gesellschaft der eingangs erwähnte Band mit dem Titel Religionstheologie und interreligiöser Dialog ⁵ herausgegeben, der ein Kompendium von Tillichs Gedanken und Impulse zum Umgang mit der Vielheit religiöser Ausdrucksformen in der modernen Gesellschaft darstellt. Ein Querschnitt der darin enthaltenen Aufsätze zeigt, dass sich das Interesse der Publizisten vor allem um Tillichs christologischen, pneumatheologischen (bzw. ekklesiologischen) und kulturtheologischen Vgl. Literaturhinweise in Fußnote Nr. 9. ST III, S. 17. So zum Beispiel in einem Dialog mit Hisamatsu Shin’ichi, welcher in The encounter of religions and quasi-religions erschienen ist (Vgl. Fußnote 7: Tillich, P., The encounter of religions and quasireligions (1990)). In diesem Werk sind auch die sog. Matchette Lectures abgedruckt, in denen sich Tillich mit dem Protestantischen Prinzip, der Bedeutung der Religion und ihrer inneren Dynamik, als auch mit christlicher sowie nicht-christlicher Offenbarung beschäftigte (Vgl. Tillich, P., The encounter of religions and quasi-religions, Inhaltsverzeichnis). Die Forschungslandschaft ist bisweilen unüberschaubar geworden, sodass im Folgenden lediglich einige Monografien erwähnt werden sollen, die nach dem Jahr 2000 publiziert wurden und eine ähnliche Fragestellung wie diese Arbeit verfolgen. Weitere Beiträge rund um das Thema interreligiöser Dialog bearbeiten u. a. B. Dieckmann in seinem Aufsatz „Kampf oder Zusammenarbeit? Religionsgeschichte und Absolutheit des Christentums bei Marburger Theologen“, J. Eickhoff in seinem Beitrag „Religiöse Identität im pluralistischen Religionsdiskurs der ‚Postmoderne‘. Anmerkungen zur Religionstheologie Paul Tillichs“ sowie Schüßler in seinen beiden Zeitschriftenaufsätzen „Das Kopernikanische Prinzip und die Theologie der Religionen. und „Im ‚Rhythmus von Kritik, Gegenkritik und Selbstkritik‘“. Vgl. Fußnote Nr. 11. https://doi.org/10.1515/9783110671759-003
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2 Verortung des Themas in der aktuellen Forschungslandschaft
Beitrag zur Lösung der Wahrheitsproblematik dreht. Es wird deutlich, dass Tillich sich vor allem gegen Ende seines Lebens intensiv mit der Begegnung der Weltreligionen und im Besonderen mit fernöstlichen Religionen wie dem Zen-Buddhismus oder Shintoismus auseinandergesetzt hat, um mit ihnen in einen „schöpferischen Dialog“ zu treten. Pan-chui Lai deutet in Dirk Siedlers Paul Tillichs Beiträge zu einer Theologie der Religionen die Öffnung gegenüber nichtchristlichen Religionen und einer „[…] Sensibilisierung gegenüber der interreligiösen Fragestellung […]“⁶ sogar als einen „Sinneswandel“ ⁷ in Tillichs Denken. Auch zu Tillichs frühen Texten gibt es bereits vielzählige Publikationen, die beispielsweise Tillichs frühe Christologie oder seine frühe Symboltheorie beleuchten.⁸ Im Gegensatz dazu nimmt sich diese Arbeit zum Ziel, Tillichs frühe Gedanken zur religionsphilosophischen Wahrheitsfrage in den Fokus zu stellen und auf deren Bedeutung für seine frühen Überlegungen zum Stellenwert des Christentums im Religionsgefüge zu befragen. Als Quellengrundlage werden hierfür besonders die noch weitgehend unerforschte RP-Vorlesung von 1920 und die RP von 1925 in den Blick genommen. Das Novum dieser Arbeit besteht folglich darin, den christlichen Wahrheitsanspruch vom religionsphilosophischen und theologischen Standpunkt aus in Bezug zu außerchristlichen Religionen zu setzen. Entgegen Pan-chui Lai schließe ich mich der Meinung an, dass sich in Tillichs Denken kein „Sinneswandel“ vollzogen hat, sondern die Wahrheitsfrage von ihm vielmehr aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet wird und dass es für Tillich immer schon von großer Relevanz war, das Christentum innerhalb der bestehenden Religionsgemeinschaften zu verorten und dessen Wesen zu beschreiben. Aus keinem anderen Grund beschäftigt sich schon der junge Privatdozent Tillich in seinen Berliner Vorlesungen zunächst mit der Religionsphilosophie (1920) und schließlich auch mit dem Thema Der religiöse Gehalt und die religionsgeschichtliche Bedeutung der griechischen Philosophie (1920/21). Tillichs Vorlesung über die Religionsphilosophie von 1920 wurde bereits in dem von Danz und Schüßler 2008 herausgegebenen 20. Band der Tillich-Studien mit dem Titel Religion – Kultur –Gesellschaft von vier Autoren unter verschiedenen
Siedler, D.-C., Paul Tillichs Beiträge zu einer Theologie der Religionen, S. 83. Ebd. Vgl. Neugebauer, G., Tillichs frühe Christologie. Eine Untersuchung zu Offenbarung und Geschichte bei Tillich vor dem Hintergrund seiner Schellingrezeption (Theologische Bibliothek Töpelmann, Bd. 141), Berlin; New York 2007 sowie Heinemann, L. C., Sinn – Geist – Symbol: Eine systematisch-genetische Rekonstruktion der frühen Symboltheorie Paul Tillichs, Berlin;Boston 2017.
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Aspekten beleuchtet⁹. Als neue Perspektive möchte diese Arbeit die Vorlesung Tillichs mit seinem späteren Systementwurf, seiner im Jahre 1925 verfassten Religionsphilosophie, vergleichen und den Zusammenhang mit der Theologie aufzeigen. Dies soll unter der Perspektive des Verhältnisses des christlichen Wahrheitsanspruchs zu außerchristlichen Religionen geschehen. In vier einschlägigen Monografien ist die Wahrheitsfrage ausgehend von Tillichs Frühwerk bereits behandelt worden: Schüßler setzt sich im Jahr 1989 in seinem Werk Jenseits von Religion und Nicht-Religion ¹⁰ mit dem Religionsbegriff im Werk Paul Tillichs auseinander. Dabei analysiert er Tillichs Verständnis von Religion sowohl im Kontrast zur Nicht-Religion (also zur Kultur) als auch in seiner Beziehung zu anderen Religionen. Hierfür zieht Schüßler auf religionsphilosophischer Ebene konkrete Typen von Religionen in Betracht und verortet das Christentum in diesem System. Diese Methodik steht der hier geplanten Untersuchung sehr nah mit dem Unterschied, dass Schüßler sich noch nicht auf die erst im Jahre 2001 herausgegebene RP-Vorlesung von 1920 (und die dort aufgestellte Religionstypologie) beziehen konnte. Siedler beschäftigt sich ein Jahrzehnt später, im Jahr 1999, ausführlich mit der Thematik in Bezug auf Tillichs Gesamtwerk. Dabei bildet „[…] die Frage nach den theologischen Voraussetzungen und der theologischen Begründung eines interreligiösen Dialogs, d. h. eines Dialoges des Christentums mit nichtchristlichen Religionen“¹¹ den Kern dieser Arbeit. Die RP von 1925 findet bei Siedler dementsprechend nur eine geringe Beachtung und auch er konnte die RP-Vorlesung von 1920 noch nicht für seine Arbeit verwenden.
Siehe: Danz, C., Schüßler, W., Einleitung: Religion – Kultur – Gesellschaft. Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (1919 – 1920), in: Dies. (Hrsg.), Ders. Titel (Tillich-Studien, Bd. 20), Berlin 2008: Moxter positioniert in seinem Aufsatz Kritischer Intuitionismus. Tillichs Religionsphilosophie zwischen Neukantianismus und Phänomenologie Tillichs Vorlesung innerhalb zeitgenössischer religionsphilosophischer Debatten, U. Barth beschäftigt sich mit Tillichs Religionsbegriff in seinem Aufsatz Religion und Sinn, Danz ist es in seinem Aufsatz Alle Linien gipfeln in der ‚Religion des Paradox‘. Tillichs religionsgeschichtliche Konstruktion der Religionsphilosophie um „Tillichs geschichtsphilosophische […] Lösung der Frage nach der Absolutheit des Christentums“ (S. 6) zu tun, Heinemann fokussiert Tillichs Symboltheorie in seinem Aufsatz Symboltheoretische Anfänge: Paul Tillichs frühe Privatdozentenjahre in Berlin (1919/1920) und Grube „diskutiert in seinem Beitrag Bemerkungen zu Tillichs apologetischen Bemühungen in der Religionsphilosophie von 1920: Subjektzentrierte versus objektzentrierte Ansätze in der Apologie Tillichs Religionsphilosophie im Kontext von angloamerikanischen Ansätzen“ (S. 7). Schüßler, W., Jenseits von Religion und Nicht-Religion. Der Religionsbegriff im Werk Paul Tillichs (Athenäum Monografien: Theologie, Bd. 4), Frankfurt am Main 1989. Siedler, D.-C., Paul Tillichs Beiträge zu einer Theologie der Religionen, S. 5.
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Weiß behandelt ein Jahr später, im Jahr 2000, in seiner Dissertation Religio vera? Zur religionsphilosophischen Lösung der Wahrheitsproblematik im deutschen Werk Paul Tillichs ¹² explizit frühe Schriften Tillichs (u. a. die RP von 1925 und das System der Wissenschaften von 1923) und folgt dabei der Arbeitshypothese, dass „die Frage nach der Wahrheit der Religion eine Frage nach dem geschichtlich bedingten Sinnvollzug“¹³ sei. Weiß hebt die Bedeutung von Tillichs Methodik für seine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Wahrheitsproblematik hervor, wobei ihm die „Methodenfrage“¹⁴ sogar zum Schlüssel bzw. Mittel zur Beantwortung der „Wahrheitsfrage“¹⁵ wird. Seine Arbeitshypothese findet er am Ende seiner Ausführungen bestätigt. Hierbei wird zwar nachgewiesen, was Wahrheit für Tillich innerhalb eines philosophischen Bezugsrahmens meint (z. B. Die Wahrheit von Religion an sich oder die Wahrheit der Religion in Bezug auf das Geschichtliche etc.), allerdings werden andere Religionen als Kontrastierung nicht mit in die Analyse aufgenommen, wie es z. B. Schüßler vorschlägt. Dienstbeck setzt sich in seiner Dissertation Transzendentale Strukturtheorie. Stadien der Systembildung Paul Tillichs ¹⁶ ebenso mit Tillichs Wahrheitsverständnis auseinander. Dabei zielt seine Arbeit darauf, „[…] die Systembildung bei Paul Tillich in verschiedenen Stadien seines Werkes zu untersuchen [und zu] eruieren, inwieweit sich das Prinzip Tillichscher Gedankenbildung im Laufe seines Lebens durchhält oder ob es bedeutende Veränderungen erfährt.“¹⁷ Gleichzeitig ist es Dienstbeck daran gelegen, herauszufinden, ob Wandlungen im System prinzipieller Art sind. Dabei betrachtet er sowohl die wahrheitstheoretische Fundierung des Systemprinzips in Tillichs Systematischer Theologie von 1913, die sinntheoretische Präzisierung desselben in der RP von 1925 als auch die ontologische Gestaltung des Systemprinzips ausgehend von Tillichs Systematischer Theologie. Die RP-Vorlesung erwähnt er allerdings nur in einer Randbemerkung, die Dresdner-Dogmatik Vorlesung mit der Begründung, die Tillichsche „Begriffsbildung“ gestalte sich dort noch zu „unklar“, ganz vernachlässigt. Ich widerspreche Dienstbeck durch meine Quellenauswahl, da ich denke, dass sich gerade in den Vorlesungen Tillichs, die er nach dem Umbruch des Ersten Weltkrieges und der Loslösung vom Deutschen Idealismus gehalten hat, sein wissenschaftlicher Duktus widerspiegelt. Gerade das Medium Vorlesung, welches einer konzeptionellen Mündlichkeit entspricht, die durch Ad-Hoc-Formulierun-
Weiß, T., 2000. A.a.O., S. 12. A.a.O, S. 112. Ebd. Dienstbeck, S., 2001. A.a.O., S. 15.
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gen, Redundanzen sowie terminologischer Vagheit und Unschärfe, teils auch durch semantisch unpräzise Begriffsbestimmungen charakterisiert werden kann, legt in besonderer Weise Zeugnis ab von der generellen Überzeugung Tillichs zu jener Zeit. Denn in der zwar eher flüchtigen Niederschrift und Vagheit drückt sich die emotionale Beziehung Tillichs zur Thematik aus. So weist auch Georg Raatz in seinem Aufsatz Kulturwissenschaft oder Sinnlehre? ¹⁸ darauf hin, dass beide von Tillich 1920 gehaltenen Vorlesungen (zur „Religionsphilosophie“ sowie zur „Encyklopädie der Theologie und Religionswissenschaft) … […] sowohl gegenüber dem Kulturaufsatz als auch gegenüber dem System der Wissenschaften signifikante systematische und begriffliche Differenzen auf[weisen]“, sodass, „eine Rekonstruktion der Wissenschaftstheorie und des Theologiebegriffs […] auch im Blick auf diese zeitlich kurze Phase des sogenannten mittleren oder reifen Tillichs als eine genetische Analyse vorgenommen werden [müsse], die sowohl die Kontinuitäten und Divergenzen namenhaft macht als auch Tillichs Motive herausarbeitet, die hinter den jeweiligen Umstellungen stehen.¹⁹
Weiterhin stützt Raatz das in dieser Arbeit angestrebte vorhaben, indem er schon 2008 dazu auffordert, „die in der Forschung noch weitestgehend unerschlossenen Vorlesungen […] dabei nicht nur als Durchgangsstadien [zu behandeln], sondern vielmehr in ihrer Eigenbedeutung [zu würdigen].“²⁰ Mit dem Anliegen, nach einem Ertrag des frühen Tillichs für eine Theologie der Religionen und einen interreligiösen Dialog, zu fragen, leiste ich durch Einbezug der genannten Hauptquellen dieser Arbeit Pionierarbeit: Alle genannten Autoren gehen zwar dem Thema der Wahrheitsfrage bzw. der Begegnung des Christentums mit den nicht-christlichen Religionen im Werk Paul Tillichs nach, setzen aber entweder durch ihre Vorgehensweise oder der Auswahl ihres Textkorpus andere inhaltliche Schwerpunkte als das vorliegende Forschungsvorhaben. Durch den Einbezug der RP-Vorlesung von 1920 sowie die bereits dargestellte besondere Verzahnung der Perspektiven Religionsphilosophie und Theologie soll an bereits vorhandene Arbeiten angeschlossen und eine neue Blickrichtung eröffnet werden. Meine Herangehensweise unterscheidet sich zudem dahingehend, dass ich – ähnlich wie Schüßler – nicht nur die Lösung der Wahrheitsfrage innerhalb eines rein philosophischen Bezugsrahmens beantworten, sondern diese
Raatz, G., Kulturwissenschaft oder Sinnlehre? Zur Genese von Paul Tillichs wissenschaftssystematischem Begriff der Theologie zwischen 1917 und 1923, in: Danz, C., Schüßler, W., Sturm, E. (Hrsg.): Tillich und Nietzsche (Internationales Jahrbuch für die Tillich Forschung, Bd. 3), Wien; Berlin 2008. A.a.O., S. 142. Ebd.
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im Kontext des Verhältnisses der christlichen Religion zu den nicht-christlichen Religionen betrachten möchte. Die RP-Vorlesung von 1920 ermöglicht dies, da Tillich dort eine Religionstypologie konstruiert, in deren Einteilungsprinzip andere Religionen mit aufgenommen werden und die auf eine ideale Synthese in der „Religion des Paradox‘“ zielt.
Teil II Die religionsphilosophische Begründung des christlichen Wahrheitsanspruches
1 Der apriorische Wahrheitsbegriff und die Methode der Religionsphilosophie 1.1 Kontext und Bedeutung der Religionsphilosophie für die Wahrheitsfrage Die Religionsphilosophie Tillichs liefert einen entscheidenden Beitrag zur Frage, inwiefern die Wahrheit einer Religion begründet werden kann, ohne dem absolutistischen (idealistischen bzw. exklusivistischen) oder konstruktivistischen Extrem zu verfallen und so der fremden Religion entweder in voreingenommener Distanz oder im Modus einer unbegrenzt-pluralistischen Offenheit zu begegnen, die letztlich unrealisierbar ist. Denn ein Mensch kann nicht gleichzeitig mehrere kulturelle (einschließlich religiöse) Backgrounds innehaben. Der unter Absehung einseitiger Vereinnahmung entwickelte Religionsbegriff Tillichs wird geschichtsphilosophisch im Gefüge der empirischen Religionsgemeinschaften verortet. Dies geschieht, indem der epistemologisch präsupponierte Religionsbegriff auf seine Bewährung im Vergleich mit Religionsbegriffen anderer empirischer Religionsgemeinschaften geprüft wird. Der aus der christlichen Religion entlehnte Religionsbegriff, der allerdings nicht immer notwendig mit der Form von christlichreligiöser gelebter Religion korrelieren muss, wird ob seiner idealen und damit geschichtsunabhängigen Konstitution als Maßstab an alle empirischen Religionen angelegt – auch der christlichen. Bevor dem spezifisch christlichen Geltungswert im Frühwerk Paul Tillichs nachgegangen werden kann, müssen die religionsphilosophischen Grundlagen dargelegt werden, die es ermöglichen, Aussagen darüber zu treffen, inwiefern einer Religion laut Tillich überhaupt – und zwar konfessionsunabhängig – ein Wahrheitswert zukommen kann. Bezüglich dieser Fragestellung schließt das Konzept von Tillichs Religionsphilosophie an eine Debattenlage an, die bereits mit der Etablierung der Religionsphilosophie als Wissenschaft innerhalb theologischer Fakultäten während der Aufklärungszeit¹ gegeben war, im sogenannten
Weiß, T., Religio vera?, S. 16 – 17: Weiß weist darauf hin, dass der Ursprung der Religionsphilosophie als philosophischer Disziplin sich mit F. Niewöhner „‚auf den Wiener Jesuiten und Professor für Logik und Metaphysik Siegmund von Storchenau (1731– 1789) zurück[führen lässt], der 1772 eine ‚Philosophie der Religionʼ schreib und anonym veröffentlichte. Später nannte er diese Philosophie selbst Religionsphilosophie. Aber erst seit C. L. Reinholds‘ ‚Briefe über die Kantische Philosophieʼ (1787) etablierte sich der Begriff, nun speziell verbunden mit Kants Ethiktheologieʼ“. https://doi.org/10.1515/9783110671759-004
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Atheismusstreit ² ihre Klimax fand und sich auch in den darauffolgenden Jahrzehnten (vornehmlich als Reaktion auf die durch Kant und Fichte angeregte Diskussion) aufrechterhielt.
Vgl. Kodalle, K.-M., Ohst, M. (Hrsg.), Fichtes Entlassung. Der Atheismusstreit vor 200 Jahren (Kritisches Jahrbuch der Philosophie, Bd. 4), Würzburg 1999 sowie Fichte, J.-G., Niethammer, F.-I. (Hrsg.), Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten, Jh. 1798, Bd. 8, Heft 1, Hildesheim 1969: Der von Forberg und Fichte ausgelöste Atheismusstreit gründete auf dem Postulat der Möglichkeit einer moralischen Weltordnung ohne der Existenz eines Gottes. Forberg habe diesen Gedanken in seinem Aufsatz Entwicklung des Begriffs der Religion formuliert, der im Jahre 1798 von Fichte und Niethammer im Philosophischen Journal herausgegeben wurde. Dort erklärt er, dass die Existenz eines Gottes ungewiss sei (S. 41), jegliche aus der Vernunft abgeleiteten spekulativen Beweise einer Gottheit dem Aberglauben gleichkämen (S. 42) und die Religion lediglich eine „Maxime des Willens“ sei (ebd.), daher in den Bereich des praktischen Handelns und moralisch guten Tuns falle. Die positive Würdigung dieses Aufsatzes von Seiten Fichtes in einem Vorwort derselben Zeitschrift unter dem Titel Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung führte zur Entlassung aus seinem Lehramt. Dort heißt es, er empfinde eine Erleichterung über das Erscheinen von Forbergs Thesen, „da dieser Aufsatz in vielen Rücksichten mit seiner [Fichtes] eignen Ueberzeugung übereinkommt, er auf ihn sich berufen, und dem Verf. desselben es überlassen kann, auch mit in seinem Namen zu reden.“ (S. 2) Gleichzeitig betont er jedoch gleich in einem weiteren Satz, dass „derselbe Aufsatz in manchen andern Rücksichten seiner Ueberzeugung nicht sowohl entgegen ist, als nur dieselbe nicht erreicht“ (ebd.). Vgl. auch: Seidel, H., Johann Gottlieb Fichte. Zur Einführung, Hamburg 1997: Bereits in seiner Wissenschaftslehre vertrat Fichte das Ideal, den systematischen Zusammenhang aller aus dem Bewusstsein selbst gespeisten Erkenntnisse von einem absoluten Grundprinzip abzuleiten, welches auf keinen Prämissen bzw. Voraussetzungen beruht und nur so als Grundlage des Systems dienen könne. Der erste Grundsatz müsse „so gewiß sein, daß jeder Zweifel ausgeschlossen ist. Woran sich aber nicht zweifeln läßt, ist meine Selbstgewißheit, das ‚ich binʼ.“ (S. 60) Ausgehend von dieser Voraussetzung konzipiert Fichte seine Religionsphilosophie, die von dem Grundsatz geprägt ist, dass das „Nicht-Ich [also Gott] letztlich nur ein durch das Ich gesetztes ist“. (S. 112). Vgl., EN XII, S. 384: Aus der Sicht Tillichs knüpft die These Fichtes an die Deduktion der Kategorien nach Kant an, in welcher Kant bereits die Möglichkeit eines „‚Bewußtseins überhaupt“ andeutete. Dieses entwickelte er aufgrund der Einsicht, dass „die Erscheinungswelt […] die von den Formen des Bewußtseins gestaltete Welt [ist]“ und dieses Bewusstsein „das individuelle Ich, das die Dinge in sich aufnimmt“ selbst ist. Das Ich werde dadurch „selbst ein Stück Erscheinungswelt, ein Stück geformter Stoff“ und könne daher nicht mehr deren Träger sein. Aus diesen Überlegungen erwächst die Frage nach einem „Bewußtsein überhaupt“, welches als Träger eben dieser Erscheinungswelt gedacht werden kann. Fichte habe die Grenze zwischen dem Gedanken eines Bewusstseins überhaupt (als Allgemeinbegriff) und einem „absolute[n] Bewußtsein“ (manifestiert in einem Individuellen) überschritten, indem er „den Begriff des absoluten Ich koncipierte und diesem Begriff dann eine Art hypostatischer Existenz gab […]. Fichte gab zu, daß Gott Dasein, dass heißt Existenz im kategorialen Sinne nicht zukommt, denn Dasein ist eine Kategorie, wohl aber Sein in einem überkategorialen Sinne.“ Der letzte Satz des Zitates deutet darauf hin, dass Tillich die Fichtesche Lehre so interpretiert, dass Fichte die Existenz Gottes per se nicht abstreitet, sondern lediglich dessen kategoriale Erfassbarkeit durch die Funktionen des
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Die Nachkantische Periode in der Theologie und Religionsphilosophie der Neuzeit ist dadurch gekennzeichnet, Antworten³ auf die Frage nach der Möglichkeit von Gotteserkenntnis zu formulieren. Diese Tendenzen stellen Reaktionen auf Kants erkenntnistheoretische Einsicht in die Grenzen des menschlichen Bewusstseins dar. So erbrachte er den Nachweis, dass es unmöglich ist, mithilfe der menschlichen Erkenntnis zum „Ding an sich“ ⁴ vorzudringen. Es stellte sich folglich die Frage, wie – wenn überhaupt – die Rede von Gott mit dem gleichzeitigen Wissen um ein die Wahrheit lediglich konstruierendes Bewusstsein noch sinnvoll möglich ist. Bahnbrechend und erschütternd wirkte das Verfahren der kritischen Analyse des menschlichen Bewusstseins, welches als Voraussetzung der Gotteserkenntnis fungierte, auf den neuzeitlichen Menschen ein, der sich bis dahin vornehmlich in der Tradition der „metaphysischen Theorie des Erkennens“⁵ verwurzelt sah. Diese Erkenntnistheorie ging von einer Entsprechung von Vernunft (bzw. Erkenntnis) und Wahrheit aus und nahm an, dass das, was mit den Mitteln der Vernunft erkannt werden könne, unweigerlich ein Abbild der Wahrheit als solcher darstelle.
menschlichen Bewusstseins (denken – handeln – fühlen). Diese Deutung geht konform mit der Anmerkung Fichtes, er stimme eben nicht allen Aussagen Forbergs zu [s. o.]. Vor diesem Hintergrund erscheint der Vorwurf der Atheisterei in Bezug auf Fichte fragwürdig. U. a. Schelling und Hegel formulierten eine Antwort auf Kant, indem sie eben nicht davon ausgehen, dass das Bewusstsein die Wahrheit lediglich konstruiert, sondern die apriorischen Denkstrukturen, die jenem zugrunde liegen, der Wirklichkeit als solcher entsprechen. Diese Theorie gründet bereits auf Vorstellungen der Alten Kirche, die – namentlich vertreten durch Augustin – davon ausging, dass „Der Verstand […] die Wahrheit nicht [schafft], sondern […] sie vor[findet].“ (Augustinus, De vera religione. Über die wahre Religion, Stuttgart 1991, S. 72). Vgl. EN XII, S. 398: Auch das Ziel der Tillichschen RP ist es, die Problematik des „Ding an sich“ zu lösen. Dies sei mittels der Intuitiven Methode möglich, da diese allein dem Irrationalen Rechnung tragen könne: „Es gibt auf dem Boden der kritischen Philosophie ein Irrationales, das die crux dieser Philosophie ist und den Anlaß zu immer neuen Denkbewegungen gegeben hat: das Ding an sich.“ Und weiter: „Die Problematik des ‚Ding an sichʼ ist das Signal der Grenzen der rein kritischen Methode. Sie kann nur gelöst werden durch die intuitive. Denn in ihr allein ist das Organ gegeben, das im Stande ist, das Irrationale zu belauschen.“ Vgl. Petit, J.-C., Wahrheit und Kairos beim frühen Tillich, in: Hummel, G. (Hrsg.): Gott und Sein. Das Problem der Ontologie in der Philosophischen Theologie Paul Tillichs. Beiträge des II. Internationalen Paul-Tillich-Symposiums in Frankfurt 1988, Berlin; New York 1989, S. 212: Die „metaphysische Theorie des Erkennens“ geht davon aus, dass die Wahrheit in einer „Übereinstimmung von Vernunft und Sein“ begründet liegt. „Das Wahre ist das Sein selbst, insofern es der Vernunft angeboten ist, die es erkennt.“ Demnach ist das, was mit den Mitteln der Vernunft erkannt wird, automatisch ein Abbild der Wahrheit als solcher und es besteht kein Widerspruch zwischen objektiver und subjektiver Vernunft. Das, was über Gott, Welt, Sein etc. gelehrt wird, entspricht ohne Zweifel der Wahrheit als solcher.
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1 Apriorischer Wahrheitsbegriff und Methode
Neben Fichte, der sich mit dem Postulat des „absoluten Ich“ und einer positiven Würdigung der als atheistisch bezichtigten Thesen seines Jenaer Lehrers Forberg, zeitgenössischer Kritik aussetzte, rangen in direkter Nachfolge Kants u. a. Hegel, Schelling, Windelband und später auch Simmel und Troeltsch – um nur einige Vertreter zu nennen – um eine vor diesem Hintergrund konzipierte religionsphilosophische Lösung und Wiederherstellung des religiösen Selbstverständnisses. Tillich sucht dabei eine Alternative zwischen Kant und Hegel zu formulieren, indem er seinen Religionsbegriff methodisch so konzipiert, dass er einerseits im funktionellen Sinne die Notwendigkeit von Religion als „Princip der Erscheinungswelt“⁶ bzw. Konstitution der Einheitsfunktion des Bewusstseins aufzeigt. In dieser Hinsicht ist er der kritischen Methode Kants verpflichtet, indem er die Funktionen des menschlichen Bewusstseins bezüglich der Bedeutung des Phänomens Religion analysiert. Andererseits integriert er in seine Methode – was als Nachklang seiner idealistischen Phase gedeutet werden kann – ein spekulatives Moment, indem er ein „Princip der Erscheinungswelt“ voraussetzt, welches die Religion sei.⁷ Seine Methode besteht also aus einer Korrelation von Kritik und Intuition. Spekulativ ist die Methode deshalb, da sie ein intuitives und psychologisches (kritisches) Moment vereinigt. „Eine Psychologie ist spekulativ, wenn sie in den Bewußtseinselementen, die sie zu erfassen sucht, unmittelbar die Elemente der Wirklichkeit überhaupt erfaßt.“⁸ Diese mit dem „Gemeingut aller Mystik“⁹ identische intuitive Ergänzung der kritischen Grundlagen führen Tillich zu dem methodischen Ziel „[…] eine ganz neue Verschmelzung herbeizuführen“¹⁰. Im Folgenden wird es zunächst darum gehen, die Konzeption der Tillichschen RP im Groben zu skizzieren, diese in das Gesamtsystem der Wissenschaften einzuordnen, um ihr Selbstverständnis herauszuarbeiten, die Methode Tillichs zu beschreiben und im Anschluss die Entwicklung seines Religionsbegriffs darzustellen. Dieser wird vor dem oben skizzierten Hintergrund problematisiert und in den zeithistorischen Kontext, auf dem er basiert, eingeordnet. Da Tillich in seiner RP-Vorlesung selbst so vorgeht, dass er zunächst einen allgemeinen Formbegriff konstruiert, der das Wesen und den Wahrheitswert¹¹ von
EN, Bd. XII, S. 397. Vgl. ebd. A.a.O., S. 392– 393. A.a.O., S. 393. A.a.O., S. 397. Vgl. EN XII, S. 345 – 346: Tillich konstatiert, dass bei ihm, im Unterschied zu den Entwürfen Kaftans oder Troeltschs, Wesen- und Wahrheits- bzw. Geltungsfrage zusammenfallen und nur in dieser Verschmelzung sei die Religionsphilosophie wirklich erreicht. Vgl. Schleiermacher, F., Der Christliche Glaube. Nach den Grundsätzen der Evangelischen Kirche
1.1 Kontext und Bedeutung der Religionsphilosophie für die Wahrheitsfrage
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Religion an sich umfasst, um in einem nächsten Schritt mittels einer religionstypologischen Untersuchung zu ergründen, wie sich dieser Formbegriff innerhalb der empirischen Religionsgemeinschaften manifestiert und letztlich auf ein Ideal, die Religion des Paradox’, hinstrebt, wird sich die Konzeption dieser Arbeit an diesem Aufbau orientieren. Im Folgenden wird zunächst die Bedeutung der Religionsphilosophie für das Gesamtsystem Tillichs herausgestellt: Rein konzeptionell, am Aufbau des Tillichschen Oeuvres gemessen, lässt sich ablesen, dass die religionsphilosophische Auseinandersetzung mit der Wahrheitsfrage aufgrund ihrer chronologischen Erststellung eine zentrale Funktion innerhalb des Gesamtsystems einnimmt. Die späteren christologisch entfalteten Überlegungen zum Wahrheitswert, die den Geltungswert der christlichen Religion an dem Kriterium der Vollkommenheit ihres Inhaltes (Jesus als der Christus, als fleischgewordener logos) messen, sind bereits in Form von religionsphilosophischen Kategorien präfiguriert. Von Bedeutung ist nun allerdings, von der Erststellung im System keine inhaltliche Priorität abzuleiten. Denn obschon die Religionsphilosophie auf Basis ihrer erkenntnistheoretischen Haltung den Normbegriff aus der Selbstanalyse des Denkens und der Reflektion desselben auf die ihm zugrundeliegenden Funktionen (speziell der funktionellen Notwendigkeit des Religiösen zur Einheitskonstruktion des Bewusstseins) ableitet, darf die Beziehung zwischen RP und Theologie nicht als eine inhaltlich lineare gelesen werden. Tillichs inhaltlicher Ansatz geht weder von der Erkenntnistheorie, also dem Denken aus, noch von einer metaphysischen Außensphäre (Gott; Transzendenz), sondern seinen Ausgangspunkt bildet stets die wechselseitige Beziehung beider Pole, die sich dann auch in den Fachgebieten der RP und Theologie widerspiegelt: Auch diese sind inhaltlich nicht linear aufeinander bezogen, sodass die RP den Ausgangspunkt der Theologie bildet, sondern beide greifen reziprok ineinander, sodass letztlich der Normbegriff den elliptischen Schnittpunkt beider bildet. Bleibt man jedoch zunächst bei der konzeptionell linearen Betrachtung, so werden innerhalb der RP Wesen und Funktion von Religion beschrieben, indem mittels einer Funktions- und Kategorienlehre des Geistes das Religiöse analysiert
im Zusammenhang dargestellt, 7. Aufl., Bd. 1, Berlin 1960, S. 13: Schleiermacher deutet an, dass die Wesensbeschreibung der spezifisch christlichen Religion nicht in den Bereich der Religionsphilosophie fällt, indem er schreibt: „Am nächsten nämlich hätte an die Resultate der Religionsphilosophie anzuschließen die Apologetik, um daraus die Beschreibung von dem eigentümlichen Wesen des Christentums und von seinem Verhältnis zu anderen Kirchen zu Grunde zu legen.“ Dieses Vorhaben wird bei Tillich jedoch bereits auf dem Boden der Religionsphilosophie ausgetragen.
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und schließlich geschichtsphilosophisch eingeordnet wird.¹² Dabei wird von der Prämisse ausgegangen, dass die Geschichtsphilosophie, die die verschiedenen Formen religiöser Darstellungen enthält, auf einen Normbegriff hinstrebt, der eine ideale Verwirklichung des Wesens von Religion bedeutet. Die Theologie greift sodann die Ergebnisse der Religionsphilosophie sowie das Material der „Geistesgeschichte“¹³ bzw. „Sinnmateriallehre“¹⁴ auf und entwickelt daraus ein System mit dem Anspruch idealer Geltung. – Sie realisiert den auf Basis der RP formal entwickelten Normbegriff mittels einer theologischen Sinndeutung der Geschichte. In der RP (1925) heißt es diesbezüglich: Religionsphilosophie ist Lehre von den religiösen Funktionen und ihren Kategorien. Theologie ist normative und systematische Darstellung der konkreten Erfüllung des Religionsbegriffs. Zwischen beiden steht die Geistesgeschichte der Religion […].¹⁵
Vor dem Hintergrund meiner Forschungsthese, die voraussetzt, dass Religionsphilosophie und Theologie lediglich formale Abgrenzungen darstellen, inhaltlich jedoch in einem lediglich differierenden Sprachduktus beide vom Kriterium der vollkommenen Offenbarung ausgehen, lässt sich fragen, inwiefern unter dieser Prämisse noch von der Religionsphilosophie gesagt werden kann, dass es ihr um den Erweis eines Wahrheitswertes von Religion an sich, also unabhängig vom konfessionellen Bekenntnis geht. Inwiefern ist dann überhaupt die Trennung Religionsphilosophie – Theologie relevant? Das Problem des scheinbar konträren Verhältnisses dieser beiden Disziplinen, welches hier durchscheint, begleitet Tillich sein gesamtes Leben. Gleichzeitig wird die Lösung dieses Konfliktes im Kontext der RP (1925) – im Gegensatz zu seiner Vorlesung – zum entscheidenden Schlüssel für das Selbstverständnis nicht nur der gesamten Wissenschaftssystematik¹⁶, sondern auch des Religionsbegriffs und der Stellung der Religion zum Bezüglich der Funktions- und Kategorienlehre des Religiösen steht Tillich ganz in der kritischen Tradition Kants. Vgl. GW, Bd. I, S. 224. Ebd. GW, Bd. I, S. 301. Vgl. GW, Bd. I, S. 300: Die „Grundhaltung“ der Wissenschaftssystematik als solche sei abhängig von der Entscheidung des religionsphilosophischen Problems (also der Klärung des Verhältnisses von Theologie und Philosophie bzw. Religionsphilosophie). Dies ist deshalb der Fall, da das System der Wissenschaften aus einer theologischen Betrachtungsweise heraus erwächst und auch die rein kognitiven Wissenschaften, die ihre Erkenntnis über die Dinge und die Welt nur unter der Bedingung der Abstraktion vom Wirklichen erlangen (wie z. B. Technik und Naturwissenschaften), nach Tillichs Verständnis ebenfalls vom Unbedingten zeugen. Dieser Sachverhalt wird in einem späteren Zitat aus Tillichs Aufsatz Kairos und Logos von 1926 besonders deutlich expliziert. Dort heißt es: „In jeder, auch der exaktesten, Technik am meisten unterwor-
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Profanen bzw. zur „autonomen Kultur“. Denn als das Ziel der religionsphilosophischen Arbeit führt er dort die Formulierung des archimedischen Punktes auf, an welchem Offenbarungslehre und Philosophie eins sind. „Diesen Punkt zu finden und von da aus die synthetische Lösung zu schaffen, ist die entscheidende Aufgabe der Religionsphilosophie.“¹⁷ Im Folgenden soll das auf Basis der RP entwickelte Korrespondenzverhältnis von Form- bzw.Wesensbegriff und Normbegriff erörtert werden. Ein Durchdringen dieses komplexen Zusammenhangs liefert die Voraussetzung für eine zielgeleitete Interpretation der der Gedanken Tillichs zur Wahrheitsfrage auf den beiden Ebenen der RP und der Theologie. Zunächst lassen sich bei Tillich drei verschiedene Ebenen ausmachen, auf deren Bezugs- und Interpretationsfeld die Wahrheitsfrage erörtert wird. Die erste Ebene bildet die klassisch erkenntnistheoretische Ebene (Religionsphilosophie, Epistemologie). Sie wird von Tillich unter die wissenschaftliche Rubrik der Denkwissenschaften subsumiert. Im klassischen Sinn beschäftigt sich die Erkenntnislehre mit den Voraussetzungen und Bedingungen des Denkens, welches Begriffe wie Kultur, Religion, Staat etc. abstrakt konstruiert und in dieser Tätigkeit eigentlich abstrakt-deduktiv vorgeht. Religionsphilosophie fragt danach, was als Religion zu gelten hat, sie erörtert das der Religion zugrundeliegende Wesen. Die Geschichtswissenschaft/Geschichtsphilosophie bzw. Religionswissenschaft analysiert hingegen die sich real in der empirischen Menschheitsgeschichte vorfindlichen religiösen Gemeinschaften, um von den sich im konkreten religiösen Kult darstellenden deskriptiven Beobachtungen auf das Phänomen Religion zu schließen (z. B. entsprechend des Vorgehens der vergleichenden Religionswissenschaft). Im Unterschied dazu geht es der Normwissenschaft (Systematische Theologie, Dogmatik) darum, den eigenen konkreten religiösen Standort mittels einer Analyse des Verhältnisses von Gott und Mensch und in Form einer Existenzanalyse zu reflektieren. Das gläubige Bewusstsein wird sich so selbst in seinem Glaubensvollzug transparent. Der deskriptive Standort ist hier verlassen, da es weder nur darum geht, einen Wesensbegriff von Religion aufzustellen, noch darzulegen, was als Religion gelten kann, sondern sich selbst als Christ in seiner Beziehung zum Absoluten zu verstehen. Das besondere bei Tillich ist nun allerdings die korrelative Beziehung von Wesen, realer Ausprägung und Norm des
fenen Erkenntnis sind grundlegende Wesensdeutungen enthalten, die weder der formalen Evidenz noch der materialen Wahrscheinlichkeit zugehören, sondern die ursprüngliche, auf Entscheidungen gegründete Anschauungen sind.“ (Tillich, P., Kairos und Logos, in: Albrecht, R. (Hrsg.), Philosophie und Schicksal. Schriften zur Erkenntnislehre und Existenzphilosophie (Paul Tillich. Gesammelte Werke, 1. Aufl., Bd. IV), Stuttgart 1961, S. 56). GW, Bd. 1, S. 299.
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Religiösen, weshalb eine einfache Charakterisierung der jeweiligen Begriffe im Einzelnen nur wenig zur Erhellung des doch recht komplexen Zusammenhangs aller drei Ebenen beitragen würde. Vielmehr ist mir im Folgenden also an einer Darstellung des Korrelationsverhältnisses von Form- und Normbegriff und infolgedessen von den drei entsprechenden Fachdisziplinen der Religionsphilosophie, der Religionswissenschaft (Geistesgeschichte der Religionen, Geschichtsphilosophie) und der Theologie gelegen. Ausgangspunkt der Überlegungen bilden die zwei möglichen Stellungen des Denkens zu sich selbst und dem zu erfassenden Objekt (Religion). Zum einen ist es dem Denken möglich, „sich selbst als Seiendes“¹⁸ zu bestimmen und sich also aus einer Metaperspektive und Distanz zum eigenen Sein zu betrachten. Soweit ihm dies möglich ist, kann es auch Forderungen bzw. Normen an sich selbst richten (wie es zu sein, zu denken, zu handeln habe). Innerhalb dieser Stellung des Denkens zu sich selbst als Objekt des Erkennens ist es also normativ. Gleichzeitig bemisst sich die normative Forderung an einem vom Denken konstruierten Wesens- bzw. Formalbegriff von Religion, der innerhalb der Religionsphilosophie entwickelt wird. Im Unterschied dazu, kann das Denken sich selbst kategorial innerhalb der Geschichte neben anderen Welt- und Denkanschauungen verorten. Diesbezüglich kann es auch eine bloß deskriptive Funktion einnehmen, indem es Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Darstellung des Denkens an einem konkreten geschichtlichen Ort aufdeckt (Religionswissenschaft). Diese kategoriale Einordnung wird von Tillich auch als „Kategorienlehre“¹⁹ (des Religiösen) bezeichnet. Sie ist Teil der Geschichtsphilosophie bzw. der Geistesgeschichte. Der als ideal konstruierte Normbegriff geht folglich aus der Reflexivität des Denkens auf seine eigene Existenz hervor, durch welche dieses gleichsam eine Forderung an sich selbst richtet. Insofern als er innerhalb der Kulturwissenschaften entwickelt wird, obliegt es in dieser Geistessphäre dem Denken, „sich selbst als Seiendes“ zu erfassen und sich durch diese „Selbstbestimmung“ auch zu transformieren.²⁰ Vorausgesetzt wird also eine Identität bzw. Analogie im
EN, Bd. XII, S. 35. Vgl. a.a.O., S. 354. Vgl. a.a.O., S. 356: Der Kulturwissenschaft kommt laut Tillich die Doppelaufgabe zu, „[…] einerseits die der Kultur […] innewohnenden Denkformen herauszuarbeiten, andererseits die Kultur durch Selbsterkenntnis normativ zu beeinflussen.“ Vgl. a.a.O., S. 353: Der Normbegriff kann deshalb innerhalb der Kulturwissenschaften entwickelt werden, da Tillich sie als „Gesamtheit derjenigen Wissenschaften [bezeichnet], in denen das Denken sich selbst als Seiendes erfaßt“ und folglich auch eine Norm an sich richten kann. Vgl. EN, Bd. XII, S. 356: Mit dieser Veränderung ist gemeint, dass „[d]as Denken, das sich auf sich
1.1 Kontext und Bedeutung der Religionsphilosophie für die Wahrheitsfrage
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Sinne eines Überschneidungspunktes von Denken und Wahrheit, insofern als sich Wahrheit nur im Denken vollzieht und nicht in einer transzendenten, außerhalb des Denkens angesiedelten Sphäre. Das Denken wird innerhalb der Kulturwissenschaften aufgrund seiner Produktivität und der durch es bewirkten Gestaltungsprozesse also auch als ein Seiendes betrachtet, als ein Existierendes. Denken und Wirklichkeit stehen folglich in einem Korrelationsverhältnis und sind sich gegenseitig sowohl Subjekt als auch Objekt. Durch ihre dynamische Beziehung entsteht Wahrheit. Der Formbegriff, von Tillich auch als Wesensbegriff bezeichnet, wird auf Grundlage der Kultur- und Religionsphilosophie entwickelt, indem dort „die apriorischen Formen der theoretischen und praktischen Kulturfunktionen, also das Wesen des Erkennens und seine formalen Kategorien“, erarbeitet werden.²¹ Mit dem Formbegriff werden also epistemologische Voraussetzungen des Denkens beschrieben, die in Form von Allgemeinbegriffen artikuliert werden, also unabhängig davon, ob sie für ein Ich sind und unbeeinflusst durch die Erfahrung, der ein Ich unterliegt. Man könnte auch sagen, dass der Formbegriff eine formalkategoriale Funktion des Bewusstseins zur Wahrheitserkenntnis auf Basis der dem Bewusstsein innewohnenden Strukturen darstellt. Mittels ihm werden „die der Kultur wie allem Seienden innewohnenden Denkformen heraus[gearbeitet]“²². Da sich das Denken jedoch nicht nur kategorial in die Gestalten der Geschichte und ihre je individuelle Ausprägung einordnen lässt, sondern sich stets auch selbst als ein Seiendes begreift, entsteht neben „der reinen Kategorienlehre […] [auch] eine Normwissenschaft“.²³ Demnach ist es neben der kategorialen Deskription von Religion und Kultur eine weitere Aufgabe der Denkwissenschaft, „die Kultur durch Selbsterkenntnis normativ zu beeinflussen“²⁴. Dabei obliegt es der Religionsphilosophie, die der Kultur inhärenten Denkformen herauszuarbeiten und den Normbegriff formal-kategorial (als Funktion des Geistes²⁵) zu entwickeln, während es Aufgabe der Theologie ist, diesen Normbegriff systematisch zu realisieren, ihn praktisch mit Symbolmaterial anzureichern, der aus der christlichen Tradition gewonnen und von dort aus inhaltlich bestimmt ist. Heißt
selbst in seiner theoretischen oder praktischen, ethischen oder ästhetischen Existenz richtet, […] bestimmend ein[wirkt] auf den Erkenntnisproceß, auf das sittlich-rechtliche und künstlerische Leben. Die Wissenschaft der Kultur tritt mit Forderungen an die Kultur heran […].“ EN, Bd. XII, S. 354. A.a.O., S. 356. A.a.O., S. 355. A.a.O., S. 356. Geist im Sinne von menschlichem Bewusstsein.
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es zum Beispiel in der Religionsphilosophie im Hinblick auf den Offenbarungsträger, diejenige Form sei höher zu werten, die ein Moment der Selbstüberwindung in sich trage, so lässt sich dies theologisch-systematisch mit dem Kreuz Christi beantworten. Das Korrespondenzverhältnis von RP und Theologie macht es möglich, die Theologie auch als „normative Religionsphilosophie“ zu werten.²⁶ Bezeichnend für die Normwissenschaft ist es, dass nicht nur allgemeine Denkformen herausgearbeitet werden, sondern das Normative von einem Konkret-Individuellen handelt, das „[…] dennoch mit idealer Geltung und normativem Anspruch auftritt“.²⁷ Dem Anspruch auf Objektivität, den der Historismus stellt, komme dieses Verfahren nicht nach.²⁸ So muss also bedacht werden, dass es sich hier nicht um eine Erkenntnis der Wirklichkeit handelt, die entsprechend der Erkenntnishaltung der Mathematikwissenschaften auf einem absoluten Evidenzverhältnis im intuitiven Sinne basiert, sondern, dass das Denken als ein Existierendes der Mannigfaltigkeit historisch-individueller Erscheinungen gegenübersteht. Normativität kann, ob der Dynamik des Lebenszusammenhangs im Denken, ausschließlich dem Konkret-Individuellen zukommen; dennoch obliegt es gerade der Normwissenschaft, einen Geltungsanspruch zu erheben.Wenn das Denken als ein Seiendes, Existierendes aufgefasst wird, obliegt es auch dem konkreten Standpunkt, eine Norm zu formulieren, die eben kein abstraktes, formal-logisches Denkgebäude darstellt, sondern aus einem geistigen Schöpfungsprozess selbst erwächst. Es entspreche dem Wesen und der Existenzform der Kultur, dass „[…] das Denken unter dem Gesetz der Besonderung, der Konkretheit, der Kontingenz, der Freiheit“²⁹ steht und als solches habe es Gegenstand der Geschichtswissenschaft zu sein. Dem Denken kommt laut Tillich nicht nur die Funktion eines Existierenden zu, sondern auch des „Unbedingt-Geltenden“³⁰. Somit kann jede schöpferisch-produktive Denkleistung, in welcher stets Denken und Sein verwirklicht sind, als eine „individuelle Verwirklichung des Allgemeinen“ erachtet werden.³¹
Vgl. Teil IV (Ergebnisse und Beantwortung der Forschungsfragen): Dies wird am Ende dieser Arbeit jedoch kritisiert, indem ein alternativer Begriff vorgeschlagen wird. EN, Bd. XII, S. 357. Vgl. A.a.O., S. 356: Der Historismus fordere hingegen eine Verfahrensweise, deren Wissenschaftsverständnis es ist, „Seiendes zu erkennen, aber nicht, noch-nicht-Seiendes zu fordern.“ A.a.O., S. 356. MW, Bd. I, S. 212. GW, Bd. I, S. 212; Hervorhebung im Original. Das Verhältnis der epistemologischen Begriffe das Allgemeine, das Besondere, das Schöpferische sowie das Gültige bzw. Geltung wird in Kapitel 1.2.3 exkurshaft thematisiert werden.
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Im Zusammenhang mit dem Allgemeinen und dem Schöpfertum des Geistes spricht Tillich auch von der sog. Unbedingtheit der Form³². Diese wird von ihm als Begrenzungsfaktor des Geistigen verstanden, was mit der Nicht-Existenz des reinen Allgemeinen³³ einhergeht. Die Unbedingtheit bleibt dadurch gewahrt, dass sie im Wirklichen nicht zur Vollendung bzw. vollkommenen Verwirklichung kommen kann: „Alles geistige Formen richtet sich auf die Unbedingtheit der reinen Form, aber das Unbedingte ist nicht selbst eine Form.“³⁴ Es ist weder reine Form, noch reine Subjektivität, sondern nur wirklich in der Beziehung beider. Dennoch ist die Normativität durch den produktiven Setzungsakt nicht ausschließlich subjektiv. Tillich spricht sich deutlich gegen jeglichen Subjektivismus aus, indem er den zu seiner Zeit geläufigen Werttheorien kritisch gegenübersteht. Der Begriff Wert „[…] hat ein Moment der Subjektivität in sich, über das der Begriff der Geistes- oder Normwissenschaften [sich] erhebt.“³⁵ In der Dresdner Dogmatik-Vorlesung rechtfertigt Tillich die Notwendigkeit einer allgemeinen Formulierung existentiell-religiöser Sätze mit der Gefahr individuellen Missbrauchs bzw. der Möglichkeit von Depravation, die durch eine rein subjektive Fassung gegeben ist. Die Formulierung existentieller Aussagen in allgemeiner Form sei allerdings deshalb möglich, da das Ich „nur existentiell [ist] im Zusammenhang mit der Existenz überhaupt. Das Sich-Ausschließen aus der Einheit des Seienden ist gerade eine Abstraktion, während die konkrete Betrachtung den konkreten Einzelfall allenthalben einschließt in das Ganze […].“³⁶ Existenzielle Sätze sind folglich nie ausschließlich subjektiv, sondern sie zeugen von einer die Totalität des Seins und der Dinge einschließenden Existentialität. Dass die Norm im Konkreten entsteht, also ausgehend von einer existentiellen
Unter „Unbedingtheit der Form“ versteht Tillich das Bestreben des Menschen, im Bedingten, also innerhalb der Formzusammenhänge, eine absolute Form zu erzeugen, die das Unbedingte in absoluter Weise verkörpert. Da dies nicht möglich ist, kann es lediglich bei der Forderung bleiben. Deshalb ist die Einsicht in die Unbedingtheit der Form auch als Begrenzungsfaktor zu beschreiben. Sie bedeutet die Grenze des Geistigen an sich bzw. markiert den Punkt, an dem das Geistige nicht über sich selbst hinauskommt. Mit „reinen“ Allgemeinen sind die „reine“ Form oder das „rein“ Objektive gemeint. Dieses kann in dieser Reinform in der Wirklichkeit nicht existieren, vielmehr meint es stets nur einen Akt der „Bezogenheit auf“ bzw. des „Intendierens von“ des Bewusstseins. In der Existenz kann das Allgemeine nur in Verbindung mit dem Besonderen bestehen und nicht losgelöst von der existentiellen Situation des denkenden Menschen. Eine reine Form sowie das reine Allgemeine sind folglich Abstraktionen und bilden Funktionen des Bewusstseins zur Konstitution von Wirklichkeit. GW, Bd. I, S. 221. Ebd. EN, Bd. XIV, S. 6.
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Situation, schließt nach Tillich demnach zwei abzulehnende Tendenzen aus: Weder ist die Norm ausschließlich subjektiv generiert – denn existentiell und konkret bedeuten die Inklusion des Einzelnen in den Zusammenhang und die Einheit von allem Seienden – noch ist die Norm ausschließlich allgemein und objektiv generiert – denn eine reine, von jedem Subjekt losgelöste Allgemeinheit bzw. Form ist aufgrund der allseitigen Einbindung des Subjektes in den lebendigen Zusammenhang aller Lebewesen nie wirklich. Sie kann nur vom Subjekt erstrebt bzw. intendiert werden (s.o.). Das Existentielle in der Entstehung der Norm berücksichtigt also das Konkrete; dieses jedoch nie losgelöst von dem lebendigen Zusammenhang, in dem es steht. Die an die Norm gebundene Wahrheit religiöser Aussagen muss gleichsam diesem Zusammenhang entsprechen. Die Ungenügsamkeit des reinen Formbegriffs erweist sich an dem Punkt, an welchem das Denken auf seine eigene Standortgebundenheit reflektiert. Der Forderung nach einer reinen kategorialen Beschreibung – wie es der Historismus verlangt – kann aufgrund der Bezogenheit des individuellen Denkers auf einen spezifischen Standort nicht nachgekommen werden. Für das Verhältnis von Form- und Normbegriff folgt aus den obigen Überlegungen, dass es konsequenterweise keinen reinen Formbegriff geben kann, sondern dass jeder „Formbegriff […] unter der Hand die Qualitäten eines Normbegriffs“³⁷ in sich trägt. Doch wie lässt sich dasjenige Moment fassen, in welchem Form- und Normbegriff sich notwendig für ihre Differenz unterscheiden? – Tillich konstatiert die Differenz beider Begriffe ausgehend von ihren je divergierenden „Denkvoraussetzung[en]“ und „Denkziel[en]“³⁸: Der Formbegriff wird herausgestellt unter Abstraktion von allem Konkreten. Der Normbegriff nimmt die ganze Fülle des Konkreten in sich auf, um an einem Punkt der Konkretheit selbst Fuß zu fassen. Dieser Punkt wird geschichtsphilosophisch bestimmt und eingereiht und dann als Erfüllung des allgemeinen Formbegriffs hingestellt.³⁹ Dieser Prozess schließt gleichsam eine willkürliche Ableitung des Normbegriffs aus.
Vielmehr gilt er als die Erfüllung des Formbegriffs, als welche er sich infolge der geschichtsphilosophisch-typologischen bzw. religionswissenschaftlichen Betrachtung der zahlreichen religiösen – christlichen wie außerchristlichen – Formbegriffe und deren Tendenz, auf die von Tillich aufgestellte, ideale Norm hinzustreben, erweist. Das Beurteilungskriterium wird dabei nicht von außen an die Geschichte angelegt, sondern es erwächst aus dem Geschichtsprozess selbst.
EN, Bd. XII, S. 358. Ebd. Ebd.
1.1 Kontext und Bedeutung der Religionsphilosophie für die Wahrheitsfrage
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Dieser lässt sich als ein Selbstbewertungsvorgang beschreiben, durch welchen die Geschichte⁴⁰ in Form einer vorwärts gerichteten Dynamik fortwährend zwischen der Gestaltung des Formbegriffs und dessen Streben auf eine ideale Norm (Religion des Paradox’) changiert.⁴¹ Der Zusammenhang zwischen Wesens- (bzw. Form‐) und Normbegriff und der Grund, warum Tillich im Rahmen seiner Religionsphilosophie beide zusammen entwickelt haben möchte, anstatt erst den Wesens- und dann den Normbegriff aufzustellen, lassen sich durch eine Analyse des reziproken Verhältnisses von Form- und Normbegriff plausibilisieren. So kann der Wesensbegriff als Wertmaßstab der idealen Norm betrachtet werden, der aus den in eine Wertreihe gebrachten geschichtlichen Gestalten erwächst, die auf diese ideale Norm hinstreben: „Diejenigen Gestalten sind am höchsten zu werten, die dem Wesensbegriff am nächsten stehen […]. Aber der Wesensbegriff ist darum doch nicht selbst der Normbegriff; denn zwischen beiden steht die geschichtliche Mannichfaltigkeit [sic!], die dem Normbegriff die Fülle seines Inhalts gibt.“⁴² Das Wesen von Religion als apriorische Denkkategorie wird von Tillich zunächst rein erkenntnistheoretisch-kritisch hergeleitet. Es avanciert zum Systemausgang seines Denkens und korrespondiert mit der Vorstellung des Religiösen als Prinzip der Erscheinungswelt. Religion als Prinzip pointiert den apriorischen Gehalt des Religiösen als Voraussetzung des Denkens überhaupt. Tillich greift hiermit auf eine Denkfigur zurück, die er bereits in seiner Systematischen Theologie (1913) unter idealistischer Prägung entwickelt hat. Bereits dort beschreibt er die Religion als eine bipolare Struktureinheit von „Prinzip“ und „Wirken“. Sie ist stets beides: „ein Bestimmtsein der Kultur und eine Tätigkeit der Kultur – Potentialität und Aktualität.“⁴³ Dieses „Bestimmtsein“ ist das der Religion zugrundeliegende Prinzip, welches seinerseits wiederum eine Einheit aus zwei polaren Momenten, dem „Freiheits- und Abhängigkeitsbewusstsein[…] dem Absoluten gegenüber“ enthält.⁴⁴ „Durch das Freiheitsbewußtsein bejaht der Geist sich und die sittlich gewertete Kultur dem Absoluten gegenüber. In dem Abhängigkeitsbewußtsein durchschaut der Geist die dialektische Nichtigkeit seiner selbständigen Existenz außer dem Absoluten.“⁴⁵ Das religiöse Prinzip drückt die absolute Bezogenheit des Menschen auf das Absolute aus, indem dieses als das Allumfassende affirmiert wird. Der Mensch erkennt, dass „[v]on ihm und durch ihn und
„Die Geschichte“ – formuliert als totum pro parte – meint hier die die Geschichte bildenden Prozesse bzw. Subjekte. Vgl. EN, Bd. XII, S. 359. Ebd. EN, Bd. IX, S. 299. Ebd. A.a.O., S. 299 – 300.
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zu ihm […] alle Dinge“⁴⁶ sind. Als übergeordnetes Prinzip der gesamten Geistesgeschichte wertet Tillich das religiöse Prinzip als den „konstante[n] Faktor“⁴⁷ des religionsgeschichtlichen Prozesses. Innerhalb der Religionsgeschichte, die Tillich als „das Leben der Freiheit in ihrer religiösen Erscheinungsform“ versteht, „schreitet das religiöse Prinzip entsprechend der Entwicklung der Freiheit, von einer Verbindung mit der Kultur und Sittlichkeit zur anderen“.⁴⁸ In jenem fortschreitenden Prozess entwickelt sich also nicht das Prinzip selbst, wohl aber dessen „Erfassung durch die Freiheit; denn sie ist abhängig von der bestimmten Stufe, auf der die Freiheit steht.“⁴⁹ Das religiöse Prinzip korrespondiert entsprechend dieser Beschreibung mit dem Wesens- bzw. Formbegriff von Religion. Es bildet die Konstante innerhalb des Geschichtsprozesses. Die Norm hingegen, die den Gültigkeitsanspruch in Richtung auf einen Idealzustand erhebt, ist stets Produkt des Eingehens des Wesensbegriffs in die konkrete Geschichte. Sie beschreibt also die je divergierende, kulturell gefärbte und folglich variierende Aufnahme des Wesensbegriffs vom religiösen Bewusstsein auf dem Boden einer bestimmten Religion. Wenn Tillich in der Religion des Paradox’ einen idealen Zustand von Religiosität beschreibt, so setzt dies voraus, dass im Begriff jener Idealreligion für Tillich eine ideale und damit normative Fassung des Religions- und Gottesbegriffs gegeben ist, „eine bestimmte Art des Verhältnisses von Freiheits- und Abhängigkeitsbewußtsein, von absolutem und persönlichem Moment im Gottesbegriff“⁵⁰, welche nach Tillich von absoluter Gültigkeit ist. Das Wesen von Religion⁵¹ ist also gleichzusetzen mit einem apriorischen Konzept von Gott (und dem Menschen im Verhältnis zu Gott), welches in seiner Verwirklichung innerhalb der Geschichte und damit in seiner konkreten Ausprägung innerhalb einer bestimmten Religion zur Norm bzw. Maxime erhoben wird und in der Idealreligion in vollkommener Gestalt erscheint.⁵² Im Umkehrschluss erfüllen diejenigen Religionen nicht den Vollkommenheitsanspruch, in denen das Freiheits- und Abhängigkeitsbewusstsein in einem Verhältnis erscheint, welches nicht dem Wesen von Religion entspricht, sondern depraviert ist.
A.a.O., S. 300. A.a.O., S. 301. Ebd. Ebd. Ebd. Auch: Form oder Prinzip von Religion (Vgl. religiöses Prinzip). Allerdings steht auch das apriorische Konzept als Denkkategorie nie außerhalb des geschichtlichen Zusammenhangs, auch wenn es dem Anspruch bzw. der Intention nach über das Konkrete erhaben ist.
1.1 Kontext und Bedeutung der Religionsphilosophie für die Wahrheitsfrage
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Wahr ist eine Religion also dann, wenn sie auf eine ideale Konstellation der in ihr enthaltenen Momente zustrebt. Diese ist verwirklicht in Christus. Als Beurteilungsmaßstab gilt Tillich jedoch stets die auf Basis einer Erkenntnistheorie gewonnene Wesensbeschreibung von Religion. Abstraktes Denken, die praktische Realität der religiösen Formen innerhalb der Geschichte sowie das Konstrukt einer religiösen Norm stehen in wechselhafter Beziehung zueinander: Der epistemologisch deduzierte Wesensbegriff (oder auch Formbegriff) von Religion gilt dem Normbegriff als Beurteilungsmaßstab, insofern als er mittels erkenntnistheoretischer Reflexion in Form von Denkkategorien eine Idee bzw. ein Ideal von Religion entwirft. Dieses Konzept ist jedoch nie unabhängig vom kulturell-geschichtlichen Kontext, in dem der Denkende steht. Folglich bedarf es einer deskriptiven Einordnung in den Kontext der Religionsgeschichte und muss es sich dem geschichtsphilosophischen Vergleich mit anderen, außerchristlichen religiösen Konzepten aussetzen lassen. Mittels dieser geschichtsphilosophischen Typisierung und Einordnung des religiösen Wesensbegriffs in den Kontext der Religionsgeschichte kann letztlich nicht nur auf denkerisch-abstrakter Ebene, sondern auch auf Basis eines konkreten empirischen Befundes die religiöse Norm als Bestätigung des formal entwickelten Religionsbegriffs interpretiert werden. Tillichs Vorgehen ist dabei insofern als problematisch einzuschätzen, als die geschichtsphilosophische Typisierung nicht objektiv bzw. unvoreingenommen erfolgt, sondern stets schon aus der Perspektive eines ganz spezifischen Wesensbegriffs von Religion. Dieser trägt – wie oben dargelegt – „unter der Hand“ die Inhalte des Normbegriffs in sich, ist also von diesem nie unabhängig, sondern steht mit ihm in einer korrelativen Beziehung. Da Tillich aus christlicher Perspektive und ausgehend von seiner eigenen religiösen Idealvorstellung her argumentiert, gibt es praktisch für die Beurteilung der außerchristlichen Religionen und dem aus der empirischen Betrachtung außerchristlicher Religionen sich ergebenden Urteil über deren Wahrheit oder Unwahrheit keine andere Alternative als sie in ihrer Eigendynamik in Richtung auf das christliche Ideal hin zu interpretieren. Welche Bedeutung lässt sich nun von dem Verhältnis zwischen Form- und Normbegriff auf die Beziehung der beiden unterschiedlichen Disziplinen der Religionsphilosophie und der Systematischen Theologie (bzw. Dogmatik) ableiten? Festzuhalten ist, dass sich dieses Verhältnis analog zum Verhältnis von Formund Normwissenschaft verhält. Die Aufgabe der Religionsphilosophie ist es, „die allgemeine religiöse Funktion und ihre Kategorien“⁵³ herauszuarbeiten, zu zeigen, „wie diese Funktion und ihre Kategorien unmittelbar übergehen in die Man-
EN, Bd. XII, S. 361.
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nichfaltigkeit [sic!] der religionsgeschichtlichen Entwicklung und […] wie diese Entwicklung in immanenter Dialektik hintreibt zu einem Ideal- oder Normbegriff der Religion.“⁵⁴ Dieser Normbegriff kann dabei als schöpferische Synthese des Formbegriffs und der konkreten geschichtlichen Situation verstanden werden: Erst, wenn der abstrakt-formale Wesensbegriff als ein vom Menschen in seiner Existenz erfahrener Gegenstand unbedingter Gültigkeit erlebt wird, kann er aus der konkreten Situation des Menschen heraus als Norm anerkannt werden. Er entwickelt sich also in einem schöpferisch-dynamischen Prozess, der aus der Reflexivität des Denkens auf sich selbst hervorgeht. In seiner Funktion als Gegenstand unbedingter Gültigkeit und Bedeutung für den Menschen erweist er sich schließlich als Erfüllung des Wesensbegriffs von Religion. Erfüllung bedeutet in diesem Zusammenhang die Verwirklichung des Wesensbegriffs im konkreten Selbst als einem geschichtlichen Ort. Unweigerlich damit verbunden ist die normative Direktive, die der Wesensbegriff in seiner existentiellen Bedeutung für den Menschen annimmt: Was als unbedingt Gültig erfahren wird, tritt automatisch mit dem Anspruch auf Verbindlichkeit auf. Die Bedeutung der Religionsphilosophie besteht – und dies geht aus den obigen Betrachtungen hervor – in der korrelativen Verzahnung mit der Theologie und enthält bereits jene Prämissen, die von Tillich erst in seiner Dresdner Dogmatik-Vorlesung (1925) und Systematischen Theologie (1958) ausgeführt werden. Sie stellt nicht nur den formalen Ausgangspunkt der Theologie dar, sondern ist auch immer schon deren Inhalt. Diese These wird u. a. dadurch gestützt, dass es nach Tillich in der Religionsphilosophie primär um das Gelten von Religion im kritischen Sinne geht und dieses Gelten sich nur konkret innerhalb der existentiellen Situation des Menschen, d. h. an einem konkreten historischen Ort und mittels einer Norm, die vom Menschen als unbedingt angehend empfunden wird, als wahre Geltung erweisen kann. Bereits die abstrakte Religionsphilosophie, die sich der methodischen Herleitung von Wesens- und Normbegriff von Religion verschreibt, legt also notwendig von einem konkreten Ort der Realisierung Zeugnis ab. Der auf ihrem Boden entwickelte Normbegriff wird anschließend zum Gegenstand der Theologie. Da also auch die Theologie auf das Engste mit der Religionsphilosophie verzahnt ist, wird sie von Tillich auch als normative Religionsphilosophie gedeutet: „Theologie ist normative Religionsphilosophie. […] Ein anderer Begriff von Theologie hat im System der Wissenschaften keinen Platz.“⁵⁵ Ebd. EN, Bd. XII, S. 360; Vgl. a.a.O., S. 522: Hier hält Tillich fest, dass die „Aufgabe [der Religionsphilosophie] deswegen von so großer Bedeutung [sei], weil ihr Resultat identisch ist mit dem Grundprincip der systematischen Theologie, die ja nichts anderes ist als normativ-gewandte explicite Religionsphilosophie.“
1.1 Kontext und Bedeutung der Religionsphilosophie für die Wahrheitsfrage
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Innerhalb dieser Arbeit soll die reziproke Beziehung von Religionsphilosophie und Theologie thematisch entfaltet und zum Ende hin erneut geprüft werden. Es wird dabei der These gefolgt, dass beide Disziplinen sich lediglich in ihrer begrifflich-formalen Ausgestaltung unterscheiden, inhaltlich jedoch denselben Prämissen unterliegen. Die korrelative Verzahnung von Religionsphilosophie, Geistesgeschichte der Religion und Theologie (Normwissenschaft) sowie die Unmöglichkeit, alle drei Disziplinen als linear aufeinander bezogen zu denken, äußert sich darin, dass Tillich selbst bezüglich der Abgrenzung Religionsphilosophie – Theologie nicht konsequent bleibt. Einerseits weist er auf die gegenseitige Wechselwirkung der beiden Disziplinen hin und erklärt, dass der Formbegriff „unter der Hand“ einen Normbegriff enthält (s.o.), die Religionsphilosophie den Wesensbegriff der Theologie also nicht nur formal entwickelt, sondern dieser bereits inhaltlich normativ geprägt ist. Andererseits basiere erst die Theologie auf einem normativen Standpunkt. Während letztere den Wesensbegriff der Religion nur liefere, werde dieser in der Theologie als Normbegriff durchgeführt, trete also (erst) hier mit dem Geltungsanspruch auf, „[…] ideales System zu sein […]“⁵⁶: Die Prolegomena und erst recht alle Religionsphilosophie können nur vom Anspruch reden. Das Christentum aber und die Dogmatik sagen als Ausdruck der Offenbarungserschütterung: Gott hat in der Offenbarungsgeschichte […] so zu uns gesprochen, daß damit ein Heilsweg gegeben ist, der sich selbst wie jeden Heilsweg erschüttert.⁵⁷
Tillich setzt damit voraus, dass der Geltungsanspruch erst dort erhoben werden darf, wo der Maßstab des Wesens von Religion (bzw. ihr Formbegriff) sich auch innerhalb der konkreten Wirklichkeit, also innerhalb der Geistesgeschichte bzw. Geschichtsphilosophie, als normativ gültig erwiesen hat. Denn erst dann trittt er als existentiell angehend auf. Es bleibt jedoch fraglich, wie die Religionsphilosophie – zwar in abstrakten Termini – formal den christlichen Wesensbegriff entwickeln soll, wenn sie sich außerhalb der Offenbarungskorrelation befindet. Meine These behauptet deshalb, dass sich die Bedeutung der Religionsphilosophie in ihrer Funktion als bloßer Inhaltsspender nicht erschöpft. Vielmehr normiert sie selbst diesen Inhalt und kann ihn nur unter der Prämisse des christologischen Anspruchs und der Verwurzelung im konkreten christlichen Standpunkt (theologischer Zirkel⁵⁸) überhaupt aufstellen. In der Dresdner Dogmatik-Vorlesung von 1925 heißt es: „Die religiöse Wirklichkeit erschließt sich nur
A.a.O., S. 361. EN, Bd. XIV, S. 51. Vgl. ST I, S. 16.
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1 Apriorischer Wahrheitsbegriff und Methode
dem Glauben. Er ist auch für die Religionsphilosophie Voraussetzung.“⁵⁹ Der normative Standpunkt ist also nicht nur für die Theologie, sondern auch für die Religionsphilosophie maßgeblich, weshalb die theologisch-christologischen Erkenntnisse von hoher Bedeutung für die religionsphilosophischen Erörterungen Tillichs sind – und umgekehrt. Die Erörterungen dieses Kapitels haben gezeigt, dass die Norm nie unter Absehung vom Konkreten entstehen kann. Sie bestätigt die formal und abstrakt deduzierten Gedanken über das Wesen von Religion (Formbegriff/Wesensbegriff), indem sie das Wesen geschichtlich (in der christlichen Religion) vorfindet und auch in allen außerchristlichen Religionen eine Dynamik hin zur idealen Norm verifiziert. Doch auch das kategoriale Konzept vom Wesen der Religion bzw. dem Ideal, nach dem jede Religion der Form nach streben sollte, erwächst nicht ahistorisch, sondern entstammt selbst wiederum einem (bereits deutungsimprägnierten) denkenden Bewusstsein. So entspricht die Aufstellung des Normbegriffs einem hermeneutischen Prozess, welcher unter neuen und variierenden geschichtlichen Eindrücken in der Begegnung mit gelebter Religion ein vom eigenen Vorwissen und von Vorurteilen vorgeprägtes Konzept bzw. eine ideale Vorstellung von Religion generiert. Diese ist jedoch kontingent und folglich der ständig sich ändernden Dynamik der Geschichte ausgesetzt. Konstanz kommt dabei jedoch dem religiösen Prinzip (abgesehen von dessen geschichtlicher Realisierung) zu, als es stets und unabhängig von jeder Erfahrung die Notwendigkeit der absoluten Bezogenheit des Bewusstseins auf das Absolute repräsentiert. Auch Georg Neugebauer hebt in seiner Dissertation Tillichs frühe Christologie⁶⁰ die Beziehung zwischen der Religionsphilosophie und dem christologischen Entwurf hervor, indem er der These nachspürt, dass die von Tillich in seiner RPVorlesung (1920) entwickelte Religion des Paradox’ wesentliche Züge der Christologie und Pneuma-Theologie aufweise. Es wird hier also intendiert, dass Tillichs christozentrischer Ansatz bereits in seiner Religionsphilosophie, in Richtung auf den Geltungs- und damit Wahrheitsanspruch⁶¹ durchgeführt wird und die Religion des Paradox’ wesentliche Merkmale des Christentums (vornehmlich im Kreuzessymbol repräsentiert) aufweise. Danz stellt in seinem Aufsatz Alle Linien gipfeln in der Religion des Paradox die These auf, „[…] dass die von Tillich vorgenommene religionsgeschichtliche Konstruktion der Religionsphilosophie die Intention hat, den religionsgeschichtli-
EN, Bd. XIV, S. 14. Neugebauer, G., Tillichs frühe Christologie, S. 330. Vgl. Kapitel 1.2.3 im Hinblick auf den Zusammenhang von Geltung und Wahrheit.
1.2 Konzeption und Wesen der Religionsphilosophie
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chen Standort der theologischen Dogmatik zu reflektieren.“⁶² Auch hier wird also eine wechselseitige Abhängigkeit suggeriert, die vor allem die Bedeutung der Religionsphilosophie für die theologischen Erörterungen akzentuiert. Die Religionsphilosophie stellt als „Standort“ der Theologie eine zentrale Basis dar, die vor allem aus den Konstitutionsbedingungen von Denken, Sein und Wahrheit und deren gegenseitigen Wechselverhältnissen, kurz, der Erkenntnistheorie erwächst. Im Folgenden sollen das Wesen und die Konzeption der Religionsphilosophie Tillichs ausgehend von seiner RP-Vorlesung (1920), dem System der Wissenschaften (1923) und dem Systementwurf von 1925 ergründet werden.
1.2 Konzeption und Wesen der Religionsphilosophie In diesem Kapitel sollen der Aufbau, die Ziele und die Aufgaben des religionsphilosophischen Konzepts Tillichs dargestellt und das Wesen der Religionsphilosophie ergründet werden. Dazu wird zunächst auf den Entstehungskontext der Religionsphilosophie eingegangen und ihr Hauptprogramm vorgestellt. Im Anschluss wird dann der Aufbau der RP-Vorlesung dargestellt. In diesem Zusammenhang wird das religionsphilosophische Konzept Tillichs im Hinblick auf das ihm zugrundeliegende Wahrheitsverständnis befragt und analysiert. Vertiefende Hintergründe, die den philosophischen Einfluss und Hintergrund von Tillichs Denken abbilden, werden exkurshaft dargestellt. Auch der Systementwurf der Religionsphilosophie (1925) wird anschließend aus jeder Perspektive betrachtet und mit dem Wahrheitskonzept der RP-Vorlesung verglichen. Da diese auf geltungsphilosophischen Grundlagen basiert und Tillich die Geltungsfrage mit der Wahrheitsfrage gleichsetzt, wird in Kapitel 1.2.3 zusätzlich die geltungsphilosophische Grundlegung der Religionsphilosophie erörtert werden. Korrespondierend dazu wird in Kapitel 1.2.4 der Einfluss von Tillichs Sinntheorie auf die Systemkonzeption dargestellt werden, deren Rezeption Tillich bereits während des Ersten Weltkriegs dazu veranlasst, seinen Systemanfang zu reformulieren. Da diese Neuformulierung nicht ohne Auswirkungen auf Tillichs Systemkonzeption der 20er Jahre bleibt und vor allem die Religionsphilosophie von 1925 grundlegend vor diesem neuen philosophischen Hintergrund zu verstehen ist, bildet die Sinntheorie eine zentrale Weichenstellung zum Verständnis der Genese von Tillichs Wahrheitsverständnis. Danz, C., Alle Linien gipfeln in der Religion des Paradox’. Tillichs religionsgeschichtliche Konstruktion der Religionsphilosophie, in: Danz, C., Schüßler, W. (Hrsg.), Religion – Kultur – Gesellschaft: Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (1919 – 1929) (Tillich-Studien, Bd. 20), Berlin; Wien 2008, S. 216.
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1 Apriorischer Wahrheitsbegriff und Methode
1.2.1 Die werkhistorische Genese der Religionsphilosophie Die RP-Vorlesung, die Tillich im Sommersemester 1920 an der Friedrich-WilhelmsUniversität zu Berlin gehalten hat, unterscheidet sich bezüglich ihres Aufbaus und ihrer zentralen Aufgaben bedeutend von dem Systementwurf von 1925. Dies lässt sich vor allem als Ausdruck einer Weiterentwicklung von Tillichs Denken aufgrund einer zeithistorischen Relevanz verstehen: Die vormals erkenntnistheoretische Motivation Tillichs, dem Wahrheitswert⁶³ der Religion mittels einer kritischen, geltungsphilosophischen Bewusstseinsanalyse gerecht zu werden und mithilfe des Religionsbegriffs die durch diesen affizierte Einheitsfunktion des Bewusstseins zu demonstrieren, weicht nun einer sinntheoretischen Fassung des Religionsbegriffs. Diese wird in der Vorlesung zwar nur schemenhaft umrissen, findet jedoch bereits unmittelbar nach Ende des Ersten Weltkriegs in Tillichs Neuformulierung des Religionsbegriffs Eingang ins System. In diesem Kapitel soll die werkhistorische Genese des Tillichschen Oeuvres skizziert und dessen Wandel und einschlägige Tendenzen von 1911 bis in die 1920er Jahre nachvollzogen werden. Dabei werden bestimmte Inhalte und Problemhorizonte (wie z. B. die Sinntheorie) bereits angerissen, die in nachfolgenden Kapiteln intensiver problematisiert und vertieft werden. Der Briefwechsel zwischen Tillich und Hirsch aus den Jahren 1917 und 1918 legt Zeugnis von Tillichs Umorientierung ab. Dort kommt es im Zuge einer Neuinterpretation des „Rechtfertigungsgedankens“⁶⁴ zur sinntheoretischen Vertiefung desselben. Als Grundlage dient Tillich die Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Philosophie, die vor allem vor dem Hintergrund eines bald zu realisierenden „‚Systems der Wissenschaftenʼ“⁶⁵ eingehend von ihm rezipiert worden war. Folglich lässt sich von 1920 bis zum Systementwurf der Religionsphilosophie im Jahre 1925 zwar keine systemrevidierende Wandlung feststellen, allerdings kommt es zu Neuformulierungen, durch die der Religionsbegriff (gegenüber der Vorlesung) weiterentwickelt wird. Eine drastischere Veränderung im Denken Tillichs kann allerdings in Bezug auf seine wissenschaftliche Tätigkeit vor dem Kriegsdienst und in den Lehrjahren nach Kriegsende vermerkt werden: Während Tillich sowohl in seiner philosophi-
Vgl. Ausführungen zu den Begriffen Wahrheits- und Geltungswert in Kapitel 1.2.3. Tillich, P., Briefwechsel Tillich – E. Hirsch (Religionsphilosophische Debatte), in: Albrecht R., Tautmann, R. (Hrsg.), Paul Tillich. Briefwechsel und Streitschriften. Theologische, philosophische und politische Stellungnahmen und Gespräche (Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, Bd.VI), S. 97. A.a.O., S. 99.
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schen Promotion ⁶⁶ (1910) als auch in der ST (1913) den spekulativen Substanzbegriff ⁶⁷ der Religion und damit einhergehend die Unterscheidung zwischen Religion als Prinzip⁶⁸ und aktueller Religion als substanter religiöser Beziehung hervorhebt, welche auf die Unterscheidung von Religion und Kultur zielt (vor allem in der ST von 1913 expliziert), zeugen die Äußerungen Tillichs im Hinblick auf den Religionsbegriff nach Kriegsende von einer neuen Perspektive: Mit Hilfe der Sinntheorie und geprägt durch die nach zweijähriger Lehrpause⁶⁹ wiederaufgenommene Lektüre der „moderne[n] Philosophie“⁷⁰ präzisiert Tillich den Religionsbegriff, indem er Religion nun als eine Haltung beschreibt, die auf den „unbedingten Sinn, den Sinngehalt“⁷¹ gerichtet ist. Während seine frühe Religionsphilosophie im System von 1913 noch im Absoluten als einem das System fundierenden Apriori gründet, was mit dem religiösen Prinzip zum Ausdruck gebracht wird, avanciert in den 20er Jahren das Sinnbewusstsein des Menschen zum entscheidenden Systemanfang. Zwar unterscheidet Tillich in der ST (1913) bereits zwischen dem Standpunkt der Intuition, welcher eine Einheit des Denkens und der Wahrheit im Absoluten
Tillich, P., Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, S. 154. Der Substanzbegriff von Religion bezeichnet die Qualität der Funktion „Religion“, indem er sich als das den Menschen Fundierende, Tragende erweist. Die Substanz ist dasjenige Wirklichkeitsmoment, in dem der Mensch als Ganzer wurzelt und folglich grundsätzlich aufgehoben ist. Insofern korreliert der Begriff der Substanz mit dem Unbedingten. Nähere Ausführungen zum Religiösen Prinzip in Abgrenzung zu aktueller Religion folgen in diesem Kapitel. Vgl., Tillich, P., Briefwechsel Tillich – E. Hirsch (Religionsphilosophische Debatte), in: Albrecht, R. (Hrsg.) Paul Tillich. Briefwechsel und Streitschriften. Theologische, philosophische Stellungnahmen und Gespräche (Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, Bd. VI), Stuttgart 1983, S. 95. A.a.O., S. 98 – 99: Tillich berichtet seinem Freund Emanuel Hirsch in einem Brief vom Dezember 1917 von seiner zweijährigen Lehrpause und nennt die Lektüre, die er nun, mit erwachendem Eifer, zur Kenntnis genommen hat. Dort heißt es: „Ich habe seit August dieses Jahres wieder angefangen zu arbeiten, also nach zwei Jahren völligen Ruhens. […] So habe ich begonnen, meine größte Lücke auszufüllen, und habe die moderne Philosophie energisch in Angriff genommen. […] Am lebhaftesten interessiert mich die von Husserl begründete phänomenologische Schule […]. Daneben hat mich auch Simmel in manchem gepackt, Rickert in seinem ̔Gegenstand der Erkenntnisʼ usw. Am energischsten habe ich mich auf die Logik geworfen, Husserl, Lotze, Siegwart, Windelband, Lask. Als neue Wissenschaft habe ich die Ästhetik kennen gelernt, in dicken Bänden von Hartmann, Lipps etc. Augenblicklich bin ich bei der 1600seitigen Psychologie von Ebbinghaus […]. An Kollegs habe ich angekündigt: S. S. 17 Geschichte der Religionsphilosophie von Kant bis zur Gegenwart. W. S. 17/18 Einleitung in die Theologie und Religionswissenschaft. S. S. 18 Geschichte der Dogmatik seit 1750 (4stündig), Religionsphilosophie und Ästhetik (1stdg. publ.).“ A.a.O., S. 98. EN, Bd. XII, S. 320.
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bezeichnet, und dem Standpunkt der Reflexion bzw. der Konkretion, auf welchem der Widerspruch herrscht. Er „zerstört die Einheit des absoluten Systems.Weil das einzelne [sic!] sich dem Absoluten entgegenstellt, hebt es die Identität von Absolutem und Relativem, Wahrheit und Denken auf; dadurch wird das Absolute dem einzelnen [sic!] gegenüber etwas Fremdes, Abstraktes, das kein Verhältnis hat zum Konkreten.“⁷² Im theologischen Prinzip ist die Trennung beider Momente (des absoluten und des relativen) aufgehoben, indem es „die Einheit des Absoluten mit einem bestimmten Relativen“⁷³ bedeutet. Dennoch geht Tillich – trotz der Unterscheidung dieser einzelnen Systemkomponenten – im frühen System davon aus, dass das Absolute sich in die Sphäre der Relativität herablässt, um diese über sich selbst hinauszuführen. Dieser Prozess des sich in die Sphäre der Relativität herablassenden Absoluten wird gleichsam zur Voraussetzung der Systemkonzeption erhoben und als vom Absoluten selbst ausgehend gedacht. In den 20er Jahren hingegen wird im Systemanfang betont, dass die religiöse Korrelation im Bewusstsein der Trennung des Menschen von seinem absoluten Sinngrund aktuell wird. Im Sinnbegriff werden deshalb das religiöse Prinzip, in dem Wahrheit sich durch das Eingehen des Absoluten in das Relative realisiert, und das Moment des religiösen Vollzugs miteinander vereint. Im Zentrum von Tillichs Denken steht demnach nun die Tatsache, dass sich Wahrheit nur im religiösen Vollzug als ein (Sinn‐)Erlebnis des Menschen realisiert. Dieses Sinnerlebnis wird als absolutes Realitätserlebnis beschrieben. Ein unabhängig von diesem Vollzug existierendes Absolutes wird von Tillich auch hier nicht in Betracht gezogen. Der Fokus wird also stärker auf das subjektive Moment gerichtet, wobei dies nicht bedeutet, dass das Moment des Absoluten dadurch negiert wird. Der Sinnbegriff beleuchtet einen anderen Part des Systems, bedeutet jedoch keine Negation und prinzipientheoretische Reformulierung des früheren Systems Tillichs. Um diese These zu präzisieren, soll im Folgenden das sog. religiöse Prinzip näher betrachtet werden, auf dem das 1913er System aufbaut. Anschließend wird nachgewiesen, dass dieses Prinzip auch im späteren sinntheoretischen System noch aktuell ist. In seiner philosophischen Dissertation bezeichnet Tillich dieses noch als „[d]ie reine Substanz des menschlichen Bewußtseins[, bzw.] […] das natura sua Gott Setzende.“⁷⁴ Dies ist jedoch nicht so zu verstehen, als würde das Bewusstsein Gott Tillich, P., Systematische Theologie (1913), in: Hummel, G., Lax D. (Hrsg.), Paul Tillich. Frühe Werke (Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, Bd. IX, S. 307. A.a.O., S. 317. EN, Bd. IX, S. 235.
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als ein Produkt des Geistes setzen, sondern mit dem religiösen Prinzip wird ein Verhältnis Gottes zu sich selbst beschrieben, weshalb „das menschliche Bewußtsein […] in einem realen, substantiellen Verhältnis zu Gott“⁷⁵ steht. Gleichzeitig kann das Verhältnis Gottes und des Menschen als real eingestuft werden, „weil es auf der Gemeinschaft des Seienden […] mit dem beruht, der das Seiende ist. Das religiöse Verhältnis in seiner Wesentlichkeit ist ein innergöttliches Verhältnis Gottes zu sich als Natur. Darum ist es durchaus real, substantiell.“⁷⁶ Die Setzung Gottes durch das Bewusstsein kann folglich als ein durch Gott bewirkter Setzungsakt interpretiert werden, durch den Gott sich realisiert, indem er zur Aktualität im Bewusstsein kommt. Gleichzeitig enthält Religion als Prinzip noch kein emanzipatorisches Moment des Seins gegenüber dem Absoluten: Insofern die Religion Prinzip ist, enthält sie die Einheit des Freiheits- und Abhängigkeitsbewußtseins dem Absoluten gegenüber. Durch das Freiheitsbewußtsein bejaht der Geist sich und die sittlich gewertete Kultur dem Absoluten gegenüber. In dem Abhängigkeitsbewußtsein durchschaut der Geist die dialektische Nichtigkeit seiner selbständigen Existenz außer dem Absoluten. […] Von ihm [dem religiösen Prinzip] und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge […].⁷⁷
Das religiöse Prinzip weist folglich auf die prinzipielle Einheit des menschlichen Bewusstseins mit dem Absoluten hin. Deshalb wird auch plausibel, dass es den „konstante[n] Faktor der Religionsgeschichte“⁷⁸ bezeichnet. Denn das religiöse Prinzip bildet die immerwährende, unwandelbare Substanz, in der das sich ständig neu aktualisierende Wahrheits- und Sinnbewusstsein des Menschen fundiert ist. Das religiöse Prinzip ist bereits in Tillichs ST (1913) entwickelt worden und fungiert dort als Konstituens der das Gesamtsystem bildenden drei sich in einem reziproken Konstitutionsverhältnis zueinander befindlichen und damit wechselhaft aufeinander bezogenen Momente: dem absoluten Standpunkt oder der Intuition, dem relativen Standpunkt oder der Reflexion und dem theologischen Standpunkt oder dem Paradox. Die Reziprozität besteht darin, dass jedes der Momente zu jeder Zeit die anderen beiden Momente mit voraussetzt und sich alle
Ebd. A.a.O., S. 239. A.a.O., S. 299 – 300. Vgl. a.a.O., S. 297: Das religiöse Prinzip als die substantielle Grundalge und als Fundament der Gottesbeziehung wird von Tillich auch wie folgt beschrieben: „Die Religion als Prinzip, als substantielle Gebundenheit der Freiheit an die absolute Wahrheit ist etwas gewissermaßen Punktuelles, jeder Aktualität und Breite Enthobenes, absolute Innerlichkeit.“ A.a.O., S. 301.
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drei Systemkomponenten folglich zu einer spannungsvollen Einheit aufgliedern. Ziel des religiösen Paradox‘ ist die Rückführung des relativen Standpunktes in den absoluten und die Herstellung einer nunmehr bewussten, paradoxen Einheit, die sich im theologischen Standpunkt erfüllt.⁷⁹ Das Paradoxe bestehet in der widersprüchlichen Konstitution und Einheit des absoluten und relativen Moments, indem sich beide so einander gegenüberstehen, „[…] daß der relative von dem absoluten zugleich getragen und zerstört wird; dieser Widerspruch verlangt um der Absolutheit des absoluten Standpunkt willen eine Überwindung […].“⁸⁰ Getragen wird der relative Standpunkt vom Absoluten in seiner Richtung auf das Absolute und dessen Affirmation. Zerstört wird er, indem er sich vom absoluten Moment abspaltet und sich selbst in seiner Autonomie gegenüber dem Absolut unbedingte Gültigkeit zuspricht. Um eine Überwindung dieser gegensätzlichen Spannung von absolutem und relativem Moment in der Synthese des religiösen Prinzips herbeizuführen, ist in diese spannungsvolle Einheit noch ein drittes Moment integriert. In ihm ist „[…] das theologische Prinzip als aufgehoben gesetzt […] aber so, daß die Aufhebung nicht als vollendete, sondern als zu geschehende zu fassen ist.“⁸¹ Hiermit ist gleichsam eine eschatologische Perspektive intendiert: Die ideale Synthese kann in der Geschichte nicht in Form einer absoluten Religion⁸² zur Verwirklichung
Korrespondierend zum absoluten, relativen und theologischen Moment, welche das System Tillichs in drei miteinander verzahnte Teile aufspannen, beinhaltet auch der theologische Standpunkt wiederum drei Momente, die Tillich als abstraktes (Rechtfertigung), konkretes (Jesus Christus) und absolutes Moment (die Vollendung) bezeichnet. Vgl. Dienstbeck, S., Transzendentale Strukturtheorie, S. 127: Dienstbeck bringt deutlich zum Ausdruck, dass das sich aus den drei Momenten konstituierende System eine spannungsvolle Einheit bildet. Die „Momententrias von abstrakt, konkret und absolut […] [kennzeichnet dabei] das System immer ob der Irreduzibilität der differenten Pole als ein in Spannung befindliches […] und [wehrt] damit einerseits dem Anheimfallen an einen einzelnen Pol des Systems ab wie auch andererseits der Konzeption einer ‚Philosophie der Mitte’ […]. Tatsächlich fasst das System nur als gespanntes, das im Oszillieren zwischen den verschiedenen Polen, wie es gerade im dritten Moment ansichtig wird, seinen Bestand hat und seine Lebendigkeit gewinnt.“ EN, Bd. IX, S. 314. A.a.O., S. 317. Vgl. Hegel, G.W.F., Vorlesungen über die Philosophie der Religion II. Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes (Georg Wilhelm Friedrich Hegel Werke, Bd. 17), Frankfurt am Main 1969, S. 187: Nach Hegel realisiert sich Gott vollkommen in der Geschichte, sodass er nicht nur „an sich das Bewusstsein Gottes ist, sondern auch für sich, indem es seine Identität mit Gott weiß, eine Identität, die aber vermittelt ist durch die Negation der Endlichkeit.“ Im absoluten Bewusstsein kommt Gott gleichsam zu sich selbst, indem er mit sich selbst identisch und somit „Geist“ ist. Als vollendete Religion bezeichnet er auch den „sich objektiv gewordene[n] Begriff.“.
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kommen, sondern immer nur zu erstrebende Norm bleiben. Dieses dritte Moment ist im theologischen Standpunkt zum Ausdruck gebracht. Er bezeichnet die nach vorn gerichtete, dynamische Lebendigkeit des religiösen Prinzips, indem er ein „Moment der Selbstaufhebung“ enthält und die Rückführung von abstraktem und konkretem Moment zum absoluten Standpunkt vollzieht.⁸³ Es ergibt sich also für den theologischen Standpunkt, dass das Relative „auf dem Boden der Reflexion […] zum Absoluten […]“⁸⁴ zurückkehrt, aber so, dass diese Rückführung immer auch zu erstrebendes Ideal bleibt. Die durch diesen Prozess beschriebene Vollendung ist folglich durch das Moment der Selbstaufhebung einerseits ermöglicht und andererseits notwendig als fortwährende Überwindung in Aussicht gestellt. In der Vorlesung Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart, die Tillich im Sommersemester 1919 an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin gehalten hat, greift er die Bestimmungen über das theologische Prinzip wieder auf. Dort spricht er ihm universalen Anspruch zu: „Ich möchte dieses Prinzip, das einerseits auf dem Boden des Christentums erwachsen ist, andererseits Anspruch darauf macht, Erfüllung der religiösen Idee überhaupt zu sein, theologisches Prinzip nennen.“⁸⁵ Auch hier akzentuiert Tillich die „Einheit […] des normativ-Allgemeingültigen mit dem lebendig-Konkreten“ im theologischen Prinzip. Ausgehend vom theologischen Standpunkt vereinigt das theologische Prinzip absolutes, relatives und unendliches Moment. Vom Standpunkt des Bewusstseins aus erscheinen diese Momente als abstrakt, konkret und ideal. Wesentliches Charakteristikum des theologischen Prinzips ist es, sich „auch über die Totalität der Dinge, das heißt über das philosophische Prinzip“ – welches auf die Erfassung der Totalität der Dinge gerichtet ist – zu erheben. Es ist ihm deshalb überlegen, da es nicht die Einheit der einzelnen Sinnzusammenhänge darstellt, sondern eine Schicht tiefer greift, den Sinn schlechthin erfassen möchte. Dieser „Sinn schlechthin“ ist die den Dingen innewohnende transzendente Tiefe, ihr überzeitliches, absolutes Sein, welches im Absoluten fundiert ist. Die Totalität der Dinge ist im religiösen Prinzip (als ein Teil) mit gesetzt. Folglich sind beide Konstanten nicht miteinander identisch, sondern stehen in einem Teil-Ganzes-
Die Objektivität besteht darin, dass „den Menschen kundgetan [hat], was er ist, und nicht bloß in einer äußerlichen Geschichte, sondern im Bewußtsein.“ EN, Bd. IX, S. 327. A.a.O., S. 328. Tillich, P., Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart (1919), in: Sturm, E., Paul Tillich. Berliner Vorlesungen I (1919 – 1920) (Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, Bd. XII), Berlin; New York 2001, S. 40.
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Verhältnis zueinander, wobei Letzteres Ersteres transzendiert. Somit kann es „bezeichnet werden als das Überseiende“.⁸⁶ Dieses „Über“ möchte Tillich jedoch nicht supranatural bzw. logisch verstanden wissen, wodurch es lediglich zu einem „schlechten Supranaturalismus“ degradiert würde.Vielmehr handelt es sich dabei um ein „Symbol für ein in keine Kategorie faßbares Erlebnis.“⁸⁷ Supranaturalistisch gedeutet – dies führt Tillich bereits im Briefwechsel mit Hirsch an – ließe sich das „Supra“, gefasst als „Negation“ bzw. als „non-A“, entweder als „inhaltslos“ oder wiederum naturalistisch⁸⁸ explizieren. Inhaltlos wäre es, wenn „A die Totalität des Immanenten“ darstellte, denn das Transzendente könnte sich im Gegenzug nur als Nicht-Immanent erweisen, bliebe jedoch inhaltlich unbestimmt. Um dem „Supra“ eine Bestimmung zu geben, müsste jedoch wiederum auf immanente Kategorien rekurriert werden, was ebenso ad absurdum führen würde: [E]inen Inhalt gewinnt es nur durch die Anleihe des von ihm negierten A; dadurch wird es nun entweder ein verblaßtes Abbild von A (die transzendente Welt), oder es wird selbst ein Teil von A durch Eingehen in die Gesetze der Immanenz (Wunder–Inspiration–Offenbarung) oder es wird eine Beurteilungsform von A (Gott – die Welt als Unbedingtes betrachtet).⁸⁹
Im ersten Fall wäre das Transzendente folglich als Produkt einer Projektion, als ein aus dem Material der Endlichkeit mit den Mitteln dieser Endlichkeit konstruierendes Postulat zu verstehen – und zwar als das Gegenteil dessen, was die Welt, das Sein, die Existenz charakterisiert. Damit käme dem Transzendenten jedoch kein von den immanenten Kategorien unabhängiger Wert zu. Denn das, was das Transzendente sein soll, erschließt sich auf diese Weise nur durch Negation dessen, was in Raum und Zeit existiert. Und damit ist es von dieser Existenz (auch in seiner Negation) abhängig. Im zweiten Fall spricht Tillich eine direkte Abhängigkeit der Transzendenz von der Welt an, die durch die Vorstellung geprägt ist, dass das Absolute sich ganz (im Sinne eines Pantheismus) in die Immanenz begibt und vollkommen in ihr aufgeht, ohne jedoch seine Transzendenz zu wahren. Dies sei jedoch nicht möglich: Denn dabei verlöre Gott sich in der Welt, würde selbst zu einem Teil von ihr, ohne seine Erhabenheit (majestas ⁹⁰) zu
A.a.O., S. 46. Ebd. Naturalistisch bezieht sich in diesem Zusammenhang das Empirische, Wirkliche, welches Bestandteil der Immanenz ist. EN, Bd. VI, S. 115 – 116. Vgl. Otto, R., Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 1963, Nachdruck 2004, S. 22 fff.
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wahren – so wäre Gott ein Götze oder Dämon. Auch die letzte auf der Basis eines Supranaturalismus mögliche Alternative bleibt unbefriedigend, da der Prozess des Transzendierens Gott als „Beurteilungsform von A“ erscheinen ließe und alles Seiende folglich als Widerschein dieses Gottes erachtet werden würde. In allen Fällen wäre das „Supra“ lediglich als eine Kategorie der Immanenz zu verstehen und würde damit seine Funktion, Erlösung bzw. Heil zu bringen, einbüßen und ins Dämonische depravieren. Tillich distanziert sich von diesen Ansätzen, indem er sich mit der Formulierung „Supra“ darauf beruft, dass „[d]er Gegenstand des religiösen Realitätsgefühls […] überhaupt kein Gegenstand neben oder anderen [ist], sondern er ist ein Sinn, den die Dinge dem religiösen Bewußtsein offenbaren, der Sinn daß sie auf Grund ihrer schlechthinnigen Negativität hinführen zu einer schlechthinnigen Realität.“⁹¹ Der Widerspruch, dass das Unbedingte einerseits nicht positiv gefasst werden kann, andererseits jedoch auch kein reines Produkt des menschlichen Bewusstseins ist, darf nach Tillich nicht aufzulösen gesucht werden, da er „[…] die Sache selbst [sei]: die paradoxe Einheit des negativen und positiven Moments im religiösen Erlebnis.“ Mit paradox möchte er dabei zum Ausdruck bringen, dass „[…] das schlechthin Negative und das schlechthin Positive in Eins gedacht werden müssen […].“⁹² Aus religionsphilosophischer Sicht geschlussfolgert, bedeutet dies, dass das theologische Prinzip auf einer Einheit von Denken und Sein beruht, so, dass das Denken sich gegenüber dem Sein in seiner Erkenntnisfunktion verneint und in dieser Negation gleichsam bejaht, indem es sich auf das Unbedingte hin transzendiert. Das Denken fungiert also selbst als ein Seiendes, indem es sich gegenüber dem Sein in seiner Funktionalität bestimmt und damit wesentlich Geist ist. Gleichzeitig erkennt es seine nur relative Funktion gegenüber dem Absoluten und ist durch diese (Selbst‐)bestimmung vom Standpunkt des Absoluten aus bejaht. Das theologische Prinzip kann also bezeichnet werden als die Stellung des Bewusstseins zum Absoluten in seinen drei verschiedenen Momenten und gleichsam als die Fundierung des relativen im absoluten Moment bzw. dessen Rückkehr zum Absoluten. In letzterer Bestimmung besteht gleichzeitig die Wahrheit des theologischen Prinzips. Das religiöse Prinzip beschreibt also die substantielle Einheit des menschlichen Bewusstseins mit dem Absoluten in einer spannungsvollen und widersprüchlichen Dynamik verschiedener Standpunkte und zielt damit auf die intuitive Einheit von Gott und Mensch. Nach dem Ersten Weltkrieg ist eine Weiterentwicklung von Tillichs prinzipientheoretischem Denken zu konstatieren. Diese besteht vorwiegend in der Inte-
EN, Bd. XII, S. 46. A.a.O., S. 47.
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gration eines aktuellen Moments in das Religionsverständnis, das eine Vorrangstellung einnimmt. Da Religion stets „zugleich Prinzip und Wirken“⁹³ ist, bilden sowohl das religiöse Prinzip, als auch ein aktuelles Moment ihre beiden Konstituenten. Die Darstellung der Religion in ihrem aktuellen Moment wiederum impliziert, dass sich die Einheit des Bewusstseins nur durch eine der drei Geistesfunktionen Denken, Handeln oder Fühlen realisieren kann und so erst im religiösen Vollzug zur Realität kommt.⁹⁴ Folglich realisiert sich Wahrheit immer im menschlichen Tun; die Vorstellung einer dem Menschen gegenüber jenseitigen bzw. externen Sphäre des Transzendenten, zu welcher der Mensch in einem praktischen Verhältnis stehen kann, ist unter dieser Voraussetzung nicht vertretbar.⁹⁵ Die Aktualität der religiösen Funktion eröffnet die Möglichkeit, das Denken über das Gegebene zu erheben, Sinngebung und Wertvorstellungen zu produzieren sowie die „unbedingte Forderung“ aufzustellen, die in der „Negation der gegenwärtigen Wirklichkeit zu Gunsten einer kommenden als ideal vorgestellten Formung“ besteht.⁹⁶ Das schöpferische Moment ist an die Aktualität des Religiösen gebunden und gleichzeitig Signum seiner Freiheit. Das religiöse Prinzip ohne die Vereinigung mit der Vorstellung von Religion als Aktualität wird von Tillich auch als freilich ahistorischer Zustand der reinen Identität beschrieben. Das heißt, „[i]n dem ursprünglichen, substantiellen Zustand des Bewußtseins kann freilich von einem aktuellen Verhältnis der Geistesfunktionen nicht geredet werden.“⁹⁷ Anknüpfend an die Reformulierung der Systemkonzeption wird entsprechend in den 1920er Jahren der Systemausgang nicht mehr vom intuitiven Einheitsmoment her konzipiert, sondern am Anfang steht die Frage des Menschen nach einem Sinn infolge einer Sinn-Krise. Die Fragwürdigkeit der eigenen als fragil empfundenen Existenz setzt jedoch einen Vollzugsakt, ein Tun des Menschen voraus, der sein eigenes Sein infrage stellt. Das religiöse Prinzip kann dem Menschen nur in Form von aktueller Religiosität gegenwärtig werden oder, wie Danz es formuliert: „Der Gedanke des Absoluten, der für das System von 1913
A.a.O., S. 299. Vgl. a.a.O., S. 297: Religion als Aktualität wird von Tillich auch wie folgt definiert: „Die Religion als Aktualität ergibt eine Bestimmtheit sämtlicher psychischer Funktionen, eben die spezifisch religiöse Bestimmtheit: ein Denken, Fühlen und Handeln, das sich auf Gott richtet, ohne dieses ist keine Religion lebendig; und doch wird dadurch die Religion hineingezogen in die übrigen Bestimmtheiten des Geistes, ein Stück Kultur.“ Im Vollzug der Religiosität tritt der Mensch nicht mit dem Absoluten als einer externen Realität in Kontakt, sondern mit dem von ihm im Glaubensakt errichteten Objektivationen Gottes. EN, Bd. XII, S. 525. EN, Bd. IX, S. 241.
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noch den Ausgangspunkt bildete, wird nun von Tillich in den Vollzug der Religion selbst gelegt.“ Die Sinntheorie avanciert zum Systemausgang. Sinn wiederum habe „nur Berechtigung als vom Konkreten rezipierter“⁹⁸ und könne demnach „ausschließlich und notwendig nur in Form seiner Realisierung im Konkreten“ gedacht werden.⁹⁹ Das Moment der Konkretion birgt jedoch die Vorstellung einer gebrochenen Einheit von Gott und Mensch; dort, wo das Bewusstsein der Vermittlung bedarf, die durch den Sinnbegriff hergestellt wird, ist es bereits aus der intuitiven, absoluten Identität mit dem Unbedingten herausgetreten. Sinn kann folglich auch als Vermittlungskategorie interpretiert werden. Die vermittelnde Instanz wird dabei jedoch nicht mehr als Selbstbewegung Gottes gedacht, sondern die religiöse Beziehung wird ausgehend vom Sinnbewusstsein, genauer, dem Bewusstsein einer Sinnnotwendigkeit bzw. Sinnbedürftigkeit des Menschen initiiert, der nur eigenmächtig und aus seiner konkreten existentiellen Situation heraus so nach Gott fragen kann, dass die aus der religiösen Tradition gegebenen Antworten Gottes auch als sinnvoll rezipiert werden können. Während Tillich im Jahre 1923 im System der Wissenschaften die Sinntheorie innerhalb der Darstellung der Geisteswissenschaften systematisch umsetzt, fallen die Abschnitte in der RP-Vorlesung, in denen Sinn als Erlebniskategorie behandelt wird, deutlich überschaubarer aus als im Systementwurf, im System der Wissenschaften und in Tillichs Schriften von 1919, wie zum Beispiel Rechtfertigung und Zweifel ¹⁰⁰. So beschreibt Tillich zum Beispiel im Zuge seiner Methodenkritik, die darauf zielt, den Religionsbegriff zu entwickeln, die Religion als „allgemeingültige und notwendige Funktion der unbedingten Realitätsbeziehung“¹⁰¹, welche in der RP-Vorlesung einer doppelten Begründung zugeführt wird: Einerseits sei der kritische Nachweis erbracht, dass die Religion „zur Synthesis des Bewußtseins notwendig ist“¹⁰². Diese Funktion von Religion ist deshalb von Bedeutung, da es dem „Sinn des Denkens [entspreche], auf Realität bezogen zu sein“¹⁰³ und ein
Dienstbeck, S., Transzendentale Strukturtheorie, S. 292. Dienstbeck, S., Transzendentale Strukturtheorie, S. 292 f. Vgl. Raatz, G., Kulturwissenschaft oder Sinnlehre?, S. 145: Entsprechend wurde schon im Briefwechsel mit Hirsch (1917) deutlich, dass der Gegenstand von Theologie und Religionswissenschaft eine „Tiefendimension“ und „Sinnschicht“ bildet. Raatz schlussfolgert: „Damit dürfte sich für diesen Wissenschaftsbereich sowohl eine gegenstandsbezogene als auch methodische Exklusivsetzung zugunsten einer bestimmten Reflexionsrichtung bzw. -haltung ausschließen.“ Tillich, P., Rechtfertigung und Zweifel, in: Hummel, G. (Hrsg.), Theological Writings/Theologische Schriften (Main Works, Bd. VI), Berlin; New York 1987, S. 83. EN, Bd. XII, S.405. A.a.O., S. 402. Ebd.
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Verzicht dessen, zu einer „Aufhebung der Realität überhaupt“¹⁰⁴ führe. Andererseits sei die Unbedingtheitsdimension, auf die die Religion dabei ziele, weder durch logisches Denken, noch durch praktisches Tun zur Existenz zu bringen. Das Paradox, dem das Bewusstsein unterliege, fordere geradezu die Unmöglichkeit, das Unbedingte beweisen zu können. In der Beschreibung dieser Unbedingtheitsdimension und den Möglichkeiten, diese im Denken zu realisieren, greift Tillich auf den Sinnbegriff zurück: Unter religiösem Erleben versteht Tillich, „daß unter Preisgabe der Denkform das Denken unmittelbar dem schlechthin Seienden gegenübertritt oder besser: den in ihm vorhandenen Sinn des reinen Seins an die Oberfläche führt.“¹⁰⁵ [Hervorh. d. Verf.] Diese Aussage bleibt allerdings deshalb abstrakt, da die Formulierung Tillichs, der „Sinn des reinen Seins“ werde „unter Preisgabe der Denkform“ offenbart und „an die Oberfläche“ geführt, keine konkreten Anhaltspunkte dafür liefert, wie dies erfolgen soll, so doch der Mensch sich seines Denkens (in der Existenz) nie ganz entledigen kann. Auch die Frage, wie sich ein Gegenübertreten mit dem schlechthin Seienden gestalten soll, bleibt in der RPVorlesung vorerst ungelöst. Neben diesen beiden Stellen findet sich in der RP-Vorlesung nur noch ein weiterer Hinweis auf eine sinntheoretische Vertiefung des Religionsbegriffs, der jedoch vor allem vor dem Hintergrund von Tillichs geistphilosophischer Grundlegung des Religionsbegriffs relevant ist.¹⁰⁶ Diese findet sich vor allem in dessen philosophischer Promotion (1910) und der ST (1913) wieder, wo sie zur unabdingbaren Grundlage sowohl für die Entfaltung des Religionsbegriffs als auch des Gottes- und Transzendenzbegriffs avanciert.¹⁰⁷ In der RP-Vorlesung heißt es: „Gott hört auf, Psyche zu sein. Er wird Geist. Geist aber ist nicht Bewußtsein, sondern Geist ist Sinn.“¹⁰⁸ [Hervh. d. Verf.] Gemeint ist, dass Gott nicht als psychologisches Phänomen neurowissenschaftlich zu erklären ist, sondern dass er sich als Sinn dieser Ebene der Instrumentalisierung entzieht: Er ist nicht in bedingten Einzelphänomenen zu suchen, sondern liegt diesen als ihre Bedingung zugrunde. Es Ebd. A.a.O., S. 407. Vgl. Cordemann, L., Religion und Kultur, S. 94: Cordemann vertritt die These, „dass Religion und Kultur bei Tillich auf Basis seiner Geisttheorie sinntheoretisch vermittelt sind“. Vgl. EN, Bd. IX, S. 290: In der ST (1913) findet sich im ersten, apologetischen Teil (mit dem Titel „Die Begründung des theologischen Prinzips in dem wissenschaftlichen Prinzip überhaupt (Fundamentaltheologie)“) ein Paragraph (§10) über die Religionsphilosophie. Dort wird diese explizit als Teildisziplin der „Geistphilosophie“ beschrieben: „Die Religionsphilosophie ist derjenige Teil der Geistesphilosophie, in der die absolute Wahrheit vom Denken als Gott bestimmt wird, d. h. als das Absolute vom Standpunkt des Geistes.“ EN, Bd. XII, S. 554.
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zeigt sich hier, dass Sinn- und Geistbegriff für Tillich auch in den frühen 20er Jahren aufs engste miteinander verknüpft sind. Den Begriff des Sinnes führt er besonders an den Stellen an, an welchen in der Religionsphilosophie theoretische und praktische Funktionen des Geistes beschrieben werden. Während – wie aus dem Vorangehenden deutlich wurde – der Sinnbegriff in der RP-Vorlesung nur rudimentäre Beachtung findet¹⁰⁹, wird bereits im System der Wissenschaften die Explikation der Religionsphilosophie und der Geisteswissenschaften überhaupt auf den Sinnbegriff normiert. Dort heißt es: „Das Erkenntnisziel der Geisteswissenschaften ist der Sinnbegriff. Was in den Denkwissenschaften das Gebilde, in den Seinswissenschaften die Gestalt ist, das ist in den Geisteswissenschaften der Sinnzusammenhang.“¹¹⁰ Das für die Geisteswissenschaften, der auch die Religionsphilosophie und Theologie angehören, an sich typische Denken auf einer reflexiven Metaebene inkludiert ferner alle Handlungsund Denkakte, die die geisttragende Gestalt (der Mensch) vollzieht – von Tillich als „sinngebende Akte“¹¹¹ bezeichnet. Damit meint er jedoch nicht, dass die Wirklichkeit selber ohne Sinn ist; Sie wird nicht erst durch die geistigen Akte sinnvoll, „[v]ielmehr sind die sinngebenden Akte sinnerfüllende Akte. Der dem Seienden in all seinen Formen innewohnende Sinn kommt in den geistigen Akten zu sich selbst […].“¹¹² [Hervorh. d. Verf.] Gleichzeitig erfülle sich „im Geist […] der Sinn des Seins.“¹¹³ Die vollständige Erschließung des von Tillich intendierten Sinnzusammenhangs liege jedoch „in der idealen Sphäre; er hat den Charakter der Geltung“¹¹⁴, weshalb eine absolute Verwirklichung des Sinns im Bedingten ausgeschlossen bleibe. Hirsch wählt diesbezüglich in seiner Rezension von Tillichs Religionsphilosophie in der Theologischen Literaturzeitung vom 6. März 1926 die anschauliche Formulierung: „Der Sinn ist das Überschwängliche [sic!], das wir nur als Gestaltetes besitzen können“¹¹⁵. Die RP (1925) ist nun vollends auf den Sinnbegriff normiert. Bereits die Inhaltsübersicht legt Zeugnis davon ab: Im ersten Kapitel des ersten Teils (Die Ab-
Vgl. Cordemann, C., Religion und Kultur. Paul Tillichs religionsphilosophische Grundlegung einer Theologie der Kultur, in: Danz, C., Schüßler, W. (Hrsg.), Paul Tillichs Theologie der Kultur. Aspekte – Probleme – Perspektiven (Tillich Research, Vol. 1), Berlin; Boston 2011, S. 96: Auch Cordemann dokumentiert: „In seinen frühen Schriften von 1919 – 1922 spielt […] der Sinnbegriff bzw. der Begriff der Sinnlosigkeit noch eine untergeordnete Rolle.“ GW, Bd. 1, S. 222. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Hirsch, E., Tillich, Religionsphilosophie, in: Ders. (Hrsg.), Theologische Literaturzeitung, 51, Nr. 5, 1926, Sp. 98.
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1 Apriorischer Wahrheitsbegriff und Methode
leitung des Wesensbegriffs der Religion) behandelt Tillich „Die Sinnelemente und ihre Relationen“, „Die allgemeine Wesensbestimmung der Religion“, „De[n] Aufbau der Sinnfunktionen“, „Das Religiöse in den einzelnen Sinnfunktionen“ sowie „Wesen und Wahrheit der Religion.“¹¹⁶ Das Religionsverständnis Tillichs wird hier durch die sinntheoretische Vertiefung weiter entfaltet und dient vor allem der Explikation einer einheitsstiftenden Funktion des Religionsbegriffs aufgrund seiner sinntheoretischen Fundierung entsprechend der Auffassung der bipolaren Struktur von Religion in Tillichs philosophischer Promotion (1911) und der ST (1913): Die Kultursphäre und die religiöse Sphäre werden mithilfe des Sinnbegriffs unter dem Religiösen als einem allen Sinnfunktionen zugrundeliegenden Sinnzusammenhangs subsumiert.¹¹⁷ Substanziell gebe es keine areligiöse Sphäre. Religion und Kultur sind also bei Tillich sinntheoretisch vermittelt. Lediglich von der Haltung, die das Subjekt den einzelnen Sinnfunktionen gegenüber einnimmt, entscheide sich, ob eine „Richtung auf die einzelnen Bedeutungen und ihren Zusammenhang“¹¹⁸ bestehe (kulturelle Haltung) oder „die Richtung auf den unbedingten Bedeutungsgehalt“¹¹⁹ (religiöse Haltung) vorhanden sei. Die Einnahme einer je divergierenden Position wird von Tillich allerdings auf das Subjekt zurückgeführt. Man kann also nicht von einer den Dingen wesentlichen religiösen Funktion sprechen. Vielmehr ist „entsprechend der allgemeinen Erfassung des Religiösen aus dem Wesen des Sinnes selbst die Immanenz der Religion in allen Sinnfunktionen der theoretischen wie der praktischen Reihe offenbar geworden“¹²⁰, was so viel heißen mag wie: In allen diesseitigen Bezügen kann dem Menschen das religiöse Unbedingtheitserlebnis in Form einer unbedingten Sinnhaftigkeit offenbar werden. Die Immanenz des Religiösen weist auf die Gegenwart des Wesens in der Kultursphäre hin. Das Erlebnis des Religiösen ist dabei weder an bestimmte Kulturobjekte gebunden, noch gibt es irgendeinen Bereich kulturellen Lebens, der vom Erlebnis der unbedingten Realitätsbeziehung aus-
GW, Bd. I, S. 318 – 328. Der Sinnbegriff korrespondiert also mit dem Religionsverständnis, welches in Tillichs philosophischer Promotion über Schelling entwickelt und in seiner ST (1913) programmatisch ausgearbeitet worden ist. Dort wie hier umfasst einmal der Religions-, ein anderes Mal der Sinnbegriff die zwei die Religion elementar aufspaltenden Momente: das religiöse Prinzip (entsprechend der substantiellen Bezogenheit des Menschen auf Gott) und die Aktualität von Religion (entsprechend der geschichtlichen Ausprägung von Religion in Kultus Mythos). Die Synthese von Kultur und Religion im Sinnbegriff korrespondiert dabei mit der Synthese von aktueller Religion (Geistesgeschichte der Religion; Religionstypologie; geschichtsphilosophische Typenlehre) und dem religiösen Prinzip (Substanz des menschlichen Bewusstseins). GW, Bd. I, S. 325. Ebd. A.a.O., S. 326.
1.2 Konzeption und Wesen der Religionsphilosophie
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geschlossen ist. Der Sinnbegriff in der RP (1925) zielt also auf eine theonome Einheit von kultureller und religiöser Sphäre. Doch damit ist kein neuer Aspekt in Tillichs System integriert, denn – wie die vorangehenden Erörterungen, speziell über das religiöse Prinzip und dessen Verhältnis zur aktuellen Religion illustriert haben – besteht bei dem frühen Tillich der 1911er und 1913er Jahre ein Bestreben, religiöses Prinzip und aktuelle Religion in einem Korrelationsverhältnis zu denken. Aus der vorangehenden Übersicht über die Entwicklung von Tillichs Systemkonzeption ergibt sich für die vertiefende Analyse der Sinntheorie in Kapitel 1.2.4 eine Deutungshypothese: Im Gegensatz zu Danz möchte ich herausstellen, dass das religiöse Prinzip auch noch im System von 1920 das übergeordnete Konzept des Begegnungsrahmens von Gott und Mensch bildet und umgekehrt auch in der ST von 1913 bereits ein aktuelles Moment von Religion – dort als Standpunkt der Reflexion und des Wahrheitsgedankens – systemprägend ist. Dies wird an zwei Beispielen begründet werden. Im Folgenden soll jedoch zunächst der Aufbau der RP-Vorlesung beschrieben werden, um das Wesen, die Aufgaben und Ziele der Tillichschen Religionsphilosophie zu erfassen und die Voraussetzung zu schaffen, die Vorlesung mit dem Systementwurf der Religionsphilosophie von 1925 vergleichen zu können.
1.2.2 Aufbau, Ziele und Aufgaben der Religionsphilosophie Nachdem im Vorangehenden die thematisch-programmatische Entfaltung der Tillichschen Religionsphilosophie von 1911 bis 1925 dargestellt worden ist, wird sich das nun folgende Kapitel mit dem Aufbau, den Zielen und Aufgaben speziell der Hauptquelle der Analyse widmen: der RP-Vorlesung (1920). Diese tritt mit dem Anspruch auf, einen „funktionellen Religionsbegriff“¹²¹ zu begründen, der einer zweifachen Bewährung standhalten soll: Zunächst soll der Nachweis seiner Allgemeingültigkeit innerhalb des philosophischen Systems erbracht werden¹²², um ihn im Anschluss im Kontext der Mannigfaltigkeit der empirischen Religionsformen als tragfähig zu erweisen. Das Konzept für Tillichs Religionsphilosophie wurde von ihm programmatisch in seiner zweiten Vorlesung dargelegt:
EN, Bd. XII, S. 533. Der Nachweis der Allgemeingültigkeit entspricht der Allgemeingültigkeit des religiösen Prinzips von 1913, durch welches das substantielle Verhältnis von Religion zum Ausdruck kommt und den aktuellen Ausprägungen und Formen von Religion übergeordnet ist.
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1 Apriorischer Wahrheitsbegriff und Methode
Wir beginnen damit [erster Hauptteil], das Verhältnis der Religionsphilosophie zur Religionswissenschaft überhaupt und zum System der Wissenschaften, einschließlich Theologie und Philosophie, zu behandeln, um dann an die Aufgabe zu gehen, Begriff und Wesen der Religionsphilosophie in geltungsphilosophischer Bewußtseinsanalyse zu erforschen, mit anderen Religionsbegriffen zu vergleichen und die typischen Ausgestaltungen dieses Begriffes in der Geschichte der Religion principiell darzustellen. Wir behandeln dann im zweiten Hauptteil die einzelnen Kategorien des religiösen Lebens, die aus der Beziehung der Religion zu den übrigen Kulturfunktionen entstehen, wie Mythos, Kultus, Frömmigkeit, Gemeinschaft, Kirche, und die Begriffe, die in ihnen wirksam sind, in ihrem principiellen Charakter und ihrer typischen geschichtsphilosophischen Ausgestaltung.¹²³ [Hervorh. d. Verf.]
Die von Tillich tatsächlich vermittelten Vorlesungsinhalte weichen teils von der Programmankündigung ab: Die wissenschaftssystematische Verortung entspricht noch der Ankündigung. Aber schon die Abgrenzung und Begründung der „kritisch-intuitiven“¹²⁴ Methode samt der ihr vorangestellten ausführlichen Methodenkritik (Abgrenzung der eigenen von fremden Methoden und Entfaltung dieser), die einen beachtlichen Umfang des ersten Teils (ca. 40 Seiten; 5.–11. Stunde) umfasst, sind so nicht explizit im Arbeitsplan Tillichs aufgeführt. Erklären lässt sich dies eventuell dadurch, dass Tillich diesen Part unter Begriff und Wesen der Religionsphilosophie fasst und nicht eigens auflistet. Die Erforschung von Begriff und Wesen der Religionsphilosophie auf Basis einer geltungsphilosophischen Bewusstseinsanalyse, die daran anschließende Aufstellung eines funktionellen Religionsbegriffs, der im Kontext anderer Religionsbegriffe positioniert wird, sowie die geschichtsphilosophisch aufbereitete Typisierung verschiedener kulturell differierender Religionsbegriffe in Form eines axialen religionstypologischen Modells folgen wiederum dem angekündigten Programm. Diese geschichtsphilosophische Konstruktion der Religionsgeschichte nimmt dabei den größten Umfang des ersten Hauptteils ein (15. bis 30. Vorlesungsstunde), während der gesamte zweite Hauptteil geringere Beachtung findet (30. bis 39. Vorlesungsstunde). Tillich beginnt in ihm mit einer ausführlichen Erörterung der Kategorien des Mythos (30.–34. Stunde), handelt dann in der 35. bis 39. Stunde nur noch stichpunktartig das Verhältnis von Glauben und Wissen, Evidenz und Überzeugung ab und notiert im Vorlesungsmanuskript der letzten beiden Stunden (38. und 39.) nur skizzenhaft einige Ideen zum Thema Kultus. Der zu verfolgende Plan hatte ursprünglich zum Ziel, die den Kategorien der theoretischen (Mythos) und praktischen Sphäre (Kultus) zugrundeliegenden Funktionen des Geistes innerhalb variierender Weltanschauungen, also im Kontext der Reli EN, Bd. XII, S. 344– 345. A.a.O., S. 391.
1.2 Konzeption und Wesen der Religionsphilosophie
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gionsgeschichte (Geistesgeschichte der Religion) zu analysieren. Im Vordergrund steht dabei die Analyse der in den verschiedenen Kulturen wirksamen „Begriffe“ in ihrem „principiellen Charakter“ (s.o.). Der hier stark vernachlässigte zweite Hauptteil wird jedoch im Systementwurf von 1925 im Kapitel Die Kategorien des Religiösen ausführlicher diskutiert.¹²⁵ In seiner Vorlesung geht Tillich dann konkret so vor: In Form einer Einleitung, die sich über die ersten fünf Stunden erstreckt, schildert er „Begriff und Epochen der Religionsphilosophie“¹²⁶. Hier geht es ihm hauptsächlich darum, eine Definition von Religionsphilosophie zu liefern und den epochalen Wandel, den diese durchlaufen hat, kritisch darzustellen. Tillich grenzt sich dabei von der sog. Spekulativen Theologie und der empirischen Religionswissenschaft ab, die er lediglich als Vorstufen einer Religionsphilosophie betrachtet. „Die erste beschäftigt sich mit Gott, ohne auf die Religion Rücksicht zu nehmen. Die andere beschäftigt sich mit der Religion, ohne auf den Wahrheitsanspruch zu achten.“¹²⁷ Das Wesen einer Religionsphilosophie ist nach Tillich dann verfehlt, wenn der Gottesgedanke entweder auf einem höchsten, abstrakten Prinzip im Sinne eines Allgemeinbegriffs gründet und als objektiv gegeben und wahr erachtet wird (Gott als Weltenseele, reines Sein, höchste Idee) oder wenn derselbe ebenso mit Mitteln endlicher Kategorien und rationalen Nachsinnens als singuläre Erscheinung in Raum und Zeit nachgewiesen wird (z. B. Gott als unbewegter Beweger). Die empiristische Betrachtungsweise könne keinen gültigen Religionsbegriff entwickeln, da eine empirische Studie bzw. Analyse nie rein objektiv die ihr vorliegenden Religionen betrachten könne, ohne aus ihrer eigenen konfessionellen Binnenperspektive heraus bereits ein Konzept zu präsupponieren, unter dessen Perspektive die zu betrachtende Religion untersucht wird. Die Kritik an Empirie und Spekulation wird von Tillich wie folgt zusammengefasst: „In dem einen Falle [im Falle der empirischen Methode] wird in durchaus unzulässiger Weise von dem Entstehungsanlaß auf die Ungültigkeit, in dem anderen Falle [im Falle der spekulativen Theologie] in ebenso unzulässiger Weise von dem obersten spekulativen Begriff auf die Gültigkeit der Religion geschlossen.“¹²⁸ Beide Ansätze sind nach Tillich jedoch abzulehnen. Brisanz kommt der Darstellung Tillichs, als was er Religionsphilosophie nicht verstanden wissen möchte, vor allem vor dem Hintergrund eines zu seiner Zeit
GW, Bd. I, S. 350 ff.: Tillich erörtert an dieser Stelle die religiösen Kategorien der theoretischen Sphäre (Mythos und Offenbarung) sowie der praktischen Sphäre (Kultus und Kultgemeinde). Diese Ausführungen werden an späterer Stelle dieser Arbeit thematisiert werden. EN, Bd. XII, S. 333. A.a.O., S. 336. A.a.O., S. 338.
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wieder auflebenden apologetisch-spekulativen Interesses innerhalb religionsphilosophischer Vorlesungen zu, gegen das er sich abgrenzen möchte. So stellt er sein religionsphilosophisches Konzept gleich den mutmaßlichen Erwartungen seiner Student*innen entgegen, indem er spekuliert: Und es ist eine wahrscheinliche Annahme, daß eine Anzahl, auch unter Ihnen, hierher getrieben ist, um durch spekulative Begründungen des Gottesgedankens die erschütterte unmittelbare Gewißheit wiederherzustellen. Das aber liegt weder in der Aufgabe, noch in den Kräften der Religionsphilosophie.¹²⁹
Tillich äußert sich in der Einführung seiner Vorlesung äußerst radikal gegenüber jeglichem spekulativen Intellektualismus innerhalb der Religionsphilosophie, da dieser voraussetzen würde, die individuelle Frömmigkeit von „dem Scharfsinn spekulativ begabter Professoren“¹³⁰ abhängig zu machen. Die Erschütterung des Glaubens durch den Zweifel und der tiefe Spalt, den die Grenzerfahrungen während des Ersten Weltkriegs im religiösen Bewusstsein hinterlassen haben, seien weder durch intellektuelle Gedankenkonstruktionen zu überwinden, noch sei dies Aufgabe der Religionsphilosophie. Der Gott, der so gewonnen wäre, wäre ein Götze, ein Werk, nicht der Hände, aber der logischen Arbeit, und der Mensch, der diesen Gott anbetete, den er selbst geschaffen hat, wäre ein Götzendiener; und er wäre ein Werkgerechter zugleich, nämlich gerecht durch das Werk seines Gedankens.¹³¹
Für Tillich sind zwei Wege ausgeschlossen: erstens gebe es keinen Weg zurück „in das Unmittelbare der unreflektierten Frömmigkeit“¹³², zweitens sei es unmöglich durch gedankliche Leistung „einen neuen Gott zu schaffen“¹³³. Die Erschütterung des Glaubens bzw. die fehlende unmittelbare Einheit von erkennendem Subjekt und religiösem Objekt ist gerade die Voraussetzung der Tillichschen Religionsphilosophie. Tillich setzt einen neuen Akzent, indem er einen Richtungswechsel betreibt: Weg von dem nur als jenseits des Menschen gedachten, externen Gott und hin zur immanent-funktionalen Transzendenz des religiösen Bewusstseins
Ebd. A.a.O., S. 339. Ebd. Ebd. Ebd., Vgl. auch ebd.: In einer Ansprache an seine StudentInnen stellt Tillich präzise dar, welches ein verfehltes Vorgehen einer Religionsphilosophie darstellt: „Nicht dieses also kann der Sinn unserer religionsphilosophischen Arbeit sein, uns hier gemeinsam ein[en] Gott des Gedankens zu zimmern statt des Gottes, der uns verloren gegangen ist, der des unmittelbaren Bewusstseins. Religionsphilosophie ist nicht Glaubensersatz und darf es nicht sein wollen.“
1.2 Konzeption und Wesen der Religionsphilosophie
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und die ihm inhärente Reflexionsstruktur selbst: „Erst wo das Bewußtsein auf sich selbst und seinen Gehalt reflektiert, entsteht Religionsphilosophie.“¹³⁴ Dieser Ansatz deutet bereits Tillichs subjektzentriertes, ontologisches Programm an, welches er erst in den 1950er Jahren in den USA systematisch durchführt. Nachdem Tillich in der zweiten Stunde zusätzlich die europäische Entwicklungsgeschichte des Empirismus und Rationalismus in England, Frankreich und Deutschland von der Hochscholastik an bis hin zur Neuzeit darstellt und schließlich eine Synthese beider Positionen (der Leibnizschen und Humeschen) in Kant beschreibt, leitet er direkt aus dieser Verbindung die Aufgaben einer Religionsphilosophie ab. Diese sich in Kant widerspiegelnde Synthese und vor allem der Einfluss Humes (und damit des Empirismus) auf den in Deutschland zur „unbedingten Schulherrschaft“¹³⁵ avancierten Rationalismus wird von Tillich fast auf verklärende Weise als „Schicksalsstunde der europäisch-christlichen Geistigkeit“¹³⁶ proklamiert. In diesem Zusammengang lässt Tillich Wörter wie „Ehrfurcht“, „providentielle[…] Bedeutung“, „dramatische[…] Kraft“, „Größe des Augenblicks“ und „Größe der geistigen Tat“ fallen, durch die er seiner eigenen Überzeugung emphatischen Ausdruck verleiht.¹³⁷ Die großen Gegensätze innerhalb der modernen Kultur seien durch die Synthese Humescher und Leibnizscher Gedanken in Kant aufgehoben. Tillichs Religionsphilosophie versucht nun, an die Ergebnisse dieser geistigen Synthese anzuknüpfen: Den Rationalismus kritisiert er, indem er dessen Denkgebäude und Vernunftwahrheiten als reine Scheinwahrheiten enthüllt, der Empirismus erfährt eine Kritik, indem dessen Prämissen der Möglichkeit einer objektiv-gültigen Betrachtungsweise der Wirklichkeit entbehren, da jegliche beobachtbare Fakten bereits auf Voreinstellungen und -erfahrungen des Subjekts beruhen. Tillich räumt damit ein, „[…] daß der Geist niemals reinen, sondern immer geformten Stoff aufnimmt, und daß diese Formen die Formen des Bewußtseins selbst sind“¹³⁸. Diese Konklusionen sind als Erbe Kants in der Tillichschen Religionsphilosophie zu lesen. Denn im Anschluss an ihn folgert Tillich, dass dem Bewusstsein bestimmte Kategorien bzw. „Einheitsformen“ a priori zugrunde liegen müssen, durch welche es „die Mannichfaltigkeit erfaßt“ [sic!] und die Wirklichkeit zu einer Synthese zusammenführt.¹³⁹ Religionsphilosophie kommt demnach laut Tillich die Aufgabe zu, darzustellen, welche
A.a.O., S. 340. A.a.O., S. 342. Ebd. Ebd. und a.a.O., S. 344. Ebd. Ebd.
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Funktion der Religion für den Aufbau des Bewusstseins und der Einheitskonstruktion desselben zukommt. Sie habe demnach … […] nachzuweisen, welchen Ort die Religion im Geistesleben einnimmt, welche Funktion sie für den Aufbau des Bewußtseins zu erfüllen hat, inwiefern die Einheit des Bewußtseins durch Religion bedingt ist.¹⁴⁰ Religionsphilosophie treiben heißt: die Religion als notwendige Funktion des menschlichen Geistes aufweisen, ihre konstitutive Bedeutung für das Bewußtsein zeigen und darlegen, in welchen eingeb[orenen] Kategorien die Religion die Wirklichkeit erfaßt.¹⁴¹
Aus diesem Zitat geht erstens das Bestreben Tillichs hervor, mittels einer Bewusstseinsanalyse zu ergründen, welchen Stellenwert die Religion in Bezug auf die kategoriale Erfassbarkeit des Ganzen der Wirklichkeit als einer regulativen Idee für die menschliche Identität einnimmt.¹⁴² Damit zielt das religionsphilosophische Konzept Tillichs zweitens darauf, das Phänomen Religion in seiner Einheitsfunktion zu bespiegeln, was innerhalb religionsphilosophischer Debatten in der Folge Kants ein geläufiges Unternehmen darstellt, welches mit unterschiedlichen Akzentuierungen Eingang in die Debattenlage fand: So besteht z. B. ein Unterschied zwischen der Vorstellung von Religion als Einheitsfunktion des menschlichen Bewusstseins bei Kant und Hegel, worauf im Folgenden eingegangen werden soll: Religion wird deshalb als eine Einheitsfunktion gedacht, da sie als ein in einer einzelnen Funktion des Bewusstseins aufgehendes Moment keinen univer Vgl. Schleiermacher, F., Der christliche Glaube, S. 23 fff. Bezüglich des Bestrebens, der Religion eine Funktion im menschlichen Geiste zuzuordnen, ähnelt das Vorhaben Tillichs dem von Schleiermacher. Während dieser jedoch die Religion dem Gefühl zuordnet und es als Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit und als unmittelbares Selbstbewusstsein des Menschen charakterisiert, welches das In-Beziehung-Stehen des Menschen mit Gott ausdrückt, kommt jener zu dem Schluss, dass die Religion keine bestimmte Funktion des Geistes neben den andren sein kann, sondern ihre Berechtigung nur als allumfassende, alle anderen Funktionen fundierende und konstituierende Funktion haben kann. Ganz im Gegensatz zu diesen beiden Ansätzen steht Kants Versuch, die Religion der praktischen Vernunft zuzuordnen, was an späterer Stelle noch präzisiert werden wird. EN, Bd. XII, S. 344– 345; Vgl. Schleiermacher, F., Der christliche Glaube, S. 14: Tillichs Programm einer Religionsphilosophie grenzt sich entscheidend von Schleiermachers Darstellung ab. Während Tillich von einer Analyse des Bewusstseins ausgeht und Religion als notwendige Funktion des menschlichen Geistes aufweisen möchte, um einen Wesensbegriff zu finden, dessen Realisierung und Streben hin auf einen Normbegriff innerhalb der Geschichtsphilosophie er nachzeichnen möchte, ist es Schleiermacher darum zutun, lediglich deskriptiv „eine kritische Darstellung der verschiedenen gegebenen Formen frommer Gemeinschaften […]“ zu liefern. Dabei bleibt Tillich bei der rein kritischen Beschreibung des menschlichen Bewusstseins nicht stehen, sondern verzahnt diese mit dem intuitiven Moment zu einem „kritischen Intuitionismus“ (Vgl. Kapitel 1.3.2).
1.2 Konzeption und Wesen der Religionsphilosophie
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salen und somit objektiven Anspruch erheben könnte oder andernfalls als hypostasiertes Ichbewusstsein (absolutes Ich bei Fichte¹⁴³) gedacht werden müsste, welchem ebenfalls keine Objektivität zukäme. Denn eine Religion, die lediglich als Projektion des menschlichen Bewusstseins gedacht wird, in der Form, dass Gott nur das „absolute Ich“ bildet, kann zwar einen psychologischen Wert besitzen, nicht aber den Anspruch erheben, von Gott als einem wirklichen, realen Korrelat zu zeugen. Religion liegt den einzelnen Funktionen des Bewusstseins vielmehr zugrunde, bedeutet also eine sie fundierende Schicht oder Tiefe und transzendiert folglich jede singuläre Bewusstseinsfunktion. Ein knapper Verweis auf die Hegelschen Vorlesungen über die Philosophie der Religion ¹⁴⁴ sowie auf Kants Kritik der reinen Vernunft ¹⁴⁵ dient im Folgenden dem Nachvollzug der Tillichschen Rezeption und Neu-Arrangement des Gedankens einer Einheitsfunktion von Religion. Hegel denkt die Einheit des Bewusstseins innerhalb der Religion in Absolutheitstheoremen: Die absolute Religion bildet den Ort, an dem die Vernunft sich vollkommen in ihrem Hervorgang aus dem Absoluten erfasst. Indem die „absolute“ als „offenbare“ diejenige Religion ist, „[…] die sich selbst zu ihrem Inhalt, [ihrer] Erfüllung hat“ und daher „das Sein des Geistes [in ihr] für sich selbst ist“, bedeutet dies, dass sie in der Einheit mit dem Absoluten stehend praktisch zu diesem zurückkehrt und sich folglich in der Geschichte nicht in Trennung zum Absoluten befindet.¹⁴⁶ Deshalb ist auch die Trennung zwischen Mensch und Gott in der „absoluten Religion“¹⁴⁷ in einer Einheit aufgehoben. Hegel postuliert also eine kosmologische Einheit, die sich in der Vernunft des Menschen erfüllt und diesen zu seiner Bestimmung zurückführt, wodurch sich gleichzeitig der „absolute Geist“¹⁴⁸ vollkommen erfasst und verwirklicht. Hingegen zielt Kants Untersuchung zwar auch auf das die Einheit des Bewusstseins konstruierende Moment, sieht dieses jedoch nicht in einem spekulativen Begriff der Vernunft verwirklicht, sondern in den das Bewusstsein konstruierenden apriorischen Kategorien Raum und Zeit, die eine zusammenhängende Wahrnehmung der Wirklichkeit ermöglichen. Diese „gehö-
Vgl. EN, Bd. XII, S. 384. Hegel, G.W.F., Vorlesungen über die Philosophie der Religion I (Georg Wilhelm Friedrich Hegel Werke, 16), Frankfurt am Main, 1969. Kant, I., Kritik der reinen Vernunft (Immanuel Kant. Werkausgabe III), Frankfurt am Main 1968. Hegel, G.W. F., Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, S. 189. Ebd. A.a.O., S. 205.
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ren […] zu den Bedingungen der Rezeptivität unseres Gemüts, unter denen es allein Vorstellungen von Gegenständen empfangen kann.“¹⁴⁹ Erkenntnis kann sich laut Kant nur durch Synthesis des Mannigfaltigen vollziehen; dies setzt eine Einheitsfunktion des Bewusstseins voraus. Die apriorischen Denkkategorien werden von Kant jedoch nicht notwendig mit einer transzendenten bzw. göttlichen Sphäre gleichgesetzt. Sie fungieren vielmehr als Grenzbegriffe der sonst auf Erfahrungswerten basierenden menschlichen Vernunft; von Religion oder einer religiösen Funktion spricht Kant in diesem Zusammenhang noch nicht. Tillich knüpft an Kants Kritik an und modifiziert diese, indem er die Konstitution des Bewusstseins im Kantischen Sinne anerkennt, allerdings den von Kant abweichenden Schluss zieht, dass es die die Einheit zuallererst konstituierende Funktion von Religion sei, die für die Synthesisfunktion des Bewusstseins maßgeblich sei. Dennoch stelle sie sich nicht einfach als eine Einheit im Sinne einer Totalität der Bewusstseinsfunktionen Denken, Fühlen und Handeln dar, sondern vielmehr als ein diesen Funktionen zugrundeliegendes und sie fundierendes Drittes. Gleichzeitig erklärt sich durch diese Betrachtung der Religion das methodische Vorgehen Tillichs, die Wahrheits- und Wesensfrage von Religion zusammen zu behandeln und nicht – wie zum Beispiel Troeltsch, von dem Tillich sich in diesem Kontext abgrenzen möchte – zwischen einem religionspsychologischen, erkenntnistheoretischen, geschichtsphilosophischen und metaphysischen Teil inhaltlich zu differenzieren.¹⁵⁰ Die Entwicklung des Wesensbegriffs von Religion würde nach Troeltschs Kategorisierung den ersten drei Disziplinen anheimfallen, während Letztere (Metaphysik) sich dem Nachweis der Wahrheit des Christentums widmen würde. Diese bipolare Aufspaltung von Wesens- und Wahrheitsfrage ist nach Tillich obsolet, denn – so Hirsch in seiner Rezension über Tillichs Religionsphilosophie – „indem die religiöse Funktion als die fundierende Sinnfunktion nachgewiesen wird, sind beide Fragen in einem erledigt.“¹⁵¹ Darüberhinausgehend findet der schon mehrfach erwähnte Begriff des (kritischen) Geltens ¹⁵² wiederum in diesem Zusammenhang (dem obigen Zitat) seinen Ausgangspunkt. Ihm kommt in Tillichs religionsphilosophischem Frühwerk insgesamt (auch im System der Wissenschaften) eine zentrale Bedeutung zu, da die Geltungsfrage von Tillich mit der Wahrheitsfrage gleichgesetzt wird. So heißt es in
Kant, I., Kritik der reinen Vernunft, S. 116. EN, Bd. XII, S. 345 und ebd. Fußnote Nr. 15. Hirsch, E., Tillich, Religionsphilosophie, Sp. 99. Vgl. Ausführungen bzgl. einer Wert- bzw. Geltungsphilosophie in Form eines Exkurses in Kapitel 1.2.3.
1.2 Konzeption und Wesen der Religionsphilosophie
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der RP-Vorlesung: „Die Wahrheitsfrage der Religion ist identisch mit der Geltungsfrage“¹⁵³. Gleichzeitig sei die Wahrheit der Religion unmittelbar durch einen „[…] Beweis ihrer Bewußtseinsnotwendigkeit, ihres Geltens im kritischen Sinne“¹⁵⁴ erbracht, wodurch sie sich als konstitutiv für den Aufbau des menschlichen Bewusstseins und der zusammenhängenden Wahrnehmung der Wirklichkeit darstellt. Tillich steht mit dieser methodischen Herangehensweise, die Wahrheit der Religion erkenntnistheoretisch begründen zu wollen, in der klassischen Tradition der Neuzeit. Auch U. Barth bekräftigt in Religion in der Moderne, dass es in neuzeitlichen erkenntnistheoretischen Entwürfen „nicht um Fragen der Entstehung von Wissen, sondern um die Bedingungen seiner Gültigkeit“¹⁵⁵ geht, ‚Erkenntnistheorieʼ demnach im traditionellen Sinne eine „methodisch kontrollierte Geltungsreflexion [bedeutet], nicht eine irgendwie geartete höhere Stufe von Tatsachenwissen.“¹⁵⁶ Da dem Begriff der Geltung in Tillichs religionsphilosophischem Frühwerk eine zentrale Stellung zukommt, wird das folgende Kapitel 1.2.3 sich ausschließlich der Geltungstheorie widmen. In der dritten und vierten Stunde seiner Vorlesung beschreibt Tillich das Aufgabenfeld der Religionsphilosophie genauer und ordnet sie in das System der Wissenschaften im Kontext der Denk- und Seinswissenschaften ein. Weiterhin legitimiert Tillich bereits hier die typologische Kategorienlehre des Religiösen, indem er die Notwendigkeit dieses Vorgehens aus der doppelten Verankerung des Normbegriffs ableitet. Dieser habe zunächst aufzuzeigen, „daß er die konkrete Erfüllung des allgemeinen Funktionsbegriffs ist […]. Zweitens aber muß der konkrete Standpunkt als ein konkreter eingeordnet werden in die vorhandenen konkreten Standpunkte und daselbst durch geschichtsphilosophische Reihenbildung seinen notwendigen Platz bekommen.“¹⁵⁷ Thematisiert wird hier unter anderem auch das Verhältnis von Theologie und Religionsphilosophie, wobei Tillich dieses „in dem einen Satz aus[…]drückt: Theologie ist normative Religionsphilosophie.“¹⁵⁸ Anknüpfend an das von Tillich benannte Ziel, innerhalb der Religionsphilosophie zu einem „objektiven“ und damit intersubjektiv gültigen Erkenntniswert
EN, Bd. XII, S. 346. Ebd. Barth, U., Gehirn und Geist. Transzendentalphilosophie und Evolutionstheorie, in: Ders., Religion in der Moderne, Tübingen 2003, S. 433. Ebd. EN, Bd. XII, S. 358. A.a.O., S. 360.
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zu gelangen, der die dem Religiösen inhärente Wahrheit repräsentiert, nimmt sich Tillich für die ersten Vorlesungen zum Ziel, seinen Religionsbegriff gegenüber anderen gängigen Religionsbegriffen zu verteidigen. Ab der fünften Stunde wendet sich Tillich folglich einer kritischen Reflexion der für ihn bedeutendsten zeitgenössischen Methoden zur Begründung des Religionsbegriffs zu, um im Anschluss seinen eigenen Religionsbegriff positiv zu formulieren. Als Grundlage stellt er eine ausführliche Literaturliste voran, in der er auf knapp fünf Seiten in einem ersten Abschnitt die religionsgeschichtliche Literatur (Allgemeine Werke, Quellenwerke und Enzyklopädien, Religionspsychologie, die verschiedenen Religionen) auflistet und in einem zweiten die wichtigsten Darstellungen der Religionsphilosophie (Die großen Systematiker sowie Neuere Religionsphilosophie) verzeichnet.¹⁵⁹ Erörtert werden von Tillich im Folgenden die von ihm als supranaturalistisch, spekulativ-rationalistisch, empirisch, genetisch, phänomenologisch und kritisch bezeichneten Methoden. Diese Methodenreflexion Tillichs zeigt, dass er besonderen Wert darauf legt, seine eigene Methode innerhalb zeitgenössischer Entwürfe zu positionieren und dabei die kritische Transzendentalphilosophie besonders zu würdigen, jedoch über sie hinaus zu gehen, indem er ihr kritisches mit einem irrationalen Moment verbindet. Auf die Methode Tillichs wird später noch genauer eingegangen werden. In der 11. bis 15. Stunde versucht Tillich den auf Grundlage der vorangehenden Methodenreflexion gewonnenen funktionalen Religionsbegriff genauer zu fassen, indem er das religiöse Erlebnis analysiert und die Möglichkeiten erwägt, den durch es zu erfahrenden unbedingten Seinsgehalt im Bedingten zu erfassen. Während zuvor Religion als Prinzip charakterisiert worden ist, ist es Tillich nun darum zu tun, erstens die Frage zu beantworten, „wie […] sich die Unbedingtheit der Form zu dem unbedingten Realitätserlebnis [verhält] und zweitens, wie […] das Unbedingtheitserlebnis innerhalb des Bedingten, das Realitätserlebnis innerhalb der Form zum Ausdruck“¹⁶⁰ kommt. Hierbei handelt es sich also um die Frage nach der Aktualität religiösen Erlebens – entsprechen der bipolaren Konstitution von Religion in der ST (1913). Es werden von Tillich zunächst diejenigen Begriffe thematisiert, „in denen die aktuelle Religion, das heißt Mythos und Kultus, ihr Realitätserlebnis darstellt“¹⁶¹: das Supranaturale und das Sakramentale. In diesem Kontext wird auch der Begriff des Heiligen erörtert.
Vgl. A.a.O., S. 363 ff. A.a.O., S. 405. A.a.O., S. 408.
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In der 12. Vorlesung wendet sich Tillich den Möglichkeiten und Bedingungen religiösen Erlebens zu und referiert in diesem Zusammenhang auch auf Schelling und Hegel. Die Frage nach der Aktualität des religiösen Erlebens ist vor allem vor dem Hintergrund der Interpretation des Religiösen als Funktionsbegriff von Bedeutung, da zu hinterfragen gilt, inwiefern der Religion noch eine reale Bedeutung zukommt, wenn eingestanden wird, dass es keine – zumindest nicht im gegenständlichen Sinne – objektiv-religiöse Wahrheit einer Götterwelt gibt. Diese Problemexposition tangiert zudem das Tillichsche Symbolverständnis¹⁶². In der 13. und 14. Stunde werden von Tillich anknüpfend an die vorherige Bestimmung, dass alles Religiöse stets in einem theoretischen und praktischen Akt aktuell wird und das religiöse Prinzip sich folglich als „Qualität“¹⁶³ dieser Akte darstellt, sowohl theoretische als auch praktische Definitionen von Religion erörtert. Tillich bezeichnet diesen Teil als „Kritik der Gottesbegriffe“¹⁶⁴. Es handelt sich hier also nicht mehr um methodische Kritik, sondern die Religionsbegriffe werden behandelt, ganz gleich, nach welcher Methode sie gewonnen sind. Das Princip der Einteilung wird demgemäß auch ein anderes sein müssen als vorher. Und zwar wird sie ausgehen müssen von dem Verhältnis der Religion zu den übrigen Geistesfunktionen.¹⁶⁵
Es soll gezeigt werden, dass alles Religiöse in einem theoretischen und praktischen Akt¹⁶⁶ aktuell wird, ohne mit einem dieser beiden Akte identifiziert werden zu können.Vielmehr sei „das religiöse Princip […] eine bestimmte Qualität, die ein theoretischer und praktischer Akt enthält, um dadurch zu einem religiösen zu
Vgl. Kapitel 2.2.3. von Teil III dieser Arbeit. EN, Bd. XII, S. 421. A.a.O., S. 422. A.a.O., S. 421. In der RP-Vorlesung von 1920 liefert Tillich im Zusammenhang eines Vergleichs seines Religionsbegriffs mit anderen Religionsbegriffen (Kritik der Gottesbegriffe) eine ausführliche Definition von Religion, in der er diese in theoretische und praktische Definitionen untergliedert. Theoretische Definitionen von Religion sind solche, in denen das Religiöse gedacht, also logisch analysiert und erkannt wird (z. B. im Animismus, bei Naturmythen etc.) während die praktischen Definitionen der Religion diejenigen sind, in denen die Religion durch praktisches Handeln hindurch aktuell wird (z. B. ethische Definitionen (Kant)). (A.a.O., S. 421– 436) In der RP von 1925 zählt Tillich zu den religiösen Kategorien der theoretischen Sphäre den Mythos sowie die Offenbarung und zu den religiösen Kategorien in der praktischen Sphäre den Kultus und die Kultgemeinde. (A.a.O., S. 350 – 364) Das Religiöse wird nach Tillich sowohl innerhalb der theoretischen Sphäre des Nachdenkens über Religion als auch in der praktischen Sphäre des ethischen Handelns aktuell, indem es die gegebenen Situationen transzendiert und durch diese hindurch das Unbedingte zum Ausdruck bringt, ohne dass dieses mit einem theoretischen oder praktischen Akt identifiziert wird.
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1 Apriorischer Wahrheitsbegriff und Methode
werden.“¹⁶⁷ Tillich grenzt sich damit vornehmlich von einer – von ihm so bezeichneten – Kanteschen Einteilung des Bewusstseins in die drei Kategorien Denken (die reine Vernunft), Wollen (die praktische Vernunft) und Fühlen (die Urteilskraft) ab und kritisiert¹⁶⁸ das Unvermögen dieser Einteilung, dem Religiösen einen angemessenen Platz zuzuweisen: „Für die Religion aber bleibt überhaupt kein Platz und es muß etwas gesucht werden, an das sie angehängt werden kann.“¹⁶⁹ Es bleiben nur die drei Möglichkeiten, das Religiöse entweder dem Erkennen, dem sittlichen Tun (entsprechend Kant) oder dem Ästhetischen (entsprechend Schleiermacher) anzuhängen. Alle drei Theorien, die das Religiöse entweder als nur dem Denken, nur dem Handeln oder nur dem Fühlen zugehörig beschreiben, werden von Tillich einer kritischen Würdigung unterzogen, indem er sich in einer umfassenden Reflektion verschiedener Religionsbegriffe mit den Positionen ihrer Hauptvertreter Hegel („Religion als Erkennen“¹⁷⁰), Kant (Religion als „praktischer Vernunftglaube“¹⁷¹) und Schleiermacher (Religion als Gefühl) auseinandersetzt. Letzterem spricht er dabei eine besondere Würdigung zu, da seine Position „durch transcendentale Vertiefung im Stande [sei], es zu einem Religionsbegriff zu bringen“¹⁷² und folglich der eigenen Position nahestehe. Zuletzt stellt Tillich den besonderen Einfluss der Ottoschen und Simmelschen De-
EN, Bd. XII, S. 421. Vgl. Tillich, P., Religion als Funktion des menschlichen Geistes? In: Albrecht, R. (Hrsg.), Paul Tillich. Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie (Gesammelte Werke, Bd. V), Stuttgart 1964, S. 39 – 41: In dieser Schrift, die Tillich über drei Jahrzehnte nach seiner RP-Vorlesung verfasst hat, wirft er abermals dasselbe Problem auf und erklärt, warum die Religion nicht mit einer bestimmten Funktion des menschlichen Geistes identisch sein kann. Stattdessen propagiert er sein Konzept, in dem er die Religion als Tiefe einer jeden Funktion des menschlichen Geistes beschreibt: „Was bedeutet die Metapher der Tiefe? Sie bedeutet, daß die religiöse Dimension auf dasjenige im menschlichen Geistesleben hinweist, das letztlich, unendlich, unbedingt ist. Religion ist im weitesten und tiefsten Sinne das, was uns unbedingt angeht. Und das, was uns unbedingt angeht, manifestiert sich in allen schöpferischen Funktionen des menschlichen Geistes. Es wird offenbar in der Sphäre des Ethischen als der unbedingte Ernst der ethischen Forderung […]. Das, was uns unbedingt angeht, wird offenbar in dem Reich des Erkennens als das leidenschaftliche Verlangen nach letzter Realität […]. Das was uns unbedingt angeht, wird offenbar in der ästhetischen Funktion des menschlichen Geistes als die unendliche Sehnsucht nach dem Ausdruck des letzten Sinnes. […] Man kann die Religion nicht mit dem letzten Ernst verwerfen, weil der Ernst oder das Ergriffensein von dem, was uns unbedingt angeht, selbst Religion ist. Die Religion ist die Substanz, der Grund und die Tiefe des menschlichen Geisteslebens. Das ist die religiöse Dimension des menschlichen Geistes.“ (S. 40 – 41) A.a.O., S. 382. EN, Bd. XII, S. 427. A.a.O., S. 431. A.a.O., S. 437.
1.2 Konzeption und Wesen der Religionsphilosophie
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finition von Religion auf seinen eigenen Religionsbegriff mit der Bemerkung heraus, dass diese „der eignen am nächsten stehen und am unmittelbarsten an ihrer Konception beteiligt gewesen sind“¹⁷³ In einem letzten Schritt vor der geschichtsphilosophischen Einordnung des Religionsbegriffs in Form einer typologischen Betrachtung diskutiert Tillich verschiedene Einteilungsprinzipien und geht diesbezüglich vornehmlich auf die geschichtsphilosophische Einteilung Hegels (15. Und 16. Stunde), Hermann Siebecks (dieser verkörpere den „Durchschnitt des gegenwärtigen Denkens“¹⁷⁴), Albrecht Ritschls, Cornelis Petrus Tieles sowie Cajus Fabricius’ ein – mit dem Resultat, dass als einziges Einteilungsprinzip das Verhältnis von Form und Gehalt in Betracht komme.¹⁷⁵ Zuletzt soll kritisch überprüft werden, inwiefern der von Tillich entwickelte Religionsbegriff in die Geistesgeschichte der Religionen einzuordnen ist. Nach der Kritik der Gottesbegriffe ist es Tillich folglich um eine Bewährung des Religionsbegriffs „[…] gegenüber der Mannichfaltigkeit [sic!] der empirischen Religionsformen“¹⁷⁶ zutun. In diesem Zusammenhang entwickelt er eine geschichtsphilosophische Konstruktion der Religionsgeschichte, indem er eine Typologie der Religionen aufstellt, „[…] die doch nicht bloß Typologie ist, sondern auch Geschichtsphilosophie oder Geschichtsmetaphysik des Religiösen, insofern als sie eine Entwicklungslinie der Typen aufstellt, die in einem Normbegriff gipfelt.“¹⁷⁷ Die beiden Pole des „Achsensystems“ der Religionstypologie bilden der ideale Ausgangspunkt mit der „primitiven Kulturreligion“¹⁷⁸ einerseits und der ideale Endpunkt mit der „Religion des Paradox‘ oder [der] paradoxe[n] Kulturreligion“¹⁷⁹ andererseits. Das Einteilungsprinzip, das dieser Konstruktion zugrunde liegt, gewinnt Tillich durch das Verhältnis der beiden Sinnelemente Form und Gehalt¹⁸⁰ bzw. Religion und Kulturform, die im Verlauf der Religionsgeschichte das je Typische der verschiedenen Religionen zum Ausdruck bringen. Mittels ihnen beschreibt Tillich von dem idealen Anfangspunkt ausgehend den Weg der empirischen Religionen über die „logisch-ästhetischen“¹⁸¹ Religionen auf A.a.O., S. 438. A.a.O., S. 449. Vgl. a.a.O., S. 452: „Es gibt nur ein Einteilungsprincip: das ist das Verhältnis von Form und Gehalt. Dieses aber ist im Stande, alle anderen in sich aufzunehmen.“ A.a.O., S. 382. Ebd. A.a.O., S. 453. A.a.O., S. 454. Vgl. Kapitel 1.2.3 (Erkenntnistheoretische Voraussetzungen: Form und Gehalt als Konstituenten des Wahrheitsbegriffs). EN, Bd. XII, S. 454.
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1 Apriorischer Wahrheitsbegriff und Methode
der einen Seite und die „sozialen Kulturreligionen“¹⁸² auf der anderen Seite, der schließlich in der idealen Religion mündet. In diesem Idealpunkt sei eine Synthese erreicht, die Tillich auch als „Universalkirche“¹⁸³ bezeichnet. Sie beschreibt einen Reflexionsstatus, der dadurch gekennzeichnet ist, dass sich in ihr (der Universalkirche) die noch in dem Zustand der Einheit und Unmittelbarkeit (bzw. Unbewusstheit) befindliche Religiosität des primitiven Bewusstseins durch die geschichtlichen Religionen hindurch auf einen höheren Stand manövriert hat, indem nun ein Zustand der Bewusstheit um bzw. eine Reflexion auf die Paradoxie des individuellen Standpunktes eingetreten ist. Aus diesem reflexiven Status heraus wird gleichsam eine bewusste Einheit gefordert, „die paradox ist.“¹⁸⁴ Aus der primitiven, unbewussten Einheit von Form und Gehalt in der „primitiven Kulturreligion“ hat sich folglich, nach der systematischen Scheidung beider Sinnelemente in eine Dominanz des Formelements innerhalb der Ethik und des Gehaltselements innerhalb der Mystik, eine neue, bewusste Einheit etabliert. Aufgrund dieser idealen Synthese innerhalb der Religion es Paradox’ müsse sich jede konkret-historische Erscheinungsform von Religion an dieser messen – auch das Christentum selber. Im Vergleich zu dem oben skizzierten Aufbau der RP-Vorlesung von 1920 entwirft Tillich im zweiten Kapitel der Einleitung der RP (1925) mit dem Titel Die Stellung der Religionsphilosophie im System der Wissenschaften ¹⁸⁵ einen sehr viel bündigeren Arbeitsplan, der wie folgt lautet: Drei Fragen sind es, die wir beantworten wollen: das Verhältnis der Religionsphilosophie zur Seinswissenschaft von der Religion [Tillich meint die Religionswissenschaft], die Stellung der Religionsphilosophie im System der Geisteswissenschaften, insbesondere ihr Verhältnis zur Philosophie überhaupt und zur Theologie, und das Verhältnis von Religionsphilosophie und Metaphysik.¹⁸⁶
Während es in der RP-Vorlesung von 1920 wesentlich darum geht, die Bedeutung der Religion für die Konstitution des menschlichen Bewusstseins (und damit ihren Wahrheitswert) aufzuzeigen, auf diese Weise ihre Geltungsfunktion zu beweisen und den per geltungsphilosophischer Bewusstseinsanalyse gewonnenen Religionsbegriff daraufhin geschichtsphilosophisch einzuordnen und mit anderen Religionsbegriffen zu vergleichen, um schlussendlich dessen normative Bedeutung am christlichen Kriterium (Jesus Christus) aufzuweisen, ist es in der RP
Ebd. A.a.O., S. 453. A.a.O., S. 454. GW, Bd. I, S. 299. A.a.O., S. 300.
1.2 Konzeption und Wesen der Religionsphilosophie
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von 1925 Tillichs Ziel, den inneren Widerspruch von Religionsphilosophie und Offenbarungslehre zu lösen. Beide Aufgaben erscheinen zunächst divergierend und doch zielen sie auf dasselbe ab: Durch den Nachweis der Notwendigkeit der Religion für die einheitliche Konstitution des menschlichen Bewusstseins lässt sich an ihr dessen Tiefenschicht aufweisen. Es wird dargestellt, dass jeder geistige, theoretische Bewusstseinsakt und jedes praktische Handeln eine Tiefe besitzt, welche sein Fundiert-Sein im Unbedingten offenbart; geschehe dies intentional (also bewusst) oder substantiell (unbewusst). Auch in der RP-Vorlesung kommt Tillich zu dem Schluss, dass jeder kulturelle, profane Akt substantiell religiös sei und es folglich keinen Wirklichkeitsbereich gebe, der nicht vom Religiösen fundiert, d. h. getragen, sei. Gleichzeitig stellt diese unmittelbare Verzahnung von Religiösem und Profanem die Lösung des Konfliktes zwischen Offenbarungslehre und Religionsphilosophie (und somit dem Hauptproblem der RP (1925)) dar. Denn auch in der Vorlesung und in Tillichs Religionsphilosophie im Allgemeinen werden expliziert, dass es keinen schlechthin profanen Bereich gibt und auch die Philosophie, sofern sie das Sein in allen seinen Wirklichkeitsbezügen (also notwendig auch in seiner Richtung auf die unbedingte Sinnverwirklichung) beschreibt, auf dessen Tiefe hinweisen muss. Der Konflikt zwischen Offenbarungslehre und Religionsphilosophie ist als dadurch gelöst, dass auch Letztere substantiell religiös ist, bzw. sich nicht außerhalb der Glaubenssphäre bewegt. Eine Außenperspektive ist für die Tillichsche Religionsphilosophie also ausgeschlossen.¹⁸⁷ Tillich geht in seinem Systementwurf so vor, dass er zunächst in einer Einleitung „Gegenstand und Methoden der Religionsphilosophie“¹⁸⁸ erörtert. Dort wird vor allem das Verhältnis der Religionsphilosophie zu den übrigen Teildisziplinen des Wissenschaftssystems erörtert, als auch die Tillichsche Methode – unter Abgrenzung von den „Fremdmethoden“¹⁸⁹ – zur Gewinnung des Religionsbegriffs begründet. In einem ersten Teil – den er auch als „allgemeine Kategorienlehre“¹⁹⁰ bezeichnet – behandelt Tillich schließlich „Das Wesen der Religion“¹⁹¹, während er in einem zweiten und letzten Teil – den er „spezielle Kategorienlehre“¹⁹² oder auch
Vgl. ST I, S. 33 – 34: „Jeder schöpferische Philosoph ist ein heimlicher, oft sogar ausdrücklicher Theologe. Er ist Theologe in dem Maße, in dem seine existentielle Situation und das, was uns unbedingt angeht, seine Philosophie bestimmen.“ GW, Bd. I, S. 297. A.a.O., S. 304. A.a.O., S. 350. A.a.O., S. 318. Ebd.
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„philosophische Erscheinungslehre“¹⁹³ nennt – „Die Kategorien der Religion“¹⁹⁴ bespricht. Diese entsprechen wiederum der Zweiteilung des Religiösen in Prinzip und Wirken (aktuelle Religion). Im ersten Teil geht es Tillich darum, die „Erscheinung des Religiösen in den einzelnen Sinngebieten“¹⁹⁵ zu analysieren und demgemäß zu … […] zeigen, durch welche Kategorien in den verschiedenen Gebieten religiöse Gegenstände konstituiert werden, wie sich diese Kategorien den religionsgeschichtlichen Richtungen entsprechend verändern, wie sie sich zu den profan-kulturellen Kategorien verhalten und wie sie mit dem normativen Religionsbegriff zu normativer Fassung kommen.¹⁹⁶
Um dieses Vorhaben umzusetzen, ist der erste Teil, entsprechend der im Zitat aufgeführten Aufgabenkomplexe, in drei Unterkapitel gegliedert, von denen das erste Kapitel den Wesensbegriff der Religion vor dem Hintergrund einer Darstellung der Sinnelemente¹⁹⁷ behandelt, die im Wesentlichen als Basis der Religionsund Kulturphilosophie dienen. Ebenso wird die Doppelheit der Sinnfunktionen im theoretischen und praktischen Akt erörtert sowie die Wirksamkeit des Religiösen in den einzelnen Sinnfunktionen dargelegt. Auch hier setzt Tillich (wie in der RP-Vorlesung) die Wesens- und Wahrheitsfrage in eins, indem er ihre Identität in der „metalogischen Methode“¹⁹⁸ aufzeigt: „Die Frage nach der Wahrheit der
Ebd. A.a.O., S. 350. A.a.O., S. 350. Ebd. Vgl. Tillich, P., Das System der Wissenschaften nach Gegenständen und Methoden, in: Clayton, J., Writings in the Philosophy of Religion / Religionsphilosophische Schriften (Main Works / Hautwerke, Bd. IV), Berlin; New York 1987, S. 234: Unter Sinnelementen versteht Tillich die den Sinn konstruierenden Konstituenzien. Dazu zählen u. a. Denken und Sein. Sie bilden die „Grundlage für die Erfassung der Sinnfunktionen und Kategorien“ und „konstituieren den Sinn selbst“; Vgl. GW, Bd. I, S. 318: Die Sinnelemente bezeichnen zudem „die im Sinn enthaltenen, ihm untergeordneten, immer gegenwärtigen Elemente des Sinnvollzugs“. Dieser ereignet sich durch das Verhältnis der Sinnelemente zueinander. Weitere Konstituenzien von Sinn bilden drei Elemente, die in jedem Sinnbewusstsein enthalten sind: „erstens, das Bewußtsein des Sinnzusammenhanges […], zweitens das Bewußtsein um die Sinnhaftigkeit des Sinnzusammenhanges […], d. h. das Bewußtsein um einen unbedingten Sinn […], drittens, das Bewußtsein um eine Forderung, unter der jeder Einzelsinn steht, den unbedingten Sinn zu erfüllen.“ (ebd.). Auch Sinnformen und der Sinngehalt bilden Elemente des Sinnes. Ersterer meint die „Besonderung des Einzelsinns und aller Einzelzusammenhänge bis hin zu dem universalen Sinnzusammenhang“, Letzterer den unbedingten Sinn. „Unter Sinngehalt verstehen wir also nicht den Bedeutungsgehalt des einzelnen Sinnvollzugs, sondern die Sinnhaftigkeit, die jedem Einzelsinn Realität, Bedeutung, Wesenhaftigkeit gibt.“ (a.a.O., S. 319). GW, Bd. I, S. 318.
1.2 Konzeption und Wesen der Religionsphilosophie
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Religion ist beantwortet durch die metalogische Erfassung des Wesens der Religion als Richtung auf den unbedingten Sinn.“¹⁹⁹ Im zweiten Kapitel des ersten Teils – unter dem Titel „Die Wesenselemente der Religion und ihre Relationen“²⁰⁰ – behandelt Tillich das Verhältnis von „Religion und Kultur“, „Glaube und Unglaube“, „Gott und Welt“, „d[em] Heilige[n] und d[em] Profane[n]“ sowie „d[em] Göttliche[n] und d[em] Dämonische[n]“.²⁰¹ In diesen Kapiteln geht es Tillich vor allem darum, den formalen Unterschied zwischen Kultursphäre und religiöser Sphäre im Sinne einer Spaltung in die beiden Extreme „Autonomie“ (profane Kultur) und „Heteronomie“ (spezifisch religiöse Kultur) mittels des Religionsverständnisses als unbedingter Realitätsbeziehung aufzuheben und die Einheit von Religion und Kultur in der von ihm als „theonom“ bezeichneten Geisteslage darzustellen.²⁰² Diese theonome Haltung, die Tillich hier als einen religiösen Zustand beschreibt, der den eigenen Glauben auf einer reflexiven Metaebene durch die bedingten Formen hindurch und unter der Berücksichtigung der Paradoxie menschlichen Erkennens und göttlichen Wirkens im Bedingten erfasst, meint im Prinzip genau das, was Tillich in der RP-Vorlesung als den Idealzustand einer Religion, die Religion des Paradox’, bezeichnet. Gleichzeitig analysiert er diese Synthese innerhalb der verschiedenen „Wesenselemente“ menschlichen Lebens, wobei die Begriffe „Religion“ und „Kultur“ jeweils eine Entsprechung in den Begriffen „Glaube“ und „Unglaube“ (im subjektiven Bereich), „Gott“ und „Welt“ (in der „Objektssphäre“ sowie „heilig“ und „profan“ erfahren.²⁰³ Das Göttliche und das Dämonische erweisen sich dabei als das Grund- und Abgrundmotiv des Heiligen selbst, wodurch dessen innere Dialektik expliziert wird. Das dritte Kapitel des ersten Teils entspricht im Wesentlichen der geschichtsphilosophischen Einordnung des Religionsbegriffs, wie dies in Tillichs RP-Vorlesung mit noch größerem Schwerpunkt vollzogen worden ist. Jedoch äußert sich Tillich im Systementwurf mit dem Argument, sie würde im Gegensatz zu diesem Vorhaben stehen, da sie alle religiösen „[…] Richtungen nebeneinander gleichberechtigt sieht“²⁰⁴, kritisch gegenüber der Typenlehre und wertet diese folglich als inadäquate Methode zur Entwicklung eines religiösen Normbegriffs. Die Vorbehalte, die Tillich hier einer typologischen Systematisierung der Religionen gegenüber hervorbringt, lassen sich jedoch nicht auf die in der RP-
A.a.O., S. 327. A.a.O., S. 329. Ebd. bis a.a.O., S. 338. A.a.O., S. 330 – 331. A.a.O., S. 331– 338 A.a.O., S. 344.
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Vorlesung von ihm dargestellten geschichtsphilosophischen Konstruktion der Religionen übertragen. Denn dort behandelt Tillich keinesfalls alle Religionen als gleichberechtigt nebeneinander, sondern beweist vielmehr, dass die empirischen Religionsgemeinschaften zwar dieselben Grundprinzipien in sich vereinen (da sie alle aus einem konstruierten Ursprung erwachsen), diese jedoch in unterschiedlichem Maße in ihnen zur Ausprägung kommen und sie letztlich dazu prädestiniert seien, innerhalb des Geschichtsprozesses auf einen Idealtypus hinzustreben: die Religion des Paradox’. Somit sind zwar allen Religionen gemeinsame Grundprinzipien inhärent – alle verfügen sie über ein Form- und ein Gehaltelement – und doch kommt es in ihren jeweiligen konkret-historischen Ausprägungen zu nicht nur stark divergierenden Varianten, sondern auch zu Disparitäten. Und doch versucht Tillich zu exemplifizieren, dass in jeder konkreten geschichtlichen Religion stets beide Urelemente (Form und Gehalt) vorfindlich sind und in einem reziproken Verhältnis zueinander stehen, wenn auch beispielsweise in den beiden gegensätzlichsten Religionsformen, den Religionen der mystischen und der ethischen Individualität das eine Element zuungunsten des anderen überwiegt. Tillich erörtert in der RP (1925) sowohl die sakramentale und theokratische Haltung als auch die Mystik, wobei er die „sakramentale Geisteslage als Ausgangspunkt aller Bewegungen“²⁰⁵ bestimmt, da sie „indifferent gegen den Unterschied des Göttlichen und Dämonischen“²⁰⁶ sei.²⁰⁷ Synonym für diese Geisteslage verwendet Tillich entsprechend auch den Begriff „Religion der Indifferenz“²⁰⁸, welchen er – wie auch schon 1920 – als adäquater erachtet als die geläufige Bezeichnung Naturreligion²⁰⁹. Darüber hinaus korrespondieren die Religion der Indifferenz und die sakramentale Geisteslage mit dem Begriff „Primitive Kulturreligion“, den Tillich in der RP-Vorlesung (1920) verwendet. Dort werden die verschiedenen Religionsformen von Tillich je nach Überwiegen des Form- oder Gehaltelements in einem Achsensystem verortet und deren Ausprägungen miteinander in Beziehung gesetzt, während Tillich im Systementwurf unmittelbar nach der Beschreibung des Ausgangspunktes den Zielpunkt,
A.a.O., S. 343. Die sakramentale Geisteslage entspricht hierbei der primitiven Kulturreligion der RP-Vorlesung von 1920. Ebd. A.a.O., S. 340 und S. 343: Die Ausführungen Tillichs zu den dargestellten Themen finden sich in den Kapiteln Die religiösen Grundrichtungen und Die Religionsgeschichte und der normative Religionsbegriff. A.a.O., S. 343. Vgl. Kapitel 2.1.2 dieser Arbeit.
1.2 Konzeption und Wesen der Religionsphilosophie
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die „Religion der Gnade“ oder „Religion des Paradox’“, behandelt.²¹⁰ Der Ausgangspunkt, die „indifferent-sakramentale Geisteshaltung“²¹¹, dient Tillich gleichsam als geeigneter Referenzpunkt einer Charakterisierung der verschiedenen religiösen Varietäten, wie z. B. des Polytheismus’, Monotheismus’, „mythischen Dualismus[’]“²¹² sowie der „reine[n] Theokratie“²¹³ – je nach Grad der Nähe oder Distanz zu ihrem Ausgangspunkt. Analog zu den religiösen Grundrichtungen behandelt Tillich im letzten Unterkapitel des ersten Teils Die religiösen Richtungen der autonomen Kultur²¹⁴ mit der Begründung, „daß die Kultur zwar nicht der Intention, aber der Substanz nach religiös ist. Es muß infolgedessen möglich sein, in der Kultur die gleichen Grundrichtungen wiederzufinden wie in der innerreligiösen Entwicklung.“²¹⁵ An die Stelle der Ekstase als dem Erlebnis der unbedingten Realität im Bedingten tritt in der autonomen Kultur der Enthusiasmus. Dieser unterscheidet sich nur insofern von jener, als er zwar die gleichen affektiven Gefühle, z. B. gegenüber des Kunstobjekts evoziert, und damit eine ebenso starke „formzersprengende[…]“²¹⁶ Kraft aufweisen könne, jedoch mit dem Unterschied, dass diese Gefühle in ihrer Richtung nicht auf das Unbedingte als das die Form überschreitende Moment zielen, sondern innerhalb der autonomen Formen bleiben. Tillich behandelt in diesem Kapitel weiterhin die „pantheistische Grundhaltung“²¹⁷ (analog zur sakramentalen Richtung) sowie den „kritischen Rationalismus“²¹⁸ (analog zur theokratischen Richtung). Am Ende des Kapitels, und somit auch des gesamten ersten Teils, kommt Tillich zu dem Ergebnis, dass die Religion des Paradox’ imstande sei, „alle Wesenselemente von Religion und Kultur zusammen[zuschließen] und […] die theonome Geisteslage [zu schaffen], die das im Wesen des Sinnes selbst angelegte Ziel aller Sinnverwirklichung ist.“²¹⁹ Im zweiten und letzten Teil behandelt Tillich die religiösen Kategorien, indem er innerhalb der theoretischen Sphäre die „Kategorien der religiösen Metaphysik“²²⁰, Mythos und Offenbarung, und innerhalb der praktischen Sphäre die
GW, Bd. I, S. 344. Ebd. A.a.O., S. 345. Ebd. A.a.O., S. 347. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. A.a.O., S. 349. A.a.O., S. 350.
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„Kategorien des religiösen Ethos“²²¹, Kultus und Kultgemeinde, behandelt. Tillich schließt seine Religionsphilosophie mit dem Hinweis, er habe durch sie den Versuch unternommen, „eine theonome Religionsphilosophie zu schaffen, die den Konflikt von Theologie und Religionsphilosophie überwunden hat und an die sich die Theologie als konkrete Durchführung und Erfüllung anschließen kann.“²²² Der intertextuelle, inhaltliche Vergleich hat deutlich gemacht, dass ausgehend von Tillichs RP (1925) alleine noch keine ertragreiche Aussage über das Verhältnis des Christentums zu den anderen empirischen Religionsgemeinschaften getroffen werden kann. Zwar ist es ausgehend von ihr möglich, den Wahrheitsbegriff als einen philosophischen Allgemeinbegriff epistemologisch zu skizzieren, wie dies bereits andere Forscher, wie z. B. Thomas Weiß in seinem Werk Religio vera ²²³, unternommen haben, doch wird erst im Zusammenwirken mit der RP-Vorlesung der religionstheologische wie interreligiöse Bezug in seiner gesamten Tragweite deutlich. Zusammenfassend sind es vornehmlich fünf Aufgaben, denen sich Tillich innerhalb seines religionsphilosophischen Programms verpflichtet: Es soll erstens in Form einer geltungsphilosophischen, kritischen Analyse nachgewiesen werden, dass der Religion für die Synthesisfunktion des menschlichen Bewusstseins eine zentrale Stellung zukommt. Zweitens soll (erweiternd zur kritischen Analyse) das vom menschlichen Bewusstsein innerhalb der religiösen Geisteslage Gemeinte als ein irrationales Moment beschrieben werden, welches rational weder beweisbar, noch gegenständlich erfassbar sei und von Tillich als der unbedingte Realitätsbezug bzw. Sinngrund und -abgrund gedeutet wird. Dieser kann immer nur symbolisch auf das hinweisen, was gemeinhin und unter dem Vollzug von Objektivationen als die göttlich-transzendente Sphäre gedacht wird. Diese Richtung des religiösen Bewusstseins auf den letzten und damit unbedingten Sinn wird von Tillich als die dem Denken inhärente Bewusstseinsstruktur verstanden, ohne die ein Bezug zur Realität nicht möglich wäre bzw. ohne der dem Menschen keine sinnvolle, in sich zusammenhängende Realität einheitlich erscheinen könnte. Tillich möchte drittens das religionsphilosophische Grundproblem lösen, welches in der Spaltung von Theologie und Religionsphilosophie begründet liegt, indem er eine theonome Religionsphilosophie schafft, in der die Unvereinbarkeit von Kultur und Religion prinzipiell überwunden ist. Viertens soll die Spaltung von Religion und Kultur mit der Einsicht in eine allen autonomen
Ebd. A.a.O., S. 364. Vgl. Fußnote Nr. 17.
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Funktionen zugrundeliegenden Möglichkeit, den unbedingten Sinn sichtbar zu machen, überwunden werden. Jede autonome Form sei substantiell religiös bzw. könne religiöse Qualitäten tragen, denn jede Form wurzele im Unbedingten. Zuletzt soll mittels einer geschichtsphilosophischen Typenlehre eine ideale Religion (die Religion der Gnade bzw. Religion des Paradox’) kreiert werden, mittels welcher demonstriert wird, dass die in den verschiedenen Religionen enthaltenen Grundrichtungen sich in ihrer konkret-historischen Erscheinung und aufgrund ihrer strukturellen Gemeinsamkeiten (in allen Religionen ist ein Form- und ein Gehaltelement enthalten) auf diesen Idealtypus zubewegen. In der Religion des Paradox’ ist gleichsam das erstrebte Ziel einer religiösen Theonomie, wenn nicht gänzlich erreicht, so doch wenigstens in Aussicht gestellt.
1.2.3 Die geltungstheoretische Grundlegung der Religionsphilosophie Dieses Kapitel dient der Annäherung an die von Tillich entwickelte Idee einer Verbindung von Wesen und Funktion der Religionsphilosophie mit der Wahrheitsfrage, indem ihre geltungstheoretische Grundlegung ausgehend von der RPVorlesung (1920), dem System der Wissenschaften und der RP (1925) beleuchtet wird. Aus der im vorherigen Kapitel dargestellten Aufgabe der Religionsphilosophie, Religion als konstitutives Element für den Aufbau des Bewusstseins nachzuweisen und damit einen „Beweis ihrer Bewußtseinsnotwendigkeit, ihres Geltens im kritischen Sinne“²²⁴ zu erbringen, ergibt sich die Notwendigkeit, mittels einer analytischen Betrachtung des Tillichschen Geltungsverständnisses aufgrund der korrelativen Bezogenheit gleichzeitig die Frage nach dem Wesen von Religion zu vertiefen und zu erörtern, wie Wesen und Wahrheit im Lichte der Geltungstheorie aufeinander zu beziehen sind. Im System der Wissenschaften, welches drei Jahre nach der RP-Vorlesung erschienen ist, liefert Tillich eine explizite Definition des Geltungsbegriffs: Im Zusammenhang seiner Erörterung der Denk- bzw. Idealwissenschaften²²⁵ beschreibt
GW, Bd. I, S. 345. Vgl. GW, Bd. I, S. 124– 131: Zu den Denk- oder Idealwissenschaften zählt Tillich die Logik sowie die Mathematik. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass sich in ihnen „die wissenschaftliche Erkenntnis auf diejenigen Formen [richtet], die dem Denken wesentlich sind, abgesehen von seiner Verbindung mit dem Sein“ (S. 124). Das Denken wird also „losgelöst von jedem Inhalt“ (ebd.) betrachtet und richtet sich rein auf die ihm inhärente Denkform. Es wird unter Ausschluss der Besonderheit und des Individuellen einer jeden Seinsgestalt von der Wirklichkeit abstrahiert und ein formal-logisches Denkgebäude errichtet, in das die Gegenstände eingeordnet werden. Während der Beschreibung der Mathematik macht Tillich diesen Sachverhalt am Beispiel der
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Tillich sowohl die Denk-, als auch die Geisteswissenschaften als Wissenschaften, in denen das Gelten eine zentrale Rolle spiele. In den Denkwissenschaften richte sich die Erkenntnis nur auf denkgeformtes Sein, das den Abgrund nicht in sich trägt.²²⁶ Das reine Sein²²⁷ hingegen „[…] ist das wesensmäßig unfaßbare, der Abgrund des Erkennens.“²²⁸ Der Begriff Abgrund bezeichnet hier also das sich dem Wissen Entziehende, das für den menschlichen Geist unfassbare, nicht zu erschließende Sein, welches nicht exakt mit Mitteln logischen Denkens erfasst werden kann. Unfassbar (und damit auch unendlich) ist dieses Sein, da ihm ob seiner Erfahrbarkeit im Denken stets Momente des Sich-Entziehens, Sich-Verschließens gegenüber demselben anhaften. Tillich spricht auch von der Tiefe ²²⁹ des Seins. Innerhalb der Grenzen des reinen Denkens und unter Ausblendung der Seinshaftigkeit aller Dinge, können die Objekte dem Denken jedoch vollkommen unterworfen werden (wie z. B. in der Mathematikwissenschaft), sodass evidente Aussagen über Ursachen und Wirkungen aller Dinge getroffen werden können.
Geometrie und Arithmetik fest. Diese beschreibt er als „reine Formwissenschaften“, deren „Evidenz allein darauf beruht, daß in ihren Gebilden das Denken bei sich selbst bleibt.“ (S. 131) Es bleibt bei sich selbst, weil es nicht das Sein, wie es wirklich ist, erfasst. Die Geometrie abstrahiert von der Wirklichkeit, indem sie z. B. mit Konstrukten wie „geraden Linien, rechtwinkligen Dreiecken usw.“ arbeitet. Diese Konstrukte werden dann in Form von Deduktion auf die Wirklichkeit angewandt. „Nun ist aber offenbar, daß die geometrischen Gebilde sich mit den wirklichen Dingen keineswegs decken, daß es in der Natur keine wirklichen Punkte, geraden Linien, rechtwinkligen Dreiecke usw. gibt.“ (S. 130). Das Denken richtet sich hier also nicht auf das wirkliche Sein, sondern nur auf sich selbst, insofern als es diese abstrakten Begriffe und Konstrukte selbst geschaffen hat. In den Denkwissenschaften werden daher durch Definition konstruierte „ideale Gebilde erschaffen“ (S. 126). Die Erkenntnishaltung ist deswegen auch immer „intuitiv-rational“, da das „Objekt des Erkennens“ mit der „Funktion des Erkennens“ identisch ist. (S. 126) „Die intuitiv-rationale Stellung schafft demnach evidente Erkenntnis. (S. 127) Die höchste Rationalität kommt in dem Satz A=A zum Ausdruck.“ Vgl. Schelling, F.-W.-J., Über das Wesen der menschlichen Freiheit, Stuttgart 1964: Der Begriff des „Abgrundes“, den Tillich häufig verwendet, ist Schelling entlehnt. Dieser hat den Begriff „Abgrund“ in seiner Freiheitsschrift als in der Wesenheit Gottes selbst enthaltenes Moment des Dunklen, Anderen und Fremden systematisch entwickelt. Gleichzeitig korrespondiert der Begriff des „Abgrundes“ mit dem Begriff des „Unvordenklichen“ bei Schelling. „Rein“ im Sinne seiner Wesensbestimmung. Vgl. auch ST I/II, S. 22: Der Begriff des „reinen Seins“ korrespondiert mit der späteren Vorstellung Tillichs vom „Sein“: In diesem Zusammenhang bedeutet „Sein“ nicht die „Existenz in Raum und Zeit“ welche bedingten Einflüssen unterliegt, sondern „Sein“ meint in diesem Zusammenhang „das Ganze der menschlichen Wirklichkeit, die Struktur, den Sinn und das Ziel der Existenz.“ GW, Bd. I, S. 125. A.a.O., S. 335.
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Dies geht jedoch nur unter Absehung von dem „seinshaften“²³⁰ Überhang, der die Lebendigkeit und Eigendynamik der Dinge und ihren Eigenwillen ausmacht – ihr eigentliches, vom Betrachter unabhängiges Sein welches nicht von subjektiven Erscheinungsweisen abhängig ist. Werden die Objekte der Betrachtung ihres seinshaften und damit eigentlichen Wesens beschnitten und auf ihre jeweilige Erscheinung reduziert, so ist es nur folgerichtig, dass innerhalb dieser begrenzenden Betrachtung eine evidente, in sich logische und geschlossene Aussage über sie möglich ist. Diese Form von Evidenz entspricht jedoch nicht dem eigentlichen Wesen der Dinge. Der so erbrachte Wahrheits- bzw. Gültigkeitsnahweis über formal-logische Zusammenhänge erfolgt folglich unter Abstraktion vom Wirklichen. In den Geisteswissenschaften richte sich die Erkenntnis jedoch demgegenüber weder auf die reine Form des Denkens²³¹, noch auf das Sein an sich, sondern auf das Denken selbst. Diese reflexive, abstrahierende Funktion des Denkens komme lediglich der geisttragenden Gestalt (dem Menschen) zu, da sie sowohl im Besitz des Denkens ist, als auch – von dieser Introspektion abstrahierend – vom ihm als einer unabhängig vom eigenen Denken und von diesem abstrahierenden Entität sprechen kann. Indem das Denken sich denkt, bleibt es jedoch gleichzeitig innerhalb der Denkstrukturen, praktisch an sie gebunden, theoretisch jedoch frei von ihnen. Denn, indem es sich selbst reflektiert, löst es sich „von seiner Bedingtheit und Unmittelbarkeit“²³²; „es tritt allen Seinsformen
Die Formulierung „seinshaft“ entspricht dem Tillichschen Vokabular. Innerhalb dieser Arbeit wird dieser Begriff mehrfach zitiert. Er findet sich in etwa in den Werken System der Wissenschaften, der RP (1925) als auch in der Dresdner-Dogmatik Vorlesung (1925): Beispielhaft spricht Tillich in ersterem von einem „seinshafte[n] Stoff“, der jedem schöpferischen Akt inhärent sei (GW, Bd. I, S. 214), in der RP (1925) von einer „seinshafte[n] Unmittelbarkeit (GW, Bd. I, S. 322) und in letzterem von dem „Weg der Metaphysik“, welcher durch den „Urstand“ vermittelt sei und folglich den „[…] Punkt [beschreibe], an dem der Fragende als Erkennender und damit als Träger sinnhafter Akte überhaupt seinshaft wurzelt.“ [Hervorh. d. Verf.] Diese seinshafte Verwurzelung führt gleichsam zum „unbedingt Angehenden“. (EN, Bd. XIV, S. 91). Gemeinsam ist allen Kontexten, in denen das Adjektiv seinshaft auftaucht, dass sie das Urständliche, den Ursprung, das Wesen oder den Stoff des Wesensaktes oder des Denkens illustrieren. Damit ist die oben erwähnte faktische Existenz des Menschen gemeint, welcher sich als seiend vorfindet und nach seinem Sein, seinem Wesen, seiner ursprünglichen Bestimmung fragt, die sich eben nicht mit dem deckt, wie sein eigenes Sein, das Sein anderer Lebewesen und das Sein anderer Objekte ihm erscheinen. Die „reine Form des Denkens“ kann verstanden werden als der Grundsatz A=A (formale Logik). Dieser läuft darauf hinaus, dass das Denken die gegebenen Dinge oder das Sein der ihm inhärenten Denkform anpasst bzw. sie nicht in ihrer Seinshaftigkeit erfasst, sondern von dem Sein, wie es ist, abstrahiert und dieses lediglich mittels verallgemeinernder Begriffsbildung in Form von abstrakt-logischen Formeln erfasst. GW, Bd. I, S. 210. Unter dem Denken in seiner Bedingtheit und Unmittelbarkeit kann ein Zustand verstanden werden, in dem Denkakt und Gedachtes bzw. Denkinhalt noch nicht ge-
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gegenüber mit der Unbedingtheit seiner Forderung, es tritt dem Sein gegenüber als Geltung.“²³³ Tillich zieht hier einen zunächst nicht leicht nachvollziehbaren Sprung von der dem Denken inhärenten Reflexionsstruktur, die auf sich als Denken gerichtet ist, und der erst in einem zweiten Schritt vollzogenen Konsequenz, die daraus entsteht: sich selbst Normen und (Denk‐)kategorien zu präskribieren. Im (Ideal‐)Zustand der Indifferenz hingegen, in welchem Denken und Sein noch in einer Einheit stehen, Entbehren die „Sinnelemente“ Denken und Sein noch jeglicher Form von Selbstheit, die ein bewusstes Abgrenzen des eigenen Selbst von der Umgebung und ein Verständnis vom eigenen Sein bzw. die Denkfähigkeit des eigenen Seins voraussetzt. Dieser Zustand – der im Wesentlichen dem in der ST II (1984) eingeführten Begriff der Essenz entspricht – ist ein von Tillich konstruierter. Ist dieses Einheitsstadium jedoch überschritten, emanzipiert sich das Denken als selbständiges Sein. Damit ist die Möglichkeit der Selbstreflexion gegeben, dem Denken aus einer Metaperspektive. Aus diesem Stadium heraus können Forderungen des Denkens an sich selbst gerichtet werden. Die unbedingte Forderung kann als der Wille und das Verlangen verstanden werden, die Unbedingtheit bzw. die Tiefe der Dinge und des Seins, d. h. nicht nur die Form, in der sie aktuell erscheinen, erkennen zu wollen, sondern auch ihrem Wesen, ihrer Substanz, ihrem unbedingten Sinn nachzuspüren, diesen zu erfassen und sich anzueignen. Diese Forderung ist gleichzeitig Signum der Freiheit des Geistes. Er ist frei, indem er nicht an die Unmittelbarkeit der Subjekt-Objekt-Identität gebunden ist. Nur der freie, menschliche Geist, der sich selbst als Gegenüber zu den Dingen begreifen kann, ist in der Lage, „[…] die unbedingte Forderung [aufzustellen]; nur auf dem Boden der Freiheit kann Geltendes verwirklicht werden.“²³⁴ Das Geltende wird von Tillich gleichzeitig als „Urfunktion“ beschrieben, welche … […] nichts anderes [bedeutet], als daß das Denken die Unbedingtheit seiner Form in jedem Seienden zu realisieren sucht, daß aber kein Seiendes sich mit der reinen Form deckt. Das Gelten offenbart, daß die Denkform allem Wirklichen gegenüber zugleich Formung und Forderung ist – wie es dem Urverhältnis von Denken und Sein entspricht.²³⁵
schieden sind und sich das Denken daher nicht aus seiner endlichen Form gelöst hat. Das Denken ist dann selbst Seinsform und kann als solche nicht von sich selbst abstrahieren. Es ist daher unfrei und gebunden. Diese Tillichsche Bezeichnung des „Denkens in seiner Bedingtheit und Unmittelbarkeit“ korrespondiert wiederum mit der Vorstellung vom „Unvordenklichen Sein“ bei Schelling und daher mit dem Abgrund-Begriff. Ebd. GW, Bd. I, S. 210. A.a.O. S. 125.
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Das Geltende als Urfunktion und als die „Unbedingtheit seiner Form“ korrespondiert also mit der Form des Denkens und meint seine seinshafte Verwurzelung, also das Sein, von dem es entstammt. Das Denken versucht, seine Bestimmung, sein Gelten in anderem Sein zu finden, was allerdings unmöglich ist. Seine an sich selbst gerichtete Forderung, die in Form von Geltung erscheint, trägt als Maßstab in sich die Idealität des seinshaften Denkens: der Einheit von Denken und Sein im Urzustand. In dem Versuch, diese Idealität zu realisieren (z. B. durch Denkakte), muss das Denken erkennen, dass seine seinshafte Unmittelbarkeit in seinem faktischen Dasein nicht erreicht werden kann, sondern nur erstrebt. Das macht seine Idealität aus. Folglich realisiert es, dass alles Wirkliche, das ihm als anderes Sein (Objekte wie Subjekte) gegenübertritt, nur „Formung“ ist und damit Konstrukt seiner Selbst. Formung deshalb, da das Denken alles, was es in sich aufnimmt (sprich alle Wirklichkeitsbezüge) der ihm entsprechenden und inhärenten Form anpasst. Folglich lässt sich über das Denken (bzw. Erkennen) schlussfolgernd sagen, dass alles, was gedacht werden kann, was denkbar ist, immer nur geformte Erscheinung sein kann²³⁶, niemals aber die Wirklichkeit als solche abbilden kann. An genau diesem Punkt des Denkens erhebt sich dann die Forderung, eben diese faktische Realität als solche aufnehmen zu können und den Spalt der Trennung, den Abgrund, zu überwinden. Das Denken richtet diese Forderung an sich selbst und manövriert sich dadurch in eine Metaebene, aus deren Perspektive es möglich wird, über sich selbst zu reflektieren und anzustreben, das Gültige zu verwirklichen. Dieses Gültige wird von Tillich mit dem Allgemeinen identifiziert, welches sich in jedem geistigen Akt als „[…] Durchbruch durch die Grenzen des unmittelbar Gestalthaften […]“²³⁷ äußert. Das Gültige kann also Synonym zur unbedingten Forderung gelesen werden. Es ist zu verstehen als eine Formproduktion des Geistes, in Richtung auf unbedingte Formverwirklichung. Der folgende Exkurs soll den Zusammenhang dieser Interpretation des Gültigen und der unbedingten Forderung mit dem Begriff des Allgemeinen explizieren und dadurch die Geltungsfunktion des Bewusstseins präzisieren. Es soll auch die Frage geklärt werden, in welcher Beziehung Gültiges, Allgemeines, die unbedingte Forderung und Unbedingtes stehen. Die Klärung der Zusammenhänge zwischen obigen Begriffen erweist sich als Herausforderung. Denn Tillich äußert sich bezüglich einer genauen Abgrenzung oft ambigue. Das Zentralproblem, das sich stellt, ist die Frage nach einem Zu-
Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft. GW, Bd. I, S. 211.
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sammenhang der oben genannten Begriffe mit Tillichs Wahrheitsverständnis. Um dies zu ermitteln, müssen zunächst die Begriffe untereinander geklärt werden. Erst in einem sekundären Schritt wird versucht werden, der Frage zu folgen, welche Konsequenzen sich aus der Analyse der einzelnen Begrifflichkeiten untereinander darüber ergeben, ob Gültiges, Allgemeines und die unbedingte Forderung mit dem Unbedingten korrespondieren und ob dieses Unbedingte mit dem Göttlichen oder der Wahrheit selbst als ein vom menschlichen Bewusstsein Verschiedenes und zu ihm in Beziehung Stehendes zu begreifen ist. Es stellt sich also die Frage, wie die obigen Begriffe in Beziehung zum Unbedingten als einem auf Gott rekurrierenden Begriff zu denken sind. Zu fragen ist weiterhin, ob nicht diese göttliche Selbstkundgabe bei Tillich nichts weiter ist als eine psychologische Selbstreflexion des menschlichen Bewusstseins im Gewandt philosophischer und theologischer Reflexions- und Denkkategorien. Zunächst lässt sich bemerken, dass es Tillich im Kontext seiner religionsphilosophischen und wissenschaftssystematischen Erwägungen nicht darum geht, eine metaphysisch-spekulative und dogmatische Analyse vom Allgemeinen zu liefern, sondern es – synonym verwendet zu dem Gültigen – als einen Funktionsbegriff des menschlichen Bewusstseins zu erachten. Es steht an dieser Stelle also zunächst außer Frage, inwiefern dieser Funktionsbegriff auf eine Gottheit, gedacht als eine jedes Individuelle verbindende Gesamtwirklichkeit und als reales Korrelat zum Menschlichen zu denken ist. Das Allgemeine wird folglich in diesem Kontext zunächst als eine ontologische Kategorie erhellt, die eine Strukturbedingung in der Konstitution endlichen Seins bezeichnet. Im System der Wissenschaften findet das Allgemeine im Kontext der Erörterung des Schöpferischen Erwähnung. Dabei bildet es einen Pol dessen bipolarer Konstitution: Tillich präsupponiert, dass jede geistige Schöpfung stets ein allgemeines und besonderes Moment in sich vereint. Dabei erörtert und kritisiert er zwei methodische Haltungen, die sich in ihrer Isolation voneinander je einem der beiden Momente widmen und diese in unzulässiger Weise verabsolutieren: Sowohl die rationale Richtung, die das Allgemeine unter Abstraktion vom Besonderen zu erstreben suche, als auch die irrationale Richtung, die ausschließlich das Besondere im Fokus habe, werden von ihm als inadäquate Darstellungen des Schöpferischen beschrieben. Hinsichtlich der rationalistischen Position urteilt er: Die rationale Richtung beurteilt das rationale Schaffen als den Versuch, das Allgemeine zu verwirklichen: Je mehr das gelingt, desto wertvoller ist das Werk. Das Allgemeine ist das Gesetz, dem sich das Einzelne zu beugen hat, und insofern es das nicht tut, ist es mangelhaft und unrichtig. Alles geistige Schaffen ist Annäherung an ein unendliches Ideal. ²³⁸
A.a.O., S. 213.
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Rationales Denken – so die Schlussfolgerungen aus obigem Zitat – ist also auf die Annäherung an ein allgemeines Gesetz ausgerichtet, welches es zu erstreben gilt, da diesem ideale Geltung und höchste rationale Vollkommenheit beigemessen wird. Das Allgemeine entspricht also als ein Gesetz einem unendlichen Ideal, welches transzendent, also jenseits des Wirklichen, sich in einer Geltungssphäre befindet. Das, was gültig ist, gilt also unabhängig vom Subjekt und über dessen Sein hinaus, ihm kommt überzeitliche Geltung zu. Tillich stellt diesbezüglich einen Bezug zum platonischen Ideenhimmel²³⁹ her. Insgesamt wird spekulativ eine Wirklichkeit vorausgesetzt, die mit logischen Argumenten bewiesen wird, die jedoch jeglicher Beweisbarkeit ermangelt, da ihre Geltung in dem Moment der Fragwürdigkeit unterworfen ist, wenn ihre Prämissen (z. B. die Prämisse, dass der Verstand das Erkenntnisorgan der göttlichen Wirklichkeit darstellt und folglich die Existenz eines Gottes logisch bewiesen werden könne) grundsätzlich in Frage gestellt werden. Deshalb urteilt Tillich auch schon in der RP-Vorlesung über die rationalistische Methode: „Ihre Definition setzt immer das zu Definierende voraus.“²⁴⁰ Denn aus ihrer Perspektive wird das Sein (einschließlich der Dinge) nicht so gesehen, wie es dem Betrachter erscheint, sondern es wird proklamiert, aus dieser Erscheinung eine Gültigkeit ableiten zu können. Diese entspricht allerdings nicht mehr dem Erkenntnisobjekt, sondern ist, ob der Deutungsimprägniertheit des denkenden Subjektes (der Ratio), Signum dafür, dass das Sein nur im Lichte eigener Denkkategorien und -voraussetzungen angeschaut wird. Das Allgemeine bedeutet ein unter Absehung des Existenziellen zu erstrebendes unendliches Ideal, welches in der Existenz nur unter Abstraktion vom Konkreten vorstellig werden kann, z. B. in Form von überzeitlich gültigen mathematischen Formeln oder physikalischen Gesetzen. Damit ist jedoch nichts über die Wahrheit des Konkreten ausgesagt, es trifft nicht die existentielle Situation und kann daher nicht auf das Geistige angewandt werden. Die gegensätzliche Position, die durch Ausblenden des Allgemeinen und reiner Betonung der Individualität schöpferischer Geistigkeit charakterisiert ist, wird von Tillich ebenso der Kritik ausgesetzt. Als „schöpferische Setzung“²⁴¹ werde hier nur das eigene Selbst in psychologischer Hinsicht begriffen, „und zwar umso mehr, je weniger es durch Allgemeines beeinflusst ist.“²⁴² Hier steht die reine Subjektivität im Vordergrund, welche entweder als das „subjektive Gefühl“ oder als der „subjektive Wille“ erscheint. Tillich urteilt:
EN, Bd. XII, S. 342. A.a.O., S. 373. GW, Bd. I., S. 214. Ebd.
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Aber diese Auffassung übersieht, daß in der Gestaltsphäre noch gar keine vollkommene Individualisierung erreicht ist, daß hier das Strukturgesetz herrscht und die Willkür nichts anderes ist als biologische und psychologische Notwendigkeit.²⁴³
Daher sei nur dort wirkliche, geistige Schöpfung vorhanden, „wo das Allgemeine in das Besondere eingebildet ist“²⁴⁴. Eine Trennung beider im schöpferischen Prozess enthaltenen Elemente sei – so Tillich – „eine nachträgliche Abstraktion“²⁴⁵, in Wirklichkeit könne jedoch immer nur von einer „schöpferische[n] Einheit“²⁴⁶ gesprochen werden. Zur vollkommenen Individualisierung gehören demnach immer beide Momente: das Allgemeine sowie das Besondere. Erst durch die spannungsvolle Einheit beider Elemente entsteht das, was Tillich unter eigentlichem Schöpfertum versteht. Denn nur dann, wenn das Allgemeine in das Besondere integriert ist, existiert Denken innerhalb einer geisttragenden Persönlichkeit. Nur im existierenden Denken ist dieses gleichsam nach zwei Richtungen von der Unmittelbarkeit seiner idealen Einheit mit dem Sein befreit: Zum einen ist es frei von der Notwendigkeit, die der Gestaltsphäre anhaftet, in welcher eine Knechtschaft des Willens besteht und nur subjektives Gefühl in Willkür depraviert ist. Zum anderen ist es frei von einer rationalen Versklavung, die dem Glauben folgt, eine absolute Verwirklichung des Allgemeinen (Gesetzes) im Besonderen herbeiführen zu können. Das existierende Denken ist weder an die natürliche Notwendigkeit gebunden, noch an selbst auferlegte Ideale, die zu erfüllen es ob seiner geistigen Beschaffenheit nicht in der Lage ist. Eine Methodik, die die reziproke Bezogenheit von Allgemeinem und Besonderem im Schöpferischen berücksichtigt ist also von Bedeutung für eine Berücksichtigung der Freiheit des Geistes, sich über seine biologische Naturgrundlage zu erheben, also nicht der Notwendigkeit verhaftet zu sein und auch von dem Gesetz befreit zu sein. Allgemeines und Besonderes bilden also erst in ihrer bewussten (nicht ursprünglichen) Einheit wirkliches Schöpfertum auf Grundalge einer freien Geistigkeit. Weiß hält diesbezüglich zusammenfassend fest: „Geist als das dritte des Wissens selbst, ist ein Allgemeines, wodurch ein Individuelles geformt wird. Fehlt eines der beiden Momente, so käme es entweder zur Rationalisierung innerhalb geistiger Prozesse, oder zur Sensualisierung des geistigen Prozesses. Beide Momente müssen also im Schaffensprozeß des Geistigen belassen werden.“²⁴⁷ Die Korrelation von Allgemeinem und Besonderem im Geistigen lässt sich auch daran
Ebd. Ebd. A.a.O., S. 213. Ebd. Weiß, T., Religio vera?, S. 28.
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explizieren, dass die geisttragende Gestalt sich der Wirklichkeit gegenüber stets so verhalte, dass sie „einerseits völlig losgelöst vom Allgemeinen [und] […] etwas schlechthin Eigenes, Individuelles“²⁴⁸ ist und folglich „alles […], was sie in sich aufnimmt […] die eigentümlich Formung [erhält], die gerade ihrer Individualität entspricht.“²⁴⁹ „Andererseits trägt sie das Allgemeine in sich; sie kann alles Wirkliche in sich aufnehmen.“²⁵⁰ Denn um etwas zu erkennen und die Wirklichkeit zu denken, müssen die Denkstrukturen mit den Strukturen der äußeren Wirklichkeit kompatibel sein. Weder sei es möglich, das Allgemeine als absolute, metaphysische Idee zu verwirklichen, da rein abstrakte, allgemeine Formen leere Formen gleichkämen, deren jegliche Besonderheit ermangelt und die keine Lebendigkeit in sich tragen. „Bliebe das Allgemeine Allgemeines, so bliebe es eine Abstraktion und käme nicht zur Verwirklichung.“²⁵¹ Gleichzeitig verlöre auch das andere Extrem, der Drang zur reinen Individualität, seine schöpferische Potenz, indem die Intention „sich auf das individuell-Gegebene“²⁵² richten würde und dadurch „nicht Geistiges, Geltendes verwirklich[t]“²⁵³ würde, sondern die dem Lebendigen inhärente Dynamik verlustig ginge. Konkret gesprochen würde auf diese Weise nichts Geistiges verwirklicht werden, da alles Denken sich nur auf das faktisch Gegebene richtete und sein Höchstmaß an Gehalt der Totalität des Seins entsprechen würde. Damit wäre jedoch sein Höchstmaß in der Summe seines Inhaltes erschöpft und es würde keine innere Dynamik und somit nichts Neues entstehen. Als schöpferisch kann ein Akt also nur dann bezeichnet werden, wenn seine „Intention auf das Allgemeine […] [bei gleichzeitiger] Verwirklichung im Besonderen“²⁵⁴ [Hervorh. d. Verf.] zielt. „Im schöpferischen Akt ist also enthalten die Intention auf das Allgemeine und der individuelle Gestaltcharakter, der seinshafte Stoff, in dem sich das Allgemeine verwirklicht.“²⁵⁵ Insofern als sich das Allgemeine in jedem Individuum verwirklicht, kann von einer allen Gestalten gemeinsamen Struktur gesprochen werden. In Anbetracht dieser Tatsache korrespondiert der Begriff des Allgemeinen auch mit dem Begriff der Form. Er markiert die eine Konstitutionsbedingung von Mensch-Sein an sich, da er die allgemeinen Strukturen und Gesetze markiert, die allererst dieses Mensch-Sein bedingen und die alle Menschen zur Voraussetzung haben.
GW, Bd. I, S. 211. Ebd. Ebd. A.a.O., S. 214. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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Der Allgemeinbegriff fungiert in Tillichs Interpretation stets als ein Funktionsbegriff, welcher bewirkt, dass die geisttragende Gestalt das Allgemeine sowohl als aufnehmender (theoretischer) als auch als formender (praktischer) Akt schöpferisch verwirklicht. Deshalb bezeichnet das Allgemeine zwar eine allen Individuen gemeinsame Strukturbeschaffenheit, sagt jedoch noch nichts über eine metaphysische Wirklichkeit aus und kann folglich auch nicht mit dem Unbedingten identifiziert werden. Gültiges wird lediglich im schöpferischen Akt generiert als einer Korrelation von Allgemeinem und Besonderem. Das Gültige kann also dem Unbedingten am ehesten gerecht werden. Dennoch stellt sich die Frage, inwiefern diesem Unbedingten eine außersubjektive Wirklichkeit und Bedeutung zukommt und ob dieses nicht auch – entsprechend des Allgemeinbegriffs – lediglich als ein Funktionsbegriff und damit als ein Selbstverhältnis des menschlichen Geistes gedeutet werden kann. Dem entgegen steht wiederum Tillichs Äußerung im System der Wissenschaften. Denn dort lautet es bezüglich der geisttragenden Gestalt: „Denn es liegt im Wesen der geisttragenden Gestalt, daß sie in sich etwas verwirklicht, das nicht aus ihr stammt, das Gültige.“²⁵⁶ Im Gegensatz zu der Interpretation des menschlichen Geistes als eines Konstrukteurs, welcher im Prozess der Selbstreflexion Sinn- Geltungs- und Wahrheitsbezüge schafft, wird durch die Ergänzung des letzten Zitats nun wiederum ein anderes Licht auf die Ausgangsfrage geworfen: Es wird etwas verwirklicht, was nicht aus dem Menschen stammt. Wenn man Tillich genau nehmen möchte, ergibt sich die Lösung, dass Geist nicht vom Denken verwirklicht wird, sondern anderswo herstammt. Was dieses Anderswo jedoch genau meint, bleibt dabei offen. Über das Geistige bzw. Unbedingte lässt sich also schlussfolgern, dass Tillich dieses nicht nur als das geistig-menschliche denkt, sondern als eine Wirksamkeit, die – zwar ohne die konkrete Verwirklichung im Menschen sinn- und ziellos – aber dennoch aus einer dem menschlichen Bewusstsein und dessen Funktionen kategorial unterschiedenen Moment herrührt. Den vorangehenden Erörterungen zufolge soll folgende Lesart vorgeschlagen werden: Das Allgemeine kann weder ohne Weiteres mit dem dogmatischen Begriff des Göttlichen, noch mit dem philosophischen des Unbedingten gleichgesetzt werden. Vielmehr markiert es einen ontologischen Begriff, welcher neben dem Besonderen zur Konstitution der geisttragenden Gestalt fungiert. In seiner Isolation ist das Allgemeine eine leere Form. Von Schöpfung spricht Tillich nur im Zusammenhang der Einheit von Allgemeinem und Besonderem. Das Allgemeine ermöglicht dem Menschen in isoliert rationalistischer Haltung Gültiges zu verwirklichen, als es ein reines Evidenzverhältnis beschreibt. Unter Abstraktion vom
A.a.O., S. 211.
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Besonderen kann der Mensch mittels der Funktion des Allgemeinen evidente Aussagen fällen (A = A). Das Allgemeine entspricht dann der unbedingten Forderung. Allgemeines, unbedingte Forderung und Unbedingtheit der Form bezeichnen Begriffe, die darstellen, dass der Mensch Unbedingtes auf dem Boden von Bedingtem zu verwirklichen sucht. Gleichzeitig betont Tillich, dass das wirklich Unbedingte (welches auf Gott rekurriert) jedoch jenseits des menschlichen Aktes steht und nicht aus ihm stammt. Es transzendiert diesen. Aufgabe der Religionsphilosophie ist es, das Gültige zu erfassen, indem das menschliche Bewusstsein in seiner Richtung auf das Unbedingt-Gültige analysiert und darstellt wird. Deshalb kann sie auch bestimmt werden als der Nachweis über die Wahrheit der Religion, ihrem Gelten im kritischen Sinn. Bezüglich dieser Forderung (dem Nachweis der Gültigkeit) unterscheiden sich das Ziel der Religionsphilosophie in der RP-Vorlesung und dem Systementwurf nicht, denn auch in der RP von 1925 heißt es, zentrale Aufgabe sei „nicht, Seiendes, sondern Gültiges zu erkennen. Das Tatsächliche ist für sie Material, aus dem heraus sie schafft, aber es ist nicht Ziel ihrer Arbeit.“²⁵⁷,²⁵⁸ Betont werden muss an dieser Stelle die oben zitierte Aussage Tillichs (s.o.), dass durch das Individuum, indem es über das Denken reflektieren kann und damit Normen aufstellt, Geltendes verwirklicht wird, dass nicht aus ihm selbst stammt, also einer transzendenten Ebene anheimfällt. Diese Überlegung ist keineswegs eine gedankliche Neuschöpfung Tillichs, sondern steht in der Tradition einer sich im 19. Jahrhundert etablierenden (Religions‐) Philosophie, die vornehmlich als Geltungs- oder auch Wertphilosophie²⁵⁹ bezeichnet werden kann. Nachdem im Vorangehenden in Form einer werkimmanenten Analyse und unter Berücksichtigung von Tillichs früher RP-Vorlesung (1920), dem System der Wissenschaften (1923) sowie der RP (1925) die Bedeutung der geltungsphilosophischen Grundlegung der Tillichschen Religionsphilosophie erhellt worden ist, sollen diese Erwägungen nun im Kontext der sich zunehmend im 19. Jahrhundert innerhalb (Religions‐)philosophischer Diskurse etablierender Geltungs- und
A.a.O., S. 300. Empirische Religionswissenschaft sei also nicht mit Religionsphilosophie gleichzusetzen, obwohl zwischen beiden eine Synergie besteht. Der Begriff „Geltungsphilosophie“ trifft den Sachverhalt hier eher, da sich die Wertphilosophie vornehmlich auf ethische Geltungs- und Wertsätze bezieht. Diese beiden Begriffe genauestens voneinander abzugrenzen, soll hier nicht geleistet werden. Jedoch kann nicht mit Bestimmtheit gesagt werden, dass die Geltungsfrage allein von der Philosophie behandelt wird und die Wertfrage nur innerhalb der Ethik von Belang ist.
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Wertphilosophie betrachtet werden. Denn mit dem Begriff der Geltung, der nicht etwa einen Neologismus Tillichs bezeichnet, bewegt dieser sich in einer ganz bestimmten philosophischen Tradition. Diese gilt es im Folgenden zur besseren Orientierung im philosophischen Diskurs, unter dessen Einfluss der frühe Tillich stand, in aller Kürze zu skizzieren: Die Gleichsetzung von Geltung und Wahrheit ist nicht Tillichschen Ursprungs, sondern kennzeichnet einen für die Geltungsphilosophie charakteristischen Integrationsvollzug beider Begrifflichkeiten. Die Geläufigkeit dieser synonymen Verwendung von Geltung und Wahrheit lässt sich daran illustrieren, dass beispielsweise Günter Figal im Handwörterbuch Religion in Geschichte und Gegenwart darauf verweist: „Daß ein Satz gilt, ist dabei gleichbedeutend mit seiner Wahrheit.“²⁶⁰ Heinrich Rickert (1863 – 1936) geht in Aufsatz Über logische und ethische Geltung von einem hinter jedem Urteilsakt (dem urteilenden Subjekt) stehenden Urteilsgehalt aus, der unabhängig von allen Sätzen und psychologischen Vorgängen gelte und folglich allein als wahr zu qualifizieren sei. Ihm hafte gleichsam ein „‚transzendente[r]’ logische[r] Sinn“²⁶¹ an: Wir müssen daher von dem eigentlichen Urteilsgehalt, der unabhängig von allen Sätzen und psychischen Vorgängen gilt, und den wir deshalb auch den ‚transzendenten’ logischen Sinn nennen können, einerseits das objektive Gut, an dem er haftet, und andererseits den subjektiven Akt der Stellungnahme, mit dem ihm ‚immanenten’ Sinn sorgfältig scheiden.²⁶²
Rickert vollzieht hier eine Trennung von drei sich korrelativ herausfordernden Polen, die dem Prozess des Urteilfällens inhärieren: Dem Urteilsgehalt (oder auch transzendenten logischen Sinn), dem objektiven Gut und der subjektiven Stellungnahme. Weiterhin unterscheiden sich erkennendes Subjekt und erkanntes Objekt („objektives Gut“) nach Rickert dahingehend, dass sie sich komplementär gegenüberstehen. Das Objekt verfüge über einen vom Subjekt unabhängigen, „‚transzendenten’ logischen Sinn“, einen „Urteilsgehalt“. Der Akt des Subjekts, welches sich zum Objekt in Beziehung setzt und einen subjektiven Urteilsakt unter dem Eindruck vollzieht, den das Objekt in seinem Gemüt affiziert, könne jedoch nur immanenter Sinn sein. Im Rahmen sowohl der Logik als auch der Ästhetik wird nach Rickert also ein dem Objekt (Satz oder Kunstwerk) anhaftender
Figal, G., Geltung, in: Betz, H.-D. (Hrsg.), Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, 4. Aufl., Bd. 3: F-H, Tübingen 2000, Sp. 603. Rickert, H., Über logische und ethische Geltung, in: Kant-Studien, Bd. 19 (1914): http:// www.degruyter.com/view/j/kant.1914.19.issue-1– 3/kant.1914.19.1– 3.182/kant.1914.19.1– 3.182.xml, 29.01. 2013, S. 185. Ebd.
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Urteilsgehalt vorausgesetzt, der einerseits nicht durch die Wirkung (Erscheinung) des Objektes der Betrachtung bedingt ist und folglich nicht nur einer vom Subjekt konstruierten subjektiven Wirkung entspricht, die auf Basis einer Affizierung der Sinne vom Objekt evoziert wird. Andererseits haftet dieser Urteilsgehalt auch nicht dem objektiven Gut unabhängig von dessen Erscheinung an. Folglich lässt sich für den Urteilsgehalt weder im Rekurs auf das Objekt, noch auf das Subjekt ein Existenznachweis vermerken, weshalb Rickert zu dem Schluss kommt, dass der dem Objekt anhaftenden Urteilsgehalt unwirklich sei, d. h. einer transzendenten Ebene entstammt müsse. Eben damit kommt ihm aber der Status des Geltens zu. An diesem Beispiel zeigt sich gleichsam eine Abgrenzung des Gültigen vom Existierenden, wie es u. a. bereits bei Rudolf Hermann Lotze (1817– 1881) deutlich wird, der zwischen „existierenden Dingen, geschehenden Ereignissen und geltenden Sätzen“²⁶³ unterscheidet. So konstatiert Rickert in Anlehnung an jenen, dass Gelten „das nicht Existierende“²⁶⁴ bezeichne und mindestens seit Lotze einen Wahrheitswert von philosophischen Sätzen inkludiere. Lotze entlehnt den Begriff der Geltung der platonischen Ideenwelt. Die Geltung von Ideen habe ihren Grund darin, dass sie „der ‚seienden’ und ‚geschehenden’ Welt entgegenstehen“²⁶⁵ und als etwas „ideal E x i s t i e r e n d e [s]“²⁶⁶ gelten. In Abgrenzung zu Lotze möchte Rickert jedoch unter Gelten eine „Irrealität“²⁶⁷ im Sinne von Nichtexistenz verstanden wissen, unterscheidet jedoch zwischen zwei Bedeutungen des Begriffs: Man kann […] ein immanentes, der realen Wertung innewohnendes Gelten vom Gelten trennen, das unabhängig von jeder Anerkennung besteht und insofern ‚transzendent’ heißen mag, oder man kann […] von einem ‚subjektiven’ im Gegensatz zu einem ‚objektiven’ Gelten sprechen.²⁶⁸
Figal, G., Geltung, Sp. 603. Rickert, H., Allgemeine Grundlegung der Philosophie, Tübingen 1921, S. 121.Vgl. auch S. 122: „Etwas, das nur existiert, gilt nie“ und: „Nur Güter und Wertungen sind wirklich, Werte als Werte nie, also auch dann nicht, wenn sie von einer realen Wertung abhängen.“ Rickert exemplifiziert dies am Beispiel der Lust: „Das Fühlen der Lust ist ein Akt des Wertens, und zum Werten gehört immer ein Wert, zu dem wir Stellung nehmen. [….] Es gibt keine Lust, die frei von einem Wert ist. Der Wert ist aber als Wert nie wirklich, und das bedeutet in unserem Falle: nur das Lust g e f ü h l ist sinnlich real, nicht der Wert der Lust, der daran haftet.“ (S. 123) Dennoch unterscheidet Rickert zwischen Geltung und Wert, wenn er sagt, dass der „Lustwert“ niemals ein Geltungsbegriff sein könne. Es müsse also eine Scheidung von Wert und Wahrheit vollzogen werden (S. 124). A.a.O., S. 121. Ebd. A.a.O., S. 124. A.a.O., S. 125.
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Es sei also ein „immanentes“, „subjektives“ Gelten, welches einer „realen Wertung“ anhaftet und folglich als real (da auf das Urteil über einen realen Gegenstand bezogen) einzustufen ist, von einem „objektiven“, „transzendent[en]“ Gelten zu unterscheiden, welches ob seiner Unabhängigkeit von jeglicher Urteilszuschreibung (und damit Tätigkeit des Subjektes) als irreal zu werten sei. Nur dem objektiv Geltenden komme folglich die besagte Irrealität zu. Noch entschiedener grenzt sich Rickert von seinem Schüler Bruno Bauch ab, der „im Anschluß an Windelband völlig unzweideutig von einem ‚faktischen Gelten’“²⁶⁹ spreche. Rickert urteilt: „Aber das Gelten selbst ist nie bloße Tatsache, falls man unter Tatsache nichts anderes als reales Sein versteht.“²⁷⁰ Objektives Gelten ist bei Rickert also stets auf Irreales bezogen, worin sein eigentlicher Sinn bestehe. Diesem Gedankengang schließt sich auch Rickerts Zeitgenosse Arthur Liebert an. Wie schon Rickert, legt auch dieser Wert auf eine Abgrenzung von Geltung und Sein, allerdings mit dem Unterschied, dass er beide Begriffe nicht als gänzlich konträr zueinander interpretiert. Frappierend erscheint dabei die Beobachtung, dass sich bezüglich Lieberts Abgrenzung eine Analogie zu Tillich aufdrängt: Nicht steht die ‚Geltung̕, als die eine Sphäre, dem ‚Seinʼ, als der anderen Sphäre, fremd gegenüber. ‚Geltung̕ heißt nicht Abstraktion vom Sein, heißt nicht Negierung des Seins. Sondern sie bedeutet geradezu die Bejahung des Seins in der Richtung auf seine Ergänzung und Erhebung über den Standpunkt der nackten Faktizität zur Inhaltlichkeit, zum Gehalt, d. i. zur Geltung, die da aussagt, daß das Sein nicht nur ist, sondern daß es auch g i l t, daß es etwas b e d e u t e t, daß es einen Sinn hat. In der ganzen Weite dieser Bestimmung ist der Begriff der Geltung aufzufassen. […] Es wird sich ergeben, daß jeglichem Seinszusammenhang ein Geltungszusammenhang zugeordnet ist, und daß beide Zusammenhänge sich wechselseitig fordern.“²⁷¹
Während Rickert zur Differenzierung der Geltungsebenen (subjektive, reale vs. objektive, irreale Geltung) sowie der damit einhergehenden Trennung der dem Subjekt (und damit dem Sein) anheimfallenden realen Geltung von der vom Subjekt unabhängigen irrealen Geltung von Werten anregt, sucht Liebert hinwiederum diese strikte Trennung zu überwinden, indem er die objektive, irreale Geltung als eine Bejahung des realen, faktischen Seins in Richtung auf dessen Gehalt interpretiert. Damit eröffnet Liebert eine das Subjekt betreffende zweite Ebene (neben der ihm real, d. i. in seiner Faktizität anhaftenden Subjektivität): die
Ebd. Ebd. Liebert, A., Das Problem der Geltung, („Kantstudien“. Ergänzungshefte im Auftrag der Kantgesellschaft, No. 32), Berlin 1914, S. 6 – 7.
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Sphäre der Geltung des Seins. Diese erscheint als eine Schicht tiefer liegend als dessen bloße, „nackte“ Faktizität, dessen bloßes Dasein und meint den die Oberfläche des faktischen Seins noch übersteigenden Sinn des Seins. Liebert plädiert also wie Tillich für einer „korrelativen Beziehung zwischen Sein und Geltung“²⁷². Auch Tillich interpretiert das Sein nie losgelöst von seinem Sinn und Gehalt bzw. der Fundierung des Seins im Gehalt, indem er es sowohl implizit auf religionsphilosophischer als auch explizit auf theologisch-dogmatischer Ebene stets in seiner Richtung auf das Unbedingte analysiert. Der in Tillichs Systematischer Theologie (1954) explizierte Begriff „Ekstase der Vernunft“²⁷³, welcher die Grenzen ihrer Rationalität übersteige, um dadurch das Endlich-Gegebene auf einen unendlichen Sinn (Gott, das Absolute) hin zu übersteigen, ist nur ein Beispiel von vielen, welches die Richtung des Seins auf irreale Geltung expliziert. Zusammenfassend lässt sich aus dem freilich nur fragmentarischen und knappen Abriss der geltungsphilosophischen Debattenlage während des 19. Jahrhunderts schlussfolgern, dass Tillichs Geltungstheorie in jedem Fall vor dem Hintergrund einer Trennung von Geltung und Sein entwickelt worden ist. So lässt sich zwischen einem Gelten, welches als ein vom Subjekt vollzogener subjektiver Urteilsakt mit rein immanenter Bedeutung zu werten ist, und einem Gelten differenzieren, welches dem Objekt selbst zukommt und jenseits einer Geltungs- oder Wertzuschreibung eines Objektes gilt. Da die dem Objekt selbst anhaftende Gültigkeit jedoch jenseits der menschlichen Erfassbarkeit liegt, bezeichnet sie einen transzendenten Sinn. In dieser letzten Bedeutung ist Gelten also zu verstehen als ein von der aktuellen Wirklichkeit und Erscheinungswelt verschiedenes Moment, welches dennoch in ihr zur Erscheinung kommt, diese jedoch übersteigt und von ihr nicht adäquat erfasst werden kann. Liebert akzentuiert einen anderen Aspekt, nämlich die Fokussierung auf das Subjekt, welches er als Objekt der Geltung fasst. Während objektives Gut, subjektiver Akt der Stellungnahme und transzendenter logischer Sinn (Urteilsgehalt) bei Rickert noch drei Pole ausmachen, die ein trinitarisches Verhältnis von Objekt, Subjekt und Urteil illustrieren, birgt die Liebertsche Ergänzung die Alternative, dass das Subjekt sich selbst als ein Seiendes und damit als ein sich selbst gegenüberstehendes Objekt betrachten kann: Es wird so selbst als Sein vorstellig und ist sich damit selbst sein Objekt, hat sich selbst als ein Gegenüber. Indem das Subjekt als ein Objekt gedacht wird, kann es freilich auch über ein ihm als Objekt anhaftenden, subjektunabhängigen und damit transzendenten Gehalt bzw. Sinn re-
A.a.O., S. 7. Vgl. ST I, S. 135 ff.
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flektieren. Diese Perspektive entspräche der geisteswissenschaftlichen Haltung Tillichs, die voraussetzt, dass das Denken sich selbst als ein Seiendes bestimmt und damit auf seinen Sinn, sein kritisches Gelten reflektiert. Um im Rickertschen Vokabular zu bleiben, ließe sich also schlussfolgern, dass das (subjektive) Sein (bzw. das „subjektive Gut“) im Prozess der Selbstreflexion sich selbst als ein „objektives“ Gut betrachtet und dadurch auf ein ihm inhärentes Gelten (einen Sinn oder einen Gehalt) reflektiert, das unabhängig von jeder Anerkennung durch ein Subjekt (einschließlich sich selbst) Bestand hat. Auf diese Weise sieht sich das Ich (das Denken) mit seinem eigenen Gegenüber (das eigene Selbst aus einer Metaebene oder Außenperspektive betrachtet, das Denken in seiner Funktion als Seiendes) konfrontiert, welchem gleichsam ein transzendenter Sinn anhaftet. Tillich differenziert also nicht mehr wie noch Rickert zwischen einem objektiven Gut, dem ein subjektunabhängiger transzendenter Sinn anhaftet und einer subjektiven Erfassung dieses Objektes, sondern, indem das Denken selbst der Geltungssphäre entstammt, kommt die Wahrheit im subjektiven Akt der Erfassung des Objektes zu sich selbst. Das bedeutet, dass dem subjektiven Akt selbst Gültigkeit zukommt, indem die Wahrheit im Vollzugsakt des Denkens zum Vorschein kommt. Durch die vorangehenden Erörterungen lässt sich zusammenfassend pointiert explizieren, in welcher philosophischen Tradition Tillich mit seinen Begriffen von Denken und Sein steht und in welchem Ausmaß seine frühen religionsphilosophischen und theologischen Erwägungen von seinem zeithistorischen Kontext beeinflusst ist. Die bisherigen Ausführungen haben illustriert, dass Tillichs frühe Religionsphilosophie im Kontext der Wert- und Geltungsphilosophie zu betrachten ist. Zudem konnte Tillichs religionsphilosophisches Zentralanliegen akzentuiert werden, welches vornehmlich in dem Ziel besteht, die Wahrheit (und also auch Geltung) von Religion zu erfassen, um den auf Basis dieser geltungsphilosophischen Bewusstseinsanalyse gewonnenen Religionsbegriff im Kontext der empirischen Religionsgemeinschaften – und damit in seiner religionstheologischen Bewährung – in seiner Idealität und damit vollkommenen Geltung darzustellen. Aus der bisherigen Analyse ergibt sich für die Beziehung zwischen dem Gültigen, dem Unbedingten, dem Allgemeinen und der unbedingten Forderung, dass sich mit Tillich drei verschiedene Ebenen des Geltungsbegriffs differenzieren lassen: Zum einen kann Geltung mit dem Allgemeinen in Zusammenhang gebracht werden, indem beide auf einer rein rationalen Ebene die Evidenz mathematischer Sätze bezeichnen. Der Satz A = A gilt unabhängig von jedem erkennenden Subjekt und ist deshalb gültig. Ihm kommt allgemeine Geltung zu. Diese Art von Gelten ist jedoch nicht diejenige, die Tillichs Wahrheitsverständnis ge-
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recht wird, da sie sich auf der rein immanenten Ebene bewegt und gleichzeitig vom Konkreten und Individuellen abstrahiert, folglich ein Konstrukt ist. Auch das andere Extrem, die Überbetonung des Besonderen wird von Tillich abgelehnt. Sein Geltungsverständnis hingegen besteht in der Korrelation von Allgemeinem und Besonderen im religiösen Vollzugsakt. Geltung entspricht nicht einem den Dingen anhaftenden, objektiven transzendenten Wert, sondern die Wahrheit kommt im subjektiven Akt zu sich selbst. Sie besteht auch in der Reflexivität des Denkens auf sich selbst. Dies wiederum bedeutet nicht, dass sie nur subjektiv ist. Vielmehr übersteigt sie alles Subjektive, indem sie ihm zugrunde liegt. Indem es Tillich um das Gelten von Religion im kritischen Sinn geht, akzentuiert er damit zunächst die Funktion der Religion für die Konstitution des Bewusstseins. Das, was für den Menschen Geltung hat, ist für ihn wahr. Wahrheit wird hier als Tun, als menschlicher Akt oder auch als Sinnvollzug interpretiert. Geltungsbeimessung und Sinnzuschreibung liegen damit sehr eng beieinander, können ggf. sogar als synonym interpretiert werden. Zur Debatte wird im Folgenden die nicht unproblematische Frage stehen, ob Geltung und Sinn bei Tillich auch außerhalb eines rein bewusstseinsinternen Vollzugs bzw. Prozesses eine Bedeutung beigemessen werden kann. Damit ist gleichzeitig der Problemkern des Tillichschen Wahrheitsverständnisses überhaupt angerührt, welcher im Fortgang dieser Arbeit, wenn nicht zu lösen, so doch wenigstens in Form von Interpretationsvorschlägen und Angeboten möglicher Les- und Rezeptionsarten zu ergründen gesucht wird. Das folgende Kapitel wird sich daher der Weiterentwicklung der Tillichschen Religionsphilosophie aus sinntheoretischer Perspektive widmen und weiterhin der Fragestellung folgen, welche Bedeutung letztlich dem Sinnbegriff für den Tillichschen Religionsbegriff beigemessen werden kann und welche Konsequenzen sich für das Wahrheitsverständnis Tillichs und in einem nächsten und letzten Schritt für die Beurteilung außerchristlicher Religionen daraus ergeben.
1.2.4 Die sinntheoretische Präzision der Religionsphilosophie Im vorangehenden Kapitel wurde bereits angedeutet, dass Tillichs religionsphilosophisches Programm sich von der 1920 gehaltenen RP-Vorlesung bis hin zum Systementwurf (1925) in zentralen Aspekten veränderte. Bereits im System der Wissenschaften (1923) findet die sinntheoretische Ausrichtung des Systems Eingang in die Wissenschaftslehre und wird in der RP (1925) ausschließlich und explizit auf das Phänomen Religion angewandt. Damit ist Tillich der erste Theologe, „der den Sinnbegriff ins Zentrum der Theologie rückte und damit den Im-
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puls zur sinntheoretischen Entfaltung des Religionsbegriffs innerhalb der Theologie gab […].“²⁷⁴ In Kapitel 1.2.1 ist bereits die sich im Anschluss an die Sinntheorie ergebende Neuorientierung in der Systemkonzeption Tillichs exponiert worden. Dabei ist dargestellt worden, dass die Sinntheorie der Funktion dient, den Zusammenhang von religiösem Prinzip und Religion als Verwirklichungskategorie einer Präzision zuzuführen. Im Sinnbewusstsein sei die im Religionsbegriff enthaltene Polarität prinzipiell überwunden, indem der Mensch in Form von Sinngebung und Sinnakten, und also in Richtung auf einen unbedingten Sinn, eine gültige, sinnhafte Wirklichkeit konstruiert, durch die sich gleichzeitig Wahrheit generiert. Diese Neuformulierung findet ihren Ursprung während des Ersten Weltkrieges und dokumentiert sich erstmals in dem in den Jahren 1917 bis 1918 geführten Briefwechsel zwischen Tillich und Emanuel Hirsch. In der Tillich-Forschung wird im Allgemeinen von einer „Veränderung der prinzipientheoretischen Umstellung“²⁷⁵ des Tillichschen Systems gesprochen. Als Grundlage für diese Veränderung kann die Lektüre zentraler erkenntnistheoretischer Schriften während des Weltkrieges angesehen werden, durch die Tillich sich gleichsam vom Deutschen Idealismus löste. Im Briefwechsel mit Hirsch führt Tillich Vertreter des Marburgischen und Südwestdeutschen Neukantianismus wie Simmel, Rickert, Husserl, Lotze, von Sigwart, Windelband und Lask auf.²⁷⁶ U. Barth weist darauf hin, dass „[…] drei der genannten Autoren, Husserl, Rickert und Lask, für die Genese des Sinnbegriffs unmittelbar einschlägig sind“²⁷⁷ und Tillich folglich vom Südwestdeutschen Neukantianismus entschieden beeinflusst worden sei. Im Folgenden soll die am Ende von Kapitel 1.2.1 aufgestellte Deutungshypothese in Auseinandersetzung und im Gegensatz zu Danz begründet werden. Laut Danz erfolge mit der Sinntheorie eine prinzipientheoretische Veränderung, indem das theologische Prinzip aus seiner Fundierung im absoluten Wahrheitsgedanken gelöst und stattdessen sinntheoretisch expliziert werde.²⁷⁸ Es werde also nun nicht mehr zwischen einem im Wahrheitsgedanken gründenden absoluten Prinzip von Religion als einer absoluten Sphäre zugehörig und der vom
Barth, U., Religion und Sinn, in: Danz, C., Schüßler, W. (Hrsg.), Religion – Kultur – Gesellschaft. Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (1919 – 1920) (Tillich-Studien, Bd. 20), Berlin 2008, S. 198. Danz, C., Theologie als normative Religionsphilosophie, S. 81. EN, Bd. VI, S. 99. Barth, U., Die sinntheoretischen Grundlagen des Religionsbegriffs. Problemgeschichtliche Hintergründe zum Frühen Tillich, in: Ders., Religion in der Moderne, Tübingen 2003, S. 96. Vgl. EN, Bd. XII, S. 368. Vgl. Danz, C., Theologie als normative Religionsphilosophie, S. 81.
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Menschen vollzogenen Religiosität unterschieden, die dem Moment der Reflexion anhaftet. Stattdessen werde sowohl im Briefwechsel als auch in Rechtfertigung und Zweifel das Absolute in den religiösen Vollzug integriert²⁷⁹. Dadurch bilde es jedoch nicht länger den „Ausgangspunkt der Systemexplikation“²⁸⁰. So werde der Gottesgedanke „nun als Implikat des Vollzugs religiöser Gewissheit gedeutet und nicht mehr im Rahmen einer cum granos salis spekulativen Theorie der Wahrheit.“²⁸¹ Danz interpretiert Religion folglich als einen rein subjektiven Vollzugsakt eines sich selbst durchsichtig werdenden Sinnbewusstseins, welcher im Subjekt allein gründe. Darüber hinaus geht Danz davon aus, dass die Inklusion des Absoluten in den religiösen Vollzugsakt gleichzeitig eine prinzipientheoretische Systemänderung bedeutet. Beide von Danz aufgestellten Thesen sollen im Folgenden näher beleuchtet und kritisiert werden. Hierfür ist zunächst eine Unterscheidung notwendig: Die im Briefwechsel angelegte und hier erstmals explizierte Sinntheorie verfolgt durchaus andere Tendenzen als ihre Weiterentwicklung in Rechtfertigung und Zweifel (1919) und den religionsphilosophischen Schriften der 20er Jahre. Die sinntheoretische Ausrichtung des System Tillichs ist von 1917 bis 1925 folglich keinesfalls als einheitlich zu betrachten. Diese unterschiedlichen Akzente sollen im Folgenden ausdifferenziert werden. Zudem sind im Anschluss an Danz mehrere Anfragen an Tillich zu stellen und einer Problemlösung zuzuführen: Es ist zu überprüfen, ob die Sinntheorie eine Änderung in prinzipientheoretischer Hinsicht bedeutet, eine Präzision der früheren Systemexplikation Tillichs markiert oder ob sie eine Fokussierung eines der Systemparts bedeutet, wodurch die anderen das System konstituierenden Parts lediglich vor der Betonung des subjektiven Parts zurücktreten würden, ohne dadurch an Geltung zu verlieren. Zunächst gehe ich mit Danz‘ Feststellung konform, dass das Absolute nicht länger den Systemausgang bildet. Vielmehr unterliegt es nun selbst dem Zweifel und lässt sich nicht weiter nur als conditio sine qua non verstehen, als prinzipieller Ausgangspunkt der Systemkonzeption. Folglich gründet auch der Gottesbegriff nicht länger auf dem Absoluten, weshalb mit der Sinnfrage ein anderer Systemausgang bestimmt wird.²⁸²
Vgl. a.a.O., S. 82 und a.a.O., S. 86: „Ausgangspunkt der systematischen Grundlegung des Theologiebegriffs ist jetzt nicht mehr der absolute Wahrheitsgedanke, wie in der Systematischen Theologie von 1913, sondern dieser selbst soll jetzt einer Begründung zugeführt werden.“ A.a.O., S. 87. A.a.O., S. 86 – 87. Indem das System nicht mehr auf dem Begriff des Absoluten und somit auf dem Gottesbegriff gründet, entfernt sich Tillich gleichsam von einer theologischen Gründung seines Systems.
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Nicht halten lässt sich jedoch die als zweiter Aspekt aufgeführte Annahme von Danz. Im Gegensatz dazu behaupte ich, dass mit der Integration der Sinntheorie keine prinzipielle Veränderung der Systemkonzeption Tillichs erfolgt, da auch 1920 das religiöse Prinzip noch das fundierende Apriori bleibt und auch schon 1913 mit dem Standpunkt der Reflexion ein aktuelles Moment in das System integriert ist. Schon dort werden Absolutes und religiöser Vollzug entsprechend der Wahrheit und des Wahrheitsgedankens als spannungsvolle Einheit gedacht. Wohl kann der Briefwechsel zwischen Tillich und Hirsch als Dokument der Krise gelesen werden, der das Absolute lediglich als Produkt des menschlichen Geistes interpretiert. Diese radikale Position Tillichs wird allerdings bereits in Rechtfertigung und Zweifel wieder entschärft. Im Folgenden soll die Sinntheorie Tillichs werkchronologisch auf die von mir aufgestellte und im Gegensatz zu Danz formulierte These überprüft werden. Zunächst lässt sich beispielhaft belegen, dass auch schon in der ST von 1913 ein subjektives Moment im System angelegt ist, welches dort als der Wahrheitsgedanke in Erscheinung tritt, und damit die Sinntheorie in ihrer weitergeführten Form nach dem Briefwechsel keine prinzipientheoretische Wandlung gegenüber dem System von 1913 bedeutet.²⁸³ Denn es muss berücksichtigt werden, dass sich „[d]er Gedanke des Absoluten […]“ (Hervorh. d. Verf.) automatisch auf einen Denkakt bezieht, durch den sich der Religionsvollzug aktualisiert. Der Glaubensvollzug ist also auch dort schon in Form des Wahrheitsgedankens im Prozess des sich selbst reflektierenden Denkens als unumstößlicher Bestandteil in das System inkludiert, wenn auch dieser nicht im Vordergrund steht. Er aktualisiert sich in der korrelativen Einheit von Wahrheit und Wahrheitsgedanke, die 1913 gleichzeitig den Systemanfang bildet: „Anfang und tragender Grund (Prinzip) der Wahrheitserkenntnis kann aber nichts anderes sein als der Wahrheitsgedanke selbst.“²⁸⁴ Damit ist gemeint, dass sich dem Menschen erst im Glaubensvollzug die Funktion Gottes als des Absoluten (als dem Grund des Seins) erschließt. Auch 1913 gehören also religiöses Prinzip und der Akt des Denkens der Wahrheit un-
Hingegen ist der sinntheoretische Systemausgang philosophisch motiviert, was den Übergang von der Systematischen Theologie hin zur Religionsphilosophie markiert. Vgl. Dienstbeck, S., Transzendentale Strukturtheorie, S. 261: Auch Dienstbeck hält fest, „dass es der Zweifel und die mit ihm zu sich selbst gekommene Subjektivität sind, die eine Modifikation des bestehenden und – so muss ausdrücklich gesagt werden – weiterhin in Bestand bleibenden Prinzipien von 1913 bedingen. Es scheint also durchaus angemessen, nicht von einem echten Neuansatz bei Tillich auszugehen, sondern vielmehr den punktuell ausgelösten, sich jedoch notwendig weitergreifend vollziehenden Eingriff in die Prinzipienkonstruktion als Präzisierung zu bezeichnen.“ EN, Bd. IX, S. 278.
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auflöslich zusammen, allerdings wird dort noch das Absolute als Initiator dieses Prozesses an den Systemanfang gestellt. Die sinntheoretische Veränderung bedeutet folglich lediglich in ihrer Fokussierung eines anderen Systemparts eine Neuorientierung. Das religiöse Prinzip besteht jedoch weiterhin aus einer Korrelation von Absolutem und Relativem (bzw. Wahrheit und Wahrheitsgedanke, Sinn schlechthin und Sinnsetzung). Damit bildet sowohl 1913 als auch in der späteren sinntheoretischen Systemausrichtung die widerspruchsvolle Einheit beider Momente den Systemanfang. Indem das subjektive Moment als in Korrelation mit dem Absoluten stehend gedacht werden muss, ist die Position, das Absolute als reines Bewusstseinserzeugnis und damit als Produkt des menschlichen Geistes zu betrachten, nicht haltbar. Um diese These näher zu prüfen, soll im Folgenden geklärt werden, ob im Gegenzug dem Absoluten in dieser korrelativen Denkfigur eine das Subjekt begründende und dieses fundierende Funktion zukommen kann. Denn es lässt sich feststellen, dass beiden Konzeptionen des Gottesbegriffs – der absoluten als auch der sinntheoretischen – eine ambigue Verhältnisbestimmung von Gott und Mensch eigen ist. So könnte sowohl der ST (1913) in ihrer monistischen Ausrichtung als auch der Sinntheorie (die ebenfalls monistisch konzipiert ist²⁸⁵) ein Subjektivismus unterstellt werden.²⁸⁶ Dieses Problem soll im Folgenden im Hinblick auf die ST von 1913 überprüft werden.
Vgl., EN, Bd. VI, S. 126: „Ich lehre also den Monismus des Sinnes, der sich nach zwei Seiten den Widersinn, das Irrationale entgegensetzt, das Sein und das Übersein!“ Vgl. EN, Bd. VI: Im Hinblick auf die Sinntheorie, wie sie in ihren ersten Grundzügen im Brief Tillichs an Hirsch skizziert worden ist, lässt sich eindeutig von einer monistischen Ausrichtung sprechen. Dies bedeutet, dass Tillich die von Hirsch angeführten zwei divergierenden „geistige[n] Grunderfahrungen“ (die reine Evidenzerfahrung des Geistes sowie die Erfahrung, dass er das Göttliche als ein ihm Widersprechendes, Fremdes und Anderes erfährt) (S. 105) nicht auf zwei voneinander unabhängige Entitäten zurückführt (den Geist des Menschen und den Geist Gottes, der sodann in einer vom menschlichen Geist unterschiedenen Sphäre anzusiedeln wäre), sondern beide Erlebnisse als einer Wurzel entspringend interpretiert: „Es gibt eine flachköpfige Rede, daß die menschliche Vernunft aus architektonischen-ästhetischen Gründen monistisch sei. Sie ist es aber so notwendig, daß ihre Existenz daran hängt. Angenommen, sie bejahte die denkbar größte Dualität, so würde doch sie es immer sein, die bejaht, und, da sie nicht über ihren Schatten springen kann, nach ihres Wesens Gesetz bejaht. Das ‚Gedachtsein’ ist das ‚monistische Land’, das selbst noch größere Gegensätze als die von Himmel und Erde verbinden würde.“ (S. 115). Vgl. a.a.O., S. 126 ff. Tillich erklärt seine auf dem Sinnbegriff gründende Monismus-Theorie, indem er sich nach zwei Seiten hin abgrenzt: sowohl von einer vergegenständlichenden, objektivierenden Rede von Gott (hierher rührt sein „Protest gegen jeden Supranaturalismus“ und Gegenstandsmythos; als Beispiele führt er u. a. das „Überseiende“ Schellings auf) als auch von einer „dogmenkritische[n] Philosophie, die das Göttliche zur höchsten immanenten Kategorie […] macht, und damit zwar die Wertsphäre des Erkennens zum Abschluß gebracht hat, aber das
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Zunächst ist zu bemerken, dass Tillichs frühe Systematische Theologie ein monistisches Glaubenskonzept entfaltet, indem der Wahrheitsgedanke zum prinzipiellen Systemausgang erhoben wird. Dieser weist allerdings einen Widerspruch auf, mit dem er zugleich in absoluter Identität steht. Die Einheit von Differenz und Identität im absoluten Wahrheitsgedanken schließt zwar das Denken als das der Wahrheit widerstehende Korrelat mit ein, dennoch macht Tillich deutlich, „daß das Prinzip des Denkens vom Denken, nicht von der Wahrheit gesetzt ist. Von der Wahrheit zum Denken der Wahrheit gibt es keinen Weg.“²⁸⁷ Dadurch scheint das Denken Initiator des Wahrheitsprozesses zu sein. Und indem es die Wahrheit selbst setzt, wird diese nicht als eine außer dem Denken befindliche Realität vorstellig.²⁸⁸ Die Bewegung vom Setzen der „Wahrheit als eine bestimmte“²⁸⁹, wodurch dieser Setzung gleichzeitig nur relative Wahrheit zukommen kann, bis hin zur Rückkehr in die „Einheit […] zum Unbestimmten“²⁹⁰ ist, so gesehen, ein vom Denken vollzogener, dialektischer Kreislauf. Dadurch wird nachvollziehbar, dass Tillich deshalb eine Grenze des Denkens markiert, „weil es sich selbst allezeit zur Voraussetzung hat.“²⁹¹ Entsprechend sei Religionsphilosophie „derjenige Teil der Geistesphilosophie, in dem die absolute Wahrheit vom
Göttliche verloren!“ Es folgt Tillichs Meinung: „Das Göttliche ist Sinn, nicht Sein, und es ist ‚anderer Sinn’. Damit ergibt sich nun die Frage nach dem Verhältnis des religiösen Wertes zu den übrigen. Um das zu verstehen, muß zunächst das Verhältnis von Sein und Sinn noch einmal beleuchtet werden: Auch das Sein, das rein ‚Tatsächliche’ ist ja ein Begriff, ist also gesetzt von logischen Sinnzusammenhängen, ist Sinn- oder Wertprodukt. Der Sinn setzt das Sein als sein ‚anderes’, an dem es sich realisiert. Ebenso setzt der Sinn das Göttliche als sein ‚anderes’, von dem er sich realisiert weiß. So begrenzt sich der Sinn durch das Sein und das Überseiende! Beide aber sind Sinn-Setzungen. Das Sein kann nicht wieder ‚sein’, und das Überseiende hat sein Wesen darin, nicht zu sein! Ich lehre also den Monismus des Sinnes, der sich nach zwei Seiten den Widersinn, das Irrationale entgegensetzt, das Sein und das Übersein! Wie nun das Existentialurteil allen anderen immanent ist, und nur durch Abstraktion ein Urteil für sich wird, so ist das Religiöse keine Kategorie neben den anderen, sondern ihnen immanent als ihr Widerspruch und ihre Voraussetzung zugleich. Es ist das absolute Existentialurteil entsprechend dem absoluten Sinn-Bewußtsein. So schließen sich, wie zu fordern war, die beiden Irrationalitäten zu einer einen des Existentialurteils zusammen, was für den Sinn zugleich Erfüllung und Widersinn ist. Daher die überwältigende, sinn- und wertvernichtende Faktizität des Göttlichen […].“ EN, Bd. IX, S. 281. Vgl. auch a.a.O., S. 286: „Es ist also falsch, außerhalb des Denkens eine Sphäre der Unbegreiflichkeit zu konstruieren. Mitten im Denken selbst, im Wesen des Denkens ist das wahrhaft Unbegreifliche.“ Vgl. a.a.O., S. 295: In Bezug auf den Gottesbeweis hält Tillich fest, dass „ein Schluß vom Begriff auf die Existenz niemals zulässig ist.“ A.a.O., S. 283. A.a.O., S. 284. Ebd.
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Denken als Gott gesetzt wird.“²⁹² Auch hier ist es also Funktion des Denkens, Wahrheit als eine bestimmte zu setzen. Gott kann so gesehen lediglich als ein Bewusstseinskorrelat, eine Projektion des menschlichen Geistes, interpretiert werden. Eine alternative Lesart erlaubt es jedoch, anstatt Tillich an dieser Stelle eine Projektionstheorie zu unterstellen, die Religion ausschließlich als bewusstseinsinternen Vollzugsakt versteht, eine andere Perspektive zu eröffnen: Entsprechend der korrelativen Grundfigur geht jeder Selbstsetzungsakt des Bewusstseins ausschließlich aus der Identität von Wahrheit und Denken hervor. Damit wird vorausgesetzt, „daß die Wahrheit mit dem Denken in Einheit steht und dementsprechend jedes Moment des Denkprozesses der Wahrheit entspricht, so auch das religiöse.“²⁹³ Aufgrund dieser Tatsache, kann eingeräumt werden, dass dem Denken eine Sphäre der Transzendenz vorangeht, die das Bedingte erst ermöglicht und jegliches Denken des Absoluten folglich nicht vom Denken gesetzt, sondern vom Absoluten selbst evoziert ist. Tillich konkretisiert in der Systematischen Theologie (1913) diesen Gedankengang durch die Annahme, dass „das Absolute [sich] […] in diesem Prozess selbst als Freiheit und Geist [bestimmt]; es wendet diesen Begriff selbst auf sich an, indem es die Religion schafft.“²⁹⁴ Der religionsgeschichtliche Prozess kann unter dem Eindruck dieser Perspektive also als vom Absoluten gewirkt verstanden werden, welches in das Relative eingeht und sich auf diese Weise selbst in seinem Freiheits- und Abhängigkeitsverhältnis und folglich auch in seinem Verhältnis zum Menschen bestimmt. Das Denken muss so als ein Moment des absoluten Prozesses betrachtet werden, welches in unüberwindbarer Einheit mit dem Absoluten steht, sich im Relativen von ihm getrennt weiß, jedoch durch den Begriff ²⁹⁵ und das Erkennen seiner selbst als Relatives in Form eines dialektischen Prozesses zu diesem zurückkehrt.
A.a.O., S. 290. A.a.O., S. 293. Ebd. Vgl. EN, Bd. IX, S. 283 f.: Der Begriff wird als Moment in einem unendlichen Prozess gesehen, der einen unendlichen Kreislauf darstellt. „Die lebendige Form dieses Prozesses aber ist der Begriff; er ist die Setzung einer bestimmten Mannigfaltigkeit und ihre Aufhebung in der Einheit; und er ist selbst Moment einer bestimmten Mannigfaltigkeit und wird mit ihr aufgehoben in die Einheit eines höheren Begriffs; er wird vom Denker gesetzt und aufgehoben, er ist der lebendige Durchgangspunkt des lebendigen Prozesses. Dieses lebendige Denken heißt dialektisch; wie im Dialog durch Ja und Nein hindurch die Wahrheit erkannt wird, so geht das Denken durch jeden Begriff hindurch.“ Insofern der Begriff stets durch einen höheren Begriff ersetzt werden kann, ist er als vorläufiges Moment des Systems zu verstehen. Er ist gleichzeitig Signum der Wandelbarkeit von Wahrheit, die nicht als eine feste Entität verstanden wird.
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Dienstbeck schlägt im Hinblick auf die Dargestellte Ambiguität vor, von einer Absolutheit im religiösen Vollzug zu sprechen. Hinsichtlich der Bestimmung des Gottesbegriffs konstatiert er, dass… … [d]ie im religiösen Vollzug zur Anschauung kommende Absolutheit […] nun allerdings im Unterschied zum Begriff des Absoluten selbst nicht als externe, d. h. außersubjektive, Setzung im Sinne eines religiösen Realismus misszuverstehen [sei], sondern […] vielmehr das subjektive Erfassen seiner eigenen Zuständlichkeit [beschreibe.] […] Absolutheit tritt ausschließlich unter dem Vorzeichen der subjektiven Wahrnehmung auf und lässt sich im Erfassen dieser Selbstwahrnehmung als schlechterdings vermittelte nur nicht-objektiv aussagen.²⁹⁶
Dienstbeck folgend und entsprechend der dargestellten Möglichkeit einer doppelten Lesart lässt sich Tillich weder eine Projektionstheorie unterstellen, die das Gottesverhältnis als rein bewusstseinsinternen, vom Menschen allein evozierten Vollzugsakt deutet, noch lässt sich der Begriff des „religiösen Realismus“ auf Tillichs Korrelationsfigur anwenden und davon ausgehen, dass ein externes Absolutes den Glaubensvollzug initiiert. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sich Absolutheit nur im Glaubensvollzug erfüllt und auch schon 1913 das religiöse Prinzip als fundierende Basis und das aktuelle Moment von Religion (entsprechend des Wahrheitsgedankens) korrelativ gedacht werden müssen. Damit wird auch 1913 das Absolute nicht als externe, außersubjektive Instanz aufgefasst, sondern nur in seiner Bewegung hin und durch das Subjekt erschlossen. Der Briefwechsel (1917– 1918) zwischen Tillich und Hirsch, der den Ursprung des sinntheoretischen Denkens Tillichs markiert, kann nun allerdings als Dokument der Krise gelesen werden. In ihm wird deutlich, dass Tillich den Deutschen Idealismus, mit dem er sich zuvor stark identifiziert hatte, durch die aus dem Krieg resultierende geistige Destruktion entwertet sieht. Dieser repräsentierte für ihn die Möglichkeit, das Absolute durch das Denken bzw. durch auf Prinzipien gründenden Denksystemen vernunftmäßig durchdringen zu können. Im Gegensatz dazu wird von Tillich das urständliche Moment von Religion nun als rein subjektives Moment, als reine „Zuständlichkeit“, beschrieben, welches nur durch Objektivationstätigkeit des Menschen zum Gegenstand von Religion werden könne. Es wird allerdings der These gefolgt, dass die mithin extrem subjektivistische Position Tillichs und dessen radikaler Bruch mit dem Deutschen Idealismus als Signum seiner teils traumatischen Kriegserlebnisse während seiner Tätigkeit als Feldprediger zu interpretieren sind. Keinesfalls bleibt Tillich im Fortlauf seiner Systementfaltung und nach erneuter Aufnahme seiner Lehrtätigkeit im
Dienstbeck, S., Transzendentale Strukturtheorie, S. 243 – 244.
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Anschluss an das Ende des Ersten Weltkriegs bei dieser einseitigen Entfaltung der Gottestheorie stehen. Im Briefwechsel werden zwei Richtungen deutlich, durch die sich Tillich von seinem System von 1913 abgrenzt. Zunächst verwirft er seinen früheren Lösungsweg, den Zweifel mittels „intellektuelle[r] Überwindung durch den wissenschaftlichen Gottesbegriff’“²⁹⁷ aufheben zu wollen. Denn dies würde die prinzipielle Möglichkeit einschließen, vom Standpunkt der Relativität aus und durch intellektuelle Anschauung zum Begriff des Absoluten durchdringen zu können, was er nun verwirft. Der Zweifel wird also in das System integriert. Damit einher geht das Bestreben Tillichs sein System hinfort nicht länger von einem absoluten Prinzip herzuleiten, sondern stattdessen von der Prämisse einer immanenten Transzendenz auszugehen. Beide Richtungen bedingen sich gegenseitig und sollen im Folgenden knapp erläutert werden: Wird der Zweifel in der ST (1913) noch in den absoluten Wahrheitsgedanken integriert und damit praktisch in dessen intuitiver Einheit aufgelöst, so lautet es nun im Briefwechsel: „Es widerspricht dem Centrum des religiösen Lebens, daß das Recht zum Glauben abhängig gemacht wird von einem intellektuellen Werk […]“²⁹⁸. Folglich müsse jeglicher Gottesbegriff abgelehnt werden, der „die religiöse Funktion auf die Vollendung des theoretischen Gottesbegriffs [zu] fundieren“ sucht.²⁹⁹ Das Zentrum Tillichs Überlegungen im Briefwechsel bildet deshalb die Frage, „[w]ie […] mit dem theoretischen Zweifel diejenige Gewißheit vereinbar [ist], die das Wesen des Glaubens ausmacht“.³⁰⁰ Dabei sind für ihn zwei Wege ungangbar: Sowohl der mystische Zugang zum Unbedingten, der den Zweifel prinzipiell aufheben würde, wird von Tillich abgelehnt als auch die Möglichkeit, den Zweifel mittels eines „sittlich-religiösen Realitätserlebnis[ses]“ zu überwinden. Denn auch eine sittliche Forderung gründe hinwiederum auf einem theoretischen Gottesbegriff, gegen welchen die Skepsis Einwände formulieren könnte. Auch könne die sittliche Forderung keine „Erfahrung von der unmittelbaren [und als solche evidenten] Realität Gottes“ beanspruchen, da selbst das religiöse Erlebnis eine theoretische Grundlage besitze, indem es der Deutung als eines theoretischen Nachvollzugs bedürfe. Dadurch könne es jedoch von der Skepsis als „Illusion“ entlarvt werden.³⁰¹ Tillich kommt also zu dem Schluss, dass sich die
EN, Bd. VI, S. 99. A.a.O., S. 100. A.a.O., S. 99. Ebd. A.a.O., S. 101; Vgl. a.a.O., S. 100 – 101: Den Zweifel – wie Hirsch es vorschlägt – mittels eins „sittlich-religiösen Realitätserlebnis[ses]“ zu überwinden, lehnt Tillich ab: „Die Gottesgewißheit kann als sittliche Forderung auftreten. So sprachst du früher. Ich halte diesen Weg für verhäng-
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1 Apriorischer Wahrheitsbegriff und Methode
religiöse Gewissheit auf ein anderes Moment als das der Objektivität beziehen müsse, da es „[…] weder möglich ist, das gegenständliche Moment in der Religion theoretisch durch Beweise, noch praktisch durch sittliche Forderung vom Zweifel zu befreien“³⁰². Dieses Moment bezeichnet er auch als das „subjektive urständliche Moment der Religion“.³⁰³ Es wird durch den Sinnbegriff entfaltet. Tillich rückt folglich das subjektive Moment, statt einen absoluten Gottesbegriff, an den Systemanfang, indem er die Aktualität des Gottesbegriffs im Glaubensvollzug des Menschen erfüllt sieht. Diese in die reine Subjektivität verlagerte Form der Herstellung einer Gottesgewissheit gründet sich bei Tillich auf der Annahme, dass „das Menschsein […] mit dieser Erlebnisform“ anfängt, die er als „skepsisfreie Religion“ und als „reine Zuständlichkeit“ beschreibt.³⁰⁴ Dem Zweifel kann folglich nur so begegnet werden, dass die Gottesgewissheit ausschließlich als Funktion des menschlichen Geistes ohne absolutes Korrelat hergestellt wird. Dieser Vorgang bedeutet eine sich nur in und durch immanente Kategorien vollziehende Transzendenz. Dem Einwand Hirschs, Tillich vernachlässige das zweite religiöse Grunderlebnis, welches er als „das Innewerden des ‚Anderen‛, des ‚Fremden‛ als des Göttlichen“³⁰⁵ beschreibt und vor welchem das Bewusstsein sich selbst als Relatives erkennt und beugt, begegnet Tillich folglich mit einer Verlagerung dieser Differenz in den Geist selbst. Hirsch beschreibt dieses religiöse Grunderlebnis als ein „unmittelbares geistiges Erleben“, welches sich vorbegrifflich ereigne.³⁰⁶ Tillich lehnt diese Voraussetzung ab, indem er dagegenhält, dass jedes Erlebnis bereits Deutung sei und damit bereits aus der Unmittelbarkeit herausgetreten:
nisvoll […]. Sittliche Forderungen können sich nur auf der Idee nach praktisch Realisierbares beziehen; ich kann nie von jemand sittlich fordern, daß er etwas theoretisch realisiere. Und theoretisch ist der Gottesgedanke selbst dann, wenn er aus lediglich praktischen Motiven hervorgeht; denn er ist ein ‚Begriff’ und im Verhältnis des Vorstellens ‚gegenständlich’ […]. Aber auch in dem Sinne ist eine sittliche Forderung nicht möglich, daß etwas die Erfahrung von der unmittelbaren (und als solche evidenten) Realität Gottes gefordert wird: diese Forderung hätte nur Sinn, wenn wir durch bestimmtes als sittlich anerkanntes Verhalten die Gotteserfahrung im evidenten Sinn notwendig machen müßten […]. Aber die Frage ist ja die, was wird, wenn die Skepsis dieses Band zerrissen hat, dieses Überzeugungsgefühl in Illusionen aufzulösen versucht hat? Jedes Erlebnis, das sich als Gotteserlebnis gibt, bedarf ja der Deutung. Diese Deutung ist Theorie. Es gibt keinen Weg von der Praxis zur Theorie, der ohne volle theoretische Mitwirkung möglich wäre.“ A.a.O., S. 102. Ebd. Ebd. A.a.O., S. 106. Ebd.
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Du beschreibst Dein zweites Erlebnis als vor aller begrifflichen Deutung stehend. Das ist einfach ein Irrtum. […] Da ist mir klar geworden, daß eine Beschreibung niemals nur unmittelbar ist. Sie erfolgt in Begriffen, und jeder Begriff ist eine ‚Zurechtmachung’ und führt über die Unmittelbarkeit hinaus. Ich gehe noch weiter, schon das Erleben selbst, vom sinnlichen Eindruck anfangend, ist nicht mehr unmittelbar, sondern hat, sofern es in das Licht des Bewußtseins tritt, seiner selbst Deutung in sich. Wir erleben Sinn- und Wertbelastetes. Sinn und Wert sind aber Schöpfungen des Geistes. So ist auch Dein zweites Erlebnis Deutung und Schöpfung.³⁰⁷
Weiterhin interpretiert Tillich das doppelte Grunderlebnis als Signum einer dem Bewusstsein als Differenz erscheinenden „Polarität im [menschlichen] Geiste selbst“: Du […] constituierst das Verhältnis von absolut und relativ zwischen Gott und dem Geist, damit bist du mitten im Geist, er hat, wie alles, auch das ihm wesensgemäß Fremde in sich eingesogen; dagegen gibt es kein Mittel!“ Und weiter: „Die Person hat aber das ‚Fremde’ als Existentialprinzip in sich selbst […].³⁰⁸
Indem also Tillichs Ansicht nach kein unmittelbar gegenständliches Erleben des Göttlichen möglich sei und damit auch jegliche unmittelbare Gewissheit Gottes abgelehnt werden müsse, wird auch das zweite religiöse Grunderlebnis Hirschs
A.a.O., S. 118: A.a.O., S. 117; A.a.O., S. 118: „Ist es nicht auch im zweiten Falle der individuelle Geist, der seine Realität erkennt und dem eben dadurch die Absolutheit des Geistes zu etwas Fremdem wird? […] Jedenfalls wüßte ich nicht, wie sich in einem Individuum der ‚Geist‘ gegenüber einem Dritten als relativ erleben soll.“ Vgl. a.a.O., S. 119: Tillich erkennt das doppelte Grunderlebnis an, möchte es jedoch anderes verstanden wissen: „Ich sehe in ihm den Ausdruck der Polarität im Geistesleben, die ich durch die beiden Begriffe: Wertbewußtsein und Unendlichkeitsbewußtsein bezeichnen möchte.“ „Weil der Geist Unendlichkeitsbewußtsein hat, darum ‚transzendiert‘ er notwendig; er setzt Transzendentes als gegenständlich voraus […]. Er setzt etwas Endliches transzendent; es entsteht so die faktische Immanenz jedes konkreten Gottesgedankens, die verbunden ist mit dem Ideal, ihn transzendent zu denken, welches unmöglich ist.“ Vgl. auch a.a.O., S. 121– 122: „[…] woher bekommt nun der Geist die Norm des Sich-Beugens vor einem Fremden? Weil er ohne dieses Fremde ‚nichtig‘ ist, d. h. weil dieses Fremde zu ihm gehört, nicht etwas Fremdes ist; und weiter: In welchem Sinne sich beugen vor Normen, die aus dem Fremden stammen? Aber alle Normen stammen aus dem Geist, sonst könnte er sie nicht ‚anschauen‘; nur wo Subjekt und Objekt zur Identität kommen, ist Evidenz! Das Fremde bringt also gar nichts Neues; es ist nur der Ausdruck für die ‚Existenz‘ des Geistes […].“ Dieser Satz legt die Interpretation nahe, dass sich in der Einheit von Denken und Wahrheit im Subjekt nicht Göttliches im menschlichen Tun und Denken realisiert, sondern dieses Identitätsverhältnis lediglich Ausdruck und Produkt des menschlichen Geistes ist.
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von ihm als „Deutung und Schöpfung“ des Geistes verstanden.³⁰⁹ Folglich kommt Tillich zu dem Urteil: „[D]as An-Sich macht sich bemerkbar durch Tätigkeit des Ich – und das soll noch unmittelbare Evidenz sein!“³¹⁰ Damit verlagert Tillich die dualistische Konzeption des Gottesbegriffs, das Erlebnis Gottes als des Anderen, ausschließlich in den bewusstseinsinternen Prozess des religiösen Vollzugs, wodurch die Existenz einer außersubjektiven Göttlichkeit ablehnt wird. Dienstbeck entdeckt eine Konstanz von Tillichs Gedanken im Briefwechsel und dem System von 1913. Er konstatiert, Tillich gehe „weiterhin vom in vermittelter Unmittelbarkeit sich selbst gesetzt habenden Subjekt aus[…] und [führe] somit seine dem Idealismus nahestehende Position aus frühester Zeit durchaus weiter[…].“³¹¹ Diese These lässt sich allerdings bezweifeln, wenn man mein zuvor vorgeschlagenen Interpretationsansatz ernst nimmt und davon ausgeht, dass Wahrheit und Denken jederzeit in einer Einheit stehen und so auch der Selbstsetzungsprozess des Denkens aus dieser Einheit konstituiert ist, sodass es letztlich das Absolute selbst ist, welches sich in diesem Prozess selbst bestimmt. Die Erfassung des Absoluten erfolgt 1913 also stets nur im Identitätsverhältnis von Denken und Wahrheit im Wahrheitsgedanken. Insofern lässt sich doch ein Unterschied von 1913 und dem Briefwechsel ausmachen, da in Letzterem statuiert wird, dass der Prozess der Wahrheitskonstruktion weder aus einer Einheit von Absolutem und Subjekt im Denken erfolgt, noch dieser Prozess als Selbstvermittlungsprozess des Absoluten verstanden werden kann, sondern allein vom Subjekt ausgeht. Es bleiben zwar die beiden Pole Absolutheit und Relativität, wie sie in der Systematischen Theologie (1913) konzipiert worden sind, bestehen, allerdings wird der absolute Part als Produkt subjektiven Selbstvollzugs verstanden. In der ST (1913) wird das subjektive Moment allerdings noch nicht explizit als subjektiv gefasst, findet sich jedoch auch schon dort in der Idee der Integration eines Widerspruchsmoments gegen das Absolute in das religiöse Prinzip selbst wieder, welches als Einheit von Identität und Differenz gefasst wird. Das aktuelle Moment ist also auch dort schon vorhanden, wird jedoch als in Einheit mit dem Begriff des Absoluten stehend gedacht. Folglich lässt sich der Briefwechsel als Revision des Systems von 1913 lesen, folgt man meinem obigen Interpretationsansatz, der die Einheit von Denken und Wahrheit in der ST von 1913 als vom Absoluten evoziert betrachtet. Im Briefwechsel hingegen wird Gott als Implikat eines subjektiven Vollzugsaktes verstanden, wodurch sich das Wahrheitsverhältnis ausschließlich als Selbstreflexi-
A.a.O., S. 118. Ebd. Dienstbeck, S., Transzendentale Strukturtheorie, S. 240.
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onsprozess des Menschen erweist. Bereits in Rechtfertigung und Zweifel wird dieser radikale Ansatz Tillichs allerdings überarbeitet und sinntheoretisch weiterentwickelt. Im Briefwechsel wird „Sinn“ allerding noch ausschließlich monistisch interpretiert. Der Sinnbegriff wird von Tillich nach der Rezeption des Werkes Das Heilige von Otto entwickelt und erstmals im Briefwechsel mit Hirsch erwähnt.³¹² Durch die Lektüre dieses Werkes wird sein „alter Sinn fürs Irrationale, fürs Paradoxe, das Erlebnis Gottes als ‚Vischnu’ […]“³¹³ wieder erweckt. Dem Konflikt, das religiöse Erlebnis, so, wie es Otto beschreibt, entweder auf einen „natürlichpsychologische[n] Vorgang“ zurückzuführen oder ihn als gegenständlich aufzufassen, entgeht Tillich mit dem Sinnbegriff: „[O]der es handelt sich überhaupt nicht um einen besonderen Gegenstand, sondern um einen besonderen Sinn, den Sinn des Gegenstandes ‚Welt’. Eben dieses ist nun meine Meinung. Geistiges Leben ist Leben im Sinn oder unablässige schöpferische Sinngebung.“³¹⁴Allerdings wird „Sinn“ hier von Tillich noch rein immanent mit „Wert“ identifiziert. Ausgehend von dieser Identifizierung zeigt sich, dass Tillich sich, indem er den Sinnbegriff der Wertsphäre zuordnet, diesen als Kategorie der Immanenz fasst: „Es wären demnach drei Sphären zu unterscheiden. Die des Tatsächlichen, die des Sinnes oder Wertes und die des Religiösen oder Unendlichen oder Numinosen.“³¹⁵ Es bleibt hier folglich noch bei einer monistischen Interpretation des Sinnes, denn sowohl das Sein als auch das Göttliche werden vom Sinn als das „andere“ gesetzt gedacht. Das Göttliche wird dabei als dasjenige Moment vorstellig, von dem der Sinn „sich realisiert weiß“³¹⁶, während das Sein dasjenige Moment darstellt, „an dem er sich realisiert“. Sowohl das Sein als auch Gott werden jedoch als „SinnSetzungen“ des Bewusstseins verstanden.³¹⁷ Der Tillich der 20er Jahre hingegen nimmt seinen alten Kurs von 1913 unter neuem Vorzeichen wieder auf, indem er die Krise, die sich im Briefwechsel niederschlägt, dadurch zu überwinden sucht, dass er den Zweifel, welcher in der Systematischen Theologie (1913) noch ausgeschlossen war, nun mit in das religiöse Prinzip integriert. Das Unbedingte wird nun als unbedingter Sinn beschrieben. Darüber hinaus konzipiert Tillich in Rechtfertigung und Zweifel mittels des Sinn-
Vgl. EN, Bd. VI, S. 123. A.a.O., S. 123 – 124. A.a.O., S. 125. Ebd. Indem Sinn sich im Göttlichen realisiert, beschreibt er einen funktionalen Akt der Selbstschöpfung und Selbstrealisierung des menschlichen Geistes, der den Sinn erst konstruiert und als im Göttlichen realisiert erachtet. EN, Bd. VI, S. 126 – 127.
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begriffs ein Konzept unmittelbarer Gewissheit. Am Sinn schlechthin lasse sich ob seines thetischen Vorausgesetztseins nicht zweifeln. Indem das Unbedingte nun als Sinn schlechthin interpretiert wird, ist gleichsam ein Punkt aufgewiesen, welcher sich nicht bezweifeln lässt: Das Unbedingte ist ein Sinn, aber nicht ein einzelner Sinn; denn jeder einzelne Sinn steht unter dem Zweifel und könnte den Zweifler nicht rechtfertigen. Das Unbedingte ist der Sinn schlechthin, der Ausdruck dafür, daß überhaupt ein Sinn ist, die Setzung der Sinnsphäre. […] Ein Zweifel am Sinn schlechthin ist aber nicht möglich, da der Zweifel die Bejahung der Sinnsphäre bereits voraussetzt und zwar umso deutlicher, je tiefer er erlebt wird.³¹⁸
Während Tillich im Briefwechsel noch Sinn und Wert identifiziert, eröffnet er mit dem „Sinn schlechthin“ in Rechtfertig und Zweifel eine neue Ebene: Es lässt sich nun also zwischen einem einzelnen Sinn und dem Sinn schlechthin differenzieren. Während im Briefwechsel das Unbedingte bzw. „Überseiende“ noch als Sinnsetzung interpretiert worden ist³¹⁹, wird es nun als Voraussetzung dafür verstanden, dass überhaupt ein Einzelsinn ist. Dabei handelt es sich um eine Verschiebung der Ebenen: Während 1917 das Unbedingte noch als vom Sinnbewusstsein des Menschen gesetzt verstanden wurde, wird nun angenommen, dass das Sinnbewusstsein des Menschen (jeder Einzelsinn) auf einem Setzungsakt des Sinnes schlechthin (des Unbedingten) beruht. Der Zweifel am Sinn setzt eine sinnvolle Sphäre bereits voraus, da der Sinn sonst nicht bezweifelt werden könnte; die Sinnwidrigkeit setzt Sinn bereits kategorial voraus.³²⁰ Infrage gestellt werden kann nur bestimmter, einzelner Sinn, nicht jedoch der schlechthinnige Tillich, P., Rechtfertigung und Zweifel, S. 219. Vgl. EN, Bd. IX, S. 126 – 127: „Der Sinn setzt das Sein als sein ‚anderes’, an dem er sich realisiert. Ebenso setzt der Sinn das Göttliche als sein ‚anderes’, von dem er sich realisiert weiß. So begrenzt sich der Sinn durch das Sein und das Überseiende! Beide aber sind Sinn-Setzungen.“ Vgl. Scharf, Uwe C., The Breakthrough of Jusitification and Grace in History, in: Hummel, G. (Hrsg.), Truth and History – a Dialogue with Paul Tillich/ Wahrheit und Geschichte – ein Dialog mit Paul Tillich. Beiträge des VI. Internationalen Paul-Tillich-Symposiums in Frankfurt/Main 1996 (Theologische Bibliothek Töpelmann, Bd. 95), Berlin; New York 1998, S. 147: Auch Scharf betont unter Bezugnahme auf den von Tillich im Jahre 1924 verfassten Aufsatz Rechtfertigung und Zweifel, dass der Sinn und die Wahrheit nicht erst das Ziel der Sinnsuche und der Infragestellung des Sinnes darstellen, sondern die Partizipation am Sinn bereits Voraussetzung des Zweiflers ist: „Truth and meaning are not only the goal of one’s search, they are also the presuppositoin of the search; the very quest for meaning is already part of the meaning of life. In the depth of meaninglessness, loneliness, and despair, meaning can break through and create new life out of the old.“ Die Rechtfertigung ist ein umfassendes Phänomen, welches auch und gerade am Zweifler ansetzt und diesen in die Sphäre des Sinnes hebt. Scharf spricht diesbezüglich auch von „vorlaufende[r] Gerechtigkeit“ (S. 141). „The sinner is justified because he or she stands already in the prior fact of God’s forgiveness.“ (Ebd.).
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Sinn. In positiver Form lässt sich das Unbedingte allenfalls als unbedingter Sinn fassen. Der Sinnbegriff ist, obwohl er dem subjektiven Moment Rechnung trägt, jedoch nicht so zu verstehen – und darauf macht Dienstbeck hinwiederum auch aufmerksam – als ob „es die Wirkung sei, die von konkreten Entitäten ausgehe, die Sinn allererst konstruiere – eine solche Konsequenz ist ebenso abzulehnen wie eine absolute Ansetzung von Sinn […].“³²¹ Diese Unbestimmtheit des Sinnes als einerseits jeglicher rein subjektiver Setzung erhaben, anderseits als nicht-gegenständlich transzendente Wirkmächtigkeit kann auch als Kritik an Tillichs Sinnbegriff angeführt werden. Eindeutig erschließt sich die Bedeutung des Sinnbegriffes bei Tillich nicht, so er auch selbst von einem „Schweben zwischen Anschauung und Begriff“, einem „Oszillieren“ zwischen der Sphäre der Gegenständlichkeit und der subjektiven Setzung spricht.³²² Am ehesten kann er jedoch als Vermittlungsinstanz zwischen Absolutem und Relativem interpretiert werden. Es ist also für den Sinnbegriff kennzeichnend, dass er „weder als externe Absolutheitskategorie für das subjektive Selbst noch als bestimmtes, von Subjektivität kreiertes Sinnprodukt […] in Erscheinung tritt.“³²³ Wie sich dieses Stehen-dazwischen des Sinnes genauer beschreiben lässt, bleibt jedoch uneindeutig. Dass Sinn schlechthin jedoch die Subjektivität übersteigt und über sie hinausgeht und ihm folglich nicht nur der Wert eines reinen Gedankenproduktes anheimfällt, kann als unbezweifelbar aus Tillichs Erörterungen abgeleitet werden: Tillich selbst bezeichnet sich als einen Vertreter des „Monismus des Sinnes“.³²⁴ In seiner Examensarbeit von 1908 definiert Tillich den Monismus noch als eine Anschauung, die „konsequentermaßen jedes Einzelgeschehen notwendig aus dem obersten Prinzip ableiten“ muss und folglich „die Identität der Welt mit der göttlichen Natur und damit ihre Ewigkeit“ behauptet.³²⁵ Demzufolge lässt sich also schlussfolgern, dass der Sinn schlechthin einem obersten Prinzip, dem Unbedingten, entspricht und damit einer transzendenten Sphäre anheimfällt, die die Subjektivität erst setzt. Tillich versteht unter Setzung bzw. „Selbstsetzung“ nicht etwa einen rein subjektiven Vorgang, sondern „jede Selbstsetzung ist eine Durchsetzung der universalen Weltvernunft an einem Punkte“, was bedeutet, dass dem Gewissen „als der göttlichen Offenbarung“ „normative Bedeutung“
Dienstbeck, S., Transzendentale Strukturtheorie, S. 293. Tillich, P., Rechtfertigung und Zweifel (1. und 2. Version), in: Sturm, E. (Hrsg.), Religion, Kultur, Gesellschaft: unveröffentlichte Texte aus der deutschen Zeit (1908 – 1933) / Paul Tillich. (Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, Bd. X), Stuttgart 1999, S. 221. Dienstbeck, S., Transzendentale Strukturtheorie, S. 294. EN, Bd. VI, S. 127. EN, Bd. IX, S. 109.
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zukommt.³²⁶ Folglich kann Tillich auch zu dem Urteil kommen, dass „es […] die Taten der Selbstsetzung [sind], in der sich die Überwindung des Nichtich vollzieht. Aber das ist doch nur Schein. Denn nicht das Individuum als solches ist es, was die geistige Selbstsetzung vollzieht, sondern der Geist, das universale Geistesleben als Einheit gedacht in ihm.“³²⁷ Inwiefern lassen sich nun Sinn und Sinnwidrigkeit von den idealistischen Kategorien Denken und Wahrheit abgrenzen? Zunächst ist Dienstbecks These einer Strukturanalogie des Wahrheits- und Sinnkonzeptes Tillichs zu kritisieren. Zwar lässt sich durchaus eine Analogie beider Konzepte in den 20er Jahren statuieren (indem Wahrheit mit Sinn schlechthin identifiziert werden kann, wie bereits in Rechtfertigung und Zweifel deutlich wurde), allerdings kann nicht von einer Analogie von Wahrheit und Sinn gesprochen werden, da Tillich deutlich macht, dass Sinn sich in einer Wertsphäre bewegt und das Immanente dabei nicht übersteigt, also nicht transzendent, sondern allenfalls transzendental interpretiert werden kann. Dienstbeck hingegen folgt der Prämisse, die Analogie des Sinnund Wahrheitskonzepts vor allem „[…] im Ansetzen von Wahrheit bzw. Sinn als transzendentale[r] Größen […]“ zu sehen. Wahrheit respektive Sinn dienen nach ihm der „Vermittlung subjektiver Unmittelbarkeit“ im „Selbstkonstitutions- und Selbstbestimmungsakt des Denkens“.³²⁸ Sinn und Wahrheit dienen also als Vermittlungsinstanzen, mittels derer das Subjekt eine sinnvolle Welt konstruiert und sich gleichzeitig in seiner Beziehung zum Unbedingten aktualisiert. Ich würde Dienstbeck darin folgen, dass diese Funktion vom „Sinn“ erfüllt wird, jedoch nicht von der Wahrheit. Wahrheit ist nach Tillich keine rein transzendentale Größe. Sinn lässt sich aber durchaus als Vermittlungskategorie zwischen Subjekt und Unbedingtem interpretieren. Allerdings sind Wahrheit und Sinn nicht synonym zu verwenden, sondern Wahrheit korrespondiert mit dem Begriff Sinn schlechthin. Zu folgen ist Dienstbeck allerdings bezüglich der Differenz, die er zwischen dem Sinn- und Wahrheitskonzept statuiert: Diese sieht er in einer je divergierenden „Zielrichtung“ gegeben. So sei „Wahrheit immer der unmittelbare Gegenstand auf sie ausgerichteten Denkens“, während „Sinn hinwiederum insofern davon kategorial geschieden ist, als die Verhältnismäßigkeit der Wahrheit-Denken-Relation für das Denken im Begriff des Sinnes ein Urteil erfährt.“³²⁹ Vereinfacht gesagt: Die Bezogenheit des Denkens auf Wahrheit wird durch den Sinnbegriff erst als sinnvoll beurteilt. Wahrheit und Denken sind stets unmittelbar aufeinander bezogen, da die Wahrheit immer schon unmittelbar und notwendig
A.a.O., S. 123. A.a.O., S. 129 – 130. Dienstbeck, S., Transzendentale Strukturtheorie, S. 289. A.a.O., S. 290.
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den Gegenstand des Denkens bildet, mit dem dieser in Identität steht. Denken und Wahrheit entsprechen sich, da – wie oben ermittelt – sich Wahrheit immer schon im Denken realisiert bzw. die Wahrheit sich im Denken selbst vermittelt. Der Sinn hingegen fungiert als Vermittlungsinstanz, indem er einen ganz bestimmten Modus des Bewusstseins bedeutet, in welchem in Form von Sinnakten bzw. Sinnsetzungen allererst die in der Wahrheit vorausgesetzte Bezogenheit des Denkens auf die Wahrheit als sinnhaft beurteilt wird. Voraussetzung für diese Notwendigkeit einer sinnhaften Vermittlung von Denken und Wahrheit bildet der in das System integrierte prinzipielle Zweifel, der die Wahrheit nicht mehr unmittelbar als das Ziel des Denkens rezipiert bzw. die Wahrheit nicht mehr unmittelbar in die Selbstkonstitution des Subjekts integriert, sondern eine an sich sinnvolle Zuführung der Weltkonstituenten generell infrage gestellt wird. „Zu garantieren vermag dieses bezweifelte Verhältnis nur ein Urteil, das in der Sphäre von Sinnhaftigkeit gefällt wird.“³³⁰ Sinn kann folglich als diejenige Kategorie verstanden werden, die Denken und Wahrheit erst aktiv vermittelt. Erst, indem das Denken und somit das Subjekt Wahrheit als Möglichkeit einer sinnvollen Selbst- und Weltkonstitution für sich erschließt und als Kategorie auf sein eigenes Leben anwendet, kann Wahrheit überhaupt vollzogen werden. Damit bedeutet Sinn diejenige Entität, die auch dem Zweifel (der stets an die Subjektivität geknüpft ist) vorausgeht. Denn die Sinnsphäre stellt eine Sphäre dar, die auch der Zweifler anerkennen muss: Zweifel am Sinn setzt diese bereits kategorial voraus. Um das Denken einer an sich sinnvollen Wahrheit zuzuführen, muss der Sinn Denken und Wahrheit vermitteln. Dennoch kann Sinn nie nur in seiner abstrakten, subjektunabhängigen und folglich vorbegrifflichen Funktion aufgehen. Vielmehr fungiert er, so lässt sich mit Dienstbeck festhalten, stets „für das Denken“.³³¹ Insofern ist Sinn „ausschließlich und notwendig nur in Form seiner Realisierung im Konkreten.“³³² Sinn kann also weder gedacht werden als ein externer, sich außerhalb des Subjekts befindlicher, rezipierbarer Gegenstand. Dies würde den Sinn wiederum einordnen in die Bedingtheit des Endlichen, ihn zu einem prinzipiell in Zweifel zu ziehendes Sein neben anderem Seiendem degradieren. Er bezeichnet folglich auch kein Überseiendes, welches einer transzendenten Realität anheimfällt. Tillich benennt den Ort des Sinnes vielmehr als den der Realisierung selbst. Folglich ist er ist als transzendentale Vollzugskategorie zu deuten. Der Sinn schlechthin entspricht hingegen dem Wahrheitsbegriff der Systematischen Theologie (1913). Gegenüber Dienstbeck lässt sich also die Präzisie-
Ebd. A.a.O., S. 291. A.a.O., S. 293.
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rung anführen, dass Sinn als Vermittlungskategorie hier nicht mit dem „Sinn schlechthin“³³³ (der das Prinzip von Religion bezeichnet) verwechselt werden darf. Rudimentäre Beachtung kommt dem Sinnbegriff in der RP-Vorlesung (1920) zu, was einerseits irritiert, da – wie bereits dargelegt – die sinntheoretische Fundierung des religiösen Prinzips bereits im Briefwechsel mit Hirsch angelegt ist. Andererseits lässt sich die Vernachlässigung des Sinnbegriffs dadurch erklären, dass die RP-Vorlesung eher geltungsphilosophisch konzipiert ist und im Vordergrund folglich das „Erforschen von Begriff und Wesen der Religionsphilosophie in geltungsphilosophischer Bewußtseinsanalyse“³³⁴ steht. Allerdings wird auch hier im Zusammenhang der Erörterung des religiösen Realitätserlebens der Sinnbegriff exponiert. Tillich entfaltet dessen zentrale Bedeutung für die Synthesisfunktion des Bewusstseins formal in Form eines negativen Nachweises, anhand dessen die Bedeutung des „unbedingten Realitätserlebnisses“ für die einheitliche Konstitution des Bewusstseins nachgewiesen wird. Ohne dieses Erlebnis wäre eine zusammenhängende, einheitliche Wahrnehmung der Außenwelt laut Tillich unmöglich: „Es ist zu zeigen, daß ohne diese Bewußtseinsfunktion ein Bewußtsein und eine Erscheinungswelt synthetisch nicht möglich sind.“³³⁵ Ohne die Realitätsbeziehung des Denkens käme diesem also keine Realität zu, es würde schlichtweg nicht existieren. Diese Bezogenheit des Denkens auf eine Realität ist von Tillich jedoch so gemeint, dass diese nicht wiederum etwas gegenständlich Existierendes darstellt: Hier [gemeint ist das Unbedingte] aber handelt es sich nicht um ein Sein, das logisch zu erweisen wäre, also gerade nicht unbedingt wäre, sondern es handelt sich um das irrationale Denkerlebnis des dem Denken widerstehenden Seins überhaupt, was aber weder ein Seiendes, noch das Seiende, sondern der Sinn des Seins überhaupt ist. An diesen Sinn des Seins ist aber der Sinn des Denkens gebunden. Er ist die unbedingte Voraussetzung dafür, daß überhaupt ein Sinn und nicht nur eine leere Form ist. Und insofern ist allerdings das Unbedingte Voraussetzung des Bedingten, das heißt das unbedingte Realitätserlebnis [ist] Voraussetzung der Sinnmöglichkeit des Bedingten, der Erscheinungswelt.³³⁶ [Hervorh. d. Verf.]
EN, Bd. X, S. 220. EN, Bd. XII, S. 346 – 347. A.a.O., S. 402. A.a.O., S. 402– 403. Vgl. MW, Bd. IV, S. 386. Auch hier betont Tillich die Nicht-Gegenständlichkeit des Sinnes, indem er schreibt: „Das in allem Sinngebende ist nicht selbst ein Sinn, auch nicht die Gesamtheit, auch nicht die Unendlichkeit des Sinnes; das in Allem Reale ist nicht selbst ein Reales, auch nicht die Gesamtheit, auch nicht die Unendlichkeit des Realen.“ Das in allem Wirkliche kann somit auch als Sinn des Sinnes bezeichnet werden oder eben als absoluter Sinn. Die Formen, die als Ausdruck
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Das dem Denken widerstehende Sein wird von Tillich hier also als der Sinn des Seins interpretiert. Damit ist gemeint, dass das Denken sich weder anderes Sein in seiner Totalität noch sich selbst bzw. seine eigenen Bedingungen (die Frage warum und woher es ist) erklären kann. Das Unbegreifliche wird hier als Sinn des Seins beschrieben. Als die Konstitutionsbedingung des Seins muss es ein von ihm Verschiedenes sein. Der Sinn des Seins ist deshalb an den Sinn des Denkens gebunden, da erst in der Funktion des Denkens, seine eigenen Voraussetzungen zu reflektieren, die Frage nach dem Sinn aufkommt. Nach Tillich würde es ohne diese Funktion des Denkens keinen Sinn geben. Das Unbedingte wird hier von Tillich mit dem unbedingten Realitätserlebnis gleichgesetzt, ohne dessen es keine Sinnmöglichkeit des Bedingten geben würde. Es wird als das dem menschlichen Bewusstsein Fremde und Andere bzw. Entgegengesetzte, welches eben nicht zulänglich mittels der kritischen Methode beschrieben werden kann, als das irrationale Moment gefasst und folglich als der vom religiösen Bewusstsein intendierte „Sinn des Seins“ (s.o.) beschrieben. Dieser liegt also in dem, was das Sein nicht ist, ihm also entgegensteht, in seiner Negation. Ob und inwiefern von dieser Irrationalität als einer (fremden) Realität im Jenseits des faktischen Seins gesprochen werden kann und wie von einer solchen rein negativitätstheoretischen Gottestheorie her eine Vermittlung zwischen Gott und Mensch als eine Selbstkundgabe Gottes gedacht werden kann, sind Fragenkomplexe, die sich an dieser Stelle auftun und im Fortgang der Arbeit (vor allem auch im zweiten Teil) vermehrt zur Diskussion stehen: Wie ist eine Offenbarung Gottes im religiösen Akt als einem rein negativitätstheoretisch begründeten religiösen Erlebnis zu denken? Ich möchte mich noch einmal genau den im obigen Zitat dargestellten Ebenen zuwenden. Von Tillich synonym verwendet werden Sinn des Seins, Unbedingtes und das unbedingte Realitätserlebnis. Diese wiederum bilden die Voraussetzung des Bedingten. Aus dieser Trias fällt allerdings das unbedingte Realitätserlebnis heraus, insofern als es auf das Erleben als einen subjektiven Akt rekurriert, während Sinn des Seins und Unbedingtes noch als ein dem Erleben Zugrundeliegendes interpretiert werden können. Sinn erscheint wiederum als Vermittlungsinstanz und Beurteilungskategorie. Nur, da dem Bedingten ein Unbedingtes und dem Sein ein Sinn zugrunde liegt, kann das Subjekt Sinnzuschreibungen vollziehen. Die Analogie von unbedingtem Realitätserlebnis und Unbedingtem kann zweifach interpretiert werden. Auf den ersten Blick liegt eine subjekttheoretische Deutung nahe, da das Unbedingte in seiner Identifizierung mit einer Erlebnis-
des Unbedingten fungieren, enthalten nicht selbst den Sinn, dieser liegt nicht in ihnen beschlossen, sondern sie weisen lediglich auf den durch sie symbolisierten Sinn hin.
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funktion als Produkt des Geistes gedeutet werden kann, durch welchen der Mensch auf seine Bedingungen reflektiert und die Sinnfrage stellt. Es ist dann lediglich eine Erlebniskategorie im Deutungshorizont unseres Bewusstseins. Es fällt damit keiner externen, außersubjektiven Sphäre anheim, sondern hat seinen Sitz allein im religiösen Akt. Insofern als das Realitätserlebnis bereits selbst das Zugrundeliegende ist und die „Sinnmöglichkeit des Bedingten“ (s.o.) bildet, ist es jedoch nichts als eine Funktion des Denkens, die der Kontingenzbewältigung dient (deshalb ist sie auch an das Denken gebunden). Das Sinnerlebnis fungiert dann als ein vom Bewusstsein Konstruiertes; folglich würde auch das Unbedingte lediglich als Konstrukt, als Fähigkeit des Denkens, auf seine Voraussetzungen zu reflektieren, erscheinen. Der Sinnabgrund, die Unbegreifbarkeit des Denkens, tritt ihm zwar als anderes und folglich als Unbedingtes gegenüber. Allerdings wäre dieses andere, so wie es Tillich auch im Briefwechsel konstatiert, lediglich als Produkt des Geistes zu verstehen. Die synonyme Verwendung von Unbedingtem und unbedingtem Realitätserleben legt also die Vermutung nahe, dass das Unbedingte lediglich „Denkerlebnis“ ist und damit vom Denken selbst evoziert. Anderseits kann das Unbedingte dem Menschen gar nicht anders begegnen als in Form eines Realitätserlebnisses. Das Moment der Unbedingtheit des Erlebnisses (Tillich spricht ja nicht nur von Erleben, sondern von unbedingtem Erleben) verweist darauf, dass in dem Erlebnis gleichzeitig der Grund des Erlebens intendiert ist, dasjenige Moment, welches jedes Erleben erst setzt. Insofern macht es Sinn, unbedingtes Realitätserlebnis und Unbedingtes zu identifizieren. Gleichzeitig wird damit ausgedrückt, dass das Unbedingte stets an das Subjekt gebunden ist, da es dessen Tiefe bedeutet (so erklärt sich auch die Bindung an das Denken (s.o.)). Folglich wird das Unbedingte auch als Prius und als die „Voraussetzung“ bzw. „Sinnmöglichkeit des Bedingten“ (s.o.) interpretiert, was die Vermutung nahelegt, dass das Unbedingte als eine vom Denken verschiedene Entität die Sinnmöglichkeit erst evoziert. Diese Interpretation stützend spricht Tillich auch vom „Seins-Erlebnis“, welches er mit dem „Unbedingtheitserlebnis“ und dem „Erlebnis unbedingter Realität“ gleichsetzt, als einem Erleben, welches „nicht mehr gesetzt ist von Denkbestimmung“.³³⁷ Dies wiederum lässt darauf schließen, dass hiermit – trotz der Bindung ans Denken, da es nur im Denken aktuell werden kann – eine vom Denken unabhängige Tiefe intendiert ist. Weiterhin wird im obigen Zitat der Sinn des Seins dem Bewusstsein zunächst als das ihm Widerständige, andere, Fremde gewahr. Insofern hat Tillich den noch im Briefwechsel abgelehnten Vorschlag Hirschs, das Absolute als das Fremde und
EN, Bd. XII, S. 402.
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Andere bzw. als „geheimnisvolles Neues“³³⁸ zu bestimmen, in seine Konzeption des Gottesbegriffs integriert.³³⁹ Allerdings wird dieses Widerstandsmoment – im Gegensatz zu Hirschs Konzeption, welcher die Fremdheit des Absoluten als Beweis der Evidenz und als Moment der Unmittelbarkeit der Gotteserfahrung deutet – lediglich als Beweis der Bewusstseinsnotwendigkeit des unbedingten Realitätserlebens erachtet. Zwar schließt Tillich nicht aus, Gott als das Fremde und andere zu deuten, allerdings kritisiert er Hirsch darin, dass dieses zweite Grunderlebnis vom ersten getrennt sei.³⁴⁰ Vielmehr seien beide Grunderlebnisse – so Tillich noch 1917 – identisch und nicht vorbegrifflich. Denken beginnt laut Tillich mit der Erlebniskategorie. Im Gegensatz zum Briefwechsel wird in den 20er Jahren jedoch die Funktion des Denkens, in sich einen Widerstand zu realisieren, welchen er als eigene Bestimmung und folglich als fremd erfährt, als nicht mehr von Denkbestimmungen gesetzt und folglich nicht als Schöpfung des Geistes verstanden, sondern als Moment der Unbedingtheit, welches nicht vom Denken konstruiert ist, sondern das bezeichnet, worauf des ruht. Das Widerspruchsmoment im Denken wird von Tillich in der Vorlesung Religion und Kultur. Die Stellung der Religion im Geistesleben (1920) auch als „Realität“ des Sinnes bezeichnet, da das unbedingte Sein dem Sinn oder man müsste wohl eher von Einzelsinn sprechen, wodurch der Unterschied zum absoluten Sinn markiert wird – widerspricht: „Dieses Sinnerlebnis des dem Sinn Widersprechenden ist die Wurzel der Realität religiösen Erlebnisses“³⁴¹336. Damit ist gemeint, dass jedem Einzelsinn eine Realität anhaftet, insofern als er auf den absoluten Sinn bezogen ist, der jedoch nie ganz realisiert werden kann. Im religiösen Realitätserleben bzw. der Kategorie Sinn ist also stets eine Doppelheit EN, Bd. VI, S. 106. Vgl. EN, Bd. IX, S. 291: Es lässt sich feststellen, dass die Konzeption des Gottesbegriffs als des Fremden und Anderen nicht erst durch Hirsch Eingang ins Tillichsche System gefunden hat, sondern dass dieser Gedanke bereits in Tillichs ST (1913) ausgearbeitet worden ist. Der Gedanke des Widerspruchsmoments im Absoluten selbst ist auf die Rezeption Schellings zurückzuführen. Gott als der ganz Andere, Fremde ist schon in der frühen ST aus dem Doppelverhältnis der Freiheit zur Wahrheit abgeleitet, welches sich sowohl negativ, als auch positiv gestaltet: „Die Freiheit steht in Gegensatz zur absoluten Wahrheit und bejaht diesen Gegensatz in jedem Moment ihrer Selbstbejahung; dadurch wird die Wahrheit für sie ein Anderes, ein ihr Gegenüberstehendes.“ Vgl. EN, Bd. VI, S. 105: Hirsch unterscheidet zwei geistige Grunderfahrungen, die laut ihm beide vorbegrifflich seien: „Die eine ist die Evidenz, die der Geist als subjektiv-objektive Identität für sich selber hat. In ihr werden wir uns der Allgemeinheit und Absolutheit unseres geistigen Lebens bewußt. […] Der Gehalt, als den sich der Geist in dieser Form versteht, ist die Wahrheit.“ Da der Geist die Wahrheit, die er ist, jedoch nie finden kann, da er sich immer nur als Relatives erfassen kann, muss es noch ein zweites geistiges Grunderlebnis geben: „Der Geist wird sich eines Anderen, Fremden bewusst, des Göttlichen.“ EN, Bd. XII, S. 314.
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verborgen. Es ist die Funktion des Bewusstseins, einerseits auf Objektives bezogen zu sein und das, worauf sich der Sinn richtet, objektiv darzustellen (als religiöses Objekt). Hierbei handelt es sich um „Sinngebung“, um eine „Denkkategorie“. „[A] ndererseits ist [der Sinn des Seins] das allem Denken Vorhergehende, ihm Entzogene, das Staunenswerte, Grauenvolle schlechthin.“³⁴² Diese Doppelheit des Sinnes beschreibt Tillich als das Erlebnis eines „Doppelsinn[es] der Absolutheit und Relativität“³⁴³. Mit dieser Interpretation steht Tillich seinem alten System der ST (1913) ganz nahe. Denn auch dort wird die dialektische Struktur des Bewusstseins als ein Ja und Nein zugleich beschrieben: Bejaht wird es im Hinblick auf seine Verwurzelung im Absoluten, verneint als nur Bedingtes, Relatives (bei gleichzeitiger Verleugnung des Absoluten und Selbstverherrlichung des eigenen, bedingten Seins). Die Duplizität des Sinnes, die Funktion der geisttragenden Gestalt als sinngebend und sinnempfangend sowie die Beschreibung der Realität des absoluten Sinnes als jedem Einzelsinn widersprechend spiegelt sich also in der Konzeption von absolutem und relativem Moment des religiösen Prinzips in der ST (1913). Das religiöse Prinzip beschreibt Tillich dort als Synthese von zwei sich widersprechenden Momenten, der Absolutheit und Relativität. Die mit dem Sinnbegriff zum Ausdruck gebrachte Prozesshaftigkeit und Unrealisierbarkeit des unbedingten Sinnes wird in der ST auch mittels des Begriffes dargestellt. Dieser illustriert den lebendigen Kreislauf von Denken und Wahrheit, indem das Erkennen der Wahrheit durch das Ja und Nein des Begriffes bestimmt wird. „[S]o geht das Denken durch jeden Begriff hin durch; es bleibt nicht bei ihm stehen; es sagt nein zu ihm, nachdem es ja gesagt hat, um in einer höheren Stufe wieder ja zu ihm zu sagen […] Das Sein der Begriffe ist ihr Werden […].“³⁴⁴ Den Begriff definiert Tillich auch als „[d]ie lebendige Einheit einer bestimmten Mannigfaltigkeit“. Prinzip des Begriffs ist es, dass das die Wahrheit setzende Denken nicht bei einer einzelnen Bestimmung, einem einzelnen Begriff stehen bleibt, da jede „Bestimmtheit […] nur relativ wahr ist“. Sie muss negiert werden und „so treibt es weiter zu einer anderen Bestimmtheit u.s.f. bis hin zu dem absolut Bestimmten oder Einzelnen.“³⁴⁵ In dieser absoluten Bestimmung des Einzelnen erkennt sich jedoch das Denken als in absolutem Widerspruch zur Wahrheit, weshalb auch jede Bestimmtheit durch das Bewusstsein dieses Widerspruchs und der Relativität negiert werden muss. Der Begriff als Durchgangsmoment des Bewusstseins im dialektischen Kreislauf
Ebd. Ebd. EN, Bd. IX, S. 284. A.a.O., S. 283.
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von Bejahung und Negierung ist gleichbedeutend mit der Bestimmtheit, die vom Denken gesetzt wird. Der Begriff als Bestimmtheit ist also immer nur relativ und bedarf der Überwindung, weshalb das Denken in einem dialektischen Prozess von einem zum anderen Begriff wechselt. Dieser Prozess des Werdens kommt auch durch das dritte, eschatologische Moment in Tillichs theologischem Prinzip zur Geltung. Es bestimmt die beiden Momente absolut und relativ als in ihren Gegensätzen aufgehoben. Doch ist diese Aufhebung dabei „nicht als vollendete, sondern als geschehende zu fassen […].³⁴⁶ Es lassen sich also Analogien des Sinnbegriffs zu Tillichs früherem System ausmachen. Diese Dialektik beschreibt Tillich in Religion und Kultur nun mittels der Doppelseitigkeit des Sinnerlebnisses, einerseits Sinngebung zu sein und andererseits von dem jeden Einzelsinn zugrundeliegenden unbedingten Sinn fundiert zu sein. Hier wird also zwischen zwei verschiedenen Aspekten des Sinnes unterschieden: Zunächst ist Sinn eine subjektive Erlebniskategorie. Jedoch kommt ihm auch neben der transzendentalen eine apriorische Funktion zu. Sinn kann als Sinn schlechthin auch verstanden werden als ein Moment, welches jegliche Form von Sinnerleben erst ermöglicht und diesem also als A priori vorausgeht. Diese Form des Sinnes kann dem Menschen jedoch stets nur als Objektivation gegenwärtig werden. Das unbedingte Sein, welches hier auch mit unbedingtem Sinn identifiziert wird, ist für Tillich „das von jeder Rationalisierung unabhängige Sein.“³⁴⁷ Es ist folglich kein einzelner Sinn oder gar die Totalität des Sinnes, sondern der absolute Sinn bzw. Sinn schlechthin. Als Erlebniskategorie, die zur Selbst- und Weltkonstitution beiträgt, wird Sinn von Tillich als ideales Moment oder als Moment der Identität beschrieben. „Die Identität zeigt sich darin, daß es Bewußtseinserlebnis ist.“³⁴⁸ Als Erlebnis entspricht es gleichsam dem eigenen Sein, indem Erlebnishaftigkeit stets eine Deckungsgleichheit vom Subjekt und dem, was erlebt wird, dem Objekt, bedeutet. Insofern wird Sinn als die dem Denken selbst innewohnende Struktur erfahren. Der absolute Sinn, auf den sich jedes Bewusstsein und jede Sinngebung nach Tillich richtet, ja, notwendig richten muss, ist im Gegensatz dazu allerdings als unrealisierbar zu denken, da jegliche Realisation ihn wiederum einordnen würde in den Gesamtzusammenhang der Relativität und Bedingtheit, was ihm gleichsam den Status der Absolutheit aberkennen würde. Insofern bezeichnet Tillich den absoluten Sinn auch als den „Sinn der Absolutheit
A.a.O., S. 317. Ebd. Ebd.
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selbst“³⁴⁹ und die Absolutheit als „ein den Dingen und ihrer Totalität innewohnende[n] Sinn, der vom Bewußtsein nicht realisiert werden kann und darf.“³⁵⁰ Insofern als der unbedingte Sinn nicht realisierbar ist, wird er von Tillich auch nicht als ein statischer, sondern als dynamischer, ein im Werden befindlicher Prozess verstanden, als Realisierung. Das Vorangehende hat verdeutlicht, dass im Gegensatz zu einer objektiven Wirklichkeit, die als irgendwie seiend bzw. existierend gedacht wird, das Realitätserlebnis als „Sinn des Seins“ beschrieben wird. Die Bezogenheit auf Sinn bildet eine Bewusstseinsfunktion, die notwendig zum Weltbewusstsein dazu gehört. Denn der „Sinn des Seins“ ist an den „Sinn des Denkens“ gebunden (s.o.). Die Sinnhaftigkeit des Seienden ist damit als eine notwendige Kategorie von Menschsein schlechthin erwiesen, die jedoch nur deshalb existiert, da ihr das Unbedingte bzw. das unbedingte Realitätserleben zugrunde liegen. Zuvor wurde erwähnt, dass sich der absolute Sinn im Bedingten nie erfüllen kann. Folglich ist er eine teleologische Kategorie. Nur deshalb kann Tillich vom Unbedingten aussagen, dass es im Gegensatz zur Realität, welche er als ein „dem Bewußtsein entgegenstehende[s] Faktum der Existenz“³⁵¹ bezeichnet, als Realisierung gedacht werden muss, weil damit die Unmöglichkeit der Verwirklichung ausgedrückt ist. Vielmehr meint der Begriff der Realisierung den unendlichen „Bewußtseinsproceß“³⁵² selbst, der niemals zum Abschluss kommen kann. Aus alldem folgt die „Einsicht, daß dieses [die vollkommene Realisierung des Absoluten im Bedingten] unmöglich ist, daß es nur das Unbedingtheitserlebnis ist, was gültig ist, nicht aber die biologisch-psychologische Form, die es annimmt.“³⁵³ Tillich sieht also davon ab, über den Sinn als einer transzendenten Sphäre unabhängig von seiner Realisierungsform im bewusstseinsintentionalen Akt der Sinngebung oder des Sinnvollzugs überhaupt positive Aussagen zu fällen. Diese können lediglich über Sinn als Erlebniskategorie getroffen werden und dem subjektiven Moment Rechnung tragen. Im Sinnakt ist also das Doppelte enthalten, einerseits stets auf einen absoluten Sinn bezogen zu sein, denn „[d]ie Unendlichkeit des Sinnes ist Sinnlosigkeit, wenn sie nicht bezogen ist auf einen absoluten Sinn“³⁵⁴. Andererseits kann innerhalb endlicher Kategorien dieser absolute Sinn nicht realisiert, sondern nur apriorisch vorausgesetzt werden. Dies geschieht, indem sich das Denken im Selbstvollzug und durch Realisierung seines
A.a.O., S. 313. Ebd. A.a.O., S. 314. A.a.O., S. 315. Ebd. EN, Bd. XII, S. 313.
1.2 Konzeption und Wesen der Religionsphilosophie
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in ihm selbst enthaltenen eigenen Widerspruchs vorstellig werdenden Realitätserlebnisses seines Fundiert-Seins im absoluten Sinn bewusst wird. Gleichzeitig fordert Tillich, dass es darüber hinaus, in seinem faktischen Dasein diesen absoluten Sinn nur intendieren, nie aber bestrebt sein darf, diesen gänzlich realisieren zu wollen oder anzunehmen, dies zu können. „[D]enn jeder irgendwie aufgestellte absolute Sinn müßte aufgefaßt werden durch relative Sinnformulierungen, würde selbst wieder unter die Frage nach dem Sinn treten, Einzelsinn werden.“³⁵⁵ Von Sinn kann also nur positiv als Realisierung und damit als Vollzug vom menschlichen Bewusstsein gesprochen werden, der auf einen absoluten Sinn ausgerichtet ist und diesen intendiert. Zum anderen wird in Tillichs RP-Vorlesung (1920) prononciert darauf hingewiesen, dass die Erscheinungsformen aktueller Religion als Qualität des religiösen Prinzips zu verstehen sind und damit als ein Bestandteil desselben.³⁵⁶ Insgesamt lässt sich also verdeutlichen, dass am inhaltlichen Systemausgang weder der eine (das Absolute), noch der andere Part (das Subjektive) steht. Es fallen auch nicht beide Momente in eins zusammen. Vielmehr steht am Anfang als Voraussetzung jedes religiösen Vollzugs, der sich in verschiedensten konkreten Ausprägungen und Formen äußert, die Beziehung zwischen Gott und Mensch im Glaubensverhältnis als einem reziproken Konstitutionsverhältnis. Damit bleibt auch bei dem die Sinntheorie favorisierenden Tillich das religiöse Prinzip das den gesamten Prozess Fundierende. Der Sinnbegriff wird im System der Wissenschaften und in der RP (1925) vollends verwirklicht. Was zuvor noch als das Unbedingte galt und in Tillichs philosophischer Promotion mit „Substanz des Bewusstseins“³⁵⁷ tituliert worden ist, wird nun in Form einer Doppelheit von Denken und Sein, den beiden Urprinzipien des Sinnes, expliziert. Philosophie wird von Tillich als „Sinnprinzipienlehre oder […] Lehre von den geistigen Funktionen und Kategorien“³⁵⁸ signifiziert. Dementsprechend sei „[d]as Erkenntnisziel der Geisteswissenschaften [überhaupt] […] der Sinnbegriff.“³⁵⁹ Den Sinnfunktionen komme dabei eine entscheidende Funktion in Bezug auf die Wirklichkeitskonstruktion des Individuums zu. Denn sie gelten für Tillich als „[…] Prinzipien, auf denen alle Sinngebung beruht.“³⁶⁰ Funktionen definiert Tillich als „diejenigen geistigen Aktrichtungen,
Ebd. EN, Bd. XII, S. 421. EN, Bd. IX, S. 235. GW, Bd. I, S. 231. A.a.O., S. 222. A.a.O, S. 232.
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durch die selbständige Sinngebiete abgegrenzt werden“³⁶¹. Damit ist die aus einer Begegnung des Menschen mit der sichtbaren Welt vom Subjekt vollzogene Abgrenzung bestimmter Wirklichkeitssphären gegenüber anderen gemeint, die im Bewusstsein unter einer Einheit subsumiert werden, wodurch Wirklichkeit konstituiert wird. Als Voraussetzung für diesen Vorgang des Wirklichkeitsvollzugs bzw. der Konstruktion einer „sinnvollen Wirklichkeit“³⁶² dient die Freiheit des Menschen. In Abgrenzung zum Idealismus möchte Tillich die Sinnfunktionen weder als „Sinngebung“ verstanden wissen, noch als „Sinnerfassung, wie es der Realismus will: Weder gibt der Geist den Dingen Gesetze, noch geben die Dinge dem Geiste Gesetze.“³⁶³ Die Wirklichkeit ist folglich weder ein menschliches Konstrukt und lediglich Projektion von inneren Anschauungen auf die Realität, noch ist der Mensch von seiner Umgebung determiniert, indem er lediglich am gegebenen Sinn teilhaben, diesen rezipieren kann. Vielmehr ist er selbst an der Wirklichkeitskonstitution beteiligt, aber so, dass er sich in einem dialektischen Prozess von Aufnahme und schöpferischer Produktion befindet. Damit ist gleichsam … […] das Verhältnis von Dingen und Sinnformen bestimmt als Sinnerfüllung. Der Begriff besagt, daß die Dinge in der Richtung auf die unbedingte Form stehen und daß diese Richtung ihre Erfüllung findet in den geistigen Schöpfungen. Nicht ideale Normen, die jenseits des Seins stehen, aber auch nicht eine dem Geist gegenüberstehende sinngeformte Wirklichkeit ist Träger des Sinnes. Der Sinn ist überhaupt nicht gegeben, weder real noch ideal, sondern er ist intendiert, und er kommt im Geiste zur Erfüllung. Jedes Wirkliche trägt die Intention auf Sinnerfüllung; denn jedes Wirkliche ist auf die unbedingte Form gerichtet.³⁶⁴
Die Sinnerfüllung kann sich für Tillich jedoch immer nur in Richtung auf die unbedingte Form vollziehen, niemals die Form des Bewusstseins sprengen bzw. zerstören. Sie wird auf ihren Sinn hin transzendiert, erkennen kann der Geist jedoch stets nur dasjenige Wirkliche, was innerhalb der Formzusammenhänge erscheint, geformt ist. Das Moment des Intendierens schützt also vor einer Verabsolutierung derjenigen Formen, durch die der Mensch die Sinnhaftigkeit der Welt aktualisiert. Indem Sinn in seinem Bezug auf die Wahrnehmung des Subjekts
Ebd. Ebd. A.a.O., S. 233. Ebd., Vgl. auch a.a.O., S. 222: „Die Akte der geisttragenden Gestalt sind sinngebende Akte. Das ist nicht so zu verstehen, als ob eine an sich sinnlose Wirklichkeit durch die Akte der geisttragenden Gestalt sinnvoll würde […]. Vielmehr sind die sinngebenden Akte sinnerfüllende Akte. Der dem Seienden in all seinen Formen innewohnende Sinn kommt in den geistigen Akten zu sich selbst, der Sinn der Wirklichkeit verwirklicht sich im Geistigen.“
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(im Unterschied auf eine Richtung auf reell Gegebenes) eine Erlebnisfunktion zukommt, kann mit U. Barth gesagt werden, dass sich „[r]eligiöses Bewußtsein […] in der Korrelation von Erleben und Deuten“ aufbaut. „Beide Bewußtseinsfunktionen bewegen sich als intentionale Akte im Medium Sinn.“³⁶⁵ Unter Sinnkategorien versteht Tillich „die Formen, durch die in den Sinngebieten Objekte konstituiert werden.“³⁶⁶ Durch sie wird „die Sinnwirklichkeit mit ihren Gegenständen begründet“³⁶⁷. Tillich grenzt also verschiedene Sinngebiete ab, innerhalb deren es verschiedene Erkenntniskategorien gibt, wie z. B. „die ästhetischen, metaphysischen, rechtlichen, sozialen, ethischen“³⁶⁸ etc. Sinnfunktionen und Sinnkategorien unterscheiden sich also dahingehend, dass erstere die Funktion des Bewusstseins beschreiben, wie Wirklichkeit konstruiert wird und letztere die Formen, also das Material liefern, womit dies geschieht (die Sinngegenstände). In das Wesen des Sinnes vorzudringen, ist laut Tillich nur mittels der metalogischen Methode möglich, die ein kritisches und ein intuitives Moment vereint. Sie allein sei in der Lage, nicht nur das „logische[…] Element“ der Sinnprinzipien zu markieren, sondern auch „den Sinn des Sinnes zu erfassen“, indem mittels einfühlenden Verstehens die Wirklichkeit durchdrungen wird.³⁶⁹ Das, was mittels der metalogischen Methode ergründet werden könne, sei nicht das Sinnprinzip selbst, wodurch das allem Wirklichen innewohnende Wesen erfasst werden würde, wie es Ziel der phänomenologischen Methode ist. Denn „Sinnprinzip und Sinngegenstand“ werden nicht als identisch erachtet, sondern voneinander unterschieden. Das Intuitive der Methode bedeutet jedoch keine unmittelbare Wesensschau. Erkenntnis des absoluten Sinnes ist bei Tillich nur bis zu einer gewissen Grenze möglich. Das in die kritische Methode integrierte intuitive Verstehen bedeutet bei ihm lediglich „das Spannungsverhältnis der [der Sinnform] immanenten Sinnelemente [zu] erschauen.“³⁷⁰ Dem Erschauen der Sinnelemente als einem intuitiven Verstehen haftet ein irrationales Moment an, welches Tillich in seine Methode integriert. Dieses verdeutlicht, dass das Unbedingte nicht nur Grund- sondern auch Abgrund des Sinnes für das Bewusstsein ist.Wenn das Denken sich selbst zu erfassen versucht, wird es mit der Faktizität bzw. Irrationalität seiner selbst konfrontiert. Das Denken, welches nach dem Anfang seiner selbst sucht, findet
Barth, U., Die sinntheoretischen Grundlagen des Religionsbegriffs, S. 122. GW, Bd. I, S. 232. A.a.O., S. 233. A.a.O., S. 234. A.a.O., S. 236. A.a.O., S. 238.
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diesen nicht, weil es sich selbst immer schon als „Denken“ voraussetzt. Diese Voraussetzungshaftigkeit des Denkens bezeichnet Tillich als Moment der Irrationalität: „Das Rationale wird gewahr, daß in ihm selbst als Voraussetzung seiner Aktualität ein Irrationales steckt, das ja nun unvermeidlicher Weise dem Rationalen als ein Anderes, Fremdes, Dunkles erscheint.“³⁷¹ Das Moment der Abgründigkeit des Denkens korrespondiert mit der Unmöglichkeit, die unbedingte Form im Denken zu realisieren. Sie kann immer nur Forderung bleiben, nicht aber verwirklicht werden. Daraus resultiert die Spannung zwischen Sinnform und Sinngehalt, deren vollkommene Synthese bei Tillich auch unter den Begriff der Theonomie fällt. Der auf Verwirklichung drängende Sinngehalt, der gleichsam die Norm für das Bewusstsein bildet, lässt sich immer nur innerhalb von Formzusammenhängen darstellen. Und doch ist die schöpferische Intention des Bewusstseins auf Realisierung gerichtet, wenn sie auch unerfüllt bleiben muss. „Die vollkommene Verwirklichung dieser Synthesis ist ideal.“³⁷² Insgesamt lässt sich festhalten, dass es Tillich mittels des Sinnbegriffs möglich ist, das subjektive Moment im religiösen Erleben und dessen Bezogenheit auf die im Briefwechsel als subjektiv-urständlich beschriebene Erlebniskategorie zu explizieren. Wahrheit generiert sich stets als Korrelation von Sinngebung (Denkkategorien) und Intention auf den Sinn schlechthin, der alle Sinnprodukte bzw. Formen übersteigt. Der Sinnbegriff fungiert gleichsam als Mittel, die Nicht-Gegenständlichkeit des im religiösen Akt Gemeinten darzustellen. Insofern lasse sich das Unbedingte nicht beweisen, sondern es könne nur „aufgewiesen werden als der alle Sinnerfüllungen fundierende Sinn.“³⁷³ Weiterhin hat die Analyse ergeben, dass zwischen dem Sinn als einer Vermittlungskategorie zwischen dem Menschen und der unbedingten Sphäre und dem Sinn schlechthin unterschieden werden muss. Letzterer korrespondiert mit den Bezeichnungen absoluter Sinn, unbedingtes Realitätserlebnis, Unbedingtes und Sinn des Seins. Durch die Bezogenheit des Bewusstseins auf diesen Sinn schlechthin wird verdeutlicht, dass sich dieses durchaus auf eine Realität bezieht, die zwar nicht sinnlich-materiell gegeben ist, aber als der unbedingte Gehalt der durch Kategorien konstituierten sinnlich erfahrbaren und denkbaren Wirklichkeit innewohnt bzw. dieser zugrunde liegt und vorausgeht. Ohne Sinngehalt wären alle Formen leer und sinnlos. Der Sinn hingegen ist als transzendentaler Begriff zu interpretieren, dem die Funktion zukommt, den religiösen Zweifel zu überwinden, indem durch ihn die Bezogenheit des Denkens auf Wahrheit für das Bewusstsein aktuell wird.
EN, Bd. XII, S. 395. GW, Bd. I, S. 363. GW, Bd. I, S. 253.
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Während Tillich in seiner frühen Systematischen Theologie (1913) noch davon ausgeht, dass das Absolute sich im Bedingten in Form von Selbstsetzungen des Denkens selbst verwirklicht und selbst bestimmt, da Wahrheit und Denken jederzeit in Einheit stehen und so auch der Selbstsetzungsprozess des Denkens aus dieser Einheit konstruiert ist, lässt sich im Briefwechsel zwischen Tillich und Hirsch ein Bruch statuieren, der von einer Sinnkrise zeugt. Die Realitätsbeziehung des Denkens bzw. das religiöse Prinzip wird dort noch vollkommen ausgeblendet, indem von einem Sinn schlechthin noch nicht die Rede ist, sondern Sinn mit Wert identifiziert wird, sodass ihm lediglich die Funktion zukommt, Gott als Objektivation für das Bewusstsein und damit als Sinnsetzung zu konstruieren. Dasjenige, worauf sich der Sinn dabei richtet und welches dem Denken als ein anderes erscheint, ist dabei jedoch das Bewusstsein selbst, welches das Fremde als „Existentialprinzip“ in sich selbst trägt. Denkbestimmungen und sowie das Unbedingte werden also nunmehr nicht aus der Einheit von Denken und Wahrheit betrachtet, sondern als Schöpfungen des Geistes und somit als Konstrukte. Bereits in Rechtfertigung und Zweifel und der Folgezeit der 20er Jahre nimmt Tillich jedoch seine frühe Richtung unter anderem Vorzeichen wieder auf: Im Fokus steht nun das sich selbst fragwürdig gewordene Subjekt, welches stets auf Sinn bezogen ist bzw. diesen als Vermittlungsinstanz benötigt, um in einem Prozess der Selbstreflektion sein Kontingenzbewusstsein zu bewältigen und dabei zu realisieren, dass dem eigenen Denken als Voraussetzung seiner selbst ein unbedingter Sinn zugrunde liegen muss. Es ist dort die Rede von einem Sinn schlechthin, welcher als Apriori die Sinnsphäre erst setzt und dieser folglich vorausgeht. Das Unbedingte wird hier nicht mehr als Sinnsetzung eines auf sich selbst gerichteten Bewusstseins gedeutet, sondern es wird angenommen, dass das Sinnbewusstsein des Menschen (jeder Einzelsinn) auf einem Setzungsakt des Sinnes schlechthin (dem Unbedingten) beruht. Das Absolute bleibt also das das Bewusstsein fundierende Apriori, allerdings geht die Bewegung nun nicht mehr vom Absoluten selbst aus, sondern der Mensch realisiert seine Bestimmung erst, indem er durch den Zweifel hindurchgeht und diesen letztlich mittels der Vermittlungsinstanz des Sinnes überwindet und so zu einem Bewusstsein seines Fundiert-Seins im Sinn schlechthin durchdringt. In der RP-Vorlesung (1920) identifiziert Tillich das Unbedingte bzw. den Sinn des Seins mit dem unbedingten Realitätserlebnis. Dabei muss die Theorie, das Unbedingte sei in seinem Erleben ausschließlich als immanente Kategorie oder als transzendentaler Begriff eines sich in einem Selbstvollzug auf seine Voraussetzungen hin reflektierenden Denkens zu deuten, abgelehnt werden. Dass dem nicht so ist, lässt sich wiederum daraus schließen, dass Tillich das im Denken sich vollziehende Realitätserlebnis als eine unbedingte Realitätsbeziehung versteht, die dem Denken zugrunde liege, indem sie an keine Denkbestimmung mehr gebunden sei. Aufgrund der Analogien zwischen der
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Wahrheitstheorie und dem Sinnkonzept ist die Neuerung, die der Sinnbegriff einbringt, nicht als eine Änderung der prinzipientheoretischen Voraussetzungen zu deuten, wohl aber als eine Präzision. Sachlich fügt Tillich seinem Konzept nichts hinzu, sein System wird lediglich aus einer anderen Perspektive betrachtet, indem es den subjektiven, wahrheitserkennenden Part fokussiert. Damit lässt sich die Behauptung von Danz widerlegen und festhalten, dass die Systemkonstruktion Tillichs von 1913 spätestens ab Rechtfertigung und Zweifel unter Einführung der neuen sinntheoretischen Ausrichtung fortgeführt wird und die Unterscheidung zwischen Religion als Aktualität (religiösem Vollzug) und Religion als Prinzip kein Novum der Sinntheorie der 20er Jahre darstellt, sondern vielmehr bereits 1913 systemprägend ist.
1.2.5 Die Verortung der Religionsphilosophie im System der Wissenschaften Aus dem Briefwechsel zwischen Tillich und Hirsch (1917) geht hervor, dass die RPVorlesung (1920) unter anderem als eine erste Bemühung Tillichs um ein System der Wissenschaften gelesen werden kann.³⁷⁴ Tatsächlich spiegelt sich in dieser Vorlesung der Versuch Tillichs wider, einen ersten eigenen Großentwurf eines systematisch-wissenschaftlichen Zusammenhangs zu konzipieren. Hinsichtlich der Religionsphilosophie zeichnet dieser sich in dem Bestreben ab, sie im Wissenschaftsgefüge zu verorten.³⁷⁵
Vgl. EN, Bd. VI, S. 99. Das Bestreben, das eigene philosophische System im Wissenschaftssystem zu verorten, war ein im 18. Jahrhundert übliches Vorhaben, welches vor allem aus dem Verlangen nach einer erkenntnistheoretischen Begründung der eigenen Wissenschaft beruhte, deren Selbstverständnis als eigenständiges Glied im Wissenschaftssystem dadurch gesichert wurde. So hat u. a. auch Fichtes Wissenschaftssystem einen Anstoß für Tillichs System der Wissenschaften geliefert. Auch Schelling war um eine Darstellung der Methode des akademischen Studiums bemüht: Vgl. Schelling, F., Studium Generale. Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, Stuttgart 1954. Schelling weist der Philosophie innerhalb des Wissenschaftssystems eine Vorrangstellung zu, indem er sie als die übergreifende Wissenschaft, nicht als Teildisziplin erachtet. Denn jeder Einzelwissenschaft, jeder „besonderen Bildung zu einem einzelnen Fach muß also die Erkenntnis des organischen Ganzen der Wissenschaft vorangehen.“ (S. 23) „Diese Anschauung ist überhaupt und im allgemeinen nur von der Wissenschaft aller Wissenschaften, der Philosophie […] zu erwarten, dessen besondere Wissenschaft zugleich die absolut allgemeine, dessen Streben also an sich schon auf die Totalität der Erkenntnis gerichtet sein muß.“ (S. 25) Später konstatiert er, dass derjenige, „wer sein besonderes Lehrfach nur als besonderes kennt, und nicht fähig ist, weder das Allgemeine in ihm zu erkennen, noch den Ausdruck einer universellen wissenschaftlichen Bildung in ihm niederzulegen, […] unwürdig [sei], Lehrer und Bewahrer der Wis-
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In der dritten Vorlesung unterzieht Tillich die zeitgenössische Einteilung der Wissenschaften einer kritischen Beurteilung. Gleich zu Beginn weist er auf die Problematik der Philosophie im Gegensatz zu den anderen Wissenschaften hin, dass sie „sich ihren Gegenstand selbst geben muß“³⁷⁶, während die anderen „ihren Gegenstand [bereits] vorfinden.“³⁷⁷ So können sich z. B. die Naturwissenschaften, exemplarisch die Biologie, ihre Grundbegriffe nicht selber geben, da diese bereits in ihrer Natur vorliegen und ihr so als gegeben erscheinen. Was erforscht werden soll, findet sich im Diesseits der Betrachtung wieder, nicht im Jenseits dessen. Im Gegensatz dazu muss die Philosophie zunächst um ihre Berechtigung kämpfen, gesondertes Zeugnis von ihrer Methodik ablegen und ihren Gegenstand definieren, der nicht als intersubjektiv gültig in der Natur der Dinge gegenwärtig ist oder durch Naturbetrachtung von ihnen abgelesen werden kann.³⁷⁸ Im System der Wissenschaften wird diese Problematik innerhalb der Erörterung der Geisteswissenschaften – denen Tillich die Philosophie als eine Teildisziplin zuordnet – erwähnt. Dort weist Tillich zusätzlich auf den produktiven Charakter der Geisteswissenschaft hin, die „immer an der Setzung des Objektes beteiligt [ist], das sie erkennen will. Sie ist nicht nur nachschaffend, wie die Historie, sondern sie ist mitschaffend, sie ist produktiv.“³⁷⁹ Der Grund für diese Produktivität liege in dem auf das Allgemeine³⁸⁰ gerichteten individuellen Bewusstseinsakts der individuellen geistigen Gestalt. Zu den beiden zentralen Aufgaben der Philosophie „die Stellung der Philosophie im System der Wissenschaften und […] in der Entwicklung des geistigen Lebens […]“³⁸¹ zu beschreiben, treten in der Religionsphilosophie noch die Frage „[…] nach dem Verhältnis der Religionsphilosophie zur Kulturphilosophie überhaupt […] und […] die Frage nach dem Verhältnis der Religionsphilosophie zur Theologie“³⁸² hinzu. Das System nimmt für Tillich eine wichtige Funktion ein. So erklärt er im System der Wissenschaften, dass Erkenntnis nur durch systematische Einordnung erlangt werden könne:
senschaften zu sein.“ (S. 42– 43) Es müsse also zwischen den Einzelwissenschaften und der Philosophie als absoluter Wissenschaft vermittelt werden. EN, Bd. XII, S. 348. Ebd. Z. B. muss die Philosophie zunächst definieren, was sie unter „Sein“ versteht, bevor sie über das „Sein“ sprechen kann. GW, Bd. I, S. 218. Vgl. den Exkurs in Kapitel 1.2.2 dieser Arbeit. EN, Bd. XII, S. 222. Ebd.
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1 Apriorischer Wahrheitsbegriff und Methode
Erkannt ist, was als notwendiges Glied in einen Zusammenhang eingeordnet ist. Das Einzelne in seiner Vereinzelung ist kein Gegenstand von Erkenntnis. Wo ein übergreifender Zusammenhang fehlt, da wird wohl angeschaut, aber nicht erkannt.³⁸³
Erst im System komme das Sein zum Sinn, indem es im Gegensatz zu einem reinen Gebilde „eine einmalige schöpferische Sinnerfassung“ sei. Ein Gebilde ist dadurch gekennzeichnet, dass es „[…] nicht von innen her geformt [ist], sondern von außen durch Definition“³⁸⁴. Ihm fehlt also das Seinshafte und es ist charakteristisch für die Mathematikwissenschaften. Im geisteswissenschaftlichen System hingegen stelle sich der Sinnzusammenhang der Dinge dar, indem das Subjekt immer „neue Objekte zur Sinnerfüllung empor[hebe]“.³⁸⁵ Der Sinnbegriff kann dabei korrespondierend zum Begriff des Geistes verstanden werden, indem er als Erfüllungskategorie im Sein fungiert. Das System der Geisteswissenschaften beanspruche stets normative Geltung, da der Geist dasjenige Wirklichkeitskorrelat darstelle, in welchem das Sein eine Forderung an sich selbst richte und sich damit über seine unmittelbare Naturgrundlage³⁸⁶ erhebe. Das Subjekt bestimmt sich selbst durch einen „Akt der geistigen Selbstsetzung.“³⁸⁷ Diese realisiert sich mittels Sinnzuschreibung und Wertbeimessung, da der Geist sich selbst nur im Gegenüber erfassen kann. Das System als eine „schöpferische Sinnerfassung“ ist also ein solches, in dem sich „der Sinnzusammenhang […] darstellt“.³⁸⁸ Diese Darstellung erhebt gleichsam normativen Anspruch, indem die Erkenntnisse innerhalb des Systems „unter die Einheit eines geltenden Prinzips“ gestellt werden.³⁸⁹ Darin bestehe gleichsam der schöpferische Charakter des Systems. Der Anspruch auf Normativität schöpferischer Sinnerfassung könne nur im Sinnzusammenhang, also innerhalb des Systems, erhoben werden. Folglich könne sich auch Wahrheit nur im System vollziehen und nur in ihm zur Er GW, Bd. I, S. 113; Vgl. EN, Bd. XIV, S. 111: „Eine Sache, die grundsätzlich in keinem Zusammenhang steht, ist grundsätzlich unerkennbar. – Das bedeutet nicht etwa, daß jede Erkenntnis sofort systematisiert wird, wohl aber, daß jede Erkenntnis die innere Tendenz zum System in sich hat. Jedes Fragment ist Fragment, nämlich das Bruchstück eines übergreifenden Zusammenhanges. Ob dieser hergestellt wird oder nicht, ist eine andere Sache.“ Wird dagegen „der innere Zusammenhang der verschiedenen Symbole nicht deutlich“ gemacht, so wird „dieses oder jenes für zufällig erscheinen […]. Dann aber ist es nicht begriffen.“ GW, Bd. I, S. 126. A.a.O., S. 223. Vgl. EN, Bd. IX, S. 293: In der unmittelbaren Naturgrundlage besteht laut Tillich noch keine Geistigkeit im Sinne von Persönlichkeit. Erst in dem Moment, in dem das Subjekt sich über seine Naturgrundlage erhebt, bildet es sich zur freien Persönlichkeit aus. GW, Bd. I, S. 226. A.a.O., S. 223. Ebd.
1.2 Konzeption und Wesen der Religionsphilosophie
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scheinung gebracht werden und korreliere dabei – anders als dies in den Naturwissenschaften der Fall ist – nicht notwendig mit der Wirklichkeit. Diese kann geradezu im Gegensatz zur Wahrheit stehen, als sie die Möglichkeit einschließt, die Wahrheit zu verfehlen und anstelle von Sinnhaftem Sinnwidriges zu produzieren.Während Wahrheit und Wirklichkeit in den Naturwissenschaften aufgrund des intuitiven Erkenntnisweges identisch seien, fallen sie in den Geisteswissenschaften, in welchen die Frage nach der Gültigkeit gestellt wird, auseinander. Tillich konstatiert in der 1920 in Berlin gehaltenen Vorlesung Enzyklopädie der Theologie und Religionswissenschaft ³⁹⁰: Die Gültigkeitsfrage heißt systematisch, weil die Wahrheit nur in systematischer Form wissenschaftlich existiert.Während die Wirklichkeit zufällig sein kann, ist in der Wahrheit jedes einzelne Glied notwendig durch Beziehung auf das Ganze der Wahrheit.³⁹¹
Tillichs Wahrheitsverständnis ist apriorisch konzipiert, indem es ein Idealbild imaginiert, welches als transzendente Einheit gedacht wird. Folglich partizipiert jedes einzelne Glied (oder auch jede Teilwahrheit) am „Ganze[n] der Wahrheit“³⁹². Die Vorstellung, dass es eine Wahrheit als Ganze gibt, wird dabei vorausgesetzt. Unter dieser Prämisse ist es logisch konsequent, die einzelnen Glieder in Beziehung auf das Ganze der Wahrheit zu denken, da sie sonst nicht an ihr partizipieren könnten und sich dann außerhalb der Wahrheit befänden. Eine Gesamtwahrheit ließe sich anders aber auch nicht vorstellen. Ein System, welches seine einzelnen Teile notwendig in Beziehung zum Ganzen der Wahrheit denkt, erlaubt nicht den Gedanken der Beliebigkeit der einzelnen Teile. Die Beziehung zur Gesamtwahrheit inkludiert die Vorstellung einer Bestimmung und Sinnhaftigkeit der einzelnen Glieder. Hingegen könne die Wirklichkeit dem Zufall unterlegen sein. Damit deutet Tillich die Kontingenz und Zweideutigkeit aller Wirklichkeit an, die nicht notwendig der Wahrheit entspricht. Die Frage nach Gültigem ist geradezu signifikant dafür, dass Wahrheit und Wirklichkeit nicht in eins fallen und sich nicht notwendig decken müssen. Denn in der Wahrheit leben würde die Gültigkeitsfrage bzw. Sinnfrage erübrigen, da sie bereits die Fülle bedeutet, in der kein Mangel herrscht. Die strenge Systemimmanenz, die dem Vollzug von Wahrheit bei Tillich zukommt, gründet also auf der Annahme, dass wahr nur sein kann, was in Beziehung zu einer Gesamtwahrheit steht, die den Ursprung der einzelnen
Tillich, P., Enzyklopädie der Theologie und Religionswissenschaft (Wintersemester 1920), in: Sturm, E. (Hrsg.), Paul Tillich. Berliner Vorlesungen I (1919 – 1920) (Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, Bd. XII), Berlin; New York 2001, S. 259. EN, Bd. XII, S. 288. Ebd.
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1 Apriorischer Wahrheitsbegriff und Methode
Wahrheitskonstituenten bildet und dadurch gleichzeitig das systembildende Prinzip ausmacht. Ein solches Prinzip bildet nach Tillich das Urverhältnis von Denken und Sein, auf welchem sich die Einteilung der Wissenschaftssystematik gründet und welches gleichzeitig deren Ausgangspunkt markiert.³⁹³ Dieses Urverhältnis wird an anderer Stelle von Tillich auch als die „Idee des Wissens selbst“³⁹⁴ bezeichnet, während die beiden systembildenden Prinzipien Denken und Sein als „Urelemente des Wissens“³⁹⁵ tituliert werden. Die Subsumierung des Systems unter ein geltendes Prinzip entspricht der idealistischen Tradition. Unter einem Prinzip versteht Tillich dabei sowohl den Ausgangspunkt als auch den dynamischen „Fortgang“ sowie die „Grundalge und Leitidee“ des Systems.³⁹⁶ Es ist dasjenige Moment, durch welches sich das gesamte System erst konstituiert und durch welches es seine innere Lebendigkeit erhält. Doch was genau meint Tillich, wenn er Denken und Sein als zwei Elemente eines Urprinzips aufführt und postuliert, dass das gesamte Wissenschaftssystem auf ihnen basiere? Wie sind die beiden Teilkonstituenten näher zu charakterisieren? Eine Erörterung dieser Frage bedeutet einen Meilenstein im Prozess der Ergründung von Tillichs systembildenden Wahrheitsverständnis. Denn Wahrheit – so die obigen Erörterungen – wird von ihm stets als eine sich im System erfüllende gedacht. Der Ausgangspunkt des Systems ist dabei entscheidend, weil die Erfüllung stets auf dem Ursprung gründet und von diesem insofern abhängt, als dieser auch den Fortgang und das eschatologische telos mitbestimmt. Am Beispiel der Religion des Paradox’ lässt sich illustrieren, dass das Ziel des Systems bereits vom Ursprung (der primitiven Kulturreligion) her gedacht, und auf diesen stets verwiesen und angewiesen ist. Wenn Tillich von Denken spricht, so grenzt sich dieser Begriff vom Nachdenken im herkömmlichen und psychologischen Sinne ab, da der Prozess des Nachdenkens über einen Sachverhalt bereits dem reinen Denken nachgeordnet ist, aus dem es entspringt, und damit „eine Erscheinungsweise des Denkens“ darstellt. Das reine Denken hingegen sei zunächst lediglich derjenige „Akt, der
Vgl. Heitsch, E. (Hrsg.), Parmenides. Die Fragmente, Zürich 1995 sowie Kroner, R., Von Kant bis Hegel, 2. Aufl. Zwei Bände in einem Band, Tübingen 1961: Dieses Urverhältnis von Denken und Sein war schon Gegenstand der antiken Griechen, wie z. B. des Parmenides und wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts u. a. von Schelling und Hegel erneut reflektiert und in Bezug auf die Frage nach einer durch logische Weltbetrachtung und im Erkennen bzw. in der Vernunft sich erschließenden Transzendenz erörtert. GW, Bd. I, S. 117. A.a.O., S. 118. A.a.O., S. 117.
1.2 Konzeption und Wesen der Religionsphilosophie
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auf das Sein gerichtet ist“, ohne dabei bereits mit inhaltlicher Bestimmung angereichert zu sein.³⁹⁷ Es markiert also zunächst nur die Richtung auf ein Objekt oder Subjekt, nicht aber schon das konkrete Denken derselben. Da alles Seiende auf Objekte oder anderes Sein gerichtet und nie von dieser Richtung losgelöst ist, wird mit dem „reinen“ Denken letztlich eine Grundbestimmung von Mensch-Sein überhaupt expliziert. „Reines“ Denken kann also als existentielle Wurzel interpretiert werden. Es bringt zum Ausdruck, dass der Mensch immer in Beziehung steht und nie ohne Richtung auf anderes ist. Erst mittels des Nachdenkens wird dieses andere als Gegenüber in seiner Eigentümlichkeit reflektiert und begriffen. Es impliziert also ein ganz bestimmtes Denken von etwas. Entsprechend des reinen Denkens ist auch mit Sein zunächst noch kein bestimmtes Sein (ein Objekt/Gegenstand oder ein anderes Subjekt/ein anderer Organismus) gemeint. Denn dieser Prozess der Objektivierung basiere bereits auf einer Vermischung von Denken und Sein, indem mittels des Denkens Gegenstände als geistige Objekte von anderen Objekten abgegrenzt werden, die durch die Anschauung gegeben sind. Sie stellen „Wissensinhalte“ dar und sind ein Produkt der Vereinigung von Denken und Sein.³⁹⁸ Ihnen wird ein bestimmtes Sein in Abgrenzung zum eigenen Selbst zugeschrieben. Die Assoziation des durch die Anschauung gegebenen Sinneseindruckes mit einem bestimmten Sein entspreche dabei jedoch nicht notwendig der Wirklichkeit dieses Seins. Vielmehr müsse entsprechend des Kantischen Denkens zwischen dem „Ding an sich“ und der Erscheinung unterschieden werden, die auf dem in der Anschauung gegebenen Vorstellungsinhalt beruht, durch welchen die Sinne affiziert worden sind. Das Sein kann folglich nicht adäquat erfasst werden, da es keine Gewissheit gibt, dass das vom Denken erfasste Sein in seiner Wahrnehmung auch dem Sein, wie es wirklich und entsprechend seiner Wahrheit ist, entspricht. Vielmehr können wir „[…] das Sein nicht anders definieren als das vom Denken gemeinte, das, worauf der Denkakt gerichtet ist.“³⁹⁹ Die absolute Bestimmung existentiellen Seins kann also nicht über die bloße Tatsache des schlichten Gerichtet-Seins auf anderes hinausgehen. Was das Sein ist, verschließt sich letztgültiger Kenntnis. Was vom ihm jedoch gewusst wird, ist sein In-Beziehung-Stehen zu anderem. Identität, Selbst- und Fremdbestimmung lassen sich so stets auf die Voraussetzung der Bezogenheit auf anderes zurückführen. Auf den beiden Urprinzipien basiert bei Tillich die gesamte Aufspaltung der Wissenschaften in ihre Teildisziplinen. Diese Grundeinteilung der Wissenschaften
Ebd. Ebd. Ebd.
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lässt sich durch sie in solche Wissenschaften aufteilen, „[…] in denen das Denken sich bestimmten läßt durch das Sein, und in solche, in denen das Denken sich selbst bestimmt“⁴⁰⁰. Erstere werden von Tillich als Seinswissenschaften, letztere als Denkwissenschaften bezeichnet. In der RP-Vorlesung folgt Tillich noch nicht der von ihm im System der Wissenschaften (1923) ausgearbeiteten Dreiteilung des Wissenschaftssystems in Seins-, Denk-, und Geisteswissenschaften. Stattdessen entspricht seine Darstellung der Denkwissenschaften in ihren Grundcharakteristiken hier den Geisteswissenschaften im System von 1923. Der hinter dieser Begriffsänderung stehende Gedanke ergibt sich aus der vom Denken vollzogenen Selbstbestimmung, welches sich als ein von sich selbst Unterschiedenes betrachten und so als ein Seiendes (neben anderem Seienden) erfassen kann. Dieses Nachdenken über sich selbst wird 1923 von Tillich im Unterschied zur Funktion des Denkens, andere Objekte und Subjekte zu bestimmen, auf das Prinzip der geistigen Freiheit zurückgeführt, sich von seiner Naturgrundlage zu lösen und über diese erheben zu können. Diese Freiheit des Geistes wird für Tillich zum Anlass, die Wissenschaft, in der das Moment dieser Selbstbestimmung des Denkens vorherrscht, mit dem Begriff Geisteswissenschaften zu überschreiben und die Bezeichnung Denkwissenschaften nur noch auf diejenige Funktion des Denkens anzuwenden, die auf andere Objekte und Subjekte gerichtet ist, nicht aber auf sich selbst als Denken. Insofern geht es der Denkwissenschaft nicht um Selbst-, sondern um Seinserfassung. Im Unterschied zum System der Wissenschaften (1923), welches klare Definitionen und Abgrenzungen der drei Grundwissenschaften (Denk-, Seins- und Geisteswissenschaften) und deren jeweilige Differenzierungen enthält, erscheint das Wissenschaftssystem in Tillichs RP-Vorlesung in seiner Zweisträngigkeit (die Wissenschaften werden nur in Seins- und Denkwissenschaften klassifiziert) weniger ausgereift. Es kann als Vorläufer seines Systems von 1923 gelesen werden. Auch die neue Einteilung der Wissenschaften im System von 1923 ergibt sich aus dem Verhältnis der beiden Urprinzipien, welche nun durch drei Verhältnisbestimmungen charakterisiert werden: 1. Das Sein ist im Denken gesetzt als das Umfaßte, Begriffene, als Denkbestimmung. 2. Das Sein ist vom Denken gesucht als das Fremde, Unfaßbare, dem Denken Widerstrebende. 3. Das Denken ist sich selbst gegenwärtig im Denkakt; es ist auf sich selbst gerichtet und macht sich selbst zu einem Seienden. Die erste Aussage kann lauten: Das Sein ist Denkbestimmung [der Satz des absoluten Denkens]. Die zweite Aussage kann lauten: Das Sein ist Widerspruch
EN, Bd. XII, S. 349.
1.2 Konzeption und Wesen der Religionsphilosophie
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des Denkens [der Satz des absoluten Seins]. Die dritte Aussage kann lauten: Das Denken ist selbst Sein [der Satz des Geistes].⁴⁰¹
Die erste Verhältnisbestimmung, in der das Sein als Denkbestimmung gesetzt ist, gilt als charakteristisch für die Denkwissenschaften, zu denen Tillich beispielsweise die Logik und Mathematik zählt. In ihnen wird das Sein in Denkbestimmungen aufgelöst, das Denken erfasst das Kategorisierbare der Wirklichkeit als den Teil von ihr, der unmittelbar mittels logisch-rationaler Vernunftschlüsse erkannt werden kann. Evidente Erkenntnis sei innerhalb der Denkwissenschaften nur deshalb möglich, da die Grenzen der Wirklichkeitserfassung vom Denken im Vorfeld abgesteckt werden und die erfassbare Wirklichkeit folglich Produkt eines Abstraktions- und Konstruktionsprozesses ist. Es werden nur bestimmte Formen aus der Wirklichkeit herausgegriffen und aufeinander bezogen. Die Erkenntnis ist dabei, unabhängig von dem unendlichen Inhalt und der Individualität allen Seins, nur auf die reine Form der Dinge gerichtet, also auf das, als was sie aktuell für das menschliche Bewusstsein erscheinen. Die Gegenstände ordnen sich dadurch ganz dem Denken unter. Den Denkwissenschaften kann es also nie darum gehen, die Gesamtwirklichkeit als solche zu erfassen. Erheben sie dennoch diesen Anspruch, so handelt es sich dabei um einen unzulässigen Fehlschluss. Der Mensch wird stets auf sein eigenes, immanentes Erkenntnisvermögen zurückgeworfen, was bedeutet, dass er von den Dingen nur wissen kann, was der Repräsentation der Dinge im Bewusstsein in Form ihrer Erscheinung entspricht.⁴⁰²
GW, Bd. I, S. 118 – 119. Vgl. Schelling, F., Studium Generale: Ein Bezug zu Schellings Darstellung der Mathematik in seinen Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums ist an dieser Stelle offensichtlich, da auch dieser der Mathematik (die Tillich ja zu den Denkwissenschaften zählt) nicht zugesteht, „über das Wesen oder An-sich der Natur und ihrer Gegenstände das Geringste zu verstehen.“(S. 68) Hingegen gehöre sie „insofern noch zur bloß abgebildeten Welt, als sie das Urwissen, die absolute Identität nur im Reflex und, […] in getrennter Erscheinung zeigt“ (S. 69). Das im Reflex Begriffene meinte bei Schelling das nur relativ begriffene, das endlich und bedingt ist, während das spekulative Urwissen das absolute, unbedingte Wissen meint. So ist die Mathematik eine solche Wissenschaft, die bedingtes Wissen zum Inhalt hat, welches sich von dem absoluten Wissen durch die Form unterscheidet: „Aber eben dies, daß es ein bestimmtes Wissen ist, macht es zu einem abhängigen, bedingten, stets veränderlichen; das Bestimmte an ihm ist, wodurch es ein mannigfaltiges und Verschiedenes ist, die F o r m. Das W e s e n des Wissens ist Eines, in allem das gleiche und kann eben deswegen auch nicht determiniert sein.“ (S. 63) Schelling geht also davon aus, dass es ein absolutes Urwissen gibt, welches von den von Tillich als Denkwissenschaften bezeichneten Disziplinen nur als bedingtes Wissen begriffen wird, insofern als in ihnen Form und Wesen getrennt sind. „Form getrennt von Wesen aber ist nicht reell, ist bloß schein; das besondere Wissen rein als solches demnach kein wahres Wissen.“ (ebd.) Im Gegensatz dazu sei die Philosophie „die schlechthin und in jeder Beziehung absolute Erkenntnisart […],
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1 Apriorischer Wahrheitsbegriff und Methode
Absolute Erkenntnis, Identität von Form und Wesen im Erkenntnisakt, die gleichzeitig eine Erkenntnis Gottes bedeuten würde (indem Gott als Träger unbedingten Wissens interpretiert werden würde) ist nach Tillich also nicht innerhalb endlicher und damit stets bedingter Sphären realisierbar. Die zweite Verhältnisbestimmung verweist auf die Seinswissenschaften, in welchen das Denken maßgeblich durch das Sein bestimmt wird. In der RP-Vorlesung differenziert Tillich diese in die „[…] vier großen Gebiete der anorganischen Natur, der biologisch-technischen Sphäre, des Psychischen und des kulturellen Geschehens […]“⁴⁰³. In allen vier Gebieten tritt dem Denken das „andere“ bzw. „Fremde“ entgegen, das sich nicht vollkommen vom Denken bestimmen, also in Denkkategorien auflösen lässt, sondern individuellen Gesetzten folgt. Die nicht in Denkbestimmungen auflösbare und sich der vollständigen Erfassbarkeit durch das Denken entziehende (verweigernde) Individualität anderen Seins wird von Tillich mithilfe der Abgrundmetaphorik veranschaulicht: Der Abgrund ist das der Vernunft Entzogene, sich vor ihr Verschließende. Im Gegensatz zum intuitiv-rationalen Erfassen⁴⁰⁴ der Gegenstände in den Denkwissenschaften, wird in den Seinswissenschaften die Erkenntnis der Gegenstände durch die Wahrnehmung geleitet. „An Stelle der Intuition tritt die Wahrnehmung. Während in der Intuition welche das Urwissen unmittelbar und an sich selbst zum Grund und Gegenstand“ hat, weshalb sie auch „die Wissenschaft alles Wissens“ sei. Schelling kann die Philosophie deshalb als eine solche Wissenschaft bestimmen, da er davon ausgeht, dass „von dem inneren Wesen des Absoluten […] in der erscheinenden Welt ein Ausfluß in der Vernunft und der Einbildungskraft“ (S. 83) stattfindet, insofern als der Mensch also – ganz nach pantheistischer Vorstellung – mittels „intellektuelle Anschauung“ (S. 70) zur Identität von Form und Wesen gelangen kann. EN, Bd. XII, S. 351. Vgl. a.a.O., S. 350: Tillich folgt der methodisch orientierten Einteilung Rickerts, der im Gegensatz zu einer Aufteilung der Wissenschaften in Natur- und Geisteswissenschaften eine Aufteilung in Gesetzes- und Geschichtswissenschaften vorschlägt (diese entspricht den Denk- und Seinswissenschaften). Maßgebend für diese neue Aufteilung ist die Stellung der Psychologie, die weder ganz den Geisteswissenschaften zugeordnet werden könne, da sie einer naturwissenschaftlichen Methode folgt, noch – als sie zum Gegenstand den menschlichen Geist hat – vollends der Naturwissenschaft untergliedert werden könne. Vgl. GW, Bd. I, S. 126: Die Erkenntnisstellung innerhalb der Denkwissenschaften kann als intuitiv-rational bezeichnet werden, da es in ihnen nichts „Empirisches, Seinshaftes, dem Denken Fremdes gibt“ und somit eine unmittelbare, also intuitive Erkenntnis zwischen erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt möglich ist. Die Mathematik etwa stellt Gesetze auf, deren Wirksamkeit bzw. Gültigkeit intuitiv erkannt werden kann. Dass 2 + 2 = 4 ist, erkennen wir intuitiv, denn hier ist eine Formel auf den Begriff gebracht, die eben vom Denken geformt wurde. Das Gesetz wurde vom Denken selbst erschaffen, weshalb es keinen Widerspruch zwischen der Formel und dem Denken geben kann, sondern die Richtigkeit dieses Satzes unmittelbar, d. h. intuitiv erschlossen werden kann. In den Seinswissenschaften tritt das Denken jedoch einem Sein gegenüber, dass nicht eins zu eins auf die Struktur des Denkens selbst übertragen werden kann. Hier tut sich ein Abgrund auf, denn Erkennendes Subjekt und erkanntes Objekt sind nicht identisch.
1.2 Konzeption und Wesen der Religionsphilosophie
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Subjekt und Objekt eins sind, sind sie in der Wahrnehmung zwei […]“⁴⁰⁵ und eine vollkommene Einheit kann nie erreicht werden, da es nicht möglich ist, alles Sein vom Denken aus in seiner Wahrheit zu erfassen. Dasjenige Sein, das erfasst wird, ist wiederum denk- und damit nachgeformt. „Es gibt kein Sein, dem die Denkform fehlte; denn schon das ‚es gibt’, schon die Kategorie der Existenz, die damit geeint wird, ist eine Denkform“⁴⁰⁶ und „jede Wahrnehmung ist ein Aufnehmen des Objekts in das Subjekt, aber ein Aufnehmen, das immer endlich und begrenzt bleibt, gegenüber der inneren Unendlichkeit jeder Seinsgestalt.“⁴⁰⁷ Da die rationale Wahrnehmung der Gegenstände auf Erfahrung mit ihnen beruht, können die Seinswissenschaften auch als Erfahrungswissenschaften bezeichnet werden. In der dritten Verhältnisbestimmung greift Tillich den parmenideischen Grundsatz von der Identität von Denken und Sein auf, welcher lautet: „Denn nicht ohne das Seiende, in welchem es ausgesprochen ist, wirst du das Denken [νοει᷉ν] finden.“⁴⁰⁸ Da das Denken also stets nur in seiner Existenzform (im Sein) betrachtet werden kann und niemals davon losgelöst, hat es selbst den Charakter der Existenz, des Seins. Das ermöglicht es ihm, sich im Erkenntnisakt auf dich selbst (als Seiendes) zu richten und dadurch seine denkerische Tätigkeit zu reflektieren.⁴⁰⁹ Gleichzeitig ist es ihm, indem es sich auf sich selbst richtet, möglich, sein Denken zu normieren und kritisch zu beleuchten. Diese Haltung wird von Tillich als „geisteswissenschaftlich“ betrachtet. In der RP-Vorlesung spiegelt sie sich in der Darstellung der Denkwissenschaften wider. Diese werden 1920 noch als den Seinswissenschaften übergeordnet, also als allumfassende Wissenschaft, bestimmt. Dies lässt sich aus dem Tillichschen Postulat ableiten, es gebe keinen Bereich des endlich Seienden, der nicht von Denkformungen gestaltet ist. Demnach sind auch die Seinswissenschaften, die zwar das Sein in seiner gesamten Eigentümlichkeit zu erfassen suchen, dennoch letztlich denkbestimmte Wissenschaften. Die Geisteswissenschaften werden von Tillich im System der Wissenschaften (1923) in drei aufeinander bezogene Teile ausdifferenziert, die als die Fachgebiete
A.a.O., S. 144. EN, Bd. XII, S. 354. GW, Bd. I, S. 144. Heitsch, E., Parmenides, S. 30 – 31. Vgl. auch: Schelling F., Studium Generale, S. 28: Die Idee der Identität von Denken und Sein wird auch von Schelling in seiner Schrift über die Methode des akademischen Studiums aufgegriffen, indem er als erste Voraussetzung der Wissenschaften die „wesentliche Einheit des unbedingt Idealen [der Idee] und des unbedingt Realen [der Wirklichkeit]“ annimmt und konstatiert, „daß die Idee in Ansehung seiner auch das Sein ist“, mit anderen Worten, das Denken als die Idee in Erkenntnis seiner selbst auch ein Sein ist.
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1 Apriorischer Wahrheitsbegriff und Methode
der „[…] Religionsphilosophie, Geistesgeschichte der Religion und systematische[n] Religionslehre oder Theologie“⁴¹⁰ in Erscheinung treten. Anders ausgedrückt handelt es sich bei der sich in einem Dreitakt vollziehenden geisteswissenschaftlichen Arbeit um die „[…] Dreiheit von Sinnprinzipienlehre, Sinnmateriallehre und Sinnsystemlehre […]“⁴¹¹, wie Tillich im System der Wissenschaften konstatiert. Diese Dreiheit entspricht den Fachrichtungen der Philosophie bzw. Religionsphilosophie, Religionsgeschichte und Theologie. Religionsphilosophie und Theologie stehen dabei in keinem klar abgegrenzten Verhältnis zueinander, denn bereits der Religionsphilosophie ist es nur in ihrer normativen Richtung möglich, den Sinnbezug des Menschen zu aktualisieren. Als Ziel und Vollendung der gesamten „[…] geisteswissenschaftlich[n] Arbeit […]“ wird von Tillich folglich auch „[…] die Einheit der drei [Teile] im normativen System“ erachtet.⁴¹² Daraus lässt sich schlussfolgern, dass das von Tillich so bezeichnete „normative System“ also als übergeordnet zu gelten hat. Auch die Religionsphilosophie bewegt sich schon in diesem normativen Rahmen. Dem Religiösen wird dabei eine alles überragende Funktion zugeschrieben, da in ihm die Wirklichkeit eines einzelnen Menschen einer Sinnhaftigkeit zugeführt wird, die ohne sie nicht gegeben wäre. Erst durch und in der religiösen Funktion kommt das Sein zum Sinn. Nur in der Religion werden dem Menschen sein wahres Sein und seine Bestimmung gewahr. Der Übergang von Kategorienlehre des Religiösen zur Normwissenschaft ist also fließend und kann nicht auf ein bestimmtes Fachgebiet beschränkt werden. Denn innerhalb der Kulturfunktionen und der Reflexivität des Denkens auf sich selbst und die dem Denken innewohnenden Kategorien, die nach Tillich substantiell vom Religiösen fundiert sind, erwächst gleichzeitig eine Forderung, die das Denken normiert. In der Religionsphilosophie von 1925 spricht Tillich bereits wie selbstverständlich von der Religionsphilosophie als normativer Geisteswissenschaft. Es sei ihre Aufgabe „[…] in schöpferischer, produktiver Synthesis fest[zustellen], was als Religion zu gelten hat.“⁴¹³ Dabei nutzt sie „[…] das Material, das ihr die Religionsgeschichte, die Religions-Psychologie und -Soziologie darbieten.“⁴¹⁴ Innerhalb der Religionsphilosophie oder auch der Sinnprinzipienlehre wird dabei der funktionelle Religionsbegriff entwickelt, der innerhalb der Geistesgeschichte der Religion mit Religionsbegriffen anderer Religionen verglichen wird bzw. als Wertmaßstab gilt, mittels dessen die nichtchristlichen Religionen bewertet werden. Die Theologie greift die Ergebnisse von
A.a.O., S. 301. GW, Bd. I, S. 224. Ebd. Ebd. Ebd.
1.2 Konzeption und Wesen der Religionsphilosophie
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Religionsphilosophie und Geistesgeschichte der Religion wieder auf, indem sie anhand des christlichen Symbolmaterials aufzeigt, dass der auf Basis der Religionsphilosophie entwickelte Religionsbegriff im Christentum in idealer bzw. vollkommener Form verwirklicht ist. Die systematische Trennung in sauber voneinander getrennte Wissenschaftsbereiche ist dabei – wie obige Erwägungen bereits illustriert haben – jedoch nur vordergründig: In Wirklichkeit ist bei Tillich die gesamte geisteswissenschaftliche Arbeit bereits von einem normativ ausgerichteten Prinzip geprägt.
1.2.6 Erkenntnistheoretische Voraussetzungen Die in dieser Arbeit schon mehrfach begegneten Termini Form und Gehalt stellen zentrale philosophische Grundbegriffe der Tillichschen Philosophie, Religionsphilosophie und Theologie dar. Sie dienen als Aufbauprinzipien und Urelemente vielseitiger und komplexer Gedankenkonstruktionen. Für die Problemexposition dieser Arbeit ist vor allem ihre Funktion im Hinblick auf den Wahrheits- bzw. Geltungs- und den Glaubensbegriff, das Idealkonstrukt eines Religionsbegriffs, die religionstypologische Konstruktion sowie die Dynamik der Religionsgeschichte, den Begriff des Dämonischen, den Aufbau der Wissenschaftssystematik sowie am Rande den Aufbau der Kulturtheologie relevant. Auf dem Verhältnis von Form und Gehalt basieren nicht nur Tillichs (philosophische) Überlegungen zum Wahrheitsgehalt von Religion an sich, sondern auch seine Gedanken zu einem Verhältnis der empirischen Religionen untereinander im Hinblick auf eine Letztbegründung des Christentums finden hier ihren Ausgang, da Tillich die in seiner Religionstypologie aufgenommenen Religionen gemäß der Ausprägung des in ihnen enthaltenen Form- oder Gehaltelements strukturiert. Auch Tillichs Auseinandersetzung mit der griechischen Philosophie, die in der Vorlesung Der religiöse Gehalt und die religionsgeschichtliche Bedeutung der griechischen Philosophie ⁴¹⁵ dargelegt wird, folgt der Methode, „[…] die Data abendländisch-antiken Denkens aus der Perspektive seiner kulturtheologischprogrammatischen Unterscheindung von Form und Gehalt zu betrachten.“⁴¹⁶ Ebenso zentral ist das Begriffspaar für die Konstitution der „allgemeinen Wesensbestimmung der Religion“⁴¹⁷ in der RP (1925). Da die Form-Gehalt-Thematik also zum einen bezüglich der Wesensbestimmung von Religion und zum anderen Tillich, P., Der religiöse Gehalt und die religionsgeschichtliche Bedeutung der griechischen Philosophie, S. 1. Dienstbeck, S., Kulturtheologie und hellenistische Philosophie, S. 252. Vgl. GW, Bd. I, S. 318 ff.
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im Ausgang von Tillichs Religionstypologie die Crux der Tillichschen Erörterungen bildet, wird darauf vornehmlich in den entsprechenden Kapiteln (Analyse des Religionsbegriffs, Religionstypologie) eingegangen werden. Dennoch soll dieses Kapitel bereits zu einem Vorverständnis verhelfen. Im Folgenden soll der Fokus auf die Bedeutung des Form-Gehalt-Verständnisses für den Wahrheits- bzw. Geltungswert von Religion gerichtet werden. Georg Neugebauer weist in seinem Buch Tillichs frühe Christologie darauf hin, dass bei Tillich die Termini Form und Gehalt bereits in dessen philosophischer Promotion von 1910 zum Thema Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien im Zuge der Erörterung des Religionsbegriffs angelegt seien. Während der Gehaltbegriff hier eine „substante[…], religiöse[…] Beziehung“⁴¹⁸ beschreibe, werde der Formbegriff „durch die drei Vernunftfunktionen zum Ausdruck gebracht, durch die der Gehalt in konkreten Formen aktualisiert wird.“⁴¹⁹ Dasjenige, was Tillich in seinen späteren kulturtheologischen Schriften als Form und Gehalt bezeichnet, sei hier also bereits präfiguriert.⁴²⁰,⁴²¹ Hinsichtlich des Wahrheits- bzw. Geltungsbegriffs finden sich sowohl im System der Wissenschaften (1923), als auch in der RP-Vorlesung sowie der RP (1925) grundlegende Erörterungen der Form-Gehalt-Thematik. Im Folgenden soll sich der Bedeutung des Formverständnisses zunächst über den von Tillich häufig verwendeten Begriff der unbedingten Form genähert werden. Im Anschluss wird in Form einer werkimmanenten Analyse zu rekonstruieren sein, wie Tillich die nicht immer konsequent und teils äquivok gebrauchten Termini Form und Gehalt versteht. Wenn Tillich im Kapitel Die Grenzen des Schöpferischen ⁴²² (System der Wissenschaften) mittels des Begriffspaars Form und Gehalt die Grenzen der Wirklichkeitserfahrung beschreibt, spricht er im Kontext dieser Grenzerfahrung von der sog. „unbedingte[n] Form“, die gleichsam auf „das Gültige“ bzw. „das Allgemeine“ rekurriere.⁴²³ Was ist jedoch unter „unbedingter Form“ im Zusammenhang mit dem „Allgemeinen“ und dem „Gültigen“ zu verstehen und in welcher Beziehung stehen diese? Um dies zu beantworten, bietet es sich an, zu ergründen,
Neugebauer, G., Tillichs frühe Christologie, S. 175. Ebd. Vgl. die Darstellung des Begriffspaars Form und Gehalt als „kategoriale Grundlegung“ von Tillichs Kulturtheologie in: Haigis, P., Im Horizont der Zeit, S. 61 f. u. 75 ff. Vgl. Neugebauer, G., Tillichs frühe Christologie, S. 175: Neugebauer verweist hier auf die Annahme, Tillich habe die Terminologie ‚Form/Gehaltʼ von seinem Philosophielehrer Fritz Medicus übernommen, die dieser in seiner Fichte-Deutung von 1905 verwendet habe. GW, Bd. I, S. 215 f. A.a.O., S. 216.
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welche Bedeutung Tillich dem Allgemeinen und dem Individuellen für die Wahrheitserfassung beimisst. Dadurch lässt sich im Anschluss eruieren, wie Tillich das Allgemeine und die unbedingte Form zusammendenkt.⁴²⁴ Im System der Wissenschaften konstatiert Tillich, dass sich Wahrheit nicht nur in Richtung auf das Allgemeine (im Ausgang vom Allgemeinen) verwirkliche, sondern auch dem Individuellen Wahrheit zukommen könne, insofern als sie „[…] eine Funktion [ist], die sich nur konkret verwirklicht und die sich in jeder Schöpfung richtig verwirklicht“⁴²⁵. Sowohl in theoretischen als auch praktischen Akten (die ja stets individuell sind) verwirklicht sich dabei laut Tillich Wahrheit. An dieser Stelle setzt er einen vom traditionellen aristotelisch-scholastischen Verständnis abweichenden Akzent, da der Wahrheitsanspruch dort ausschließlich dem „Allgemeinen“ (gedacht als dem allgemeingültigen, universalen Prinzip im Gegensatz zum Individuellen, Konkreten) vorbehalten war. Hier wird deutlich, dass Tillich in der Hegelschen Tradition steht. Es ist also festzuhalten, dass das Wahre und Gültige nach Tillich nicht nur im Allgemeinen zu finden sei, sondern auch im Individuellen. Weiterhin lehnt Tillich den Gebrauch von Bewertungskategorien wie richtig oder falsch in Bezug auf eine im Schöpfungsprozess eingenommene Position ab. Nicht durch sie generiere sich die Wahrheit einer Schöpfung, sondern ob etwas wahr ist oder nicht, erweise sich durch den dynamischen „Geistprozess, der Geschichte“⁴²⁶ selbst, in der Form, „daß eine neue Schöpfung sich gegen die alte setzt und die alte in sich aufnimmt.“⁴²⁷ Alles Willkürliche einer bestimmten Position wird dabei von Tillich als eine Art Abfallprodukt des Schöpferischen beschrieben, welches von selbst innerhalb des geschichtlichen Geistprozesses gerichtet werde. Tillichs Geschichtsverständnis ist also teleologisch bestimmt, indem er davon ausgeht, dass die Geschichte im schöpferischen Prozess zur Wahrheit ihrer selbst geführt wird. Folglich erweist sich eine individuelle Position oder Schöpfung des Geistes (individueller theoretischer oder praktischer Akt) nicht bereits in der Gegenwart als der Wahrheit adäquat, sondern alles Individuelle durchläuft während des Geschichtsprozesses einen Weg, der letztlich in der Wahrheit kulminiert. Folglich können negative Ausprägungen der Schöpfung, die als Sünde im Sinne von Abkehr von Gott oder Missachtung Gottes zu werten sind, in ihrer negativen Wirkung als nur vorläufig beurteilt werden. Der Wahrheit entsprechen sie insofern, als sich an ihnen die Verkehrung und Perversion wahren
Vgl. Exkurs zum Thema Das Allgemeine in Kapitel 1.2.2 dieser Arbeit. GW, Bd. I, S. 215. Ebd. Ebd.
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1 Apriorischer Wahrheitsbegriff und Methode
Lebens zeigt und der Glaube an und die Hoffnung auf eine Überwindung manifestiert. Tillich beschreibt zwei Grenzen des Schöpferischen: Die eine sei das Allgemeine als eine „prinzipielle Grenze“⁴²⁸, die andere liege hingegen im Empirischen, in der „Begrenztheit der individuellen Gestalt und ihrer schöpferischen Substanz“⁴²⁹ begründet. Wie aber ist die prinzipielle Grenze genauer zu bestimmen? Hinsichtlich der empirischen Grenze geht aus obiger Gegenüberstellung hervor, dass Tillich die „individuelle Gestalt“, die er parallel zu der ihr inhärenten „schöpferischen Substanz“ erwähnt, als begrenzt betrachtet, insofern als sie „nicht unendliche Sinnfolgen in sich verwirklichen [könne]“⁴³⁰ und somit „dem Gesetz der Substanzerschöpfung unterworfen“⁴³¹ sei. Der Mensch ist endlich, insofern besitzt er eine empirische Grenze, die der Tod markiert. Der Mensch kann Sinnfolgen also nur bis zu einem gewissen Grad verwirklichen. In Bezug auf das Allgemeine hält Tillich fest, dass der Geist (gemeint ist der göttliche Geist) – ebenso wie das Sein selber „unerschöpflich“ seien, weshalb es keine „individuelle Geistverwirklichung [gebe], in welcher der Geist ausgeschöpft wäre, es gibt keinen absoluten Standpunkt.“⁴³² Im menschlichen Sein kann sich also niemals die Wahrheit selbst – insofern als Wahrheit und göttlicher Geist als synonym erachtet werden – absolut verwirklichen, da der göttliche Geist unerschöpflich ist. Das bedeutet, er kann nicht zur Existenz kommen, sich nicht in einer endlichen Form vollends realisieren. Die Unmöglichkeit der vollkommenen Darstellung des göttlichen Geistes in einer endlichen Form markiert die „prinzipielle Grenze“ des Allgemeinen. Würde sich der Geist in einer einzelnen schöpferischen Handlung einer individuellen geisttragenden Gestalt erschöpfen, so würde dies einen absoluten Standpunkt bedeuten, den es jedoch niemals geben kann; das Ziel und der Sinn des Geistes wären damit erschöpft und folglich wären das Selbst, die Welt und Gott entzweit. Die Existenz Gottes würde diesen für den Menschen zerstören: Gott wäre um seine Göttlichkeit gebracht und der Mensch könnte sich ihm bemächtigen und dadurch Gottes Wesen depravieren. Dies hätte absolute Destruktion und Zerspaltung zur Folge, würde absolute Verwirklichung von Sünde bedeuten.⁴³³ Der geistige Akt sei jedoch aufgrund seiner prinzipiellen
A.a.O., S. 216. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. GW, Bd. I, S. 338: Dieser Zerstörungsprozess erscheint hier gleichbedeutend mit dem, was Tillich in seiner RP (1925) als Kennzeichen des Dämonischen beschreibt. Hier zeigt sich nun
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Unerschöpflichkeit indifferent gegenüber der Möglichkeit der Substanzerschöpfung. Diese könne nur im individuellen Selbst eintreten, die Wirklichkeit als solche inklusive dem Endlichen sei ihr jedoch nicht unterworfen: „Die Erschöpfbarkeit ist eine empirische, keine prinzipielle Grenze, sie ist faktisch, aber nicht intentional in geistigen Akten enthalten. Der geistige Akt selbst kennt nur eine Grenze, die unbedingte Form, das Gültige.“⁴³⁴ Diese „unbedingte Form“ wird also von Tillich als ein auf den geistigen Akt bezogener Begrenzungsfaktor charakterisiert. Man kann dies so verstehen, dass das Gültige vom individuellen Selbst stets intendiert, aber nicht zur Vollendung gebracht werden kann. In dem Kapitel Der Geist und die Geschichte (System der Wissenschaften) finden sich ergänzende Erörterungen der unbedingten Form, die auch hier mit dem Allgemeinen oder der unbedingten Forderung nach Sinnerfüllung gleichgesetzt wird. Tillich konstatiert, dass in jedem „geistigen Akt […] die Intention auf das Allgemeine wirksam“⁴³⁵ sei, diese jedoch „inhaltslos bleiben [müsste], suchte sie das Allgemeine als das Allgemeine – also unabhängig von seiner Verwirklichung im Besonderen – zu erfassen. Denn die unbedingte Form existiert nicht als erfaßbare Wirklichkeit.“⁴³⁶ Zum Wesen der geisttragenden Gestalt gehört laut Tillich vielmehr die Tatsache, dass „der geistige Akt […] sich auf das Allgemeine nur richten [kann], wenn er es anschaut in einer konkreten Norm, einer individuellen Verwirklichung des Allgemeinen“⁴³⁷ – was immer auch eine Begrenzung bedeutet und dem Individuum das Allgemeine daher stets als die oben beschriebene „prinzipielle Grenze“ erscheinen muss. Der schöpferische, geistige Akt ist also insofern durch das Allgemeine bzw. die unbedingte Form beschränkt, als diese nie vollkommen im Bedingten realisiert werden können. Unbedingt ist die Form deshalb, da sie zwar die Form, das im Bedingten Gegebene, also das faktische Sein, überschreitet, ob ihrer Unrealisierbarkeit und Unfassbarkeit jedoch nur als Negation des Bedingten erscheinen kann, nie jedoch positiv von ihr Zeugnis abgelegt werden kann.
der fließende Übergang der im Ausgang von Form und Gehalt relevanten Themenbereiche: Die dortigen (in der RP von 1925 enthaltenen) Erörterungen liefern jedoch weitere Erkenntnisse über den oben im Zusammenhang mit dem „Allgemeinen“ genannten Begriff der „unendlichen Form“. Gleichzeitig liefert diese Ergänzung einen weiteren Beitrag zu der Bedeutung von ‚Formʼ und ‚Gehaltʼ, insofern als ihr Verhältnis hier als Ausgangsbestimmung für „die Möglichkeit des Dämonischen“ (ebd.) angesehen wird. A.a.O, S. 216. A.a.O., S. 217. Ebd. Ebd.
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Die unbedingte Form stellt sich durch die vorangehenden Erörterungen als ein Begriff dar, der in sich paradox ist: einerseits wird mit ihm das Unbedingte bzw. Göttliche intendiert, andererseits weist das Formelement in ihm darauf hin, dass das Unbedingte im Bedingten jedoch nur innerhalb der Formzusammenhänge (in der stets eine Subjekt-Objekt-Spaltung vorherrsche und keine absolute Identität mit dem Göttlichen möglich sei) und damit nur partiell erkennbar sei. Die Vorstellung, dass das Allgemeine nur im Geistigen und damit durch das Individuelle aktuell angeschaut werden kann, ist dabei als notwendiges Kriterium der Offenbarungswirksamkeit göttlicher Gnade zu deuten. Denn nur durch eine individuelle Gestalt – und an dieser Stelle kündigt sich Tillichs Christologie an – kann Offenbarung empfangen werden; ohne ein Gegenüber verlöre sie ihr Ziel. Gleichzeitig liefert dieses Kriterium die Möglichkeit zur Perversion, indem dadurch das Dämonische erst ermöglicht wird. Die unbedingte Form als prinzipieller Begrenzungsfaktor des geistigen Aktes ist zwar intentional zu erstreben, stellt jedoch deshalb eine Grenze dar, da die absolute Verwirklichung im Besonderen nicht möglich ist. Durch Missachtung dieser Grenze verwirklichen sich dämonische Strukturen. Das Moment des „Unbedingten“ im Formverständnis weist dabei auf ein Transzendieren des Bedingten und dessen Bezogenheit auf ein Unbedingtes (Gott) hin, dessen Erkenntnis und Erfahrbarkeit durch intentionale Akte erstrebt wird, während das Moment der Form eben gerade die prinzipielle Unmöglichkeit signalisiert, dass sich die Gottesvorstellung in einem endlichen, individuell-konkreten Medium vollkommen erschöpft. Wenn dies nicht anerkannt wird, verwirklicht sich Dämonisches. Konkret bedeutet dies, dass es immer nur bei der Intention eines jeden schöpferischen Geistaktes auf die „unbedingte Forderung […], das Sein selbst zu erfassen“⁴³⁸, bleiben kann, das „Sein selbst“ jedoch nicht in einem individuellen Selbst⁴³⁹ erfüllt werden kann. Das Bewahren der Unbedingtheit der Form kann folglich als ein Merkmal wahrer (dem Unbedingten Rechnung tragender) Gotteserkenntnis verstanden werden. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass das Moment der Unbedingtheit im Begriff unbedingte Form die Intention auf das Absolute signalisiert. Das Formelement verdeutlicht jedoch, dass diese Unbedingtheit sich im Bedingten stets nur als Richtung oder Intention auf das Unbedingte darstellen kann. Die Unbedingtheitsdimension transzendiert die Form, übersteigt, aber zerbricht sie nicht. Die Form steht also stets für die Form der Bewusstheit und ist damit Signum der Endlichkeit des Seins, die nicht abgelegt werden kann. Die Form fungiert auch A.a.O., S. 227. So wäre, z. B. in Bezug auf Jesus Christus, zu folgern, dass das Sein selbst nicht in ihm als der geschichtlichen Person Jesus von Nazareth offenbar wird, sondern nur in seiner Funktion als dem Christus.
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als Mittel zur Wesens- und Wirklichkeitskonstruktion und erscheint bei Tillich auch als das Kriterium, welches für eine sinnvolle Konstitution des Welt- Selbstund Gottesbegriffs obligatorisch ist. Sie ist folglich ein Prinzip, welches nicht dinglich-materiell gedacht werden kann, insofern als sie erst die Bedingung der Möglichkeit synthetischer Wahrnehmung der Wirklichkeit liefert. Der Form ist folglich eine apriorische Funktion eigen. Im System der Wissenschaften konstatiert Tillich diesbezüglich, dass „die unbedingte Form […] nicht als erfaßbare Wirklichkeit“⁴⁴⁰ existiere. Zentral für Tillich ist es, über das Form-Gehalt-Verständnis die Erkenntnisfähigkeiten des Menschen zu umreißen und darzulegen, mittels welchen Kategorien (Formen) der Mensch bestimmte Sinngebiete abgrenzt, Sinnzuschreibungen vollzieht und so die erlebbare Wirklichkeit (Erscheinungswelt) konstituiert. Dazu dienen die Formen. Nun wird bei Tillich auch das Korrelat zur Form, der Gehalt, in den Erörterungen besonders hervorgehoben: Er bezeichnet das Sein als den „Gehalt, die Realität, de[n] unbedingte[n] Sinn, der jeder Einzelform Realität und Sinn gibt.“⁴⁴¹ Der Gehalt ist – als Korrelat zu den dem menschlichen Bewusstsein zugrundeliegenden Formen – das aus der Wirklichkeit (dem Sein selbst) stammende (deshalb apriorische, da nicht vom Menschen konstruierte) Prinzip, welches es mittels der Formen zu erfassen gilt, welches jedoch nie in seinem reinen Wesen, also unmittelbar, erfasst werden kann. Der Gehalt verleiht allen endlichen Formen erst ihren Sinn und ihre Tiefe und ist somit ein Indikator des Göttlichen. Die Suche nach dem reinen Gehalt, der außerhalb der Form gefunden wird, kann für Tillich allerdings – wie oben dargelegt – nur als dämonisch bewertet werden, weshalb seinem Religionsbegriff zwei Bedingungen bzw. Voraussetzungen zugrunde liegen: In jedem Gegenstand, Menschen und aktuellem Sein kann der göttliche Gehalt transparent werden und von jedem Menschen zu jeder Zeit und an jedem Ort ergriffen werden. Dies kann jedoch immer nur innerhalb der Formzusammenhänge geschehen und unter der Anerkennung der oben erörterten unbedingten Form. Die Begriffe Form und Gehalt können auch synonym zu den Begriffen Denken und Sein gelesen werden: Dadurch, dass das Denken „wesensmäßig darauf gerichtet [ist], das Sein zu erfassen“⁴⁴², dieses jedoch für das Denken „unendlich“ ist, „schafft das Denken endliche Formen in unendlicher Zahl, deren keine das Sein selbst erschöpft […].“⁴⁴³ Erheben sie dennoch diesen Anspruch, so wird das Sein zerstört, Dämonisches verwirklicht. Anders formuliert: Wenn Denken und
GW, Bd. I, S. 217. Ebd. Ebd. Ebd.
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Sein mit Form und Gehalt gleichgesetzt würden, so ergäbe sich für das Denken, dass es das existentielle Korrelat darstellte (analog zur Form), das Sein aber die Idee, das (Ab‐)Bild, die transzendente Wurzel des Denkens (den aus der Transzendenz stammenden Gehalt) bilden würde. Das Denken ist dann als zur Existenz gebrachtes und innerhalb der Existenz verwirklichtes Sein zu verstehen. Da das Sein selbst jedoch für das Denken stets unendlich bleibt, ist die Verwirklichung des Seins im Denken nicht so zu verstehen, dass sich die gesamte Fülle des Seins in einem einzigen Denkakt verwirklichte, sondern vielmehr so, dass das „ich denke“ bedeutet, an der unendlichen Fülle des Seins teilzuhaben, nur einen Teil vom Sein ins (menschliche) Bewusstsein bzw. in Bewusstheit zu überführen. Dabei kann es jedoch niemals Sinn und Ziel sein, das gesamte Sein im Denken zu erfassen zu suchen. Das Sein bleibt für das Denken unendlich. Und in genau dieser Paradoxie steht das endliche Bewusstsein. Es zeigt sich also, dass unter anderem die erkenntnistheoretischen Begriffe Denken und Sein, Form und Gehalt als Fundament des Religions- und Glaubensbegriffs fungieren und auch für das Wahrheitsverständnis nicht unerheblich sind. Sie kommen unter anderem dort zum Einsatz, wo in Form von intellektuellen Schlussfolgerungen (Formelement) als auch einer heilsperspektivischen Deutung aus dem einer Glaubenshaltung heraus (Gehaltelement) die Sprache ist. Der Seinsgehalt ist die aus dem Unendlichen oder Absoluten stammende Entität, die in das Bedingte hineinwirkt und die Religiosität des Menschen bewirkt. Er ist, wie das Sein selbst, unerschöpflich. Es stellt sich allerdings die Frage, inwiefern der Mensch mit Gott in einer Beziehung steht, die Teilhabe an der unbedingten Seinssphäre ermöglicht. An dieser Stelle muss die Bedeutung des Sinngehaltes näher illustriert werden: In welchem Zusammenhang stehen nun Sinnform und Sinngehalt? Der (religiöse) Gehalt ist bei Tillich immer ein Indikator der Bezogenheit des Menschen auf das Göttliche, der Geist- und somit Sinnerfülltheit. Der oben ausgeführten Deutung des Gehaltes als „substante[…], religiöse[…] Beziehung“ kann zugestimmt werden. U. Barth verdeutlicht die Bedeutung des Sinngehaltes dadurch, dass er ihn als eine Antwort auf die Frage nach dem „unbestimmte[n] Woraus oder Worin alles inhaltlich bestimmten Sinns“⁴⁴⁴ beschreibt. Insofern verweist der Gehalt stets auf eine jenseits des Immanenten liegende Sphäre. Haigis verweist darauf, dass Tillich in seinem Kulturvortrag von 1919 zwischen zwei Formen unterscheide: Es müssten „einmal ‚Formen’ für Dinge, ein anderes Mal ‚Formen’ für den Gehalt unterschieden werden.“⁴⁴⁵ So stellt sich z. B.
Barth, U., Religion und Sinn, S. 202. Haigis, P., Im Horizont der Zeit, S. 76.
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die Frage, ob es spezielle Formen (wie z. B. die der Kunst) gibt, die für die Aufnahme des religiösen Gehaltes besser geeignet wären als andere Formen. Auch Dienstbeck weist auf eine Doppelfunktion der Form hin: Sie kann einerseits „ganz auf sich selbst“ gerichtet sein, andererseits „unmittelbar auf das sie allererst ermöglichende Unbedingte“.⁴⁴⁶ Das erste wäre als kulturelles Verhältnis zu kennzeichnen, das zweite als das religiöse. Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Formverständnissen wird dann verständlich, wenn Tillich beschreibt, dass es im Wesentlichen nicht um die Form an sich gehe, sondern ein und dieselbe Form im Hinblick auf die Haltung, die ihr gegenüber vom Subjekt aus eingenommen wird. Einerseits könne sie als bloße Form im Sinne eines reinen Formalismus (der dem Gehaltserlebnis keine Rechnung trägt) erscheinen, andererseits könne dieselbe Form ebenfalls als Form, aber zusätzlich als Ausdruck des göttlichen Gehalts fungieren. So hält Tillich in der RP-Vorlesung fest: „[E]inmal [ist] die Form gewissermaßen das, worin der Gehalt seine Ruhe findet, hier die Form das, wo das Gehaltserlebnis hindurchbrechen muß, um zum reinen Gehalt selbst zu kommen.“⁴⁴⁷ Ästhetische Formen seien besser dazu geeignet, diese zweite Haltung zu affizieren, weshalb Tillich die „ästhetische Anschauung“ auch als den „gehaltbestimmte[n] theoretische[n] Akt“⁴⁴⁸ bezeichnet, wenngleich auch andere (z. B. rechtliche, naturwissenschaftliche) Formen von dieser Möglichkeit potentiell nicht ausgeschlossen seien. Die Differenzierung in zwei Formverständnisse zielt auf die Unterscheidung von autonomer Kulturfunktion und religiöser Funktion hin. Insofern als das Bewusstsein „auf die bedingten Formen und ihre Einheit“ gerichtet ist, ist die kulturelle Funktion wirksam. Ist jedoch das Bewusstsein gerichtet „auf das Unbedingte“, so ist es als religiös zu kennzeichnen.⁴⁴⁹ Weiter veranschaulicht wird diese Unterscheidung von Form und Gehalt in der theoretischen sowie der praktischen Reihe im System der Wissenschaften. Dort beschreibt Tillich den theoretischen, „sinnerfüllenden“ Akt zwar als einen auf die Formen der Dinge gerichtet[en]“⁴⁵⁰, gleichzeitig konstatiert er jedoch: Aber die Richtung auf die Formen der Dinge besagt nicht, daß nur die Formen gemeint sind. Gemeint ist die Wirklichkeit nach Form und Gehalt; erstrebt ist in jedem theoretischen Akt eine reale Beziehung zwischen Geistgestalt und Wirklichkeit. Diese Tatsache kommt zur Auswirkung in einer Doppelrichtung des theoretischen Aktes. Er kann sich auf die Formen richten, um in den Formen als solchen die Dinge zu erfassen; und er kann sich auf die
Dienstbeck, S., Kulturtheologie und hellenistische Philosophie, S. 255. EN, Bd. XII, S. 419. GW, Bd. I, S. 248. A.a.O., S. 320. A.a.O., S. 246.
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Formen richten, um durch sie hindurch den Gehalt der Dinge zu erfassen. Der theoretische Akt kann formbestimmt sein, und er kann gehaltbestimmt sein.⁴⁵¹
Der dialektische Charakter von Form und Gehalt kommt am deutlichsten durch die Vorstellung zum Ausdruck, dass die Wissenschaft stets „auf die Formen der Dinge als Formen gerichtet ist“⁴⁵², während „die ästhetische Anschauung den Gehalt der Dinge durch die Formen hindurch zu erfassen“⁴⁵³ suche. Während die Wissenschaft immer formal ist, ohne formalistisch werden zu müssen, ist die Kunst immer gehaltlich, ohne doch die Form zerstören zu dürfen. Denn die geisttragende Gestalt kann den Gehalt des Wirklichen nur durch die Form hindurch erfassen.⁴⁵⁴
Dialektisch sind Form und Gehalt deshalb, da die Form nicht ohne den Gehalt, der Gehalt nicht ohne die Form gedacht werden kann. Tillich möchte sie vielmehr in einer wechselseitigen Bezogenheit aufeinander verstanden wissen: die Wissenschaft, der es beispielsweise um die formale Erfassbarkeit der Dinge mittels Abstraktion geht, indem zum Beispiel physikalische Gesetzmäßigkeiten in Formeln gebracht werden, ist stets darum bemüht, die Form der Dinge zu wahren. Sie muss dies sogar sein, da das Sein dem Denken sonst als ungebändigt und willkürlich gegenübertreten würde. Für die wissenschaftliche Arbeit muss die Realität unter Ausblendung des Irrationalen auf das rein Logisch-Rationale beschränkt werden. Und dennoch muss die Wissenschaft deshalb nicht formalistisch werden, in dem Sinne, dass sie davon ausgeht, die Wirklichkeit setzte sich n u r aus logisch-rationalen Elementen zusammen und es gebe keinen intuitiven, gehaltbetonten Zugang zur Wirklichkeit. Die Formen werden anerkannt als Formen, jedoch in dem Bewusstsein, dass es sich dabei um einen eingeschränkten Blickwinkel, eine Abstraktion, handelt. In der Kunst – und wenn Tillich von Kunst spricht, bezieht er sich meist auf die expressionistische – wird hingegen die Wirklichkeit auf Basis ihres Gehaltes gedeutet: es geht nicht darum, in Begriffen darzustellen, was das Wirkliche ist, sondern das intuitive Wahrnehmen des Wirklichen steht im Vordergrund. Und doch kann der Sinngehalt der Wirklichkeit niemals unter Ausschluss des Denkens (und somit des Formelements) erfasst werden. In der RPVorlesung beschreibt Tillich diesen Sachverhalt sehr anschaulich: „Es kann kein absolutes Seinserlebnis geben, weil eben schon das Erleben eine Form voraussetzt. Es könnte nichts erlebt werden ohne Bewußtheit. Aber es kann der reine
Ebd. A.a.O., S. 248. Ebd. A.a.O., S. 249.
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Gehalt nicht erlebt werden in der Form der Bewußtheit.“⁴⁵⁵ Also kann auch über künstlerisch-ästhetische Darstellungen nicht zum reinen Gehalt vorgedrungen werden.⁴⁵⁶ Durch die vorangehende Darstellung ist die Bedeutung der Form für den Gehalt veranschaulicht worden. Welche Bedeutung hat jedoch der Gehalt für die Form? Das reziproke Verhältnis von Form und Gehalt lässt sich so darstellen, dass der Sinngehalt – so Tillich in der RP (1925) – den Sinngrund für jegliche Formen⁴⁵⁷ liefere, während die Form, indem sie diesem Sinngrund Ausdruck zu verleihen sucht, als Forderung und gleichzeitig (innerhalb der Existenz, d. h. Endlichkeit) als einzig angemessene Erfüllungskategorie des Sinngehaltes fungiert. Der Sinngehalt ist folglich das der Form Zugrundeliegende. Auch Dienstbeck hält fest: „Gehalt ist gerade das, was nicht mehr eingeholt werden kann in die begriffliche Gestalt der Form, sondern ihr vorausgeht, sie ermöglicht und sich […] in ihr äußert.“⁴⁵⁸ Tillich deutet den Gehalt auch als „das Lebensgefühl, die letzte innere Stellung zur Wirklichkeit, das Erlebnis des unbedingt Wirklichen.“⁴⁵⁹ Gleichzeitig identifiziert er ihn auch mit dem Heiligen, welches für ihn „nicht eine besondere Sphäre markiert, sondern in aller Kultur enthalten […]“ sei und folglich „[…] das unbedingt Reale in aller Kultur (und Natur) […]“ darstelle.⁴⁶⁰ Dienstbeck macht zusätzlich darauf aufmerksam, dass der Gehalt kein „rein subjektives Moment“⁴⁶¹ bedeute, welches lediglich als „psychologisch“⁴⁶² zu deuten sei. Vielmehr werde durch ihn gerade eine Beziehung zur unbedingten Sphäre hergestellt. Für Tillichs religionsphilosophische Konstruktion der Religionsgeschichte sind die Begriffe Form und Gehalt leitende Strukturierungselemente, denn die Konstruktion wird ausgehend von dem Form-Gehalt-Verhältnis innerhalb der einzelnen in der Typologie verorteten Religionen (z. B. ethisch-soziale vs. logischästhetische Religionen) strukturiert. Somit basiert auch die Entwicklung von Tillichs Idealvorstellung einer Religion auf dem Verhältnis von Form und Gehalt, welches in der „Religion des Paradox‘“ (welche christliche Vorstellungen vereinigt) in einem – Tillichs Ansicht nach – vollkommenen Verhältnis erscheint. Gleichzeitig verrät die Ausprägung des Gehalt- oder Formelements in den ein-
EN, Bd. XII, S. 408. Vgl. a.a.O., S. 405 ff. Diese Erörterungen führen Tillich zu dem Begriff der Ekstase, welcher in der 11. Stunde der RP-Vorlesung ausgeführt wird. GW, Bd. I, S. 319. Dienstbeck, S., Kulturtheologie und hellenistische Philosophie, S. 255. EN, Bd. XIII, S. 9. A.a.O., S. 8. Dienstbeck, S., Kulturtheologie und hellenistische Philosophie, S. 256. EN, Bd. XIII, S. 7.
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1 Apriorischer Wahrheitsbegriff und Methode
zelnen Religionen etwas über die Art und Weise, wie Tillich diese Religionen im Hinblick auf ihren Wahrheitsgehalt bewertet. Form und Gehalt werden hier also zum Maßstab erhoben. Um nicht vorzugreifen, wird auf vertiefte Ausführungen dieser Thematik jedoch erst in Kapitel 1.4 dieser Arbeit zurückzukommen sein.
1.3 Methodenreflexion und Religionsbegriff Tillichs 1.3.1 Tillichs Kritik an zeitgenössischen Methoden Im Folgenden soll auf Grundlage der RP-Vorlesung (1920), dem System der Wissenschaften (1923) sowie der RP (1925) die Tillichsche Methode zur Entfaltung des Religionsbegriffs erörtert werden. In der Vorlesung wird diese von Tillich noch als kritisch-intuitiv bezeichnet, während sie drei Jahre später im System der Wissenschaften als metalogische Methode exponiert wird. Diese Bezeichnung behält er auch im Systementwurf von 1925 bei. Die Methodenreflexion nimmt zusammen mit der Explikation des Begriffs und des Wesens der Religionsphilosophie in der Berliner Vorlesung einen hohen Stellenwert ein, weshalb ihr mehrere Stunden (5.– 12. Stunde) gewidmet werden. Die methodischen Erörterungen zielen auf eine angemessene Explikation des Religionsbegriffs. Sie schließen einerseits an die kritische Herangehensweise Kants an, berücksichtigen jedoch andererseits auch das intuitive Moment, welches die kritische Methode entbehrt.⁴⁶³ Hirsch und U. Barth würdigen die Zusammenführung verschiedenster philosophischer Richtungen in Tillichs Methodenschau, die ein umfassendes Spektrum an Ansätzen zur Begründung einer Definition von Religion im Hinblick auf die Frage bietet, welcher methodische Zugang dem Phänomen Religion vor dem Hintergrund einer adäquaten Erfassung von Wahrheit entspricht. Nach Hirsch – so dieser in seiner Rezension der RP (1925) – sei es „ein an sich großartiger Versuch, Schelling und Hegel, den Marburgischen Neukantianismus und die Phänomenologie in einer neuen tieferen Schau [methodisch] zu verbinden“⁴⁶⁴. Zusätzlich zu der von Hirsch ausgesprochenen Würdigung, welche den Fokus auf den phänomenologischen Einfluss Husserls, den sprachphilosophischen Einfluss Freges sowie den durch die Vertreter Cohen und Natorp repräsentierten Marburgischen Neukantianismus legt, verweist U. Barth darüber hinaus auf Referenzgrößen aus dem Südwestdeutschen Neukantianismus wie Rickert und Lask, die von nicht geringerem
Was unter dem intuitiven Moment zu verstehen ist, wird im Folgenden noch erläutert werden. Hirsch, E., Tillich, Religionsphilosophie, Sp. 98.
1.3 Methodenreflexion und Religionsbegriff Tillichs
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Einfluss auf den jungen Tillich waren.⁴⁶⁵ Dieselben Referenzgrößen werden von Tillich auch schon 1920 in der RP-Vorlesung diskutiert. Darüber hinaus finden sowohl die von Tillich dem sog. „Irrationalismus“ zugeordneten Philosophen Jakob Böhme, Arthur Schopenhauer, Friedrich Wilhelm Nietzsche und HenriLouis Bergson Erwähnung als auch werden die Deutung des Religiösen als Gefühl im Anschluss an Schleiermacher sowie die dem Tillichschen Ansatz (so seine Selbstaussage) am nächsten stehenden Religionsphilosophen Otto und Simmel in die Erörterungen integriert. Tillich folgt in der RP-Vorlesung einem systematischen Aufbau, indem er zunächst „die logische Kritik der Methoden, dann die sachliche Kritik der Resultate der Methoden“⁴⁶⁶ (die Religionsbegriffe) behandelt. Er trennt folglich die methodische Erörterung von der Kritik der Religionsbegriffe. An dieser Trennung, die lediglich formaler, nicht aber inhaltlicher Art ist, wird sich im Folgenden nicht angelehnt werden. Das heißt, die Analyse der Methode Tillichs inkludiert gleichzeitig auch eine Darstellung des Religionsbegriffs. Da bei Tillich Methode und zu erfassender Gegenstand aufs Engste verknüpft sind, ja, die Wahrheit des Gegenstandes geradezu erst innerhalb der methodischen Erfassung generiert wird und folglich auch eine adäquate Erfassung des Gegenstandes von der Methode abhängt, ist der Methodenreflexion immer schon ein Religionsbegriff inhärent bzw. steht mit diesem in einem lebendigen Korrelationsverhältnis. Tillichs Methodenkritik stellt eine kritische Würdigung dar, die darauf zielt, bewährte Standpunkte zu reflektieren und hinsichtlich ihrer Eignung für den eigenen Religionsbegriff zu prüfen. Ziel dabei ist es, zu zeigen, dass die Methode aus einer „intuitiven Einheit mit dem Gegenstand selbst herausgeboren ist.“ Es soll der Nachweis erbracht werden, „[…] daß allein diese Methode den geistigen Begriffen, insonderheit dem Religionsbegriff adäquat […]“ ist.⁴⁶⁷ Obwohl Tillich um eine positive Darstellung der Methoden bemüht ist, sind es doch nie die gesamten Methoden, die er im Hinblick auf eine Fassung des Wesens von Religion würdigt, sondern lediglich einige der ihnen inhärenten Aspekte (z. B. die Notwendigkeit, Religion als Allgemeinbegriff zu fassen, die Eigenart des menschlichen Bewusstseins zum Transzendieren sowie die biologisch-psychologische Einbettung der religiösen Funktion). „Ein Eigenwert zur Erkenntnis des Wesens der Religion kommt diesen Methoden nicht zu.“⁴⁶⁸ Bei den methodischen Erörterungen Tillichs handelt es sich um eine stark schematisierende Darstellung, die den Eindruck erweckt, als existierten die von ihm aufgeführten Methoden als festste
Vgl. Barth, U., Die sinntheoretischen Grundlagen des Religionsbegriffs, S. 96. EN, Bd. XII, S. 368. A.a.O., S. 372. A.a.O., S. 378.
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hende Definitionen, mit denen fachübergreifend gearbeitet wird. Dies ist jedoch nicht der Fall: Alle Methoden sind individuellen Zuschreibungen Tillichs geschuldet. Sie subsumieren einzelne methodische Richtungen der zeitgenössischen religionsphilosophischen Darstellungen unter einen Einheitsbegriff. Wenn Tillich zum Beispiel von der spekulativen Methode spricht und diese dem Hegelschen System zuschreibt, so handelt es sich dabei oft um starke Reduktionen, die dem Hegelschen Gesamtwerk nicht gerecht werden können. Unter dem Abschnitt „Wesen der Religion“⁴⁶⁹, den er auch mit „Religion als Princip“⁴⁷⁰ betitelt, führt er im ersten Teil („Die Religion als Funktion“⁴⁷¹) seine Methodenkritik durch. Hierbei ist das Augenmerk darauf zu richten, dass Tillich unter Religion als Prinzip und Religion als Verwirklichungskategorie⁴⁷² menschlichen Handelns und Denkens unterscheidet, sein Religionsbegriff folglich eine Doppelstruktur aufweist. Da Tillich den Begriff des religiösen Prinzips in seiner RP-Vorlesung nur peripher und mit der vagen Definition einer jeden Bewusstseinsakt als religiös qualifizierenden Bestimmung behandelt, lohnt sich ein Vergleich mit der Tillichschen Interpretation des religiösen Prinzips in seiner philosophischen Promotion als auch der 1913 veröffentlichten Systematischen Theologie: Bereits zuvor sind das religiöse Prinzip in seinen drei Momenten (abstrakt, konkret, absolut) sowie die Bewegung der Rückkehr des Relativen auf dem Boden der Reflexion zum Absoluten dargestellt worden. Im Folgenden soll jedoch die das religiöse Prinzip begründende tautologische Verhältnisbestimmung von Wahrheit und Wahrheitserkenntnis näher betrachtet werden. Dieses Verhältnis bestimmt auch die von Tillich gewählte Methode, mittels der die religiöse Wahrheit erschlossen werden soll und die auf der Prämisse beruht, dass Wahrheit und Wahrheitserkenntnis stets zusammenfallen. Die das religiöse Prinzip ausmachende religiöse Qualität eines jeden Bewusstseinsaktes, die Tillich in seiner philosophischen Promotion als „die reine Substanz des menschlichen Bewusstseins“⁴⁷³ charakterisiert, ist zuvor als das „natura sua Gott Setzende“⁴⁷⁴ bezeichnet worden. Diesem Verhältnis⁴⁷⁵ zwischen
A.a.O., S. 372. Ebd. Ebd. Unter Verwirklichungskategorie verstehe ich im Sinne Tillichs alle religiösen Akte (theoretische wie praktische), die vom Menschen vollzogen werden und durch welche die Religion realisiert wird. EN, Bd. IX, S. 235. Ebd.
1.3 Methodenreflexion und Religionsbegriff Tillichs
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Gott und Mensch wiederum, welches Tillich stets als ein paradoxes beschreibt, liegen die Urprinzipien Denken und Sein, die wiederum im Wahrheitsbegriff – und somit im Absoluten selbst – münden, zugrunde. Denn das Gott setzende Bewusstsein kann als das wahrheitserkennende Bewusstsein bezeichnet werden, Gott selbst als die zu erkennende Wahrheit. Die Denkfigur, die das Gott setzende Bewusstsein illustriert, beschreibt einen regressus ad finitum, welcher in dem apologetischen Teil von Tillichs ST (1913) mit dem tautologischen Satz beschrieben wird: „Prinzip der Wahrheit ist die Wahrheit selbst.“⁴⁷⁶ Es zeigt sich hier, dass der junge Tillich mit dem Vorhaben, sein System auf einem Prinzip – in diesem Fall dem Wahrheitsprinzip – gründen zu wollen, der idealistischen Methode noch sehr nahe steht, der es auch daran gelegen ist, ihr System prinzipientheoretisch herzuleiten und auf einen prinzipiellen Anfang zurückzuführen, welcher selbst wiederum nicht von einem anderen Grundsatz abgeleitet werden kann und demnach auf keinen Voraussetzungen bzw. Prämissen beruht.⁴⁷⁷ Als tautologisch erweist sich dieser Satz deshalb, da das Prinzip der Wahrheit, welches Tillich als „Anfang und tragende[n] Grund […] der Wahrheitserkenntnis“⁴⁷⁸ beschreibt, „der Wahrheitsgedanke selbst“⁴⁷⁹ sei. Theorien, die einen anderen Ursprung als den des Wahrheitsgedankens selbst behaupten, müssen die Wahrheit von etwas anderem ableiten. Dieser Weg sei jedoch nicht gangbar, da z. B. nicht von bestimmten Begriffen (wie z. B. Materie, Atom, Kraft) die Wahrheit abgeleitet werden könne, ohne einen bestimmten Wahrheitsgedanken bereits vorauszusetzen. Zudem müsse das Prinzip der Wahrheit dann aus etwas anderem hervorgehen als aus der Wahrheit selbst, was nicht möglich sei. Tillich führt weiter aus, dass, um diese Tautologie zu umgehen, der oben zitierte Satz konkretisiert lauten müsste: „Prinzip der Wahrheitserkenntnis ist der Begriff der Wahrheit“⁴⁸⁰. Dieser Satz deutet auf eine prinzipielle Unterscheidung von Begriff der Wahrheit und Wahr-
Es ist fraglich, ob es sich dabei lediglich um ein Selbstverhältnis des menschlichen Bewusstseins handelt, oder ob ein reales Verhältnis zwischen Gott und Mensch gemeint ist. EN, Bd. IX, S. 278. Vgl. Seidl, H., Johann Gottlieb Fichte, S. 60: Seidl stellt dar, dass das idealistische System nach Fichte auf solch einem Grundsatz fußt: „Es muß ein schlechthin absoluter Grundsatz gefunden werden, auf dem sich das System aufbauen läßt. Als erster Grundsatz muß dieser voraussetzungslos sein, weil das Aufstellen von Voraussetzungen diesen als ersten Grundsatz aufheben würde. Dem schlechthin Unbedingten kann keine Bedingung vorausgesetzt werden. Der erste Grundsatz kann deshalb auch nicht bewiesen werden, denn ein Beweis setzt Prämissen voraus. Gleichzeig muß der erste Grundsatz so gewiss sein, daß jeder Zweifel ausgeschlossen ist. Woran sich aber nicht zweifeln läßt, ist meine Selbstgewißheit, das ‚ich bin‘.“ EN, Bd. IX, S. 235. A.a.O., S. 278. A.a.O., S. 279.
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1 Apriorischer Wahrheitsbegriff und Methode
heitserkenntnis hin, sodass man zunächst davon ausgehen könnte, die Wahrheit liege irgendwo außerhalb des Bewusstseins und der Erkenntnis, um dann vom denkenden Individuum erschlossen zu werden. Dieser Gedanke liegt dem Tillichschen Ansatz jedoch ferne: Vielmehr liege jeder Wahrheitserkenntnis der Begriff der Wahrheit zugrunde. Beide Entitäten (Wahrheit und Wahrheitserkenntnis) sind nur dann als identisch zu begreifen, wenn von einer ursprünglichen Entsprechung im absoluten Wahrheitsgedanken ausgegangen wird. Die Konsequenz, auf die der Gedankengang hinausläuft ist die, dass „die Wahrheit […] nicht abgesehen von der Erkenntnis der Wahrheit“⁴⁸¹ ist. Beides ist also ein Verschiedenes und doch ein sich Entsprechendes. Die Wahrheit tritt dem Menschen nicht als eine ihm gegenüberstehende Realität entgegen, sondern ist in der Erkenntnis derselben begründet, also nicht vom Denken losgelöst.Wie kann es aber sein, dass von der Wahrheitserkenntnis gesagt wird, sie sei einerseits ein der Wahrheit Entsprechendes und gleichzeitig von ihr verschieden? Mit dieser Frage ist die Aporie verbunden, dass der absolute Wahrheitsgedanke einerseits die Überwindung aller Gegensätze⁴⁸² darstellt, gleichzeitig jedoch der Gegensatz von Denken und Sein aktuell besteht und diesem Gegensatz das Prinzip der Wahrheit zugrunde liegen muss, welches nach Tillich nicht außerhalb des Denkens gefunden werden kann. Tillich löst das Problem folgendermaßen: „Der absolute Wahrheitsgedanke enthält also in sich ein Prinzip des Widerspruchs gegen sich; er hat einen absoluten Gegensatz, mit dem er zugleich in absoluter Identität steht.“⁴⁸³ Allem Anschein nach wird das Absolute als die absolute Wahrheitserkenntnis vom frühen Tillich noch stark als ein vom menschlichen Bewusstsein selbst Gesetztes verstanden, worauf auch die Aussage schließen lässt, „daß das Prinzip des Denkens vom Denken, nicht von der Wahrheit gesetzt ist. Von der Wahrheit zum Denken der Wahrheit gibt es keinen Weg; hier ist ein Abbrechen und ein Neuanfang.“⁴⁸⁴ Es ist nicht eindeutig, inwiefern Gott als der absolute Wahrheitsgedanke noch als ein bewusstseinstranszendentes Wesen gedacht werden kann, welches nicht eine reine Konstruktion desselben darstellt. Die Substanz des menschlichen Bewusstseins, die von Tillich als die „natura sua Gott Setzende“ (s.o.) beschrieben wurde, kann unter dieser Prämisse ebenfalls als bewusstseinsintern, nicht -transzendent gedeutet werden. Kontrastierend gegenüber steht dieser Aussage die im Anschluss an den obigen Satz konstatierte These Tillichs, dass „das menschliche Bewusstsein […] in einem realen, sub Ebd. Vgl. Ebd.: „In der absoluten Wahrheit sind die Gegensätze ideell und reell, abstrakt und konkret, formal und material aufgehoben.“ A.a.O., S. 281. Ebd.
1.3 Methodenreflexion und Religionsbegriff Tillichs
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stantiellen Verhältnis zu Gott [stehe] und dies Verhältnis […] das religiöse [sei].“⁴⁸⁵ Verbindet man nun die Problemlösung aus der ST (1913) mit obiger Aussage aus Tillichs Promotion, so lässt sich folgende Schlussfolgerung ziehen: Ausgehend von einem realen Verhältnis kann der Mensch Gott als Setzung begreifen, jedoch stets als eine Setzung (Wahrheitserkenntnis), die ihr setzendes Prinzip und somit ihre Substanz (Prinzip des Widerspruchs) als zu sich selbst widerständig erlebt. Das würde bedeuten, dass Gott dem menschlichen Bewusstsein als etwas Fremdes und anderes erscheint, als Prinzip des Widerspruchs bzw. als absoluter Gegensatz, mit dem es doch in absoluter Identität steht. Die Andersheit Gottes ist hier noch – ebenso wie im Briefwechsel mit Hirsch, in dem Tillich das „‚Fremde als Existentialprinzip in […] [der Person] selbst […]“⁴⁸⁶ deutet – als Bewusstseinskonstrukt verstanden. Dies würde bedeuten, dass Gott vom menschlichen Bewusstsein eben als der andere gesetzt ist, der Mensch also selbst dieses andere ist und Gott setzen muss, um zum Bewusstsein der Einheit in dem anderen zu gelangen. Eine alternative Interpretation könnte die obige Aussage so deuten, dass im Absoluten selbst ein Prinzip des Widerspruchs enthalten ist, welches in Form einer Entäußerung in die Natur im Menschen seine Entsprechung findet und dort in Form der Trennung auftritt. Es bleibt offen, welche Lösung hier die angemessenste zu sein scheint. Dennoch muss dieser Problemhorizont in Betracht gezogen werden, wenn vom religiösen Prinzip die Rede ist, welches auch in der RPVorlesung (1920) noch als die Substanz des Denkens beschrieben wird, indem von Tillich angenommen wird, dass jedem Bewusstseinsakt religiöse Qualitäten zugrunde liegen. Der Einheitsgedanke bringt also zum Ausdruck, dass der Mensch, indem er Bewusstseinsakte jeglicher Art vollzieht, die Wahrheit aktualisiert, welche nicht von jenem getrennt ist, sondern eben in dieser Verwirklichung aktuell wird. Diese vorangestellten Überlegungen sollen, neben einer Erhellung der Charakterisierung des religiösen Prinzips, zweierlei zum Ausdruck bringen: Zum einen, dass die Methode zur Gewinnung des Religionsbegriffs ebenso wie Wahrheit und Wahrheitserkenntnis einer tautologischen Struktur zugrunde liegt: Es ist laut Tillich „nicht möglich, in den philosophischen Wissenschaften wie in den empirischen, mit einer anerkannten Methode die Behandlung des Gegenstandes zu beginnen“⁴⁸⁷, da Methode und Gegenstand in einem Identitätsverhältnis stehen, indem „es das Denken selbst [ist], das Objekt seiner Tätigkeit ist und darum in der
A.a.O., S. 235. EN, Bd. VI, S. 117. EN, Bd. XII, S. 367.
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1 Apriorischer Wahrheitsbegriff und Methode
Art, wie es auf sich gerichtet ist, unmittelbare Selbstbestimmung ausübt.“⁴⁸⁸ Der religiöse Gegenstand fordert also eine bestimmte Methode, die ihm adäquat ist. Methode und Gegenstand sind also stets intuitiv miteinander vereint. Auch schon 1913 heißt es bei Tillich: „Ebensowenig gibt es eine wahre Methodenlehre, die nicht zugleich Gegenstandslehre ist und umgekehrt; die Wahrheit der Methode erweist sich allein daran, daß sie dem Gegenstand entspricht […].“⁴⁸⁹ Zu fragen wäre nun, welche Methode diesem Anspruch gerecht werden kann. Zum anderen kommt durch die von Tillich abgelehnten Methoden zum Vorschein, inwiefern Wahrheit und Wahrheitsgedanke dort in einem Missverhältnis stehen und es folglich zu keinem gültigen Religionsbegriff bringen. Tillich betont weiterhin, dass dieser ausschließlich innerhalb der geltungsphilosophischen Bewusstseinsanalyse gewonnen werden könne, in welche die „definitorische“ Arbeit eingeschlossen werde. Diese möchte dabei das Geltende nicht gegenständlich, sondern aus einem Geltungsbewusstsein heraus erfassen, was stets einen religiösen Akt, eine vom Subjekt ausgehende Bedeutungszuschreibung inkludiert. Das Objekt der religiösen Erkenntnis wird dabei nicht als ein Gegenstand gefasst, sondern als Sinn. Alle von ihm abgelehnten Methoden würden den Religionsbegriff jedoch nicht auf religionsphilosophischer Grundlage entwickeln und seien folglich nicht in der Lage, ihn zu begründen. Tillich möchte vor allem den Nachweis erbringen, dass Wahrheit und Wahrheitserkenntnis unweigerlich zusammengehören, „daß die beiden Hälften der Wissenschaft, die Seins- und die Denkseite, unlöslich aufeinander angewiesen sind […] [was] gleichzeitig das flache, reflektierte Auseinanderfallen von Seinserfassung und Wahrheitsfrage verhüten“⁴⁹⁰ würde. Es stellt sich also die Frage, wie Tillich einen Religionsbegriff formuliert, der Wahrheitserkenntnis (menschliches Denken) und Wahrheit (göttliches Sein) zueinander in ein sinnvolles, da geltungsphilosophisch fundiertes Verhältnis stellt.
1.3.1.1 Die supranaturalistische und spekulativ-rationalistische Methode Um einen eigenen Religionsbegriff zu entwickeln, kritisiert Tillich zunächst die „supranaturalistische“ und „spekulativ-rationalistische“, die „empirische“ sowie die „kritische, geltungsphilosophische“ Methode. Als positiv erachtet er die Rezeption der kritischen Methode von spekulativ-rationalistischer (von Hegel und Fichte) und empirischer Seite (von Schleiermacher).
Ebd. EN, Bd. IX, S. 280. EN, Bd. XII, S. 371.
1.3 Methodenreflexion und Religionsbegriff Tillichs
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Zunächst behandelt Tillich die von ihm als supranaturalistisch bezeichnete Methode. Sie wird als diejenige Methode beschrieben, die ihren Religionsbegriff auf der eigenen als geoffenbart erachteten Religion fundiert. Fremde Religionen werden nach dieser Methode als „mißlungene Versuche, die wahre Religion aus eigener Kraft zu erreichen“⁴⁹¹ degradiert, was einen absoluten Wahrheitsanspruch der eigenen Religion voraussetzt. Für Tillich ist die supranaturalistische Methode deshalb nicht in der Lage, einen gültigen Religionsbegriff zu begründen, da das sich in der Offenbarung enthüllende Unbedingte auf eine Offenbarungswahrheit und auf einen Offenbarungsort fixiert und damit enggeführt werde. Ein Allgemeinbegriff, der das Wesen von Religion fasst, könne auf diesem Wege nicht gefunden werden.⁴⁹² Die von positiv geoffenbarten Grundwahrheiten ausgehende supranaturalistische Methode nimmt ihren Ausgang im Unterschied zur Vernunftreligion im Offenbarungsgeschehen als einem konkreten Ereignis. Tillich kritisiert, dass von diesem konkreten Standpunkt aus kein Religionsbegriff abgeleitet werden könne, der Allgemeingültigkeit beanspruche, da die supranaturale eine spezifisch theologische Methode sei, die „[…] von dem religiösen Normbegriff aus[geht] und […] den Wesensbegriff von ihm ab[leitet].“⁴⁹³ Auf einer exklusiven Offenbarung beruhend dürfte diese Methode jedoch „nicht den Anspruch erheben, Religionsphilosophie zu sein und müßte Theologie, Normenlehre der Religion, bleiben.“⁴⁹⁴ In Abgrenzung zur supranaturalistischen Methode zeigt sich, dass Tillich hingegen den Wesensbegriff von Religion im Normbegriff als erfüllt erachtet, und nicht umgekehrt, den Wesensbegriff am Normbegriff misst. Allerdings ist dies nur vordergründig der Fall, da Tillichs Wesensbegriff bereits unter der Hand einen Normbegriff enthält und folglich von ihm geprägt ist. Dennoch gibt Tillich vor, das Wesen zunächst geltungsphilosophisch zu ergründen und erst im Anschluss dessen Bewährung in der Geschichte nachzuspüren. Deshalb setzt er hier auch den Verdienst der Methode an: Als positiv hebt Tillich eine Erhellung des Verhältnisses von Norm- und Formbegriff hervor: „Sie zeigt das schon besprochene dialektische Verhältnis von Norm-Begriff und Formbegriff an, daß nicht nur der Normbegriff eine Erfüllung des Formbegriffs, sondern auch der Formbegriff eine Schöpfung des Normbegriffs […]“⁴⁹⁵ ist, jede aktuelle sich in der Geschichte verwirklichende religiöse Vorstellung demnach einen Schöpfungsprozess darstelle, welcher den Normbegriff mitpräge und sich auf diesen zu be-
Ebd. Vgl. a.a.O., S. 369. Tillich verweist auch auf Kähler, indem er ihm zuschreibt, „das Wesentliche des Christentums“ formelhaft dargelegt zu haben. GW, Bd. I, S. 305. Ebd. EN, Bd. XII, S. 369.
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1 Apriorischer Wahrheitsbegriff und Methode
wege. Verdienst der supranaturalen Methode sei es, darauf aufmerksam zu machen, dass jede abstrakte, allgemeine Darstellung der eigenen geoffenbarten Religion, um sich mit anderen Religionen in ein Verhältnis zu setzen, zunächst ihren eigenen konkreten Standpunkt reflektieren müsse. Die supranaturalistische Ansicht, alle Religionen müssten sich an der einen für richtig erachteten, da auf Offenbarungswahrheiten beruhenden Religion messen, setzt für Tillich voraus, dass „es gar keinen Weg gibt, in die Sphäre der fremden Religion anders einzudringen als durch die eigene“⁴⁹⁶. „Nur durch die Wirklichkeit des eigenen religiösen Erlebens ist der Eingang in die religiöse Wirklichkeit offen“⁴⁹⁷. Die supranaturalistische Methode zeigt, dass für die Erfassung des Fremden die Reflektion der Standortgebundenheit innerhalb der eigenen religiösen Verankerung erste und notwendige Voraussetzung ist. Der supranaturalen Methode ist es folglich nicht daran gelegen, erst einen Formbegriff zu entwickeln, der dann nachträglich mit dem Normbegriff identifiziert wird, sondern auch sie zeigt – indem sie zuerst von einem religiösen Normbegriff ausgeht und davon den Wesens- respektive Formbegriff ableitet – dass Norm- und Formbegriff stets in einem Wechselverhältnis stehen: Jede aktuelle Definition von Religion beruht auf bestimmten, durch den Normbegriff gegebenen Voraussetzungen, wirkt jedoch aufgrund ihrer je individuellen Prägung, ihres individuell-schöpferischen Standpunktes auf den Normbegriff ein. Tillich geht dabei davon aus, dass jede individuelle Verwirklichung des Religiösen, folglich auch die auf supranaturalistischem Wege gewonnene singuläre Offenbarungswahrheit, einen schöpferischen und gleichsam notwendigen Prozess der Realisierung des Geistes darstellt. Der Verdienst der supranaturalistischen Methode liegt für Tillich also darin, dass sie auf das Denken als ein Existierendes und sich selbst Bestimmendes aufmerksam mache und darin, dass stets von diesem konkreten, religiösen Standpunkt ausgegangen werden müsse, welcher nicht nur dem Theologen, sondern auch dem Religionsphilosophen zugrunde. Die supranaturalistische Methode bedient sich laut Tillich der spekulativrationalistischen, indem sie ähnliche Grundprinzipien und Vorgehensweisen verfolge. Beide Methoden folgen einem ähnlichen Grundschema; sie setzen den Gottesbegriff, den sie begründen wollen, bereits voraus. Der Unterscheid bestehe darin, dass die supranaturalistische Methode einen sich einmalig in der Geschichte erweisenden und damit geoffenbarten Gott für wahr und unüberbietbar erklärt, während die spekulativ-rationalistische Methode den Gottesbegriff allein
Ebd. Ebd.
1.3 Methodenreflexion und Religionsbegriff Tillichs
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aus der Vernunft deduziert, ihn folglich theoretisch herleitet.⁴⁹⁸ Die spekulativrationalistische Methode wird deshalb von Tillich abgelehnt, da durch sie ihr „Gegenstand, also Gott oder die Götter, als objektiv vorhandene Tatsache, als daseiend nachgewiesen oder auch bekämpft“⁴⁹⁹ werden. Das religiöse Bewusstsein, welches sich in seinem Glauben auf diesen Gegenstand richtet, neige dazu, Gott zu verobjektivieren. Was jedoch nicht reflektiert werde, ist die Tatsache, dass sich auf einen religiösen Gegenstand nur aus einem religiösen Standpunkt heraus gerichtet werden könne und dieser Standpunkt wiederum auf dem Gegenstand gründen müsse (dem Gottesbegriff), den er selbst begründe.⁵⁰⁰ Die Identifizierung von dem sich im Denken erschließenden religiösen Gegenstand und Gott beruht also auf einer deduktiven Herleitung, die dabei nicht reflektiert, „daß […] die religiöse Funktion, die sich dem theoretischen Nachweis als selbstverständlich erschließen soll, ja schon Product dessen ist, was angeblich theoretisch nachgewiesen wird.“⁵⁰¹ Gott als der so bewiesene religiöse Gegenstand ist immer schon Voraussetzung; eine Vorstellung dessen, was im religiösen Akt nachgewiesen werden soll, geht dem Beweis bereits voraus. Mit Verweis auf den Phänomenologen Husserl verdeutlicht Tillich, dass Gott sich nicht als eine metaphysisch und objektiv vorausgesetzte Tatsache (und folglich als νόημα) beweisen lasse, da es sich in Bezug auf den theoretischen Denkakt um „ein ganz verschiedenes ‚Meinenʼ, eine verschiedene Noesis“⁵⁰² handele. Weder der Denkinhalt könne den Denkakt begründen (da er erst durch das Denken ist), noch könne der Denkakt den Denkinhalt schaffen (da ihm der Inhalt bereits als etwas Fremdes vorliegen muss). Vielmehr geht Tillich davon aus, dass Gott als Gegenstand des Glaubens selbst das Meinen ist und kein sich anzueignender Inhalt. Die spekulativ-ratio-
Diese Schlussfolgerung Tillichs ist fraglich, da zum Beispiel Hegel – der in der Philosophie gemeinhin als Rationalist gilt und sich einer „spekulativen Methodik“ bedient – das Absolute nicht aus der Vernunft des Menschen ableitet, sondern es vielmehr eine vom Menschen unabhängige, sich an und in ihm jedoch verwirklichende Transzendenz bildet, die sich schrittweise im geschichtlichen Prozess manifestiert und in diesem gleichsam zu sich selbst findet. Alle Lebewesen sind Stationen dieses Absoluten auf dem Weg zu sich selbst und seiner Vollkommenheit. Es liegt Hegel daher fern, die Vernunft als eine endliche zu denken, die einen Begriff von Gott nur konstruiert. Das Absolute selber ist die Vernunft und der Begriff. EN, Bd. XII, S. 372; Dies gilt jedoch nicht für die „Spekulation“ des deutschen Idealismus. Vgl. Ebd. und a.a.O., S. 373: Tillich formuliert dies folgendermaßen: „Sie nennt den Gegenstand, den sie in seinem Dasein erwiesen respektive widerlegt hat, Gott und denkt nicht daran, daß diese Benennung ja gar keine wissenschaftliche, sondern eine religiöse ist, daß also die religiöse Funktion, die sich dem theoretischen Nachweis als selbstverständlich erschließen soll, ja schon der Producent dessen ist, was angeblich theoretisch nachgewiesen wird.“ A.a.O., S. 372. Ebd.
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1 Apriorischer Wahrheitsbegriff und Methode
nalistische Methode könne dies jedoch nicht reflektieren und begründe oder widerlege eine Religion ausgehend von einem vorausgesetzten „Gottesgedanken“⁵⁰³, in welchem jedoch laut Tillich „das Religiöse schon drin[steckt]“⁵⁰⁴, welcher also nie befreit sein kann von individuell-subjektiven oder gesellschaftlich-kollektiv bedingten Prägungen. Tillichs Religionsverständnis grenzt sich vor allem dadurch von den anderen Methoden ab, dass er „Deitas“ als eine „Qualifikation“ bezeichnet, „die keine noch so hoch gespannte Spekulation, die allein die religiöse Noesis geben kann.“⁵⁰⁵ Wenn Gott ein Akt der Realisierung ist, so ist er wesentlich im „Meinen“, also im Denkakt verwirklicht, ist also als ein Vollzugsakt des Menschen zu deuten, nicht als eine objektiv vorhandene Tatsache. Die persönliche Beziehung zwischen Gott und Mensch könne nicht erreicht werden, indem Gott verdinglicht werde, sondern müsse dort ansetzen, wo Religiosität als Qualität einer Richtung des Menschen auf das Unbedingte verstanden wird. Der Gewinn der Methode sei es jedoch, zu verdeutlichen, dass trotz der subjektiven Bedingtheit religiöser Definition „in ihr selbst etwas enthalten ist, was über die Subjektivität hinausweist, ein Transcendieren ins Kosmische, das aus wirklicher Religion gar nicht zu streichen ist.“⁵⁰⁶ Die Methode unterstreicht das religiöse Grundbedürfnis der Objektivation religiösen „Meinens“.
1.3.1.2 Die empirischen Methoden Tillich unterscheidet drei verschiedene Wege der empirischen Methodik, einen Religionsbegriff zu definieren: „die naturalistisch-abstrahierende, die genetische und die phänomenologische.“⁵⁰⁷ Im Gegensatz zur spekulativ-rationalistischen, versuch die empirische Methode „den Religionsbegriff dadurch zu gewinnen, daß […] [sie] alle vorhandenen Religionen vergleicht, das Unterscheidende ausschließt und das Gemeinsame zusammenfaßt.“⁵⁰⁸ Hier wird der Religionsbegriff ebenfalls ausgehend von einem Allgemeinbegriff entwickelt, jedoch nicht von einem theoretisch hergeleiteten „spekulativen Weltbegriff“⁵⁰⁹ oder einem „spekulativen theistischen Gottesbegriff“⁵¹⁰ deduziert, sondern mittels einer Analyse des historischen Quellmaterials gewonnen, aus welchem dann das allen Religionen
Ebd. Ebd. Ebd. A.a.O., S. 374. Ebd. Ebd. A.a.O., S. 373. Ebd.
1.3 Methodenreflexion und Religionsbegriff Tillichs
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Gemeinsame als der allgemeine Wesensbegriff von Religion extrahiert wird. Dieser reduziert sich dabei auf diejenigen Elemente des Religiösen, die in jeder Religionsform vorzufinden sind, etwa die Anerkennung von etwas Höherem als einer absoluten Geltungssphäre, das Empfinden der eigenen Endlichkeit als ein lediglich Akzidentelles gegenüber der Unendlichkeit, der Versuch, dem Unendlichen beispielsweise per Gebet oder ekstatischer Erhöhung näher zu kommen. Diese allgemeinen Grundlagen jeder Religion werden dann als das universal gültige Wesen der Religion verstanden. Der Ausgangspunkt der empirischen Methodik ist also – im Gegensatz zur spekulativen Methode – ein induktiver. Tillich führt zwei Einwände gegen diese Methode auf. Der erste, allgemein auf alle der drei empirischen Wege anzuwendende Einwand verweist darauf, dass die empirische Methode ebenso wie die spekulativrationalistische auf bestimmen Voraussetzungen beruhe. So werde, indem das allen Religionen Gemeinsame als das Wesen der Religion beschrieben wird, bereits eine Definition von Religion und der Vorstellung, was als Religion zu gelten habe, vorausgesetzt: „Die ungeheure Fülle der historischen Tatsachen fordert ein Auswahlprincip, nach dem man feststellen kann, was Religion ist und was nicht, das heißt der Religionsbegriff ist Voraussetzung der Religionsvergleichung und kann nie ihr Resultat sein.“⁵¹¹ Der zweite Einwand kritisiert die Verwandtschaft der Methode zur „naturwissenschaftlich-abstrahierenden“⁵¹². Nicht nur kann die Erfahrung mit dem historisch Gegebenen keinen Religionsbegriff begründen, sondern die durch die Zuspitzung auf das Gemeinsame aller Religionen geleistete Abstraktionstätigkeit führe auch zu einer Entleerung des Religionsbegriffs. „Er begreift die Religion nicht, sondern entleert sie bis zur völligen Nichtigkeit.“⁵¹³ Der auf Basis einer empirischen Methodik gewonnener Wesensbegriff von Religion ist nicht aus einem religiösen Standpunkt der unbedingten Betroffenheit erwachsen, sondern er wird ausgehend von einer neutralen, externen und folglich abstrakten Perspektive gewonnen. Im Zentrum steht nicht das sich dem Menschen mitteilende Unbedingte, sondern der Religionsbegriff wird nach rein formalen Kriterien aufgestellt. Dennoch ist es laut Tillich nicht möglich, von einer vollkommen neutralen Perspektive aus einen Religionsbegriff zu entwickeln, da der eigene religiöse Standpunkt trotz aller Bemühungen um Allgemeingültigkeit stets einen Einfluss auf die Wertung habe. Als weitere empirische Methode führt Tillich die genetische auf, die davon ausgehe, „daß man das Wesen einer geschichtlichen Erscheinung am besten aus
Ebd. Ebd. Ebd.
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1 Apriorischer Wahrheitsbegriff und Methode
ihren Ursprüngen ersehen könne.“⁵¹⁴ Aus der Ursprünglichkeit einer religiösen Erscheinung könne jedoch nicht auf deren Wesenhaftigkeit geschlossen werden, da es „ebenso möglich [sei], daß eine Sache aus der Verkleidung mit fremdartigem Stoff sich herausarbeitet und im Laufe der Entwicklung zu ihrer Vollendung kommt.“⁵¹⁵ Doch auch die „Höhepunkte“ bzw. die „großen klassischen Formen“ einer Religion als ihrem Wesen am nächsten zu beschreiben, lehnt Tillich ab, da hier wiederum ein „Beurteilungsschema des klassisch-Religiösen voraus[gesetzt]“⁵¹⁶ wird. Weder Ursprung-, Höhepunkt noch teleologischer Zielpunkt einer Religion können Hinweise auf ihr Wesen liefern. Ebenso seien psychologische Erwägungen über die Entstehungsursache einer Religion ungeeignet, deren Gültigkeit zu begründen. Solche rein deskriptiven Motive können zwar ursprüngliche und existentielle Motivationen für die Funktion religiöser Gemeinschaftsbildung aufzeigen, wie etwa „Bewußtseinselemente biologischer Art […] wie Furcht, Selbsterhaltungstrieb […], die entwicklungsgeschichtlich älter sind als alle kulturellen Dinge“⁵¹⁷. Nicht aber können solche rein funktionellen Erklärungen das Wesen von Religion erfassen oder gar einen Religionsbegriff begründen. Verdienst der genetischen Methode sei jedoch das Aufzeigen der „biologisch-psychologische[n] Einbettung der religiösen Funktion“⁵¹⁸, an welches die „transcendental-psychologische Methode“⁵¹⁹ anknüpfen könne, indem sie den Nachweis erbringt, dass das die Religion begründende Realitätsgefühl keiner Entsprechung in der Realität entstammt, sondern vielmehr eine Richtung des Bewusstseins beschreibt, die auf das Unbedingte gerichtet ist und damit einen Geltungsanspruch erheben kann. Das psychologische Moment wird also für eine bewusstseinsinterne Geltungsanalyse zur Gewinnung des Religionsbegriffs herangezogen. Die phänomenologische Methode wird von Tillich in der RP-Vorlesung im Gegensatz zum Systementwurf ebenfalls als Unterkategorie der empirischen Methode erörtert.⁵²⁰ Dies liegt hauptsächlich darin begründet, dass er dort vor allem
Ebd. Ebd. Ebd. A.a.O., S. 377; Tillich führt als Beispiel die Vorgehensweise von Denfile auf, welcher Religion „aus einem starken erotischen Bedürfnis“ heraus erkläre. Ebd. Ebd. Vgl. Husserl, E., Ideen zu einer reinen Phänomenologie. Erstes Buch. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie (= Ströker, E. (Hg.), Edmund Husserl. Gesammelte Schriften, Bd. 5), Hamburg 1992, S. 4: Husserl selbst grenzt die phänomenologische Methode strikt von allen rein empirischen bzw. psychologischen Methoden ab, indem er „scharf“ betont, „daß die reine Phänomenologie, zu der wir uns im folgenden den Zugang bahnen wollen […] nicht Psychologie
1.3 Methodenreflexion und Religionsbegriff Tillichs
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deren sprachtheoretische Weiterführung durch Max Scheler⁵²¹ im Blick hat, welcher die Methode mittels Wortfeldanalyse und phänomenologischer Betrachtung von Wörtern und deren Bedeutung in seiner Schrift Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg praktisch umgesetzt hat. Hierin wird das Ziel verfolgt, faktisch Gegebenes⁵²² bzw. Vermeintes (z. B. bestimmte Begriffe bzw. Noemata) mittels einer Kontextanalyse miteinander in ein sinnvolles Verhältnis zu setzen und zu ergründen, „was die Sprache damit meint“⁵²³, welche Noesen (geistige Akte) ihm also zugrunde liegt, um dieselben voneinander abzugrenzen. Auf diese Weise können diese voneinander abgegrenzt und differenziert werden. Die sprachanalytische Arbeit trage zwar zur Erhellung dieses je unterschiedliche Meinen und der Bedeutung bestimmter, auch synonymer Begriffe bei, indem beispielswiese Unterbegriffe eines bestimmten genus proximum (z. B. Religion, Biologie etc.) miteinander verglichen und voneinander abgegrenzt werden (und so die diffe-
ist, und daß nicht zufällige Gebietsabgrenzungen und Terminologien, sondern prinzipielle Gründe es ausschließen, daß sie der Psychologie zugerechnet werde.“ Husserl unterscheidet zwischen Tatsachenwissenschaften, die es mit faktisch Gegebenem zutun haben und sich auf das in der Realität Gegebene, das tatsächliche Sein beziehen, und Wesenswissenschaften, die das hinter dem Tatsächlichen stehende Wesen erschauen und damit etwas Ideales bezeichnen. Dabei definiert Husserl „Wesen“ als „das im selbsteigenen Sein eines Individuums als sein Was Vorfindliche.“ (S.13) Wesen und Tatsache werden so beschrieben, dass das Tatsächliche, das Individuelle stets das zufällige ist, während das Wesenhafte eine Notwendigkeit besitzt (S. 12). Dass, was das Wesen einer Sache ist, „kann sich intuitiv in Erfahrungsgegebenheiten, in solchen der Wahrnehmung, Erinnerung usw., exemplifizieren, ebensogut aber auch in bloßen Phantasiegegebenheiten.“ (S. 16) Notwendigkeit besitzt das Wesen insofern, als es die Voraussetzung für alles Reale bildet. Als eidetische Gültigkeit (einen Satz, der eine reine Wesenheit beschreibt) bezeichnet Husserl zum Beispiel das Kantische Urteil, dass alle materiellen Dinge ausgedehnt sind. Er „kann als rein eidetischer verstanden werden, wofern die auf Subjektseite vollzogene Daseinsthesis ausgeschaltet wird. Er sagt aus, was rein im Wesen eines materiellen Dinges und im Wesen der Ausdehnung gründet, und was wir uns als ‚unbedingte’ Allgemeingültigkeit zur Einsicht bringen können.“ (S. 20). Vgl. a.a.O., S. 379: Tillich verweist bezüglich der phänomenologisch-sprachanalytischen Weiterentwicklung der phänomenologischen Methode auf die Schriften Max Schelers (konkret – wie Sturm anmerkt – auf die Schrift „Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg. Leipzig 1915, 2. Aufl., 1916, 3. Aufl., 1917) aus welchen hervorgehe, wie diese Methode praktisch umgesetzt werden könne. Z. B. lasse sich aus dieser Schrift erkennen, „daß die Sache sehr wesentlich auf Synonymik herauskommt. Wenn Scheler zum Beispiel den Begriff Krieg phänomenologisch herausarbeiten will, so fragt er nicht, woher er kommt, wie er zu beurteilen ist etc., sondern was die Sprache damit meint, er grenzt ihn dann gegen verwandte Begriffe wie Wettkampf, Streit oder dergleichen.“ Da es sich um faktisch Gegebenes (die Begriffe) handelt, behandelt Tillich die Methode als Unterkategorie der empirischen Methode. EN, Bd. XII, S. 380.
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1 Apriorischer Wahrheitsbegriff und Methode
rentia specifica ermittelt wird), sodass eine komplexe Wissenschaft sinnverwandter Noemata entsteht. Die Methode erlaubt es zwar, die Bedeutung eines Begriffs sehr exakt zu fassen, dennoch sei fraglich, ob „durch exemplarische Anschauung“⁵²⁴ der „Sinn eines Wortes“⁵²⁵, der über reine Subjektivität hinausführt, überhaupt festgestellt werden kann. Für Tillich bietet die Methode zwar die Möglichkeit, „eine Kontrolle der individuellen Subjektivität […] [zu geben], aber doch eine sehr begrenzte.“⁵²⁶ Allein ein Konsens über einen bestimmten sprachlichen Ausdruck sagt noch nichts über das Wesen des vom Begriff Gemeinten aus. Im Systementwurf der Religionsphilosophie weist Tillich darauf hin, dass für die Phänomenologie „die Sprache ein Zugang zur Wesensschau“⁵²⁷ liefere. Demnach werde durch die oben beschriebene Kontextanalyse nicht nur die Bedeutung eines Wortes ermessen, sondern „die im Wort enthaltene Meinung“⁵²⁸ erschaut und demnach über das Medium der Sprache unmittelbar das Wesen offenbart. Von größerer Bedeutung ist für Tillich die auf dem Boden der von Husserl entwickelten Methode der Phänomenologie begründete intuitive Methode, die darauf zielt, noch bevor die einzelnen Religionen in ihrem Ursprung, ihren Höheoder Zielpunkten erklärt werden, zunächst „die Anschauung“⁵²⁹ und das „innere[…] Meinen[…]“⁵³⁰ des religiösen Bewusstseins in den Vordergrund zu rücken. Im Systementwurf der Religionsphilosophie wird die Methode von Tillich noch präziser gefasst: Im Gegensatz zu denjenigen Methoden, die den Wesensbegriff der Religion dadurch zu erfassen suchen, dass sie objektiv gegebene Erscheinungsformen des Religiösen auf ihr Wesen hin analysieren oder es dadurch zu ergründen suchen, dass sie „das Wesen aus dem Objekt […] bestimmen“⁵³¹, basiere die Phänomenologie auf der „Methode psychologischen Verstehens“⁵³² und dem „psychologischen ‚Zirkelʼ“⁵³³. Das heißt, sie orientiere sich an der eigenen religiösen Erfahrung des Subjekts, welches mittels intuitiver Schau an jedem beliebigen Objekt das Wesen erschauen könne. Sie beruht nach Husserl auf dem Prinzip der „unmittelbare[n] Wesensschau“⁵³⁴, wobei davon ausgegangen wird,
A.a.O., S. 380. Ebd. Ebd. GW, Bd. I, S. 315. Ebd. EN, Bd. XII, S. 380. Ebd. GW, Bd. I, S. 306. A.a.O., S. 305. Ebd. GW, Bd. I, S. 309.
1.3 Methodenreflexion und Religionsbegriff Tillichs
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dass die Wesen a priori dem Geiste zugrunde liegen und „die ewige Wahrheit des Existierenden“⁵³⁵ darstellen. Diese Wesensschau könne an jedem beliebigen Gegenstand oder Subjekt vollzogen werden, indem „an einem willkürlichen Beispiel das Wesen und die Eigenschaften der Religion“⁵³⁶ erschaut werden können. Das Anschauungsmaterial, an dem das Wesen geschaut wird, liefere die Empirie⁵³⁷. Das Wesen selbst befinde sich jedoch jenseits jeglicher Empirie und liege dieser a priori zugrunde. „Das phänomenologische Apriori ist das lebendige, anschauliche Wesen selbst“⁵³⁸, welches als die „Fülle [gedeutet wird], an der die existierenden Dinge mehr oder weniger teilhaben.“⁵³⁹ Der Verdienst der Husserlschen Methode sei die Kritik an einer Objektivierung der menschlichen Seele durch die „gewöhnliche Psychologie“⁵⁴⁰ und einer anschließenden naturwissenschaftlichen Erklärung derselben. Damit wird Kritik an einer formalen Trennung der Definition des menschlichen Bewusstseins und einer nachträglichen Einordnung des einzelnen Subjekts in diese Erklärung geübt. Die Phänomenologie hingegen richte das Augenmerk auf das Subjekt selbst, indem dieses sich und seine Beschaffenheit per Innenschau intuitiv erfasse: Die Methode ist also nicht reflektiv, sondern intuitiv, und sie ist nicht auf die zu erklärenden Ursachen, sondern auf die Sache selbst gerichtet. Was nun aber in der Seele unmittelbar zu finden ist, das ist das Meinen, das Gerichtetsein auf einen Sinn, auf eine Farbe, ein Gefühl, einen Gegenstand, einen Begriff, eine Idee.“⁵⁴¹
Was diese Methode jedoch nicht berücksichtige, sei das Individuell-Konkrete. „Für den einmalig schöpferischen Charakter des historischen Geschehens hat die Phänomenologie kein Organ.“⁵⁴² Die konkreten geschichtlichen Formen sind für Tillich jedoch Teil des schöpferischen Prozesses, welcher sich als ein dynamischer Verlauf der Geistesgeschichte darstellt. Der Normbegriff entstehe nicht durch
Ebd. Ebd. Auch deshalb behandelt Tillich die phänomenologische als Unterkategorie der empirischen Methode, da die Empirie das Anschauungsmaterial liefert, an dem das Wesen erschaut wird. Das empirische Material sei dabei jedoch beliebig, das Wesen könne an jedem beliebigen Bespiel erschaut werden. Das Individuell-Konkrete trete hinter seiner Bedeutung als Medium zur Wesensschau zurück und weiche seiner Funktion, das Allgemeine durch das Besondere sichtbar zu machen. GW, Bd. I, S. 309. Ebd. A.a.O., S. 379. Ebd. A.a.O., S. 310.
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1 Apriorischer Wahrheitsbegriff und Methode
Abstraktion vom Konkreten, sondern werde von den konkreten Schöpfungen und den daraus resultierenden Formbegriffen mitgeschaffen. Der Geist und das Absolute wirken durch das Konkrete hindurch und verwirklichen sich stets im und am Konkreten. Andernfalls bliebe nichts als eine leere Form. Das Wesen einer Sache sei stets sowohl durch das Individuell-Schöpferische, als auch durch die im Konkreten verwirklichten Strukturen des Allgemeinen bestimmt. Praktisch umgesetzt müsste die phänomenologische Methode innerhalb der Religionsphilosophie entweder „ein jeder empirischen Religion transzendentes und doch inhaltliches ‚Wesen̕ der Religion aufstellen, das entweder die Züge einer bestimmten Religion trägt […], oder eine neue ideale Religion darstellt.“⁵⁴³ Im ersten Fall würde ein methodisch unzulänglicher Supranaturalismus eine bestimmte Religion absolut setzen und damit den Wesensbegriff als den Normbegriff behaupten, was die Methode schließlich von ihrer eigentlichen Bestimmung, eine von der Empirie unabhängig und auf alle empirischen Erscheinungen anzuwenden Wesensschau vollziehen zu können, wegführen würde. Im zweiten Fall würde nichts Konkretes mehr in der idealen Religion enthalten sein, da von allem Empirischen abstrahiert werden müsste. Die „individuelle historische Wirklichkeit [würde] für eine bedeutungslose Erscheinung des Wesens“⁵⁴⁴ erklärt werden. Diesbezüglich ist die phänomenologische Methode statisch. Sie setzt eine Geisteslage voraus, in der Wesen- und Normbegriff identisch sind. Dies widerspricht jedoch Tillichs Vorstellung des Verhältnisses von Form- und Normbegriff und demnach auch der Genese der Vorstellung einer Idealreligion. Nach Tillich ist es nicht möglich, „an jeder beliebigen Erscheinung die Wesensschau“⁵⁴⁵ vorzunehmen, sondern die wahre Religion ist stets Produkt eines geschichtlichen Prozesses, der sich selbst in seiner Geltung erfasst und sowohl konkrete als auch allgemeine Elemente in sich trägt. Auch ist der Normbegriff bei Tillich bezogen auf das sich in Christus offenbarende Neue Sein und demnach abhängig von einer konkreten geschichtlichen Erscheinung, in der sich der Wesensbegriff in idealer Form darstellt. Des Weiteren würde eine phänomenologische, unmittelbare Erfassung des Wesens von Tillich abgelehnt werden, da Gott ein Moment der Unverfügbarkeit enthalten müsse. Er müsse trotz seines Wirkens und der Erfahrbarkeit seiner Offenbarung Mysterium bleiben. Es widerspräche dem Verhüllungsmoment, welches der Offenbarung nach Tillich notwendig anhaftet, wenn Gott sich im endlichen Prozess unmittelbar erschauen ließe.
Ebd. Ebd. Ebd.
1.3 Methodenreflexion und Religionsbegriff Tillichs
165
Die phänomenologische Methode ist erfahrungs- und subjektbezogen, indem sie ihren Fokus weg vom religiösen Objekt und hin zum religiösen Akt lenkt. Doch allein dieses psychologische Kriterium qualifiziert sie noch nicht zur Begründung eines gültigen Normbegriffs von Religion. Denn dieser könne nicht allein durch eine Analyse dessen, wie das unterschiedliche „Meinen“, also die subjektive Richtung auf das Unbedingte, beschaffen ist, gewonnen werden. Denn „[d]ie religiöse Erfahrung, von der aus das religiöse Leben verstanden werden soll, ist selbst ein unbestimmtes und methodisch zufälliges Faktum. […] Aus der Wechselwirkung zweier oder vieler Tatsächlichkeiten kann nichts Gültiges hervorgehen.“⁵⁴⁶ Auch eine unmittelbare Wesensschau stellt eine verkehrte Beziehung von Form- und Normbegriff dar und wird von Tillich abgelehnt.Von Bedeutung für die Tillichsche Methode ist jedoch das intuitive Moment, welches die Phänomenologie betone.
1.3.1.3 Die kritische, geltungsphilosophische Methode Die phänomenologische Methode, die am religiösen Subjekt selbst und dessen Intuition sowie den jeder Tatsache zugrundeliegenden Wesen⁵⁴⁷ ansetzt, ist nach Tillich nur „auf dem Boden der kritischen Methode, nicht außer ihr oder gegen sie“⁵⁴⁸ umzusetzen. Das kritische Moment, welches in Kants Kritik der reinen Vernunft entfaltet wird, zeigt diejenigen Prinzipien als reine Formen des Bewusstseins auf, die der menschlichen Erkenntnisfunktion unabhängig von der Erfahrung a priori zugrunde liegen. Mit der kritischen Methode wird ausgeschlossen, dass das Individuum die Wirklichkeit, so wie sie ist, für wahr erachtet. Das, was dem Subjekt in der Anschauung gegeben ist, seien lediglich die Formen, mittels denen das Individuum eine einheitliche Wirklichkeit konstruiere. Nicht die Dinge, wie sie an und für sich sind, können erkannt werden, sondern gültige Aussagen können lediglich darüber getroffen werden, wie die Dinge uns erscheinen. Tillichs Methode knüpft insofern an die kritische Methode an, als das kritische Moment einen Reflexionsvorgang beschreibe, durch welchen der Geist sich selbst „als Geist und nicht als Sein“⁵⁴⁹ erfasse. Indem der Geist auf sich selbst reflektiere, werde ihm gewahr, dass dem Bewusstsein bestimmte Formen zugrunde liegen, durch die eine synthetische Erscheinungswelt konstruiert wird und die auch der religiösen Erfassung der Wirklichkeit zugrunde liegen müssen. Die kritische Methode verleitet also dazu, zwischen dem objektiv Gegebenen und dem
A.a.O., S. 305. Vgl. Husserl, E., Ideen zu einer reinen Phänomenologie, S. 12 ff. EN, Bd. XII, S. 381. GW, Bd. I, S. 307.
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1 Apriorischer Wahrheitsbegriff und Methode
auf das Objekt gerichteten Denkakt zu differenzieren bzw. zwischen dem Akt des Wahrnehmens und Anschauens eines Objektes und dem Objekt selbst zu unterschieden. Auch aus phänomenologischer Sicht liegt jeder Erkenntnis eine doppelte Aktrichtung zugrunde, der nach Husserl selber „ein intentionales Objekt in doppeltem Sinne [entspreche]: wir müssen zwischen der bloßen ‚Sache’ und dem vollen intentionalen Objekt unterscheiden, und entsprechend eine doppelte intentio, ein zwiefaches Zugewendetsein.“⁵⁵⁰ Diese doppelte Aktrichtung entspreche allen immanenten Wahrnehmungen, die einerseits auf das intentionale Erleben selbst (also den Erlebnisakt) gerichtet sein können und auf einen intentionalen Gegenstand. Dabei gehöre es zum Wesen von Wahrnehmung, „daß ihre intentionalen Gegenstände […] zu demselben Erlebnisstrom gehören wie sie selbst“, also „Wahrnehmung und Wahrgenommenes wesensmäßig eine unvermittelte Einheit bilden“⁵⁵¹. Immanent gerichtete Akte, die auf den Bewusstseinsvorgang im Subjekt gerichtet sind, seien stets absolut und intuitiv. Demgegenüber sei die Dingwahrnehmung durch eine gewisse Inadäquatheit ausgezeichnet: „Ein Ding kann prinzipiell nur ‚einseitig’ gegeben sein [als] das, was die Darstellung durch Abschattung vorschreibt. Ein Ding ist notwendig in bloßen ‚Erscheinungsweisen’ gegeben, notwendig ist dabei ein Kern von ‚wirklich Dargestelltem’ auffassungsmäßig umgeben von einem Horizont uneigentlicher ‚Mitgegebenheit’ und mehr oder minder vager Unbestimmtheit.“⁵⁵² Ein Ding ist also auch nach Husserl immer nur in der Erscheinung gegeben, kann nie ganz vom Subjekt erfasst werden, sondern Dingerfassung ist stets nur durch „abschattende Wahrnehmung wahrnehmbar“ und also variablen Wahrnehmungsmannigfaltigkeiten unterworfen, die das Ding dem aufnehmenden Subjekt in einem je anderen Horizont erscheinen lassen. Folglich unterscheidet Husserl auch zwischen „Sein als Erlebnis und Sein als Ding“, was bedeutet, dass „in schlechthin unbedingter Allgemeinheit, bzw. Notwendigkeit […] ein Ding in keiner möglichen Wahrnehmung, in keinem möglichen Bewußtsein überhaupt, als reell immanentes gegeben sein [kann]“. ⁵⁵³ Diese Husserlsche Einsicht ist durch die kritische Methode Kants vorbereitet worden, indem dieser bereits in seiner transzendentalen Ästhetik zwischen den Dingen, wie sie an und für sich sind und der Anschauung unterscheidet. Die Anschauung sei dabei stets auf einen Gegenstand als Objekt der Betrachtung gerichtet und affiziere das Gemüt auf eine eigentümliche Weise, wodurch sich eine gewisse Vorstellung von dem Gegenstand bilde, die Kant „Sinnlichkeit“
Husserl, E., Ideen zu einer reinen Phänomenologie, S. 76. A.a.O., S. 78. A.a.O., S. 91. A.a.O., S. 87.
1.3 Methodenreflexion und Religionsbegriff Tillichs
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nennt. „Vermittelst der Sinnlichkeit also werden uns Gegenstände gegeben, und sie allein liefert uns Anschauung; durch den Verstand aber werden sie gedacht, und von ihm entspringen Begriffe.“ Mit diesem Vorgang sei jedoch nicht schon das Ding an sich erfasst, sondern der Gegenstand wirke auf unsere „Vorstellungsfähigkeit“ und konstruiere somit eine Empfindung, wodurch eine empirische Anschauung entstehe, die Kant „Erscheinung“ nennt.⁵⁵⁴ Während die kritische Methode dabei rein „auf den Zusammenhang der Sinnformen gerichtet“⁵⁵⁵ ist, geht es der Phänomenologie nicht darum, die Grenzen der menschlichen Vernunft aufzuzeigen und darzustellen, wie das Bewusstsein Objekte konstruiert. Denn trotz der Unterscheidung zwischen Erlebnis und Ding lehnt Husserl dennoch alle Theorien ab, die behaupten, „es komme die Wahrnehmung […] an das Ding selbst nicht heran.“⁵⁵⁶ Auch wenn Dingerkennung nicht absolut und intuitiv in völliger Evidenz geschehen könne, so geht Husserl doch davon aus, dass das „Raumding“, das uns erscheint, trotz seiner Transzendenz – die stets ein Moment der Unverfügbarkeit enthalte, ein Über-sich-selbst-Hinausweisen, welches vom Bewusstsein nicht erfasst werden könne – ein „in seiner Leibhaftigkeit bewußtseinsmäßig Gegebenes“ sei, welches real existiere und in seiner „leibhaften Gegenwart“ erfasst werden könne.⁵⁵⁷ Trotzdem, dass Dingwahrnehmung immer nur partiell erfolgen könne und folglich in sog. Abschattung, werde dabei stets ein „Kern von ‚wirklich Dargestelltem’“ erfasst. Erkenntnis von Dingen erfolge dabei so, dass die dinglichen Momente durch auf sie gerichtete Wahrnehmung sich sukzessiv enthüllen und damit zu „wirklicher Darstellung, also wirklicher Gegebenheit“ kommen würden und „die Unbestimmtheiten“ sich dabei näher bestimmen ließen, „um sich dann selbst in klare Gegebenheiten zu verwandeln […].“⁵⁵⁸ Die phänomenologische Methode folgt also einem grundsätzlich anderen Ansatz als die kritische, indem von einer prinzipiellen Aneignung und Erschließbarkeit der Dinge ausgegangen wird, die eben nicht nur Erscheinungen bilden, sondern sich auch, wenn nur partiell und inadäquat, so aber doch real zu erkennen geben würden. Tillichs Kritik an Kant richtet sich vor allem auf die formale Einteilung des Bewusstseins in die Bereiche „Denken, Wollen und Fühlen“⁵⁵⁹. Diese Dreiteilung spiegelt sich in den Hauptwerken Kants, der Kritik der reinen Vernunft, der Kritik
Kant, I., Kritik der reinen Vernunft I, S. 69. Ebd. A.a.O., S. 89. A.a.O., S. 90. A.a.O., S. 91. EN, Bd. XII, S. 382.
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1 Apriorischer Wahrheitsbegriff und Methode
der praktischen Vernunft und der Kritik der Urteilskraft wider.⁵⁶⁰ Als problematisch erachtet Tillich dabei das Vorgehen, die Religion lediglich einem dieser drei Bereiche (der praktischen Vernunft) anzuhängen. Weiterhin handele es sich bei der kantschen Rechtfertigung von Religion mittels seines moralischen Gottesbeweises nicht um ein kritisches Vorgehen⁵⁶¹, da das „Princip seines Gottesbeweises“⁵⁶² ein Postulat bilde und der „[…] Satz, es wird postuliert, daß ein Gott ist […]“⁵⁶³ ein theoretisches Urteil darstelle. Insofern würde Kants eigenes System obsolet, als die Realität Gottes nicht auf einem theoretischen Urteil gründen könne. Zum einen könne es nach dem Prinzip der Kritik der reinen Vernunft über die Dinge an und für sich nichts aussagen, sondern nur über die Dinge, insofern als sie Erscheinungen des Bewusstseins sind. Zum anderen sei – so Tillich – „auch schon die Kategorie der Realität eine Denkform und damit die überwirkliche Welt doch wieder eine wirkliche, Gott ein Teil der Erscheinungswelt“⁵⁶⁴. Ein Gottesbeweis könne folglich weder auf theoretischer, noch auf praktischer Basis geführt werden: Dem Praktischen liege stets auch eine Theorie zugrunde und jeder theoretische Versuch, die Wahrheit eines Gottes zu beweisen, müsste unter der Prämisse, dass jegliche gedachte Realität selbst nur eine Denkform ist, Gott innerhalb dieser Denkformen zur Erscheinung bringen können – was jedoch nicht möglich sei. Die kritische Methode selbst werde also von Kant nicht konsequent im Hinblick auf das Religiöse umgesetzt. Tillich liefert an dieser Stelle ein Korrektiv, indem er das kritische Verfahren auf die Religion anwenden möchte, um den Nachweis zu erbringen, dass die Kategorien der Religion „ebenso notwendig für die Konstitution der Erscheinungswelt oder, was dasselbe ist, für die Einheit des Bewußtseins […]“⁵⁶⁵ sind. In vielerlei Hinsicht weist die Argumentation, die der Tillichschen Kritik an Kant zugrunde liegt, Schwächen auf: Beispielsweise bedeutet für Kant das theoretische Postulat, welches Tillich als inkonsequente Durchführung des praktischen Gottesbeweises erachtet, keinesfalls die Setzung eines hypostasierten Gottesbegriffs, der als irgendwie seiend bzw. existierend vorausgesetzt wird. Daher handelt es sich genau genommen auch um keinen Beweis, weshalb das Urteil Tillichs, Kants Verfahren sei unkritisch, fragwürdig ist. Vielmehr bezeichnet Kant
Kant, I., Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Immanuel Kant, Werkausgabe VII), Frankfurt 1968, S. 257 (A 227, 228). Vgl. Ebd. und a.a.O., S. 383: „Diese Kritik richtet sich aber nur gegen das Unkritische in Kants Verfahren, nicht gegen die Fülle der Ideen, die überall in diesem Verfahren mitwirken.“ A.a.O., S. 382. Ebd. Ebd. A.a.O., S. 383.
1.3 Methodenreflexion und Religionsbegriff Tillichs
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selbst sein Postulat, das die Existenz eines höchsten Wesens voraussetzt, welches als Garant eines Ausgleichs von Tugend und Gerechtigkeit fungiere und damit die Existenz eines „höchsten abgeleiteten Guts (der besten Welt) […]“ bedeute, als reine „Hypothese“ und damit als ein „Bedürfnis[…] in praktischer Absicht“ oder als „[…] reine[n] Vernunftglaube[n].“⁵⁶⁶ Trotzdem, dass diese Vorstellung aus dem reinen Vernunftglauben entspringe, sei dadurch jedoch noch längst kein Beweis über ihre Notwendigkeit und folglich der Existenz eines Gottes geführt. Der Gedankengang Kants basiert vielmehr auf dem Urteil, dass der vernünftige Mensch, indem dieser nicht selbst die Welt hervorgebracht habe, auch nicht deren Ursache bilden könne. Das moralische Gesetz allein könne folglich auch noch keinen „notwendigen Zusammenhang zwischen Sittlichkeit und der ihr proportionierten Glückseligkeit“ bedeuten. Da der Mensch nicht selbst Urheber der Welt ist, sei auch das von ihm geschaffene moralische Gesetz kein Garant unbedingter Glückseligkeit. „Gleichwohl wird in der praktischen Aufgabe der reinen Vernunft, d. i. der notwendigen Bearbeitung zum höchsten Gute, ein solcher Zusammenhang als notwendig postuliert: wir sollen das höchste Gut (welches also doch möglich sein muß) zu befördern suchen.“⁵⁶⁷ Da der endliche Mensch, der nicht über die gesamte Welt verfügt, somit auch nicht als Garant einer Übereinstimmung von Sittlichkeit und Glückseligkeit fungieren könne, wird ein höchstes Wesen angenommen, welches diesen Zusammenhang sichere. Tillichs Kritik zielt darauf, dass es sich bei diesem Schluss jedoch um ein theoretisches Postulat handele und damit die praktische Seite einer Begründung des Religionsbegriffs verlassen worden sei, was Kant nicht reflektiere. Dieser behauptet vielmehr es handele sich bei seinen Postulaten „nicht [um] theoretische Dogmata, sondern [um] Voraussetzungen in notwendig praktischer Rücksicht […].“⁵⁶⁸ Tillich sieht in Kants Kritik der reinen Vernunft insofern keinen Wesensbegriff von Religion realisiert, als ihr keine notwendige Funktion zukomme, sondern sie lediglich eine „psychologische Stütze für die Selbstgewißheit des Moralischen [darstelle], eine Stütze, deren Wegfall diese Selbstgewißheit nicht brechen würde.“⁵⁶⁹ Weiterhin kritisiert Tillich die reine Richtung des Religiösen auf die unbedingten Formzusammenhänge bei Kant, die im moralischen Gesetz auf die Strukturen der „Reinheit und Erhabenheit“⁵⁷⁰ zielen. Das Religiöse werde auf diese Weise also nicht in einem die reine Form durchbrechenden religiösen Gehalt gesucht.
Kant, I., Kritik der praktischen Vernunft, S. 257 (A 227, 228). A.a.O., S. 255 (A 224, 225). A.a.O., S. 264 (A 238, 239). EN, Bd. XII, S. 431. A.a.O., S. 432.
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1 Apriorischer Wahrheitsbegriff und Methode
1.3.1.4 Tillichs Kritik an der Kantrezeption Hegels und Schleiermachers Die meisten der zuvor erörterten Methoden wurden von Tillich hinsichtlich ihrer wesentlichen Merkmale unabhängig von ihrer zeithistorischen Ausprägung erörtert. Insgesamt wurde deutlich, dass Tillich die Methoden im Hinblick auf ihr Potential, das Wesen von Religion zu fassen, ablehnt. Die supranaturalistische Methode wird von ihm einerseits kritisiert, da von geoffenbarter Religion ausgehend alle anderen Religionen als falsch bewertet werden würden, andererseits der Drang zur verallgemeinernden Darstellung die eigene Religion auf eine Minimalformel zuspitze, die an dem eigentlichen Wesen der Religion vorbeiziele. Die spekulativ-rationalistische Methode wird abgelehnt, da sie theoretisch einen Gottesbegriff deduziere, der als transzendentes Objekt vorausgesetzt werde, ohne zu reflektieren, dass dieser Gottesbegriff selbst nur ein theoretisches „Meinen“ sei. Gegen die empirische Methode wird der kritische Einwand hervorgebracht, der Allgemeinbegriff von Religion könne nicht aus dem gewonnen werden, was allen Religionen gemeinsam zugrunde liege. Dieser Religionsbegriff sei einerseits zu unspezifisch und präsupponiere andererseits bereits ein bestimmtes Auswahlprinzip, weshalb auch er das Wesen von Religion verfehle. Es wurde besonders ersichtlich, dass alle Methoden bereits auf bestimmten Prämissen beruhen, die den eigenen religiösen Standpunkt absolut setzen, indem sie unbewusst die empirischen Erscheinungsformen von Religion nach einem Kriterium beurteilen, welches einer subjektiven Perspektive erwächst oder Gott – ebenfalls von einem subjektiven Standpunkt ausgehend – wie einen beweisbaren Gegenstand theoretisch herleiten. In der RP (1925) fasst Tillich seine Vorbehalte gegenüber den erörterten Methoden wie folgt zusammen: „Sie [die Religionsphilosophie] geht von der Erkenntnis aus, daß ein geistiger Wesensbegriff weder durch Abstraktion aus den Einzelerscheinungen noch durch Betrachtung seiner Entstehung und Gestaltung im Einzelobjekt, in der Gesellschaft und der Gesamtgeschichte zu erfassen ist.“⁵⁷¹ All diese Methoden präsupponieren bereits einen bestimmten Wesensbegriff von Religion, da jede Abstraktion „schon ein Bewußtsein um das voraus[setzt], was durch Abstraktion gewonnen werden soll.“⁵⁷² Um zu beurteilen, ob eine konkrete geschichtliche Erscheinungsform einer Religion (z. B. der Buddhismus) als Inbegriff des Wesens von Religion gelten könne, müsse bereits entschieden sein, was unter „Religion“ zu verstehen ist. Tillich lehnt folglich sowohl „die psychologischen, soziologischen und entwicklungsgeschichtlichen Erklärungen der Religion“⁵⁷³ ab. Diese können lediglich die „Formen aufzeigen, in
GW, Bd. I, S. 304. Ebd. Ebd.
1.3 Methodenreflexion und Religionsbegriff Tillichs
171
denen die Religion im seelischen und sozialen Leben in Erscheinung tritt, nicht aber das Wesen selbst.“⁵⁷⁴ Die phänomenologische Methode, die das intuitive Moment in den Fokus rückt, wurde von Tillich besonders gewürdigt. Allerdings sei sie nur auf kritischem Boden gangbar. Um das kritische Moment führe keine Wesensbeschreibung des Religiösen herum. Und doch seien bestimmte Versuche in der Vergangenheit, an die kritische Methode anzuknüpfen, laut Tillich, gescheitert. Im Folgenden soll in aller Kürze darauf eingegangen werden, wie Tillich die Rezeption des kritischen Momentes durch Hegel und Schleiermacher beurteilt. Die erkenntnistheoretische Methode werde immer wieder an einen Punkt geführt (Tillich verortet diesen Punkt innerhalb der Deduktion der Kategorien⁵⁷⁵), an dem die Frage nach einem Jenseits der dem Bewusstsein zugrundeliegenden Formen, die die Erscheinung von Gegenständen ermöglichen und zum synthetischen Erkennen der Welt führen, aufkomme. Kant konnte mit seiner kritischen Analyse zwar die Grenzen des menschlichen Bewusstseins umreißen, die Frage nach dem Übersinnlichen jedoch nicht dadurch klären, dass er die Bedingungen und das Zustandekommen synthetischer Urteile a priori veranschaulichend darstellte. Was ungeklärt geblieben ist, sei die Frage nach der Realität des Absoluten und dessen Explikation und Erscheinungsform im Bedingten, welches in Form einer Bezogenheit des menschlichen Bewusstseins auf das Unbedingte zur Geltung komme. Als diejenigen Philosophen, die sich auf dem Boden der kritischen Erkenntnistheorie Kants mit dem Religiösen beschäftigt haben, führt Tillich sowohl Hegel als auch Schleiermacher auf. Beiden gemeinsam sei die sie über den Kantischen reinen Formalismus hinaustreibende Beschäftigung mit dem Problem des „Bewusstseins überhaupt“, welches für Tillich identisch ist mit dem Realitätsproblem. Bereits bei Hegel sei insofern eine gelungene Symbiose von kritischem und spekulativem Moment erreicht, als bereits dieser das Absolute nicht als gegenständlich, sondern als Funktionsbegriff fasse.⁵⁷⁶ Der Verdienst einer Symbiose von Spekulation und Kritik äußert sich laut Tillich darin, dass das … … Absolute nicht das absolute Ding [ist], das über der Welt steht, sondern die absolute Funktion, das absolute Bewußtsein, von dem die Welt getragen ist. Infolgedessen ist nicht ein dingliches Verhältnis zu ihm möglich […], sondern der individuelle Geist ist dann selbst
Ebd. EN, Bd. XII, S. 384. Vgl. a.a.O., S. 384 f. Gelungen deshalb, da er Hegel nicht vorwirft, das Absolute gegenständlich zu fassen: „[…] namentlich Hegel gegenüber muß man sich hüten, die vielen Male, in denen er das Absolute anscheinend wie einen Gegenstand jenseits der Welt hinstellt, wörtlich zu nehmen.“
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1 Apriorischer Wahrheitsbegriff und Methode
getragen vom Absoluten und das Verhältnis ist das der Identität, des Einsseins des absoluten und relativen Bewußtseins. Der Ansatzpunkt ist also religiös.⁵⁷⁷
Fraglich bleibt, wie Tillich das absolute Bewusstsein denkt. Von einer gegenständlichen Fassung ist abzusehen; folglich ist davon auszugehen, dass Tillich es statt eines „Seinsbegriff[s]“ bzw. eines absoluten Bewusstseins als ein Allgemeinbegriff, als „‚überhaupt ein Bewußtsein’“ interpretiert.⁵⁷⁸ Die absolute Funktion fällt damit ins endliche Bewusstsein, welches sich in seiner eigenen Bezogenheit auf einen absoluten Sinn bzw. eine absolute Realität reflektiert und sich als vom Absoluten getragen weiß. Über das rein Kritische ist damit insofern hinausgegangen, als der Mensch mittels seiner Vernunft zu einer Gewahrwerdung des Absoluten gelangen kann. Bei einer rein kritischen Analyse des Bewusstseins kann nach Tillich nicht stehen geblieben werden, wenn sich die Frage nach Gott stellt. Doch das Vergegenständlichen des Absoluten führe ebenfalls von Gott weg, indem es sich lediglich als ein Reflexionsprozess des eigenen subjektiven Standortes erweise. Tillich rechnet der Methode, die das spekulative und kritische Moment vereint als positiv an, dass … … Gott und das Absolute noch nicht gleichgesetzt [werden], es wird also der logische Fehler vermieden, das, was man beweisen will, schon vorauszusetzen, indem man es Gott nennt, sondern es ist das Bewußtsein, das gewissermaßen Gott als Gott schafft, oder es ist die absolute Funktion, die sich selbst in der relativen anschaut und in dieser Anschauung religiös ist. Damit ist erkannt, daß Gott nur von der Religion her, nicht umgekehrt, erfaßt werden kann. Der Weg zu Gott geht über die Religion; der Weg zur Religion aber geht über das Absolute.⁵⁷⁹
Die Prämisse einer Identität des relativen und absoluten Bewusstseins im menschlichen Geist setzt voraus, dass das Absolute, indem es als Funktionsbegriff gedacht wird, gleichzeitig eine Setzung des relativen Bewusstseins darstellt, durch welche dieses seine Realitätsbeziehung aktualisiert. Tillich illustriert in dem obigen Zitat, dass nur von einem religiösen Standpunkt aus zu Gott gelangt werden könne. Damit bezieht er sich auf das reformatorische Erbe der Unmöglichkeit, Gott außerhalb des Religiösen (z. B. durch theoretisch-rationale Vernunfttätigkeit und folglich auf Basis eines objektiv-gegenständlichen Gottesbegriffs) erfassen zu können. Tillich versteht, gemäß seiner funktionellen Interpretation des Gottesbegriffs, folglich sowohl den „absolute[n] Geist“⁵⁸⁰ He
A.a.O., S. 385. A.a.O., S. 384. A.a.O., S. 385. Ebd.
1.3 Methodenreflexion und Religionsbegriff Tillichs
173
gels als auch das „absolute[…] Ich“⁵⁸¹ Fichtes als „Funktionen des Bewußtseins“⁵⁸², durch welche „Natur und Geist […] von dem Gesichtspunkt der Synthesis, der Einheit des Bewußtseins aus erfaßt“⁵⁸³ werden. Damit, dass der absolute Geist Hegels Bewusstseinsfunktion sei, meint Tillich jedoch nicht, dass das Absolute nur Bewusstseinsprodukt eines individuellen Geistes ist. Denn unter absoluter Funktion versteht er das absolute Bewusstsein, welches das Absolute selber ist. Indem es Bewusstseinsfunktion ist, bringt es sich im menschlichen Geist zur Erscheinung. Dennoch rechnet Tillich Hegel zum Verdienst an, dass er das Absolute nicht „wie einen Gegenstand jenseits der Welt“⁵⁸⁴ interpretiert. Ein Blick in Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Religion I soll im Folgenden noch einmal Aufschluss darüber liefern, wie Hegel das absolute Bewusstsein denkt. Als Setzung und Funktion des Bewusstseins erscheint es nur insofern, als sich das Absolute im Bewusstsein selbst setzt und damit absolute Funktion ist. Hegel interpretiert Gott zwar nicht als ein metaphysisches Objekt, welches es sich anzueignen gilt, jedoch auch nicht als reine Bewusstseinskonstruktion. Das Absolute ist für Hegel sehr wohl als eine vom menschlichen Bewusstsein unabhängige Realität zu denken, die jedoch nur vermittelst des Besonderen zu ihrer Einheit und somit zu sich selbst gelangen kann. Das Absolute wird folglich als ein sich selbst Verwirklichendes und Dynamisches verstanden. Dabei wird es zunächst als absolute Substanz gedacht, als das Allgemeine, welches „noch nicht gefaßt ist als konkret in sich“⁵⁸⁵. Es bildet die absolute Grundalge alles Endlichen, welchem als Akzidentellem keine Selbständigkeit zukommt. Das endliche Sein wird hingegen als ein nur Getragenes, Gesetzes verstanden, welches „nicht wahrhafte Selbständigkeit hat“⁵⁸⁶, während das Absolute als das „absolut selbständige Sein“⁵⁸⁷ aufgefasst wird. Sowie das Substantielle sich konkret in sich erfasst und bestimmt, transformiert es sich in Geist. Das Absolute wird also bei Hegel als absolute Substanz und demnach als „die allein wahrhafte Wirklichkeit“⁵⁸⁸ interpretiert. Das menschliche Bewusstsein versteht sich als ein vom Absoluten gesetztes Akzidentelles. Hegel betont in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religion mehrfach, dass es sich bei der Offenbarung und Expli-
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Hegel, G.W.F., Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, S. 94. A.a.O., S. 93. Ebd. A.a.O., S. 94.
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1 Apriorischer Wahrheitsbegriff und Methode
kation des Begriffs im Bedingten um einen notwendigen Prozess handelt, der vom Begriff selbst ausgeht: Von dem Endlichen, mit dem wir anfangen, sagt uns daher nicht unsere Reflexion und Betrachtung, unser Urteil, daß es ein Wahres zu seinem Grunde habe, nicht wir bringen seinen Grund herbei, sondern es zeigt an ihm selbst, daß es sich in ein Anderes, in ein Höheres, als es selbst ist, auflöse. Wir folgen dem Gegenstande, wie er zur Quelle seiner Wahrheit für sich selbst zurückgeht.⁵⁸⁹
Das Explizit-Werden des Göttlichen im und am Endlichen ist folglich allein Gottes Tun. Der Gang des Begriffs folgt einer Bewegung des Absoluten als eines Heraustretens aus dem Zustand des substantiellen Für-sich-seins in die Bestimmtheit, in welcher das Verhältnis besteht und er wesentlich Bewusstsein, und damit für ein Anderes, ist, bis hin zu einem Zustand, in dem der Geist schließlich zu seinem „absoluten Bewußtsein“ gelangt. Dies ist gleichsam „die Vollendung des Bewußtseins […], daß der wahrhafte Gegenstand für es sei“⁵⁹⁰. Gleichzeitig ist in diesem Zustand die Substanz für sich selbst, was mit Selbsterkenntnis bzw. Selbstbewusstsein einhergeht, sodass sie sich letztlich in ihrer Selbstreflexion in einen höheren Bewusstseinszustand manövriert hat. Auch kann das Verhältnis des relativen und absoluten Bewusstseins nicht als Identitätsverhältnis gedeutet werden. Laut Hegel ist Gott nicht das relative Bewusstsein, sondern er realisiert sich in ihm als einer Station des Geistes auf dem Weg seiner inneren Entwicklung zu sich selbst. Als Verdienst Hegels führt Tillich das Moment der „Realität des religiösen Erlebnisses“ auf, welches Hegel, indem er von der Selbsterkenntnis des absoluten im relativen Geist ausgeht, „als Realisierung oder Existenzwerdung Gottes im religiösen Akt“ beschreibe. Allerdings kritisiert Tillich die „falsche metaphysische Hypostasierung“ des Geistbegriffs, indem Hegel einen absoluten Geist propagiere, der durch den Geschichtsprozess real hervorgebracht werde.⁵⁹¹ Die Existenz eines absoluten Geistes sucht Tillich hingegen in eine lediglich bewusstseinsinterne Konstruktion aufzulösen, indem er ihn seiner Absolutheit entkleidet und ihn stattdessen als einen Geist zu fassen sucht, der „in sich durch das Unbedingtheitserlebnis im formalen wie im realen Sinne den Sinn der Absolutheit, die Beziehung auf den reinen Gehalt“⁵⁹² zum Ausdruck bringt. Im Unterschied zu Hegel versteht Tillich unter Absolutheit also keine reale Verwirklichung eines
A.a.O., S. 107. A.a.O., S. 112. EN, Bd. XII, S. 427. A.a.O., S. 428.
1.3 Methodenreflexion und Religionsbegriff Tillichs
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absoluten Geistes innerhalb der Geschichte (im Sinne eines wirklichen Existierens des absoluten Geistes als Endliches), sondern einen bewusstseinsinternen, inneren Sinn des Geistes (gemeint ist das menschliche Bewusstsein), der in einer Haltung absoluter Bezogenheit auf den reinen Gehalt zum Ausdruck kommt. Die Verwirklichung Gottes im Bedingten kann stets nur Richtung des Bewusstseins auf Gott sein, nie aber wirkliche Existenzwerdung Gottes im Sinne eines Eingehens in die Form der Bedingtheit. Den Verdienst der Kant-Rezeption Schleiermachers sieht Tillich primär in einer psychologischen Vertiefung der kritischen Transzendentalphilosophie. Schleiermachers Ansatz steht dabei der Tillichschen Methode von allen genannten am nächsten, mit der Einschränkung, dass Tillich das Religiöse als unabhängig von den drei Bewusstseinsfunktionen expliziert haben möchte. Ähnlich wie Hegel⁵⁹³ identifiziert jedoch auch Schleiermacher die Religion mit einer bestimmten Bewusstseinsfunktion – dem Gefühl. Indem er dieses genauer als „schlechthinnige[s] Abhängigkeitsgefühl“⁵⁹⁴ spezifiziert, entwickele er laut Tillich den Religionsbegriff in zwei Richtungen: Erstens trage das Attribut „schlechthinnig“ dem kritischen Moment Rechnung, indem es „aus einer wirklich intuitiven Analyse der religiösen Funktion“⁵⁹⁵ entwickelt worden sei. Damit sei gleichzeitig das sich stets in Form von Gegenständlichkeit explizierende Verhältnis des Bewusstseins zum Absoluten innerhalb der idealistischen Methode überwunden.⁵⁹⁶ Vielmehr gelinge es mittels des intuitiven Moments, die Funktion des Religiösen so zu beschreiben, dass die Intuition auf den religiösen Akt selbst und nicht auf das zu erkennende Objekt gerichtet sei. Der Begriff „schlechthinnig“ rekurriere Vgl. Hegel, G.W. H.,Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, S. 67: Hegel würde zwar nicht von „Bewusstseinsfunktion“ sprechen, dennoch kann man sagen, dass bei Hegel das Religiöse eher auf das Erkennen geht und wesentlich durch das Denken explizit wird. Die Religion wird bei ihm nicht einer übergeordneten, selbständigen Bewusstseinsfunktion zugesprochen, sondern das Religiöse wird innerhalb des menschlichen Denkvermögens verortet. So hießt es: „[…] die Religion ist nur durch das Denken und im Denken. Gott ist nicht die höchste Empfindung, sondern der höchste Gedanke.“ Analog zu dieser Vorstellung sei „die Religionsphilosophie erst […] die Entwicklung, Erkenntnis dessen, was Gott ist, und durch sie erfährt man erst auf erkennende Weise, was Gott ist.“ Vgl. EN, Bd. XII, S. 427: Tillich interpretiert Hegel so, dass er die Religion dem Denken zuordnet, als einer der drei Bewusstseinsfunktionen: „Die letzte und tiefste Form, die Religion als Erkennen zu definieren, ist die Hegelsche. Nach Hegel ist Religion Selbsterfassung des absoluten Geistes durch den relativen hindurch in Form der Vorstellung.“ EN, Bd. XII, S. 387. Ebd. Es ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass Tillich der idealistischen Methode eine gegenständliche Fassung des Gottesbegriffs vorwirft und dies keinesfalls dem deutschen Idealismus entspricht.
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dabei nicht auf psychologische Phänomene wie Furcht oder Trieb als einer immanenten Bewusstseinskomponente, der nachträglich eine religiöse Funktion bzw. ein religiöser Zweck beigemessen werde. Vielmehr beziehe sich der Begriff „schlechthinnig“ auf das Moment der Absolutheit, welches jeder intuitiven Analyse des Bewusstseins zugrunde liege.⁵⁹⁷ Durch dieses werde in intuitiver Analyse die Bezogenheit des Bewusstseins auf das Unbedingte in ihrer Doppelfunktion erschaut, die sich in dem Verhältnis des absoluten Gegensatzes und der absoluten Identität des Denkens mit dem schlechthin Seienden expliziert, worauf die Momente der Freiheit und Abhängigkeit hinweisen. Das Moment der Absolutheit im religiösen Gefühl (expliziert durch den Begriff „schlechthinnig“) steht im Gegensatz zu einer nur relativen Abhängigkeit, die im Verhältnis des Menschen zur Welt gründet. Schleiermacher geht davon aus, dass in jedem Selbstbewusstsein zwei Elemente enthalten sind: ein „Selbstsetzen und ein Sichselbstnichtsogesetzthaben, oder ein Sein und ein Irgendwiegewordensein […]“. „Das eine Element drückt aus das Sein des Subjektes für sich, das andere sein Zusammensein mit anderem“, von welchem das Subjekt stets abhängig ist.⁵⁹⁸ Das Subjekt sei also stets einem wandelnden Zuständigkeitsbewusstsein unterlegen, wobei der Grund dieser wechselnden Bestimmtheit nicht im Selbst liegen könne. Vielmehr sei die Veränderlichkeit hervorgerufen durch die das Selbst mitbestimmenden äußeren Dinge. In Bezug auf die Welt sind Freiheits- und Abhängigkeitsbewusstsein stets in einem Wechselverhältnis vorhanden als ein Wirken und Bedingt-Sein gleichzeitig. Während es nach Schleiermacher kein absolutes Freiheitsbewusstsein gebe, gründe das absolute Abhängigkeitsbewusstsein im Gottesverhältnis. Es könne „auf keine Weise von der Einwirkung eines uns irgendwie gebenden Gegenstandes ausgehn, denn auf einen solchen würde immer eine [im Freiheitsbewusstsein gründende] Gegenwirkung stattfinden.“⁵⁹⁹ Folglich könne eine schlechthinnige Abhängigkeit nur eine solche sein, die das Freiheitsbewusstsein mit einschließe und daher ein Bewusstsein voraussetze, welches davon ausgeht, „daß unsere ganze Selbsttätigkeit ebenso von anderwärts her ist […]“⁶⁰⁰. Schlechthinnige Abhängigkeit und Bezogenheit auf Gott werden von Schleiermacher als identisch erachtet, was bedeutet, „daß eben das ein diesem Selbstbewußtsein mitgesetzte Woher unseres empfänglichen und
Vgl. Schleiermacher, F., Der christliche Glaube, S. 23, Fußnote a: „Schlechthinnig gleich absolut.“ A.a.O., S. 24. A.a.O., S. 28. Ebd.
1.3 Methodenreflexion und Religionsbegriff Tillichs
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selbsttätigen Daseins durch den Ausdruck Gott bezeichnet werden soll […].“⁶⁰¹ Mit diesem Woher meint Schleiermacher jedoch „nicht die Welt in dem Sinne der Gesamtheit des zeitlichen Seins, und noch weniger irgendein[en] einzelne[n] Teil derselben“⁶⁰², sondern dasjenige, welches der Welt als ihr Ursächliches zugrunde liegt. Im Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit fallen die beiden Momente, „die vollkommenste Überzeugung, daß alles in der Gesamtheit des Naturzusammenhanges vollständig bedingt und begründet ist, und die innere Gewißheit der schlechthinnigen Abhängigkeit alles Endlichen von Gott vollkommen zusammen.“⁶⁰³ Tillich deutet das Abhängigkeitsgefühl als ein spekulatives Moment, welches von Schleiermacher in das religiöse Gefühl integriert worden sei, indem er es als auf das Universum bezogen interpretiert. Dies sei eine unzulässige „Vergegenständlichung der Unbedingtheit mit Hülfe der Totalität“⁶⁰⁴, die vom Absoluten wie von einem Existierenden spreche. Schleiermacher wird unterstellt, … eine Anleihe bei dem Kantisch gewendeten Spinoza [zu machen], das heißt bei Schelling. Wollte man behaupten, daß in dem Abhängigkeitsgefühl a priori die Beziehung auf das Absolute gegeben wäre, so ist dies durchaus irrtümlich. Denn die Beziehung auf ein gegenständliches Absolutes transcendiert die Unmittelbarkeit der kritischen Analyse durchaus. Es ist eine Hinzufügung, die methodisch unbegründet ist […].⁶⁰⁵
Die Ausführungen des obigen Exkurses, die eine nähere Bestimmung des Abhängigkeitsgefühls enthalten, können als Kritik an Tillichs Urteil aufgeführt werden, Schleiermacher setzte mit der Darstellung des Gefühls der Abhängigkeit A.a.O., S. 28 – 29. A.a.O., S. 29. A.a.O., S. 228. EN, Bd. XII, S. 437. A.a.O., S. 387 u. 388. Vgl. ST I, S. 53: In seiner späten ST kritisiert Tillich weder die spekulativen Anklänge noch das Moment der Abhängigkeit bei Schleiermacher. Seine Kritik zielt vielmehr auf das Medium der Erfahrung, welches als Quelle des christlichen Inhalts dient. „Das Ereignis, auf dem sich die Christenheit gründet […] ist [nach Tillich jedoch] nicht aus der Erfahrung abgeleitet, es ist gegeben in der Geschichte. Erfahrung ist nicht die Quelle, aus der die Inhalte der systematischen Theologie genommen werden können, sondern das Medium, durch das sie existentiell empfangen werden.“ Dieser Kritik geht die Prämisse voraus, dass der in der Schleiermacherschen Glaubenslehre entwickelte Erfahrungsbegriff von einer Übereinstimmung von Erfahrung und Wirklichkeit ausgeht und somit die Kluft zwischen Subjekt und Objekt missachtet. Tillich urteilt jedoch, dass durch einen solchen Gebrauch der Erfahrung als Quelle der systematischen Inhalte, „in dem theologischen System nichts erschienen [kann], was die Gesamtheit der Erfahrung überschreitet. Ein göttliches Wesen im traditionellen Sinne ist in solch einer Theologie ausgeschlossen.“ (S. 54).
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ein gegenständliches Absolutes voraus, auf welchen sich diese Abhängigkeit richte. Vielmehr weist Schleiermacher selbst jede Interpretation von sich, die von einem existierenden Absoluten ausgeht, womit es wiederum zu einem Teil der Welt würde, von dem eine nur relative Abhängigkeit ausgesagt werden könnte.⁶⁰⁶ Das Moment der Abhängigkeit, welches bedingt sei durch das Gefühl des „Sichselbstnichtsogesetzthabens“ und folglich ein anderes voraussetze, durch welches das Menschsein bedingt sei, werde – so Schleiermacher selbst – „in dem unmittelbaren Selbstbewußtsein, mit dem wir es hier zu tun haben, nicht gegenständlich vorgestellt.“⁶⁰⁷ Hingegen betont Schleiermacher, dass das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit „gar nicht davon ab[hängt], daß einem soweit entwickelten Subjekt irgend etwas Bestimmtes äußerlich gegeben, sondern nur, daß das sinnliche Selbstbewußtsein irgendwie von außen aufgeregt werde.“⁶⁰⁸ Schleiermacher geht sogar so weit, das Gottesverhältnis, in welchem Gott als Seiend gedacht wird, als ein Verhältnis der „Gottlosigkeit“ zu bezeichnen; „denn was leidenschaftsfähig vorgestellt wird, davon kann es keine schlechthinnige Abhängigkeit geben, weil eine selbsttätige Einwirkung darauf möglich ist.“⁶⁰⁹ Folglich sei in dem Gefühl der Abhängigkeit das beschrieben, was im Gefühl jeder „christlich frommen Erregung mit enthalten“⁶¹⁰ sei und was durch das Bewusstsein, selbst ein Teil der Welt zu sein, evoziert werde. Das Gefühl, sich selbst als schlechthin abhängig zu erachten, sei ein reiner „Gemütszustand“⁶¹¹ und setze als solcher kein gegenständlich Gegebenes voraus, womit es in dinglicher Beziehung stünde. Der Schleiermachersche Ansatz ist dem Tillichschen also sehr verwandt, indem auch er mittels intuitiver Analyse das menschliche Bewusstsein in seiner „Richtung auf das Gottesbewußtsein“⁶¹² untersucht. Dabei reflektiert Schleiermacher selbst darauf, dass der zweite und dritte Teil seiner Glaubenslehre (die Lehre von den göttlichen Eigenschaften und von der Beschaffenheit der Welt in Bezug auf die schlechthinnige Abhängigkeit als von Gott gesetzte) der Gefahr spekulativer Anklänge unterliegt. Allerdings sucht er strikt zu verhindern, dass beide Vgl. Schleiermacher, F., Der christliche Glaube, S. 184: Indem Gott als gegenständlich gedacht wird, erscheint „das Unendliche selbst als ein Abhängiges […] von dem Endlichen, welches vielmehr schlechthin abhängig von ihm gesetzt war. Dann also würden sie [die göttlichen Darstellungen] nicht mehr dem frommen Selbstbewußtsein, dessen Ausdruck sie doch sein sollen, entsprechen.“ A.a.O., S. 24. A.a.O., S. 175. A.a.O., S. 176. A.a.O., S. 180. A.a.O., S. 183. A.a.O., S. 175.
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Teile, indem sie Gott und die Welt zum Subjekt ihrer Sätze machen „[…] von ihrem Subjekt etwas aussagen, was über den unmittelbaren Inhalt jenes Selbstbewußtseins hinausgeht“⁶¹³ und damit ins Spekulative abdriften. Vielmehr legt Schleiermacher in seiner göttlichen Eigenschaftslehre bewusst fest, dass alle „Eigenschaften, welche wir Gott beilegen, […] nicht etwas Besonderes in Gott bezeichnen [sollen], sondern nur etwas Besonderes in der Art, das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl auf ihn zu beziehen.“⁶¹⁴ Es liegt also ferne, Schleiermacher so zu interpretieren, dass der Gegenstand, auf den sich das Abhängigkeitsgefühl schlechthinnig richtet, absolut gesetzt werde. Vielmehr wird mit dem Abhängigkeitsbewusstsein ebenso wie durch das Attribut „schlechthinnig“ eine intuitive Analyse des frommen Bewusstseins dargestellt. Als Verdienst der Schleiermacherschen Glaubenslehre hebt Tillich hervor, dass dessen Religionsbegriff die Doppelheit des Unbedingtheitserlebnisses berücksichtige. „Denn in der Abhängigkeit liegt einerseits die Kapitulation des Denkens vor dem schlechthin Seienden, andererseits die Sehnsucht, mit ihm eins zu werden“⁶¹⁵. Diese Doppelrichtung sei jedoch nicht deutlich genug herausgearbeitet worden. Zusammenfassend lässt sich aus dem Vorangehenden über das Religionsverständnis Tillichs schlussfolgern, dass Religion eine selbstständige Bewusstseinsfunktion darstellt, die nur in Form eines Selbstverhältnisses – indem das menschliche Bewusstsein auf die ihm inhärente doppelte Struktur einer Bezogenheit auf das Unbedingte einerseits bei gleichzeitiger Entfremdung von ihm andererseits – und mittels intuitiv-kritischer Analyse des religiösen Bewusstseins als Erzeugung eines Realitätsbezugs des Menschen expliziert werden kann. Diese wird durch die Richtung des Bewusstseins auf Gott als einheitliche Konstruktion der Wirklichkeit aktualisiert. Gleichzeitig möchte Tillich sich von den Begriffen Freiheit und Abhängigkeit im Hinblick auf die Explikation des Gottesbegriffs distanzieren, da das Moment der Abhängigkeit für ihn „eine Begrenzung des Unbedingtheitserlebnisses“⁶¹⁶ bedeutet. Statt der Dualität von Freiheit und Abhängigkeit sucht Tillich nun das Gottesbewusstsein durch das Prinzip „des absoluten Gegensatzes und der absoluten Identität“⁶¹⁷ zu begründen. Dieser Gegensatz liege in der Funktion des menschlichen Bewusstseins, sich im autonomen Denken außerhalb Gottes setzen zu können, begründet. Andererseits steht das Denken nach Tillich in einem substantiellen Verhältnis zu Gott, welches als re
A.a.O., S. 184. A.a.O., S. 255. EN, Bd. XII, S. 437. Ebd. A.a.O., S. 437.
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ligiös bezeichnet werden kann. Es „ruht […] schlechterdings auf dem Sein“⁶¹⁸. Als bedeutsam hebt Tillich hervor, dass das Religiöse für ihn nicht in einer einzelnen Bewusstseinsfunktion aufgeht. Vielmehr liegt es diesen als ihr Konstituens zugrunde. Zudem ist Gott nicht als gegenständlich zu denken. Die kritische Bewusstseinsanalyse zielt nunmehr auch darauf, nicht das religiöse Objekt, sondern den religiösen Akt selbst in den Fokus zu nehmen. Gott wird im religiösen Bewusstsein aktuell und kommt dort zu sich selbst. Im folgenden Kapitel wird nun als Ergebnis der Methodenreflexion der Religionsbegriff Tillichs dargestellt werden.
1.3.2 Tillichs Methode der Religionsphilosophie und der Religionsbegriff Der methodische Ausgangspunkt der Tillichschen Religionsphilosophie ist durch seine vorangehende Methodenreflexion bereits veranschaulicht worden: Auf dem Boden der kritischen Transzendentalphilosophie wird das kritische Moment um ein intuitives ergänzt, welches aus einer Verbindung zwischen idealistischer und transzendentalpsychologischer Erfassung des Religionsbegriffs besteht. Über Kant hinaus führen ihn dabei das Vorhaben, der Religion eine angemessene Stellung im Geistesleben zuzuweisen, indem diese nicht mit einer der drei Bewusstseinsfunktionen identifiziert wird sowie die transzendentalphilosophische, kritische Durchführung des Phänomens Religion. Religion geht laut Tillich weder in einer einzelnen Bewusstseinsfunktion auf, noch stellt sie deren Gesamtheit dar. Vielmehr bildet sie als den drei Bewusstseinsfunktionen übergeordnete und folglich von ihnen losgelöste und apriorische Funktion deren sinngebende Fundierung und steht für die einheitliche Erfassung der Wirklichkeit ein. Der Religion kommt somit die Funktion zu, die Vielfältigkeit der Anschauungsformen der Wirklichkeit per Synthese zu einer Einheit zu verbinden. Als das diese Einheit Fundierende verweist sie gleichsam auf den Sinn des Seins und folglich dessen Grund. Danz weist zudem darauf hin, dass die Religion „deshalb für den Aufbau des Bewusstseins konstitutiv [sei], da die transzendentalgesetzlichen Formen des Bewusstseins [allein] nicht für den Realitätsbezug des Bewusstseins einstehen.“⁶¹⁹ Dieser ergibt sich erst aus dem Selbstreflexionsprozess des Denkens auf seine Doppelfunktion, sich selbst als schöpferisch und sinngebend zu erfassen und damit relativ zu sein, gleichzeitig jedoch per intuitiver Betrachtung des von ihm vollzogenen religiösen Aktes das Spannungsverhältnis der Wesenselemente
Ebd. Danz, C., Alle Linien gipfeln in der Religion des Paradox‘, S. 226.
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des Bewusstseins und dessen Bezogenheit auf Sinn zu erschauen, der ihm dann als lediglich vorläufig und bedingt erscheint. Es begreift sich an dem Punkt als auf Realität bezogen, als ihm gewahr wird, dass es selbst die von ihm produzierten sinngebenden Akte nicht in ihrer Unbedingtheitsdimension einholen kann und ihm dadurch die „Brutalität des schlechthin Seienden“, also der eigene Abgrund des Nicht-Erkennens seiner eigenen Voraussetzung bewusst wird. Dies ist für Tillich gleichzeitig der Ursprung der Religion. Moxter interpretiert Tillichs geltungstheoretisch-kritische Analyse der dem Bewusstsein zugrundeliegenden religiösen Kategorien als wegweisend für die Entwicklung einer „Kulturphilosophie“, indem sich die Religion als diejenige Funktion erweise, die die Einheit der drei Kulturfunktionen (denken, fühlen, handeln) und damit die Kultur selbst ermöglicht. Moxter sieht in diesem auf eine Kulturtheologie ausgerichteten Programm Tillichs eine Parallele zum Marburger Neukantianismus, von welchem er „die systematische Pointe eines Übergangs von der Geltungsfrage zur Einheit des Kulturbewusstseins unter der Leitfrage nach der konstitutiven Funktion“⁶²⁰ übernommen habe. Bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass die Kulturtheologie zwar aus den genannten Erörterungen erwächst und von Tillich vor allem in der RP (1925) im Kapitel Die Wesenselemente der Religion und ihre Relationen Erörterung findet, die Crux der RP-Vorlesung jedoch vielmehr in einer Rückkopplung der religiösen Funktion an den religiösen Akt besteht. Dadurch wird die Realitätsbeziehung des Denkens dahingehend aktualisiert, dass „das irrationale Denkerlebnis des dem Denken widerstehenden Seins überhaupt“⁶²¹ vom Bewusstsein als der „Sinn des Seins“⁶²² erfasst wird. Dieser Sinn des Seins besteht darin, dass das Bewusstsein das Denken als die ihm inhärente Form begreift und es gleichzeitig einen Widerstand in sich erlebt, der seine eigene Bestimmung darstellt. Indem das Denken das ihm Widerstehende nun als seine Bestimmung und damit als seinen Sinn begreift, räumt es ein, dass der „Sinn des Seins“ als „[…] das Unbedingte Voraussetzung des Bedingten, das heißt das unbedingte Realitätserlebnis […] Voraussetzung der Sinnmöglichkeit des Bedingten, der Erscheinungswelt“⁶²³ ist. Im Fokus der Tillichschen Religionsphilosophie steht folglich die Frage nach den Möglichkeiten religiösen Erlebens im Bedingten bzw. die Definition von „Religion als unbedingte[m] Realitäts-
Moxter, M., Kritischer Intuitionismus. Tillichs frühe Religionsphilosophie zwischen Neukantianismus und Phänomenologie, in: Danz, C., Schüßler, W. (Hrsg.), Religion – Kultur – Gesellschaft. Der frühe Tillich im Spiegel neuer Texte (1919 – 1920) (Tillich-Studien, Bd. 20), Berlin; Wien 2008, S. 180 – 181. EN, Bd. XII, S. 402– 403. A.a.O., S. 403. Ebd.
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oder Gehalts-Erlebnis“⁶²⁴ sowie eine Analyse der Verwirklichung dieses Religionsbegriffs innerhalb der empirischen Religionsgemeinschaften. Die Weiterentwicklung dieser Gedanken zu einer kulturtheologischen Reflexion erweist sich als Resultat dieser Überlegungen, bildet m. E. jedoch nicht das Hauptprogramm der Religionsphilosophie Tillichs. Im Folgenden wird die kritisch-intuitive Methode Tillichs auf ihre beiden Bestandteile hin beleuchtet werden. Insgesamt besteht sie aus einer Verbindung des kritischen, geltungsphilosophischen Moments mit einem idealistischen und „transcendentalpsychologische[n]“.⁶²⁵ Sie arbeitet kritisch, indem … … im Zusammenhang des Bewußtseins eine Funktion aufgewiesen werden muß, die zur Konstitution des Bewußtseins und damit der Erscheinungswelt notwendig ist und deren Charakterisierung sie in die Nähe derjenigen Erscheinung rückt, die in der phänomenologischen Erfahrungsbeschreibung als ‚Religionʼ gekennzeichnet wird.“⁶²⁶
Das Kritische an der Methode liegt folglich darin begründet, eine Funktion aufzuweisen, „die konstitutiv für die Erscheinungswelt ist, ohne die eine Synthesis der Mannichfaltigkeit in der Einheit des Bewußtseins nicht möglich wäre, ohne die also die Einheit der Wirklichkeit zerbrechen müßte“⁶²⁷. Das Kritische der Methode ist also der Nachweis der Notwendigkeit der Religion für die einheitliche Wahrnehmung der Wirklichkeit, das intuitive Moment rührt aus der Funktion des Bewusstseins sich auf sich und seine Voraussetzungen in Form einer inhaltlichintuitiven Analyse zu richten. Kritisch ist die Methode auch deshalb – dies kommt vor allem in der RP (1925) zum Ausdruck –, da sie sich „nur auf die Sinnformen richtet […], auf die Funktionen und Kategorien, durch welche Sinngegenstände konstituiert werden, die aber nicht selbst Gegenstände sind.“⁶²⁸ Alle vom Bewusstsein vollzogenen (Sinn‐)akte sind formbestimmt, insofern als auch das Erleben selbst für Tillich noch Form ist und eine Erfassung des Gehalts nie anders als durch die gültige Form hindurch erfolgen kann. Sowohl im System der Wissenschaften als auch in der RP (1925) ändert sich die Terminologie der kritisch-intuitiven in die der „metalogischen Methode“⁶²⁹. Diese Modifikation betont die Inklusion eines Logischen und eines Meta-Logischen Moments: Ersteres zeigt sich, indem die „Wendung zu reinen rationalen Formen A.a.O., S. 410. A.a.O., S. 391. Ebd. A.a.O., S. 392. GW, Bd. I, S. 313. A.a.O., S. 235, Anm. 2: Tillich gibt hier an, dass er die Terminologie „metalogisch“ von Troeltsch übernommen habe.
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aufrechterhalten bleibt“⁶³⁰ (das Logische korrespondiert also mit dem kritischen Moment), Letzteres erweist sich darin, dass auch „über das rein Formale […] hinausgegangen wird […] im Sinne einer Erfassung des in den Formen lebendigen Gehaltes“⁶³¹ (das „Meta“ entspricht also dem intuitiven Moment). Das aus der phänomenologischen Methode entlehnte intuitive Moment dient der Explikation der Notwendigkeit einer Bezogenheit des Bewusstseins auf Sinn. Im Gegensatz zur Phänomenologie werden dabei jedoch „Sinnprinzip und Sinngegenstand“⁶³² unterschieden, woraus die Integration eines „kritische [n] Ansatzpunkt[es] zur Erfassung der Sinnprinzipien“⁶³³ in die Methode resultiert. Der Sinn, den der Mensch einem Gegenstand zuschreibt, entspricht nicht automatisch dem Sinnprinzip (dem Gehalt). Näherhin richte das kritische Element innerhalb der Methode den Fokus auf den „sinnerfüllenden Charakter des Geistes“⁶³⁴, was wiederum nichts anderes als die auch durch das Moment der Intuition explizierte Bezogenheit des Bewusstseins auf Sinn meint, den das Individuum aktualisiert und der durch den von ihm vollzogenen religiösen Akt zum Ausdruck kommt. Tillich interpretiert das Göttliche folglich als einen Akt der Realisierung⁶³⁵, während die Phänomenologie „den Sinn in den Wesenheiten selber verwirklicht finde[t]“⁶³⁶, also jenseits des Bewusstseins und von ihm losgelöst. In der RP (1925) führt Tillich als Ziel der metalogischen Methode „die Schau der inneren Dynamik im Aufbau der Sinnwirklichkeit“⁶³⁷ auf. Damit intendiert er ein Erfassen des Spannungsverhältnisses der Sinnelemente, des Sinngehalts und der Sinnform. Dabei geht Tillich davon aus, dass es „keinen Gehalt, abgesehen von einer Form, und keine Form ohne Gehalt [gibt].“⁶³⁸ Die Annahme einer Existenz metaphysischer Wesenheiten, welche unabhängig von einem durch die Form hindurch realisierten Akt bestünden, wird nach dieser Vorstellung ausgeschlossen. Das
Ebd. Ebd. GW, Bd. I, S. 237. Ebd. Ebd. Vgl. ST I, S. 93: Auch noch in der ST versteht Tillich Gott als einen Akt der Realisierung. Ergreifende und umgestaltende Struktur der Vernunft stehen nach ihm in einem korrelativen Verhältnis. „Wir formen die Wirklichkeit dementsprechend um, wie wir sie sehen, und wir sehen die Wirklichkeit so, wie wir sie umformen.“ Dieses korrelative Verhältnis sieht Tillich im Johannesevangelium verwirklicht, „wenn es davon spricht, daß die Wahrheit nur erkannt wird, indem sie getan wird. Nur im handelnden Verwirklichen des Wahren manifestiert sich die Wahrheit.“ (Joh. 3,21). GW, Bd. I, S. 237. A.a.O., S. 313. A.a.O., S. 315.
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intuitive Moment ergibt sich aus der scheinbar notwendig mit menschlichem Denken einhergehenden Funktion der Selbstreflexion bzw. des Reflektierens des Denkens „auf seine eigene Existenz“⁶³⁹ und der damit einhergehenden Grenzerfahrung, die in der Einsicht in die Unauflösbarkeit des Seins in Denkbestimmungen besteht. Diese erfordert gleichsam die Anerkennung eines irrationalen Moments, welches im Denkakt selbst angelegt sei und durch den Bewusstwerdungsprozess des sich Reflektierens des Denkens hervortrete. Das intuitive Moment beschreibt bei Tillich nicht etwa einen Bewusstseinsprozess, der die absolute Wahrheit in der Betrachtung endlicher Gegenstände erschaut, sondern meint vielmehr das sich intuitiv erfassende Denken, welches sich selbst als ein Seiendes und damit als ein auf Realität Bezogenes begreift. In dieser Funktion erkennt das auf sich selbst und seinen Denkakt gerichtete Denken, dass es Momente der Wirklichkeit gibt, die nicht in Denkbestimmung aufgelöst werden können und ihm als fremd und damit irrational gegenüberstehen.⁶⁴⁰ Das intuitive Moment wird von Tillich auch als Synthese aus einem „spekulative[n]“ und einem „psychologische[n] Moment“⁶⁴¹ oder als „spekulative Psychologie“ erachtet. Das psychologische Moment äußert sich in der Richtung der Methode auf das Bewusstsein. „Aber das Bewußtsein nicht als psychologischer Vorgang, sondern als Princip der Erscheinungswelt. Darin ist sie [die Methode] spekulativ.“⁶⁴² „Eine Psychologie ist [also] spekulativ, wenn sie in den Bewußtseinselementen, die sie zu erfassen sucht, unmittelbar die Elemente der Wirklichkeit überhaupt erfaßt.“⁶⁴³ Sie ist es in dem Maße, in dem sie annimmt, das Individuum reproduziere mittels seines Denkvermögens unmittelbar die Strukturen der Wirklichkeit als solcher, sich diese folglich durch die Bewusstseinsprozesse hindurch aktualisiere. Spekulativ meint bei Tillich jedoch keine Erschließungskraft des Menschen, welcher mittels seiner Vernunft nicht nur die Erscheinungen von Gegenständen erfasst und diese konstruiert, sondern darüber hinaus auch die Fähigkeit besitzt, aus seinem individuell-subjektiven Bewusstsein heraus die hinter ihnen stehende Wahrheit zu erschauen.Vielmehr rekurriere EN, Bd. XII, S. 392. Vgl. GW, Bd. I, S. 126 – 127: Diese Form von Intuition unterscheidet sich von der im System der Wissenschaften im Zusammenhang der Erörterung der Denkwissenschaften dargelegten intuitiven Erkenntnishaltung. Denn dort wird über das rein Rational-Gegebene nicht hinausgegangen; vielmehr schließt die in sich ruhende Vernunft alles Zufällige, Transzendente, Fremde und Andersartige während der intuitiven Aneignung der Gegenstände aus, um zu evidenter und absoluter Erkenntnis eines Objektes durch das Subjekt zu gelangen. Intuition ist hier also gleichbedeutend mit einer demonstrativ-deduktiven Erkenntnisart. EN, Bd. XII, S. 392. A.a.O., S. 397. A.a.O., S. 392– 393.
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das intuitive Moment auf eine Selbsterfassung des Denkens oder des denkenden Bewusstseins. Ebenso ist auch das spekulative Moment bei Tillich trotz mystischer Anklänge nicht so zu verstehen, dass die Wahrheit der Gegenstände intuitiv erschaut würde, sondern so, „daß die Elemente der Wirklichkeit nicht irgendwo in der Außenwelt zu erfassen sind, sondern allein ‚im Menschen im Herzen’.“⁶⁴⁴ In Anlehnung an die indische Philosophie setzt Tillich also voraus, dass „[i]n der Erfassung des eigenen selbst […] das kosmische Selbst erfaßt [wird].“⁶⁴⁵ Damit ist das intuitive Erfassen nicht auf etwas Äußerlich-Gegenständliches gerichtet, sondern auf das Bewusstsein selbst und dessen Funktionen. Wenn Tillich von „kosmisch“ spricht, rekurriert er dabei stets auf die Kategorie der immanenten Totalität der Dinge und meint eine allem Sein zugrundeliegende Funktion, nicht eine sie übersteigende Unbedingtheit. Allerdings geht Tillich davon aus, dass die Strukturen des Bewusstseins den Strukturen der Wirklichkeit an sich entsprechen.⁶⁴⁶ Das Erschließen der Wirklichkeit im individuellen Bewusstseinsvorgang meint dabei lediglich, dass allen Individuen eine Strukturgleichheit zugrunde liegt (das Allgemeine), sie also aus denselben Gesetzen und Strukturen konstruiert sind und die religiöse Funktion, die sich im Sinnbezug durchsichtig werdende Unbedingtheitsfunktion des Bewusstseins, eine allgemein menschliche Funktion darstellt. Die Bedeutung des intuitiven Moments, welches als Irrationales gleichsam das „Gemeingut aller Mystik“⁶⁴⁷ darstelle, wird von Tillich besonders durch vier Aspekte illustriert, die im Folgenden einer genaueren Betrachtung unterworfen werden sollen: Erstens äußere sich das Irrationale vornehmlich – vor allem bei Böhme und Schelling – als Wille. Zweitens trete es in Polarität mit dem Rationalen. Mit dem zweiten Aspekt einher geht drittens das Vermögen des Irrationalen, die Problematik des „Ding an sich“ als die von Kant aufgezeigte Aporie menschlicher Erkenntnis, die sich nicht mehr rein rational erklären lässt, zu lösen. Zuletzt sei das Irrationale fähig, in die Bedeutung und Explikation religiösen (Realitäts‐)Erlebens bzw. des „Unbedingtheitserlebnis[ses] innerhalb des Bedingten“⁶⁴⁸ vorzudringen. Auf diese genannten Aspekte wird im Folgenden eingegangen werden:
A.a.O., S. 393. Ebd. Vgl., ST I, S. 93: So verhält es sich auch noch in seiner späten ST I (1954), wenn Tillich die subjektive Vernunft als „die Struktur des Geistes [interpretiert], die ihn befähigt, die Wirklichkeit auf Grund einer ihm entsprechenden Struktur der Wirklichkeit zu ergreifen und umzugestalten.“ EN, Bd. XII, S. 393. A.a.O., S. 405.
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Erstens: Tillich kritisiert Schellings Methode als spekulativ und unkritisch, da dessen „Erkenntnistheorie geradezu in spekulative Psychologie über[gehe]“ und – zumindest in seinen Spätschriften, der positiven Philosophie, – das Absolute mittels einer unkritischen „real gemeinte[n] transcendente[n] Mythologie“⁶⁴⁹ expliziert werde, die dazu neige, das Absolute zu vergegenständlichen. Das Irrationale werde folglich ohne dessen Verbindung mit dem kritischen Moment thematisiert. Vor allem in der „Charakteristik der ersten Potenz als des sich selbst wollenden irrationalen Willens“⁶⁵⁰ erkennt Tillich „geradezu eine kosmische Psychologie des Willens“.⁶⁵¹ Ein Blick in Schellings zu seinen Spätwerken zählende Philosophie der Offenbarung bestätigt diesen Befund: Schelling konstruiert den Schöpfungsprozess voluntaristisch als ein auf das Werden ausgerichteten und sich aus Potenzen erhebenden Prozess, welcher in der „Urpotenz“⁶⁵² als der „unendliche[n] Potenz des Seins“⁶⁵³ (erste Potenz) begründet liegt. Indem innerhalb dieser Urpotenz „zwei kontradiktorische Gegenteile“⁶⁵⁴ enthalten seien, die von Schelling als das „Seinkönnen“⁶⁵⁵ bzw. „übergehende“⁶⁵⁶ und das „sich selbst gleichbleibende“⁶⁵⁷ beschrieben werden, kommt der Schöpfungsprozess erst durch die Unterscheidung bzw. durch „das wirkliche Übergehen der ersten“⁶⁵⁸ (des „übergehenden“ bzw. „Seinkönnen“) zustande, wodurch die Differenz erst gesetzt wird. Gleichzeitig beschreibt Schelling diesen „Übergang a potentia ad actum […] [als einen] Übergang vom Nichtwollen zum Wollen.“⁶⁵⁹ Die treibende, schöpferische Kraft ist hier also der wollende Wille. Auch Ulrike Murmann hebt dies hervor, indem sie das „bloß Seinkönnende“⁶⁶⁰ bei Schelling als dasjenige Moment interpretiert, welches „ruhender, noch nicht wollender Wille“⁶⁶¹ sei, während „Wollen […] [als] wirkend gewordener Wille“⁶⁶²
A.a.O., S. 386. A.a.O., S. 393. Ebd. Schelling, F. W. J., Philosophie der Offenbarung 1841/42, Frankfurt am Main 1977, S. 102. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. A.a.O., S. 103. Ebd. Murmann, U., Freiheit und Entfremdung. Paul Tillichs Theorie der Sünde (Forum Systematik. Beiträge zur Dogmatik, Ethik und ökumenischen Theologie, Bd. 8), Stuttgart; Berlin; Köln 2000, S. 39, Fußnote 52. Ebd.
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bezeichnet werden könne. Das Wollen wird hier also als die treibende Schöpfungskraft beschrieben. Ihm liegt deshalb ein Irrationales zugrunde, da es als das dynamische Moment einen Gegensatz im Absoluten voraussetzt, in dem er sich unterscheidet. Auch in Schellings Freiheitsschrift kommt dieses Moment der Selbstunterscheidung in der Unterstellung einer Natur in Gott zum Ausdruck, die dessen Grund darstelle. Dabei stehen Gott und Natur in einem korrelativen, sich gegenseitig bedingenden und hervorbringenden Verhältnis. „Gott hat in sich einen inneren Grund seiner Existenz, der ihm folglich als Existierenden vorangeht; aber ebenso ist Gott wieder das Prius des Grundes, indem der Grund, auch als solcher, nicht sein könnte, wenn Gott nicht actu existierte.“⁶⁶³ Dieses Andere in Gott wird als Irrationales vorstellig, als der Wille, der als dynamisches Moment letztlich den Schöpfungsprozess hervorbringt und sich zunächst in Gott selber rege. Er ist die Sehnsucht, „die das Eine [also Gott] empfindet, sich selbst zu gebären.“ Diese Sehnsucht wird von Schelling auch als „der noch dunkle Grund [, als die] erste Regung göttlichen Daseins […]“ bezeichnet, durch welche sich „in Gott selbst eine innre reflexive Vorstellung [erzeugt], durch welche […] Gott sich selbst in seinem Ebenbilde erblickt.“⁶⁶⁴ Das irrationale Moment, welches den Schöpfungsprozess anregt, erlangt seine Bezeichnung aufgrund der Fremdheit des hinter ihm stehenden Prinzips. Es ist das, was nicht rational einholbar ist und sogar eine Andersheit in Gott selbst ausdrückt. Auch in den Werken Böhmes, welcher Schelling stark beeinflusst hat, findet Tillich die „Lust sich selbst zu erfassen […] [charakterisiert als] des dunklen Urwillens Kraft und [als] das Princip der Personwerdung Gottes und der Weltschöpfung.“⁶⁶⁵ Die Grund- und Abgrundmetaphorik, die auch von Schelling rezipiert worden ist und bei ihm die Selbstunterscheidung des Absoluten illustriert und dieses als in einer Polarität und einem Widerspruch mit sich selbst stehend charakterisiert, beruht ebenfalls auf der Unterscheidung eines irrationalen und eines rationalen Momentes im Absoluten. Tillich bemerkt, dass aus diesem „dunkeln Urgrund in Gott […] im dialektischen Proceß das göttliche Selbst hervorgeht […] [und Schelling] später diesen Ungrund den Willen [nennt], der die ursprüngliche Identität mit sich, das Ruhen in sich, aufgibt und sich selbst widerspricht, dadurch aber den Weltproceß hervorbringt, in dem die Einheit des
Ebd. Schelling, F. W. J., Über das Wesen der menschlichen Freiheit, S. 71 (358/359). A.a.O., S. 73 (360); 74 (360/361). EN, Bd. XII, S. 394. Vgl. a.a.O., S. 396: Als weitere philosophische Referenzgrößen, die das Irrationale voluntaristisch deuten und zur Grundlage ihres Systems machen, führt Tillich sowohl Bergson, den er als den „neuesten Bekämpfer des Rationalismus“ huldigt, als auch Nietzsche auf.
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Willens mit sich selbst wiederhergestellt wird.“⁶⁶⁶ Die Dynamik bzw. der gesamte geschichtliche Fortschritt – verstanden als eine Bewegung des Geistes bzw. des Absoluten, die darauf zielt, eine höhere, da bewusste, Einheit des Absoluten mit sich selbst hervorzurufen – beruht folglich auf der Erhebung des irrationalen Moments über das rationale, welches aufgrund eines daraus resultierenden Selbstunterscheidungsprozesses mit Letzterem in Polarität tritt. Damit ist der zweite Aspekt angerührt: Das Irrationale steht dem Rationalen als die eine Seite des Seins kontradiktorisch gegenüber. Während das Irrationale das sich Widersprechende, Fremde, andere, Dunkle und Ungewisse darstellt, steht das Rationale ihm als dem Prinzip der Einheit und Selbstevidenz gegenüber. In einem durchgeführten System des Rationalen, mag es Hegelisch oder neukantisch sein, ist von einer Dualität ebensowenig die Rede wie von einer Berücksichtigung des Willens. Auch der Wille löst sich in logische Bestimmungen […] auf.⁶⁶⁷
Innerhalb solch eines starren und unlebendigen rationalen Systems, welches stets nach dem Prinzip a = a verfährt und alles Existierende in rationale, logische Bestimmbarkeit aufzulösen sucht, um sich die Gegenstände per Intuition gänzlich anzueignen, kann jedoch die Frage, wie es zu neuen Schöpfungen, logischen Widersprüchen und unbeantwortbaren existenziellen Fragen kommt, nicht beantwortet werden, ohne auf ein die reine Rationalität durchbrechendes Prinzip zu rekurrieren. Hier entsteht nun notwendig aus der letzten Anschauung des Rationalen der Irrationalismus […]. Das Rationale wird gewahr, daß in ihm selbst als Voraussetzung seiner Aktualität ein Irrationales steckt, das ja nun unvermeidlicher Weise dem Rationalen als ein Anders, Fremdes, Dunkles erscheint.⁶⁶⁸
Tillich plädiert für eine Verzahnung des Rationalen mit dem Irrationalen, wenn er darauf hinweist, dass in dem von Schelling konstruierten Willen als dem irrationalen Moment selbst ein „rationaler Gehalt“ stecke, auf den er sich richte, sofern er mit sich selbst in Widerspruch getreten sei und durch welchen er „zur Offenbarung getrieben wird“, um zur eigenen Erkenntnis zu gelangen.⁶⁶⁹ Das Absolute werde hingegen bei Schelling noch mit einem mit sich selbst identischen „ruhenden Willen“ gleichgesetzt, der sich noch nicht in Trennung befinde.
Ebd. Ebd. A.a.O., S. 395. Ebd.
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Grundlegend für Tillichs Methode ist seine Kritik an der metaphysischen Hypostasierung des Willens, wobei er sich vornehmlich gegen Schelling, aber auch Henri-Louis Bergson und Nietzsche ausspricht und statt eines gegenständlich gefassten Begriff des Willens für einen symbolischen Gebrauch plädiert: „Zunächst wird zu sagen sei, daß eine Identificierung des Irrationalen mit dem sich selbst widersprechenden Willen ein Symbol, aber keine Erkenntnis ist.“⁶⁷⁰ Für Tillich liegt … … kein Grund vor, ihn metaphysisch zu einem Realprincip zu hypostasieren. Jede derartige Hypostasierung ist eine unzulässige Verwendung des Substanzbegriffs und fällt unter Kants Kritik, nach der die Substanz eine Kategorie zur Bewältigung der Erscheinungswelt, nicht aber eine metaphysische Realität [ist].⁶⁷¹
Der Einfluss Kants und der kritische Boden, der sich in der Rezeption von Kants Transzendentalphilosophie durch Tillich bemerkbar macht, wird deutlich, wenn Tillich darauf reflektiert, dass der Wille als psychologisches Element selbst nur ein Teil der Erscheinungswelt sei und man sich daher bewusst machen müsse, „daß man ein Element der Erscheinungswelt zur Charakterisierung des Princips der Erscheinungswelt gebraucht.“⁶⁷² Aus Tillichs Argumentationsgang wird ersichtlich, dass er dem irrationalen Prinzip keinen selbstständigen, bewusstseinsunabhängigen Wahrheitswert beimisst, sondern ihn als Teil der Erscheinungswelt kategorisiert. Das Irrationale wird bei Tillich vornehmlich durch die vom Rationalen aufgegebenen Grenzen und den von Kant entwickelten Grenzbegriff des „Ding an sich“ begründet, weshalb im Folgenden dargestellt werden soll, wie Tillich nun mittels einer Verbindung von Intuition und Kritik das Problem der Wirklichkeit des religiösen Erlebens löst: Das Intuitive bildet für Tillich ein notwendiges Moment zur Überwindung des reinen Kritizismus sowie zur Lösung der im Bewusstsein enthaltenen Aporien. Die rein kritische Methode – darauf macht Tillich im System der Wissenschaften aufmerksam – könne … […] das Sein aber nur als Kategorie oder als Grenze des Erkennens bestimmen. An seinem positiven Gehalt geht sie vorüber, weil sie darin eine metaphysische Hypostasierung sieht. Damit aber verliert sie die Möglichkeit, den Sinn des Sinnes zu erfassen; ihr fehlt das Verstehen des Verstehens selbst.⁶⁷³
A.a.O., S. 396. Ebd. Ebd. GW, Bd. I, S. 236.
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Folglich müsse eine Methode gefunden werden, die sowohl das kritische als auch das intuitive Moment vereint. Zunächst werden von Tillich zwei Indikatoren genannt, durch welche das menschliche Bewusstsein an die Grenze seiner selbst stößt und welche mithilfe des Irrationalen gelöst werden sollen. Dabei handele es sich sowohl um das „Ding an sich“, als auch um die sog. „Unbedingtheit der Form“, die von Tillich als „Offenbarerin des Seins im Denken“⁶⁷⁴ bezeichnet wird. Tillich verweist darauf, dass das „Ding an sich“ bzw. „das Ding, abgesehen von der Formung, die es durch das Bewußtsein annimmt“⁶⁷⁵, indem es von Kant als ein Realphänomen eingeführt worden sei, als Signal der Grenze menschlicher Vernunft gleichsam ein „völlig Bewußtseins-transcendentes Element“⁶⁷⁶ repräsentiere, welches die menschlichen Sinne affiziere.“⁶⁷⁷ Als diese durch es markierte Grenzlinie, bis zu der unser Bewusstsein vordringen, die es jedoch nicht überschreiten könne, würde es als Vorstellung und Allegorie das Bewusstsein zu einem Punkt führen, an dem es über die allgemeinen Formgesetze hinausgetrieben werde und sich ihm die Frage nach einem reinen Gehalt eröffnen würde. An dieser Stelle setze das Moment der Intuition ein, in welchem laut Tillich „allein […] das Organ gegeben [sei], das im Stande ist, das Irrationale zu belauschen.“⁶⁷⁸ Allerdings sei es dem menschlichen Bewusstsein nicht möglich, unabhängig von „Reflexionsbegriffen“ zu denken und einen Zustand unmittelbarer Evidenz zu erreichen, in welchem Begriff und Anschauung eins wären. Mit dem intuitiven Moment soll dennoch das … … Ding-an-sich-Problem […] gelöst werden durch Selbstanalyse des Denkens in seinem ursprünglichen Meinen, in intuitiver Einsichtigkeitsmachung dieses Meinens, ausgedrückt in einem System von Relfexionsbegriffen. […]. Das Denken [erfasst] sich hier nicht als Erkenntnisvorgang in einem Individuum, sondern als Bewußtheit überhaupt.⁶⁷⁹
Mit diesem höheren Reflexionsstatus begebe sich das Denken folglich in eine Metaebene, aus der es ihm möglich werde, sich …
EN, Bd. XII, S. 406. A.a.O., S. 398. Ebd. Vgl. Kroner, R., Von Kant bis Hegel, S. 102: Auf diese Problematik verweist bereits Kroner, indem er festhält, dass „die Dinge an sich wie empirische Gegenstände eingeführt [werden], zwischen denen und dem Subjekt das Verhältnis des Affizierens und Rezipierens besteht“ und sie folglich lediglich als „die Realität einer Vorstellung“ gelten könnten. EN, Bd. XII, S. 398. A.a.O., S. 399.
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… „losgelöst von jedem denkenden Subjekt […], losgelöst von jedem bestimmten Gegenstand […] vielmehr sich selbst zum Gegenstand […] [zu machen und so] in sich die Doppelheit eines Aktes und eines Gegenstandes [zu erleben]. […] Das Denken erlebt also etwas, was ihm schlechterdings entgegensteht, aber es erlebt es als seine eigene Bestimmung.⁶⁸⁰
Tillich verweist hier auf zwei im Denken enthaltene kontradiktorische Grundelemente: die „Brutalität des schlechthin […] Seienden [als] das eine fundamentale Denkerlebnis“⁶⁸¹ (das dem Denken Entgegenstehende) sowie die Erkenntnis der Relativität jeglicher bloß gedachter und vom Denken gesetzter Transzendenz. Das erste Moment, die „Brutalität des schlechthin Seienden“, wird von Tillich als eine Art Erschütterung gedeutet, die dem Menschen in der Begegnung mit den Dingen gewahr wird, insofern als diese ihm (Tillich führt als Beispiel einen Stein auf) als etwas Fremdes, von ihm nicht selbst Gesetztes erscheinen und ihnen folglich eine Fremdheit anhaftet, wodurch sie sich der völligen Aneignung durch das denkende Subjekt verschließen und ihm schlechterdings als etwas Widerständiges gegenüber stehen. Die Duplizität der im Denken enthaltenen Grundelemente bzw. dessen Erschließung des Seins … […] in der Doppelform des Feindlichen, Fremden, Erschreckenden, Grauenvollen [als] das, was es nicht durchdringen kann, vor dem es hinsinkt, und zugleich […] als das, wonach es sich sehnt, aus dem ihm selbst Sinn, Bedeutung und Gehalt enstpringt, das Beseligende […]⁶⁸², …
… erinnert stark an Ottos transzendentalpsychologische Begründung des Religiösen als mysterium tremendum und mysterium fascinans. Dieses Seinserlebnis, in welchem dem Denken dieses andere als dessen eigene Bestimmung gegenübertrete und gleichzeitig als das ihm Widersprechende erlebt wird, ist für Tillich mit dem „Unbedingtheitserlebnis, [dem] Erlebnis der unbedingten Realität, die nicht mehr gesetzt ist von Denkbestimmungen“⁶⁸³ identisch. Dem Denken wird in Form einer Selbstdurchsichtigkeit sein notwendiger Bezug auf Sinn bewusst, der ihm jedoch stets nur als relativ und kontingent erscheint. Hier erlebt es seinen Bezug auf eine Realität, die über dieses nur Relative hinausgeht, was identisch ist mit der religiösen Grundfunktion. Es wird während dieses Prozesses im Denken also die religiöse Beziehung aktuell. Die beiden im religiösen Erlebnis enthaltenen funktionalen Elemente sind laut Tillich beide unbedingt. Ihre Bedeutung
Ebd. A.a.O., S. 400. A.a.O., S. 401. A.a.O., S. 402.
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liege zum einen darin, dass sie im Gegensatz zu einem mystisch-gegenständlich gedachten Religionsbegriff, welcher Gott logisch zu erweisen suche, „weder ein Seiendes, noch das Seiende, sondern de[n] Sinn des Seins“⁶⁸⁴ markieren und zum anderen als unbedingter Sinn für das Realitätsbewusstsein des Menschen unabdingbar seien, da „der Verzicht auf diese Beziehung das Aufheben der Realität überhaupt, in eine traumhafte Formelwelt ohne letzte, unbedingte Verankerung in eine vom Denken nicht mehr auflösbaren Tiefe“⁶⁸⁵ nach sich ziehen würde. Zu kritisieren ist Tillichs Position insofern, als seine Kritik an der kritischen Methode im obigen Zitat darauf zielt, dass diese am positiven Gehalt des das religiöse Erlebnis allererst Begründenden (Unbedingten) vorbeigehe, da sie das Sein nur der Form nach, also als Kategorie und als Grenze des Erkennens bestimmen könne, nicht aber seiner Wahrheit nach. Diesbezüglich unterscheidet er sich jedoch überhaupt nicht von der kritischen Methode, da auch das irrationale bzw. intuitive Moment das Sein ebenfalls nur ausgehend von der Grenze des menschlichen Bewusstseins bestimmen kann, indem es ebenso nur als Teil der Erscheinungswelt zu verstehen sei (s.o.). Denn die intuitive Erfassung bezieht sich nur auf eine Reflexion des Denkprozesses und die im Denken enthaltenen Elemente, nicht aber auf eine Erfassung des dem Denken zugrundeliegenden Wesens. Ebenso wie die Grenze des „Ding an sich“ dem Denken die unbedingte Verwurzelung und Tiefe seiner selbst transparent mache, dient auch die „Unbedingtheit der Form“ bei Tillich als Indikator einer über das unbedingte Formprinzip hinaus gültigen Geltungssphäre. Unter „Unbedingtheit der Form“ versteht Tillich die objektive und über das subjektive Bewusstsein hinausgehende „unbedingte Gültigkeit der praktischen und theoretischen Werte, also die reine Form des Denkens, deren Symbol der Satz a = a ist, und die reine Form des Handelns, deren Symbol der kategorische Imperativ ist.“⁶⁸⁶ Charakteristisch für diese „reinen“ Formen (bzw. die Unbedingtheit der Form) seien zunächst die überzeitliche Gültigkeit ihrer Inhalte sowie ihre Ineinssetzung mit der Existenz des Denkens selbst. Indem der Mensch gültige, logische Urteile ausspreche, aktualisiere das Bewusstsein Formen, die nicht vom individuellen Bewusstsein abhängig seien, sondern dessen Gültigkeit überschreiten würden, „auch wenn keine Welt ist, für die sie real gelten.“⁶⁸⁷ Das Moment der Unbedingtheit verweist also auf die
Ebd. Ebd. A.a.O., S. 405. Ebd.
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überzeitliche, subjektunabhängige Geltung. Das unbedingte Formprinzip wird von Tillich auch als … … ein Vermittelndes zwischen Sein und Denken [beschrieben]. Es ist der Punkt, in dem das Denken dem Sein verhaftet ist, in dem es keine Gewalt mehr über sich selbst hat. Darum ist die Unbedingtheit der Denkform eine Offenbarerin des Seins im Denken, die rationale Offenbarung des Religiösen.⁶⁸⁸
Gründlicherer Klärung bedarf dabei die Frage, wie der Vorgang zu denken ist, durch welchen die Unbedingtheit der Form, indem sie rein formale, von Raum und Zeit – und ebenso auch vom Sein – unabhängige Gesetzmäßigkeiten entwickelt, eine Beziehung zum Sein aktualisiert und damit als ein Vermittelndes zwischen Sein und Denken bzw. eine „Offenbarerin des Seins im Denken“ bezeichnet werden kann. Eine weitere Frage ist durch die Unbestimmtheit aufgegeben, was Tillich damit meint, wenn er diesen Vorgang als „rationale Offenbarung des Religiösen“ bezeichnet. Aufschluss über die oben aufgegebenen Fragen liefert erneut eine Betrachtung des Zusammenhangs von Denken, Form und Sein: Die Form kann insofern als Vermittlungsinstanz zwischen Sein und Denken interpretiert werden, als das Denken nur mittels ihr Zugriff auf das Sein erlangen kann. Denn außerhalb von Formzusammenhängen kann für das Denken nichts existieren; das Sein erscheint ihm notwendig innerhalb einer Form. Die Existenz einer leeren Form oder eines Zugangs zum schlechthin Seienden werden von Tillich jedoch abgelehnt. Die Unbedingtheit der Denkform kann also deshalb als Offenbarerin des Seins im Denken charakterisiert werden, da das Sein dem Denken nur durch die Form offenbar werden kann. Weiterhin kann das unbedingte Formprinzip, indem es dem Denken selbst entspricht (das Denken ist das unbedingte Formprinzip), nicht gleichzeitig vom Denken gesetzt sein, da das Denken ja nicht selbstsetzend sein kann. Ihm wird somit gewahr, dass es selbst nur bedingt ist und durch die unbedingten Formgesetze zwar evidente, überzeitliche Gültigkeit rationaler Formen produzieren kann, dass damit aber noch nicht sein eigenes Existenzproblem gelöst ist. Es wird dem Denken also gewahr, dass es als Voraussetzung seiner selbst irgendwie an das Sein gebunden ist. Durch die Verwirklichung von apriorischen, rationalen Formen, die unabhängig vom subjektiven Standpunkt gültig sind, dringt das Bewusstsein noch nicht zum Sein selbst hervor. Es bewegt sich stets im Medium der Form, kann das schlechthin Seiende nicht erfassen, sondern nur das Sein, wie es ihm unter den Formbedingungen erscheint. Eine religiöse Beziehung ist dann noch nicht vorhanden, wenn das Denken, ohne auf sich selbst und seine Voraussetzungen zu reflektieren, lediglich A.a.O., S. 406.
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gültige Formen schafft und in diesem Sinn unreflektiert tätig ist. Insofern ist die Produktion der unbedingten Formgesetze (z. B. mathematische Evidenzen oder ethische Normen) ein nicht intentionales aber doch substantielles Symptom des Religiösen. Die Unbedingtheit der Form illustriert den Versuch des Denkens, gültige Sätze zu schaffen. Dadurch stößt es aber notwendig an eine Grenze. Es wird ihm bewusst, dass es nur durch die Form Zugriff auf das Sein hat und so auch auf sich selbst. Erst, indem das Denken darauf reflektiert, dass es durch die Unbedingtheit der Form als formal-logischem Geltungsbeweis zu einer Grenze seiner selbst durchdringt, wird im Bewusstsein die religiöse Beziehung aktuell. Der Mensch beginnt darauf zu reflektieren, dass er von sich aus nicht zum schlechthin Seienden, dem Transzendenten, durchdringen kann, dass er in seinem Denken immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen wird, er sich gleichzeitig mit dieser Stellung des Relativen jedoch nicht begnügen kann. An dieser Stelle wird ihm die Verbindung des Denkens zum Sein, seine unendliche Bezogenheit auf Sinn offenbart und das Denken weiß sich gleichsam verhaftet an das Sein als dem ihm Fremden, Unergründbaren und erkennt es als dessen Bestimmung. Erst dieses Grenzerlebnis führt laut Tillich also zur Religion. Bisher hat sich die intuitive Methode also in ihrer rein funktionellen Form als Richtung des Bewusstseins auf sich selbst als Denken erwiesen. In diesem Selbstreflexionsprozess stellt sich diesem die Frage nach seiner eigenen Bedingung, was als religiöse Frage zu qualifizieren ist. Doch wie kann ausgehend vom Bedingten und innerhalb des Bewusstseins das Unbedingtheitserlebnis aktuell werden? Tillich geht zunächst davon aus, dass „in allem Wirklichen die Möglichkeit eines Unbedingtheitserlebnisses gegeben [ist und es] […] kein Ding [gibt], das nicht durch seine Beziehung auf den irrationalen Seinsgehalt religiöse Qualitäten in sich tragen würde.“⁶⁸⁹ Dennoch sei eine absolute Erfahrung des Unbedingten innerhalb des Bedingten ausgeschlossen: „Es ist […] nicht möglich, in irgendeinem Ding ein reines Unbedingtheitserlebnis zu machen. Es ist durch kein Ding hindurch möglich, das Absolute in seiner ganzen Tiefe zu erfassen.“⁶⁹⁰ Zum Sinn des Seins könne folglich nur durch Ekstase der Vernunft⁶⁹¹ vorgedrungen werden und doch handele es sich bei ihr stets um eine paradoxe Forderung, da „das Denken […] aus sich heraustreten [soll], um den reinen Gehalt zu fassen“⁶⁹², was bedeuten würde, „daß unter der Preisgabe der Denkform das Denken unmittelbar dem schlechthin Seienden gegenübertritt oder besser: den in ihm vor-
A.a.O., S. 407. Ebd. Vgl. ST I, S. 135 ff. Ebd.
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handenen Sinn des reinen Seins an die Oberfläche führt.“⁶⁹³ Da das Denken sich der Form, die es schafft und durch welche hindurch es die Realität wahrnimmt, jedoch nicht entledigen könne, sei obige Forderung unerfüllbar. Selbst das Erlebnis wird von Tillich noch als formbestimmt gedeutet, da „nichts erlebt werden [kann] ohne Bewußtheit“⁶⁹⁴. Das Zerbrechen der Form während der Ekstase und das Heraustreten des Geistes aus dem Bedingten in die transzendente Sphäre müssen mit Tillich folglich ebenso als Formerlebnisse charakterisiert werden. Der Gehalt zerbricht zwar während des ekstatischen Erlebnisses die Form, doch selbst dieses Zerbrechen sei noch Form. Folglich wird Ekstase von Tillich auch als „Form der Bewußtheit, die die Bewußtseinsform zerbricht“⁶⁹⁵, bezeichnet. Ob seiner Formbestimmtheit kann es sich bei religiösem Erleben also nicht um ein den reinen Gehalt erfassendes Geschehen handeln. Als Form der Bewusstheit beschränkt es sich auf eine rein immanente Form der Sinngebung durch das Einzelindividuum, welches auf den Gehalt hin reflektiert, diesen intendiert, eine Ahnung von ihm erlangt, jedoch stets der Erkenntnis von dessen absoluter Fülle entbehren muss. Die Tatsache, dass das religiöse Erlebnis als ein Funktionsbegriff gedacht wird, der religiöse Gehalt niemals außerhalb der Form der Bewusstheit erfasst werden kann, religiöses Erleben gleichsam als Vollzugsakt, als Akt der Realisierung durch das menschliche Bewusstsein hindurch gedeutet wird, und dem Heiligen lediglich symbolische Bedeutung zukommt, legt die Interpretation nahe, dass Tillich das Verhältnis des Menschen zum Absoluten lediglich als einen immanenten Prozess des Selbstvollzugs und -bezugs deutet und dem Absoluten als einer selbstständigen, außerhalb des Bewusstseins erscheinenden Wirklichkeit keinen Platz einräumt. Dennoch betont Tillich in der 12. Stunde seiner RP-Vorlesung die mit dem Wegfall des „Nachweis[es] der Wahrheit der objektiv-religiösen Welt im gegenständlichen Sinne einer Götterwelt“⁶⁹⁶ und dessen Ersatz durch einen „Nachweis der funktionellen Notwendigkeit der Religion“⁶⁹⁷ einhergehende Notwendigkeit, zu akzentuieren, „daß das unbedingte Realitätserlebnis, wie wir es gefaßt haben, die Religion nicht zu einem Spiel des Selbstbewußtseins mit sich selbst macht, sondern daß die Religion auch in diesem Sinne letzte, ja absolute Ernsthaftigkeit beanspruchen kann.“⁶⁹⁸ Er möchte darlegen, dass „das starke Realitätsgefühl, das die Religion ihren mystischen Objekten gegenüber hat, durch
EN, Bd. XII, S. 407. A.a.O., S. 408. Ebd. A.a.O., S. 413. Ebd. Ebd.
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die Einsicht in den symbolischen Charakter dieser Objekte nicht aufgehoben, sondern begründet ist.“⁶⁹⁹ Es stellt sich also die Frage, inwiefern das religiöse Bewusstsein sich auf eine transzendente Realität beziehen kann, ohne einen bloßen Selbstvollzug zu vollziehen, oder wie Tillich selbst sagt, symbolisch als „ein im Denken sich selbst vollziehendes Sinnerlebnis“⁷⁰⁰ gedeutet zu werden. Insgesamt bleiben Tillichs Äußerungen ambigue und vage. Das Bewusstsein wird von ihm als einerseits gesetzt und andererseits als selbstsetzend beschrieben. Dieses Selbstsetzung wiederum begreift er als bewusstseinstranszendent, als jenseits des Denkens liegend und als „etwas, wovor das Denken kapitulieren muß, wenn es diese Kapitulation auch noch so sehr als seine eigne Bestimmung behauptet.“⁷⁰¹ Allein mit dieser Interpretation sei laut Tillich die „Realität dieses Erlebens erwiesen“⁷⁰²: Es sei erwiesen, „daß es sich eben nicht bloß um eine Sache, die sich im Bewußtsein abspielt, handelt, sondern daß hier wirklich etwas angerührt ist, auf dem das Bewußtsein ruht und von dem aus es darum bis ins Tiefste erschüttert werden kann.“⁷⁰³ Würde man Tillichs hier ernst nehmen, so müsste man schlussfolgern, dass mit der Vorstellung des das Absolute setzenden Bewusstseins keineswegs eine bloße Projektion des Absoluten gemeint sein könne, sondern vielmehr ein Reflexionsprozess beschrieben werde, durch welchen sich das Individuum selbst als in einer Beziehung zum Absoluten stehend setze. Es wird folglich das Absolute als die eigene Bestimmung, nicht aber das Absolute selbst gesetzt. Damit wäre mittels der intuitiven Methode erwiesen, dass es sich beim Absoluten nicht bloß um eine bewusstseinsinterne Setzung handelt, sondern dass das religiöse Erleben auf etwas Realem ruht. Die religiöse Symbolik zielt darauf, dieses Erlebnis zu explizieren und zu veranschaulichen. Allerdings bleibt Tillich, auch wenn er das im religiösen Erleben zur Anschauung gebrachte nicht als ein Spiel des Bewusstseins mit sich selbst verstehen möchte, doch innerhalb der rein immanenten Sphäre. Das Transzendieren, was ein Überschreiten der Vernunft im religiösen Akt aussagt, bedeutet keine Einsicht in eine göttliche Sphäre, sondern ist nur als Bewusstseinsfunktion konzipiert. Das Verhältnis zu einem Göttlichen, wie es in spekulativen Religionstheorien gedacht wird, wird bei Tillich zwar in seiner „überindividuelle[n] Bedeutung“⁷⁰⁴ erfasst. Allerdings ist damit lediglich ausgesagt, dass die Realisation des Göttlichen durch den Voll-
Ebd. A.a.O., S. 414. Ebd. Ebd. Ebd. A.a.O., S. 415.
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zugsakt des Menschen „kein bloß individueller Vorgang“⁷⁰⁵ ist. Vielmehr bezeichnet Tillich ihn als einen „kosmische[n] Akt“⁷⁰⁶. Damit ist aber nicht auf etwas Bewusstseinstranszendentes rekurriert, sondern unter „Kosmos“ versteht Tillich die „Idee der Totalität aller Dinge, als Einheit gedacht“, die von den „Bewußtseinsfunktionen“ konstituiert werden. Der Kosmos als solcher ist also lediglich ein vom Bewusstsein konstruierter.⁷⁰⁷ Zwar stellt Tillich die These auf, „daß der religiöse Akt Realisierungsakt des Göttlichen ist“, es sich dabei jedoch nicht um ein gegenständlich Absolutes, ein „seiendes Wesen“ handele, sondern „um den Sinn des schlechthin Seienden überhaupt“.⁷⁰⁸ Sinn ist aber, wie schon zuvor eruiert, als eine immanente Erfüllungskategorie zu deuten. Das religiöse Erlebnis ist bei Tillich dichotom strukturiert, indem es zwei Ebenen aufweist: Eine Handlungs- bzw. Realisationsebene und eine theoretische, aufnehmend-rezipierende Ebene. Als letztere kann es interindividuelle, allgemeingültige Bedeutung gewinnen, da Tillich unter Erlebnis eine „innerlich-gefühlte Aufnahme irgendwelcher Dinge […], also gewissermaßen eine mystische Einheit zwischen Gegenstand und Subjekt“⁷⁰⁹ versteht. Diese Deutung erlaubt es, „intuitive […] Allgemeingültigkeit“⁷¹⁰ zu erheben und steht im Gegensatz zu einer Deutung des Erlebnisses als eine „subjektive Reaktion auf die mannichfaltigen äußeren Eindrücke“⁷¹¹. Letztere könne keine Allgemeingültigkeit beanspruchen, da es sich dabei lediglich um einen individuell-psychologischen Vorgang handele. Als expressives religiöses Erleben, welches sich in Form eines Handlungsaktes äußert, könne es ebenfalls keine Allgemeingültigkeit für sich beanspruchen. Und dennoch komme „das Heilige […] zur Existenz im religiösen Akt und nur in ihm. Gott ist nicht ein fixiertes Objekt, sondern ein Akt der Realisierung; er kommt zur Existenz in jedem religiösen Akt.“⁷¹² Der von Tillich als Akt der Realisierung verstandene Religionsbegriff, der durch menschliches Handeln und Denken, also sowohl auf praktischer, als auch theoretischer Basis aktuell wird, ist insofern eng mit Tillichs Kulturtheologie verknüpft, als er Religion stets im Verhältnis „zu den übrigen Geistesfunktionen“⁷¹³ erörtert und sie sich dabei weder als identisch mit „einer praktischen,
A.a.O., S. 415 – 416. A.a.O., S. 416. A.a.O., S. 415. A.a.O., S. 417. A.a.O., S. 419. Ebd. Ebd. A.a.O., S. 416. A.a.O., S. 421.
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noch mit einer theoretischen“⁷¹⁴ Form erweist. Andererseits könne er jedoch „überhaupt nicht Aktualität gewinnen […] als in einer der übrigen Denkformen, also durch praktisches oder theoretisches Tun hindurch.“⁷¹⁵ Diese Denkweise vertritt Tillich bereits in seiner philosophischen Promotion (1910). Dort heißt es: „Gott kommt aber nur zur Existenz, wo er realisiert wird durch freie, ichhafte Tätigkeit.“⁷¹⁶ Die bereits erwähnte Unterscheidung von Religion als Prinzip und religiösem Akt findet in dieser Bestimmung ihren Ausgang und dient zur Explikation eines Religionsbegriffs, der in einer Doppelrichtung begründet liegt und mit dem religiösen Prinzip zur Geltung bringt, dass es „keine an sich religiösen Akte [gibt], die weder im Theoretischen noch im Praktischen aktuell würden“⁷¹⁷. Neben der Realisation des Religiösen im Theoretischen oder Praktischen gibt es laut Tillich „kein Drittes, Neues.“⁷¹⁸ Kennzeichnend für den Tillichschen Religionsbegriff ist es also, weder einen spezifisch religiösen Akt, noch einen spezifisch praktischen Akt für das Religiöse zu nehmen oder „nach einem Dritten [zu] suchen, das dann irgendwie das Gefühl zu sein pflegt.“⁷¹⁹ Vielmehr erweist sich das Religiöse als „eine bestimmte Qualität, die ein theoretischer und praktischer Akt erhält“⁷²⁰. Es wirkt also durch das menschliche Tun und Denken als Transparenz des Seinsgrundes hindurch. Der Ottosche und Simmelsche Religionsbegriff werden von Tillich als die ihm am nächsten stehenden propagiert. Die Doppelheit des religiösen Unbedingtheitserlebnisses wird bei Otto durch die Interpretation des Religiösen als mysterium tremendum und fascinosum expliziert, die Tillich in seine Deutung mit aufnimmt. Dennoch kritisiert Tillich Otto mit dem Vorwurf einer „logische[n] Unschärfe“⁷²¹, die sich daran festmachen ließe, dass er das Phänomen Religion zwar treffend psychologisch gedeutet, es jedoch nicht kritisch und transzendentalphilosophisch entwickelt habe. Simmel rechnet Tillich zum Verdienst an, dass ihm der „entscheidende Durchbruch zu der Entgegenständlichung des Religionsbegriffs“⁷²² gelungen sei. Abgesehen von einer Betonung der subjektiven Seite des Unbedingtheitserlebnisses mittels einer Unterscheidung von objektiver und subjektiver Religion und jener Entgegenständlichung lässt sich jedoch kaum er-
Ebd. Ebd. EN, Bd. IX, S. 237. A.a.O., S. 421. Ebd. A.a.O., S. 422. A.a.O., S. 421. EN, Bd. XII, S. 439. Ebd.
1.3 Methodenreflexion und Religionsbegriff Tillichs
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klären, woran Tillich die behauptete Nähe und Verwandtschaft festmacht. Scheinbar misst er dem Simmelschen Religionsbegriff jedoch eine große Bedeutung bei, weshalb dieser exkurshaft in seinen Grundzügen skizziert werden soll: Simmel entwickelt seinen Religionsbegriff in seinem Hauptwerk Die Religion rein kulturtheologisch als eine menschliche Deutungskategorie, die sich in Form einer Ausdifferenzierung gesamtgesellschaftlicher Entwicklungsprozesse ausprägt und die Funktion erfüllt, als eine absolute Instanz andere Systeme des Lebens unter sich zu subsumieren. Die Analogie zu Tillich liegt freilich in der Betonung der subjektiven Religion als Religiosität, indem diese als ein „innere[s] Schwingen der Seele“⁷²³ und folglich als ein Zustand und eine Gestimmtheit der Seele beschrieben wird. Dieser funktioniert ohne Objektbezug und stellt sich als eine in der Seele wohnende Erlebnis- und Gestaltungsform dar, als „Stimmungen oder Funktionen, die ihrem logischen Wesen nach eigentlich über die Seele hinausweisen, dennoch in ihr selbst verbleiben und sich an keinerlei Gegenständen bewähren.“⁷²⁴ Das Religiöse wird bei Simmel jedoch im rein „strukturellen Sinn“ als immanent bleibende Sinngebung beschrieben, indem er betont, dass es ihm nicht darum geht, zu ergründen, „ob der Inhalt, von dessen psychischer Formung hier allein gesprochen wurde, auch noch in der Form der Realität besteht“⁷²⁵. Das Religiöse wird von Simmel als eine psychologische Funktion beschrieben, die gesellschaftliche Prozesse strukturiert und generiert. Simmel verdeutlicht dabei an drei „Segmente[n] des Lebenskreises“ das Zustandekommen von Religion, indem dort eine „Transponierung in die religiöse Tonart vor allem hervortritt: am Verhalten des Menschen zur äußeren Natur, zum Schicksal und zur umgebenden Menschenwelt.“⁷²⁶ Dabei erbringt Simmel den Nachweis, dass eine Analogie zwischen sozialem und religiösem Verhalten besteht und es … … irgendwelche tief gelegene Bewegungsformen des seelischen Lebens […] [gibt], die sich in der Gestaltung des religiösen ebenso wie in der des sozialen Daseins betätigen, so daß die Gleichheit gewisser Erscheinungen auf der Einheit einer ganz allgemein formbestimmenden Wurzel beruhte.⁷²⁷
Ebd. Simmel, G., Die Religion, in: Krech., V. (Hrsg.), Die Religion, Neue Folge 6, Marburg 2011, S. 37. A.a.O., S. 101. A.a.O., S. 16. A.a.O., S. 42.
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1 Apriorischer Wahrheitsbegriff und Methode
Religiöse und areligiöse Erscheinungen seien demnach verwandt, was Simmel u. a. an der Form des Glaubens an Gott expliziert, indem dieser mit denselben Gefühlen einhergehe wie der Glaube an einen Menschen. Auch im Aufsatz Die Persönlichkeit Gottes geht Simmel über die rein strukturelle Beschreibung des Religiösen als psychologisches Bewusstseinsphänomen nicht hinaus: „Ob dieser Gott objektiv existiert oder auch subjektiv geglaubt wird, hat mit dieser rein ideellen Bestimmung des Begriffs nichts zu tun […].“⁷²⁸ Neben den oben vermerkten lassen sich noch ergänzende Parallelen hinsichtlich einer Interpretation des Religiösen zwischen Tillich und Simmel ausfindig machen: Ebenso wie Tillich verlagert auch Simmel in den Begriff der Persönlichkeit, unter welchem er ein ins Unendliche transzendiertes und über das Menschliche hinausragendes ideelles Personensein versteht, einen Dualismus, der als gleichzeitige Einheit und Trennung gefasst werden kann. So weist auch er auf das Selbstbewusstsein als einem Urprinzip des Denkens hin, welches aus einem „innere[n] Sich-selbst-Trennen in Subjekt und Objekt“⁷²⁹ des göttlichen Prinzips bestehe. Simmel bezeichnet es als ein „Grundwunder des Geistes“, welches ihn zu einem persönlichen macht, „daß er, in seiner Einheit verbleibend, sich dennoch sich selbst gegenüberstellt; die Identität des Wissenden und des Gewußten, wie sie im Wissen um das eigne Sein, um das eigne Wissen vorliegt, ist ein Urphänomen […].“⁷³⁰ Hier wird in das Denken selbst der Widerspruch des gleichzeitigen In-sich- und Außer-sich-seins verlagert, welches der dem Denken eigenen Struktur entspricht. Die Dualität entstamme jedoch einer göttlichen Wurzel, da Simmel die Subjekt-Objekt-Spaltung in ein göttliches Prinzip verlagert. Auch bei Tillich erscheint dieser Widerspruch als ein im göttlichen Sein selbst beschlossener Dualismus, der in sich eine Identität aus Einheit und Trennung umfasst. „Das Prinzip des Denkens enthält notwendigerweise das dem Denken Widersprechende.“⁷³¹ Simmel bezeichnet dieses auch als das Prinzip der „Einheitlichen Zweiheit in Gott“⁷³². Bei Tillich markiert das religiöse Prinzip darüber hinaus eine „substantielle Gebundenheit der Freiheit an die absolute Wahrheit […] [die als] etwas gewissermaßen Punktuelles, jeder Aktualität und Breite enthobenes, ab-
Simmel, G., Die Persönlichkeit Gottes. Ein philosophischer Versuch, in: Kramme, R., Rammstedt, A. (Hrsg.), Georg Simmel. Aufsätze und Abhandlungen 1909 – 1918, Bd. 1 (Georg Simmel. Gesamtausgabe, Bd. 12), Frankfurt am Main 2001, S. 297. A.a.O., S. 302. A.a.O., S. 303. EN, Bd. IX, S. 281. Simmel, G., Die Persönlichkeit Gottes, S. 305.
1.3 Methodenreflexion und Religionsbegriff Tillichs
201
solute Innerlichkeit“⁷³³ erscheint. Als diese absolute Innerlichkeit stellt sie eben eine gewisse Qualität dar, die allen Funktionen des Bewusstseins zugrunde liege und ihnen ihre Tiefe verleihe. In ihr seien sie gleichsam mit dem Absoluten verwurzelt. Gleichzeitig würde sich das religiöse Prinzip dagegen sträuben, in einer der Bewusstseinsformen aktuell zu werden und dadurch „hineingezogen [zu werden] in die übrigen Bestimmtheiten des Geistes“⁷³⁴, wodurch es in ein Stück Kultur transponiert werden würde. Es markiert das Streben nach einer Autonomie des Religiösen als einer über dem Kulturellen stehenden transzendenten Wirkmächtigkeit des Absoluten und einer Rückbesinnung des menschlichen Bewusstseins auf dieses.
EN, Bd. IX, S. 297. Ebd.
2 Die geschichtsphilosophische Entfaltung des Wahrheitsbegriffs Im vorangehenden Kapitel ist der funktionelle Religionsbegriff Tillichs analysiert, im Kontext einer bewusstseinstheoretischen Genese erörtert worden und im Hinblick auf seine Erhellung der vom Subjekt aus vollzogenen Wahrheitserkenntnis befragt worden. Es ist illustriert worden, dass Wahrheit als Erfüllungskategorie stets eine Vollzugsform bedeutet, die aus einer dialektischen Beziehung der geisttragenden Gestalt zur Wirklichkeit erwächst. Das normativ Gültige ist Produkt einer schöpferischen Begegnung mit der Welt und kann nur innerhalb eines systematischen Zusammenhanges erkannt werden. Die Erkenntnis der Wahrheit verläuft dabei intuitiv-kritisch, also in einem Wechselspiel von sinngebender Kategorisierung der Wirklichkeitselemente, die auf eine Sinnerfüllung aus ist, und intuitiver Einfühlung und Gehaltserfassung. Der bisherige Teil war folglich epistemologisch konzipiert, indem die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen des menschlichen Bewusstseins im Hinblick auf dessen Vermögen, Wahrheit erfassen zu können, expliziert worden sind. Der folgende Teil hingegen lässt sich als metaphysisch beschreiben. Im Gegensatz zur Geschichtsphilosophie, die von Tillich als „Kategorienlehre des Geschichtlichen“ bezeichnet wird, eröffnet sich durch die Geschichtsmetaphysik die Möglichkeit, „Sinnrealisierung (in der Geschichte) festzustellen“.¹ Folglich wird es in diesem Kapitel darum gehen, Tillichs geschichtsmetaphysische Typenlehre der Religionen zu erörtern und zu ermitteln, anhand welcher Kriterien Tillich die verschiedenen geschichtlich existierenden Religionen bewertet und welche Stellung die christliche Religion im Gefüge der Weltreligionen dabei einnimmt. Weiterhin soll die Kernthese dieser Untersuchung geprüft werden, die voraussetzt, dass die von Tillich postulierte Idealreligion (die Religion des Paradox’) in ihren wesentlichen Zügen inhaltlich der Christologie Tillichs entspricht. Der im vorangehenden Teil formallogisch entwickelte Religionsbegriff kann als maßgeblich für eine Wertung der verschiedenen Religionen gelten, indem er als Wesens- bzw. Formbegriff des Religiösen fungiert und sich darin als Beurteilungskriterium der verschiedenen Religionen erweist. Als Wertmaßstab hat er folglich auch normativen Charakter und realisiert sich in Tillichs Dogmatik. Die Bewertung erfolgt also auf Grundlage abstrakt-philosophischer Überlegungen über das Wesen von Religion. Dennoch ist dieser Wesensbegriff inhaltlich vom
EN, Bd. XII, S. 290 – 291. https://doi.org/10.1515/9783110671759-005
2 Die geschichtsphilosophische Entfaltung des Wahrheitsbegriffs
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theologischen Standpunkt und damit dem in Christus erschienenen Neuen Sein her geprägt. Im Vordergrund der Ergründung, wie sich das genuin christliche Bewusstsein, welches zwar als wandelbar und doch als in einer unbedingten Realität wurzelnd gedacht wird, gegenüber außerchristlichen Religionen in seinem Selbstverständnis profilieren kann, stehen drei Aspekte: Das religiöse Bewusstsein erweist sich erstens durch vorhandene Paradoxie als (absolut) wahr. Zweitens lässt sich Wahrheitserkenntnis ausgehend von der geschichtsphilosophischen Typenlehre als ein Wechselspiel zwischen Form und Gehalt beschreiben, was immer eine Spannung bedeutet. Zuletzt werden sich ausgehend von der Form-Gehalt-Dynamik drei religiöse Grundtypen erweisen, die stellvertretend für eine bestimmte Form von Religiosität stehen: der Typ, dem das Unbedingtheitserlebnis hauptsächlich durch die kulturelle Form begegnet (Form kann hier sowohl das ethische Gesetz als auch gewisse kulturelle Riten oder religiöse Fetische meinen), der Typ, der die Form zu hintergehen versucht, indem er direkt mit dem reinen Gehalt in Verbindung zu geraten sucht (gemeint sind formzersprengende mystisch-asketische Tendenzen in den Religionen) und zuletzt der Typ, dem das Unbedingtheitserlebnis durch die Form hindurch transparent wird, wobei die Form in doppelter Weise sowohl verneint als auch bejaht wird. Verneint wird sie in ihrer endlichen Erscheinung als in der Wesenswidrigkeit stehend, bejaht wird sie im Hinblick auf ihre Funktion, Anschauungsmedium des unbedingten Gehalts zu sein.Von diesen drei Typen ausgehend gestaltet sich nach Tillich die Konstruktion der Religionstypologie, deren Dynamik im folgenden Kapitel nachvollzogen werden soll. Tillichs Religionstypologie versteht sich nicht als eine statische Typologie, sondern als eine höchst dynamische, auf ein Ideal hinstrebende. Die hohe Bedeutung der typologischen Betrachtungsweise für das Gesamtsystem Tillichs lässt sich daran erkennen, dass auch noch für den späten Tillich die religionstypologischen Betrachtungen den Schlüssel für die Verhältnisbestimmung der christlichen Religion im Gefüge außerchristlicher Religionen darstellt und sich gleichzeitig Impulse für die Förderung von Dialogfähigkeit innerhalb eines interreligiösen Austauschs von hier entnehmen lassen. Diesbezüglich hatte der späte Tillich vor allem den Christlich-Buddhistischen Austausch im Sinn, da er infolge seiner Japanreise (1961) große Offenheit und ein wachsendes Interesse gegenüber den fernöstlichen Religionen entwickelte. Aufgrund dieser interreligiösen Begegnung, die für Tillich von existenzieller Bedeutung war, wurde er dazu inspiriert, sich in seinen Bampton Lectures dem Verhältnis des Christentums zu den außerchristlichen Religionen zu widmen. In dem Werk Das Christentum und
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die Begegnung der Weltreligionen ² sind diese Vorträge zusammengefasst, die Tillich 1961 im Low Memorial Library der Columbia University gehalten hatte.³ In diesen Vorlesungen illustriert Tillich erneut jene dynamische Typologie und hebt deren Bedeutung in Bezug auf eine kritische Selbstanalyse der eigenen Religion hervor: Mittels der Typologie sei es möglich das je eigene im Lichte des Fremden zu erkennen und umgekehrt. „Kritik von außen annehmen, heißt, sie in Selbstkritik verwandeln“⁴. Folglich diene die Typologie sowohl einer „Strukturierung des an seinen Rändern unscharfen religiösen Feldes […] als auch dem interreligiösen Dialog.“⁵ Entgegen aller Statik werden die jeweils früheren Stufen der Religion nicht als Stadien angesehen, die überwunden werden müssen. Vielmehr geht Tillich von der Annahme eines Fortwirkens der Strukturelemente der frühen Stufen in den späteren Typen aus, was zu einer Wertschätzung der früheren Stufen führt und diese nicht als prinzipiell überwunden und damit „falsch“ abgelehnt werden: Während einzelne Religionen, genauso wie einzelne Kulturen wachsen und absterben, gehören die Kräfte, die sie hervorbrachten, und die Elemente, die ihren Typ bestimmen, zum Wesen des Heiligen und damit zum Wesen des Menschen und folglich zum Wesen des Universums und zur offenbarungsmäßigen Selbstmitteilung des Göttlichen.⁶
Typologien erachtet Tillich nur dann als angemessen, wenn in ihnen eine Dialektik vorherrscht, die auf einer Spannung bzw. einem Konflikt zwischen den ihnen inhärenten kontradiktorischen Polen beruht und dadurch eine Bewegung entsteht, die es sowohl ermöglicht, einen Konflikt zu erzeugen, als auch eine Einheit herbeizuführen, die einen Ausgleich der Spannungen bedeutet. Auch in der späteren Religionstypologie beschreibt Tillich drei verschiedene Pole: die sakramentale, mystische und ethische bzw. prophetische Stufe der Religion, wobei die sakramentale Haltung der primitiven Kulturreligion der Religionstypologie der Vorlesung (1920) entspricht. Die drei verschiedenen Pole stehen zueinander in einem offenen und dialektischen Verhältnis. Vom Standpunkt der vollkommenen Offenbarung aus, die sich in Christus erfüllt habe, wird die Religionstypologie von Tillich in der Vorbereitungsperiode verortet, in welcher sich alle Religionen befinden. Das Christentum nehme dabei eine doppelte Stellung
Tillich, P., Das Christentum und die Begegnung der Weltreligionen, Stuttgart 1964. A.a.O., Vorwort. A.a.O., S. 53. Danz, C., Schüßler, W., Sturm, E., Einleitung der Herausgeber, in: Dieselben (Hrsg.), Paul Tillich. Ausgewählte Texte, Berlin; New York 2008, S. 22. Tillich, P., Das Christentum und die Begegnung der Weltreligionen, S. 78. f.
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ein, da sich auf dessen Boden einerseits der vollkommene Durchbruch, der Kairos oder auch die Epiphanie, ereigne, es andererseits jedoch auch in Folge der Aufnahme, also dem Zeitalter der Kirche, in den Stand der Religion zurückfallen könne, da es selbst auch der Gefahr der Dämonisierung unterliege. Die auf religionsphilosophischer Ebene erörterten Charakteristiken der verschiedenen Religionssysteme finden in der Dresdner Dogmatik-Vorlesung ihre theologische Entsprechung. Tillich deutet die Geschichte dort unter dem Aspekt der Vorbereitung der vollkommenen Offenbarung. Aus der theologisch-dogmatischen Perspektive handelt es sich bei den außerchristlichen Religionen um eine Wirklichkeit, „in der es zur vollkommenen Offenbarung kommt“⁷ und die folglich eine Voraussetzung der vollkommenen Offenbarung darstellen. So wird die Geschichte von Tillich in drei Perioden eingeteilt: „Vorbereitung, Durchbruch, Aufnahme.“⁸ Das Heilsereignis steht also in historischer Kontinuität und nur so könne es als uns unbedingt angehend vom Bewusstsein aufgenommen werden. „Nur weil der Durchbruch durch die ‚Aufnahme’ mit uns gleichzeitig wird, können wir mit ihm gleichzeitig werden.“⁹ Dem Vorbereitungsstand der Religion komme universaler Charakter zu und auch das Christentum sei Bestandteil dieser Periode, indem … … mit dem Eintritt des Christentums in die Geschichte die Religion nicht etwa aufhört, auch im Christentum nicht. Es kann nur bedeuten, daß die Religion durchbrochen und darum in der Religion Kirche möglich ist.¹⁰
Der Stand der Kirche markiert bei Tillich folglich eine gewisse Qualität und bedeutet einen Standpunkt, als der er sich erst nach dem Durchbruch ausweisen kann. Tillichs Ekklesiologie gewinnt ihr Selbstverständnis also erst in Verbindung mit der Christologie. Trotz des Unvermögens der außerchristlichen Religionen vom Durchbruch zu zeugen und ihrer Verankerung in der Vorbereitungsperiode, ist Tillichs theologisches Geschichtsverständnis so konzipiert, dass es „Tatsachen der Religionsgeschichte […] so [betrachtet], daß sie Hinweise auf die dahinterstehende und doch in ihnen zur Erscheinung kommende Offenbarungsgeschichte werden.“¹¹ Zwar komme den anderen Religionen selbst keine Offenbarungsqualität zu, die dem des Durchbruchs entspreche, nichtsdestotrotz können sie als Ausdrucksgestalten des Unbedingten fungieren, gerade auch in ihrer Heilsver-
EN, Bd. XIV, S. 276. Ebd. Ebd. Ebd. A.a.O., S. 278.
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fehlung und ihrem dadurch offengelegten Erlösungsbedürfnis. Denn wird diese Verfehlung auch als solche bewertet, so können auf diese Weise per antidämonischer Kritik Reformen erstrebt werden, die auf den entscheidenden Durchbruch zielen. Folglich gründet sich, ebenso wie in der RP (1925), auch in der im selben Jahr verfassten Dogmatik-Vorlesung die Dynamik der Religionsgeschichte u. a. auf dem Begriff des Dämonischen, welcher hier zur „[…] Voraussetzung der Geschichte“ überhaupt avanciert.¹² Insofern das Dämonische Signum einer – zwar pervertierten, doch aber existenten – religiösen Haltung des Menschen ist, kann es stets auch als Zeichen einer Beziehung des Menschen zum Unbedingten interpretiert werden. Denn es ist stets dort wirksam, wo die Gottesbeziehung nicht – wie auf profanem Boden – geleugnet wird, sondern in ihren Grundzügen ihre eigentliche Bestimmung verfehlt. „Wo der Begriff des Dämonischen fehlt, steht die Welt gleichsam auf sich selbst, und das Bewußtsein wird als schlechthin losgelöst vom Unbedingten gedacht.“¹³ Insofern kommt dem Dämonischen die Funktion der „Erhaltung des Sinnes“¹⁴ zu, auch wenn es stets als Kennzeichen einer verkehrten Beziehung zum Unbedingten fungiert. Es wird jedoch angenommen, dass auch in der „Wesensverkehrung“ die Beziehung des Menschen zum Unbedingten aufrechterhalten bleibt, auch wenn sie sich als Unbedingt-Setzung von Bedingtem und darin als eine „Dämonisierung des Unbedingten“ expliziert.¹⁵ Das Dämonische kann also insofern als Voraussetzung der Geschichte gedeutet werden, als diese wiederum „die Einheit des Schöpferischen und Wesenswidrigen“¹⁶ zur Voraussetzung hat; Geschichtlichkeit entspricht nie nur der Wesenhaftigkeit, sondern ist stets dadurch Charakterisiert, dass ihr die Möglichkeit zur Sünde, und damit zur Abkehr von Gott, mitgegeben ist. Die Religionsgeschichte wird von Tillich also aus der Perspektive einer „Entfaltung des auf das Unbedingte bezogenen Bewußtseins“¹⁷ analysiert. Die nähere Ausgestaltung dieser Beziehung manifestiert sich in den einzelnen in der Typologie enthaltenen Religionen. Als Ziel und gleichsam als das zu erstrebende Ideal, auf welches „die ganze Religi-
A.a.O., S. 279. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. a.a.O., S. 19: „Der Widerspruch gegen das Unbedingte kann nie so werden, daß das Tragende aufgehoben wird. Sonst würde er sich selbst aufheben. Auch im Bösen ist das Unbedingte tragend“. Ebd. Ebd.
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onsgeschichte ihrem Wesen nach hin[strebe]“¹⁸ gilt Tillich in der Dogmatik-Vorlesung die Erfahrung des Unbedingten „als der reine, durch nichts zu mildernde Widerspruch zum Wesenswidrigen“, der als „reine[r] Zorn“ erscheine, insofern als er am Gericht spürbar werde.¹⁹ Indem das Unbedingte als Widerspruch zum Bedingten aufgedeckt werde, ereigne sich eine Entdämonisierung. Dies könne allerdings nur an dem Punkt geschehen, an welchem der Zorn Gottes ein Höchstmaß erreicht habe, sodass er gleichsam in Überwindung begriffen sei. Das Bewusstsein erkenne dann seine nur relative Bedeutung gegenüber dem Unbedingten und setze sich selbst nicht absolut, indem er sich in seiner Selbstreflexion als im Widerspruch zum Unbedingten erkenne. Eine Analyse des Dämonischen bildet nicht nur die Voraussetzung für ein Verständnis des religionsgeschichtlichen Prozesses (aus seinem Ursprung), sondern auch der entscheidenden Zielvorstellung (der idealen Religion des Paradox‘). Folglich findet sich ein vertiefender Exkurs über das Wesen des Dämonischen in Kapitel 2.6 (Die Religion des Paradox‘ als die ideale Synthese). Hinsichtlich der Genese der Tillichschen Religionstypologie lässt sich mutmaßen, welche Quellen bzw. welches Material Tillich genutzt haben könnte. Allerdings lässt sich nur darüber spekulieren, wie umfangreich der redaktionelle Aufwand sowie die Recherchearbeit für die Typenlehre gewesen sein könnten. Aus Tillichs Literaturliste geht hervor, dass seine Erkundigungen, die der geschichtsphilosophischen Typenlehre zugrunde liegen, hauptsächlich den großen religionsgeschichtlichen Werken wie dem von Tiele²⁰ (Kompendium der Religionsgeschichte), Alfred Jeremias²¹ (Allgemeine Religionsgeschichte) sowie Pierre Daniel Chantepie de la Saussaye²² (Lehrbuch der Religionsgeschichte) entlehnt sind.Weiterhin diente ihm die Religionstypologie von Fabricius als Vorlage. Auch mit Hegels Vorlesung über die Philosophie der Religion hat Tillich sich intensiv beschäftigt. Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis der Religionsgeschichte von Jeremias zeigt, dass Tillich sich bezüglich der Konzeption seines Literaturverzeichnisses in der RP-Vorlesung unter der Rubrik Die verschiedenen Religionen ²³ im Wesentlichen und abgesehen von einigen Differenzen – die Reihenfolge der aufgelisteten Religionen variiert lediglich zwischen China, Indien und dem Iran, welche an anderer Stelle genannt
A.a.O., S. 280. Ebd. Vgl. Tiele, C. P., Tiele’s Kompendium der Religionsgeschichte, 4. Aufl., Berlin 1912. Vgl. Jeremias, A., Allgemeine Religionsgeschichte, München 1918. Vgl. Chantepie de la Saussaye, P. D., Lehrbuch der Religionsgeschichte (Sammlung theologischer Lehrbücher, Bd. 2, 3. Aufl.), Tübingen 1905. EN, Bd. XII, S. 364.
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werden – am Inhaltsverzeichnis Jeremias orientiert zu haben scheint. Auch ein Vergleich der Quellenangaben zeigt, dass Tillichs Nachweise entweder denen von Jeremias oder Tiele, teils auch beiden, entsprechen. Dies wiederum legt die Vermutung nahe, dass Tillich selbst nicht die gesamte Literatur der verschiedenen Religionen rezipiert, sondern sich im Wesentlichen an der genannten religionsgeschichtlichen Basisliteratur orientiert hat. Tillich erörtert zunächst verschiedene Einteilungsprinzipien zur Darstellung der verschiedenen Religionen, um im Anschluss sein eigenes Konzept darzustellen. Dabei unterzieht er vor allem die Einteilung Hegels einer eingehenden Kritik, aber auch Siebeck, Ritschl, Tiele und Fabricius finden Erwähnung. Der Gang durch die verschiedenen Religionen lässt sich in Tillichs Typologie in Form eines Achsensystems illustrieren, welches über einen idealen Ausgangspunkt verfügt. Von dort aus verlaufen die Religionen entsprechend ihrer inneren Konstitutionsbedingungen – einem Überwiegen des Gehalt- oder Formelementes – in zwei gegensätzliche Richtungen weiter, welche jeweils in zwei Extrempunkten gipfeln, die als Inbegriff einer bestimmten religiösen Grundrichtung gelten können (den Religionen der mystischen und den Religionen der ethischen Individualität). Von dort aus laufen wiederum die beiden gegensätzlichen Richtungen auf einen idealen Endpunkt zu und bündeln sich in dieser Idealreligion, der „Paradoxe[n] Kulturreligion“²⁴, zu einer allumfassenden Einheit, der großen kulturgeschichtlichen Synthese. Im Folgenden soll dieses Einteilungsprinzip genauer untersucht und von anderen Klassifikationen abgegrenzt werden.
2.1 Tillichs Einteilungsprinzip: Die Architektonik der Religionstypologie Die Hegelschen Vorlesungen über die Philosophie der Religion stellen die Grundlage und den Ausgangspunkt aller religionsphilosophischen Darstellungen der Folgezeit dar, weshalb auch Tillich von ihnen nicht unbeeinflusst geblieben ist²⁵. In einer ausführlichen Kritik setzt sich Tillich intensiv mit dem Hegelschen Einteilungsprinzip und seiner geschichtlichen Darstellung der verschiedenen Religionen auseinander, um seine eigene geschichtsphilosophische Typenlehre in Abgrenzung von dieser zu gewinnen und zu illustrieren, „wie wir uns eine Ge-
A.a.O., S. 455. Ebd.: Tillich bezeichnet Hegel als den „Vater der religionsgeschichtlichen Betrachtung, auf deren Boden auch unsere [Tillichs] Religionsphilosophie erwachsen ist.“
2.1 Tillichs Einteilungsprinzip: Die Architektonik der Religionstypologie
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schichtsphilosophie der Religion nicht denken können.“²⁶ Dabei kritisiert er dreierlei: Zunächst den Entwicklungsgedanken Hegels, welcher einen einheitlichen geschichtlichen Zusammenhang der Religionen suggeriere. Weiterhin die Negation des Geschichtlich-Konkreten hinsichtlich der Genese des absoluten Geistes. Zuletzt den Abschlussgedanken des religionsgeschichtlichen Prozesses im absoluten, zu sich selbst gekommenen Geist. Alle drei Kritikpunkte verfehlen jedoch in ihrer Darstellung den eigentlichen Sinn Hegelschen Denkens. Dieses ist von Tillich stark vereinfacht und stellenweise falsch interpretiert worden, was eine unzulängliche Verkürzung und Entstellung Hegels bedeutet. Dennoch bildet Hegels Konstruktion der Religionsgeschichte samt ihrem Aufbauprinzip den Ausgangspunkt von Tillichs eigener Positionierung, die sich von Hegel abgrenzen möchte. Die drei genannten Kritikpunkte sollen im Folgenden nicht dazu dienen, die Position Hegels (korrigierend) dazustellen, sondern Tillichs Position in Abgrenzung zu seiner Hegelinterpretation darzulegen. Zum ersten Kritikpunkt lässt sich mit Tillich festhalten, dass Hegel einen metaphysischen, durch den absoluten Geist verbundenen Zusammenhang aller Religionen konstruiere und die einzelnen, bestimmten Religionen als Stationen des Selbsterkennungs- und Explikationsprozesses des absoluten Geistes bestimme. Dieser innere Zusammenhang der Religionen sei jedoch – so Tillich – aufgrund ihrer Herkunft von verschiedensten Kulturböden nicht zu verifizieren, erst Recht könne nicht von einer einheitlichen Entwicklungslinie der Religionen gesprochen werden. Bei der Hegelschen Philosophie der Religionen handele es sich nicht um eine einheitliche Entwicklungsbeschreibung der empirischen und historisch tatsächlich existierenden Religionen, die in einer gewissen Stufenfolge nacheinander geschichtlich existiert hätten. Vielmehr würde die Einheit des Prozesses auf die transzendente Ebene transponiert werden, indem davon ausgegangen werde, dass der göttliche Geist sich in Form eines transzendent-metaphysischen Explikationsprozesses in und durch die Natur entfalte, um letztlich zu sich selbst zu finden und sich in der Form einer absoluten Religion (dem Christentum) am Ende des Geschichtsprozesses selbst absolut zu erfassen. Die Geschichte sei dann nicht als eine empirische bzw. rein immanente zu verstehen, sondern als eine „transcendente, im absoluten Bewußtsein sich vollziehende Geschichte“²⁷. Hegel übergehe jedoch nach Meinung Tillichs die Dialektik von Form und Gehalt, welche für den Tillichschen Religionsbegriff zentral sei: Von unserem Religionsbegriff ist derartiges [der einheitliche Entwicklungsgedanke der Religionen] nicht möglich; denn wenn Religion Gehaltserlebnis durch die Form hindurch ist, so
A.a.O., S. 446. A.a.O., S. 445.
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2 Die geschichtsphilosophische Entfaltung des Wahrheitsbegriffs
ist offenbar die Kulturform sehr wesentlich mitbestimmend für die Religion. Eine völlige Loslösung vom Kulturboden ist überhaupt unmöglich.²⁸
Die Kritik Tillichs am in sich geschlossenen, stringenten metaphysischen Geschichtsprozess macht ebenso den „Gedanke[n] der Stufenfolge mit Wertmaßstab […]“²⁹ hinfällig. Der Prozess der Vervollkommnung mittels einer schrittweise sich vollziehenden Selbstreflexion des Absoluten im Gegenüber der äußeren Natur bedeutet Hegel zufolge einen metaphysischen Prozess, auf welchen das Konkrete keinen Einfluss nimmt. Tillich hingegen betrachtet das Geschichtliche zwar auch als vom Unbedingten durchwaltet, allerdings nicht in konsequenter Abhängigkeit von ihm. So sei Offenbarung nicht nur als ein vom Absoluten evozierter Vorgang zu denken, sondern, da sie sich stets am und im Konkreten ereignet, habe dieses Konkrete ebenfalls einen Anteil daran, ob und in welcher Form das Absolute sich ihm als Absolutes offenbart. Am Anfang der geschichtsphilosophischen Typenlehre steht bei Tillich folglich nicht das Absolute als ein eigenmächtiges, vom Denken und Bewusstsein unabhängiges Prinzip, sondern die absolute Korrelation. Diese wiederum besteht aus den sich gegenseitig fordernden Polen Denken und Sein bzw. Form und Gehalt. Entsprechend kann die Beziehung des Bewusstseins auf das Unbedingte bzw. das „Erfassen“ des unbedingten Gehalts nur im Selbstvollzug des Menschen realisiert werden (und damit zur Wahrheit gebracht werden). Dieser (Erkenntnis‐)prozess als Realisierung des Wahrheitsverhältnisses zwischen Gott und Mensch kann jedoch geschichtlich nicht stringent verlaufen; eine einheitliche Entwicklungsgeschichte des Absoluten liegt der Tillichschen Religionstheorie fern. Vielmehr schließt Tillichs Darstellung mit ein, dass das typische Verhältnis von Form und Gehalt im Fortgang des Geschichtsprozesses auch hinter eine geringere Vollkommenheit zurückfallen kann. Demnach können auf jeder Stufe theoretisch alle möglichen Formen des Verhältnisses von Form und Gehalt gegeben sein. Denn das Absolute wird von Tillich nie unabhängig von der Aufnahme durch den Menschen in seiner konkreten geschichtlichen Situation gedacht. Aus diesen Überlegungen erschließt sich Tillichs zweiter Kritikpunkt an Hegel: Im Gegensatz zu Hegel möchte Tillich das Historisch-Konkrete nicht negiert und übergangen wissen. Das Konkrete ist für ihn nicht passiv der Selbstexplikation des Absoluten ausgeliefert. Vielmehr hebt Tillich im Gegensatz dazu die Bedeutung der konkret-geschichtlichen Art und Weise der Aufnahme und Interpretation des göttlichen Gehalts vom Menschen hervor, die stets von der jeweili-
Ebd. A.a.O., S. 446.
2.1 Tillichs Einteilungsprinzip: Die Architektonik der Religionstypologie
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gen sozial-politischen, geistigen und sozio-ökonomischen Situation des Menschen abhängt. Wahrheit ist nach Tillich stets das Resultat von Rezeption und Produktion des unbedingten Gehaltes. Deshalb kann der Wahrheitsvollzug auch nicht per se an eine bestimmte Religionsform gebunden sein, sondern sich stets nur an einzelnen Teilaspekten einer Religion und an der jeweiligen Stellung des Bewusstseins zum Unbedingten (in der jeweiligen Religion) bemessen lassen. Die ideale Religion (die Religion des Paradox’) kann nur aus der Korrelation von konkreter Geschichte und abstrakter Forderung erwachsen. Ein folgender Exkurs soll sowohl den jeweiligen Ausgang des religionsgeschichtlichen Prozesses bei Hegel und Tillich als auch die jeweilige Bedeutung und Funktion des endlichen Bewusstseins vertiefen. Als Quelle dienen Tillichs Gedanken in der Dresdner Dogmatik-Vorlesung (1925). Movens der Religionsgeschichte bei Hegel ist – wie bereits in obigen Überlegungen umrissen – der göttliche Geist, der sich im Begriff entfaltet, sich endlich selbst durchsichtig und objektiv wird und so der Vorstellung bzw. dem denkenden Bewusstsein ge-geben ist. Dabei unterscheidet Hegel zwischen einem endlichen Bewusstsein und dem Selbstbewusstsein Gottes. In der absoluten Religion ist der Begriff sich selbst zum Gegenstand geworden, indem das Selbstbewusstsein Gottes sich nun sowohl „in einem von ihm verschiedenen Bewußtsein [weiß], das an sich das Bewußtsein Gottes ist, aber auch für sich, indem es seine Identität mit Gott weiß, eine Identität, die aber vermittelt ist durch die Negation der Endlichkeit.“³⁰ Das Endliche wird in diesem Prozess vom Absoluten aufgewertet, indem die Notwendigkeit der Negation alles Endlichen in seiner Erscheinung als Empirisches dessen Positivität in seinem mit Gott verbundenen Wesen impliziert. Jedoch interpretiert Tillich das Endliche bei Hegel als passiv, unfrei und dem Prozess unterworfen. Auch bei Tillich erfährt das endliche Sein eine Aufwertung im und durch das Unbedingte, jedoch betont Tillich stärker als Hegel, dass die Befreiung des Menschen aus seiner in sich ruhenden Endlichkeit und der entscheidende Prozess des Durchbruchs die Aktion des Menschen erfordern, der sich eben selbst durch die Gewahrwerdung seiner Nichtigkeit und der Unbedingtheit des göttlichen Gehalts als unfrei erkennt, sich im Konkreten negiert und in seiner Verbundenheit mit dem Unbedingten als frei bejaht. Dieser Gedanke spiegelt sich in Tillichs Gesamtsystem wider, wird innerhalb der Religionsphilosophie und Gotteslehre entwickelt und im theologischen System in der Kreuzestheologie soteriologisch realisiert. Bei Hegel erscheint das endliche Bewusstsein in dem Prozess der Selbsterkenntnis des Absoluten in der Geschichte als notwendige
Hegel, G. W. F., Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, S. 187.
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2 Die geschichtsphilosophische Entfaltung des Wahrheitsbegriffs
Transformationsbedingung des göttlichen Geistes, durch welche dieser sich objektiv als ein Gegenüber erfassen kann. Es ist insofern mit dem göttlichen Geist verknüpft, als es „[…] Gott nur insofern [wissen kann], als Gott sich in ihm weiß.“³¹ Es stellt sich die Frage, inwiefern bei Hegel das Objektiv-Werden des göttlichen Geistes in der Geschichte im Hinblick auf Gott eine Notwendigkeit darstellt. Die Genese der Selbsterkenntnis Gottes stellt das Wesen von Religion an sich dar. Der letzte Satz des obigen Zitates lässt dabei auf eine korrelative Verzahnung schließen, bei der jedoch Gott die entscheidende Aktivität zukommt. Gott ist bei Hegel zwar als unabhängig vom menschlichen Bewusstsein zu denken, er benötigt dieses jedoch, um sich selbst als absoluter Geist explizieren zu können. Dies geschieht, indem am Ende eine „Rückkehr des Begriffs aus seiner Bestimmtheit [erfolgt], worin er sich ungleich ist, zu sich selbst, so daß er zur Gleichheit kommt mit seiner Form und seine Beschränktheit aufhebt.“³² Gleichzeitig stellt dieses Zusich-Kommen des Geistes dessen Freiheit dar, die eben nicht schon unabhängig von der Schöpfung im Absoluten selbst anzusiedeln ist. In dieser Denkfigur ist alleiniger Initiator allen Werdens und jeder Dynamik der göttliche Geist selber. Die verschiedenen geschichtlichen Realisationen des Religiösen werden von Hegel insofern gewürdigt, als sie in den Prozess der Explikation des Begriffs eingebunden sind, somit notwendige Stationen auf dem Weg des Geistes zu sich selbst darstellen. Dennoch geht er von der Überwindungsbedürftigkeit der Stufen aus, da ihre jeweilige Bestimmtheit einen Mangel des Geistes selbst darstellt, der noch nicht frei ist. Im Kontrast dazu betont Tillich bereits in der Einleitung der Dresdner Dogmatik-Vorlesung, dass „[d]as Verhältnis des Menschen zum Unbedingten […] immer Entscheidungs- und darum Schicksalscharakter [habe]. Es ist nie zufällig oder notwendig.“³³ Die Frage, ob die Welt für Gott Notwendigkeit hat, stellt für Tillich eine „Strittige Frage in der Dogmatik“³⁴ dar. Ausgehend von der Offenbarungskorrelation könne eine Haltung, die „[…] Gott abgesehen von der Kreatürlichkeit betrachtet“ nur als „typische Fehlhaltung“ bezeichnet werden, „[…] mit der man aus der Offenbarungskorrelation herausspringt […]. Dann aber bleibt die Antinomie unauflöslich.“³⁵ Dieser Gedanke wird von Tillich im 30. Paragraphen der Dogmatik entfaltet, wo er „[d]ie unbedingte Selbstmächtigkeit des Unbedingten (Aseität)“³⁶ diskutiert. Auch dort wird deutlich, dass das Verhältnis zwischen Gott und Kreatur von Tillich so gedacht wird, dass die Offen-
Ebd. A.a.O., S. 64– 65. EN, Bd. XIV, S. 10. A.a.O., S. 143. Ebd. A.a.O., S. 148.
2.1 Tillichs Einteilungsprinzip: Die Architektonik der Religionstypologie
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barung Gottes, das Sich-Geben in und an die Bedingtheit der Existenz, weder als ein rein zufälliger, noch als ein notwendiger Akt verstanden werden kann. „Gott bedarf für sein Leben kein anderes Leben“³⁷. Die Unabhängigkeit und damit Freiheit Gottes gegenüber seiner Kreatur – von Tillich auch als „Selbstgenugsamkeit“³⁸ Gottes bezeichnet – stelle sich als Konsequenz von Gottes „Klarheit“³⁹ dar, womit das Identisch-Sein Gottes mit sich selbst, seine Ungespaltenheit, impliziert wird: „In ihm ist nichts Kreatürliches“⁴⁰. Nur als ein freies Wesen kann Gott sich dem Menschen als ein Gegenüber und Anderer darstellen, der unbedingt angehen kann. Auch die Verschlossenheit Gottes sei es, durch die „in Gott […] keine Notwendigkeit zur Kreatur“⁴¹ liegt. Gleichzeitig trage Gott jedoch auch ein Moment der „Offenheit“ in sich, durch welches Offenbarung sich als ein freiwilliger, gottgewollter Gnadenakt der Liebe zur Kreatur erweise. Diese freie Liebe Gottes lasse sich wiederum nur aus dem Erlebnis der Erlösung fassen: „Nur insoweit wir erlöst sind und dieses Erlöstsein als Rettung aus der Zerspaltung und Wesenswidrigkeit und Sinnlosigkeit erfahren haben, können wir die Tiefe des Seienden als tragende und zum Ziel führende Liebe erfahren.“⁴² Hier zeigt sich, meines Erachtens, der Kernpunkt der Dogmatik, der sich inhaltlich in einer inneren Verwobenheit der abstrakten Lehre von Gott und dessen Eigenschaften („die Gottheit Gottes“) mit der Soteriologie als einem Ort verbindet, an dem sich die in Gott potentiell vorhandene Liebe realisiert. Die Soteriologie wird im zweiten Teil unter dem Gesichtspunkt der Geschichtlichkeit des Seienden behandelt; dadurch wird impliziert, dass Erlösung von Tillich verstanden wird als ein sich bereits in der Geschichte – und nur dort – vollziehender Akt. Somit sind auch die Motive der göttlichen Liebe und Güte in den Gedanken der Offenheit und Klarheit Gottes (im Stand der Unschuld) lediglich angedeutet, kommen zur vollen Entfaltung jedoch erst unter dem Aspekt der sich in der Geschichte vollziehenden Überwindung der Trennung des Menschen von Gott, was gleichzeitig Heil und Erlösung mit sich führt. Insofern kommen Gott bei Tillich die Attribute der Freiheit, Unabhängigkeit und Aseität zu, weshalb keine Notwendigkeit des Eingangs Gottes in die Geschichte besteht. Dass Gott sich dennoch dem Menschen geschichtlich offenbart, bedeutet einen freien Gnadenakt aus Liebe zur Kreatur.
A.a.O., S. 152. Ebd. A.a.O., S. 153. A.a.O., s. 154. Ebd. A.a.O., S. 307.
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2 Die geschichtsphilosophische Entfaltung des Wahrheitsbegriffs
Tillich, der das Eingehen Gottes in den Geschichtsprozess bei Hegel als Notwendigkeit interpretiert, lehnt dies aufgrund der „Selbstgenugsamkeit“ Gottes ab. Er kritisiert jegliche Welterklärungs- und Erhaltungstheorien, die auf dem Prinzip basieren, „daß Gott uns bedarf, nicht im Sinne einer Naturnotwendigkeit, sondern einer inneren Lebensnotwendigkeit (Gott erfasst sich selbst durch seine Geschöpfe)“⁴³. Schon Dienstbeck macht in Form einer umfassenden Analyse von Tillichs Gesamtwerk mit einem Schwerpunkt auf der frühen ST von 1913 darauf aufmerksam, dass der Gedanke der Selbstgenügsamkeit Gottes bereits dort von Tillich ausgearbeitet worden war. Im Kontext einer Diskussion des Verhältnisses von Religion, Kultur und Sittlichkeit (Kapitel 1.2.2.3) stellt Dienstbeck das sich zweipolig aufgliedernde Religionsverständnis Tillichs dar: Religion als Prinzip und Religion als Wirkung. Im Prinzip sei Religion immer absolut und vom Denken abstrakt gefasst, als zweite Seite gehöre jedoch die Konkretheit, das Eingehen des Absoluten in die Wirklichkeit zum Vollzug der Religion unausweichlich dazu, um diese begreifbar machen zu können. Dienstbeck verweist auf den „Tillichschen Begriff der Lebendigkeit, der gerade das Absolute als Vollzugsbewegung auszeichnet […]“. Dabei hält er fest, dass der Realisierungsprozess im absoluten und konkreten Moment gründet und „nicht nur im Absoluten selbst, sondern (diese Bewegung) erstreckt sich auf und durch das Konkrete, ohne jedoch das Konkrete als solches dabei als bloßes Mittel des eigenen Vollzugs zu erfassen., da das Konkrete sonst nur zu einer notwendigen Materie des Absoluten degenerieren würde.“ Die dialektische Spannung, die zwischen Konkretem und Absolutem besteht, ist bei Tillich nicht leicht zu fassen, da sie nicht eindeutig bleibt. So nehme Tillich in der ST (1913) an, dass das Absolute zwar einen Gang durch die Geschichte vollzieht, indem es sich „durch das Konkrete zu sich selbst zurück konstituiert“ und dieses „Verhältnis zwischen absolut und konkret“ dann „in der Religion zur Anschauung kommt“.⁴⁴ Das Konkrete kann dabei jedoch nicht als bloßes Mittel zum Zweck der Realisierung des Absoluten gedacht werden. Andersherum lässt sich das Absolute jedoch auch nicht ohne Konkretion denken. Erschwerend kommt hinzu, dass das Absolute selbst als das religiöse Prinzip eine Konstante darstellt und nur die Aufnahme dieses Prinzips in der Religionsgeschichte die Variabilität ins Spiel bringt. Man kann sich das Verhältnis absolut und konkret folglich nicht anders denken als in der Form, dass Gott als das absolute Prinzip immer schon vollkommen bei sich selbst ist (Aseität), durch seinen Eingang in das Konkrete (oder die Geschichte) jedoch durch die unterschiedliche
A.a.O., S. 152. Dienstbeck, S., Transzendentale Strukturtheorie, S. 76 – 77.
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Aufnahme eine je verschiedene Ausprägung, Wirkung und Erscheinung im Endlichen annehmen kann. In der Zielvorstellung, der idealen Vorstellung göttlichen Wirkens in der Geschichte, die gleichzeitig das telos der Religionsgeschichte markiert, wird das Verhältnis von Gott und Mensch schließlich so gedacht, dass jegliche im Absoluten gründende Potentialität aktuell wird und folglich durch jede kulturelle Form der göttliche Gehalt durchsichtig wird. Gott ist dadurch nicht vollkommener geworden, jedoch ist das Bedingte dadurch zur Erkenntnis seiner selbst gelangt. Diese Idealvorstellung liegt allerdings außerhalb der Realisierungsmöglichkeit im Bedingten. Damit leiten die ersten beiden Kritikpunkte Tillichs an Hegel automatisch zum dritten über, nämlich der Ablehnung eines Abschluss- und Zielgedankens des metaphysischen Prozesses. Gemäß der ersten Kritik ist Wahrheit nach Tillich weder außerhalb des menschlichen Bewusstseins als einer objektiven, bewusstseinsexternen Realität zu suchen, was einem alleinigen, sich außerhalb des Menschen befindlichen Prozess im Absoluten entspräche. Noch ist gemäß der zweiten Kritik das Konkrete als an der Wahrheit mitwirkend ausgeschlossen (da Wahrheit nur durch den individuellen Vollzug erfahrbar wird). Da es sich beim Wahrheitsvollzug also nie nur um einen sich in einer metaphysischen Sphäre vollziehenden Prozess handele, sondern stets auch das Konkrete in seinem Sinnund Normvollzug an der Wahrheit mitwirke, könne es auch nicht zu einer absoluten Verwirklichung des Ideals innerhalb der Geschichte kommen: Es bedarf wohl kaum eines Beweises aus diesen Voraussetzungen, daß ein solcher Begriff das Verhältnis von Gehalt und Form in sich verkehren würde. Er würde eine bestimmte Form des Unbedingtheitserlebens für sich in Anspruch nehmen und damit als unbedingte allen anderen Formen entgegentreten.“⁴⁵
Die reale Erfüllung des Absoluten innerhalb der empirischen Existenz in Form einer konkreten Religion (bei Hegel dem Christentum als absoluter Religion) lehnt Tillich ab. Für diesen könne die ideale Religion in der Geschichte immer nur Forderung bleiben, nie aber vollkommen realisiert werden. Der vom Absoluten ausgehende Entwicklungsprozess im Sinne Hegels hintergehe das dynamische Verhältnis des Einzelnen zu den konkreten geschichtlichen Formen und dem daraus resultierenden Wahrheitsvollzug. Die Form fungiert bei Hegel lediglich als Durchgangs- und Vervollkommnungsmedium des Absoluten. Schlussendlich kulminiere dieser absolute Prozess in einer absoluten Form, zu der der Geist letztlich durchgedrungen sei.⁴⁶ Das „Verhältnis von Formbegriff und Geschichte“ EN, Bd. XII, S. 446. Vgl. A.a.O., S. 448.
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2 Die geschichtsphilosophische Entfaltung des Wahrheitsbegriffs
stelle bei Hegel einen Spannungsausgleich dar, indem „der Formbegriff, also in diesem Falle Religion als Selbstbewußtsein des absoluten Geistes, irgendwo in der Geschichte zur Verwirklichung kommen müßte.“⁴⁷ Die Form werde hier also nicht als unabhängig vom absoluten Geist und demnach als frei gedacht. In Abgrenzung zum Hegelschen, auf ein sich geschichtlich realisierendes telos ausgerichteten Entwicklungsgedanken möchte Tillich also weder „eine einheitliche Entwicklung der Religion […] konstruieren, noch […] diese Entwicklung nach Wertmaßstäben zu einem absoluten Ziel“⁴⁸ hinführen, da nicht von einer Einheitlichkeit der historischen Religionen ausgegangen werden könne. Vielmehr handelt es sich bei der Einteilung Tillichs anstelle einer metaphysischen Entwicklungsgeschichte um eine „metaphysische Typenlehre“, die „an Stelle einer Stufenfolge mit zeitlichem Ablauf eine Wertung nach dem Maßstabe des Formbegriffs“ setzt.⁴⁹ „Metaphysik, das heißt Nachweis von Formrealisierung in der Wirklichkeit.“⁵⁰ Dieser Realisierungsprozess verlaufe jedoch nicht notwendig zeitlich-chronologisch, sondern erwachse aus einer dynamischen Begegnung des Denkens mit dem Sein, des Bewusstseins mit den historischen und natürlichen Gegebenheiten, die auf ihren Sinn hin erfasst werden. Folglich könne die Typenlehre auch als „inhaltliche Sinngebung der Wirklichkeit […]“⁵¹ interpretiert werden. Form- und Normbegriff generieren hierbei in wechselseitiger Abhängigkeit den Sinngebungsprozess als einen dialektischen Vollzug, aus welchem divergierende Religionsformen erwachsen, die sich historisch manifestieren und in bestimmte Typen klassifizieren lassen. Beispielsweise beobachtet Tillich eine typologische Kongruenz von Religionsformen, die unterschiedlichen Kulturböden entspringen, während in historischen Religionen mit gemeinsamer kultureller Wurzel durchaus divergierende Typen vertreten sein könnten. Dabei wäre Tillich missverstanden, würde man seine typologische Analyse als inhaltliche Eigenschaftslehre im Sinne einer rein empirischen Beobachtung mit religionswissenschaftlicher Intention interpretieren. Vielmehr wertet Tillich die inhaltlichen Prämissen, die den verschiedenen Religionen zugrunde liegen mithilfe des im Vorangehenden bereits erörterten Formalprinzips von Religion. Gleichzeitig reflektiert er auf die Grenzen dieser inhaltlichen Wertung, die mit der Begrenzung des konkret-historischen Formbegriffs durch den vom Bewusstsein gesetzten Normbegriff einhergeht, welcher wiederum an die „Grenzen der konkreten Geis-
A.a.O., S. 446. Ebd. A.a.O., S. 447. Ebd. Ebd.
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tigkeit“⁵² zurückgebunden ist und „also praktisch auf dem Boden [einer ganz spezifischen, nämlich] der europäisch-christlichen Kultur“⁵³ erwächst. Die Tillichsche Religionstypologie weiß also um ihre Fallibilität und ihren eingeschränkten Blickwinkel, da andere Religionen nur im Rahmen der Begrenzung durch die eigene europäisch geprägte Religiosität und theologische Prägung bewertet werden können. Dies mag einerseits als Kritik an Tillichs Typologie gewertet werden. Andererseits läuft der Anspruch auf Vollständigkeit jedoch dem Systemprinzip Tillichs zuwider, welches seine Wahrheit und seinen Gehalt nicht aus der Totalität der im System behandelten Einzelfaktoren gewinnt. Vielmehr wird präsupponiert, dass das System an jedem Punkt seines Prozesses bzw. an jedem seiner unendlichen Momente – also auch im Ausgang vom Singulären, Einzelnen – zu seinem Ziel kommt. Das sich aus unterschiedlichen Momenten zusammensetzende System lässt sich gleichzeitig wiederum selbst „in die Einheit des Geisteslebens überhaupt“⁵⁴ einreihen. Kurz gesagt: Der innerhalb des Tillichschen Systems gewonnene Religionsbegriff als ein vom Denken konkret erfasster und konstruierter kann selbst samt seiner dialektischen Genese aus kritisch-intuitiver Methode als ein Moment in Tillichs offenem System bestimmt werden. Insofern lässt er sich als Formbegriff wiederum selbst in „die Einheit des Geisteslebens überhaupt“ (s.o.) einreihen. Unter dieser Einheit wiederum kann die Totalität der geschichtlich existierenden „Geistesleben“ verstanden werden. Indem dem Religionsbegriff selbst nur eine Momenthaftigkeit anhaftet und er damit selbst als im Prozess befindlich zu interpretieren ist, ist jegliche Form von Fixation und Absolutsetzung ausgeschlossen. Der Religionsbegriff Tillichs ist kein Erstarrungsprodukt, sondern immer in der eigenen Selbstüberwindung begriffen. Die Genese von Tillichs Religionstypologie ist u. a. auch durch Referenzgrößen wie Fabricius geprägt worden, welcher mit seiner Typologie offenkundig nicht ohne Einfluss auf Tillichs System geblieben ist.⁵⁵ Im Gegensatz zu Fabricius lässt sich der von Tillich konstruierte religionsgeschichtliche Prozess als metaphysisch (s.o.) werten, da er der „Verwirklichung des Formbegriffs in der Geschichte und der Richtung dieser Verwirklichung auf einen Normbegriff“⁵⁶ nachspürt, also neben einer Darstellung der verschiedenen Typen auch deren Sinn mittels eines
Ebd. A.a.O., S. 448. A.a.O., S. 447. Fabricius, C., Typen der Religion, in: Schiele, F. M., Zscharnack, L. (Hrsg.), Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch in gemeinverständlicher Darstellung, 5. Bd., Roh bis Zypressen, Tübingen 1913. Ebd.
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2 Die geschichtsphilosophische Entfaltung des Wahrheitsbegriffs
„Nachweis[es] von Formrealisierung in der Wirklichkeit“ nachgehen möchte⁵⁷, während die typologische Darstellung Fabricius‘ ausnahmslos erfahrungswissenschaftlich konzipiert ist⁵⁸, indem sie religiöse Grundtypen der Frömmigkeit nachweist, die „in der Religionsgeschichte mit einer gewissen Regelmäßigkeit wiederkehren.“⁵⁹ Folglich lässt sich seine Untersuchung der empirischen Religionswissenschaft zuordnen. Als metaphysisch lässt sich Tillichs Typologie auch ob der Idealität des von ihm kreierten Anfangs- wie Zielpunktes klassifizieren. Dabei verfolgt er das Ziel, nachzuweisen, dass die konkret-geschichtlichen Religionsgemeinschaften bestimmte Entwicklungslinien skizzieren, die letztlich in der von ihm konstruierten Idealreligion als ihrem Endziel kulminieren. Dieser Normbegriff orientiert sich an der „europäisch-christlichen Kultur“⁶⁰ und bleibt bei Tillich stets nur ideale und damit nicht realiter sich innerhalb geschichtlicher Existenz erfüllende Forderung. Das Tillichsche Einteilungsprinzip erwächst „aus der Dialektik des religiösen Princips, das heißt aus dem Verhältnis von Form und Gehalt oder von Religion und Kulturform.“⁶¹ Dies wiederum bedeutet, dass die Verortung der einzelnen Religionen innerhalb des Achsensystems, je nach Überwiegen eines in ihnen enthaltenen Form- oder Gehaltselements erfolgt. Tillich konstruiert also eine … … Stufenleiter der Arten des Welterlebens […], in der auf der einen Seite die Idee eines reinen Form-, auf der anderen Seite die Idee eines reinen Gehaltserlebens steht und dazwischen eine Stufenleiter von dem Übergewicht der Form und Bewußtheit bis zu einem Übergewicht des Gehalts und der Ekstatik, also eine Reihe, in der auf der einen Seite die profanste und auf der anderen die religiöseste Art des Welterlebens steht.⁶²
„Form“ bedeutet für Tillich also stets das sich in Form der Bewusstheit Ereignende, an psychologische Prozesse und damit gleichzeitig an die Endlichkeit bzw. Existenz Gebundene. Sie ist dadurch stets Signum des Profanen. Hingegen stamme der „Gehalt“ aus dem Sinngrund und -abgrund des Bewusstseins, also nicht aus dessen immanenter Konstitution, sondern aus einer dem Bewusstsein Vgl. EN, Bd. XII, S. 447. Fabricius, C., Typen der Religion, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch in gemeinverständlicher Darstellung (von Roh bis Zypressen), Bd. 5, Tübingen 1913, Sp. 1401: Fabricius unterscheidet drei Grundrichtungen der Stellung des Frommen zum Weltleben und damit drei Haupttypen der Religion: Die Frömmigkeit „ist entweder weltförmig oder weltflüchtig oder weltüberwindend.“ Die letzte Richtung wird von Fabricius höher gewertet, „insofern in ihr das Gleichgewicht zwischen Weltbejahung und Weltverneinung erreicht wird.“ Ebd. EN, Bd. XII, S. 448. A.a.O., S. 453. Ebd.
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gegenüber transzendenten Sphäre. Der Bezug des Bewusstseins auf diese Sphäre wird von Tillich im obigen Zitat als „religiöseste Art des Welterlebens“ (s.o.) bezeichnet. Doch ist mit der Bezeichnung „religiös“ noch kein Wahrheitsanspruch verbunden. Denn im Vorhandensein von Religion äußert sich nach Tillich der Zustand des Menschen in seiner Zweideutigkeit, was bedeutet, dass der Mensch stets der Endlichkeit verhaftet bleibt und folglich die wahre Beziehung zu Gott auch verfehlt werden könne. Erst, wenn in die Religion die Offenbarung Gottes durchbricht und dadurch das verkehrte Verhältnis des Menschen zum Unbedingten durch das Unbedingte selbst durchbrochen wird, kann der Mensch sein wahres Sein realisieren. Gleichzeitig werde dadurch das Unbedingte als ein auf den Menschen Zugehendes erlebt, von welchem das erkennende und fühlende Bewusstsein des Menschen ergriffen wird. Erst also, wenn Religion als heteronome Sondersphäre des Geistes überwunden ist und jeder menschliche Ausdruck der göttlichen Offenbarung entspricht, realisiere sich das Wahrheitsverhältnis des Menschen absolut. Folglich sei Religion – unabhängig von der Religionszugehörigkeit (also auch innerhalb des Christentums) – ausgehend von der vollkommenen Offenbarung mit der Vorbereitungsperiode identisch. Im Hinblick auf andere Religionen ist es weder Tillichs Ziel, diese aus einer Außenperspektive aus abzuqualifizieren, noch eine objektive Beurteilung der Erlösungsfähigkeit oder des Wahrheitsgrads der außerchristlichen Religionen zu geben. Dennoch – und dies geht auch aus der Dreigliedrigkeit des Geschichtsprozesses hervor – lässt sich die religiöse Wirklichkeit aus einer geschichtsphilosophischen Perspektive aus betrachten, die wiederum als Bindeglied zwischen dem historisch Tatsächlichen (der je individuellen formalen Ausprägung der Religion auf dem Boden der jeweiligen Kultur) und dem Normativ-Gültigen steht. Diese Geschichtsphilosophie ist identisch mit der religionsphilosophischen Arbeit Tillichs. Sie versteht sich als Metaphysik, indem sie dem Sinn von Formrealisierung in der Wirklichkeit und dessen Richtung auf den unbedingten Sinn nachspürt. Gleichzeitig ist sie nach zwei Richtungen hin offen: Sie betrachtet die durch die Kultur gegebene Wirklichkeit einerseits, indem sie die Bedingungen des religiösen Bewusstseins erkenntnistheoretisch an der Begegnung des Denkens mit dem Sein expliziert, während dies andererseits stets unter der Voraussetzung ihrer Verwurzelung im theologischen Standpunkt erfolgt. Nur unter der Bedingung, dass die Religionsphilosophie auf diese Weise im theologischen Standpunkt und aus dem gezielt christlich-religiösen Bewusstsein heraus der Wirklichkeit begegnet, ist es ihr überhaupt möglich, einen Sinn der Formrealisierung auf dem Boden der unterschiedlichen Religionen zu ermitteln. Denn dieser ist direkt gebunden an die aus dem theologischen Prinzip erwachsende Norm. Andernfalls würde es sich um einen nicht im Glauben fundierten Sinn handeln,
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2 Die geschichtsphilosophische Entfaltung des Wahrheitsbegriffs
welcher durch die Rückbindung ans Subjekt lediglich bewusstseinsintern veranschlagt werden könnte. Den Ausgangspunkt der Tillichschen Religionstypologie bildet die „Primitive Kulturreligion“. Auf ihre genaue Bestimmung wird im Folgenden noch einzugehen sein. Von dort aus konstruiert sich der Geschichtsprozess über die politisch-sozialen Kulturreligionen auf der einen Seite und der philosophisch-ästhetischen Kulturreligionen auf der anderen Seite hin zu den beiden Extrempunkten der Mystik und der Ethik, um von dort aus wiederum über die Individualreligionen der Gnade auf ethischer Seite und den Individualreligionen der dynamischen Mystik auf mystischer Seite in der paradoxen Kulturreligion als dem Ideal und Endziel der Religionsgeschichte zusammenzufließen. Die Mystik steht dabei sinnbildlich für den „[…] Wille[n] zur reinen Gehaltserfassung […], die Ethik […] [für] das Unbedingtheitserlebnis durch die reine Form des Geltens hindurch.“⁶³ Auch diese beiden Extrempunkte repräsentieren ideale Konstrukte, da es weder eine absolute Mystik, noch eine absolute Ethik geben könne: Es kann keine reine schlechthin formfreie Mystik geben, sie wäre der Tod oder die absolute Bewußtlosigkeit, und es kann kein gänzlich seinsloses Formerlebnis geben, es wäre schlechterdings nichtig. Also auch hier ideale Punkte, die nirgends realisiert sind, eben darum aber immer vorhanden sind in jeder Religion.⁶⁴
Entscheidend ist hierbei der Fortgang der Geschichtsphilosophie von einem zunächst unmittelbaren (in dem Denken und Sein noch ungeschieden sind) in einen bewussten Zustand (in dem Denken und Sein in Widerspruch treten). Alle vier Eckpunkte des Achsensystems sind dabei unter Abstraktion von der Wirklichkeit gewonnen. Sowohl die primitive ursprüngliche Einheit liegt „im Unendlichen der Vergangenheit“ als auch die ideale Synthese, die Religion des Paradox’, ist „nie wirklich, aber immer ein in allem religiösen Leben immanentes Ziel“.⁶⁵ Denn was ursprünglich „in primitiver Selbstverständlichkeit zusammen war, das wird hier mit dem Bewußtsein seiner Paradoxie gefordert.“⁶⁶ Sowohl der Ausgangs- als auch der Endpunkt der Typologie sind also nicht historisch im Sinne einer empirisch-wirklichen Existenz zu denken, sondern beide bilden typische Aspekte eines religiösen Bewusstseins, welche jede geschichtlich existente Religion in sich trage. Sowohl dem primitiven Anfangsstadium sei also eine Form von Kultur inhärent und auch in höher entwickelten Religionen können primitive Elemente
A.a.O., S. 453 u. 454. A.a.O., S. 454. Ebd. Ebd.
2.1 Tillichs Einteilungsprinzip: Die Architektonik der Religionstypologie
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enthalten sein, die auf deren Urzustand hinweisen. Mystik und Ethik, und korrespondierend zu ihnen Gehalt und Form, bilden als Beurteilungskriterien der typischen Ausprägung der jeweiligen Religion das Movens der Religionsgeschichte. In einem Mittelpunkt des Achsensystems, in dem sich alle Linien schneiden, befinden sich all diejenigen Religionen, „die im Stande waren, sämtliche Typen des religiösen Lebens zu vereinigen, ohne doch auseinanderzufallen, sondern sie in der Synthese der Universalkirche zusammenzufassen.“⁶⁷ Tillich sieht dies in zwei Religionen gegeben, die für ihn eine fortdauernde Kontinuität aufweisen und zudem erst als Ergebnis der bereits ihnen vorhergehenden Entwicklungslinien in Erscheinung treten: dem Mahajana-Buddhismus und dem christlichen Katholizismus. Wichtig für die Gesamtdarstellung ist es, dass Tillich bei seiner geschichtsphilosophischen Darstellung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, sondern es ihm vielmehr daran gelegen ist, bestimmte Typen aus der Fülle des geschichtlichen Materials herauszuheben und diese ausgehend „von dem funktionalen Religionsbegriff“⁶⁸ zu charakterisieren. Die Auswahl dieser Typen wird von Tillich dadurch begründet, dass sie eine „eigenartige typische Ausprägung des religiösen Princips darstellen“⁶⁹, wobei die Komplexität der einzelnen Religionen durch die vereinfachende Schematisierung Tillichs nicht geleugnet wird. Der Schwerpunkt und Sinn der Typologie wird von Tillich nicht auf „quantitative Vollständigkeit“ gelegt, „sondern es kommt auf eine Art der Beleuchtung an, zunächst einmal von unserem Princip aus, von dem funktionalen Religionsbegriff aus, dessen Anwendbarkeit auf das Verständnis der Religionsgeschichte eben dadurch gezeigt werden soll.“⁷⁰ Ausgehend davon ist es also Ziel der Typologie, den Religionsbegriff Tillichs auf die je typischen Ausprägungen der Religionen anzuwenden, um dadurch zu zeigen, dass er dem wahren Begriff von Religion entspricht. Im Folgenden wird sich zunächst darum bemüht werden, die primitive Kulturreligion und mit ihr den Ausgangspunkt der Typologie zu charakterisieren, um im Anschluss den Gang der Religionsgeschichte zu skizzieren und die einzelnen Religionsformen erörternd darzustellen.
Ebd. A.a.O., S. 457. Ebd. Ebd.
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2 Die geschichtsphilosophische Entfaltung des Wahrheitsbegriffs
2.2 Die „primitive Kulturreligion“ und der Übergang zur „autonomen Kulturreligion“ Für die Einteilung der Tillichschen Religionstypologie ist dessen Verständnis des basalen Ausgangspunktes, der primitiven Kulturreligion, und deren Abgrenzung gegenüber der autonomen Kulturreligion und ihrer näheren Differenzierung in einen philosophisch-ästhetischen und einen politisch-sozialen Zweig von entscheidender Bedeutung. Ein eingehendes Verständnis dieses von Tillich als ideal konstruierten Ausgangspunktes bildet mithin die Grundlage für die Charakterisierung der verschiedenen Religionen, die in je unterschiedlichem Maße in größerer Nähe oder Distanz zu ihrem primitiven Ur- und Quellpunkt stehen. Da der Übergang vom „primitiven“ Bewusstsein zu den „höheren“ Religionen eine zentrale bewusstseinsinterne und damit geistige Veränderung darstellt, basiert die folgende Untersuchung zunächst auf einer differenzierten Betrachtung des Verhältnisses vom Natur- und Kulturbegriff, welches verschiedenen religionswissenschaftlichen Einteilungen zugrundeliegt. Tillich setzt sich im Vorfeld seiner geschichtsphilosophischen Analyse vor allem mit der Einteilung Siebecks, der Ritschlschen Schule und Tiele auseinander, die um die Jahrhundertwende des 20. Jahrhunderts als repräsentativ galten und im Unterschied zu Tillich ein je divergierendes Bild des primitiven Urzustandes bzw. der Abgrenzung zwischen dem primitiven und dem Kulturbewusstsein illustrieren. Tillich lehnt es im Vergleich zu Siebeck ab, seine Darstellung auf der Unterscheidung von Natur- und Kulturreligion zu gründen und kritisiert vor allem die sich daraus ergebende Dreiteilung der Religionen bei Siebeck. Ein Blick in Siebecks Darstellung in seinem Lehrbuch der Religionsphilosophie bestätigt diesen Befund: Zunächst behandelt dieser die „Naturreligionen“, die er als die „Anfänge des Religiösen, in denen dasselbe ganz bezogen ist auf die natürlich-sinnliche Existenz“ beschreibt, danach die „Moralitäts-Religionen, in denen der Einfluß sozialer Faktoren wirksam wird, drittens Erlösungs-Religionen.“⁷¹ Tillich kritisiert A.a.O., S. 449. Vgl. Siebeck, H., Lehrbuch der Religionsphilosophie (Sammlung theologischer Lehrbücher. Lehrbuch der Religionsphilosophie), Freiburg i. B.; Leipzig 1893: Bei Siebeck ist die Naturreligion vor allem dadurch gekennzeichnet, dass das religiöse Bewusstsein in einem geminderten Reflexionsprozess rein auf die eigene Lebenserhaltung ausgerichtet ist, indem es in Gott oder den Göttern „in erster Linie Schutz vor dem umgebenden Uebel, als welches hier hauptsächlich die Gefahren von Seiten der äusseren Natur erscheinen“ (S. 48), sucht. Das Böse in der Welt begegnet dem natürlichen Menschen lediglich als äußere Erscheinung, von einem geistigen Übel im Sinne des Bösen oder der Sünde wird im naiven Bewusstsein noch nicht ausgegangen. Insofern kann man tatsächlich sagen, dass der Mensch in diesem naturhaften Stand auf seine „natürlich-sinnliche Existenz“ (EN, Bd. XII, S. 449) bezogen ist und mittels einer Vergöttlichung der Natur Kräfte über dieselbe erlangt, die ihn vor einer „Gefährdung der individu-
2.2 Von der „primitiven Kulturreligion“ zur „autonomen Kulturreligion“
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an dieser Einteilung vor allem die Abgrenzung der Natur- gegenüber den Kulturreligionen, da eine sich nicht im Sozialverband organisierende Menschheit undenkbar und folglich eine Abstraktion sei und die Gemeinschaft auch für den Menschen in seiner primitiven, natürlichen Religiosität den Hauptbezugsfaktor seiner religiösen Praxis darstelle – Tillich nennt als Beispiel die „ältesten Zauberriten“, die durch schwarze und weiße Magie ihren „Dienst“ an der Gemeinschaft oder auch deren „Schädigung“ bewirkten. Gleichzeitig fänden auch in den höher entwickelten Religionen samt ihren Erlösungs- und „Lohnvorstellungen“ primitive Elemente ihren Eingang, da „der primitive Egoismus des Religiösen“ sich in der Vorstellung nach einem gerechten Lohn für den einzelnen Gläubigen widerspiegele und der soziale Faktor des Religiösen dabei in den Hintergrund trete.⁷² Siebeck bringt in seinem Lehrbuch der Religionsphilosophie an mehreren Stellen zur Geltung, dass die von ihm beschriebene primitive Naturreligion, in welcher das menschliche Bewusstsein noch nicht zwischen einer geistigen und materiellen bzw. persönlichen und natürlichen Sphäre unterscheide und ihm folglich jegliche Naturerscheinung als Analogon zur eigenen persönlichen Konstitution erscheinen würde⁷³, „noch unterhalb der eigentlichen Kultur“⁷⁴ zu ver-
ellen Sicherheit“ (Siebeck, H., Lehrbuch der Religionsphilosophie, S. 48) und einer physischleiblichen Bedrohung durch Naturwirkungen schützen. Insofern erfährt der Mensch durch das Göttliche und dessen Kräfte (die er sich ebenso anzueignen im Stande ist) eine Aufwertung seiner eigenen, individuellen Lebensqualität. Als gegensätzliches Extrem wird von Siebeck eine weltverneinende Position proklamiert. Das in der Naturreligion zunächst noch versinnbildlichte und damit gegenständlich gedachte Übel der Naturkräfte erfährt eine Vergeistigung, indem es nicht als eine von einem konkret natürlichen Phänomen ausgehende Gefahr betrachtet wird, sondern als „ein allgemeines und unausweichliches Moment der Welt als solcher“ erscheint. (ebd.) Insofern wird im Buddhismus die Negation alles Weltlichen angestrebt, wobei diese Form von Religiosität letztlich ohne die Vorstellung eines göttlichen Wesens auskommt und rein in der Selbstüberwindung ihren Bezugspunkt besitzt. (Vgl. ebd. S. 50) In der Moralitätsreligion, die zwischen beiden vorangehenden Extremen steht, weiß sich der Mensch als den natürlichen Dingen autonom gegenüber, indem das Bewusstsein um eine Trennung der persönlichen und natürlichen Sphäre besteht. Das primitive Bewusstsein geht hingegen von einer Analogie zwischen Mensch und Natur aus; dieser „vermag sich von den Naturdingen und diese von sich noch keineswegs generisch zu unterscheiden, da er eine bestimmte Vorstellung oder ein Gefühl der Persönlichkeit und ihres Unterschiedes vom Unpersönlichen noch nicht wirklich ausgebildet hat.“ (Ebd. S. 59) Die Moralitätsreligion hingegen besitzt ein Bewusstsein um die Trennung der geistigen und materiellen Sphäre, weshalb sie eine Beziehung zu einem in der göttlichen Sphäre verorteten Wesen führt, um dessen Gunst sie durch gutes Tun wirbt. Durch diese gute Beziehung verspricht sich der Mensch sowohl eine Abwehr von äußerem, als auch innerem Übel (Befreiung von Schuld und Sünde) (Vgl. ebd. S. 51). EN, Bd. XII, S. 449. Vgl. Siebeck, H., Lehrbuch der Religionsphilosophie, S. 59. A.a.O., S. 50.
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2 Die geschichtsphilosophische Entfaltung des Wahrheitsbegriffs
orten sei. Da laut Tillich jedoch „das Soziale […] eine notwendige, Bewußtsein konstituierende Funktion“⁷⁵ innehabe, sieht er auch im primitiven Bewusstsein die Richtung auf Gemeinschaft und damit notwendig einhergehend „Kultur“ als unausweichliche Konstitutionsbedingung des menschlichen Daseins gegeben. Im Unterschied zur autonomen Kulturreligion seien Religion und Kultur dem Bewusstsein jedoch noch nicht als zwei voneinander verschiedene Sphären vorstellig. Auch die Definition von Naturreligion nach dem Ritschlianismus wird dem Tillichschen Verständnis nicht gerecht, da dort alles Außerbiblische inklusive der Mystik der Naturreligion zugeordnet wird und eine „formdurchbrechende Ekstatik“⁷⁶ von Ritschl abgelehnt wird. Unter Naturreligionen versteht Tillich all „diejenigen Religionen, in denen das Göttliche unter Naturkategorien erfaßt wird“⁷⁷ und also von einem unmittelbaren (mystischen), rein über die Natur vermittelten Zugang des Menschen zur göttlichen Substanz ausgegangen wird, was letztlich zu einer „Vergottung der menschlichen Natur“⁷⁸ im Sinne einer Möglichkeit des rein vom Menschen ausgehenden Übergangs in die göttliche Sphäre führe. Die Grenzen zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre seien noch nicht klar gezogen. Die Ritschlsche Schule beschränke die wahre Religion als Moralitätsreligion auf das Ethisch-Praktische. Bei der Wirkung des Denkens auf das Sein bleibe jedoch dessen Struktur erhalten. Hingegen werde im von Tillich abgelehnten „theoretischen Bewußtsein“ das „Denken vom Sein her“ bestimmt und könne bis zur völligen Auflösung (vgl. Mystik) getrieben werden. Ein vom Sein bestimmtes Denken strebe folglich auf das Moment der absoluten Identität zu. In der praktischen, denkbestimmten Religiosität werde dem intuitiven bzw. irrationalen Moment im Gottesverhältnis hingegen kein Platz eingeräumt, das Denken beherrsche vielmehr sein Erkenntnisobjekt, ohne durchbrochen zu werden und dadurch den Gehalt aufzunehmen. Die Kritik an jener Schule basiert folglich weniger auf der Charakterisierung der Naturreligion als einem mystischen, vorbiblischen und vorreflexiven Bewusstseinsstand, in welchem das Göttliche vornehmlich durch natürliche Phänomene vermittelt ist, die als beseelt vorstellig werden und vom Menschen noch nicht als in einem Gegensatz zum eigenen personenhaften Dasein gedacht werden. Vielmehr wird die einseitige Beschränkung der wahren Religiosität auf das rein Moralisch-Praktische von Tillich kritisiert, da dem mystischen Zugang zum Unbedingten ein ebenso bedeutsamer Anteil am Zugang zum Göttlichen zukomme. Gleichzeitig beweist sich für Tillich
EN, Bd. XII, S. 449. A.a.O., S. 450. Ebd. Ebd.
2.2 Von der „primitiven Kulturreligion“ zur „autonomen Kulturreligion“
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wiederum an dem sich von Ritschl eröffneten Gegensatz von mystisch und ethisch bzw. „logisch-ästhetisch“ und „sozial“ die Notwendigkeit, den Begriff der „Naturreligion“ ganz aufzugeben: „Soll es ein Gegensatz zur ethischen Religion sein, so ist der richtige Gegensatz: theoretisch-ästhetische Religion respektive Mystik. Soll es ein Gegensatz zur Kulturreligion sein, so ist der Gegensatz falsch; denn es gibt überhaupt keine kulturlose Religion, weil Kultur funktionell ist, also das menschliche Bewußtsein überhaupt konstituiert.“⁷⁹ Anstelle einer Gegenüberstellung von Naturreligion (die eben laut Ritschlianismus lediglich mystische Elemente beinhaltet) und sozialer Kulturreligion plädiert Tillich also für den Gegensatz von ethischen und „theoretisch-ästhetische[n] Religion[en] respektive Mystik“⁸⁰ entsprechend der beiden Eckpunkte des Quadrats. Der ideale Anfangspunkt wird im Kontrast zur „Naturreligion“ als „primitive Kulturreligion“ bezeichnet, er liegt also sowohl der mystischen als auch der ethischen Weiterentwicklung zugrunde. Der Begriff des Primitiven ist dabei dem Kompendium der Religionsgeschichte von Tiele entlehnt, welcher mit … … primitiv die religiösen Bräuche und Vorstellungen derjenigen Völker bezeichnet, die sich nicht zu einem höheren Kulturzustand und Staatsleben oder zu einer historischen Existenz im eigentlichen Sinne des Wortes aufgeschwungen haben.⁸¹
Auch Tiele setzt diesen Zustand als anfängliche Basis, aus welcher sich drei verschiedene Religionsformen weiterentwickelt hätten: „die Natur- und Kulturreligionen […], die asketischen Weltverneinungsreligionen und Erlösungsreligionen und die prophetischen Offenbarungsreligionen […].“⁸² Tiele zieht – an dieser Stelle geht Tillich konform mit ihm – zunächst keinen Unterschied zwischen Natur- und Kulturreligion. Tillich nimmt diesen Aspekt auf, indem er die primitive Religion trotz ihrer Primitivität als Kulturreligion bezeichnet. Als Kritik an Tiele bemerkt Tillich jedoch, dass die beiden von ihm letztgenannten Gruppen auf einer je spezifischen Kulturreligion fußen würden, was Tiele nicht berücksichtige: Die asketisch-mystischen Religionen erwachsen „auf dem Boden der ästhetisch-theoretischen Kulturreligion“, während die soziale Kulturreligion „die
A.a.O., S. 451, Vgl. a.a.O., S. 495: „Wir haben also schon in den primitivsten Formen der Religion Kulturreligion, wenn auch das kulturelle Element noch fast ganz zurückgetreten ist zugunsten des biologischen.“ Ebd. Tiele, C., Kompendium der Religionsgeschichte, S. 14. EN, Bd. XII, S. 451.
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Basis der ethisch-prophetischen Religion abgibt“.⁸³ Tieles Einteilung setzt also die Kultur nicht als Basis der Erlösungs- und Offenbarungsreligionen. Tillich hingegen grenzt die „Kulturreligion“ nicht als gesonderte Sphäre ab, sondern in ihrer Funktion als Konstitution des Bewusstseins überhaupt sei Kultur als allumfassende, jeglicher Bewusstheit zugrundeliegende Sphäre zu kennzeichnen und damit auch schon für den idealen Anfangspunkt maßgeblich. Wenn Tillich von primitiver Kulturreligion spricht, bezeichnet er damit einen idealen Ausgangspunkt im Sinne eines „systematischen Fixationspunkt[es] für die Typologie“⁸⁴, welcher einerseits jeder Religion zugrunde liege und folglich einen Typus repräsentiere, andererseits dadurch ahistorisch sei, indem er nicht auf eine einheitliche, empirische Religionsgemeinschaft rekurriere, die am Anfang der Geschichte real existiert und aus der sich alle höheren Religionen entwickelt hätten.Vielmehr wird hier als „Grundlage des religiösen Bewußtseins […] ein Zustand [konstruiert], in dem die Elemente, die im späteren Proceß auseinandergehen und zu eigenartigen Typen führen, noch ineinander sind.“⁸⁵ Diese Geisteslage der „Ungeschiedenheit der Kulturfunktionen“ symbolisiere ein allen Religionen inhärentes Element, welches trotz seiner Idealität den geschichtlichen Religionen inhärent sei: „Es gibt keine Religion, in der dieses Moment der Ununterschiedenheit nicht als Ausgangspunkt zu postulieren und in seinen Nachwirkungen zu spüren wäre.“⁸⁶ Doch was meint Tillich mit einem Zustand der „Ungeschiedenheit“? Es wird vorausgesetzt, dass im primitiven Bewusstsein der Gegensatz von Form und Gehalt noch nicht hervorgetreten ist und dem Menschen folglich in jeder Form der göttliche Gehalt offenbar wird: „[E]inen Unterschied von formalem Unbedingtheitserlebnis und reinem Gehaltserleben gibt es noch nicht“⁸⁷. Denken und Sein stehen also noch nicht in einem Spannungsverhältnis zueinander, das dem Denken Fremde, welches der Vermittlung mit dem Bewusstsein durch den Begriff bedarf, wird vom Geist noch in das Selbst integriert, indem der Gehalt als die lebendige Kraft in allen Dingen direkt und unmittelbar vom Bewusstsein rezipiert werden kann. Aus philosophischer Perspektive lässt sich folgern, dass das Den-
Ebd. A.a.O., S. 453. Ebd. Ebd. Vgl. auch: GW, Bd. I, S. 340: Auch im Systementwurf hält Tillich an der Einheit von Form und Gehalt in jeder religiösen Erscheinung – unabhängig von dem Überwiegen des einen oder anderen Moments – fest: „Ganz allgemein freilich gilt, daß in keiner religiösen Erscheinung ein Element des Wesens der Religion fehlen kann, daß also in jeder Religionsform die Einheit von Form und Gehalt zu finden sein muß. Sie ist nicht nur das ideale Ziel, sondern auch die wesenhafte Voraussetzung der religiösen Entwicklung.“ EN, Bd. XII, S. 458.
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ken also mit seinem Konstitutionsgrund in einem Identitätsverhältnis steht und sich selbst noch nicht als widersprüchlich und damit in Trennung zu diesem wahrnimmt. In Ergänzung zur Vorlesung kann die geistesgeschichtliche Konstruktion in Tillichs Systementwurf (1925) herangezogen werden.⁸⁸ Auch dort skizziert Tillich das Bild eines primitiven Urzustandes, in welchem die ideale „Einheit von Form und Gehalt als Ausgangspunkt aller Bewegungen [noch] indifferent gegen den Zwiespalt des Heiligen in Göttliches und Dämonisches“⁸⁹ sei. Als „Religion der Indifferenz“ wird also auch hier ein idealer – nicht zeitlicher – primitiver Ausgangspunkt bezeichnet, welcher noch auf keinem bewusstseinstheoretischen Differenzierungssinn basiere. Indifferent ist eine Geisteshaltung folglich dann, wenn „in allem Wirklichen das Heilige“ angeschaut wird. Es erscheint … … in zahlreichen Formen, die ihre Synthesis in der unbedingten Form nicht gefunden haben und darum zugleich göttlichen und dämonischen Charakter tragen. Je näher eine Religion der Indifferenz steht, desto weniger kommt es in ihr zu eigentlichen Gottesvorstellungen. Die Dinge in ihrer unmittelbaren Anschaulichkeit sind Träger des Heiligen.⁹⁰
Alles Externe, was dem Menschen durch die Anschauung gegeben ist, werde unmittelbar vom Bewusstsein auf seinen Gehalt hin erfasst, ohne dabei durch den Begriff vermittelt zu werden. Insofern sind „Begriff und Anschauung“ identisch. Erst mit der Trennung der persönlichen und natürlichen, geistigen und materiellen Sphäre und dem Bewusstsein einer Trennung des Menschen von der ihn umgebenen Natur und anderem Sein bedarf es vermittelnder Operatoren, durch die der Mensch sich mit der Welt, anderem Sein und den Dingen in ein Verhältnis setzt und eine Beziehung herstellt. Die Stellung des Bewusstseins zu jener Außenwelt und die Wahl der vermittelnden Operatoren, mittels derer der Mensch die Beziehung zu Gott und Welt für sich aktualisiert, ist dabei entscheidend für die Zuordnung zu einer religiösen Grundrichtung innerhalb des religionstypologischen Modells. Mit anderen Worten: Durch die Auflösung des Identitätsverhältnisses wählt das Bewusstsein aus der Fülle an Formen diejenigen aus, die für ihn
Vgl. GW, Bd. I, S. 340: In Kapitel III (Geistesgeschichte und Normbegriff der Religion) konstruiert Tillich ebenfalls eine geistesgeschichtliche Entwicklung, die bei einem idealen Anfangsstadium ansetzt und in einer idealen Religion mündet. Die dortige Konstruktion weicht an einigen Stellen von der religionstypologischen Darstellung in Tillichs Vorlesung von 1920 ab, kann aber auch in Ergänzung zu ihr gelesen werden. Im Folgenden wird an gegebenen Stellen auf den Unterschied und die Gemeinsamkeiten beider Erörterungen eingegangen werden, sodass sich ein Gesamtbild illustrieren lässt, aus welchem die Grundgedanken Tillichs hervorgehen. Ebd. A.a.O., S. 344– 345.
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das Göttliche in adäquater Weise verkörpern, was der „sakramentalen Haltung“ entspricht. Es werden „bestimmte Wirklichkeiten und Formen als Träger des heiligen Gehaltes betrachtet.“⁹¹ Damit sind Form und Gehalt voneinander gelöst, indem nicht jede Form als adäquate Repräsentation des göttlichen Gehalts fungiert. Eine Absolutsetzung bestimmter Formen gegenüber anderen ist gleichzeitig als dämonisch zu beurteilen, insofern als es der Mensch selber ist, der jegliche Attribuierungen vollzieht und sich damit über Gott stellt. Das ursprünglich indifferente Heilige begegnet in der Endlichkeit in seiner Doppelfunktion als göttlich und dämonisch. Im Folgenden soll der von Tillich konstruierte Ausgangspunkt, die indifferente Heiligkeit bzw. das Ineinander von Denken und Sein, Form und Gehalt, jedoch zunächst eine Vertiefung erfahren, indem er am Beispiel einer von Tillich konkret aufgeführten religiösen Grundrichtung demonstriert wird: Dieser Zustand des Ineinanders von Denken und Sein und die Produktion des primitiven Bewusstseins von „ungeheuren Visionen“⁹² wird von Tillich unter Bezugnahme auf die altindische, vedische Religion exemplifiziert. Diese wird innerhalb der Religionstypologie auf der Seite der philosophisch-ästhetischen Kulturreligionen aufgeführt, die dem primitiven Urzustand noch relativ nahestehen. Prägend für die vedische Religion seien sowohl „eine ins Unendliche weisende mythenbildende Phantasie und eine hochgespannte Spekulation“⁹³. Insofern beide Elemente der „biologische[n] Existenz“ dienen und demnach elementare Bestandteile des individuellen Lebens ausmachen, seien innerhalb dieser Religion auch „sämtliche Motive wirksam, die der primitiven Kulturreligion ihr Gepräge geben: Priesterschaft, Opfer, Rauschgetränke (das Soma), Zaubersprüche, Ekstasen etc.“⁹⁴ Die altindische Religion steht ihrem primitiven Ursprung also sehr nahe. Diese Geisteslage setzt ein von unserer semitisch geprägten Kultur gänzlich verschiedenes Verständnis von Realität voraus: Diese rekurriere nicht auf eine vom Bewusstsein getrennte Sphäre, die diesem kontradiktorisch gegenüberstehe und der Vermittlung mit dem Bewusstsein durch bestimmte von außen (z. B. einem Gott) auferlegte Pflichten oder Gebote bedürfe. Vielmehr werde die Denkform als vom Seienden nicht geschieden vorstellig. Dies werde in der vedischen Religion vor allem dadurch deutlich, dass das Bewusstsein durch Askese, außerordentliche Rauschzustände (als Mittel wird das sog. „Somagetränk“ während der Opferzeremonie genutzt) und „das Wort“ bzw. den
A.a.O., S. 340. EN, Bd. XII, S. 461. A.a.O., S. 489. Ebd.
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„Zauberspruch“ zur Ekstase, also zur Erhebung, getrieben werde. Diese ekstatische Erhebung des Bewusstseins sei gleichsam ein „Mittel zur Steigerung, nicht zur Beschneidung des Biologischen.“⁹⁵ Beachtlich sei vor allem die Stellung des Menschen zur Götterwelt. Der Brahmane in seiner Priesterfunktion könne durch Askese, wie z. B. das „Tapasüben“ (eine Form der „Ansammlung von Kräften“, die zur Ekstase führen kann und den Menschen nicht nur als Herrscher über die Natur und andere Menschen, sondern auch die Götterwelt befähigt) oder die Anwendung von Zaubersprüchen die Natur und sogar Götterwelt beherrschen.⁹⁶ Der Mensch werde nicht als von der Götterwelt getrennt gedacht, sondern er sei mit ihr verwoben, sodass er selbst sogar z. B. durch die „Ekstase des Wortschöpfens“ oder seine eigene Mythen schaffende Phantasie an dem Setzungsakt der göttlichen Welt beteiligt sei. Der Brahmane werde mittels des Zauberspruches befähigt, selbst „Schöpfer der Götter“⁹⁷ zu sein. Gleichzeitig sei das Bewusstsein in der Lage, „sich selbst als Götter schaffende Potenz“ in seiner Religiosität zu reflektieren: „Das Bewußtsein durchschaut das Verhältnis der Gestalten bildenden Phantasie des Mythos zu dem religiösen Bewußtsein selbst.“⁹⁸ Hier herrsche folglich ein Realitätsverständnis, welches durch ein Ineinander der spirituellen und materiellen Welt geprägt ist. Die Setzung der Götter durch das Bewusstsein und das Ausüben von Kräften mittels Zaubersprüchen auf die natürliche Welt werde nicht als „unwahr“ beurteilt, vielmehr werde der Phantasie des Bewusstseins die Macht der geistigen Schöpfung zugestanden, das Setzen von Realität durch einen vom naturhaft Gegebenen unterschiedenen, deshalb aber nicht weniger realen Bewusstseinszustand. „[A]lles Gegenständliche der Mythologie“ tritt „gegenüber der Kraft des religiösen Bewußtseins selbst“ in den Hintergrund, fungiert demnach nicht als Maßstab dessen, was real bzw. wirklich ist.⁹⁹ Wirklich seien allein die Phantasie und deren Schöpferkraft. Die Vorstellung eines den Schöpfungen des Bewusstseins zukommenden Wahrheitsgehaltes liege mitunter in dem Gedanken begründet, dass die „Phantasie […] nichts schaffen [könne], was nicht als Material in der Wirklichkeit bereit läge.“ Insofern sei sie an die „Formelemente der Wirklichkeit“ gebunden.¹⁰⁰ Eine Trennung von Subjekt und Objekt, Denken und Wahrheit, die auf der Differenzierung in eine bewusstseinsinterne und -externe Sphäre gründet, liegt diesem Geisteszustand noch fern.
A.a.O., S. 490. A.a.O., S. 492. Vgl. auch S. 490. Ebd. A.a.O., 491. A.a.O., S. 492. A.a.O., S. 538.
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Insofern als im primitiven Bewusstsein alle Bewusstseinsfunktionen noch vom religiösen fundiert sind, treten auch Religion und Kultur noch nicht als verschiedene Funktionen des Bewusstseins auf. Ein Ineinander der Bewusstseinssphären inkludiert auch, dass sich weder Moral und Sitte als praktisch-religiöse Funktionen des Gemeinschaftslebens, noch die autonome Rechtssphäre, mystisch-asketische Tendenzen innerhalb der religiösen Sphäre oder die Kultur als souveräne Geistessphäre etabliert haben. Folglich sind auch die beiden Grundtypen Mystik und Ethik, auf der die Dynamik der Religionsgeschichte nach Tillich beruht, in der primitiven Religion noch nicht als zwei Pole enthalten, sondern ineinander verzahnt.¹⁰¹ Das Bewusstsein sei in dieser Geisteslage unmittelbar auf das Göttliche gerichtet und äußere sich als „Wille zum schlechthin Seienden“¹⁰². Diese innere Gerichtetheit, die Tillich als ekstatischen Zustand beschreibt, trete in der primitiven Kulturreligion nicht als kulturnegierend auf, indem die ekstatische Vereinigung von Gott und Mensch die Kultur- und Bewusstseinsform aufhebe, um eine mystische Verschmelzung herbeizuführen. Vielmehr sei der „Wille zum Schlechthin Seienden“ ekstatisch unter gleichzeitiger Anerkennung der Form, indem die Kultur von ihm als tragendes Prinzip bejaht wird und die Erhebung des Bewusstseins zum Unbedingten damit kulturfundierend wirkt. Ekstase in der primitiven Kulturreligion beschreibt Tillich als das Stehen in einer „verzaubert[en]“ Welt, die „ganz und gar durchwaltet [ist] von formübersteigenden Mächten“.¹⁰³ Alles Natürliche, geformte (Tillich setzt Natur und Form in eins¹⁰⁴) werde als Konsequenz der unmittelbaren, widerspruchslosen Beziehung des Denkens zum Sein als „supranatural“ in Form von außergewöhnlichen Visionen vorstellig, gehe also über das rein Natürliche insofern hinaus, als dieses auf etwas Höheres hin transzendiert werde und dadurch der reine Gehalt durch alle Formen hindurch zum Ausdruck komme, ohne diese zu negieren (man denke etwa an die animistische Vorstellung von der beseelten Natur etc.). Die vom Bewusstsein geschaffenen „Gestalten“ werden durch Naturgegenstände evoziert, „zugleich aber [wird] die Form dieser Naturdinge zerspreng[t] und ins Ungeheure, Überwältigende“ gesteigert.¹⁰⁵ Die primitiven Religionen müssten laut Tillich eher als „Übernatur-Religionen“ bezeichnet werden, „insofern in ihnen der Begriff des Natürlichen als Selbständigen überhaupt noch keine Rolle spielt.“¹⁰⁶ Das Natürliche werde vom
Vgl. a.a.O., S. 492. Ebd. A.a.O., S. 459. A.a.O., S. 458. A.a.O., S. 538. A.a.O., S. 459.
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Bewusstsein nicht als selbständig-autonome Sphäre abgegrenzt und auch in seiner sich über die Naturgrundlage erhebenden Funktion „nicht als supranatural gewußt“¹⁰⁷, da jene differenzierende Reflexivität bereits Kennzeichen eines höheren Bewusstseins sei. Fehlende Bewusstheit um das Natürliche meint wiederum eine Ermangelung des Formerlebens (durch die Form wird ja primär der Gehalt erlebt, sie ist insofern „Offenbarungsmittler“ des religiösen Gehalts und nicht an sich bedeutungsvoll), was identisch ist mit der Nichtexistenz der „autonomen Kulturfunktionen“.¹⁰⁸ Gleichzeitig sei das primitive Bewusstsein auf das „Biologische“ gerichtet, indem es als „unmittelbare[s] Lebensprincip“ „auf die Selbsterhaltung des Lebens oder, positiv ausgedrückt, auf den Willen zur Erhöhung des Lebens, auf den Willen zur Macht“ bezogen sei.¹⁰⁹ Wenn Tillich konstatiert, dass die Religion „in den Dienst dieses Willens“ trete, so ist damit in der Sphäre der Unmittelbarkeit zum Ausdruck gebracht, dass das Religiöse als eine unmittelbare Beziehung des Menschen zu der von göttlichen Kräften durchwalteten Natur die Funktion der Selbsterhaltung innehat. Das Biologische (und also das Natürliche selbst) vermittelt dem Menschen jene religiöse Beziehung durch Nutzung der Kräfte für das eigene Leben. „[D]as Biologische ist Offenbarungsmittler des Religiösen“¹¹⁰. Trotz der Unmittelbarkeit der Beziehung zwischen Gott und Natur sei Geist als Form von Bewusstheit vorhanden¹¹¹, allerdings als ekstatischer Geist, der in unmittelbarer, und damit nicht der Vermittlung bedürftiger, Beziehung zur Natur stehe, die als spirituell erscheine. Bereits in seiner ST (1913) differenziert Tillich zwischen den Begriffen Geist und Natur. Beide Begriffe leitet er dort aus einem doppelten Grundverhältnis des
Ebd. Ebd. Ebd. Der Begriff „Wille zur Macht“ entspringt der Nietzsche-Rezeption Tillichs. Vgl. hierzu: Kleffmann, T., Nietzsches Begriff des Lebens und die evangelische Theologie. Eine Interpretation Nietzsches und Untersuchungen zu seiner Rezeption bei Schweitzer, Tillich und Barth, Tübingen 2003, S. 467 ff. Ebd. Vgl. A.a.O., S. 460; Vgl. EN, Bd. XVI, S. 170: Der von Tillich in seiner RP-Vorlesung dargestellte Zustand der Unmittelbarkeit korrespondiert mit der Beschreibung der reinen Kreatürlichkeit in der Dresdner Dogmatik-Vorlesung. Auch für diese Geistessphäre, in welcher das menschliche Bewusstsein direkt auf Gott bezogen ist, hält Tillich fest, dass trotz des unmittelbaren Fundiertseins des Bewusstseins bereits Geist vorhanden ist: „Der Mensch ist im reinen Kreaturverhältnis unmittelbar von Gott fundiert, zugleich aber geistig, Geist aber das Sich-Erheben über seine Unmittelbarkeit.“ Mit dem Vorhandensein von Geistigkeit lässt sich schließlich auch der Übergang in die Zweideutigkeit verstehen, denn „Geist tragen, nicht ontologisch, sondern geistig, heißt, ihn in die Sphäre der Zweideutigkeit tragen.“
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Denkens gegenüber der Wahrheit ab. Demnach definiert er Natur als einen geistigen Zustand, in welchem sich das Denken „als bestimmt von der Wahrheit [setzt und damit] wesentlich Objektivität, Unmittelbarkeit“¹¹² ist. Der primitive Urzustand wäre demnach gleichzusetzten mit dem Begriff der Natur. Unter „Geist“ hingegen versteht Tillich einen Zustand, in welchem das „Denken in bewußter Einheit mit der Wahrheit, gewissermaßen zu ihr zurückkehrend, wesentlich Subjektivität, Mittelbarkeit“¹¹³ ist. Der primitiven Unmittelbarkeit steht also ein Zustand der Mittelbarkeit gegenüber, welcher der Vermittlung bedarf. Geist ist stets Signum eines Strebens nach verlorengegangener Einheit aus einem Bewusstsein der Trennung von Denken und Wahrheit heraus.¹¹⁴ Die von Tillich beschriebene primitive Bewusstseinslage kann selbst wiederum in eine theoretische und eine praktische Ausprägung differenziert werden. Der Animismus (der Geisterglaube), in dem das Bewusstsein in die äußeren Dinge mystische Mächte und Kräfte hinein imaginiert, steht als theoretische Welterklärung der schöpferisch-produktiven und mythenbildenden Form gegenüber. Es ist also mit Tillich „festzustellen, daß Mythenbildung nicht primitive Welterklärung (Animismus) ist.“¹¹⁵ Denn der Animismus ist eine lediglich rezeptiv-theoretische Haltung. Die im Kontrast dazu stehende, beispielhaft an der vedischen Religion illustrierte außerordentliche Produktivität des menschlichen Bewusstseins, welches aus sich heraus poetische Formen schafft, die von ihm als das
EN, Bd. IX, S. 286. Ebd. Vgl. Hegel, G. W. F., Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, S. 87: Diese Definition von Geist erinnert stark an den Geistbegriff Hegels, wie er ihn in den Vorlesungen über die Philosophie der Religion entfaltet. Dort heißt es, dass der Begriff in der vollendeten Religion in sich zurückkehrt, nachdem er sich in der Bestimmtheit manifestiert hat und damit zu seiner eigenen Anschauung geworden ist. In der vollendeten und offenbaren Religion erweist sich der absolute Geist darin, dass „die Reflexion des Begriffs abbricht, indem sie wirklich in sich zurückgeht.“ Diese Erkenntnis wird dem Menschen offenbar, indem er an der Entwicklung teilhat: „Wir folgen dem Gegenstande, wie er zur Quelle seiner Wahrheit für sich selbst zurückgeht.“ (A.a.O., S. 107). Vgl. auch a.a.O., S. 192: „Gott ist die Bewegung zum Endlichen und dadurch als Aufhebung desselben zu sich selbst; im Ich, als dem sich als endliche Aufhebenden, kehrt Gott zu sich zurück und ist nur Gott als diese Rückkehr.“ Vgl. auch a.a.O., S. 309: Auch hier ist es das Endliche selbst, „was sich übersetzt ins Unendliche usf., als Endliches nicht bleiben kann, sich macht zum Unendlichen, seiner Substanz nach zurückkehren muß ins Unendliche.“ Vgl. Hegel, G.W. F.,Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, S. 201: Auch wird es als wesentliche Bestimmung und Idee des Geistes aufgefasst, „die Einheit der göttlichen und menschlichen Natur zu sein.“ Dieses Übergehen bzw. Zurückkehren des menschlichen Geistes, des Denkens in die göttliche Einheit wird von Hegel auch als Übergang vom Einzelnen ins Allgemeine beschrieben (A.a.O., S. 310). EN, Bd. XII, S. 538.
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Göttlich-Transzendente erlebt werden, wird von Tillich als ein Bewusstseinszustand beschrieben, in dem „die Einheit von Subjekt und Objekt noch nicht aufgelöst ist, sondern aus dieser Einheit heraus die Wirklichkeit als durchgehend subjektiv-objektiv erlebt wird.“¹¹⁶ Hinsichtlich der ungebrochenen Einheit von Subjekt und Objekt entsprechen sich die produktiven, mythenbildenden und rezeptiven, animistischen Haltungen, denn auch im Animismus wird vorausgesetzt, dass Subjekt und Objekt noch in einer allumfassenden Identität stehen und die Realität als eine „[…] unter der Einwirkung der Objekte sich auslösende und in die Objekte hineinstellende Welt des Bewußtseins“ interpretiert werden kann. Hingegen differieren die Rollen des Subjekts in beiden Haltungen: Während sie im Animismus passiv-rezipierend ist, agiert das Subjekt in der vedischen Religion selbst als Schöpfer (von Mythen). Auch innerhalb der mythenbildenden, schöpferisch-primitiven Bewusstseinslage stehen sich „die poetische Einfühlung und die wissenschaftliche Reflexionstendenz“ noch nicht kontradiktorisch gegenüber, sondern sind ineinander zu einer Einheit verschmolzen, einer allumfassenden Synergie. Insofern sind auch – dies wurde bereits anhand der vedischen Religion gezeigt – „[d]ie Grenzen von Wirklichkeit und Phantasie […] nicht gezogen.“¹¹⁷ Das Bewusstsein ist produktiv in der Form, dass es Wirklichkeit und Mythen aus sich heraus setzt und die Bindung der Produktion an ein Objekt dabei nicht vordergründig ist. Diese geben hingegen lediglich den Anstoß für die Produktivität und so etabliert sich eine „unter der Einwirkung der Objekte sich auslösende und in die Objekte hineinstellende Welt des Bewußtseins.“¹¹⁸ In den Dingen bzw. Objekten der äußerlichen Natur wird nur der Gehalt erblickt. Insofern ist diese Geisteslage absolut religiös. Erst mit der Dirimierung der religiösen Objekte vom Bewusstsein selbst und der damit einhergehenden Unterscheidung zwischen einer Welt der religiösen Objekte und einem dem Gegenstand gegenüberstehenden autonomen Denken, etabliert sich ein Differenzierungs- und Reflexionsbewusstsein bzw. ein „Bewußtsein um eine selbständige gegenständliche Formung der Welt.“¹¹⁹ Der Mensch erfährt sich als Gott, den Mächten und der Welt gegenüberstehend. Auch Tiele folgt einem allgemeinen Konsens, indem er den Animismus nicht selbst als Religion beschreibt, sondern als eine philosophisch-theoretische Form der Welterklärung des „primitiven“ Menschen:
A.a.O., S. 536. A.a.O., S. 537. Ebd. Ebd.
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Eine solche Naturbetrachtung, die mit Willen […] oder mit launenhaften unbeständigen Geistern [Animismus], nicht, wie später, mit festen Regeln und Ordnungen im Naturverlauf rechnet, ist als solche keine Religion.Von Religion kann erst dann gesprochen werden, wenn der Mensch bei einer oder etlichen dieser Mächte Schutz sucht, mit ihnen in Verband und Verwandtschaft steht und ihnen Kultus und Anbetung gewährt.¹²⁰
Auch nach Tillich ist der Animismus als „Welterkennen“ zunächst als eine für das primitive Bewusstsein charakteristische Begegnung zwischen Mensch und Natur zu beschreiben, deren wesentliches Merkmal die „Ich-Introjektion“ darstellt, „die in alle Dinge die seelischen Kräfte des eigenen Ich hineindenkt und dann diese Kräfte zum Teil mit Hülfe sprachlicher Abstraktionen zu allgemeinen Naturpotenzen erhebt.“¹²¹ Ausgehend davon gestaltet sich jedoch auch die Religion nach Analogie animistischer Vorstellungen, sodass die äußere Natur, die stets als belebt und beseelt vorstellig wird, als göttlich (im Sinne von geisterhaft und mächtig) durchwaltet gedacht wird. Zur Diskussion steht die Frage, inwiefern Tillichs primitiver Ausgangspunkt bereits einen Bewusstseinszustand beschreibt, welcher als „religiös“ gekennzeichnet werden kann. Die Beantwortung erweist sich als komplex, da sich bereits zwei zu prüfende konträre und damit einander gegenüberstehende vorläufige Ansätze identifizieren lassen: Erstens spricht Tillich zwar von primitiver Kulturreligion und vertritt die These der Funktionalität des Religiösen, welches jegliche Bewusstseinsleistung stets fundiere und ihr damit als Struktur a priori zugrunde liege, und ohne welche synthetisches Denken der Welt im Sinne einer Einheitskonstitution unmöglich wäre. Insofern müsste für ihn auch der Zustand, in dem die Kultur sich noch nicht als autonome Funktion von der religiös-mythologischen Vorstellungswelt des Menschen emanzipiert hat bzw. noch „vollständig in das Biologische verhüllt“ ist, als religiös zu bezeichnen sein. Diesbezüglich lässt sich als Kriterium für Religiosität allein das Vorhandensein des „Gehaltserlebnis[ses]“¹²² aufführen – sei es das Hineinimaginieren von göttlichen Kräften in die äußere Natur oder die schöpferische, mythenbildende Produktivität des Bewusstseins selbst. Andererseits dürfte zweitens exakter Weise als religiös nur dasjenige Bewusstsein bezeichnet werden, welches um seine eigene Konstitution als religiös und damit seine Funktionalität weiß. Im Folgenden soll jene Frage unter Einbezug der bewusstseinsinternen Voraussetzungen innerhalb der von Tillich als „primitive Kulturreligion“ bezeichneten Bewusstseinslage mithilfe von weiterem Anschauungsmaterial, welches der Tillichschen Betrachtung zugrunde liegt, einer vorläufigen Antwort zugeführt
Tiele, C. P., Tiele’s Kompendium der Religionsgeschichte, Berlin 1912, S. 11. EN, Bd. XII, S. 423. A.a.O., S. 460.
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werden. Die von Tillich recht abstrakte Beschreibung des primitiven Bewusstseins lässt sich vielleicht am ehesten mit der Vorstellung verbinden, dass der primitive Mensch nach animistischer Geisteshaltung von einer Beseelung der Natur ausgeht, diese also nicht rein natürlich-biologisch betrachtet, sondern in der Natur waltende Kräfte fingiert, die er sich zu eigen machen kann. Diese Aneignung wiederum dient ihm zur Lebenserhaltung, da er glaubt, durch die Übertragung von Kräften u. a. Naturgewalten bezwingen zu können. Eine intensivere Untersuchung dieses primitiven Bewusstseins bei Siebeck und Tiele soll im Folgenden das Ziel verfolgen, Tillichs Verständnis der primitiven Kulturreligion anschließend genauer fassen und dadurch auch den primitiven Ausgangspunkt der Typologie adäquater interpretieren zu können. Siebecks Äußerungen über den primitiven Urzustand innerhalb der Naturreligion geben Aufschluss über das von Tillich Intendierte. Wenn Tillich von der Offenbarungsfunktion des Biologischen spricht, so ist mithin das Verhältnis des Menschen zur Natur gemeint. Siebeck beschreibt zwei Momente, die als „psychologische Grundalge für die Entstehung des mythisierenden Denkens“¹²³ gelten: „ein primitiver Verstandesgebrauch, der überall nach Auffindung von praktisch nutzbaren Kausalzusammenhängen in der Natur späht, und eine gewisse Art des gefühlsmäßigen Eindruckes“, den die Natur auf den Menschen ausübt.¹²⁴ Von großer Bedeutung für beide Momente sei der … Umstand, dass ein irgendwie klar durchgreifender Unterschied zwischen Persönlichem und Naturhaftem, zwischen Lebendigem und Unlebendigem, Seelischem und Körperlichem noch nicht besteht. Der Mensch jener Stufe vermag sich von den Naturdingen und dies von sich noch keineswegs generisch zu unterscheiden.¹²⁵
Selbst das, was dem höher entwickelten Bewusstsein als Seele und Geist erscheint, werde im primitiven Bewusstsein zwar als „Ursache des Lebens und Denkens“, trotzdem aber als materiell vorstellig.¹²⁶ „Naturerscheinungen“ werden als „hier lebende Wesen“ gedacht, allerdings nicht „in dem Sinne der Anthromorphisierung“.¹²⁷ Alles ist lebendig und besitzt einen Willen, aber zwischen Siebeck, Lehrbuch der Religionsphilosophie, S. 58. A.a.O., S. 59. A.a.O., S. 59. Vgl. Auch Tiele, C. P., Tiele’s Kompendium der Religionsgeschichte, S. 11: Auch Tiele hält als prägendes Charakteristikum des Animismus den „Glauben an das Vorhandensein von Seelen oder Geistern“ fest, wobei „[a]lles […] nach Analogie des Menschen als lebendig betrachtet“ wird. Ebd. A.a.O., S. 60.
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einer menschlichen und dinglichen Lebendigkeit wird noch nicht differenziert. Als Folge einer Homogenität der göttlichen und menschlichen Sphäre sei im primitiven Zustand auch noch kein Jenseitsglaube ausgeprägt: „[D]er Tod ist kein Grenzpunkt zwischen zwei verschiedenen Daseinsweisen“, die nach dem Tod aus dem Körper getretenen Seelen leben in „derselben Welt“ der Lebendigen weiter, „nur in grösserer Unzugänglichkeit“.¹²⁸ Der Übergang zu einer Vergeistigung der Götterwelt und der Entstehung eines differenzierenden (vor allem moralischen) Bewusstseins, welches zwischen der physisch-materiellen, geistig-spirituellen und göttlichen Sphäre unterscheidet, ist bei Siebeck bereits an der Stelle angelegt, an welcher die Homogenität von Mensch und Natur vom Bewusstsein aus durchbrochen vorstellig wird. Die Natur wird in ihrer Unberechenbarkeit und Unbeeinflussbarkeit vom Menschen als „wo nicht dem Wesen, so doch dem Grade nach Höheres, das heisst hier lediglich Mächtigeres“ wahrgenommen, „deren Gunst man durch Bitten oder Gaben sich vermitteln muss.“¹²⁹ Die unmittelbar homogene Beziehung bedürfe nun also einer sukzessiven Vermittlung, die eine graduelle Trennung voraussetzt. Der Mensch wisse sich mehr und mehr von der Natur unterschieden und entwickele Strategien der Aneignung, die einer Beschwörung und Vergottung gleichkämen. Er trete in „praktische Beziehung“ zu den ihn umgebenden Mächten, was die Grundlage für die „mythologischen Vorstellungen und die ihnen entsprechenden Handlungen“ liefere.¹³⁰ An der Stelle dieser praktischen Beziehung zu den Naturmächten war auch für Tiele der Beginn einer eigentlichen Religiosität angesetzt (s.o.), da hier die Schutzfunktion und das Wissen des Menschen um Aneignung der Mächte und deren Nutzbarkeit in Kraft treten und damit die Grundalge für eine „Anbetung“, ein In-Beziehung-Treten des Menschen mit der äußeren Natur geebnet sei.¹³¹ Je mehr in diesem Prozess „die Einheit des Gotts mit dem Naturobjekt sich zu lockern beginnen“ und nicht mehr die Naturerscheinung selber als Gott angesehen wird, sondern ein hinter dieser Naturerscheinung stehendes Prinzip, desto stärker wird Gottes Wesen als etwas geistiges und damit als vom Gegenstand, durch welchen er in Erscheinung tritt, unterschieden wahrgenommen.¹³² Es lässt sich also ein gradueller Unterschied bereits im primitiven Ausgangsstadium ausmachen: Zunächst erscheint die Natur dem menschlichen Dasein als homogen, beseelt, kraftdurchwaltet und wesenhaft-materiell. In einem nächsten Schritt weiß
A.a.O., S. 62. A.a.O., S. 61. Ebd. Vgl. Tiele, C. P., Tiele’s Kompendium der Religionsgeschichte, S. 11. Siebeck, Lehrbuch der Religionsphilosophie, S. 63.
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der Mensch sich von ihr getrennt und ihr ausgeliefert, sucht sich jedoch durch Anbetung ihr zu bemächtigen. Die vom menschlichen Bewusstsein nun abgegrenzte geistige Sphäre wird im primitiven Bewusstsein noch direkt auf eine natürliche Gegebenheit bezogen, welche als „Sitz Gottes“ vorgestellt wird.¹³³ Auf Basis der animistischen Vorstellung von der Beseelung der gesamten äußeren Natur entwickelt sich nun darüber hinaus der Versuch des magischen Bändigens dieser geistigen Mächte, indem der Mensch sich diese durch Zauberkult anzueignen suche. Dieses praktische Verhalten des Menschen zu den Mächten bzw. Wesen fällt in den Bereich der sympathetischen Magie und beruht auf der Idee eines Kausalzusammenhanges zwischen Methode und Wirkung. Tiele spezifiziert: Die wichtigste Theorie des magischen Verfahrens ist der Grundsatz vom Wirken durch Ähnlichkeit und durch einen Teil des Ganzen […]. Wenn der Boden durch Ausgießen von Wasser naß wird, oder wenn man unter den Palmblättern wie vor dem Regen sich birgt, oder wenn man sich wie Enten im Wasser benimmt, dann muß es regnen.¹³⁴
Die oben beschriebenen Praktiken der Veden würden laut Siebeck in dieses Stadium fallen, welches er auch als „Treiben des Zauberpriesterthums […] mit seinen Geister rufenden und bannenden Manipulationen“¹³⁵ umschreibt. Als letzte Stufe des primitiven Bewusstseins nach Siebeck werde Gott nicht mehr mit einer Naturerscheinung assoziiert, sondern als geistige Sphäre für sich als ein hinter der Natur stehendes Prinzip abgegrenzt. Gleichzeitig werde das Naturphänomen als Symbol für das göttliche Prinzip erachtet; Bildspender (z. B. ein Gewitter) und Bildempfänger (das göttliche Wesen) seien dabei durch eine Adäquatheit der äußeren Erscheinung oder des charakteristischen Wesens miteinander verknüpft (wenn z. B. Gottes Allmacht wie ein donnerndes Gewitter auf den Menschen wirkt o. Ä.).¹³⁶ Der bereits sich im primitiven Urzustand erweisende bewusstseinstheoretische Gradunterschied führt zu der Frage, an welcher Stelle Tillichs Aussagen über die primitive Kulturreligion verortet werden könnten. Diesbezüglich ist zunächst der Unterschied genauer zu spezifizieren: Insgesamt gilt als Konsens, dass eine rein animistische Weltanschauung noch keine Religion darstellt. Sowohl Siebeck als auch Tiele verorten den Animismus nicht auf der bereits durch Heterogenität zwischen Natur und Mensch gekennzeichneten Sphäre, sondern in der Be-
A.a.O., S. 64. Tiele, C. P., Tiele’s Kompendium der Religionsgeschichte, S. 45. Ebd. A.a.O., S. 64.
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wusstseinslage, in der zwischen menschlicher bzw. persönlicher und natürlichmaterieller Sphäre höchstens graduell (jedoch nicht prinzipiell) unterschieden wird. Die Vorstellung von einer lebendigen, „launenhaften“ und voluntaristisch gedeuteten Natur sei „als solche keine Religion“ (s. o.), sondern „Geisterglaube[…]“¹³⁷. Im anfänglichen Animismus wird vom Bewusstsein also noch keine Trennung der menschlichen und naturhaften Sphäre vollzogen, was erst ein bewusstes In-Beziehung-Treten des Menschen zu seiner äußeren Natur und ein Bewusstsein um eine Unterscheidung voraussetzt. Rade kommt in seinem Artikel über „Animismus“ ebenfalls zu dem Urteil, dass der Animismus noch unter das Religiöse falle, da er zwar die Vorstellung von einer seelischen und geisterhaft durchwalteten Welt enthält, der Mensch diesen Kräften jedoch primär mit „Angst und Furcht“ begegnet. „Man kann aber von Religion erst reden, wenn irgend eine Art positiven Verhältnisses zwischen dem Menschen und den Mächten, die über ihm sind, sich einstellt, irgend eine Art von Bund […].“¹³⁸ Rade, Tiele und auch Siebeck sehen im Animismus also einen Bewusstseinszustand, der noch unterhalb des religiösen Verhältnisses einzuordnen ist. Tiele setzt den Übergang zur Religion bei der Entstehung eines praktischen Verhältnisses zwischen Mensch und Naturmächten an und auch Rade kommt zu dem Ergebnis, dass „[d]ie Anfänge einer wirklichen ‚Religion’ [erst] im Naturmythus usw.“¹³⁹ zu sehen seien. Demnach wären Zauberkult, Priestertum, Fetischismus sowie Volksmedizin bereits eine Weiterentwicklung des niederen Animismus zu einer naturmythologischen und damit religiösen Vorstellungswelt.¹⁴⁰ Als großer Verdienst Tieles kann eine Differenzierung zwischen dem Glauben an eine animistische Beseelung alles Natürlichen und der Idee einer in den Naturerscheinungen innewohnenden Kraft bzw. Macht (Mana) angesehen werden. So ist letztere Vorstellung für ihn dadurch charakterisiert, dass „[a]lles ungewöhnliche, alles was Verwunderung erweckt […], alles Neue, aber auch das immer Wiederkehrende, das ewig rätselhaft erscheint […] von den primitiven Menschen einer Ursache zugeschrieben [wird], die wir am einfachsten als übernatürlich bezeichnen können.“¹⁴¹ Diese übernatürliche Macht wird auch „Mana“ genannt
A.a.O. 11. Rade, Animismus, in: Betz, H. D. (Hrsg.), Die Religion in Geschichte und Gegenwart (A-B), 1. Aufl., Bd. 1, Sp. 491. A.a.O., Sp. 492. Vgl. auch die oben beschriebene Religiosität der Veden. Tiele, C. P., Tiele’s Kompendium der Religionsgeschichte, S. 24; Vgl. auch EN, Bd. XII, S. 424: Tillich bezeichnet es als eine „Vertiefung dieser [der animistischen] Theorie, wenn sie eine bestimmte Auswahl aus den Welterklärungsgedanken als religiöse zugibt.“ Auch Tillich führt zwei
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und bezeichnet die „Vorstellung von einer geheimnisvollen, eigentlich unpersönlich aufgefaßten, gewissermaßen übernatürlichen Ursache der Erscheinungen“.¹⁴² Die Vorstellung von einer jedem Ding inhärenten Wesenheit ist von der Vorstellung einer von Macht durchwalteten Natur unabhängig: Zwar kann alles als beseelt gedacht werden, aber nicht allen Seelen und Geistern kommt deshalb automatisch eine besondere Macht zu. Dies hingegen setze ein gewisses Auswahlprinzip voraus, welches auf einem Werturteil basiere. Für Tiele enthält dieses bereits „religiöse Abstufung und religiöse Gesinnung“¹⁴³. Es ist also mit Tiele zu unterscheiden zwischen einem Glauben an die Beseelung der Natur (Geisterglaube) und der Machtzuschreibung dieser äußeren Naturerscheinungen, die stets ein praktisches In-Beziehung-Treten mit den Mächten beinhaltet. Einher mit dieser Beziehung gehen sämtliche Maßregeln, Tabuisierungen, Gebote und Pflichten (denn die Wirkung der Mächte ist paradox, kann also auch gefährlich werden), die das Verhältnis des Menschen mit den Mächten regeln sowie die Einsetzung von bestimmten privilegierten Menschen (Machtträger, Zauberer, Magier, Priester, Medizinmänner etc.) im Umgang mit den Mächten. Ebenso könne das gesamte Feld der bereits oben erwähnten „sympathetische[n] Magie“, welches auf dem Prinzip der Beschwörung und Anbetung mit dem Ziel der eigenen Nutzbarkeit beruht, in diese primitiv-religiöse Sphäre eingereiht werden.¹⁴⁴ In diesem Sinne kann in vollem Umfang von einem religiösen Verhältnis gesprochen werden, welches bereits ein höheres Bewusstsein auch um die eigene Religiosität enthält. Unterschieden werden also ein reiner, ursprünglicher und primitiver Animismus und ein darüberhinausgehendes praktisches Verhältnis des Menschen zu den Mächten, welches auf dem Boden des Animismus erwächst und darüber hinaus zu religiösen Praktiken und Bestimmungen führt, die bereits Kennzeichen eines höheren religiösen Bewusstseinszustandes sind. Die Frage, ob bereits der primitive Urzustand als religiös bezeichnet werden kann, lässt sich vor dem Hintergrund der Ausführungen Siebecks, Rades und Tieles also bejahen,
entgegengesetzte Richtungen auf, die dieser Auswahl des religiösen Bewusstseins zugrundeliegen und dazu führen, dass Naturerscheinungen als „höher“ und mächtiger eingestuft werden als andere: Man kann […] behaupten, daß das religiöse Bewußtsein am meisten an denjenigen Objekten hängt, die der Denkform am meisten entsprechen, und an denjenigen, die ihr am meisten widersprechen, das heißt am Naturgesetz und am Wunder.“ (ebd.) EN, Bd. XII, S. 424 und a.a.O., S. 25. Ebd. Vgl. Lehmann, E., Die Anfänge der Religion und die Religion der primitiven Völker, in: Hinnenberg, P. (Hg.), Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele, Teil I, Abteilung III (Die Religionen des Orients und die Altgermanische Religion), 2. Aufl., Leipzig; Berlin 1913, S. 11.
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insofern als die primitive Bewusstseinslage in sich selbst noch graduelle Abstufungen aufweist. Auf Basis der bisherigen Erörterungen stellt sich die Frage, an welcher Stelle Tillichs Aussagen über das primitive Bewusstsein zu verorten sind. Ist das primitive Bewusstsein bei ihm rein animistisch geprägt und noch unterhalb des Religiösen anzusiedeln oder wird das praktische Verhalten des Menschen gegenüber einer religiösen Sphäre bereits mitgedacht? Die vorangehenden Überlegungen führen zu der Feststellung, dass Tillichs Vorstellung vom primitiven Urzustand einer genaueren Differenzierung über die verschiedenen Stufen innerhalb des primitiven Bewusstseins selbst ermangelt und sich folglich eher oberflächlich gestaltet. Tillich führt mithin keine differenzierte Unterscheidung zwischen einem Machtglauben (Mana) und einem Geister- bzw. Seelenglauben bzw. einer vorreligiösen und religiösen Gesinnung ein. Vielmehr ist für ihn selbst das vor-bewusste, unmittelbar supranaturale Bewusstsein, welches in allem Natürlichen eine ekstatische Kraft imaginiert, als religiös zu kennzeichnen. Insofern geht er konform mit Lehmann, welcher die Religion der Primitiven nicht als „‚Glaube[n] an ein höchstes Wesen, das die Welt regiert’“ versteht, sondern als einen Glauben „‚an das Dasein von – gewöhnlich unsichtbaren – Wesen, auf deren Gunst oder Ungunst der Mensch und sein Schicksal beruht.’“¹⁴⁵ Wohl zieht er aber einen Unterschied zwischen einem reinen animistischen Welterkennen und einer durch ein bestimmtes Auswahlprinzip geleiteten Zuschreibung von Göttlichkeit, welches sich wohl noch im primitiven Urzustand befindet, jedoch bereits Signum eines höheren Bewusstseins ist: „Das Auswahlprincip aber, nachdem einiges religiösen Qualitäten erhält, anderes nicht, kann nicht wieder der Animismus sein, der allgemeine Voraussetzung ist.“¹⁴⁶ Zusammenfassend lässt sich die primitive Kulturreligion bei Tillich also durch drei Aspekte charakterisieren: Das primitive Bewusstsein lebt in einem supranaturalen, verzauberten, visionären und ekstatischen Verhältnis zur äußeren Natur, wobei ihm durch jegliche natürliche Form der religiöse Gehalt offenbar wird. Gleichsam ist von ihm dieses Verhältnis jedoch nicht als religiös gewusst¹⁴⁷ (obwohl es von der Außenperspektive als religiöse Form zu charakterisieren ist), da er sich noch nicht in Trennung zu den ihn umgebenden Mächten weiß und demnach auch keine Differenzierung zwischen Natur, Geist und Mensch vollzieht. Weiterhin ist im pri A.a.O., S. 10. EN, Bd. XII, S. 423. Vgl. a.a.O., S. 458 – 459: „In der primitiven Naturreligion ist alles supranatural, aber es [ist] nicht als supranatural gewußt. Denn es fehlt das Bewußtsein des Naturalen, es fehlt das Formerlebnis, es fehlt die autonome Kulturfunktion.“
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mitiven Bewusstsein die „Gottesvorstellung auf das Biologische bezogen“, so, wie „[s]ämtliche Geistesfunktionen […] auf das Biologische, auf die Selbsterhaltung des Lebens, oder […] auf den Willen zur Macht“ gerichtet sind, weshalb hier primär eine individuelle Beziehung zwischen Mensch und Natur besteht und die soziale Funktion noch hintergründig bleibt.¹⁴⁸ Dennoch stellt auch der primitive Urzustand bereits ein kulturelles Verhältnis dar, da auch hier der Mensch bereits im Kulturverband und demnach in einem sozialen Verhältnis lebt, auch wenn hinsichtlich seiner Religiosität diese Beziehung eher hintergründig bleibt. Als notwendige Konsequenz aus dem Vorangehenden lehnt Tillich auch die „These von einem Urmonotheismus“ ab. Da das primitive Bewusstsein in allen Formen den religiösen Gehalt erlebt, werden entsprechend der verschiedenen Geistesfunktionen die je mit einer göttlichen Funktion versehenen Formen zu differenzierten Geisteswesen bzw. Gottheiten stilisiert. Das ursprüngliche Bewusstsein ist also nach Tillich pantheistisch geprägt. Von Bedeutung für die Entwicklung der verschiedenen Religionen und deren Abgrenzung vom primitiven Anfangsstadium ist der Übergang des primitiven Bewusstseins zur autonomen Kulturreligion. Dieser Übergang erfolgt bei Tillich infolge einer Loslösung vom Biologischen und einer Herstellung der religiösen Beziehung, die dann auch als religiös gewusst ist und sich nicht rein intuitiv im Bewusstsein einstellt. In diesem Zustand ist schließlich auch eine Vermittlung des Bewusstseins mit dem religiösen Gegenstand erforderlich. „Das Gehaltserlebnis wird in wachsendem Maße Vermittler des Formerlebens.“¹⁴⁹ Das bedeutet, dass diejenigen Formen ausgewählt werden, durch die der Gehalt auf adäquate Weise erlebt werden kann. Der Übergang vom primitiven Animismus zu einem höheren Bewusstsein setzt bei Tillich also bereits dort an, wo die oben beschrieben Auswahl in Kraft tritt und die animistische Welterklärungstheorie überschritten wird: „Es ist darum eine wesentliche Vertiefung dieser Theorie, wenn sie eine bestimmte Auswahl aus den Welterklärungsgedanken als religiöse zugibt.“¹⁵⁰ Bisher galt vor allem bei Tiele das praktische und positive Verhältnis des Menschen zu den äußeren Mächten als Kennzeichen einer beginnenden Religiosität. Bemerkenswert ist die Feststellung, dass auch Tillich bereits bei der Vertiefung des Animismus und demnach dem Übergang zur autonomen Kulturreligion dem Praktischen eine
Vgl. a.a.O. 463: „Das primäre Bewußtsein biologischer Art ist, wie das Biologische überhaupt, direkt bezogen auf ein Individuum.“ Vgl. auch Siebeck, H., Lehrbuch der Religionsphilosophie, S. 63: Auch Siebeck bemerkt, dass das sich auf dem Animismus aufbauende „praktische Verhalten des Menschen zu seinen Göttern […] auf dieser Stufe nach alldem als vorwiegend durch das e g o i s t i s c h e Motiv bestimmt gedacht werden […]“ muss. EN, Bd. XII, S. 463. A.a.O., S. 424.
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höhere Bedeutung zuschreibt als dem Theoretischen. Denn die aus religiösen Motiven heraus getroffene Auswahl bestimmter Naturphänomene als besonders herausragend und demnach mächtig bzw. göttlich erfolgt zwar auf theoretischer Basis. Entsprechend werden als religiös entweder diejenigen Naturerscheinungen empfunden, „die der Denkform am meisten entsprechen“ oder diejenigen, „die ihr am meisten widersprechen“ (das gleichförmige, regelmäßige, gesetzmäßige der Natur und das die Natur durchbrechende wundersame).¹⁵¹ Das Religiöse wird also entweder „durch die Unbedingtheit der Denkform“ oder „durch die Durchbrechung der Denkform“ erfasst, sodass das irrationale Denkerlebnis sich zum einen in der Form, also im Rationalen offenbart, zum anderen als Antirationales, formdurchbrechendes Moment erscheint.¹⁵² Dennoch erweist sich auch für Tillich die rein theoretische Betrachtung des Religiösen für eine Definition von Religion als ungenügend. Denn die Theorie könne zwar entscheiden, was als religiös zu gelten habe, nicht jedoch sei sie in der Lage, die besondere Wirkmächtigkeit des religiösen Phänomens zu erfassen.¹⁵³ Es ist aber in beiden Fällen nicht das Theoretische an und für sich, was das Religiöse ausmacht, sondern das Unbedingtheits- resp. das Irrationalitätserlebnis, das aber eben nicht mehr theoretisch ist, sondern am Theoretischen sich auswirkt.¹⁵⁴
Weder der Animismus noch „die Definition der Religion als Gotteserkenntnis“¹⁵⁵, die Gott als „Weltkausalität“, „Weltgrund“ oder „höchste[n] Wille[n]“ erkenntnistheoretisch herzuleiten suche, seien also in der Lage, in die irrationale Wirkmächtigkeit des religiösen Prinzips einzudringen. Denn auch den höchsten Begriffen über das Göttliche liege ein Auswahlprinzip zugrunde, welches nicht mehr
Ebd. und a.a.O., S. 425. Vgl. auch a.a.O., S. 539: Tillich hält fest, dass die doppelseitige Erscheinungsform der den Menschen umgebenden Mächte aus der „Doppelrichtung des religiösen Unbedingtheitserlebnisses“ selbst hervorgeht und diesem entspricht. „Es können die religiösen Gegenstände solche sein, in denen das reine Gehaltserlebnis sich objektiviert, und es können solche sein, in denen das Unbedingtheitserlebnis der Form sich objektiviert. Die ersten Objektivationen tragen den Charakter des Irrationalen, Unheimlichen, Rätselhaften, Erschreckenden, aber auch zu höchster Seligkeit und Macht Hinreißenden, die zweiten Objektivationen tragen den Charakter der Erhabenheit, des Gesetzmäßigen; sie sind die wundervollen und überwältigenden Inkarnationen ewiger Rationalität.“ Zu Letzteren zählt Tillich sowohl die „semitische Astronomie“ als auch „[d]ie immanente Weltvernunft der Stoiker, de[n] Kantische[n] Preis der Erhabenheit der astronomischen Gesetze und des kategorischen Imperativs“ sowie den chinesischen Taoismus als den „höchste[n] Typus“ (S. 540). A.a.O., S. 424. Vgl. ebd. Ebd. Ebd.
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rein theoretisch zu begründen ist, sondern auf der Frage beruht, welche besondere Bedeutung jene Begriffe für das „innere Leben“ besitzen: Im Verborgenen schwingt natürlich immer das mit, was wir als das Unbedingtheitserlebnis genannt hatten […]. Es kommen also auch alle Definitionen, die die Religion auffassen als Erkenntnis des Weltgrundes, in irgendeiner Form nur dadurch zu einer religiösen Qualität des Erkennens, daß sie das Unbedingtheitserlebnis in die letzten spekulativen Begriffe einschmuggeln.¹⁵⁶
Der Übergang zur autonomen Kulturreligion erfolgt bei Tillich also an der Stelle, an der der Stand des reinen, animistischen Geisterglaubens verlassen wird und die Mächte vom Menschen nutzbar gemacht, mitunter auch in ihrer destruktiven Funktion erlebt werden, was zuvor als sympathetische Magie beschrieben worden ist und bei Tiele den bereits religiösen Bewusstseinsstand des Mana-Glaubens bezeichnet, welcher auf einer übernatürlichen Ursachenzuschreibung alles Ungewöhnlichen beruht. Dies wiederum setzt ein religiöses Werturteil voraus.¹⁵⁷ Gewissen Formen werde nun Unbedingtheit und absolute Gültigkeit zugesprochen. Ihnen komme ein bestimmter ekstatischer Charakter zu, der sie in die Sphäre der unbedingten Form hebe. Dazu können zum Beispiel „bestimmte Wertvorstellungen, bestimmte Kunstformen, bestimmte Menschentypen oder Staatseinrichtungen“¹⁵⁸ zählen, denen Heiligkeit zugesprochen wird. Dieses praktische Verhältnis des Menschen zum Unbedingten könne also als ein Merkmal einer höheren Religiosität verstanden werden, insofern – so Tillich im Systementwurf von 1925 – als „[d]er praktische Akt […] die geisttragende Gestalt [erst] zur Persönlichkeit“¹⁵⁹ gestaltet und damit also Identität konstruiert. Zur Vertiefung der Bedeutung des theoretischen und praktischen Aktes in Bezug auf die Etablierung eines sich der göttlich-geistigen Sphäre gegenüber souverän verhaltenden Identitätsbewusstseins des Menschen soll im Folgenden ein Exkurs unter Bezugnahme auf Tillichs RP (1925) dienen: Die Bedeutung des Praktischen, welches erst im Moment des Übergangs vom primitiven Bewusstsein zur höheren, autonomen Kulturreligion als identitätsstiftendes Moment im menschlichen Bewusstsein in Kraft tritt, wird von Tillich auch im Systementwurf besonders hervorgehoben. Unter einem praktischen Akt versteht Tillich nicht nur praktische Tätigkeiten im Sinne von kultischen, rituellen
A.a.O., S. 426. Vgl. Tiele, C. P., Tiele’s Kompendium der Religionsgeschichte, S. 24. EN, Bd. XII, S. 462. GW, Bd. I, S. 322.
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Handlungen (z. B. das Bespritzen mit Weihwasser oder der Vollzug des Abendmahls etc.), sondern „praktisch“ könne auch eine eigene, vom Individuum vollzogene Denkleistung (theoretische Konstruktion) sein. Der Mensch fungiere einerseits als Träger des Sinnes, indem die sinnerfüllenden Akte selbst zur geisttragenden Gestalt gehören, also „im Sein wurzeln“¹⁶⁰. Diese Seite bezeichnet die schöpferisch-produktive Funktion des Menschen und ist also praktisch. So verstanden kommt Sinn im isoliert praktischen Akt dadurch zustande, dass der Mensch, geistige, sinngebende Akte vollzieht und der Wirklichkeit dadurch per Setzungsakt Sinn zuschreibt. Der Sinn stammt vom Menschen selbst und indem er Sinnträger ist, also Sinn durch ihn vollzogen wird, nimmt er selbst eine schöpferische Funktion in Bezug auf die Produktion von Sinn ein. Praktisch verhält sich der Mensch also zu einem Gegenstand, wenn er ihn selbst bestimmt und ihn seinen Vorstellungen und Begriffen gemäß produziert (also geistige Schöpfungen produziert). Anderseits ist der Mensch nicht nur „Träger aller Sinnerfüllung“, sondern auch „der Ort, wo das Seiende zum Sinn kommt“.¹⁶¹ Der Sinn wird hier also von der geisttragenden Gestalt rezipiert. Im isoliert theoretischen Akt tritt der Sinn an die geisttragende Gestalt wie aus einer äußeren Wirklichkeit heran, indem er sich den Menschen als Stätte der Erfüllung sucht. Er bezeichnet diejenigen Sinnfunktionen, „in denen alles Seiende, auch die geisttragende Gestalt selbst, in die Sinnerfüllung aufgenommen wird […].“¹⁶² Diese Aufnahme in den Sinn gestaltet sich jedoch ohne Zutun des Menschen. Dem Praktischen wird gegenüber dem Theoretischen der Vorzug eingeräumt, da sich die geisttragende Gestalt im praktischen Akt „losreißt von ihrer seinshaften Unmittelbarkeit und sich als geistige Gestalt setzt.“¹⁶³ Durch diesen Prozess des Losreißens von der Unmittelbarkeit (also dem Übergang vom primitiven zum autonomen Bewusstsein) werde der Mensch „zur Persönlichkeit“¹⁶⁴ gestaltet. „Denn durch die Sinnformung der Seinszusammenhänge wird die geisttragende Gestalt zur Persönlichkeit.“¹⁶⁵ Indem der Mensch also selbst einen Sinn schafft, erhebt er sich über das Gegebene und wird damit selbst zum Schöpfer. Tillich bezeichnet dieses praktische Verhalten auch als „reale Sinnerfüllung“, da sie stets gebunden ist an das Sein (an den Menschen, der selbst Schöpfer sinnerfüllender Akte ist) und damit „auf die in der geisttragenden Gestalt sich erfüllende Wirklichkeit“ beschränkt ist.¹⁶⁶ Anders
A.a.O., S. 322. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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gesagt: „Eine reale Sinnerfüllung ist eine solche, in der die Sinngebung in der Sphäre der an die Natur gebundenen, individuellen Wirklichkeit vor sich geht“¹⁶⁷. Sie trägt also stets subjektive Züge. Hingegen ist der Mensch im theoretischen Akt lediglich rezipierend: „Der theoretische Akt nimmt die Wirklichkeit in den Sinn auf; er ist auf die Form der Dinge gerichtet. Denn nur in den Formzusammenhängen kann die geisttragende Gestalt, ohne zu zerbrechen, alles Sein aufnehmen.“¹⁶⁸ Er wird von Tillich folglich als „ideale Sinnerfüllung“¹⁶⁹ bezeichnet. „[E] ine ideale Sinnerfüllung ist eine solche, in der die Sinngebung keine Umformung in der materiellen Sphäre bedeutet, sondern eine Erfüllung des Seienden in seiner unmittelbaren Formung.“¹⁷⁰ Das Praktische ist also an den Menschen gebunden, indem die sinnerfüllenden Akte aus dem Menschen selbst erwachsen. Aber auch der theoretische Akt ist an den Menschen gebunden, indem das Ideale durch die geisttragende Gestalt hindurch rezipiert wird.¹⁷¹ Isoliert betrachtet kann die theoretische Sinnerfüllung analog zur animistischen Geisteshaltung gelesen werden, in welcher der Mensch nur rezipierend, nicht jedoch schöpferisch tätig ist. Der Mensch lebt noch unmittelbar. Das Religiöse hat noch keine Schöpferkraft entfaltet und ist insofern auch noch nicht in der Lage, aus sich heraus eigene Formen zu setzen und diese mit Unbedingtheit zu umkleiden. Erst durch den praktischen Akt emanzipiert sich der Mensch von seiner eigenen Unmittelbarkeit und gestaltet sich zur Persönlichkeit.¹⁷² In der autonomen Kulturreligion sind theoretischer und praktischer Akt jedoch stets als Einheit vorhanden, „wo einer von beiden fehlt, gibt es keine Sinnerfüllung.“¹⁷³ Der isoliert theoretische Zugang zum Unbedingten unterliegt der Gefahr, vom Subjekt nicht als etwas ihn unbedingt Angehendes empfunden zu werden, indem der Mensch auch die Freiheit besitzt, die außer ihm stehende (göttliche) Wirklichkeit abzulehnen. Als vom Menschen unabhängig kann das Unbedingte von ihm negiert, anstatt rezipiert werden. Es besteht die Möglichkeit, „das Unbedingte zu einem Objekt [zu machen], das von der Persönlichkeit beiseitegeschoben werden kann wie jedes andere Objekt. Eben damit aber verliert es
A.a.O., S. 323. A.a.O., S. 322. Ebd. Ebd. Vgl. a.a.O., S. 323: „Das erste aber [die reale Sinnerfüllung, der praktische Akt] ist nur möglich in der geistigen Persönlichkeit, das zweite durch die geistige Persönlichkeit.“ Im praktischen Akt liegt gleichsam auch die Gefahr der Dämonie und der Sünde verborgen, denn nur der freie Mensch ist auch in der Lage, sich über die Natur zu erheben und sich damit auch von seiner ursprünglichen Bestimmung abzuwenden und dem Übel zu verfallen. GW, Bd. I, S. 322.
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die Kraft der Unbedingtheit.“¹⁷⁴ Das Praktische erfordert jedoch das Theoretische, „denn nur insofern die geisttragende Gestalt sich der geltenden Form unterworfen hat, kann sie in sich das Seiende zur Erfüllung bringen.“¹⁷⁵ Gleichzeitig benötigt der praktische Akt eine theoretische Reflexion seines Tuns, die ihn erst zum geistigen Akt erhebt. Er muss ein „theoretisches Bewusstsein um den Sinn und die Zusammenhänge seines Handelns in sich tragen.“¹⁷⁶ Ein gültiges Wahrheitsverständnis setzt also nach Tillich die bewusste Einheit von theoretischem und praktischem Akt, von subjektiver und objektiver Wahrheitserkenntnis voraus. Denn „[n]ur als das unbedingt Seiende in allem Sein kann es seine Unbedingtheit bewahren.“¹⁷⁷ Diese Aussage verzahnt die subjektive und objektive Seite der Erfassung des Unbedingten: Als das „unbedingt Seiende“ trägt es den Charakter einer objektiven Wirkmächtigkeit. Indem es sich „in allem Sein“ verwirklicht, ist die subjektive Seite der Aufnahme des Unbedingten vom Menschen vorausgesetzt. Wahr ist nur, was als wahr erkannt wird. Der Sinnverleihende, als wahr erkennende Akt wurzelt jedoch im Unbedingten selbst. In Bezug auf die primitiv-animistische Haltung lässt sich also festhalten, dass in diesem Bewusstseinsstand die Doppelseitigkeit der Sinnfunktionen noch nicht hervorgetreten, sondern allein der theoretische Zugang zum Unbedingten vorherrschend ist. Insofern das Praktische als eine dem Theoretischen gegenüberstehende Funktion nur als Potentialität vorhanden ist und noch nicht in Aktualität übergegangen, besteht auch nicht die Möglichkeit des Theoretischen, vom Subjekt negiert zu werden, da das Subjekt noch nicht frei ist, sich über sein unmittelbares Dasein zu erheben. Insofern ist es dem Menschen nicht möglich, das Unbedingte zu verobjektivieren und sich ihm gegenüber in ein positives oder negatives Verhältnis zu setzen. Der primitive Bewusstseinsstand kann folglich auch als eine Geisteshaltung verstanden werden, die durch eine intuitiv-theoretische, unmittelbare Rezeption des Göttlichen von Seiten des Menschen charakterisiert werden kann. Tillich reflektiert unter anderem auch auf die Folgen, die sich aus der Loslösung des Bewusstseins vom rein biologisch Notwendigen ergeben. Diese Emanzipation mache sich einerseits dadurch bemerkbar, dass die unbedingten Formgesetze mit dem Biologischen in einen Konflikt treten können, andererseits werde dadurch erst eine „[…] vom Biologischen losgelöste unmittelbare Beziehung auf das Reli-
A.a.O., S. 326. A.a.O., S. 321 A.a.O., S. 322. A.a.O., S. 327.
2.2 Von der „primitiven Kulturreligion“ zur „autonomen Kulturreligion“
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giöse […]“ möglich, indem das Religiöse mittels eigener Schöpferkraft bestimmte Naturobjekte bewusst mit religiöser Unbedingtheit umkleidet, ihnen also Heiligkeit zuschreibt.¹⁷⁸ Das Religiöse lässt sich in der autonomen Kulturreligion also in Unterscheidung zum Profanen als Sphäre für sich abgrenzen – ihm wird durch Anbetung, Opferdarbietung, bestimmten vom Menschen entwickelten Maßregeln im Umgang mit dem Heiligen sowie zahlreichen Tabus ein eigener Kultus gewidmet. Der in Unterscheidung zur profanen Kultur vom Menschen vollzogene Verkehr mit dem Unbedingten beruht auf der Auswahl einiger religiöser Formen als besonders wertvoll und mächtig. Da den göttlichen Mächten in der Natur teils paradoxe Wirkung zukommt und sie folglich auch eine Gefahr für den Menschen darstellen können, bedürfen sie eines speziellen Umgangs, welcher durch sämtliche Tabuisierungen geregelt wird. Tiele definiert: „Tabu ist das, womit man nicht ohne besondere Vorsichtsmaßregeln und Vorschriften umgehen darf.“¹⁷⁹ Laut Tillich können die vom Menschen eingeführte Regeln im Umgang mit dem Unbedingten nun mit dessen ursprünglich biologischen Bedürfnis und dem natürlichen „Willen zur Macht“¹⁸⁰ in Konflikt treten, indem sie das Biologische beschneiden, nicht erhöhen. Dem triebhaften, ungezügelten, sich ins Ekstatische steigernden und zahlreiche visionäre Phantasien bildende Bewusstsein wird nun eine Grenze gesetzt, die aus dem Bewusstsein der Unterscheidung des Seins vom Denken oder der geistigen und persönlichen Sphäre hervorgeht. Das zunächst individuelle Verhältnis des Menschen zu den äußeren Mächten (primitiv-biologischer Egoismus) wird durch das Einführen von Sitten, die das Zusammenleben und den Umgang mit den Mächten regeln, im „ideellen Übergangsmoment“ zur autonomen Kulturreligion sozial bezogen. Als Beispiel jener mit dem Biologischen in Konflikt tretenden und damit lebenserschwerend wirkenden Sitten werden von Tillich z. B. Tabugesetze, Opfer, Götterspeisungen, Bezahlungen der Priester sowie sexuelle Tabus genannt.¹⁸¹ Als Ursache für die Attribuierung äußerer Naturphänomene oder Gegenstände mit besonderer Mächtigkeit führt Tillich die „verborgene Wirksamkeit der Form“¹⁸² selbst auf. Das bedeutet, dass einige Formen besser geeignet seien, den Gehalt in adäquater Weise zur Darstellung zu bringen als andere Formen. Sie ziehen quasi „das Gehaltserlebnis, das Heiligkeitsgefühl auf sich“¹⁸³. Auch Tiele teilt die Tabugegenstände in solche ein, „die es infolge ihrer eigenen Beschaffenheit und solche, die es durch menschliche Gebote
EN, Bd. XII, S. 461. Tiele, C. P., Tiele’s Kompendium der Religionsgeschichte, S. 33. EN, Bd. XII, S. 459. A.a.O., S. 462. und 463. A.a.O., S. 462. Ebd.
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2 Die geschichtsphilosophische Entfaltung des Wahrheitsbegriffs
sind“.¹⁸⁴ Der Prozess der Tabuisierungen ist als ein bedeutender Schritt in Richtung einer ethischen Entwicklung des Religiösen anzusehen, da durch ihn rechtlich-sittliche Bestimmungen und Regeln entstehen, die das soziale Zusammenleben gestalten und unter anderem zur Entwicklung von Moralvorschriften führen. Indem also einer bestimmten Form überindividuelle und absolute Gültigkeit zugesprochen werde, sei gleichsam ein sozialer Faktor integriert, der bewirke, dass eine größere Gruppe an Individuen sich an bestimmte Sitten hält oder religiöse Praktiken vollziehe. In dem 1930 veröffentlichten Lexikonartikel Mythos und Mythologie greift Tillich das Thema der Entwicklung des Bewusstseins aus seinem primitiven Ursprung wieder auf, indem er dessen Beziehung zum Göttlichen in drei Phasen einteilt: Die Bewußtseinslage, in der es noch keine Göttervorstellung gibt, aber Elemente vorliegen, die zu ihr führen können, ist als vormythisch zu bezeichnen. Die Bewußtseinslage, in der es zwar Göttervorstellungen gibt, aber eine solche, in der die Götter oder Gott nicht mehr als handelnd und leidend in Raum und Zeit vorgestellt werden, ist als nachmythisch zu bezeichnen.¹⁸⁵
In der Zwischenstufe, die als mythisch gekennzeichnet werden kann, seien die Götter dem Bewusstsein also als „handelnd und leidend in Raum und Zeit“ (s.o.) vorstellig. In dieser mythischen Phase erhebt sich der Wert des Persönlichen über das Materielle, indem eine Trennung des Bewusstseins von der ihn umgebenen Außenwelt stattfindet. Wenn Tillich von jenem vormythischen Bewusstsein spricht, so korrespondiert diese Vorstellung mit der primitiven Kulturreligion, insofern als sie durch Identität zwischen Gott und Mensch charakterisiert ist. Der noch im primitiven Bewusstsein befindliche Mensch weiß nicht um seiner selbst als autonomes, gottunabhängiges Subjekt und hat sich noch nicht zur Persönlichkeit gestaltet, was stets einen Emanzipationsprozess bedeutet. Auch werden in der vormythischen Phase die göttlichen Mächte noch nicht mit personenhaften Attributen ausgezeichnet, „die göttliche Macht [wird] nicht als personal, sondern als neutral gedacht“, wobei jedoch von einer Homogenität zwischen dem menschlichen Bewusstsein und den göttlichen Mächten ausgegangen werden könne.¹⁸⁶ Beides sei eins und „die Persönlichkeit hat sich als solche noch nicht über die Dingwelt erhoben“.¹⁸⁷ Tiele, C. P., Tiele’s Kompendium der Religionsgeschichte, S. 31 Tillich, P., Mythos und Mythologie, in: Albrecht, R. (Hrsg.), Die Frage nach dem Unbedingten. Schriften zur Religionsphilosophie (Gesammelte Werke, Bd. V, 1. Aufl.), Stuttgart 1964, S. 187. A.a.O., S. 195.
2.2 Von der „primitiven Kulturreligion“ zur „autonomen Kulturreligion“
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Gleichzeitig macht Tillich deutlich, dass es kein schlechthin unmythisches Bewusstsein gebe, sondern dass der Mythos als Kategorie der Religion stets über eine integrationsstiftende Wirkung verfüge. Denn auch die vormythische Phase sei nicht areligiös. Die indifferent-sakramentale Geisteslage, in der alles Wirkliche zum Träger des Heiligen werden könne, entspricht der vormythischen Phase. Bezeichnend ist der Umstand, dass Tillich das Wesen des Mythos „nicht nur aus der Periode des voll entwickelten und ungebrochenen Mythos“ entnehmen möchte, „sondern auch aus den Perioden des werdenden und des gebrochenen Mythos.“¹⁸⁸ Unter gebrochenem Mythos versteht Tillich die nachmythische Phase, die sich gegenüber der mythischen Phase dadurch auszeichnet, dass Gott in eine geistige, vom Bewusstsein unterschiedene Sphäre verlagert werde, zu welcher der Mensch in Beziehung treten könne. Das nachmythische Bewusstsein entspricht in vollem Umfang dem von Tillich vertretenen Mythosbegriff und negiert die von ihm abgelehnte metaphysische und erkenntnistheoretische Auffassung. Nach der metaphysischen Auffassung, die Tillich in Schelling Repräsentiert sieht, werde der Mythos als „Ausdruck eines wirklichen theogonischen Prozesses, d. h. eines Prozesses, in dem sich die in Gott geeinten Prinzipien widerspruchsvoll im menschlichen Bewußtsein durchsetzen“¹⁸⁹ gedeutet. Während dieser von Schelling vertretene realistische Mythosbegriff von einem wirklichen Eingehen Gottes in die menschliche Sphäre ausgeht, werde nach der erkenntnistheoretischen Position, die u. a. Ernst Cassirer vertrete, davon ausgegangen, dass die Realität des Mythos lediglich auf dem „Schaffen einer in sich sinnvollen geistigen Welt“¹⁹⁰ beruhe und folglich die gesamte göttliche Sphäre lediglich als vom Bewusstsein konstruiert vorstellig werde. Tillich hingegen vertritt die „symbolisch-realistische Theorie des Mythos“. Danach ist der Mythos das aus den Elementen der Wirklichkeit aufgebaute Symbol für das im religiösen Akt gemeinte Unbedingte oder Seins-Jenseitige. Der Mythos hat Realität; denn er ist gerichtet auf das Unbedingt-Reale. Das ist die Wahrheit der metaphysischen Auffassung. Aber er hat nicht die Realität des Abbildes: denn er lebt in Symbolen, die freilich nicht willkürlich sind […].¹⁹¹
Die Realität des Mythos ergibt sich aus der Richtung des Bewusstseins auf ein für es selbst als unbedingt angehend und folglich real empfunden Unbedingten. Dass dieses Unbedingte nicht im Sinne eines Abbildes verstanden werden kann, meint
Ebd. A.a.O., S. 187. A.a.O., S. 188. Ebd. Ebd.
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2 Die geschichtsphilosophische Entfaltung des Wahrheitsbegriffs
die Unmöglichkeit, es vollkommen in einer endlichen Form erschauen zu können. Die Abbilder sind nicht selbst das Unbedingte. Hingegen ist die Form, in der das Unbedingte dem Menschen erscheint, als ein Medium zu verstehen, durch welches die Wirklichkeit Gottes transparent wird, ohne im Endlichen aufzugehen. Die Sphäre des reinen Mythos sei dadurch überwunden, dass Gott nicht als Personenhaft und endlich vorgestellt werde. Es sei dem Bewusstsein überhaupt nicht möglich, in die Sphäre Gottes einzudringen, sondern nur durch die Erkenntnis der Unmöglichkeit schaffe das Bewusstsein die Grundlage, die göttliche Gnade aufzunehmen. Gott ist nur in Negationsbegriffen vom Bewusstsein erfassbar: „Das Göttliche […] geht nicht ein in Raum und Zeit. Aber es ist nur anschaubar in Symbolen, die raum-zeitlichen Charakter haben. Der Mythos ist überwunden, aber die mythische Substanz ist geblieben.“¹⁹² „Gebrochen“ meint auch „das Bewußtsein um die unbedingte Transzendenz des Göttlichen“¹⁹³, die Jenseitigkeit Gottes, die ihn in eine transzendente Sphäre verlagert, die zwar in das Bedingte hineinwirke, in ihrer Wirkung jedoch vom Bewusstsein nur als das ganz andere, ihm Fremde erlebt werden könne, nicht als das ihm Eigene, mit ihm in Identität stehende. Tillich setzt den Mythos folglich mit dem religiösen Symbol gleich. Insofern ist der Mythos nicht aufgelöst, er bleibt notwendige Kategorie des Religiösen, aus der das Bewusstsein aufgrund einer dynamischen Begegnung mit der Wirklichkeit immer neue Formen schaffe, durch die der religiöse Gehalt ergriffen werden könne. Nur auf der Grundalge des Mythos sei es dem Bewusstsein überhaupt möglich, die Wirklichkeit in Richtung einer Konstruktion einer Sinneinheit zu rezipieren. Der Mythos bleibe stets als Kategorie des Religiösen und damit als Vorstellungsform des Göttlichen erhalten, wenn er auch in seiner symbolischen Form durchschaut werde und dadurch eben „gebrochen“ sei. Ihm komme insofern die Funktion der Vermittlung zu, als die Unmittelbarkeit und damit Direktheit der Gott-Mensch-Beziehung „gebrochen“ sei. In der Dresdner Dogmatik-Vorlesung wird die Sphäre des Sakramentalen von Tillich unter den Begriff „Heidentum“ subsumiert und als vorbereitende Periode der vollkommenen Offenbarung gedeutet. Das Sakramentale wird als „allgemeine religionsphilosophische Kategorie“¹⁹⁴ aufgefasst; es bilde somit die Grundlage des Religiösen, die im primitiven Bewusstsein vorhanden sei und folglich den Ausgangspunkt der religionsgeschichtlichen Entwicklung bilde.
A.a.O., S. 189. A.a.O., S. 190. EN, Bd. XIV, S. 282.
2.2 Von der „primitiven Kulturreligion“ zur „autonomen Kulturreligion“
251
Im Sakramentalen werde „das Göttliche unmittelbar als gegenwärtig anschaubar, erfaßbar, aufnehmbar, zum Beispiel durch sakramentales Essen […]“¹⁹⁵. Insofern als in der sakramentalen Haltung eine unmittelbare Hinwendung zum Religiösen bestehe, werde in ihr „das Unbedingte als [das] Tragende, Gegenwärtige“¹⁹⁶ erfasst. In ihr sei das Bewusstsein vollkommen auf das Absolute bezogen und finde seinen Halt in ihm. Das Sakramentale bildet also den Grundstock bzw. die Basis jeglicher Religiosität, somit auch der vollkommenden Offenbarung. Tillich spricht in diesem Kontext auch von einer sog. „Uroffenbarung“. Dennoch entspreche das Sakramentale der vollkommenen Offenbarung nicht in vollkommener Weise, denn indem „hier ein Wesenswidriges, Endliches Unbedingtheit erlangt hat und nun mit dem Anspruch des Heiligen Sinnform und Seinsform zerstört“¹⁹⁷, inhärieren ihm dämonische Elemente. Diese Dämonisierung finde auch im Polytheismus ihren Ausdruck, welcher mit einer Spaltung Gottes einhergehe. Ein Gott, der die Unendlichkeit seiner Erscheinung jedoch nicht in seinem Wesen vereine, sondern dessen unterschiedliche Wirkung zu voneinander verschiedenen, teils konträren Objektivationen und Potenzen gestalte, entspreche einem dämonisierten Gott. Denn die zu realen Gestalten erhobenen göttlichen Wesen könnten auch gegeneinander wirken, infolgedessen Gott nicht mehr allmächtig, sondern selbst zu etwas Bedingtem degradiert werde. Zusätzlich deckt Tillich den Glauben des sakramentalen Menschen an die Möglichkeit einer Bezwingung Gottes durch Opferdarbietungen als Verkehrung des Gott-Mensch-Verhältnisses und folglich als Form von Dämonie auf. Neben der polytheistischen Depravation wird von Tillich auch der Dualismus als eine Form des Abweges „in der Darstellung der Offenbarung im unmittelbar Seienden“¹⁹⁸ gedeutet. Die für ihn charakteristische Stufenlehre wird von Tillich auch als „die Zusammenfassung des Heidentums überhaupt“¹⁹⁹ gewertet. Der Dualismus gehe von zwei gegensätzlich wirkenden Prinzipien aus, von denen das eine den Widerpart zum Göttlichen darstelle. Damit setze er „ein Seiendes voraus, das nicht Kreatur ist und doch auch nicht Kreator, nicht unbedingt Getragenes und nicht unbedingt Tragendes.“²⁰⁰ Die griechische Religion verwende hierfür den Begriff με ον bzw. Materie. Diese „metaphysisch mögliche Gegenposition gegen den Schöpfer“ verkörpere der Demiurg, der sich so zum Dämon gegenüber
Ebd. Ebd. A.a.O., S. 283. A.a.O., S. 139. A.a.O., S. 138. A.a.O., S. 139.
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2 Die geschichtsphilosophische Entfaltung des Wahrheitsbegriffs
dem Schöpfergott erhebe. Da alles Kreatürliche mit dem Negativen Sein des Demiurgen belastet sei und die Schöpfung folglich als unvollkommen und überwindungsbedürftig erscheine, sei es höchstes Ziel im Dualismus, eine vollkommene Askese zu erstreben, um „der ganzen Schöpfungssphäre [zu] entgehen“.²⁰¹ So sei im Dualismus die Vorstellung einer Stufenlehre des Seins prägend, die die „Wirklichkeit zu einem System reiner, immer höherer Formen“ gestalte, die in einer höchsten Form, dem Guten, münden würden. Jede der Stufen bilde halbgöttliche bzw. halbdämonische Götter ab, die dem jeweiligen Reifegrad der Stufe entsprächen. Von der vollkommenen Offenbarung aus wird diese Form der Gottesvorstellung abgelehnt, da Offenbarung ihrem Wesen nach die Umwendung und Erschütterung des Menschen in seinem in sich ruhenden Selbst- bzw. Weltsein bedeute, die ihn auf jeder geistigen Stufe ergreifen könne. Nach dualistischer Vorstellung ereigne sich die Vollendung erst am Ende der Stufen. Auch die Ansicht, dass „unsere Kreatürlichkeit“ negiert werden müsse, um zur vollkommenen Offenbarung durchdringen zu können, ist mit Tillich abzulehnen. Demgegenüber sagt nun die vollkommene Offenbarung, daß alle Stufen des Seienden vollkommen sind. Es ist nicht notwendig, höher zu steigen, um zur Offenbarung zu kommen. Denn diese bricht schon ein in das unmittelbare Sein selbst.²⁰²
Zudem würde die Vorstellung einer der Schöpfung vorangehenden Materie, die unbedingte Selbstmächtigkeit und Aseität Gottes missachten. Stattdessen würde Gott von einem fremden Prinzip abhängig gemacht werden. Die Schöpfung aus dem Nichts bedeute jedoch „das gewaltige, urchristliche Bekenntnis zur Kreatürlichkeit des ganzen Seins und damit zur urständlichen Vollkommenheit der Welt.“²⁰³
2.3 Die politisch-sozialen Kulturreligionen Die Religionstypologie Tillichs klassifiziert die von ihm in sein Beurteilungsschema integrierten Religionen ausgehend von dem im vorherigen Kapitel erörterten primitiven Urzustand entsprechend eines Überwiegens des in ihnen inhärenten Form- oder Gehaltselements. Die folgenden Kapitel werden sich dieser Klassifizierung beginnend mit den ethisch-sozialen Religionen gemäß der sukzessiven Ausprägung des Formelements widmen. Begonnen wird also mit den-
Ebd. A.a.O., S. 140. A.a.O., S. 140 – 141.
2.3 Die politisch-sozialen Kulturreligionen
253
jenigen ethisch-sozialen Religionen, die der primitiven Kulturreligion am nächsten stehen und in welchen entsprechend Form und Gehalt noch in einem nahezu ausgewogenen Verhältnis stehen. Infolge der quadratischen Organisation der Religionen kulminieren diese in zwei Extrempunkten, von welchen derjenige, der aus der ethisch-sozialen Linie erwächst, die absolute Präsenz des Formelements repräsentiert.
2.3.1 Die chinesische Staatsreligion des Konfuzianismus und die altrömische Religion Sowohl die chinesische Staatsreligion des Konfuzianismus als auch die altrömische Religion werden von Tillich als Religionen beschrieben, die überwiegend ethisch konzipiert seien und sich am Staat als der obersten Macht orientieren. Dabei reflektiert Tillich nicht die sich sehr disparat äußernde religiöse Vielfalt in China, sondern setzt eine einheitlich konstruierte Religiosität voraus. Der ekstatisch-mystische Charakter des Religiösen sei in der chinesischen Religion zugunsten einer Betonung des profanen Zwecks gewichen. Weiterhin sei sie durch eine hierarchische Gliederung der Gottheiten gekennzeichnet, „von dem obersten, dem Himmelgott, herab bis zu den Gewerbe- und Ackerbau-Göttern“²⁰⁴ und also polytheistisch geprägt. Das Staatsoberhaupt – in diesem Fall Konfutse – nehme die Funktion eines Ethikers und Reformators ein und lasse die Opferdarbringungen durch die Beamten vollziehen, die als Stellvertreter der Priester fungieren. „Staat und Religion sind identisch“²⁰⁵. Demnach sei der Kultus bestimmt durch das Einhalten bestimmter Pflichten und Tugenden, der Loyalität gegenüber dem Staat, wobei das „Tugendgesetz“ von „Tao“ als dem „Naturgesetz“ abgeleitet werde und „im Anschluß an die alten Klassiker die Regel für das ganze Leben gibt.“²⁰⁶ Im Fokus der Religiosität stehen nach Tillich also die staatlichen Opferdarbietungen, das strikte Einhalten der formalen Zeremonie als Signum eines tugendhaften Verhaltens sowie der Ahnenkultus. Trotz der hohen Bedeutung der formal-religiösen Akte, würden im Zentrum des Glaubens nicht die individuelle Beziehung zwischen Gott und Mensch und eine inner-ekstatische Erhöhung des Geistes stehen, vielmehr sei der Konfuzianismus durch eine „Ablehnung alles Ekstatischen in der Religion“²⁰⁷ charakterisiert.
EN, Bd. XII, S. 464. Ebd. Ebd. Ebd.
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2 Die geschichtsphilosophische Entfaltung des Wahrheitsbegriffs
Auch die Religion der Römer sei – abgesehen vom Glauben an Wahrsagerei – durch einen „Mangel an Phantasie und Spekulation“²⁰⁸ charakterisiert. Die Götter sind durchaus den praktischen Tätigkeiten des Lebens entnommen und bedeuten die Abstraktion der betreffenden Tätigkeit. Der Gott der Aussaat, Saturnus, und die Göttin des Wachstums, Ceres, werden in zahllose Untergottheiten zerlegt […].²⁰⁹
Wie im Konfuzianismus sei eine gewisse Ordnung der Rituale und Handlungen obligatorisch, damit diese zum gewünschten Erfolg führen. In beiden Religionen könne der Kultus als reiner Staatsdienst verstanden werden. Die chinesische Religion sei der römischen insofern voraus, als dort „die rechte Lebensform selbst zu einem Wert“ und nicht nur – wie in der römischen Religion – als „Mittel zum Zweck des Machtstaates“ diene.²¹⁰ Der Konfuzianismus habe sich infolge des Mangels an ekstatischem Inhalt und des reinen Formalismus in Richtung einer mystischen Erhebung weiterentwickelt, indem z. B. die „Mystik des Laotse“ oder der Taoismus und der Mahayana-Buddhismus Eingang in die chinesische Religion gefunden hätten. Hinsichtlich beider Glaubensformen bleibe fraglich, ob überhaupt von Religion im engeren Sinne gesprochen werden könne, denn der Glaube an eine Gottheit sei hier ganz zugunsten einer übernatürlichen Verehrung des Staatsoberhauptes gewichen, die individuelle Beziehung des Einzelnen auf eine höhere Macht – z. B. in Form von Gebet – nicht vorhanden. Der einzige metaphysische Gehalt dieser Religion mache sich in der Ahnenverehrung und der Wahrsagerei bemerkbar.
2.3.2 Die ägyptische Religion Im Gegensatz zu den beiden bereits behandelten Religionen enthalte die ägyptische Religion trotz ihrer staatlich-sozialen Ausrichtung und ethischen Formgebundenheit spekulativ-mystische Elemente, die sich vor allem als Unsterblichkeits- und Jenseitsglaube äußern würden. Insofern sei sie zwar „als geographischer Begriff“ den ethisch-sozialen Religionen zugehörig, wird jedoch von Tillich in einem gesonderten Kapitel über die Mysterien wieder aufgegriffen, „insofern sich auf ihrem Boden die Mysterien sehr erheblich mitentwickelt ha-
Ebd. Ebd. A.a.O., S. 465.
2.3 Die politisch-sozialen Kulturreligionen
255
ben.“²¹¹ Kennzeichen der sozialen Ausrichtung der ägyptischen Religion sei die religiöse Verehrung des Staatsoberhauptes: Der Pharao Orsis werde wie ein Gott verehrt und fungiere gleichzeitig als Totenrichter. Es seien zwei Elemente im ägyptischen Glauben vereint: „die Staatsreligion in der Form der Göttlichkeit des Pharaos und de[r] Familienzusammenhang in Form des Totenkultes.“²¹² Das Individuum trete aus dem Sozialgefüge des Staates heraus und müsse sich als Einzelner vor dem Totenrichter verantworten, indem er vor das Gericht gestellt werde. „Die Idee, nach der gerichtet wird, ist die der Gerechtigkeit, die in eine Reihe von rituellen Dingen besteht, darüber hinaus aber die Tugenden der sittlichen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit enthält.“²¹³ Abgesehen vom Maßstab der sittlichen Gerechtigkeit herrsche in dieser Religion jedoch auch eine strenge Werkgerechtigkeit vor, indem nur diejenigen Eingang ins Paradies fänden, „die eine Fülle magischer Bestattungsceremonien durchgemacht haben, die im Grunde nur dem Reichen und Vornehmen möglich sind.“²¹⁴ Hier sei also ein Ausschlusskriterium wirksam, welches dem einfachen Menschen eine Einswerdung mit dem Göttlichen im paradiesischen Zustand verwehre. Tillich konstatiert, dass innerhalb der ägyptischen Religion … … das religiöse Gehaltserlebnis durchaus im Vordergrunde steht, daß es der Form nicht gelungen ist, es zurückzudrängen, ja daß es die scheinbar so feste Form des immanenten Daseins durchbricht und eine supranaturale biologische Form des jenseitigen Daseins schafft.²¹⁵
Dieses ekstatische Moment werde jedoch in die staatliche Struktur der Religion eingegliedert und erhalte dadurch „ethische Formung“, wodurch die Unbedingtheit der Form hier primär auf das Erlebnis des religiösen Gehaltes einwirke und ihm seine typische Gestalt und Prägung gebe. Die ägyptische Religion vereine insofern ethische und mystische Elemente, als in ihr eine „Doppelform“ vorherrsche: Die transcendent-biologische Einigung mit dem Gott wird einerseits erreicht vom Gehaltserlebnis her, durch mystisch-ekstatische Praktiken […], und andererseits durch das Unbedingtheitserlebnis der Form, das Ethische. Beides steht unausgeglichen nebeneinander.²¹⁶
A.a.O., S. 466. Ebd. Ebd. und a.a.O., S. 467. A.a.O., S. 467. Ebd. Ebd.
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2 Die geschichtsphilosophische Entfaltung des Wahrheitsbegriffs
Tillich verweist auf eine Entsprechung der Vereinigung von ethischen und mystischen Momenten im Katholizismus und Protestantismus, wo ebenfalls Gottesdienst und Ritus, als auch die „Ethik der guten Werke“²¹⁷ vereint seien. Gleichzeitig sieht er in der ägyptischen Religion das Streben und die Notwendigkeit einer Hinführung zum „idealen Typus […], in dem es nur noch eine Ekstatik durch die Form hindurch gibt“²¹⁸ und dadurch die Möglichkeit einer mystischen und damit unmittelbaren Vereinigung des Menschen mit Gott ausgeschlossen werde. Aufgrund des unausgeglichenen Nebeneinanders von formdurchbrechenden, ekstatisch-rituellen Erfahrungen und formbestimmten Momenten sei in der ägyptischen Religion jedoch der ideale Typus noch nicht erreicht.
2.3.3 Die semitische Religion Unter der semitischen Religion behandelt Tillich hauptsächlich die altisraelitischen Stammesverbände der Nomadenvölker²¹⁹, als auch diejenigen in den Städten sesshaften Semiten, die dem Glauben an zahlreiche Stadtgötter anhängen. Die Existenz Letzterer sei dabei „an die Stätte ihrer Herrschaft gebunden […] [, wobei] deren Macht mit den sieghaften Eroberungen ihrer Anbeter sich erweitert.“²²⁰ Alle ausgefochtenen Kriege und Eroberungen werden dabei als „Siegeszüge des Gottes und […] Stationen seiner Selbstoffenbarung“²²¹ verstanden. Tillich reflektiert in diesem Kontext zwar den Kontrast von Nomaden- und Agrarkultur unter den semitischen Völkern, lässt jedoch die daraus resultierende und sich erheblich differenzierende Beziehung zu einem Höheren unbeachtet. Während nämlich die Nomadenstämme an die Götter der Patriarchen glaubten – die Götter wurden nach denjenigen Personen benannt, denen sie zuerst offenbar wurden – und demnach polytheistisch orientiert waren, entwickelten die in den Städten lebenden Kanaaniter bereits monotheistische Bekenntnisse. Die Gottesverehrung galt hier der zentralen kanaanäischen Gottheit El, welche mit der Gottheit Baal in Konkurrenz stand. Der Vätergottglaube der Nomadenstämme kulminierte schließlich infolge deren Sesshaftigkeit und aufgrund ihres Stadtkontakts im
A.a.O., S. 468. Ebd. An dieser Stelle muss bemerkt werden, dass es sich bei der Darstellung der Nomadenvölker um Konstruktionen handelt. Die uns zugängliche Form des Semitentums begegnet uns nur über das biblische Zeugnis. A.a.O., S. 469. Ebd.
2.3 Die politisch-sozialen Kulturreligionen
257
Jahwe-Glauben. Was Tillich allerdings beachtet, ist die Verschmelzung der Wüstenstämme mit den Agrarkulturen durch gegenseitige Annäherung: Überall finden wir Wüstenstämme, die in die bäuerliche Kultur einbrechen und ihren Gott zur Herrschaft verhelfen wollen, dann aber durch die kulturelle Überlegenheit der Besiegten der agrarischen Religion angenähert werden.²²²
Weiterhin konstatiert er, dass in den stets sich im Sozialverband organisierenden Wüstenstämmen „das ethische Unbedingtheitserlebnis durch die biologische Gebundenheit an den Stamm höchste Schärfe gewinnt“²²³, das soziale Element also in der semitischen Religion weitaus höher ausgeprägt sei als z. B. in der ägyptischen Religion. Als „Wurzel des Prophetentums“²²⁴ bezeichnet Tillich das In-Konflikt-Treten des ethischen mit dem mystischen Moment in Form einer Differenzierung zwischen den nomadischen und den agrarischen Gottheiten, was ein Auseinanderdriften beider Momente zur Folge gehabt habe. Während die Gottheiten auf agrarischem Boden in Richtung von „Naturmythen“ weiterentwickelt worden wären, sei das ethische Moment bei den nomadischen Völkern weitaus ausgeprägter gewesen. Anhand des noch zu behandelnden Judentums lässt sich illustrieren, wie sich die semitische Religion zugunsten einer Verdrängung des biologisch-ekstatischen Moments als eines Reliktes der agrarischen Kultur in Richtung des Prophetentums weiterentwickelt hat.
2.3.4 Die persische Religion Die persische Religion sei durch einen strengen Dualismus gekennzeichnet, der sich auch im Gottesbild niederschlage: Neben dem Gott des Guten, dem des Lichts, glauben die Perser an einen bösen Gott, den Gott der Finsternis. Es treten hier also die beiden unbedingten Prinzipien des unbedingt „Wertvolle[n]“ und des unbedingt Verwerflichen in einen absoluten Gegensatz und führen folglich zu einer Spaltung des Unbedingtheitserlebnisses. Die Paradoxie des Doppelverhältnisses des Denkens zum Sein löst sich auf in eine Teilung der Sphären. Damit ist natürlich der Charakter der Unbedingtheit selbst bedroht, denn nur in einer Paradoxie kann sie sich halten.“²²⁵
Ebd. Ebd. Ebd. A.a.O., S. 470.
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2 Die geschichtsphilosophische Entfaltung des Wahrheitsbegriffs
Das Bewusstsein habe sich in der persischen Religion also von seinem primitiven Urzustand insofern gelöst, als die göttlichen Mächte auch als bedrohlich erlebt werden. In ihr trete zudem eine Loslösung vom Gottesbild ein, welches unmittelbar über das rein Biologische bzw. durch Naturerscheinungen vermittelt wird, indem nicht mehr der Naturgegenstand selbst als göttlich attribuiert, sondern ein hinter ihm stehendes Prinzip als göttliches Phänomen aufgefasst werde.²²⁶ Die Erfahrung der heilsamen wie destruktiven Wirkung der Natur werde also auf ein hinter dieser stehendes Prinzip übertragen und die Naturvorgänge selbst werden als symbolisch erlebt. Der Charakter der Unbedingtheit sei allerdings dadurch bedroht, dass die Einheit Gottes aufgrund der Erfahrung seiner ambivalenten Wirkungsweise zugunsten einer Spaltung Gottes in zwei Wesen aufgelöst werde. Beide Prinzipien, Gut und Böse oder Licht und Finsternis stehen in einem Konkurrenzverhältnis zueinander, was mit einem potentiellen Sieg des Demiurgen gegenüber Gott einhergeht. Als Folge werde die Unbedingtheit Gottes – die auch schon im Dualismus bedroht sei – eingebüßt: Ein Gott, der der Macht eines anderen Gottes unterlegen ist, könne allerdings nicht mehr als unbedingt gelten und wäre vielmehr bedingt, abhängig und letztlich unfrei. Die Erfahrung Gottes als des absoluten Paradoxes erfordert jedoch eine Integration der in sich widersprüchlichen Wirkungsweisen Gottes in dessen Einheit selbst, die sich dann in ihrer Erscheinung dem endlichen Bewusstsein gegenüber als antagonistische Wirkung Gottes äußern würde. Diese Integration der göttlichen Wirkung in eine göttliche Einheit wird im Christentum vollzogen, indem Gott selbst das Leid der Welt in seine transzendente Einheit aufnimmt. Insofern als die persische Religion diese Synthese von Form und Gehalt noch nicht vollzieht und stattdessen die Wirkung und Erfahrung des Unbedingten in zwei einander gegenüberstehende Wesen hypostasiert, stehe sie ihrer biologischen Urform dahingehend nahe, als bereits im Übergang vom primitiv-ekstatischen Bewusstsein zur autonomen Kulturreligion das Religiöse sowohl als grauenvoll und ungeheuerlich, als auch begehrenswert, heilig und majestätisch erlebt worden sei.²²⁷ Die Hypostasierung dieser ambivalenten Gotteserfahrungen in zwei widerstreitende Mächte erscheint vor diesem Hintergrund nur konsequent. Entsprechend der Zweiteilung der Sphären in eine gute und eine böse Macht liege der persischen Religion auch ein ausgeprägter eschatologischer Charakter zu-
Vgl. die im Zusammenhang mit dem primitiven Bewusstsein oben ausgeführten Thesen Hermann Siebecks (Kapitel 2.1.2 dieser Arbeit): Vgl. Siebeck, Lehrbuch der Religionsphilosophie, S. 63. Vgl. Otto, R., Das Heilige.
2.3 Die politisch-sozialen Kulturreligionen
259
grunde, der nicht von einem Ausgleich der Mächte in einem paradiesischen Zustand ausgehe, sondern an den Sieg des Lichtprinzips über die Finsternis glaube. „Das Unbedingtheitserlebnis der Wertform führt schließlich zu einer Vernichtung des Wertwidrigen“, was zu einer „Umgestaltung der Wirklichkeit überhaupt“ führe.²²⁸ Der Einfluss der persisch-manichäischen Religion auf die gesamte Religionsgeschichte wirke „bis in den Protestantismus hinein[…]“ und habe „über das Spätjudentum und das Neue Testament die Eschatologie endscheidend […]“ bestimmt.²²⁹ Das Verhältnis von Form und Gehalt werde hier nicht als ein paradoxes gedacht, sondern die Paradoxie werde zugunsten einer Verlagerung des positiven Gehaltes in die Lichtgestalt und des negativen Gehaltes in die Gestalt der Finsternis und einer Hypostasierung beider Prinzipien zu einer Realgestalt aufgelöst. Die beiden Seiten des religiösen Erlebens, die im Unbedingtheitsmoment enthalten sind, werden im Parsismus also gespalten und die gegensätzlichen Wirkmächte zu zwei unabhängigen Seinsmächten stilisiert. „So werden eine Reihe Naturdinge an sich als dem bösen, andere an sich als dem guten Prinzip zugehörig gedacht, was dann zu der Praxis der biologischen Religion führte.“²³⁰ Diese Spaltung habe zudem eine „doppelte Wertform“²³¹ zur Folge. Diesbezüglich sei der Parsismus supranaturalistisch. Tillich konstatiert jedoch, dass „die Wertalternative […] unterhalb der Paradoxie des religiösen Grunderlebens [stehe], nicht in ihr. Das reine Gehaltserlebnis durchbricht die mit dem Wert gegebene doppelte Wertform: die Religion der Gnade.“²³² An diesem Zitat lässt sich illustrieren, dass der Gehalt nach Tillich eine alles fundierende Mächtigkeit bedeutet, die den Gegensatz von Gut und Böse übersteigt und allein aus dem monokausal gedachten Unbedingten stammt, welches alle Wertform und auch die Negativität jeder Form aufs Absolute hin transzendiert. Die Paradoxie des religiösen Erlebens führe, im Gegensatz zum Glauben der persischen Religion, sowohl die guten, als auch bösen Mächte auf einen einzigen Grund zurück und präsupponiert dadurch, dass Gott selbst sowohl ein Grund- als auch Abgrundmoment enthalte, beide Mächte also einem einzigen Prinzip entspringen. In der Dresdner Dogmatik-Vorlesung wird der Parsismus unter das Heidentum gefasst, indem dadurch dessen sakramentale Grundhaltung fokussiert wird. Gleichsam stehe er ob seiner Betonung des Verheißungsmomentes, welches den Mysterien ermangele, als Mittel zur Selbstbekämpfung des Heidentums im Fokus von Tillichs Betrachtung. Für den Dualismus ist das „Heil […] wesentlich Erwar
EN, Bd. XII, S. 470. Ebd. A.a.O., S. 472. A.a.O., S. 471. Ebd.
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2 Die geschichtsphilosophische Entfaltung des Wahrheitsbegriffs
tung“, indem der „Sieg des Göttlichen in Aussicht genommen“ wird.²³³ Da der Sieg der Prinzipien sich folglich nicht in der Sphäre der Immanenz entscheidet, verfällt das Unbedingte keiner fremden Macht und seine Klarheit (Ungespaltenheit) bleibt unbedroht. Dem Tillichschen Ideal einer Transparenz des Gehaltes durch jede Formung könne der Parsismus dennoch nicht gerecht werden; „das formale Unbedingtheitserlebnis [sei] nicht vollkommen erreicht“²³⁴. Denn indem Gut und Böse als zwei göttliche Wesenheiten vorstellig werden, wird der Kampf zwischen göttlich und dämonisch in eine transzendente Ebene verlagert, wodurch dem Widergöttlichen eine den Menschen entlastende „Positivität“ zukomme, die ihn in seiner Richtung auf das Unbedingte letztlich nicht tangiere.²³⁵ Von der Idealreligion sei jedoch gefordert, dass das Dämonische durch das Verhältnis des Menschen zu Gott besiegt wird, nicht durch einen vom Menschen unabhängigen, innergöttlichen Prozess. Folglich könne es erst dort zum Durchbruch, zum eigentlichen Kairos kommen, „wo das ethische Unbedingtheitserlebnis ganz in die Hand des einen Gottes und alle Negativität ganz in die menschliche Freiheit gelegt ist“²³⁶, also dem Menschen die Verantwortung zukommt, das Böse durch Hinwendung zum Unbedingten und damit in freier Entscheidung zu überwinden. Dies wiederum geschehe durch Überwindung der Trennung von Gott und Mensch in Form einer Hinwendung zu Gott. Dieses ideale Verhältnis wird von Tillich auch in der Dresdner Dogmatik-Vorlesung als Ziel der Religionsgeschichte markiert: Die Benennung des Dämonischen als dämonisch und die Erkenntnis des Unbedingten als dem Wesenswidrigen absolut widersprechend deutet er als einen „Schritt auf dem Wege zur Entdämonisierung“²³⁷.
2.3.5 Die Religionen der ethischen Individualität: das Judentum, der Mohammedanismus, der europäische Rationalismus Das dem semitischen Boden entstammende Judentum wird von Tillich als ethische Religion beschrieben, die sich gänzlich von ihrer „biologischen Beziehung“ losgelöst habe: Diese sei vollkommen „[…] durchschnitten zu Gunsten der ethischen.“²³⁸ Diese Entwicklung sei hauptsächlich durch die „israelitischen Pro-
EN, Bd. XIV S. 285. EN, Bd. XII S. 471. Ebd. Ebd. EN, Bd. XIV, S. 280. EN, Bd. XII, S. 471.
2.3 Die politisch-sozialen Kulturreligionen
261
pheten“ hervorgerufen worden.²³⁹ Die Trennung des „Sozial-Ethische[n] von seiner biologischen Grundlage“²⁴⁰ mache sich dadurch bemerkbar, dass hier nicht mehr bestimmte Naturphänomene als Götter verehrt werden oder bestimmte natürliche Dinge als gut oder böse gelten, sondern Jahwe als übergeordneter Gott das Volk Israel richte, wodurch er ausschließlich die Beziehung zu seinem Volk bewahren könne. Der Erhalt oder die Verdammung des Volkes durch Jahwe sei gleichsam an dessen Verdienst gebunden, die ethischen Forderungen Jahwes zu erfüllen. „In Israel aber ist schon während der Zeit hoher Blüte der Gedanke zum Durchbruch gekommen, daß der Gott um den Preis der Erhaltung seines ethischen Charakters sogar sein Volk opfert.“²⁴¹ Auch der Bundesschluss zwischen Gott und seinem Volk signalisiere die vollkommene Ausprägung des ethischen Moments. „Die Unbedingtheit der Form ist es, die allein entscheidet über das Verhältnis von Gott und Mensch.“²⁴² Sie meint in diesem Zusammenhang die unbedingte Gültigkeit von praktischen Werten: Das Handeln der Menschen hat sich an diesem unbedingt-ethischen Prinzip zu orientieren, um zum Erwerb der göttlichen Gunst beizutragen. Gleichzeitig vermerkt Tillich ein Zurücktreten der sich auf dem Boden der Agrarkultur etabliert habenden Religion und mit ihr des Glaubens an vielfältige Naturmythen, für die das ekstatisch-ästhetische und biologische Moment prägend sei, zugunsten des dem Nomadentum entstammenden ethischen Prinzips, das vom Judentum rezipiert worden sei. Damit einhergehend habe sich ein spezifischer, zentral organisierter Kultus, ein „monarchischer Monotheismus“²⁴³, entwickelt. Trotzdem zeuge auch das Judentum noch von Relikten der sich über eine biologische Beziehung des Menschen zur Natur gestaltendenden Religiosität; der Opferkult sei bespielhaft dafür. Weiterhin bleibe auch der Ritualismus bestehen, auch wenn er eine andere Bedeutung als in der primitiven Kulturreligion erhalte und folglich eine sittliche Umwertung erfahre. Er spiegele sich im Gegensatz von heilig und unrein wider. Allerdings sei „[d]ie ursprüngliche Einheit von unrein und heilig […] überbaut durch Wertqualitäten, nach denen heilig das Sittliche und unheilig das Unsittliche“ ist.²⁴⁴ Dadurch wird das Kultische entschärft und vom Sittlichen überbaut; insofern stehen auch nicht mehr unmittelbar die im Kultus vermittelten „reale[n] Kräfte“ im Vordergrund, „sondern die Heiligkeit besteht darin, daß man Gottes Willen tut.“ Folglich bestehe die im Kultus vermittelte religiöse Qualität in der „Teilnahme als solcher“
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. A.a.O., S. 473. Ebd.
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und nicht darin, dass wirkliche Kräfte von religiöser Qualität heraufbeschworen werden.²⁴⁵ Diese Beschränkung des Kultus auf das Handeln nach Gottes Willen durch die Einhaltung des obersten und heiligsten Prinzips, dem Sittlichen, steht der Idee der Auserwählung eines einzelnen Volkes entgegen, indem der Vollzug des Sittlichen einen „ethischen Universalismus“ ²⁴⁶ bedeutet. Dieser müsste – sofern er konsequent gedacht wird – eine Öffnung für alle Völker implizieren, die durch die Erfüllung der Gebote Jahwes an dessen Gunst und Gnade partizipieren können. Folglich kann die dem Judentum unterstellte Exklusivität durch das für prinzipiell alle Völker zugängliche sittliche Handeln relativiert werden. Als weiteres Relikt einer sich über das Natürliche vermittelnde Beziehung zwischen Gott und Mensch führt Tillich die Eschatologie auf: So sei „die Form, in der sich die biologische Beziehung des ethischen Princips im Judentum ausdrückt, […] in späterer Zeit die Eschatologie geworden, die von den Persern übernommen wurde.“²⁴⁷ Der Gedanke des Endgerichts und der künftigen Vereinigung mit Gott in einem paradiesischen Zustand enthält ekstatische Züge – insofern als in diesem Gedanken die Loslösung vom und die Übersteigung des Endlichen in eine unendliche Sphäre enthalten ist – und steht damit der biologischen Ursprungsform, in welcher eine ungebrochene Einheit von Gott und Mensch bestand, nahe. Dieser Gedanke wird nun mit dem ethischen Moment, dem Einhalten der sittlichen Forderungen als Garant eines in der Zukunft liegenden, paradiesischen Zustandes verknüpft: Wer nach dem jüdischen Gesetz lebt, tut das Richtige und wird in Zukunft dafür belohnt werden. Wenn Tillich davon spricht, dass „der neutestamentliche Kampf gegen das Gesetz […] der Kampf um die Loslösung des ethisch-formalen Unbedingtheitserlebens aus der biologischen Verknüpfung“²⁴⁸ ist, so ist damit schließlich intendiert, dass anstelle des Lohngedankens der individuelle Glaube tritt, also anstelle einer Werkgerechtigkeit und dem Glauben an einen durch das Einhalten bestimmter sittlicher Forderungen gewährleisteten Lohn (dem Eintritt in die künftige Herrlichkeit) allein der individuelle Glaube als rechtfertigendes Moment erachtet wird. Vom dogmatischen Standpunkt der vollkommenen Offenbarung aus wird das Judentum ambivalent betrachtet: „[…] einerseits als unmittelbare Bedingung ihrer selbst [der vollkommenen Offenbarung], andererseits als ihr entscheidender Widerspruch.“²⁴⁹ Einerseits führe das Judentum zu einer Haltung, in der der
Ebd. Ebd. A.a.O., S. 474. Ebd. Vgl. EN, XIV, S. 295.
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Mensch an der prinzipiellen Unerfüllbarkeit des Gesetzes verzweifelt. Andererseits sei damit jedoch „die Gnade in Aussicht genommen […]“²⁵⁰, die im Moment des Durchbruchs zur geschichtlichen Erfüllung gelangt. Dennoch erweise sich das Judentum nur als Hinweis auf die Erfüllung, nicht aber als Erfüllung selbst. Das Wesen des Judentums besteht für Tillich in seiner Gesetzlichkeit, wobei das Moment der unbedingten Forderung (Unerfüllbarkeit des Gesetzes) von ihm als die bedeutendste Bedingung und Vorbereitung der vollkommenen Offenbarung und als größte Weichenstellung zur Erfüllung der Gnade im Kairos erachtet wird.²⁵¹ Infolge der speziellen israelischen Geschichte und der Exilerfahrung Israels in Babylon habe sich eine universale Gerechtigkeitsvorstellung etabliert. Diese sei zum Garanten und exklusiven Kriterium der Aufrechterhaltung der Gottesbeziehung avanciert. Dies habe gleichzeitig zu einer Relativierung der Funktion von Kultus und Sakrament geführt, da eine Einheit mit Gott nun nicht mehr durch die durch das Sakramentalen übertragenen göttlichen Kräfte erwirkt werden müsse, sondern die „gehorsame[…] Erfüllung“ des Ritus diese Funktion übernimmt. Sie wird zum Garant der Gottesbeziehung. „Die Funktion als solche ist [dabei] wichtig, der Vollzug des Ritus, nicht das, um was es sich dabei handelt. Es entsteht ein Gehorsam der Unterwerfung als solcher.“²⁵² So avanciere die Gerechtigkeit zum höchsten Kriterium und stehe noch über dem Kultus. Indem sich Gott selbst von seinem Volk relativ befreit, indem er es bei Bundesbruch verwerfen kann, erhebt er sich nicht nur über die bedingten Völkergötter, sondern auch über das Volk selbst.²⁵³ Seine Souveränität macht ihn zu einem Gott, zu welchem sich eine Beziehung etablieren kann, dessen Gunst durch Einhaltung von Geboten und damit Erfüllung des Bundes, erworben werden kann. Tillich deutet auch in der Dogmatik-Vorlesung den Sieg der Nomaden-Religion über die Religion der Agrarvölker als Ergebnis einer Durchsetzung der „sozialethischen Kraft gegenüber einer naturalistisch-ekstatischen Bauernreligion, wie sie in Palästina herrschte“²⁵⁴. Die Loslösung vom Kult aufgrund der Exilerfahrung wird von Tillich als Sieg des „Principielle[n]“ gegenüber dem „Tatsächlich[en]“ beschrieben, insofern als das Prinzip der Gerechtigkeit Rechtsnormen und Gesetze hervorbringe, die unbedingte Befolgung beanspruchen.²⁵⁵ Das Prinzipielle kann dem Menschen auch unabhängig von heiligen Orten (wie zum Beispiel dem Tempel) begegnen, wenn nur die unbedingten Gesetze eingehalten werden. Die Befolgung der Ge-
Ebd. Ebd. A.a.O., S. 297. A.a.O., S. 296. Ebd. Ebd.
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setze sei jedoch mit Schwierigkeiten verbunden, da das Gesetz „nicht eindeutig“ sei und der Auslegung bedürfe. Dies wiederum berge die Gefahr von Willkür. Eng mit der Gesetzlichkeit verbunden ist der Lohngedanke: „Die Erfüllung der Forderung bringt einen Rechtsanspruch an Gott, im Diesseits und Jenseits.“²⁵⁶ Die vollkommene Offenbarung steht der jüdischen Gesetzesreligion folglich aus weiteren Gründen ambivalent gegenüber: Sie wird einerseits von ihr bejaht, indem in ihr sowohl die Vielgötterei als auch der primitive Sakramentalismus sowie die „magischen und ekstatischen Kulte überwunden“²⁵⁷ sind. Auch könne die Verpflichtung dem Gesetz gegenüber Standesschraken überwinden, da prinzipiell jeder durch Einhalten der Gebote die unbedingte Forderung erfüllen kann. In allem wirke die jüdische Gesetzesreligion antidämonisch und könne somit als wichtigste Funktion der vorbereitenden Offenbarung interpretiert werden. Die Unbedingt-Setzung der Forderung beanspruche jedoch andererseits einen Exklusivismus, der mit der „Bevorzugung des Jüdischen“ einhergehe und von Tillich als „Hybris, die jede andere übersteigt“, bewertet wird.²⁵⁸ Aufgrund der Gesetzlichkeit der jüdischen Religion, deren Erfüllung zur unbedingten Pflicht avanciere, seien alle der vollkommenen Offenbarung entsprechenden Elemente „einer bedingten Situation zugeordnet“²⁵⁹, weshalb das Judentum nicht als die Erfüllung gelten könne. Das in der jüdischen Religion enthalte Element mit dem größten Hinweischarakter auf die vollkommene Offenbarung, welches von dieser aufgenommen und weitergeführt werde, sei das der Verheißung: „Sie ist in der Sphäre des Gesetzlichen das, was über das Gesetzliche hinausweist. Sie enthält den Gedanken, daß dem Unbedingten gegenüber jeder Rechtsanspruch sinnlos ist, daß die göttliche Erwählung das erste und das menschliche Handeln das zweite ist und daß dieses zweite das erste nicht aufheben kann.“²⁶⁰ Insofern als diese Verheißung von der vollkommenen Offenbarung als Gnade aufgenommen werde, löse das Christentum sich von der konkreten Gesetzlichkeit. Die unbedingte Forderung wird dadurch als unerfüllbar überwunden. Der Mensch ist nicht länger gerecht aufgrund seiner Werke, sondern aufgrund der ihm von Gott geschenkten freien Gnade. „In der vollkommenen Offenbarung ist das Gesetz aufgehoben, weil es zur Erfüllung gebracht, nämlich in seiner bedingungslosen Unbedingtheit erfaßt ist.“²⁶¹ Gleichsam sei in der vollkommenen Offenbarung das vereint, was im Judentum noch in zwei Pole auseinanderfalle: Forderung und Verheißung sind in
A.a.O., S. 297. A.a.O., S. 298. Ebd. A.a.O., S. 299. Ebd. Ebd.
2.3 Die politisch-sozialen Kulturreligionen
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die Selbstnegation des Offenbarungsmittlers in eine Einheit gefasst: Auf dem Boden der vollkommenen Offenbarung wird die prinzipielle Unerfüllbarkeit der Forderung im Bedingten durch das Symbol der Selbstnegation (den Kreuzestod) Christi realisiert. Der Mohammedanismus wird von Tillich neben dem Judentum als weitere Gesetzesreligion behandelt, die monotheistisch geprägt ist. Das ethische Formprinzip komme hier wesentlich durch Forderungen Mohammeds zum Ausdruck, die „nicht nur ethische sind, sondern auch kultisch-soziale. Die Anerkennung des Monotheismus in seiner abstraktesten Form, die Bejahung des Propheten Mohammed, Gebete und Almosen seien die Grundlage der mohammedanischen Ethik, zu der unter Umständen noch der heilige Krieg kommt.“²⁶² Im Monotheismus sind die vielfältigen Eigenschaften des Absoluten auf einen Gott zentriert, was bedeutet, dass hier nicht – wie im Polytheismus – „einzelne Objekte oder Principien“²⁶³ verabsolutiert werden. Im Gegensatz zum Judentum wird im Mohammedanismus dem arabischen Volk kein Vorrang eingeräumt, hierin war Mohammed „über die national-biologische Bindung, die im jüdischen Erwählungsgedanken liegt, hinaus.“²⁶⁴ Während Gott im Mohammedanismus als „Träger des unbedingten sittlichen Willens“²⁶⁵ fungiert, sei dieser jedoch inhaltlich nicht klar umrissen. Zudem herrsche im Mohammedanismus absolute Werkgerechtigkeit in Form des Lohngedankens, was bedeutet, dass sich die sittlichen Forderungen auf einen „außersittlichen Zweck“²⁶⁶ beziehen. Tillich bezeichnet die Religion auch als „Religion der Pädagogik“ und bringt damit zum Ausdruck, dass der Mohammedanismus nicht ohne Einfluss auf „niedriger stehende Völker“²⁶⁷ geblieben ist. Im Gegensatz zur jüdischen Gesetzesreligion wird der Mohammedanismus von Tillich als Religion des Rechts verstanden, was bedeutet, dass die von Mohammed erlassenen und damit geoffenbarten Rechtsnormen unbedingte Gültigkeit und Realisation durch den einzelnen Gläubigen beanspruchen. Zu den sittlichen Forderungen, die der Einzelne erfüllen muss, gehört u. a. auch die „fünfmalige Gebetspflicht“²⁶⁸. Weiterhin sei der Mohammedanismus gekennzeichnet durch eine Entbehrung der Priester, einer unbedingten Gültigkeit der Lehre und deren „Aufgabe, ein bis ins Feinste durchgeführtes System der
EN, Bd. XII, S. 475. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. A.a.O., S. 476. Ebd.
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Rechtsnormen zu ermitteln und durchzuführen.“²⁶⁹ Im Gegensatz zum Recht, welches stets kultisch und national gebunden ist, ist die Sittlichkeit universal gültig. Die Rechtsnormen werden als geoffenbart verstanden, werden jedoch von den Menschen weiterentwickelt, sodass sich aus dieser irdischen Einkleidung bestimmter vormals geoffenbarter Rechtsordnungen das wandelbare „Schriftgelehrtenrecht“ entwickelt.²⁷⁰ Tillich konstatiert weiterhin, dass sich gegen den Mohammedanismus von verschiedenen Seiten Kritik erhebe: „Da ist zunächst die an den Heiligenkult sich anschließende polytheistische Tendenz, dann die große Mystik und schließlich in der schiitischen Sekte sogar Inkarnationsideen, die dann zu völlig anderen Typen hinüberführen […].“²⁷¹
2.3.6 Der Durchbruch der Gnadenreligion im Urchristentum Der Durchbruch der Gnadenreligion erfolgt nach Tillich im Urchristentum. Als initiierendes Moment erachtet er den Hiat zwischen der Tendenz, das Unbedingtheitserlebnis materiell zu Formalisieren, sich von Gott also primär durch Einhaltung ethischer Pflichten und Zeremonialgesetze Sündenvergebung und Rechtfertigung zu erhoffen, und der gleichzeitigen „Anerkennung der transcendenten Eschatologie mit [dem] Vergeltungsgedanken“²⁷². Die strenge Werkgerechtigkeit sieht sich also vor der unlösbaren Aporie, trotz der Befolgung von Gesetzen, Pflichten und Geboten, dennoch dem drohenden Gericht Gottes ausgesetzt zu sein. Dort, wo jene Unvereinbarkeit bzw. maximale Spannung zur Unerträglichkeit gesteigert ist, folgt nach Tillich als logische Konsequenz das Bedürfnis nach einem Ausgleich und einer Überwindung der im Gottesbegriff gründenden Gegensätze. Diese Sehnsucht nach einem perennierenden Halt im Unbedingten, der jede existentielle Vergegenständlichung einer wahrhaften GottMensch-Beziehung transzendiert, begegnet dem Menschen als „Durchbruch“ und wird als göttliche Gnade erlebt. Diese durchbricht folglich den Gegensatz des Formal-Ethischen und Mystisch-Transzendenten. Sie wird vom Bewusstsein als paradox wahrgenommen, da sie die existentiellen Polaritäten Form und Gehalt unterwandert, die konkrete Situation des Menschen aufgreift und gleichzeitig über sie hinausführt. Inhaltlich begegnet das Moment der den Menschen rechtfertigenden Gnade im Christus-Bild (in Kreuz und Auferstehung), in welchem
Ebd. Ebd. A.a.O., S. 477. A.a.O., S. 479.
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jenes Paradox als Abbild der menschlich-existentiellen Situation gespiegelt wird und der Spalt zwischen dem Versuch, Gottes Gnade zu verdienen und der gleichzeitigen Angst vor Vergeltung gebrochen wird. Christus repräsentiert das absolute „Ja“ zum (auch sündigen) Menschen und gilt als Signum der göttlichen Gnadenwirkung, die sich in ihm als Geschenk für den Menschen erweist. Durch sie erscheint das Sittengesetz als überholt; allein der Glaube an Christus wird hier zum Kriterium für die Rechtfertigung und Erlösung des Menschen erhoben. Gleichzeitig fließen kultisch-rituelle und mystische Elemente in die Christusverehrung mit ein, die sich z. B. im Auferstehungsglauben widerspiegeln. Tillich sieht im Urchristentum die Voraussetzung für den Durchbruch der Gnadenreligion, weil hier „eine Spannung zur Unerträglichkeit gesteigert ist“²⁷³ und daher eine Überwindung erfolgen muss. Die Antithese, die im Urchristentum vorherrscht, ist „auf der einen Seite die bis zur höchsten Vollendung gebrachte Unbedingtheit des formal Ethischen, andererseits der Glaube an das unmittelbare Hereinbrechen des jenseitigen Reiches mit Gerichtsdrohung und Gnadenverheißung, also das religiöse Inhaltserlebnis.“²⁷⁴ Die Erfahrbarkeit des Absoluten drückt sich im Urchristentum in der eschatologischen Erwartung eines zukünftigen Reich Gottes aus. In diesem vom Parsismus und der ägyptischen Religion übernommenen Jenseitsglauben besteht sein formzersprengendes, ekstatisches Moment. Die Worte Jesu stehen dazu zunächst im Kontrast, denn dort „ist es immer nur das ethisch-Gültige, was wirksam ist“²⁷⁵. Die Spannung zwischen ethischem Unbedingtheitserlebnis und Ekstatik wird im Urchristentum schließlich in der Beziehung zu Christus aufgelöst. Durch den Tod Christi, der jede Möglichkeit, durch bedingte Praktiken oder Gesetze Erlösung zu erstreben, negiert, wird jede Form von Werkgerechtigkeit durchbrochen. Der Jenseitsglaube inklusive seiner eschatologischen Ausrichtung wird aufgelöst, indem die Erfüllung durch Partizipation an Christus bereits im Diesseits in Aussicht gestellt ist. Bei Paulus werden das ethische und ekstatische Moment zu einer Synthese verbunden, indem bei ihm nicht die Werkgerechtigkeit und die Erfüllung von ethischen Forderungen und Gesetzestreue für das individuelle Heil im Vordergrund stehen, er aber dennoch das Gesetz für gut erklärt. Er weist darauf hin, „daß die Gesetzesreligion in sich unmöglich sei, weil sie unerfüllbar sei, andererseits aber das Gesetz doch gut und seinem eigentlichen Sinn nach erfüllbar sei. Dieser
A.a.O., S. 480. Ebd. Ebd. Gegebenenfalls hat Tillich hier die Bergpredigt im Sinn, in der das sittlich-ethische Gesetz von Jesus bis zur Unerfüllbarkeit gesteigert wird.
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eigentliche Sinn ist die Liebe.“²⁷⁶ Diese fungiert als ekstatisch-inhaltliches Moment als Mittel der Synthese, indem sie als Gnade wirkt, als „das inhaltliche [Unbedingtheitserlebnis]“²⁷⁷, welches die Sittlichkeit bzw. Unsittlichkeit des Menschen nicht von dessen Taten abhängig macht, sondern davon, ob er „in Christus ist“²⁷⁸ oder nicht. Wer in Christus ist, hat gleichzeitig die Liebe. Nach Tillich ist durch Paulus gleichsam ein mystisches Moment in den Glauben eingeführt, er spricht von der „Christusmystik des Paulus, die in Analogie steht mit der Gott-Einswerdung der hellenistischen Mysterien“, und bezeichnet die paulinische Geistlehre als „paulinische Formung der religiösen Ekstatik“.²⁷⁹ Der Durchbruch der Gnadenreligion macht sich also im Neuen Testament als Durchbruch der Synthese von Ethik und Mystik bemerkbar, wobei das „inhaltliche [Unbedingtheitserlebnis]“²⁸⁰ bzw. die Gnade sich dem formalen Unbedingtheitserlebnis gegenüber als prioritär erweist, obwohl beide in einem Korrelationsverhältnis zueinander stehen. Das formale Unbedingtheitserlebnis, welches sich in Form von Ritus, Kult, Gesetz, ethische Pflicht oder als gültig erachten Theoremen manifestiert, bleibt ohne Verbindung zum inhaltlichen Unbedingtheitserlebnis (und also der Gnade) leere Form. Das inhaltliche Unbedingtheitserlebnis bezeichnet also die durch Gott wirkende Gnade, die den Menschen, der von sich aus durch kein Gesetz gerecht werden kann, als Sünder rechtfertigt. Tillich verweist auf zwei in der Gnade enthaltenen Momente: „die Negierung der Gültigkeit der Form für das religiöse Erlebnis und die Herstellung eines neuen Erlebnisses ekstatischer Art. Das erste ist ausgedrückt als Vergebung der Sünden, das zweite als Mitteilung des Geistes. Beides [ist] angeschaut als Momente in der Heilsgeschichte, Karfreitag einerseits, Pfingsten andererseits […].“²⁸¹ Indem Christus am Karfreitag den Sühnetod für die Menschheit stirbt, negiert er damit die Möglichkeit, durch endliches Tun unendliche Gerechtigkeit zu erlangen. Gleichzeitig ist das intellektuelle Begreifen und Erkennen dieser Grundlage nur durch ein Übersteigen des Endlichen in ekstatischer Erhöhung des Bewusstseins durch den Heiligen Geist erfahrbar, durch welchen der Glaube an Christus vermittelt wird. Tillich konstatiert nun, dass der Zusammenhang von Karfreitag und Pfingsten
Ebd. Tillich wird wohl an die Stelle in Römer 7, 12 gedacht haben, wenn er sagt, dass nach Paulus das Gesetz „gut“ sei. Dort heißt es: „So ist also das Gesetz heilig, und das Gebot ist heilig, gerecht und gut.“ A.a.O., S. 481. A.a.O., S. 480. Vgl. Römer 10,4: „Denn Christus ist des Gesetzes Ende; wer an den glaubt, der ist gerecht.“ A.a.O., S. 480. A.a.O., S. 481. Ebd.
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darin bestehe, dass das ekstatisch religiöse Erlebnis des Mediums bedürfe. Die mit Pfingsten in Aussicht gestellte Geistgemeinschaft zwischen Gott und Mensch erfolge nicht unmittelbar. Der Geist ist das Medium, welches die Beziehung zu Gott vermittelt. Das Gotteserlebnis bzw. Gehaltserlebnis könne nicht, wie noch in den primitiv-biologischen Religionen, unmittelbar erfolgen. Das Biologische sei zunächst durch die ethische Unbedingtheit gebrochen. In den Religionen der Gnade ist ein Bruch erfolgt. Ein unmittelbares Hervorwachsen des Ekstatischen aus dem Biologischen gibt es nicht. Der Weg geht über die ethische Formung, über das Unbedingtheitsbewußtsein der Form. Das ist der Sinn des Kreuzes im Christentum, daß eben keine unmittelbare Bejahung des Biologischen möglich ist, sondern daß das Biologische erst gebrochen werden muß durch die ethische Unbedingtheit.²⁸²
Sie stellt sich als Medium zwischen Mensch und Gott, indem eine direkte Gotteserkenntnis negiert wird. Aber auch sie erweist sich in ihrer Gesetzeshaftigkeit als unerfüllbar. Folglich wird in Christus sowohl eine gesetzeshafte Ethik als auch eine Mystik, die eine direkte Einheit mit Gott erstrebt, negiert. Das Kreuz markiert den Gang der neutestamentlichen Frömmigkeit durch das Ethische hindurch; Jesu Leben und Tod illustrieren, dass das Unbedingtheitserlebnis im Sozial-Ethischen fundiert ist und dieses dennoch transzendiert, indem es als unerfüllbar enthüllt wird. Gleichzeitig ist der Mensch in Christus gerechtfertigt und von jeglicher Pflicht befreit, von der die Erlösung abhängen soll. Ein ekstatisches Moment ist durch die Auferstehung eingeführt, welches Teilhabe am ewigen Leben ermöglicht, jedoch nicht in direkter Form. Es findet dadurch keine Ekstase im Sinne einer Einswerdung des individuellen Bewusstseins mit dem Absoluten statt, sondern indem Christus von den Toten auferstanden ist, ereignet sich in ihm eine Vereinigung mit Gott, die in Vorwegnahme eine Beziehung Gottes mit allen Menschen bedeutet. Insofern erfolgt die Gottesbeziehung nicht mittels einer direkten Ekstase im Sinne einer Einswerdung mit dem Absoluten, sondern der Mensch bedarf des Mediums, Christus als des Mittlers, um mit Gott in Beziehung zu treten. Wer in Christus ist, ist damit gleichzeitig auch in Gott. Ausgeschlossen wird im Neuen Testament also sowohl die reine Gesetzesreligion im Sinne einer Werkgerechtigkeit als auch die „Schwärmerei, die aus der Überwindung der Gesetzesreligion des Recht nehmen will, an dem Weg über das Kreuz vorbeizugehen.“²⁸³ Das, was vom Neuen Testament propagiert wird, ist ganz im Sinne Tillichs, indem jedes ekstatische Erlebnis durch die Form gehen muss, es folglich
Ebd. und A.a.O., S. 482. Ebd.
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keine Ekstase ohne Form gibt und gleichzeitig die Form (in diesem Fall Jesus Christus) den reinen Gehalt vollkommen zum Ausdruck bringt. Das Spannungsverhältnis von Ethik und Mystik ist laut Tillich nur im Durchbruch²⁸⁴ – also in Leben, Tod und Auferstehung Jesu – im Sinne einer Synthese aufgehoben. In der Aufnahme dieses Ereignisses kommt es hingegen zum Überwiegen des einen zuungunsten des anderen Moments. Tillich beschreibt, wie die Aufnahme dieses Durchbruchs sich in der Kirchengeschichte dargestellt und wie die Gnadenreligion sich fortentwickelt hat. Eine große Bedeutung nimmt bei ihm diesbezüglich die „neue Sakramentenmystik mit paulinischen Anklängen“ ein, die einen neuen „Kultus und Ritualismus“ hervorgerufen habe.²⁸⁵ Die sich auf dem Boden der ethischen Religion etabliert habende Kreuzesmythologie transzendiere ihre ethischen Fundamente auf das durch sie vermittelte Gehaltserlebnis hin, der Entäußerung und Auferstehung Jesu. Es werden also mystische Momente in die ethische Religion integriert, sodass letztlich der „Geistgedanke in den Vordergrund“²⁸⁶ trete, was Tillich vor allem im Johannesevangelium verwirklicht sieht. Das Schwanken zwischen den beiden Polen der unbedingten Form und des unbedingten Gehalts ist für Tillich das größte Problem der Religionsgeschichte, welches weder auf judaistischem Wege durch eine Verpflichtung auf das Zeremonialgesetz und dessen unbedingter Gültigkeit, „noch libertinistisch als Inbegriff des Vorformalen, Gehaltlichen“²⁸⁷ gelöst werden könne. Auch der Weg über die „absolute Mystik“, die aus jener Aporie befreien soll, wird von Tillich abgelehnt. Im Moment des Durchbruchs wird die im Judentum als Vorbereitung der vollkommenen Offenbarung angelegte ethische Gesetzlichkeit überwunden, indem nun der „Geistgedanke“ zum eigentlichen Glaubenszentrum avanciere, wodurch die Frage nach der Partizipation am Christusereignis, am vollkommenen Durchbruch, gegeben sei. In der Periode nach dem Durchbruch, die Tillich in der Dresdner Dogmatik-Vorlesung explizit als „Aufnahme“²⁸⁸ charakterisiert, tritt das Ungleichgewicht von mystisch-ekstatischem Zugang zum Unbedingten und ethischer Gesetzlichkeit wieder in Kraft, weshalb dem Sendungsbewusstsein der Kirche gleichsam die Aufgabe zukomme, das Spannungsverhältnis auszugleichen und das inhaltliche Gehaltserlebnis am Kreuz zu explizieren. Indem – wie das obige Zitat belegt – laut Tillich das Bio-
Unter „Durchbruch“ versteht Tillich die Erscheinung Christi in der Geschichte, womit Leben, Tod und Auferstehung Jesu Christi gemeint sind. Diesen Durchbruch fasst er auch als Kairos. Er stellt die Mitte der Geschichte dar. EN, Bd. XII, S. 483. A.a.O., S. 482. Ebd. EN, Bd. XIV, S. 276.
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logische erst durch die ethische Unbedingtheit gebrochen werden müsse und dieser „Bruch“ in der Aufnahmeperiode wiederum zurücktrete, sind die religiösen Ausprägungen in der Folgezeit durch einen je divergierenden Zugang zum Unbedingten charakterisiert. Im Zentrum steht nicht mehr das Problem der Werkgerechtigkeit (also die ethisch-gesetzliche Unbedingtheit), sondern die Frage, wie die Vereinigung des Menschen mit dem Unbedingten im Sinne einer Partizipation am Christusereignis gedacht werden kann und wie sich folglich die individuelle Erlösung des Einzelnen gestaltet. Tillich bezeichnet diese neue Problematik als ein Spannungsverhältnis zwischen Eschatologie und „Gegenwartsmystik“, wobei er ein Zurücktreten ersterer zugunsten letzterer beobachtet. Die Todesproblematik, für die die Eschatologie eine befriedigende Lösung gefunden habe, indem „die Unlösbarkeit des ethischen Problems […] zur Hypostasierung dieses Problems in der Eschatologie“²⁸⁹ führe, stehe nun in der „neuen Gegenwartsmystik“ nicht mehr im Vordergrund, sondern „mit dem Zurücktreten des Ethischen […] konzentriere sich die Ekstatik auf das Gegenwärtige. Es treten die immanent mystischen Formen auf, die sich schon im Johannesevangelium ankündigen, […] wenn das ewige Leben als die gegenwärtige Gotteserkenntnis aufgefaßt wird.“²⁹⁰ Die im Durchbruch gegebene große Synthese, die eine „notwendige Entspannung“ bedeute, in welcher der mystische und ethische Pol in einem relativen Gleichgewicht stünden, werde immer weiter und neu entwickelt, was nach Tillich dazu führt, dass „soziale und mystisch-biologische Religionen […] unverbunden von neuem entstehen. Der Katholizismus und der Mahayana-Buddhismus werden von Tillich als zwei Religionsformen aufgeführt, die der Entspannung der großen Synthese entsprechen.²⁹¹ In ihnen sei die Spannung der Vorbereitungsperiode prinzipiell aufgehoben und damit der Durchbruch zur vollsten Ausprägung gelangt. Infolge dieser „Entspannung“ komme es in der Aufnahmeperiode zu „immer neue[n] Durchbrüche[n]“²⁹², die sich stets in dem ethisch-mystischen Spannungsverhältnis bewegen würden, durch welches auch schon die Vorbereitungsperiode gekennzeichnet war. Das bedeutet, dass das ethische und das mythische Moment in der Aufnahmeperiode, also im Zeitalter der Kirche, wieder in eine Spannung treten und in den jeweiligen nachfolgenden Religionen eine je unterschiedliche Akzentuierung erfahren. Die wichtigsten analogen Durchbrüche sind laut Tillich im „[…] Augustinismus, […] Urprotestantismus, […] Pietismus und […] [der] Frömmigkeit der Romantik“²⁹³ repräsentiert, die es im Folgenden dar
EN, Bd. XII, S. 483. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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zulegen gilt. Sie alle beziehen sich auf den originalen im Christusereignis gegebenen Durchbruch.
2.3.7 Die Aufnahme des Durchbruchs im Augustinismus und im Urprotestantismus Der Augustinismus wird von Tillich als Gnadenreligion und damit als ein eigener Religionstypus verstanden, auch wenn er in ihm ein Überwiegen des mystischen Moments nachzuweisen sucht.²⁹⁴ Tillich konstatiert, dass bei Augustin weniger das Problem der Werk- und Gesetzesgerechtigkeit im Vordergrund stehe, sondern vielmehr das Sündenproblem die Crux seiner Theologie ausmache. Da der sich selbst gefallende Mensch der Sünde ausgeliefert sei, bedürfe er der göttlichen Gnade, um gerecht zu werden. Tillich interpretiert Augustin dahingehend, dass die „Überwindung der concupiscentia […] wesentlich sexuell“²⁹⁵ gemeint sei und hier folglich „eine aus der Mystik stammende asketische Tendenz […] im Hintergrund steht.“²⁹⁶ Tillich verweist auf keinen speziellen Text Augustins, es ist jedoch anzunehmen, dass er dabei De civitate dei und gegebenenfalls De nuptiis et concupiscentia im Blick hat. In De civitate dei lassen sich allerdings – entgegen der Interpretation Tillichs – weder asketische Anklänge, noch Tabuisierungen des Geschlechtsaktes festmachen. Augustin spricht sich, ganz im Gegenteil, dafür aus, dass unter „Fleisch“ nicht alles Leibliche, sondern der Mensch im Ganzen zu verstehen sei, der sich in seinem Willen entweder Gott zuwenden könne, indem er „nach Gott“ lebt oder sich von Gott abwenden könne und also „nach dem Menschen“ lebt.²⁹⁷ Es findet sich bei Augustin keine Negierung des Leiblichen, da er davon ausgeht, dass der menschliche Leib als von Gott geschaffener ursprünglich gut ist und demnach auch „die Natur des Fleisches an sich nicht böse ist“²⁹⁸. Er hebt hervor, dass es nicht das Fleisch an sich ist, welches sündhaft ist und daher negiert werden
Die Bezeichnung des Augustinismus als Religionstypus ist zu kritisieren, da es sich hier nicht um eine eigene Religion, sondern eher um eine gewisse Ausprägung innerhalb einer Religion, nämlich der christlichen, hält. EN, Bd. XII, S. 484. Vgl. a.a.O., S. 485: Auch hier interpretiert Tillich Augustin dahingehend, dass er Gnade im Wesentlichen „nach Analogie physischer Kategorien denkt“. Ebd. Augustinus, A.,Vom Gottesstaat (De civitate Dei).Vollständige Ausgabe in einem Band (Buch 1 bis 10, Buch 11 bis 22), München 2007, S. 161. A.a.O., S. 156.
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273
müsse „und nicht das vergängliche Fleisch […] die Seele sündig [gemacht hat], sondern die sündige Seele […] das Fleisch vergänglich“ macht.²⁹⁹ Augustin entfernt sich also von der Ansicht, dass alles, was vom Leib kommt, sündhaft ist und alles, was vom Geiste kommt, tugendhaft. „Nach dem Fleisch leben“ kann auch geistige Akte beinhalten und bezieht sich nicht auf einen per se schlechten bzw. sündhaften Leib. „Doch die da meinen, alle Übel der Seele stammten vom Leibe, befinden sich im Irrtum.“³⁰⁰ Er referiert hierbei auf Paulus, welcher im Galaterbrief eine Reihe von Sünden aufzählt, die er als „Werke des Fleisches“ bezeichnet: [U]nter den Werken des Fleisches, von denen der Apostel sagt, sie seien offenbar, und die er aufzählt und verurteilt, treffen wir nicht nur solche an, die zur Fleischeslust gehören, wie Hurerei, Unreinigkeit, Üppigkeit, Trunksucht und Völlerei, sondern auch solche, welche wir als Geistessünden kennen, die mit Fleischeslust nichts zu schaffen haben. Denn wer sieht nicht ein, daß Götzendienst, Zauberei, Feindschaft, Hader, Eifersucht, Zorn, Zwietracht, Ketzerei und Neid mehr Geistes- als Fleischsünden sind?³⁰¹
Auch können z. B. nach Augustin alle Laster des Teufels als Werke des Fleisches bezeichnet werden, obwohl er den Teufel selbst nicht als fleischliche Gestalt imaginiert. „Denn nicht darum, weil er Fleisch besitzt, das dem Teufel abgeht, sondern weil er nach sich selber, also nach dem Menschen lebt, ist der Mensch dem Teufel ähnlich geworden.“³⁰² Das Kriterium der Sündhaftigkeit des Menschen ist hier also nicht dessen Leiblichkeit, sondern das Leben nach sich selbst, der Hochmut. Denn dieses bedeutet ein Leben nach der Lüge. Lebt der Mensch jedoch nach Gott, so lebt er nach der Wahrheit. Obwohl Tillich im Augustinismus ein Überwiegen des mystischen Moments identifiziert, findet er auch ethische Elemente in ihr wieder, die er der Gnade zuschreibt, die sich „[…] ausschließlich auf die ethische Qualität, auf die Fähigkeit zur Liebe“³⁰³ beziehe. So enthalte die Gnade Gottes stets beide Pole, indem sie einerseits von der Liebe Gottes zeuge (ethisches Moment) und andererseits diese Liebe durch den Geist vermittelt werde (mystisches Moment). Die primär durch den Geist vermittelte Liebesfähigkeit des Menschen stellt diesen wiederum in eine mystische Beziehung zu Gott. Der Gnadenvermittlung als „Mitteilung des Geistes“ ³⁰⁴ räumt Tillich bei Augustin also gegenüber dem ethischen Prinzip einen hö-
A.a.O., S. 159. A.a.O., S. 158. A.a.O., S. 156 – 157. A.a.O., S. 159. EN, Bd. XII, S. 485. Ebd.
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heren Stellenwert ein. Denn die Beziehung zu Gott entstehe aus einer Verinnerlichung, die zu Erkenntnis und Liebe führt. Diese Form der Liebesethik findet ihre Entsprechung in De civitate dei, wenn Augustin den Menschen, der nach Gott lebt, als „Liebhaber des Guten“ beschreibt und von ihm fordert, dass er „weder um der Sünde willen den Menschen hassen, noch um des Menschen willen die Sünde lieben, sondern die Sünde hassen und den Menschen lieben [soll]“³⁰⁵. Der von der Sünde genesene Mensch befindet sich laut Augustin gleichsam in einem Zustand, in dem er nur noch lieben kann. Ganz im Gegensatz zum Überwiegen von mystischen Tendenzen im Augustinismus steht laut Tillich der Lutherische Ansatz, der … … die Rechtfertigung des Gottlosen gerade an den Glauben und das glaubende Hören des Wortes knüpft, […] [und die Ansicht vertritt], dass der Mensch nicht durch seine geistlichen Affekte, nicht durch fromme Gefühle wie Gottesliebe und Liebesreue gerechtfertigt und gerettet wird […], sondern allein durch sein passives Empfangen von außen her.³⁰⁶
Auch durch die Bedeutung der Sündenvergebung sieht Tillich im Urprotestantismus (bei Luther) eine Rückbindung ans Ethische gegeben. Folglich betone Luther nicht das Vermögen des Einzelnen, den Stand der Sünde aus eigener Kraft überwinden zu können, sondern im Vordergrund stehe die Frage: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Und die Antwort war die reine Paradoxie der vergebenden Gnade.“³⁰⁷ Tillich skizziert, inwiefern sich gegen die das Ethische in den Fokus der Sündenvergebung rückende Theologie Luthers die reformatorischen „Schwärmer“ erhoben haben und auch die sich in Richtung einer Brautmystik entwickelnde „Lehre von unio mystica“³⁰⁸ eine auf mystische Vereinigung mit Christus zielende Gegenströmung gegen die eine mystische Ekstatik nun vollends beseitigende Theologie Melanchtons darstellte, die jedoch ohne größeren Einfluss geblieben sei. Tillich zieht zwar bei Luther eine Parallele zwischen der Frage nach der Gerechtigkeit Gottes und einer durch das Wort vermittelten Gnade Gottes als einer „persönlichen Berührung mit Gott, also im Sinne der unmittelbaren Geistmitteilung“³⁰⁹, dennoch bleibt das mystische Moment der Lutherischen Lehre bei Tillich unterbestimmt.
Augustinus, A., Vom Gottesstaat, S. 164. Hamm, B., Wie mystisch war der Glaube Luthers?, in: Hamm, B., Leppin, V. (Hrsg.), Gottes Nähe unmittelbar erfahren. Mystik im Mittelalter und bei Martin Luther (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe, Bd. 36), Tübingen 2007, S. 268. Ebd. Ebd. Ebd.
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Die Zuordnung Luthers zur rein ethischen Perspektive bei gleichzeitiger Unterbestimmung der mystischen Aspekte, unter denen die Rechtfertigung Gottes verstanden wird, ist zu kritisieren, da Luthers Theologie selbst mystische Wurzeln besitzt, von denen er sich in seinen Spätschriften distanziert, indem er dort den zentralen Fokus auf die Wort-Gottes-Theologie legt. So ist Luther z. B. geprägt von dem Mystiker Johannes Tauler, seinem Ordensvorgesetzten und Seelsorger Johannes von Staupitz sowie der deutschsprachigen Dominikanermystik und der Bernhardinischen Mystik.³¹⁰ Volker Leppin vertritt die These, dass die Mystik des Spätmittelalters „einen wichtigen Impuls für die Entwicklung seines Denkens“ lieferte: „Seine Theologie ist bis in ihrer Kerninhalte hinein gar nicht anders zu verstehen als vor dem Hintergrund ihrer mystischen Wurzeln.“³¹¹ In seiner Frei-
Vgl. Beutel, A. (Hrsg.), Luther Handbuch, 2. Aufl., Tübingen 2010, S. 57; Vgl. a.a.O., S. 60: „[…] auch für spätere, gemeinhin eindeutig als reformatorisch eingestufte Texte bleiben mystische Vorstellungen sprachlich noch präsent: in der Freiheitsschrift des Jahres 1520 beschreibt Luther den Austausch zwischen Christus und der Seele mit dem Bild von Braut und Bräutigam und nimmt damit in großer Selbstverständlichkeit eine Metapher auf, die er zum einen unmittelbar von Staupitz übernehmen konnte, die aber vor allem durch die Hoheliedauslegungen Bernhards tief in der mystischen Tradition verankert ist.“ Vgl. Hamm, B.,Wie mystisch war der Glaube Luthers?, S. 245 – 246: Von Bedeutung ist die Einsicht, dass Luthers Mystik nicht spekulativ ausgerichtet ist und damit keine ekstatischen Tendenzen verfolgt, die „in der Art des Pseudo-Dionysius Areopagita (um 500) den Aufstieg des erkennenden Geistes in das geheimnisvolle Dunkel des göttlichen Geistes ersterbte.“ Folglich gibt es für Luther „keine besonderen Tugenden und Werke, Erlebnisse und Erkenntnisse, durch die sich der fromme Mensch zu Gott emporbewegt.“ Damit steht Luther jedoch nicht außerhalb der mystischen Tradition, denn Hamm hält fest, dass „[d]ie meisten mystischen Texte […] schon damals nicht auf ekstatische Grenz- und Ausnahmeerfahrungen [zielten], sondern auf eine einfache Christusliebe, die in den Kreuzweg des Alltags einwilligt und hier die innigste Verbundenheit mit dem menschgewordenen Gott erlebt.“ (S. 246). Vgl. a.a.O, S. 255: Statt einer ekstatischen Erhöhung des Menschen lässt Luthers Theologie sich vielmehr als eine Deszendenzmystik verstehen. „An die Stelle der Aufwärtsbewegung des immer heiliger werdenden Menschen tritt die Abwärtsbewegung Christi zum heiligen Sünder […].“ Die Vereinigung von Gott und Mensch wird von Luther mittels der Metapher des glühenden Eisens expliziert: „Wie die beiden Substanzen des Feuers und Eisens werden sie im Kontakt des Glaubens mit dem Gotteswort so vollkommen miteinander verbunden, dass die göttlichen Eigenschaften des Wortes auch die der Seele werden […].“ Nichtsdestotrotz behalten die beiden Substanzen ihre Souveränität, indem sie „nicht ineinander verwandelt werden: Das Eisen wird auch als glühendes Eisen nicht Feuer, sondern bleibt Eisen. Ebenso wird die Vollkommenheit und Ganzheit der heilbringenden Gerechtigkeit Christi dem Menschen geschenkt und ihm zu eigen, ohne doch in seine menschliche Natur, Substanz und Qualität hineinverwandelt zu werden und das menschliche Wesen in ein göttliches zu verwandeln.“ Leppin, V., Transformation spätmittelalterlicher Mystik bei Luther, in: Hamm, B., Leppin, V. (Hrsg.), Gottes Nähe unmittelbar erfahren. Mystik im Mittelalter und bei Martin Luther (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe, Bd. 36), Tübingen 2007, S. 185.
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heitsschrift greift Luther in Bezug auf die Beziehung zwischen Christus und dem einzelnen Gläubigen sowie der Kirche die von dem Mystiker Bernhard adaptierte Metapher von Braut und Bräutigam auf, die auf eine unio mystica zielt. In Paragraph 12 der Freiheit eines Christenmenschen lautet es: Nit allein gibt der glaub ßovil, das die seel, dem gottlichen wort gleych wirt aller gnaden voll, frey, und selig, sondernn voreynigt auch die seele mit Christo, als eyne brawt mit yhrem breudgam. Auß wilder ehe folget, wie S. Paulus sagt, das Christus und die seel, eyn leyb werden, ßo werden auch beyder gutter fall, unfall und alle ding gemeyn, das was Christus hatt, das ist eygen, der glaubigen Seele, was die Seele hatt, wirt eygen Christi.³¹²
Sven Grosse weist zudem darauf hin, dass Luther unter dem Einfluss einer zentralen Referenzgröße der Mystik, Bernhard von Clairvaux, stand und sich diese von ihm repräsentierte „monastische Theologie auf das Herz des Christentums: auf das Mysterium des Heils, auf die Beziehung zwischen dem Menschen und Gott und auf ihrer Vereinigung“³¹³ konzentriert. Dort, wo von einer Vereinigung bzw. Einswerdung von Gott und Mensch gesprochen wird, bestehen jedoch stets mystische Anklänge. Grosse findet die mystischen Wurzeln Luthers vor allem in
Vgl. Hamm, B., Wie mystisch war der Glaube Luthers?, S. 242: Hamm geht sogar so weit nicht nur mystische Anklänge bzw. Wurzeln aufgrund einer Rezeption mystischer Motive in Luthers Theologie zu entdecken, sondern er geht davon aus, dass sie „in ihrer Gesamtkomposition mystischen Charakter“ trägt. „In der Weise war sein Glaubensverständnis mystisch, dass die wesentlichen Verbindungslinien in seiner Theologie, etwa die zwischen göttlicher Gerechtigkeit und menschlicher Sünde, zwischen Christus und der Seele oder zwischen der göttlichen und menschlichen Natur in Christus, als ‚Kommunikationsweisen‘ und Synapsen mystischer Art beschrieben werden können.“ Vgl. a.a.O., S. 244: Hamm betont zudem, „dass nach seiner [Luthers] eigenen Terminologie die ‚theologia mystica’ die höchste, wahre und erstrebenswerte Form christlicher Theologie darstellt.“ Luther, M., Sendbrief an Papst Leo X. Von der Freiheit eines Christenmenschen. Warum des Papsts und seiner Jünger Bücher von D. Martin Luther verbrannt seien. Drei Reformationsschriften aus dem Jahre 1520, in: Niemeyer, M. (Hrsg), Neudrucke deutscher Litteraturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts, Halle a. S. 1901, S. 23 – 24. Vgl. Hamm, B.,Wie mystisch war der Glaube Luthers?, S. 248: Textbelege, die eine unio mystica bei Luther belegen, lassen sich noch zahlreiche finden. Zu erwähnen sei an dieser Stelle lediglich noch eine weitere Stelle, auf die Hamm in seinem Aufsatz aufmerksam macht. Sie belegt, dass sogar der späte Luther noch an seinen mystischen Tendenzen festhält: „In seiner Galaterbriefvorlesung von 1531 geht Luther so weit, dass er mit individueller Zuspitzung sogar von einer Personeinheit spricht: ‚Der Glaube macht aus dir und Christus quasi eine Person, so dass du von Christus nicht getrennt werden kannst, sondern in ihm festhängst.’“ Grosse, S., Der junge Luther und die Mystik. Ein Beitrag zur Frage nach dem Werden der reformatorischen Theologie, in: Hamm, B., Leppin, V. (Hrsg.), Gottes Nähe unmittelbar erfahren. Mystik im Mittelalter und bei Martin Luther (Spätmittelalter und Reformation. Neue Reihe, Bd. 36), Tübingen 2007, S. 196.
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einer Auslegung des Glaubens als einer Reflexionskategorie repräsentiert.³¹⁴ Er zeigt auf, dass mystisches Denken – expliziert an der mystischen Theologie Bernhards, Johannes Taulers und Johannes Gersons – zunächst bei einer Selbstreflexion ansetzt und diese letztlich Voraussetzung für das Empfangen der Gnade wird. Indem der Mensch erkennt, dass er selbst nichtig ist, könne er sich ganz der göttlichen Gnade überantworten. „Macht er sich in seiner Demut zunichte, dann stürzt Gottes Sein in ihn hinein und füllt ihn aus. Er gelangt zur unio mystica.“³¹⁵ Auch Luther insistierte auf dem Gedanken von der Notwendigkeit des reflexiven Glaubens. Weiterhin entspringt die Auslegung des Abendmahls als einer „leiblichen Präsenz Christi“ im Akt der Eucharistie bzw. „als mystisches Vereinigungsgeschehen von Gott und Kreatur“³¹⁶ bei Luther mystischem Gedankengut. Weiteres Kennzeichen einer vor dem ethisch fundierten Gnadengedanken zurückgetretenen mystisch-ekstatischen Ausprägung sei der Prädestinationsgedanke, welcher stets „das Signal einer höchsten religiösen Ekstatik in der Sphäre der ethischen Religion“ darstelle.³¹⁷ Unklar bleibt die Identifikation des Prädestinationsgedankens mit der ekstatischen Mystik bei Tillich³¹⁸. Offen bleibt dabei, Vgl. a.a.O., S. 189: Jener Gedanke der Reflexivität des Glaubens zeichnet sich aus durch eine Erkenntnis des eigenen Ich, welches sich in seiner Getrenntheit von Gott als dem Nichts gegenüberstehend erkennt und so der Gnade Gottes im Herzen Raum gibt. Gnade kann dem Menschen nicht widerfahren, wenn er sich nicht von der Heilsmitteilung Gottes angesprochen fühlt, sich von ihm ganz persönlich gerechtfertigt weiß. Grosse weist darauf hin, dass diese der mystischen Theologie eigene Glaubensreflexivität sich in Luthers „Scholion zu Römer 8,16 […] in der Römerbriefvorlesung von 1515/16 […] [wiederfindet]. Dort erklärt Luther: ‚testimonium istud sit ipsa fiducia cordis in Deum’.“ (Dieses Zeugnis sei das Vertrauen des Herzens selbst in Gott). Von Bedeutung sei dabei – so Luther – „‚dass du auch dies glaubst, dass dir die Sünden durch ihn vergeben wird […]’.“ Vgl. Hamm, B.,Wie mystisch war der Glaube Luthers?, S. 254: Auch Hamm betont das Moment des persönlichen Angesprochenseins von der Heilswirkung Christi als Kennzeichen eines mystischen Glaubens: „Das begründende Geschehen tritt dann ein, wenn die erlösende Heilsgeschichte Jesu von der Menschwerdung bis zu Kreuz und Auferstehung für mich persönlich wirksam wird, wenn mir das widerfährt, was Luther als seligen Tausch beschreibt, wenn sich Christus ohne mein Zutun, allein aus Gnade mit meinem Elend verbindet, meine Verworfenheit auf sich nimmt und mir seine ganze Huld, Leben und Seligkeit schenkt.“ Grosse, S., Der junge Luther und die Mystik, S. 212. Hamm, B., Wie mystisch war der Glaube Luthers?, S. 252. EN, Bd. XII, S. 485. Vgl. A.a.O., S. 487: Tillich spricht in der 23. Stunde von der Prädestination „als Ausdruck des unmittelbaren Gotteserlebens“, wobei auch hier unklar bleibt, inwiefern Tillich den Prädestinationsgedanken und die damit ausgedrückte Vorherbestimmung des Menschen durch Gott mit einer mystischen Vereinigung und einem Erlebnischarakter verbindet. Möglich wäre eine mysti-
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wie Tillich die Prädestination „als Ausdruck des unmittelbaren Gotteserlebens“ und die durch sie repräsentierte Vorherbestimmung des Menschen durch Gott mit einer mystischen Vereinigung und einem Erlebnischarakter zusammen denkt. Ein möglicher Zusammenhang ließe sich zwischen Prädestinationslehre und mystischem Erlebnischarakter herstellen, indem der Mensch, der einen speziellen und unmittelbaren Zugang zum Unbedingten als besonders Eingeweihter besitzt, als derjenige interpretiert wird, der den göttlichen Schöpfungsplan zu lesen und erkennen vermag. Widersprüchlich erscheint Tillichs Assoziation des Prädestinationsgedankens mit einer mystischen Tendenz allerdings dann, wenn er den Calvinismus als Gesetzesreligion stilisiert und ihn den Religionen der ethischen Individualität zuordnet, so doch Calvin als Exponent der Prädestinationslehre verstanden werden kann.³¹⁹ Zudem lehnt Calvin selbst jegliche Aktivität des Menschen, die darauf gerichtet ist, den göttlichen Schöpfungs- und Vorsehungsplan zu ergründen, vehement ab. In der Institutio lautet es: Zunächst sollen sie [die vorwitzigen Menschen] sich daran erinnern, daß sie mit ihrem Forschen nach der Vorherbestimmung in die heiligen Geheimnisse der göttlichen Weisheit eindringen; wer nun hier ohne Scheu und vermessen einbricht, der erlangt nichts, womit er seinen Vorwitz befriedigen könnte, und er tritt in einen Irrgarten, aus dem er keinen Ausweg finden wird! Denn es ist nicht billig, daß der Mensch ungestraft durchforscht, was nach des Herrn Willen in ihm selbstverborgen bleiben soll […].³²⁰
Das von Tillich postulierte Zurücktreten des ethischen Moments in der Theologie, die die Lehre von der Prädestination vertritt, leuchtet hingegen eher ein: Wird davon ausgegangen, dass die Gnadenwirkung Gottes als vor aller Zeit beschlossene Rechtfertigung des Menschen Bestand hat, so bedarf es keiner guten Werke, um die Gnade Gottes zu verdienen, sondern der Mensch ist bereits durch die Schöpfung in die göttliche Heilsgeschichte integriert. Vor diesem Hintergrund ist der Satz Tillichs zu verstehen, dass „die ethischen Kategorien Übermacht über das
sche Ausprägung der Prädestinationslehre insofern, als der Mensch durch einen speziellen und unmittelbaren Zugang zum Unbedingten als besonders Eingeweihter den göttlichen Schöpfungsplan zu lesen und zu erkennen vermag. Vgl. Calvin, J., Unterricht in der christlichen Religion. Institutio Christianae Religionis, Neukirchen-Vluyn 2008, S. 519: Calvin entfaltet seine Prädestinationslehre in Kapitel III der Institutio. Kapitel 21 behandelt dabei die Erwählung, „kraft deren Gott die einen zum Heil, die anderen zum Verderben vorherbestimmt hat.“ Vgl. a.a.O., S. 513: Unter Vorherbestimmung versteht Calvin dabei „Gottes ewige Anordnung, vermöge deren er bei sich beschloß, was nach seinem Willen aus jedem einzelnen Menschen werden sollte! Denn die Menschen werden nicht alle mit der gleichen Bestimmung erschaffen, sondern den einen wird das ewige Leben, den anderen die ewige Verdammnis vorher zugeordnet.“ A.a.O., S. 511.
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Religiöse [gewinnen], die Form über den Gehalt“, wenn es zu einer Abschwächung des Prädestinationsglaubens kommt.³²¹ Andererseits können die guten Werke auch als Zeichen und Bestätigung der Prädestination gesehen werden, indem ihre Befolgung als Signum der von Gott zur Seligkeit erwählten Menschen fungiert. Mit dem Calvinismus assoziiert Tillich eine Gesetzlichkeit, weshalb er ihn neben dem Judentum und Mohammedanismus als eigene Ausprägung der Religion der ethischen Individualität aufführt. Vor allem die Aufnahme des „theokratischen Gedanken[s]“ habe auch bezüglich der Interpretation des Prädestinationsgedankens zu einer Ablehnung von allem „biologisch-mystische[n]“ in der Religion geführt.³²² Der Erlebnischarakter sei zugunsten einer Ergänzung der Prädestination durch „die in der Theokratie notwendigen guten Werke als Bestätigung der unerkennbaren, das heißt lebensfremd gewordenen Prädestination“ gewichen.³²³ Durch sie werde die Prädestination als sich dem menschlichen Bewusstsein entziehende Vorsehung Gottes bestätigt, indem der Mensch sich dem Willen Gottes durch Unterordnung unter das Gesetz beugt und damit jeglichen Anspruch, den Plan von Gottes Schöpferwerk erkennen zu können, ablegt. In der Religionsphilosophie von 1925 führt Tillich die theokratische Haltung im dritten Teil unter der geistesgeschichtlichen Darstellung der Religion auf, welche in erheblichem Maße mit der geschichtsphilosophischen Typologie der Vorlesung korrespondiert, jedoch weniger ausführlich ausfällt. Aus der biologisch geprägten, primitiven Kulturreligion entwickelt sich die Religionsgeschichte nach Tillich in zwei divergierende Richtungen weiter, die er in der Vorlesung als die logischästhetische und politisch-soziale Richtung beschreibt. Korrespondierend zu diesen polaren Richtungen führt er im Systementwurf die sakramentale und theokratische Richtung als zwei sich aus der „ursprüngliche[n] Indifferenz“ erhebenden „Grundhaltungen“ auf ³²⁴, wobei die Mystik sich auf dem Boden der sakramentalen Richtung infolge einer „Auflösung des Sakramentalen“³²⁵ etabliert und eine direkte Verschmelzung des Menschen mit Gott ohne Teilnahme an kultisch-sakramentalen Handlungen intendiert. Die theokratische Haltung fungiert hierbei als „antidämonische Kritik“ an den von der sakramentalen Haltung mit unbedingter Gültigkeit attribuierten Bedingtheiten und schützt somit vor der
EN, Bd. XII, S. 486. A.a.O., S. 487. Ebd. GW, Bd. I, S. 340. A.a.O., S. 342.
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Gefahr einer „Heiligung bestimmter sakramentaler Wirklichkeiten“.³²⁶ Insofern als sie antidämonische Wirkung hat und das Handeln und Erkennen des Menschen stets dem göttlichen Gehorsam und der unbedingten Forderung unterwirft, bewahrt die theokratische Haltung den Menschen vor der Heiligung bestimmter Einzelformen, denen Unbedingtheit zugeschrieben wird und die ihm somit als Götze dienen. Insofern als die theokratische Haltung sich also gegen den Glauben an eine „unmittelbare Einigung mit dem Unbedingten durch Teilnahme an den sakramentalen Dingen und Handlungen“³²⁷ wendet, besitzt sie eine antidämonische Wirkung. Sie ist ganz auf die Form der Dinge gerichtet und lehnt eine unmittelbare Beziehung des Menschen zu Gott ab. Tillich beschreibt die theokratische Haltung auch als Movens der gesamten Religionsgeschichte, da von ihr eine innerreligiöse Dynamik ausgehe, die der Stagnation, dem Festhalten am primitiven Sakramentalismus, der gleichsam den „Grundstock und die immerwährende Basis des religiösen Lebens schafft“, in Form von „großen Reformbewegungen“ entgegenwirke.³²⁸ Indem die Theokratie das Ideal anstrebt, den göttlichen Gehalt nur durch die gültige Form zu erfassen, steht sie der idealen Forderung, der Religion des Paradox’, nahe. Dennoch unterliegt sie der Gefahr, durch einseitige Betonung der Gesetzeshaftigkeit „im Gesetz nur die Gesetzesform [zu] bejahen“³²⁹ und damit keine Religion mehr zu sein, sondern sich in Richtung einer autonomen Kultur weiterzuentwickeln, die „die Form um ihrer selbst willen sucht“³³⁰ und nicht, um durch sie den unbedingten Gehalt zu erleben. Die isolierte theokratische Richtung kann zu einer Ermangelung des Gehaltserlebens bei Überbetonung der Gesetzeshaftigkeit führen oder sich zur unerträglichen Spannung steigern, die aus der sittlichen „unbedingten Forderung und der bedingten dämonisch beherrschten Wirklichkeit“³³¹ hervorgeht. Indem sich auf ihrer Basis eine Spannung bis zur Unerträglichkeit steigern kann, bildet sie die Grundlage für neue Durchbrüche. Sie treibt die Religionsgeschichte zur großen Synthese der Religion der Gnade, in welcher alle Spannungen aufgehoben sind und das ideale Ziel erreicht ist, welches jedoch stets nur Forderung, nie jedoch geschichtliche Erfüllung sein kann. Die Charakterisierung des Calvinismus und dessen Identifizierung mit den Religionen der ethischen Individualität (unter denen Tillich u. a. das Judentum und
Ebd und a.a.O., S. 341. A.a.O., S. 342. Ebd. Ebd. A.a.O., S. 343. A.a.O., S. 342.
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den Mohammedanismus fasst), die bei Tillich repräsentativ für Gesetzesreligionen stehen, ist zu kritisieren. Zunächst widerspricht Tillich sich, indem er den Prädestinationsgedanken als Signum einer mystischen Religion versteht, den Calvinismus jedoch – ob seiner Bejahung der Prädestination – den Gesetzesreligionen zuordnet. Der Calvinismus repräsentiert nach Tillich sowohl eine in der Aufnahme des theokratischen Gedankens begründete Gesetzesmäßigkeit sowie eine Ablehnung jeglicher mystischer Aspekte und eine Prädestinationslehre, die in den guten Werken eine Bestätigung findet. Calvin kann jedoch nicht als Vertreter einer reinen Gesetzeshaftigkeit angesehen werden, obschon er die Bedeutung des Gesetzes nicht abstreitet. Allerdings hält er in der Institutio fest, dass der Prädestinationsgedanke gerade einer Werkgerechtigkeit zuwiderläuft und das Wesen der Erwählung gerade darin besteht, „daß uns das Heil von nirgendwo anders her, als allein aus reiner Freundlichkeit Gottes zuteil wird.“³³² Calvin legt gerade einen entscheidenden Fokus auf die freie Gnadenwahl Gottes, nach der einige zur Seligkeit, andere zur ewigen Verdammnis vorherbestimmt seien. Die Kriterien, nach denen Gott urteile, bleiben dabei sein ewiges Geheimnis und entzögen sich der menschlichen Erkenntnis. Calvin möchte die Erwählung also gerade nicht „an die Würdigkeit des Menschen oder an die Verdienste der Werke binden […].“³³³ Calvins Auslegung des Gesetzes bindet dieses streng an den sich in Christus erfüllenden Bund. Das mosaische Gesetz sei nur aus der Perspektive der Erfüllung in Christus zu verstehen, indem es den Menschen zu Christus führt und damit das erwählte Volk und dessen „[…] Herz bis zu dessen [Jesu] Ankunft in Erwartung […]“³³⁴ hält. Um die Erfüllung des Gesetzes bzw. Bundes in Christus zu veranschaulichen, verweist Calvin auf Röm. 10,4 und Gal. 3,24. In Galater 3 wird Christus als das Endziel des Gesetzes dargestellt; als die Erfüllung des Gesetzes, durch die der Mensch gleichsam vom Gesetz als dem „Zuchtmeister“ befreit wird, auf dass jeder gerecht werden möge, der glaubt (Röm. 10,4). Durch den Verweis auf Römer 10 distanziert sich Calvin gleichzeitig von einem Verständnis des Gesetzes als einer bloßen Werkgerechtigkeit, die die Beziehung zu Gott lediglich in den Dienst eines frommen Ritus oder einer Zeremonialsitte stellt. Den reinen Gesetzesdienst ohne das geistliche Ziel,
Calvin, J., Unterricht in der christlichen Religion, S. 510. A.a.O., S. 513; Vgl. a.a.O., S. 516: „Gott hat in seinem ewigen und unwandelbaren Ratschluß einmal festgestellt, welche er einst zum Heil annehmen und welche er andererseits dem Verderben anheimgeben will. Dieser Ratschluß ist, das behaupten wir, hinsichtlich der Erwählung auf Gottes unverdientes Erbarmen gegründet, ohne jede Rücksicht auf menschliche Würdigkeit.“ A.a.O., S. 183.
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auf Jesus hinzuführen, betrachtet Calvin sogar als „Lächerlichkeit“³³⁵, als „nichtig und leer“³³⁶. Das Gesetz also, indem man es vom in Christus erfüllten Bund Gottes mit den Menschen trennt, avanciert für ihn zum bloßen Gesetz oder zum Gesetz des Buchstabens, der erst durch den göttlichen Geist lebendig gemacht wird und „der doch an sich tödlich wäre“.³³⁷ An dieser Stelle rekurriert Calvin wiederum auf 2. Kor. 3,6. Als „bloßes Gesetz“ erzieht „das Gesetz unser menschliches Leben […] [jedoch] bloß zu einer äußeren Ehrbarkeit“, nicht jedoch zu einer „inneren, geistlichen Gerechtigkeit“.³³⁸ Die Funktion des Gesetzes besteht für Calvin primär darin, als Wegweiser auf der Suche nach Christus zu fungieren, indem dem Menschen durch die Unerfüllbarkeit des Gesetzes die eigene Nichtigkeit gewahr wird. Calvin führt drei verschiedene Verwendungen des Gesetzes auf: das sittliche, das rituelle und das zivile Gesetz. Dabei bestehe die erste Anwendung des sittlichen Gesetzes darin, … … daß es uns Gottes Gerechtigkeit anzeigt, also was vor Gott wohlgefällig ist, und auf diese Weise jeden einzelnen an seine Ungerechtigkeit erinnert, sie ihm zur Gewißheit macht und ihn schließlich überführt und verdammt. So muß der Mensch in seiner Blindheit und im Rausche seiner Selbstliebe zur Erkenntnis und zugleich auch zum Bekenntnis seiner Schwachheit und Unreinigkeit gebracht werden; denn wenn er nicht deutlichst seiner Nichtigkeit überführt wird, so bläht er sich in toller Zuversicht auf seine eigene Kraft auf […].³³⁹
Aus dieser negativen Selbstbespiegelung folgt laut Calvin die Einsicht in die Gnade Gottes. Er bezieht sich erneut auf Paulus, der in Gal. 3,19 lehrt, „das Gesetz sei ‚um der Übertretung willen’ gegeben, nämlich um die Menschen ihrer Verdammnis zu überführen und sie demütig zu machen.“³⁴⁰ Diese demütige Erkenntnis der eigenen Nichtigkeit und des eigenen Scheiterns, sich selbst durch die Erfüllung des Gesetzes gerecht zu sprechen, versteht Calvin als „einzige Vorbereitung […], um Christus zu suchen […].“³⁴¹ Indem der Mensch also in der Uner-
Ebd. A.a.O., S. 184. A.a.O., S. 185. A.a.O., S. 196; Vgl. Röm. 7,14. A.a.O., S. 186 – 187. Vgl. a.a.O., S. 187: Calvin führt auch Röm. 3,20 auf, wo es heißt: „Durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde.“ Ebd; Vgl. a.a.O., S. 194: Das Gesetz führt zur Einsicht in die eigene Nichtigkeit. Calvin führt dies so aus: „Und wenn wir dann unsere Kräfte betrachten, so finden wir, daß diese nicht etwa zu schwach, sondern gänzlich untüchtig sind, das Gesetz zu erfüllen. Aus dieser Einsicht folgt notwendig das Mißtrauen gegenüber der eigenen Kraft, zugleich auch innere Angst und Bangigkeit. Denn das Gewissen kann die Last der Ungerechtigkeit nicht ertragen, ohne sich alsbald
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füllbarkeit des Gesetzes und „aus der Größe dieser Verheißungen sein eigenes Elend besser erkenne“, führt das Gesetz dem Menschen unmittelbar den Tod vor Augen. Jedoch – und hierauf liegt der Fokus bei Calvin – besteht die Absicht der Verheißungen des Gesetzes, die der Mensch durch keinen Gesetzesgehorsam erlangen kann, in der Erkenntnis, „daß sie an uns ohne Kraft und Wirkung sind, wenn uns nicht Gott selber abseits von allem Blick auf die Werke, aus lauter Gnade, die uns im Evangelium dargeboten wird, im Glauben angenommen […].“³⁴² Die christliche Freiheit besteht laut Calvin gerade auch in der Freiheit vor dem Gesetz. Da Christus alle Anforderungen des Gesetzes erfüllt hat, sind die Christen von jeglicher Werkgerechtigkeit befreit und also „durch das Kreuz Christi von der Verdammnis des Gesetzes frei“³⁴³. Trotz der freien Gnade Gottes und der Erfüllung des Gesetzes in Christus erachtet Calvin das Gesetz nicht als überflüssig. Vielmehr unterscheidet er zwischen einer Funktion des Gesetzes als Erlangung der Gnade Gottes bzw. als Instrument zur Erlangung von Seligkeit (Schutz vor Verdammnis) und der Funktion des Gesetzes, zum Guten anzuleiten und nach Gottes Gerechtigkeit zu handeln. Es könne weder gerecht machen, noch könne die göttliche Gnade durch es erwirkt werden. Allerdings geht Calvin davon aus, dass gerade die Befreiung von der Knechtschaft des Gesetzes dazu führt, Gott freiwillig zu dienen und sich an seine Gebote zu halten: „[…] wenn sie [die Seele] von dieser strengen Zucht, ja, vielmehr von der ganzen Schärfe des Gesetzes befreit ist und wenn sie dann hört, wie sie von Gott in väterlicher Milde gerufen wird – dann wird sie seinem Rufe fröhlich und in großer Freudigkeit antworten und seiner Führung folgen.“³⁴⁴ Das Gesetz leitet also zum rechten Handeln an und zeigt dem Menschen etwas von der göttlichen Gerechtigkeit, die der durch die freie Gnade Gerechtfertigte Gott zu ehren freiwillig fördern möchte. Das Gesetz hat dann die Funktion für die Christen als „Werkzeug [zu fungieren], durch das sie von Tag zu Tag besser lernen, was des Herrn Wille sei, nach dem sie ja verlangen, und durch
vor Gottes Gericht zu sehen. Dies aber ist nicht möglich, ohne daß die Todesangst über uns kommt. In gleicher Weise aber wird das Gewissen durch die Beweise unserer Ohnmacht überführt und gerät so notwendig in die völlige Verzweiflung an den eigenen Kräften. Jede von diesen beiden Widerfahrnissen (Todesangst und Verzweiflung an der eigenen Kraft) bringt uns nun zu Demut und Selbstverwerfung, – und so kommt der Mensch endlich unter dem Empfinden des ewigen Todes, dem er um seiner Ungerechtigkeit willen mit Recht entgegensieht, doch dazu, zu der Barmherzigkeit Gottes als dem einzigen Hafen des Heils seine Zuflucht zu nehmen, zu fühlen, daß es nicht in seiner Macht steht, der Forderung des Gesetzes Genüge zu tun, an sich selbst zu verzweifeln und dann nach einer Hilfe zu verlangen, die er von anderswoher erflehen und erwarten muß!“ Ebd. A.a.O., S. 461. A.a.O., S. 462.
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das sie auch in solcher Erkenntnis gefestigt werden sollen.“³⁴⁵ Die im mosaischen Gesetz dargelegten Zehn Gebote dienen laut Calvin dazu, „uns vollkommene Gerechtigkeit zu lehren“³⁴⁶, indem durch ihr Einhalten Aberglaube abgewehrt und verhindert wird, dass der Mensch sich seine eigenen Gesetze schafft, nach denen er lebt. Ist also das Gesetz nach Calvin hauptsächlich in seiner Hinführung auf Christus hin, der die Erfüllung des im alten Bund gültigen Gesetzes darstellt, und als Signum einer vollkommenen göttlichen Gerechtigkeit zu verstehen, so ist die Interpretation Calvins durch Tillich zu kritisieren. Denn Calvin ist keinesfalls Anhänger einer bloßen Gesetzeshaftigkeit und einer reinen Ethik. Dagegen sprechen weiterhin die zahlreichen mystischen Anklänge in Calvins Institutio, die viele Calvinforscher dazu veranlasst, als Hauptaspekt seiner Lehre über das christliche Leben „die Gemeinschaft mit Christus“ zu verstehen.³⁴⁷ So heißt es zu Beginn des dritten Buches (Auf welche Weise wir der Gnade Christi teilhaftig werden, was für Früchte uns daraus erwachsen und was für Wirkungen sich daraus ergeben), dass das Werk Christi nur von demjenigen erfahren werden könne, dessen „Eigentum“ er geworden sei und dem er einwohne. So hält Calvin fest, „daß alles, was er besitzt, uns solange nichts angeht, als wir nicht mit ihm in eines zusammenwachsen.“³⁴⁸ Die Einwohnung Christi in unser Gemüt erfolge durch den Heiligen Geist, durch welchen uns sein Zeugnis „wie ein Siegel in unser Herz eingedrückt ist“³⁴⁹. Damit wird deutlich, dass Calvin davon ausgeht, dass unser Sein in Christus „eingepflanzt“ wurde, und er, indem er in uns lebt, den Menschen zum Heil führt.³⁵⁰ Nur die Gemeinschaft mit Christus kann folglich unsere Isolierung und Trennung aufheben und uns an den Gaben, die Gott Christus erwiesen hat, teilhaben lassen. Dies aber sind durchaus mystische Gedanken. Die sich aus der Synthese von Mystik und Ethik innerhalb der Gnadenreligion ergebende nachfolgende Rezeptionsgeschichte ist laut Tillich dadurch gekennzeichnet, dass sich Bewegungen, die das Mystische in den Vordergrund stellen gegen diejenigen, die ihre Betonung auf das ethische Moment legen, abwechseln und sich so eine „Wellenbewegung der christlichen Religionsgeschichte“ ergibt, die „in sich selbst fortwährend schwankt zwischen Mystik und Ethik und gebie-
A.a.O., S. 190. A.a.O., S. 195. Haas, G. H., Ethik und Kirchenzucht, in: Selderhuis, H. J. (Hrsg.), Calvin Handbuch, Tübingen 2008, S. 326. Calvin, J., Unterricht in der christlichen Religion, S. 289. Ebd. Ebd.
2.4 Die philosophisch-ästhetischen Kulturreligionen
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terisch zu der Synthese hintreibt, die freilich ebenso wie alle anderen geometrischen Punkte im Unendlichen liegen muß.“³⁵¹ Als Gegenbewegungen gegen die im Urprotestantismus vorherrschende ethisch-formale Unbedingtheit, die durch ein Zurücktreten der mystischen Geistmitteilung charakterisiert sei, führt Tillich den das Individuell-Persönliche ins Zentrum der Theologie rückenden Pietismus sowie die romantische Frömmigkeit auf. Der Pietismus betone den Geistgedanken, während Tillich die Romantik in den Bereich der Mystik einordnet. Ziel der Tillichschen Darstellung ist es, zu illustrieren, dass die Religionsgeschichte in der Phase vor dem Durchbruch in je unterschiedlichen und divergierenden Akzentuierungen auf die Synthese von Form und Gehalt im Urchristentum zustrebt und sich in der Folgezeit ebenso in Form einer Wellenbewegung und durch ein Changieren zwischen den beiden Polen der Mystik und der Ethik auszeichnet. Als Ziel ergibt sich dabei eine Geisteslage, in der durch jede Form der göttliche Gehalt erschaut und somit eine neue Synthese erreicht wird.
2.4 Die philosophisch-ästhetischen Kulturreligionen 2.4.1 Die Entstehung der mystischen Kultlinie aus dem primitiv-biologischen Ursprung Die mystische Kultlinie nimmt in Tillichs Religionstypologie ihren Ursprung in einem sakramentalen Zugang zum Unbedingten. Dieser ziele unter anderem mittels Opferdarbietung auf eine Gemeinschaft mit dem Unbedingten, weshalb in ihm ebenso das Kultische wirksam sei, wie in den ethisch-sozialen Religionen. Folglich bildet der Kultus ein Merkmal beider Richtungen (sowohl der ethischsozialen als auch der logisch-ästhetischen Richtung) und ist in Tillichs Schema als senkrechte Mittellinie eingezeichnet, die im Ursprung (in der primitiven Kulturreligion) beginnt und in der Religion des Paradox’ mündet. Folglich lässt sich auch nicht von einem absoluten Gegensatz von logisch-ästhetischen und sozialen Religionen sprechen, denn in beiden von Tillich konstruierten Extrempunkten lassen sich Elemente des jeweils gegensätzlichen Pols finden. Vom Kultischen entfernen „sich der ethische und der mystische Pol gleichmäßig“, es selbst hört
EN, Bd. XII, S. 489. Als Beispiele für das Gehaltserlebnis betonende Bewegungen innerhalb des protestantischen Christentums führt Tillich den Pietismus, die Romantik und die neue mystische Welle der Gegenwart auf, während er als Gegenreaktion auf die Romantik den Rationalismus aufführt, welcher durch ein „starkes Überwiegen des Ethischen“ gekennzeichnet sei. Von einer detaillierten Beschreibung der einzelnen Strömungen sehe ich an dieser Stelle ab.
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jedoch nie ganz auf, sondern bildet „die Substanz der komplexen Religionen“.³⁵² Als Substanz des Kultischen beschreibt Tillich wiederum das „schlechthinnige Seinserlebnis“, dessen Formung sowohl „logisch und ästhetisch und ethischsozial“ sei.³⁵³ Die ethische und theoretische (logische und ästhetische) Erfassung des Unbedingten bilden, indem sie sich vom Kultischen ablösen, allerdings zwei komplementäre Stellungen des Bewusstseins zum Unbedingten: Das Ethische basiert analog zur theokratischen Richtung in unbedingter Bejahung der Persönlichkeit auf einem Differenzverhältnis zwischen Gott und Mensch; die Beziehung zum Unbedingten wird mittels unbedingter Forderung, Gesetz und Sitte und einer daraus erwachsenden Verantwortung gegenüber der Welt und anderem Sein aktualisiert. Hingegen ist es Ziel der theoretischen Richtung, das Unbedingte in sich aufzunehmen und mit ihm eins zu werden. Tillich veranschaulicht folglich durch eine Analyse des Wesens des Mystischen und dessen geschichtsphilosophischem Nachvollzug in der Ausprägung geschichtlicher Typen, „daß die kultisch-soziologische und die mystisch-identische Formung des Verhältnisses zu Gott nicht einen Gegensatz bilden, sondern auf der Linie der mystischen Frömmigkeit gewissermaßen die Polarität wieder in sich repräsentieren, die zwischen mystisch und ethisch besteht. Man könnte das Gleiche auf der ethischen Seite feststellen […]“³⁵⁴ Das heißt, es ist ihm nicht daran gelegen, „Einzelheiten zu schildern, die ja auch noch vielfach im Dunkeln liegen“³⁵⁵ (obwohl er dies auch tut), sondern in das Prinzip des Göttlichen über seine geschichtliche Erfahrbarkeit zu dringen und zu zeigen, wie sich das Gehaltserlebnis immer wieder seinen Weg durch die Geschichte bahnt. In diesem Fall ausgehend von den Typen, die auf mystischer Seite aus dem primitiv-biologischen Ursprung erwachsen: Die gesamte linke Hälfte des Tillichschen Achsensystems³⁵⁶ behandelt die mystischen Religionen, die aus demselben primitiv-biologischen Ursprung hervorgehen wie die ethisch-sozialen Religionen. Tillich ist es stärker als bei den ethischen Religionen daran gelegen, das Wesen von Mystik an sich zu charakterisieren, dessen wesentlichen Kennzeichen und innere Konstitution sowie dynamische Bewegung hin zur Religion des Paradox’ dargestellt werden. Deshalb sollen im Folgenden nur die Aspekte hervorgehoben werden, die für ein Verständnis des Gottesverhältnisses und der Idealreligion des Paradox‘ von Bedeutung sind.
A.a.O., S. 496. A.a.O., S. 497. EN, Bd. XII, S. 496. A.a.O., S. 499. A.a.O., S. 455.
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Tillich illustriert – analog zur Bedeutung der „vedische[n] Religion für die Entstehung der asiatischen Mystik“³⁵⁷ – die besondere Relevanz der griechischen für die gesamte europäische Mystik, da sie … […] nicht nur in sich selbst die Mysterien geschaffen [habe], sondern auch durch Verbreitung der hellenischen Kultur über die gesamten Mittelmeerländer die ägyptisch-semitischen Mysterien frei gemacht, […] die philosophische Mystik und die Formeln der gesamten christlichen Mystiker geschaffen [habe]; sie hat schließlich durch Einwirkung auf den Islam die jüdische und islamische Mystik veranlaßt und ist auf dem Boden Persiens in Synthese getreten mit der indischen Mystik zu dem persischen Sufismus.³⁵⁸
Wiederum skizziert Tillich zwei Linien, die der „griechische Geist“ hervorgebracht habe und die die griechische Religionsgeschichte ausmachen: Beide entspringen der primitiv-biologischen Kulturreligion, dessen Wesen die „sakramentale Mystik“ bilde³⁵⁹ und sollen im folgenden Kapitel nachgezeichnet werden. In dieser sakramentalen Mystik als einer der beiden Linien werde das Religiöse in unmittelbarer Ekstatik erlebt, sodass kein Gegensatz von Mystik und Ethik bestehe. Sie „macht die Loslösung von der Volksreligion in Beziehung auf die Form nicht mit. Was sie charakterisiert ist die Heraushebung gewisser Formen der Volksreligion zu einer spezifisch religiösen Gemeinschaft“, den sog. „Mysterienvereine[n]“. Die andere Linie entwickele sich in Richtung einer logisch-ästhetischen Formung des Unbedingtheitserlebnisses. Diese Aufspaltung der Mystik in zwei gegensätzliche Richtungen gehe dabei aus der Doppelform des Gehaltserlebens selbst hervor und also aus der Unbedingtheitserfahrung des Individuums, welches aus dem unmittelbaren Identitätsverhältnis zum Unbedingten heraustrete und als notwendige Folge das Göttliche bzw. die unbedingten Mächte nun in der Doppelheit des Grauenerregenden, Angsteinflößenden und Beseligenden in unmittelbar die eigene Macht erweiternder Form wahrnehme. Die positive Erfahrung des Unbedingten, das Erlebnis seiner besonderen Mächtigkeit, führe gleichsam zum Wunsch der Verschmelzung mit den göttlichen Mächten, der Aneignung und Identität. Diese Vereinigung geschehe dadurch, dass der Mensch selbst Machtträger wird und damit in einem Identitätsverhältnis mit dem Unbedingten stehe. Es entstehe der Zauberkult im Bereich der sympathetischen Magie. Bereits hier sei die Mystik durch einen esoterischen Charakter gekennzeichnet, der sich auf einen eingeschränkten Kreis mit besonderer Macht begabter Auserwählter beschränke, die über einen exklusiven Zugang zum Unbedingten verfügen
A.a.O., S. 494. A.a.O., S. 494. Vgl. EN, Bd. XIII, S. 20.
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und demnach eine priesterhafte Funktion innehaben.³⁶⁰ Hier tritt das eigentlich mystische hervor. Das negative Erlebnis der unbedingten Mächte hingegen, ihre Erfahrung als gefährlich, grauenerregend und unheilvoll, als zerstörender Rausch, führe zu der zweiten von Tillich aufgeführten Linie der Mystik, dem kultisch-soziologischen³⁶¹ Zugang zum Unbedingten, welcher stets mit Opferkult und besonderen Riten verknüpft sei. Durch besondere Gaben sollen die als gefährlich erlebten göttlichen Mächte versöhnt werden. Dieses Verhältnis, welches von Tillich auch als ein Zweckverhältnis bezeichnet wird, gestalte sich gegenüber dem unmittelbaren, mystischen Identitätsverhältnis in soziologischen Kategorien, insofern als eine Gemeinschaft mit Gott mittels bestimmter kultischer Handlungen erzielt werde, die auf einem Kontraktverhältnis zwischen Gott und Mensch beruhe.³⁶² Es entsteht ein Zweckverhältnis in soziologischen Kategorien.
Vgl. EN, Bd. XII., S. 512. Vgl. a.a.O., S. 495: Dabei darf „soziologisch“ nicht mit „sozial“ verwechselt werden: Tillich unterscheidet einen soziologisch-kultischen Zugang zum Unbedingten, der sich auf der biologisch-ästhetischen Seite der Religionen befindet, von einer sozialen Beziehung, die den ethischsozialen Religionen zugeschrieben wird. Als soziologisch werden von ihm all diejenigen kultischen Handlungen verstanden, die in „soziologischen Kategorien verlaufen und zum Ziel eine Gemeinschaft mit den Göttern respektive Gott haben. Es handelt sich dabei um Kontraktverhältnisse zwischen dem Menschen und den göttlichen Mächten. Ist die Beziehung mittels eines Konktraktverhältnisses geregelt, so ist diese hauptsächlich darauf ausgerichtet, die göttlichen Mächte mittels Opfergaben und Riten zu versöhnen, um gewisse Vorteile oder Gaben von ihnen zu erhalten. Als Beispiel führt Tillich das Opfern eines Pferdes auf, um von den Göttern Regen zu erwirken. Im Gegensatz dazu stehe zum Beispiel das Opfern der erstgeborenen Söhne (an den Moloch), um eine Hungersnot abzuwenden. Hier ist die „Verpflichtetheit an die Gemeinschaft“ zentral. Es geht weniger darum, mit Gott in eine Gemeinschaft zu treten, als Unheil abzuwenden. Vgl. a.a.O., S. 495: Tillich differenziert dabei zwischen „sozial“ und „soziologisch“, insofern als durch das vertragsmäßige Abkommen zwischen Gott und Mensch, welches in Form von soziologischen Kategorien verläuft, noch kein soziales Unbedingtheitserlebnis erreicht ist. Das Verhältnis zwischen Gott und Mensch gestaltet sich insofern in sozilogischen Kategorien, als es auf eine Beziehung und Gemeinschaft ausgerichtet ist, die also eine soziale Bindung zwischen Gott und Mensch ausdrückt. Dennoch ist diese Beziehung individualistisch geprägt, insofern als andere Individuen nicht zwangsläufig von ihr abhängen und jene Beziehung also keine Auswirkungen auf die soziale Gemeinschaft der Menschen untereinander hat. Mit anderen Worten: Die Beziehung zwischen Gott und Mensch ist an keinerlei soziale oder gesellschaftliche Bindungen, Verpflichtungen oder Gebote gebunden, sondern drückt ein direktes Verhältnis des Einzelnen zum Göttlichen aus. Soziologisch ist dieses Verhältnis auch deshalb, weil es keinem anderen Zweck dient als der Gemeinschaft, also keine außerreligiöse, z. B. politische Intention verfolgt. Die Beziehung zwischen Mensch und Gott erfüllt also einen Selbstzweck und dient allein dem inneren Leben.
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An dieser doppelten Ausrichtung des Gehaltserlebnisses bestätigt sich die eingangs zitierte Beobachtung Tillichs, dass sich auch auf der Linie mystischer Frömmigkeit polare Ausprägungen des Unbedingtheitserlebnisses zeigen, die wiederum keinen Gegensatz darstellen. Vielmehr hängt ihre unterschiedliche Ausprägung (in theoretischer und praktischer Richtung) von der jeweiligen Auffassung des Unbedingtheitserlebnisses vom Menschen ab.
2.4.2 Die griechische Philosophie und die Götter Homers Im Folgenden sollen die drei Entwicklungslinien der griechischen Mystik genauer dargestellt werden: Die Sakramentenmystik, aus der sich die sog. „Mysterienvereine“ formen und die der griechischen Volksfrömmigkeit entspricht sowie die Linie der logisch-ästhetischen Religionen, die sich wiederum in eine rationallogische und eine ästhetische Ausformung einteilen lässt. Im Folgenden soll zunächst die logisch-ästhetische Entwicklung in Form von Ästhetisierung und Rationalisierung und im Anschluss das Wesen der Sakramentenmystik dargestellt werden. Der Fokus liegt dabei darauf, zu skizzieren, wie die Religion des Paradox‘ generiert wird. Die im Vorangehenden beschriebene Erfahrung der Doppelheit des Göttlichen sei dabei Verantwortlich für die Aufsplitterung der bereits divergierenden Zugänge zum Unbedingten (Sakramentenmystik und logisch-ästhetische Rationalisierung): Einerseits dem Bestreben nach einem direkten sakramentalen Zugang zum Göttlichen, der durch die Herstellung eines Identitätsverhältnisses als typisch mystisch gekennzeichnet war, und andererseits nach einem über das logische Bewusstsein und ästhetisch-poetische Formen vermittelten Zugang zum Unbedingten (dem soziologischen Zweckverhältnis). Ersterer bilde wiederum den Ursprung der Sakramentenmystik des Christentums und Hellenismus, während letzterer durch einen „Bruch“ rational-logischer und ästhetischer Form gekennzeichnet sei und aus ihm die erkenntnistheoretischen Zugänge der griechischen Philosophen sowie die ästhetischpoetischen Gottheiten Homers entstünden. Diese christliche und hellenistische Sakramentenmystik werde direkt von den ethisch-sozialen Religionen adaptiert und avanciere zur „Form der universalen Religion“³⁶³ ohne jedoch rationale Aufklärung und kulturelle Formung zu durchlaufen. Es werde ein direkter sakramentaler Zugang zum Göttlichen durch die Herstellung eines Identitätsverhältnisses erstrebt. Entscheidend ist, dass die von Tillich erstrebte ideale Syn-
EN, Bd. XII, S. 504.
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these also zum einen aus der christlichen und hellenistischen Sakramentenmystik generiert wird. Der „Bruch“ der zweiten Linie bestehe darin, dass keine direkte Einswerdung mit den göttlichen Mächten erstrebt werde, sondern sich der Zugang zum Heiligen über ein Medium gestalte. Einmal sei es das logisch-rationale Denkkonstrukt, der erkenntnistheoretische Zugang zum Unbedingten (Tillich führt Aristoteles, die Stoa, den Epikuräismus, die Eleaten als Beispiele auf), das andere Mal werde das Unbedingte in ästhetischen Formen wie Halbgöttern und mythologischen Anschauungsformen dargestellt und so dem Bewusstsein vermittelt. Diese ästhetische Form der Mysterien wird von Tillich primär mit den Göttern Homers in Verbindung gebracht, die von ihm als „poetische Formen“ interpretiert werden. Ihr grauenerregender und erschaudernder Gehalt sei durch ihre Funktion als „Träger von Kulturideen“ gewichen, zudem seien sie „durch diese vollkommene [ästhetische] Formung naturgemäß vollkommen in die menschliche Sphäre herabgezogen“, weshalb Tillich sie auch als letztlich „unfrommste“ Haltung interpretiert.³⁶⁴ Diese Ästhetisierung des Unbedingtheitserlebnisses, die Tillich in den Göttern Homers repräsentiert sieht, führen dabei „aus der Religionsgeschichte heraus[…], indem die Form autonom wird […]“. Denn die Ästhetisierung ist bei Tillich stets dadurch gekennzeichnet, dass sie „bei dem Einzelding festhält und seiner Einzelform, während die Mystik jede Form überholen will […].“³⁶⁵ Die Homerischen Götter repräsentieren als diese leeren kulturellen, „poetischen Formen nur noch einen „rationalen Zustand des Bewusstseins“. Damit sind sie aber Kulturformen wie jede andere auch, die nicht notwendig religiösen Gehalt transportieren müssen. Auch die rationale Richtung könne die Unbedingtheitsdimension verlassen, wenn „[…] das rationale Element überhand gewinnt und [sich] in Stoa und Epikuräismus zu einer rationalistisch-moralistischen Frömmigkeit [entwickelt] […].“³⁶⁶ Weiterhin entscheidend ist, dass beide oben skizzierten Linien – sowohl der Zugang zum Unbedingten über logisch-rationale als auch über ästhetische Formung – trotz Verlust des unmittelbaren Gehaltserlebens – sich nach Tillich wieder zu neuen Formen der Mystik erheben und damit das Gehaltserlebnis zwar nicht mehr mittels eines direkten, wohl aber eines vermittelten Zugangs erstrebt werde: Der Weg über die Ästhetisierung (Beispiel Götter Homers) führe laut Tillich wiederum zur abstrakten Mystik, während die rationale Mystik (Beispiel Aristoteles)
A.a.O., S. 498. EN, Bd. XIII, S. 195. EN, Bd. XII, S. 494.
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gemeinsam mit der ursprünglichen Sakramentenmystik in die Ethik einfließen und gemeinsam in Richtung der idealen Synthese tendieren würden. Auf dem Boden der unfrommen, ästhetischen Haltung können deshalb spekulative, gehaltsbezogene Gegenströmungen erwachsen, da der Prozess des Ablösens des Ästhetischen in Verkörperung der Homerischen Götter wiederum jenen „rationalen Zustand des Bewusstseins“ darstelle (und damit eine inhaltliche Leere), an den die Gnosis als kultischer Mystik anschließen könne. Diese finde dann wiederum Eingang in die christliche Trinitätslehre. ³⁶⁷ Die rein logisch-rationale Richtung kann das, da die Systeme der griechischen Philosophen wiederum im Prinzip der reinen Identität münden würden: Als Beispiele für die logisch-rationale Formung führt Tillich die Aristotelische Lehre samt ihrem erkenntnistheoretischen Zugang zum Unbedingten sowie die Lehre der Eleaten auf, die „auf naturphilosophischer Basis zum Prinzip der Identität gelangt waren“ und „dieses Prinzip dann als erkenntnistheoretisches, namentlich von Aristoteles, erkannt wurde in der νόησις νοήσεως, die ihm zugleich das ethische Prinzip der höchsten der Tugenden, der noetischen, wurde: die Versenkung in die reine Identität.“³⁶⁸ In Plotin sieht Tillich den Gipfel sowie die Grenze der abendländischen Mystik gegeben, da auch hier die Form der Bewusstheit noch wesentlich Bestand habe, weshalb die sich auf dem Boden der griechischen Philosophie etablierende Mystik stets noch der Formung verhaftet bleibe und auch die ekstatische Erhöhung des Bewusstseins über die gegebenen Formen der Welt und des Seins noch Formung bzw. „konkrete Philosophie“ sei. Die plotinische Mystik wird von Tillich auch als abstrakte Mystik charakterisiert, indem sie von jeglichem Sakramentalismus entbunden sei, der für die erste Linie der mystischen Richtungen charakteristisch war. Als Resultat des Rationalisierungsprozesses im Sinne einer erkenntnistheoretischen Durchdringung des religiösen Prinzips sei die abstrakte Mystik jedoch frei von jeglichen kultisch-soziologischen Einflüssen. Die plotinische Philosophie, die eine abgestufte, hierarchische Ordnung der ontologischen Wesenheiten konstruiert, sieht in dem Einen das schlechthin Seiende verkörpert, welches gleichsam bestimmungslos ist. Denn jede Form von Bestimmung würde eine Differenzierung und damit eine Nicht-Einheit bedeuten. Folglich ist das Eine weder seiend noch nicht-seiend, sondern steht jenseits aller Begrifflichkeiten. Indem es unbestimmt bleibt, ist jedoch auch nichts Positives über es auszusagen. „Der religiöse Wille kann sich bei keiner Form begnügen, er
A.a.O., S. 498. Ebd.
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will die Unbedingtheit als reinen Gehalt; er kann ihn aber nur fassen als Negation aller Formen.“³⁶⁹ Durch Emanation ergießt sich dieses Eine in die niederen Seinssphären und schließlich auch in die sinnlich-materielle Welt, die dadurch Anteil an ihm erhalten kann. Die „Wirklichkeit [ist dabei] ein Abglanz des Einen in Stufen, die immer weiter nach unten führen.“³⁷⁰ Dabei bleibt das Eine unveränderlich in seiner Souveränität bestehen, ohne selbst in etwas anderes überzugehen.³⁷¹ Das Absolute ist nicht als ein Seiendes bestimmt, sondern es ist das Überseiende. Als Überseiendes ist es jedoch das „über jede Form Erhabene.“³⁷² Indem das Eine als Quelle des Seienden fungiert, ist es dem Seienden gegenüber unabhängig und bedarf desselben nicht. Das Eine und das Seiende stehen so in Beziehung, dass die Vielheit (als Inbegriff des Seienden) nicht als im Einen enthalten gedacht wird, sondern „durch die Überfülle seiner Vollkommenheit als das Geringere gefaßt“ wird. Die Emanation der Dinge respektive Vielheit aus dem Einen ist also „nicht wesensnotwendig […] sondern als ein [hinzukommender] Überfluß“ zu denken.³⁷³ Der Zusammenhang von Einem respektive Absolutem, den Dingen, dem Geist und der Seele ist der, dass der Geist (das νους) als erste Schöpfung aus dem Einen infolge eines Selbstunterscheidungsprozesses des Absoluten hervorgeht. An ihm nimmt die Seele Anteil, die gleichsam als Vermittlerin zwischen νους und Materie, der intelligiblern und sinnlichen Welt fungiert. Der νους als die Ideenwelt ist gegenüber dem Absoluten zwar „[…] geringer, […] weil sie die ετερότης, das Anderssein in sich trägt“, gleichzeitig wird in ihm die „wahre Welt gegenüber der Sinnenwelt“ repräsentiert.³⁷⁴ Im Gegensatz zur platonischen Ideenlehre, durch die die materiellen Dinge lediglich Erscheinungen respektive Abbilder der Ideen sind, vertritt Plotin die Ansicht, „daß die Ideen im Geist sind“ und in ihm gleichsam das „Princip der Wahrheit“ enthalten ist, nicht in einer äußeren Realität, die nur in einem Abbildverhätlnis zum Subjekt steht.³⁷⁵ Die Seele des Menschen wurzelt im νους und bildet die Vermittlerin zwischen ihm und der Materie, der sinnlichen Welt. Der Mensch hat also über seine Seele direkten Anteil an der Wahrheit. Vollkommen ist die Seele in ihrer dem Geist zugewandten Sinne, „ihre der Materie zugewandte Seite ist φσις“³⁷⁶. Bezeichnend für Plotin ist die Unmöglichkeit, weder das Eine, noch die Materie respektive die
EN, Bd. XIII, S. 189. A.a.O., S. 190. Vgl. EN, Bd. XII, S. 505. EN, Bd. XIII, S. 189. A.a.O., S. 190. A.a.O., S. 190. Ebd. Ebd.
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Dinge vollkommen erkennen zu können. Sie besitzen eine Tiefe, die sich jeder menschlichen Erkenntnisfähigkeit entzieht und folglich irrational bleiben muss. Tillich betont die Nähe der abendländischen Mystik zur Religion des Paradox’, indem das Emanationssystem „eine charakteristische Begrenzung der mystischen Unbedingtheit“³⁷⁷ darstelle, insofern als zwar ein Gradunterschied der Unbedingtheit zwischen dem Höchsten und dem weniger Hohen besteht, aufgrund der Vorstellung eines Ausflusses der Unbedingtheit in das Niedere jedoch auch die niederen Formen mit Gehalt erfüllt vorgestellt werden. Dadurch wird die mystische Unbedingtheit insofern begrenzt, als sie nicht mehr allein dem Höheren zugesprochen wird. Unbedingtheit ist nicht mehr nur Qualität des Überseienden, sondern auch im Niederen, im Geschöpf gegenwärtig. Die Nähe zur Religion des Paradox’ besteht also in dem Sinn „[…] in jeder Form den unbedingten Gehalt zu erleben.“³⁷⁸ Für die abendländische Mystik sei kennzeichnend, dass der Emanationsprozess einem geistigen, erkenntnistheoretischen Abstraktionsprozess nachgeordnet sei, die Abstraktion also gegenüber der mystischen Einheit Priorität habe.³⁷⁹ Insofern kann Tillich zu dem Urteil gelangen, dass das „mystische Prinzip […] die letzte sich selbst übersteigende Abstraktion der Welterkenntnis“ ist und damit „zugleich das Weltprincip […] in allen Dingen real ist und ihnen Realität gibt.“³⁸⁰ Bedeutsam für diesen Zugang zum Unbedingten ist die Formung insofern, als Abstraktion stets bedeutet, dass vom Konkreten ausgehend das Bedingte gedanklich, also erkenntnistheoretisch durchdrungen wird und von ihm auf Gott als die höchste Idee, Welteinheit, Weltkausalität etc. geschlossen wird. Aus diesen höchsten Begriffen wird im Umkehrschluss dann das Bedingte in Abhängigkeit vom Absoluten als Ergebnis eines Emanationsprozesses gedacht. All diese Vorstellungen ereignen sich jedoch stets im Bewusstsein und also in der Form und werden vom Denken generiert. Das macht ihre Realität aus. Da die logisch-rationale und ästhetische Form also nie ganz losgelöst ist von der Unbedingtheitsdimension und immer wieder in neuem Gehaltserleben münde, kann Tillich auch die logisch-ästhetische Religion als „Wurzel des Mystischen“³⁸¹ überhaupt beschreiben. Hier zeigt sich die Kraft des Mystischen sowohl auf logisch-rationalem als auch auf ästhetischem Boden (in Abkoppelung des unbedingten Gehaltserlebens) zu neuen Unbedingtheitserfahrungen durch-
EN, Bd. XII, S. 506. Ebd. Dies gilt allerdings – und darauf macht Tillich hier nicht aufmerksam – für die abendländische Mystik überhaupt. EN, Bd. XII, S. 507. Ebd.
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zudringen und sich so stets aus profanen Formungen durch neue Schöpferkraft zu entfalten. Deshalb wird das griechische Denken (und nicht nur die indische Mystik) von Tillich sowohl in seiner primitiven Volksfrömmigkeit als auch in Form der griechischen Philosophie, dem „Gehaltstypus“ zugeordnet.
2.4.3 Die griechische Volksfrömmigkeit und die sakramentale Mystik Die Formen, die aus der griechischen Volksfrömmigkeit entspringen, werden von Tillich als sakramentale Mystik bezeichnet. Diese geht nicht den Weg über die rationale oder ästhetische Formung, weshalb Mysterien, die auf dieser Linie erwachsen, stets einen direkten, unmittelbaren Zugang zum Göttlichen mittels bestimmter Medien (z. B. dem Somagetränk oder Opferdarbietungen) erstreben. Auf dieser Linie bilden sich die sogenannten „Mysterienvereine“, die aus religiösen Gemeinschaften exklusiver Art bestehen, in denen sich bestimmte Formen der biologischen Volksfrömmigkeit etabliert haben. Tillich ist es vor allem daran gelegen, typisch religiöse Eigenschaften hervorzuheben, die diese Mysterienvereine kennzeichnen, ohne auf historische Divergenzen und spezifische Ausprägungen einzugehen. Bedeutsam ist, dass nach Tillich von Mystik im eigentlichen und voll entfalteten Sinne erst dann gesprochen werden kann, „wenn es eine freie Gemeinschaft ist, zu der jeder einzelne kommen kann […] und die eine religiöse Lebensgemeinschaft darstellt, in der also der Zweck nicht außerreligiös ist, auch nicht religiös im Sinne eines Standes, sondern allgemein religiös, auf das Leben selbst bezogen und darum unbegrenzt.“³⁸² Das Sakramentale wird von Tillich als Wesen der Mysterien bezeichnet, da es danach strebt, das reine Gehaltserlebnis über einen medialen Zugang zum Göttlichen in Form von besonderen Rauschzuständen bewusstseinserweiternder Art zu fassen. Es soll an dieser Stelle nicht näher erläutert werden, da dies bereits in der Charakterisierung der primitiven Kulturreligion geschehen ist. Tillich beobachtet in den auf das reine Gehaltserlebnis zielenden Mysterien trotz aller transzendierenden, formdurchbrechenden Elemente trotzdem formende Momente, die es möglich machen, ethische Elemente aufzunehmen. In vielen griechischen Mysterien sei „das Wertvolle […] nicht sowohl das reine Gehaltserlebnis, das in ihnen angeschaut wird, sondern vielmehr die Form, in der es geschieht […].“³⁸³ Als Beispiel führt er das Leidens- und Todesmotiv in vielen Mysterien auf (Tillich nennt beispielhaft die Eleusinischen Mysterien Kore oder Persephone sowie Orpheus und Dionysos, den Isis-Orsis-
A.a.O., S. 500. A.a.O., S. 503.
2.4 Die philosophisch-ästhetischen Kulturreligionen
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sowie Kybele-Attis-Dienst und den Ischtar-Adonis-Kult), die eine gewisse Stimmung der „Kulturnegativität“ und „Lebensnegativität“ besitzen.³⁸⁴ Diese lebensverneinende Haltung wird jedoch von Tillich ebenfalls als „Kulturformung“ bezeichnet.³⁸⁵ Wenn Tillich schreibt, dass das Entscheidende nicht das Gehaltserlebnis, sondern die Form ist, so rekurriert er dabei auf die Bedeutung der Leidens- und Sterbensmotive, die in den Mysterien und im Symbol des geopferten Gottes gegenwärtig sind. Hier finden sich bereits durchaus christliche Motive, die in dem Sterben eines von einer anderen Gottheit abhängigen Gottes repräsentiert sind, der durch seine besondere Beziehung zu dem höheren Gott wieder lebendig wird. Das Opfer des Gottes führt auch hier zur Unsterblichkeit. Im Vordergrund steht also die Form des Opfertodes, durch welchen die mystische Beziehung und die Teilnahme an der Unsterblichkeit vollzogen werden. Entscheidendes Charakteristikum der Askese ist dann nicht mehr ihr Bewirken eines ekstatischen Zustandes, sondern sie wird in den Ritus integriert und damit zur ethischen Norm entwickelt. Da die Mysterien aufgrund ihres esoterischen Charakters im Gegensatz zu den ethischen Religionen nicht über die Kraft verfügen, zur universalen Religion zu avancieren und ihnen „als solche die exklusive Kraft“³⁸⁶ fehlt, die für die ethischen Religionen entscheidend ist, teilt sich die Entwicklung der Mysterien in zwei Richtungen auf: einerseits verliert sich das „spezifisch Mysterienmäßige“, indem sich ein „öffentlicher sakramentaler Kult“ etabliert, anderseits entsteht das Mönchstum als die spezifisch mystische Sphäre mit esoterischem Charakter.³⁸⁷ Das Mysterienwesen auf Seite der logisch-ästhetischen Religionen würde jedoch nicht zu jenem öffentlichen Kult avancieren, da dieses stets einem esoterischen Charakter verhaftet bleibe. Allerdings würden sich laut Tillich auch auf Seite der ethischen Religion mystische Ausprägungen bilden, die dann als Mysterien in den öffentlich sakramentalen Kult einfließen und damit die „Form der universalen Religion“³⁸⁸ bilden würden. Tillich interpretiert die Mysterien als Wegbahner der Gnadenreligion, indem sie sich aus der biologischen Volksreligion herauslösen und ethische Elemente aufnehmen. Diesen Prozess führt Tillich letztlich auch als die „Grenze der abendländischen Mystik überhaupt [auf]: Es gelingt ihr nie, in dem Maße die Form zu zerbrechen, wie es im Morgenlande möglich ist.“³⁸⁹
Ebd. Ebd. A.a.O., S. 504. Ebd. Ebd. A.a.O., S. 505.
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Die indische Mystik wird von Tillich hingegen auch als die reine Mystik beschrieben, da sie nicht den Weg über die kulturelle Formung und die mit ihr einhergehende Rationalisierung und Ästhetisierung eingeschlagen, sondern sich direkt aus der sakramentalen Volksfrömmigkeit erhoben hat und deshalb immer „in der Sphäre des Religiösen geblieben“³⁹⁰ ist. Die indische Spekulation ist dabei nicht an den Formen der Wirklichkeit interessiert, „sondern sie ist a priori ein Durchbrechen dieser Formen, ein Durchdringen zum Gehalt.“³⁹¹ Der Emanationsgedanke steht dem Inder fern, da er selbst wiederum der Form verhaftet ist, indem dem Gedanken des Ausgießens aus der göttlichen Fülle ein Hypostasierungs- und Objektivierungsprozess vorangehen muss, der die höchsten Formen erst begrifflich formuliert. Das Göttliche muss erst erkenntnistheoretisch als das Höchste per Objektivation hergeleitet werden, aus dem sich dann das Bedingte ergießen kann. Der Brahmanismus hingegen basiert nicht auf einer erkenntnistheoretischen Durchdringung der Wirklichkeit, sondern er ist „[a]us der biologischen Mystik des Opferspruchs“³⁹² hervorgegangen. Die Religion gründet sich also nicht auf rationalen Gedanken über Gott, Welt und Sein, sondern am Anfang steht „ein Wissen vom Opfer, ein kultisches Offenbarungswissen. Dieses ist von dem Urgott Prajapati als erstes geschaffen“³⁹³ und geht deshalb als eine Art Urwissen allem voraus. Der Brahmanismus geht von einer Identität von Selbst und Welt bzw. Gott aus, indem das Atman als das „unvergängliche[….] Prinzip des eigenen Ich“ mit dem „Brahman-Prinzip“ identifiziert wird.³⁹⁴ Insofern steht der Brahmanismus der zuvor beschriebenen vedischen Religion sehr nahe. Die Wirklichkeit wird nicht gedacht als eine dem Menschen gegenüberstehende Realität, sondern sie besteht aus einer allumfassenden Identität von Gott und Mensch. Diese Einheit hat keinen Bruch durch die Selbstbehauptung des Denkens gegenüber dem Sein erfahren. Gleichzeitig ist dieses Offenbarungswissen um die Einheit zwischen Atman und Brahman „keine diskursive Erkenntnis. Sie kann nicht gelehrt, sie kann höchstens vom Lehrer gezeigt werden, aber auch nur bis zu einem gewissen Grade.“³⁹⁵ Die Erleuchtung ist eine jedes Individuum selbst betreffende Angelegenheit, eine spirituelle Erhöhung, die nur auf Gnadenwirkung beruht und durch „Askese und Versenkungspraxis“³⁹⁶ vorbereitet, jedoch nicht unmittelbar erwirkt werden kann.
A.a.O., S. 507. Ebd. Ebd. Ebd. A.a.O., S. 508. Ebd. Ebd.
2.4 Die philosophisch-ästhetischen Kulturreligionen
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Den Unterschied zwischen indischem Brahmanismus und griechisch-hellenischer neuplatonischer Mystik sieht Tillich vor allem in der Stellung des Bewusstseins zur göttlichen Macht gegeben, in „Ekstase und Versenkung“. Beiden Methoden gemeinsam ist das Ziel, das menschliche Bewusstsein mit der göttlichen Sphäre zu verbinden, während die Richtung auf das Unbedingte in beiden Formen divergierend ist: Während das ekstatische Bewusstsein aus sich heraustritt, um in einer transzendenten Ebene mit der göttlichen Macht zu verschmelzen, wird im Zustand der Selbstversenkung das Göttliche im eigenen Selbst gefunden, wobei der Mystiker dabei in völlige Innerlichkeit versinkt. Beide Methoden der Einswerdung mit dem Unbedingten werden von Tillich als mystisch beschrieben. Der Zustand der Versunkenheit ist jedoch ein sehr viel statischeres und perennierenderes Erlebnis als das dynamische Streben des Bewusstseins nach einem Höheren. Es ist dieses auch bei den Veden charakteristisch, dass das mythenschaffende Bewusstsein durch seine gesteigerte Phantasie Gott nicht konstruiert. Vielmehr gilt dort die Vorstellung, dass durch das Bewusstsein tatsächlich Göttliches verwirklicht und im eigenen Selbst angefunden wird. Diese Potenzierungen werden schließlich veräußerlicht und gehen so in die Realität ein. Tillich sieht die Gefahr der Dämonisierung innerhalb der indischen Mystik dort gegeben, wo „das reine Gehaltserlebnis gleichgesetzt wird mit dem Leben in einem höheren Bewusstseinszustand, der nun selbst wieder materialisiert wird.“³⁹⁷ Tillich grenzt diese Verabsolutierung eines endlichen Bewusstseins gegenüber echter Mystik als spiritualistisch ab.Während die Mystik also jede spirituelle wie materielle Form zu durchbrechen sucht, um den reinen Gehalt zu finden, bleibt Spiritualismus der Form verhaftet, indem „das reine Gehaltserlebnis verwechsel[t] [wird] mit dem Leben in einer Form“³⁹⁸. Nach Tillich ist auch die indische Mystik, die im Spirituellen eine „übersinnliche Bewusstseinsschicht“ zu erreichen strebt, noch formverhaftet, indem der höhere Bewusstseinszustand, in den der Mystiker versinkt, „nun selbst wieder materialisiert wird.“³⁹⁹ Der Formbezug liegt in der Versenkung in das eigene Ich, die eigene Innerlichkeit, die doch auch wieder geformt ist, indem sie der Form der Endlichkeit (dem eigenen Ich) anhaftet.Wahre Mystik ist nach Tillich also erst in der Ekstase enthalten, die über die Form hinausgeht, indem „durch das Einswerden mit dem Überseienden alle logische und psychologische Form“ überstiegen wird.⁴⁰⁰
A.a.O., S. 509. Ebd. Als Beispiel für einen Spiritualismus führt Tillich die theosophische Bewegung auf. Ebd. Ebd.
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2 Die geschichtsphilosophische Entfaltung des Wahrheitsbegriffs
Insgesamt werden die Mysterien von Tillich als „Übergangserscheinungen“ bezeichnet, die mithilfe der Kulturentwicklung und der Aufnahme von ethischen Elementen die Formen für die Religion der Gnade schaffen. Das Sakramentale bleibe dabei stets die biologische Basis, selbst „in ihrer mystischen Auflösung“⁴⁰¹. In der Dresdner Dogmatik-Vorlesung wird das Griechentum von Tillich wiederum von der vollkommenen Offenbarung aus als Vorbereitungsperiode gedeutet und folglich unter zwei Gesichtspunkten betrachtet: „[E]inerseits als Ausdruck der Wesenhaftigkeit des Unbedingten, andererseits als Losreißung vom tragenden Unbedingten, einerseits als Entdämonisierung, andererseits als Entgöttlichung und verhüllte Widerkehr des Dämonischen.“⁴⁰² Die Beurteilung der Profanität wird also von der vollkommenen Offenbarung aus dualistisch betrachtet: sie gilt als Ausdruck der Wesenhaftigkeit, indem auch die kulturellen, profanen Formen von Tillich als im Unbedingten fundiert gedacht werden. Sie seien substantiell, aber nicht intentional religiös. Der Profanität komme zudem die Funktion einer antidämonischen Kritik zu, da sie sich gegen die heteronome Gesetzeshaftigkeit des Religiösen erhebe und damit das verkehrte Verhältnis des Menschen zum Religiösen aufdecke. Andererseits könne auch auf dem Boden der Profanität das wesentliche Verhältnis zwischen Gott und Mensch depraviert werden, indem den kulturellen, profanen Formen Unbedingtheit zugesprochen wird. Bereits in der Religionsphilosophie hat Tillich das Griechentum als letztlich areligiöse Haltung charakterisiert. Zwar wurde gezeigt, dass die griechischen Mysterien auf einer sakramental-biologischen Volksreligion erwachsen sind, sich jedoch in zwei konträre Richtungen aufspalten ließen, indem sie einerseits einer rational-logischen und andererseits einer ästhetischen Entwicklung folgten. Wenn Tillich das Griechentum als profan bezeichnet, hat er dabei wohl hauptsächlich die homerischen Göttergestalten im Sinn, die er als „poetische Formen“ interpretiert und als „unfrommste Haltung“ bezeichnet. Sie werden von ihm lediglich als Kulturträger verstanden, deren ekstatischer Gehalt zugunsten ihrer repräsentativ-kulturellen Funktion vollends gewichen sei. Mit dem Standpunkt der Profanität korrespondiert gleichsam die Haltung der Religionsphilosophie, indem diese ebenfalls „von der Situation der Profanität ausgeht, aber so, daß in dieser Situation der Punkt aufgewiesen wird, wo die in sich ruhende Endlichkeit der Profanität gebrochen ist.“ Auch die Religionsphilosophie hat also ihren Ausgang in der „autonomen, profanen Geisteslage […] und [die Aufgabe,] den Punkt aufzuzeigen, wo diese in sich erschüttert ist und über
GW, Bd. I, S. 343. EN, Bd. XIV, S. 286.
2.4 Die philosophisch-ästhetischen Kulturreligionen
299
sich hinausweist.“⁴⁰³ Insofern als Tillich das Griechentum als die profane Haltung gegenüber dem Unbedingten bezeichnet, sieht er sie als Vorbereitung der vollkommenen Offenbarung bzw. der Religion des Paradox’ an, indem sie an den Punkt führe, an welchem durch die Verzweiflung am Sinn die Frage nach einem Jenseits aller Wirklichkeit erwachse. Im Gegensatz zur sakramentalen Geisteshaltung werden die Dinge in der Sphäre der Profanität um ihrer selbst willen angeschaut. Sie repräsentieren keinen hinter ihr stehenden Gehalt, weisen damit auch nicht über sich hinaus, sondern Profanität bedeutet „Erfassung der Dinge in ihrer reinen Form.“⁴⁰⁴ Erst sie „[…] gibt den Dingen den eigentlichen Dingcharakter, den Charakter des bloß Bedingten.“⁴⁰⁵ Die Formen sind gleichsam erfasst in ihrer je eigenen Dynamik. „Es kommt zur Erfassung ihrer eigenen Struktur und der Gesetze ihres Zusammenhanges […]“⁴⁰⁶. Insofern als die Dinge in ihrer autonomen Form erscheinen, können sie sich dem Unbedingten als gegenüberstehend konstituieren. In ihrer Totalität repräsentieren sie die „Welt“, die diesseitige, gegenüber der transzendenten Sphäre. Die griechische Kultur wird von Tillich als absolute und reine Realisierung der profanen Geistessphäre verstanden, „durch die Griechen in Philosophie, Kunst und Sozialordnung durchgeführt“⁴⁰⁷. Während in unserer Geistesgeschichte nur Ansätze der profanen Geisteshaltung zu finden seien, sei die Profanität im Griechentum in Reinform durchgeführt. Insofern als sich andere geistesgeschichtliche Entwicklungen als sehr viel religiöser und eben nur im Ansatz profan darstellen, stehe „die Erscheinung des Griechentums und der von ihr abhängigen Entwicklung […] im Gegensatz zur menschlichen Gesamthaltung.“⁴⁰⁸ Tillich ist sehr darauf bedacht, die Begriffe Heidentum und Griechentum streng voneinander zu trennen. So sei „Heidentum, Paganismus […] ursprünglich ländlicher Rest altsakramentaler Haltung“⁴⁰⁹. Diese Geistessphäre sei also durchaus als religiös zu kennzeichnen, insofern als auch im Heidentum die Vorstellung von Göttern, jedoch polytheistisch konzipiert, vorherrschend sei. Im Gegensatz zur Barthschen Theologie erkennt Tillich die „Würde der Autonomie“ an, da mit der Profanität gleichzeitig eine Entdämonisierung einhergehe, die mit der Verneinung des Sakramentalen gegeben sei. Das Autonome an sich wird von Tillich in das Unbedingte mit aufgenommen, indem er jede Form als Inbegriff und Hinweis auf
A.a.O., S. 287. Ebd. Ebd. A.a.O., S. 288. Ebd. Ebd. A.a.O., S. 289.
300
2 Die geschichtsphilosophische Entfaltung des Wahrheitsbegriffs
die Wesenhaftigkeit, auf das Unbedingt-Seiende ansieht, welches auch die bedingten Formen trage. Die Gefahr besteht allerdings in der einseitigen Loslösung vom Unbedingten als der Etablierung einer „Welt in sich ruhender Endlichkeit“, in der „die Tiefe überhaupt verloren geht.“⁴¹⁰ Diese Haltung ist bedingt durch das Stehen des Menschen in der Wesenswidrigkeit, in welcher er sich selbst und die bedingten Formen aktualisiert, ohne auf deren Tiefe zu achten und deren Kennzeichen die „Selbstliebe“ und folglich eine Loslösung von der Wesenhaftigkeit darstelle. „Das hat weiter zur Folge, daß die erfaßten Formen in den Dienst der Selbstheit, der Begierde und Hybris gestellt [werden], daß die Formen, die Ausdruck der Getragenheit vom Unbedingten sind, zu Formen der Selbstheit werden.“⁴¹¹ Dämonische Züge trage das Profane durch Selbstverherrlichung bedingter Formen und Erhebung des Endlichen zu unbedingt Gültigem. „Die in sich ruhende Endlichkeit nimmt hintenherum, d. h. durch die Gültigkeit der Form hindurch Heiligkeit an: Nicht sakramentale, sondern autonome, profane Unbedingtheit und demgemäß dämonische Zerstörung.“⁴¹² Die erste Haltung gegenüber der Profanität aus der Position der vollkommenen Offenbarung bejaht diese vor dem Hintergrund ihrer entdämonisierenden Funktion, die hauptsächlich in der Ablehnung des Sakramentalismus besteht. Verneint wird die Sphäre der Profanität, „sofern sie ihrer Intention nach die Beziehung zum Unbedingten zerschneidet, der Wirklichkeit nach in neue Dämonien verfällt.“⁴¹³ Eine letzte Position gegenüber der Profanität erkennt diese vor dem Hintergrund an, „daß sie in sich Formen erfaßt, die über sie in ihrer Profanität hinausgehen, ohne doch dämonisch zu sein.“⁴¹⁴ Tillich weist darauf hin, dass es nicht möglich sei, dem Göttlichen zu entgehen, auch nicht in der rein profanen Geistessphäre. Als Beleg für seine These führt er die „religiös-metaphysischen Hintergründe der Profanität“⁴¹⁵ der griechischen Philosophie auf. Sowohl im Anfang, als auch am Ende bedürfe die griechische Philosophie eines Rekurses auf metaphysische Theorien, wodurch eine „Einwirkung sakramentaler Art auf das Profane gegeben“ sei.⁴¹⁶ Dämonien seien jedoch auf griechischem Boden geringer, hingegen stehen „die Auflösungstendenzen“⁴¹⁷ stärker im Vordergrund. Unter dem Gesichtspunt der Entdämonisierung könne das Griechentum, indem es die Würde der Autonomie
A.a.O., S. 290. A.a.O., S. 291. Ebd. A.a.O., S. 292. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
2.5 Die innere Unausgeglichenheit des Mönchstums
301
anerkennt, als Typus einer aufs Profane gerichteten Geisteshaltung von der vollkommenen Offenbarung aus als Vorbereitung der christlichen, letztgültigen Offenbarung aufgenommen und bejaht werden. Tillich scheint sich in der Dresdner-Dogmatik Vorlesung lediglich auf die durch Homer repräsentierten poetischen Gottheiten zu beziehen, wenn er das Griechentum als profane Geisteslage charakterisiert. Dabei bleibt die Mystik in ihrer griechischen Ausprägung jedoch unterbestimmt. In der Religionsphilosophie-Vorlesung hebt Tillich hingegen die Bedeutung der griechischen für die europäische Mystik hervor. Zudem habe sie „durch Verbreitung der hellenischen Kultur über die gesamten Mittelmeerländer die ägyptisch-semitischen Mysterien frei gemacht, sie hat die philosophische Mystik und die Formeln der gesamten christlichen Mystiker geschaffen […].“⁴¹⁸ Die griechische Religion wird in der Religionsphilosophie-Vorlesung dem Gehaltstypus zugeordnet – sie wird als „Wurzel des Mysterienwesens“⁴¹⁹ erachtet – und es wird gezeigt, wie auch die Rationalisierungs- und Ästhetisierungsprozesse, die die griechische Religion durchläuft, letztlich wieder in der abstrakten Mystik und Gnosis münden. Die Mysterienkulte etablierten sich laut Tillich als Gegenreaktion auf die Rationalisierung, die „in der Stoa zu einer rationalistisch-moralistischen Frömmigkeit führte“⁴²⁰.
2.5 Die innere Unausgeglichenheit des Mönchstums Das Mönchstum befindet sich in der Tillichschen Typologie auf der horizontalen Verbindungslinie zwischen den beiden Polen der mystischen und der ethischen Individualität und stellt diejenige Strömung dar, „in der das Religiöse um ihrer selbst willen unbedingt bejaht wird“⁴²¹, indem „Frömmigkeit das ausdrückliche Lebensprincip, der ganze Sinn ihres [der Mönche] Daseins sein soll“⁴²² und eine Synthese aus mystischen und ethischen Elementen erstrebt wird. Sie bildet den Punkt in Tillichs Religionstypologie, an dem „die gesamte Entwicklung in ihre Extreme angekommen ist“⁴²³. Es etablierte sich infolge einer Aufnahme der Mysterien von ethischen Elementen, wodurch ein öffentlich sakramentaler Kult entstanden sei, der dann immer weiter in Richtung der Religion der Gnade ten-
EN, Bd. XII, S. 494. A.a.O., S. 499. A.a.O., S. 504. A.a.O., S. 513. Ebd. A.a.O., S. 515.
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2 Die geschichtsphilosophische Entfaltung des Wahrheitsbegriffs
diert und das typisch Mystische verloren habe. Dieses „flüchtete sich in das Mönchstum, das aber zu einem eigenen Stand wurde […].“⁴²⁴ Bezeichnend für das Mönchstum sei die Verbindung der „Unbedingtheit des Ethischen mit dem Esoterismus des Mystischen“⁴²⁵. Seine Voraussetzung sei weiterhin die „Loslösung der Religion von dem biologisch-Kultischen einerseits, von dem rational-Kulturellen andererseits“⁴²⁶. Somit sei einerseits der primitiv-biologische Sakramentalismus überwunden und andererseits werde die Erfüllung des Religiösen nicht in der durch die Gesellschaft und den öffentlichen Kultus geprägten Religiosität gesehen, sondern diese ziehe sich in individueller Ausprägung in eine Sondersphäre zurück und grenze sich so von der Allgemeinheit ab. Das Primäre und der Ausganspunkt bleibe jedoch stets die Mystik, „und zwar die mit aller Mystik gegebene Asketik.“⁴²⁷ Tillich identifiziert zwei zueinander in Widerspruch stehende Formen der Asketik, die charakteristisch für zwei verschiedene Richtungen des Mönchstums seien. Die eine stammt aus der mystischen Richtung. In ihr kommt Askese ein auf mystische Vollendung zielender Charakter zu, der primär der Vorbereitung einer mystischen Einswerdung mittels Ekstatik und Versenkung diene. In der anderen Richtung wird das Asketische gemäßigt betrieben und ein ethisches Moment in die Mystik integriert. Die erste Richtung wird von Tillich als das orientalische, brahmanische bzw. quietistische Mönchstum beschrieben, die zweite Richtung als das franziskanisch-dominikanische Predigermönchstum und der Buddhismus in seiner ursprünglichen Form. In der von Buddha kritisierten, östlich-quietistischen Form wird eine radikale Askese betrieben, die den Menschen durch absolute Selbstentäußerung in einen Zustand der besonderen Gottesempfänglichkeit führt. Dem eher ethisch konzipierten Mönchstum sei es möglich, auch Laien, sog. Tertiarier, in ihren Orden aufzunehmen, wobei „die Unbedingtheit der Form zum Prinzip des Zusammenschlusses wird.“⁴²⁸ Das bedeutet, dass Askese zwar ein Moment der mystischen Vereinigung mit Gott bedeutet, jedoch, z. B. im Buddhismus nicht in absoluter Weltflüchtigkeit mündet, sondern stets durch die Vermeidung zweier Extreme – der „Hingabe an die Lüste, als auch der Hingabe an Selbstpeinigung“ – gekennzeichnet sei und folglich ein ausgewogenes Maß an asketischer Versenkung und Formgebundenheit vereine. Somit gebe es also Formen des Mönchtums, die der mystischen Seite näherstehen und Formen, die der ethischen Seite näherstehen, so z. B. die Franziskanermönche, die an der Eschatologie und dem Jenseitsglauben festhalten und gleichzeitig
A.a.O., S. 504. A.a.O., S. 512. A.a.O., S. 514. Ebd. Ebd.
2.5 Die innere Unausgeglichenheit des Mönchstums
303
das neue Sein als „Geistmitteilung“ verstehen, also mystisches und ethisches Moment als Einheit fassen. Das Mönchstum sei also, trotz dem Überwiegen der dessen Ursprung bildenden Mystik bereit, in sich auch ethische Elemente aufzunehmen und dadurch einer Synthese entgegenzustreben. Damit ist auch dessen innerer Widerspruch umrissen. Dieser bestehe darin, dass das Mönchstum einerseits esoterisch-mystisch veranlagt sei und dieses Moment einer Universalität entgegenstehe, gleichzeitig jedoch, aufgrund der Aufnahme ethischer Motive, eine Tendenz zur Institutionalisierung und ständischen Formung verfolge, wodurch es sozial fixiert und einer breiteren Masse zugänglich werde. So stellt sich die Mönchs-Sekten-Linie als Kulmination der Entwicklung in ihren Extremen dar und drängt am schärfsten auf eine Synthese und Auflösung der Widersprüche in der idealen Einheit von Form und Gehalt. Das Bestreben der Verknüpfung des „mystische[n] Individualismus […] mit der ethischen Unbedingtheit“⁴²⁹ und der gleichzeitigen Unzulänglichkeit auf mönchischem Boden eine Einheit zu erlangen, ist das bezeichnende Charakteristikum des Mönchstums und wird von Tillich als dessen „innere Unausgeglichenheit“⁴³⁰ verstanden. Denn um eine Einheit zu erstreben, müssen „diese Extreme selbst erst aus sich heraus überwunden sein […]“⁴³¹. Aufgrund des Dominierens des mystischen und des esoterischen Moments sei eine Erhebung zur Universalität der mönchischen Religion unmöglich.⁴³² Insgesamt sei auf dem Boden des Mönchstums entweder ein Rückfall in einseitige Formen des Religiösen zu beobachten oder sie führe weiter zu höheren Formen, die auf eine ideale Synthese drängen. Der Weg zur Religion des Paradox’ führt bei Tillich auf ethischer Seite über das Mönchstum zur Gnadenreligion, während auf mystischer Seite die „Bhakti-Frömmigkeit“ weiterführt zur „Mystik der Liebe“.
Ebd. A.a.O., S. 515. Ebd. Das Ineinander von ethischen und mystischen Elementen und den daraus resultierenden Widerspruch sieht Tillich vor allem im Buddhismus repräsentiert, in welchem das innerekstatische Ziel, das Erreichen des Nirvana, durch „ethische Vorschriften“ vorbereitet wird und dabei die „Fernhaltung von zwei Extremen sowohl der Hingabe an die Lüste, als auch der Hingabe an Selbstpeinigung“ (a.a.O., S. 516) im Zentrum steht. Die asketische Entsagung von allem Weltlichen schwingt hier nur hintergründig mit, im Vordergrund steht eine „rationale Ethik“ mit dem Zweck, „sich selbst zu erlösen aus dem Rad der Wiedergeburt“. (ebd.) Tillich interpretiert diese Überbetonung des Ethischen als einen „Rückfall in die Sphäre der Gesetzesreligion“ (ebd.)
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2 Die geschichtsphilosophische Entfaltung des Wahrheitsbegriffs
2.6 Die Religion des Paradox’ als ideale Synthese Tillich zeichnet ausgehend vom Mönchstum zwei Linien nach, die in der Religion des Paradox’ münden. Die mystische Linie, die ethische Motive aufnimmt, intendiere keine Einswerdung mit dem Göttlichen in Form einer Durchbrechung der Form, wie es für die primitiv-biologische Religion charakteristisch war, sondern eine Einswerdung mit dem Absoluten werde „im geistig-persönlichen Sinne“⁴³³ erstrebt. Hier führt Tillich wiederum die beiden möglichen Wege auf, die er bereits auf dem Boden der griechischen Religion erörtert hatte: die „kulturelle Linie“, die über die abstrakte Mystik Eingang in die europäische Kulturgeschichte findet und die „Mysterien-Linie“, die „das transcendente Wesen als Persönlichkeit auffaßt und […] auf Einswerdung beruht“⁴³⁴. Erstere wird von Tillich auch als „konkrete Mystik“ bezeichnet. Sie sei entstanden, indem sich aus der abstrakten Mystik unter Aufnahme von spekulativen und ästhetischen Momenten die philosophische Mystik etabliert habe. Als Beispiele führt Tillich Meister Eckhart, Nikolaus Cusanus, Giordano Bruno, Spinoza, Böhme, Baader und Schelling auf. Diese Linie der europäischen Mystik strebe also auf ethischer Seite zur vollkommenen Erfassung des Verhältnisses von Mystik und Ethik in der Religion des Paradox’. Sie sei dadurch gekennzeichnet, dass weniger die mystische Vereinigung im Sinne einer Verschmelzung mit Gott im Vordergrund stehe, als vielmehr Gott als transzendente Persönlichkeit vorstellig werde und eine Beziehung im Sinne einer Gemeinschaft erfolge, die das Moment der Unterscheidung und der Abgrenzung der eigenen Identität von der Souveränität Gottes wahre. Im Unterschied dazu, stehe auf der Mysterien-Linie – Tillich führt Beispielhaft die indische BhaktiMystik auf – der Wunsch nach Verschmelzung mit dem Unbedingten im Vordergrund, „die zum Teil bis zu einem Sich-Auflösen in Gott geht […]“⁴³⁵. Folglich würden in dieser Religion auch die sakramentalen Handlungen wegfallen, der Kult bestehe vielmehr in einer „persönlichen Anbetung und Verehrung“⁴³⁶ Gottes. Bezeichnend für diese Form der Mystik sei zudem ihr universaler Charakter, der in einer Öffnung des Kultus für alle Völker bestehe und als einziges Kriterium zur Aufnahme die persönliche Beziehung zu Gott avanciere. Im Mahajana-Buddhismus und Katholizismus sieht Tillich religiöse Momente aller zuvor aufgeführten Religionen vereinigt. Folglich sei hier das größte Potential gegeben, die ideale Religion zu repräsentieren. Diese sei jedoch aufgrund des Mangels eines inhaltlichen Kriteriums auch in den beiden Komplexreligionen
A.a.O, S. 517. A.a.O., S. 518. A.a.O., S. 519. Ebd.
2.6 Die Religion des Paradox’ als ideale Synthese
305
nicht vollkommen erreicht. Denn „[…] das Prinzip der Synthesis [sei kein] religiöses, sondern ein organisatorisches […].“⁴³⁷ Die Vereinigung verschiedener religiöser Formen beinhalte zwar religiöse Momente, jedoch sei die Einheit „nicht geboren aus der inhaltlich-religiösen, sondern aus einer formalen Konsequenz mehr theologischer Art, dem supranaturalen Offenbarungsgedanken.“⁴³⁸ Da die in den beiden komplexen Religionen vereinigten Elemente folglich aus einer Synthese „organisatorisch-ritueller Art“⁴³⁹ erwachsen seien und nicht aus einer inhaltlichen Einsicht in das die Wahrheit einer Religion begründende Prinzip, widerspricht ihr loser Zusammenschluss vielzähliger religiöser Elemente der Tillichschen Vorstellung einer Idealreligion. Als ideale Synthese und gleichsam als Endpunkt der Typologie führt Tillich die im unendlichen liegende Religion des Paradox’ auf, die nicht nur alle religiösen Elemente in sich vereinigt, sondern sie auflöst zugunsten einer paradoxen Bejahung und Verneinung der bedingten Formen. In der idealen Religion wird das Gehaltserlebnis durch jede Form erfasst. Durch diese Definition ist gleichsam eine Einheit von Kultur und Religion erzielt, indem eine spezifisch religiöse, heteronome Sphäre abgelehnt wird und vielmehr davon ausgegangen wird, dass in Bezug auf die Erlebnisfunktion keine Form einen Vorrang gegenüber einer anderen besitzt, sondern jede bedingte Form den religiösen Gehalt prinzipiell transparent machen kann. Sowohl die ethische als auch die mystische und die primitiv-biologische Linie, die sich als Kultlinie fortentwickelt, münden in der Religion des Paradox’. Von Seiten der ethischen Linie erfährt das unbedingte Formprinzip in der Religion der Gnade eine Integration des mystischen Elements, indem „das unbedingte Gelten der Form durch ein ekstatisches Gehaltserlebnis unterbaut“⁴⁴⁰ wird. Andersherum nimmt auch die Mystik ethische Momente in sich auf, die nun primär der Vorbereitung der Askese dienen und zu einem Ritualismus avancieren, der dann zur Voraussetzung der Askese wird und damit eine ethische Pflicht bzw. Norm bildet. Auch die Linie, die im Primitiv-Biologi-
A.a.O., S. 521. Ebd. Vgl. A.a.O., S. 520: Tillich zählt sämtliche religiöse Eigenschaften der komplexen Religionen auf, die in ihnen zu einer Einheit zusammengeschlossen sind. Dazu zählen z. B. „sämtliche Formen des primitiven biologischen Lebens: heilige Gegenstände, die mit religiöser Kraft geladen sind […]. Wir haben einen staatlich unterstützten öffentlichen Kult mit Priesterschaft und Opfer, mit sakramentaler Reinigung und Weihe; wie haben auch den Sakramentalismus der Mysterien, das Einswerden mit dem Gott im Essen seines Lebens. Wir haben darüber einen logischen Ritualismus mit höchst kompliciertem Dogmensystem […] alle Formen der Mystik […] das heilige Kirchenrecht und die Gesetzesethik, die endlose Eschatologie […] die Gnadenreligion und die Mystik der Liebe.“ A.a.O., S. 522.
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schen ihren Ursprung nimmt und sich als sakramentale Kultlinie fortentwickelt, formt sich im Laufe der Entwicklung vom Unpersönlichen, zur anthropomorphen Gottesvorstellung, die in einer persönlichen Begegnung mit dem Unbedingten gründet. Das bedeutet, dass das im Sakramentalismus der primitiv-biologischen Kulturreligion noch abstrakt oder naturalistisch gedachte Unbedingte, sich im Fortgang der Religionsgeschichte zu einer personal gedachten Gottheit entwickelt. In der primitiv-biologischen Religion hingegen, in der zwischen der Sphäre des Subjektiven, des Ich-Bewusstseins und der göttlichen Sphäre keine Trennung gezogen wird, ist das Bewusstsein noch indifferent gegen die Spaltung des Heiligen in göttlich und dämonisch. Tillich konstatiert: „Während in dem indifferentreligiösen Bewußtsein das Dämonische und das Göttliche, die Negativität des Abgrundes und des unbedingten Sinngrundes identisch sind, kämpft in dem zwiespältig gewordenen Bewußtsein der Gott, der Träger des Sinnes ist, gegen den Gott, der Träger des Sinnwidrigen ist.“⁴⁴¹ Mit der höheren Entwicklung, die letztlich auch Voraussetzung und Bedingung der Religion des Paradox’ bildet, wird aufgrund der „Bejahung des Persönlichen und Sozialen von der Religion her […] die heilige indifferente Form in ihrem sinnwidrigen Charakter offenbart und […] als dämonisch gekennzeichnet.“⁴⁴² Erst durch die Trennung der Bewusstseinssphären des Ich und des Du, des Menschlichen und Göttlichen, des Wesenhaften und Natürlichen, kurz, der Entwicklung der formal-operationalen Denkfähigkeit des Individuums, welches sich selbst in Abgrenzung zu anderem wahrnimmt und sein Sein mittels abstrakter, nicht nur konkret vorstellbarer Operationen auf einer Metaebene reflektieren kann, führen Individualität und Persönlichkeit zur Wahrnehmung und Beurteilung des „Wahrheitsgehaltes“ der Religionen. Erst, wenn das Selbst sich also von seiner indifferent-vorbegrifflichen Einheit isoliert hat, kann es das Absolute als Absolutes in Unterscheidung zu sich selbst wahrnehmen und denken. Folglich werden auch die mit dem Bestreben der Erfahrbarkeit des Absoluten einhergehenden pervertierten Formen der Anbetung, Heiligung und Inanspruchnahme Gottes durch den Menschen als dämonisch entlarvt. In der Religion des Paradox’ ist jegliche Form von Dämonie aufgrund des Momentes der Selbstnegation und Selbstüberwindung aufgehoben. Im Folgenden soll auf Basis der Religionsphilosophie von 1925 und der Dresdner Dogmatik-Vorlesung der Begriff des Dämonischen konkretisiert werden, da dieses in der Religion des Paradox’ als prinzipiell überwunden angesehen wird. Es soll konkretisiert werden, was Tillich unter dämonisch versteht, genauer: inwiefern
GW, Bd. I, S. 339. Ebd.
2.6 Die Religion des Paradox’ als ideale Synthese
307
das Dämonische die Folge einer verkehrten Gottesbeziehung bedeutet und wie daraus wiederum ein verkehrtes Welt- und Wertbewusstsein resultiert. Nur durch die Analyse des Dämonischen erschließt sich ein Verständnis der Idealvorstellung: Der idealen Beziehung zwischen Gott und Mensch in der Welt. Aus der Perspektive der Religionsphilosophie – die nun bereits aus dem Zustand der Trennung des Bewusstseins vom Absoluten argumentiert, also die indifferent-sakramentale Geisteslage bereits überwunden hat – liegt die Möglichkeit des Dämonischen im pervertierten Verhältnis von Form und Gehalt begründet. „Die Unerschöpflichkeit des Sinngehaltes bedeutet auf der einen Seite die Sinnhaftigkeit jeder Sinnform; sie bedeutet auf der anderen Seite den unendlichen Widerstand des Stoffes gegen die Form.“⁴⁴³ Dadurch also, dass Sinn nicht an ein Ende geraten kann, sich also niemals vollkommen im Bedingten oder in einer singulären bedingten Form verwirklichen kann, ist in Sinn immer auch eine Abgrundkomponente enthalten; dieser Abgrund ist eben durch seine unverfügbare Tiefe gegenüber dem denkenden Subjekt charakterisiert. Er enthält etwas Unfassbares, Ungreifbares, eben Abgründiges, jenseits der menschlichen Kategorisierbarkeit Liegendes. Und mit diesem Moment des Unverfügbaren widerstrebt der gehaltvolle „Stoff“ der Form. Mit anderen Worten: Er lässt sich nicht in bedingte Formzusammenhänge bringen, bleibt eben dadurch Mysterium. Ursprünglich gesehen – und zwar im Stand des vorbegrifflichen Denkens, in welchem das Denken sich über seine eigenen Voraussetzungen noch nicht bewusst ist und in einer vorbewussten Einheit mit Gott steht – liegen das Göttliche und das Dämonische noch ineinander und besitzen eine gemeinsame Wurzel: das Heilige. Dieses ist zunächst indifferent gegenüber seiner Trennung in göttlich und dämonisch. Nur insofern als das Dämonische aus dem Heiligen stammt, ist es ihm möglich „ekstatische Qualitäten“ anzunehmen; nur als seine Partizipation an der aus der göttlichen Tiefe stammenden Unerschöpflichkeit Gottes, die in ihm zum Sinnabgrund depraviert wird, ist es dem Dämonischen möglich, destruktive Formen anzunehmen, die die Macht haben, das gesamte Sein des Menschen in die Sphäre der Sinnwidrigkeit zu ziehen. Insofern als das Dämonische „Prinzip“ ist, „hat es die Realität des Heiligen selbst.“⁴⁴⁴ Auch in der Dogmatik-Vorlesung wird die Ambiguität des Dämonischen in seiner Beziehung zum Unbedingten thematisiert; diese liegt im Schöpferischen selbst begründet, welches denjenigen „Akt [bezeichnet], der in der reinen Kreatürlichkeit das Seiende trägt und in der Wesenswidrigkeit zum Widerstreit gegen die göttliche Klarheit und damit zur
GW, Bd. I, S. 338. A.a.O., S. 339.
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Formzerstörung treibt.“⁴⁴⁵ Ein und derselbe Ursprung kann sich also einerseits als tragend entfalten, andererseits zerstörend wirken – je nachdem wie das Bewusstsein sich gegenüber der Unerschöpflichkeit Gottes verhält und inwiefern diese (vom Menschen eingesetzte und von Gott her stammende Wirkmächtigkeit) im Widerspruch oder in Harmonie mit der göttlichen Klarheit wirkt. Der Mensch, welcher von Gott geschaffen ist, hat Anteil an Gottes Unerschöpflichkeit und besitzt somit sowohl die Möglichkeit zum Guten als auch zum Bösen. In der Dogmatik-Vorlesung wird das Wesen des Dämonischen als eine „Verbindung von Schöpferischem und Wesenswidrigem“⁴⁴⁶ betrachtet. Das Schöpferische entsteht wiederum durch die Teilhabe des Menschen an der göttlichen Unerschöpflichkeit, durch welche der Mensch als geistiges Wesen und bedingt durch seine Freiheit unendliche Formen schaffen kann, die zerstörerisch und widergöttlich wirken können. Gleichzeitig werden das Wesen des Dämonischen und dessen Verwirklichung damit ganz in die menschliche Freiheit und in das widergöttliche Handeln des Menschen gelegt. Damit ist das Dämonische auf einen Handlungs- bzw. Realisierungsakt des Menschen angewiesen. Es ist nicht per se destruktiv, sondern zunächst ein Element von Gottes Unerschöpflichkeit, welches nur negativ gewendet und infolge eines menschlichen Aktes ins Zerstörerische depravieren kann. An sich und außerhalb der Realisationssphäre des Bedingten ist das Dämonische ein Element des Heiligen selbst, jedoch in seiner ursprünglichen Einheit mit dem Göttlichen nicht als Dämonisch verwirklicht. Wenn Tillich in seiner Religionsphilosophie schreibt, dass der unendliche Widerstand des Stoffes gegen die Form, welcher aus der Unerschöpflichkeit des Sinngrundes resultiert, die Quelle der Schuld in der persönlich-geistigen Sphäre und somit der Inbegriff des Dämonischen sei, so ist damit zum Ausdruck gebracht, dass das Geistige sich dagegen sträubt, bedingt zu sein. Es versucht sich selbst zum Unbedingten zu erheben und leistet – indem es am schöpferischen, aus der göttlichen Wurzel/Unerschöpflichkeit stammenden „Stoff“ teilhat – der Form Widerstand, also der Anerkennung seiner Endlichkeit, seines empirischen Begrenzungsfaktors. Tillich konstatiert auch, dass der Stoff „die Qualität des Heiligen annimmt.“⁴⁴⁷ Damit ist gemeint, dass der „Stoff“, den der Mensch durch Teilhabe an Gottes Unerschöpflichkeit besitzt, durch die Umformung in der geistig-persönlichen Sphäre, mit Heiligkeit umkleidet werden kann. Dies stellt jedoch eine Deprivation des Verhältnisses von Form und Gehalt dar, da der „Stoff“ zwar in der bedingten Sphäre wirkt, jedoch durch menschlich-empirische Inan-
EN, Bd. XIV, S. 225. Ebd. GW, Bd. I, S. 338.
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spruchnahme nicht mehr die reine göttliche Heiligkeit darstellt. Diese UnbedingtSetzung von Endlichem bei gleichzeitiger Inanspruchnahme der göttlichen Unerschöpflichkeit führt allerdings zu destruktiv-ekstatischen Mächten, die dann jedoch nicht mehr dem ursprünglich intendierten Verhältnis entsprechen: Das Schöpferische, welches vom Menschen unter Aberkennung des göttlichen Ursprungs, aus dem es stammt, und unter Aberkennung der Wirksamkeit der Form zu eigen gemacht wird, erhält dämonische Züge. Das Dämonische liegt also in der Möglichkeit der Partizipation des Menschen an der göttlichen Unerschöpflichkeit begründet, die gleichzeitig den Sinnabgrund darstellt. Unter „Unerschöpflichkeit“ versteht Tillich in der Dresdner Dogmatik-Vorlesung, „daß die Unbedingtheit Gottes den Charakter der Tiefe hat“⁴⁴⁸. Im Gegensatz zu Schelling und Böhme meint Tillich mit „Tiefe“ wiederum nicht die Unterscheidung „zwischen einer Natur, die er [Gott] vorfindet, und einem Selbst, das diese Natur in sich aufnimmt.“⁴⁴⁹ Vielmehr bezeichnet „Tiefe“, in Abgrenzung zu „Breite“, dass Gott im Sinne einer inneren Lebendigkeit unerschöpflich ist und damit nie im Bedingten zur Vollendung, zur absoluten Darstellung kommen kann. Er trägt absolute Potentialität in sich, die Möglichkeit sich in alle Richtungen hin zu verwirklichen, aber nie als Ganzer erschöpft, ergründet werden zu können. Darin besteht seine Unendlichkeit. Das Dämonische liegt also „[…] so wenig wie das Göttliche im An-Sich der Dinge.“⁴⁵⁰ Nicht eine den Dingen innewohnende Qualität kennzeichnet diese als dämonisch, sondern eine vom Subjekt aus eingenommene Position gegenüber Gott, der Welt und den Dingen. Die Verkehrung ins wesenswidrige Verhältnis erfolgt aufgrund des „sinnwidrige[n] Willen[s] des Stoffes, der die Qualität des Heiligen annimmt.“⁴⁵¹ Nur, indem das Dämonische Ausdruck des Sinnabgrundes ist, ist es ihm möglich im ekstatischen Sinne zerstörend zu wirken. „Das Dämonische hat alle Ausdrucksformen des Heiligen, aber es hat sie mit dem Vorzeichen des Widerspruchs gegen die unbedingte Form, und es hat sie in der Intention der Zerstörung.“⁴⁵² Die Aberkennung der unbedingten Form korrespondiert mit der Absolutsetzung des Bedingten bei gleichzeitiger Leugnung der Relativität alles Geformten, Endlichen, gegenüber dem Unendlichen und der Kapitulation des Denkens gegenüber der Unbedingtheit des Göttlichen. Neben der Unerschöpflichkeit Gottes gründet der Ursprung des Dämonischen in der Dresdner Dogmatik-Vorlesung von Tillich im Widerspruch gegen die Klarheit
EN, Bd. XIV, S. 150. A.a.O., S. 149. GW. Bd. I, S. 338. Ebd. Ebd.
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Gottes – dem Wesensmerkmal seiner Aseität, seines Durch-sich-selbst-Seins. Die göttliche Klarheit meint die „Ungespaltenheit“ Gottes, womit jeglicher Polytheismus ausgeschlossen ist. In Gott ist nichts ihm Fremdes enthalten, alles ist von ihm und durch ihn geschaffen, er ist das Urprinzip alles Seienden. Mit der Leugnung der Klarheit wird Gott gleichzeitig die Unbedingtheit aberkannt, der einzige, wahre Gott zu sein. Denn Klarheit meint Einheit Gottes und drückt aus, „daß, wenn wir in der Offenbarung das uns unbedingt Angehende erfahren, wir es mit keiner kreatürlichen Beimischung erfahren, daß, wenn wir zu Gott kommen, der Dunkelheit des Endlichen schlechthin entgangen sind oder der Sphäre des Tragischen durchaus enthoben sind.“⁴⁵³ Die Aberkennung der Klarheit Gottes bedeutet also, Gott nicht als Unbedingtes anzusehen, sondern davon auszugehen, dass auch Endliches oder Halbgöttliches über das Sein des Menschen und damit dessen Heil verfügen könnte. „Der Satz von der Klarheit Gottes ist [damit] der eigentliche Sieg über das Dämonische der Religionen.“⁴⁵⁴ Nicht Unerschöpflichkeit, Tiefe und Klarheit für sich genommen sind allerdings identisch mit dem Dämonischen, Wesenswidrigen. Vielmehr zeigt sich die Wesenswidrigkeit der Sünde erst in der „Isolierung [dieser Momente], in dem Zerbrechen der Wesensform, dem Nein zur Klarheit des Göttlichen […]“: „Sünde ist Hervorbrechen der die Kreatur tragenden göttlichen Tiefe der Kreatur gegen die göttliche Klarheit.“⁴⁵⁵ Nur, wenn die Unerschöpflichkeit Gottes vom Menschen so genutzt wird, dass dessen Ungespaltenheit bzw. Einheit missachtet wird, verwirklichen sich sündhafte Strukturen. Mit ihnen ist gleichzeitig jede Form von Offenbarung denunziert. Denn „[…] wenn wir in der Offenbarung das uns unbedingt Angehende erfahren, [erfahren] wir es mit keiner kreatürlichen Beimischung […].“ Zu Gott zu kommen bedeutet dann, „der Dunkelheit des Endlichen entgehen; der Sphäre des Tragischen enthoben sein“.⁴⁵⁶ Wenn jedoch das unbedingt Angehende in Form einer „kreatürlichen Beimischung“ und also gegen die göttliche Klarheit als Selbstbehauptung erfahren wird, verwirklicht sich das Dämonische. Die Überwindung dieser Dämonie ist gleichbedeutend mit dem „Einbruch der vollkommenen Offenbarung“⁴⁵⁷, die auf religionsphilosophischer Ebene in dem Normbegriff der Religion des Paradox’, repräsentiert ist.
Ebd. Ebd. EN, Bd. XIV, S. 179. A.a.O., S. 150. A.a.O., S. 228.
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In die ideale Synthese gehen alle drei Momente, das Ethische, das Mystische und die Kultlinie, ein und bilden eine dialektische Einheit. Tillich führt zwei Momente der Synthesis auf: Das erste Moment ist die konkret-mystische Anschauung des Gehaltes durch jede Form und unter paradoxer Bejahung und Verneinung der Form. Im Unterschied also von der unmittelbar religiösen Einheit, wo die Form noch nicht in ihrer Gültigkeit begriffen war, im Unterschied ferner von der abstrakten Mystik, die willens ist die Form zu vernichten, was ihr freilich nicht gelingt, wodurch sie dann gezwungen ist, gewisse Formen als reine Gehaltserlebnisse hinzustellen und sie mit gesetzlicher Geltung zu versehen […].⁴⁵⁸
In der normativen Religion wird also der Gehalt nicht direkt in seiner unmittelbaren Beziehung zum Subjekt im Sinne einer Einswerdung oder Verschmelzung gesucht, sondern die Form – gemeint ist damit auch die Aufrechterhaltung der Bewusstseinsform – wird anerkannt und gleichzeitig auf den Gehalt hin transzendiert. Nur, indem die Form erhalten bleibt, kann der Mensch die unendliche Forderung an sich richten und diese als göttlichen Gehalt erleben. Die Form weist über sich hinaus auf den reinen Gehalt. In der Religionsphilosophie von 1925 schreibt Tillich, dass „[d]ie Religion des Paradox‘ […] in einem konkreten Offenbarungssymbol die Einheit von theokratischer Exklusivität und sakramentaler Unmittelbarkeit“⁴⁵⁹ schaut und folglich jedes Gehaltserlebnis nur durch die Form geschieht. Theokratische Exklusivität kommt einem Symbol dann zu, wenn es auf Grundlage einer spezifischen Geschichte erwachsen ist, wie etwa das Christussymbol, in welchem der göttliche Gehalt angeschaut wird und welches folglich zum Träger der vollkommenen Offenbarung geworden ist. Bedeutend ist hier jedoch wiederum, und dies wird auch aus dem obigen Zitat deutlich, dass die Bedeutung des Christussymbols in dem durch es repräsentierten Gehalt liegt: Es „[…] ist zu fordern, daß die konkreten Symbole nur als Symbole außerhalb ihrer erfaßten Sinnzusammenhänge dargestellt werden, daß also nicht etwa Christus das Primäre [ist] und sein religiöser Gehalt das Sekundäre, sondern umgekehrt […].“⁴⁶⁰ Wichtig ist also, dass das Symbol ein Symbol bleibt und ihm damit Hinweischarakter zukommt. Es verweist auf eine hinter ihm stehende Wirklichkeit, welche jedoch nicht mit dem Symbol identisch ist, sondern stets von ihm unabhängig bleibt. In der Dresdner Dogmatik-Vorlesung kommt dieser Sachverhalt vor allem dadurch zum Ausdruck, dass Tillich das Heil nicht von der Person Jesu Christi abhängig macht, sondern von der Wirkung des durch ihn repräsentierten
EN, Bd. XII, S. 522– 523. GW, Bd. I, S. 354. EN, Bd. XII, S. 531.
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2 Die geschichtsphilosophische Entfaltung des Wahrheitsbegriffs
Seins und seiner Verbindung zum Menschen.⁴⁶¹ Folglich spricht Tillich stets auch vom sogenannten „Christusbild“⁴⁶², welches das wesentliche Verhältnis zwischen Gott und Mensch repräsentiere. Als zweites Moment der Synthese führt Tillich die Priorität des Gehalts gegenüber der Form auf, wobei „andererseits das Gehaltserlebnis in keiner anderen Weise möglich ist als durch paradoxe Aufhebung der Priorität des Formerlebnisses.“⁴⁶³ Die paradoxe Bejahung und Verneinung meint, dass die Form in ihrer Trägerfunktion des Heiligen bejaht wird, jedoch um ihrer selbst willen und in ihrer Gleichsetzung mit dem Unbedingten verneint wird. Gleichzeitig ist „die Erfüllung der Gültigkeit, also die echte Formung, bedingt […] durch das Gehaltserlebnis, also die Ekstatik, die über die eigene begrenzte Formung hinausführt“⁴⁶⁴. Insofern wird das Heiligkeitserlebnis also einer verborgenen Wirkweise des Gehaltes zugeschrieben. Die zwei Momente der Synthese besagen also, dass das Heiligkeitserlebnis auf dem Boden der Mystik zur Erfassung des reinen Gehaltes durch die gültige Form hindurch geschieht, wobei die Form „in sich selbst hinausführt zur Ekstatik“⁴⁶⁵. Gleichzeitig ist „das Heiligkeitserlebnis […] orientiert am Gültigkeitserlebnis, aber so, daß die Gültigkeit in paradoxer Form aufgehoben wird.“⁴⁶⁶ Beide Formen der Paradoxie, die mystische wie die ethische, wurzeln in der „absoluten Paradoxie, die das Verhältnis von Denken und Sein selbst darstellt.“⁴⁶⁷ Als paradox stellt sich das Verhältnis deshalb dar, da das Denken bestrebt ist, das Sein in Reinform zu ergreifen und auf eine Vereinigung mit dem Seienden zielt, ihm dieses jedoch stets als das Unerforschlich-Andere und damit Fremde gegenübersteht. Das Denken, welches selbst rational ist, enthält in sich also ein Moment des Irrationalen und trägt somit einen „Widerspruch in sich“⁴⁶⁸, der allein durch die göttliche Gnade überwunden werden kann. Realiter ist jedoch diese Überwindung nur in Aussicht gestellt, im Endlichen kann sie nie vollkommen verwirklicht werden. Der aus der unbedingten Forderung erwachsene absolute Gehorsam gegen die Form und die gesetzliche Erfüllbarkeit der göttlichen Gebote und Pflichten wird ebenso wie die mystisch-ekstatische Richtung auf das Unbedingte unter
EN, Bd. XIV, S. 338. A.a.O., S. 339. EN, Bd. XII, S. 523. Ebd. A.a.O., S. 524. Ebd. Ebd. Ebd.
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Negierung der Form von der Gnade aufgenommen und in der Religion des Paradox’ unter eine Einheit subsumiert. Die Synthesis von „Ekstatik und Gehorsam“ ist in der Religion des Paradox’ durch die „geistige[…] Liebe“ ermöglicht.⁴⁶⁹ Denn der Gnadenakt kann stets als ein Akt der Liebe Gottes gegenüber seiner Kreatur verstanden werden. Insofern als Gottes Gnade bereits in der Gegenwart durch den Heiligen Geist wirksam ist, sind in der Religion des Paradox’ sowohl der Geistgedanke als auch der eschatologische Gerichtsgedanke vereint. Durch den Geist ist eine direkte Beziehung zwischen Gott und Mensch hergestellt, die im Glauben an das bereits gegenwärtige Anbrechen des Gottesreiches gründet. Gleichzeitig wird die Vollendung der Gott-Mensch-Beziehung noch in Erwartung gestellt, weshalb auch der „eschatologische Gerichtsgedanke“⁴⁷⁰ in die Religion des Paradox’ aufgenommen wird. So sind mystisches und ethisches Element vereint: Beides muss da sein, sowohl die Bedeutung der gegebenen Wirklichkeit als an sich göttlich im Sinne der Durchbrechung der Form und der Wertsphäre und zugleich die Negation der gegenwärtigen Wirklichkeit zu Gunsten einer kommenden als ideal vorgestellten Formung, die zu erstreben unbedingte Forderung der Form und damit auch der Religion im Sinne des formalen Unbedingtheitserlebnisses ist.⁴⁷¹
Die primitiv-biologische Unmittelbarkeit ist in der Religion des Paradox’ wiederhergestellt, allerdings ist sie durch die kulturelle Formung und die paradoxe Form der Bejahung und Verneinung der endlich-bedingten Form hindurchgegangen und damit auf paradoxe Weise erneuert. Gegenüber anderen Religionen verhält sich Tillich stets anerkennend, indem er ihnen zugesteht, dass „ähnliche Normbegriffe auch auf dem Boden anderer religiöser Entwicklungen versucht werden“⁴⁷². Als Bedingung der Formulierung des Normbegriffes müssen allerdings die beiden Extrempunkte der absoluten Mystik und der absoluten Ethik überschritten und der Stand der Mönchs-SektenLine erreicht sein. „Derartige Möglichkeiten liegen aber vor in Indien, ferner im Buddhismus, Mohammedanismus, Judentum und Christentum beider Konfessionen.“⁴⁷³ Tillich erlaubt sich nicht, ein Urteil darüber zu fällen, ob in anderen Religionen die Tendenz zu einer idealen Synthese gegeben ist, da für ihn die persönliche Beziehung zur Religion und die individuelle Erlebnishaftigkeit gegeben sein müssen. Und auch auf dem Boden der eigenen Religiosität dürfe ein Normbegriff zwar entwickelt werden, nicht aber könne eine Religionsphilosophie
GW, Bd. I, S. 360. EN, Bd. XII, S. 525. Ebd. A.a.O., S. 529. A.a.O., S. 530.
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2 Die geschichtsphilosophische Entfaltung des Wahrheitsbegriffs
beanspruchen, „von sich aus die absolute Realisierung ihres Normprincips in einer bestimmten historischen Erscheinung“⁴⁷⁴ zu sein.
Ebd.
3 Bestandsaufnahme I Dieses Kapitel dient dazu, den bisherigen Ertrag pointiert herauszuarbeiten, versteht sich aber nicht schon als Kritik oder Überprüfung der in der Einleitung aufgeworfenen Thesen und Forschungsfragen.¹ Die vorangehenden Ausführungen lassen erste Schlussfolgerungen über die Wahrheitsbegründung der christlichen Religion ausgehend von Tillichs Religionsphilosophie zu. Diese betont die Synthesisfunktion der Religion für eine einheitliche Wirklichkeitskonstruktion des Bewusstseins, wodurch sich auch der Universalitätsanspruch des Phänomens Religion begründen lässt. Religion erweist sich demnach als allumfassende Funktion des Geistes und als Prinzip der Erscheinungswelt, welches allen Bewusstseinsfunktionen zugrunde liegt, also apriorisch konzipiert ist. Dass die Systemkonzeption aus Tillichs früher Systematischen Theologie in den 20er Jahren wieder aufgegriffen wird, illustriert die Priorität der prinzipientheoretischen Konzeption, unter der auch noch in der Religionsphilosophie-Vorlesung die Herleitung des Religionsbegriffs gestellt wird. So trägt das Kapitel mit der Erörterung seiner Methode und der Herleitung des Religionsbegriffs den Titel „Religion als Prinzip“. Das religiöse Prinzip bildet die Grundlage der Wahrheitserkenntnis. Es besagt, dass der Mensch schon immer substantiell in der Beziehung zu Gott stehe. Der Religionsbegriff nimmt dabei intuitive und kritische Momente auf. Er ist kritisch in der Funktion von Religion, eine Selbstanalyse des Denkens zu vollziehen, die darauf gerichtet ist, Religion als Prinzip der Erscheinungswelt und in ihrer Funktion zur einheitlichen Wirklichkeitskonstruktion nachzuweisen. Die kritisch-intuitive Methode setzt an dem Punkt an, an welchem die kritische Methode (nach Kant) an ihre Grenzen stößt. Weiter als bis zu dem „Ding an sich“ könne sie nicht in das Wesen des Religiösen vorstoßen. Für Tillich kann das Absolute, welches für die Religion als Gott vorstellig wird, jedoch nur innerhalb der religiösen Korrelation erfasst werden, weshalb ein rein erkenntnistheoretischer, rationaler Zugang ausgeschlossen wird. Das Spekulative der Methode besteht darin, dass angenommen wird, dass mit den Bewusstseinsformen, die in intuitiver Analyse erfasst werden, unmittelbar die Formen der Wirklichkeit selbst erfasst werden. Dabei kann nur von einem gläubigen Standpunkt aus die Wahrheit ergründet werden. Geltungsfrage und Wahrheitsfrage werden in Tillichs Religionsphilosophie zusammen behandelt. Das Absolute ist nicht in einer vom Denken geschiedenen, externen Realität zu finden, sondern im religiösen Vollzug selbst. Dies wiederum soll erst im abschließenden Teil IV (Ergebnisse und Beantwortung der Forschungsfragen) erfolgen. https://doi.org/10.1515/9783110671759-006
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3 Bestandsaufnahme I
Der These von Danz, dass mit der sinntheoretischen Fassung des Gottes- und Religionsbegriffs das Absolute in den Vollzugsakt verlagert werde, welches im System von 1913 noch den Systemausgang bildete, wird einerseits zugestimmt, andererseits wird diese kritisiert. Zugestimmt wird Danz in der Feststellung, das Absolute sei nun nicht mehr „Ausgangspunkt der Systemexplikation“. Vielmehr bildet nun das Subjekt inklusive seines fehlenden Sinnbewusstseins den Ausgang des Systems. Allerdings ist die Integration des Absoluten in den Vollzugsakt des Menschen keine Neuerung, da auch schon 1913 Wahrheit und Wahrheitserkenntnis (als in Korrelation gedacht) den Systemausgang bildeten. Auch schon dort bestimmt Tillich, dass Wahrheit nie abgesehen von der Erkenntnis der Wahrheit ist und Prinzip der Wahrheitserkenntnis folglich der Wahrheitsgedanke sei. Der Prozess des vom Denken gesetzten Wahrheitsprinzips im Erkennen wird dabei von Tillich als substantielles Gottesverhältnis gedeutet. Die Normativität des Religionsbegriffs leitet sich aus dieser Funktion des Denkens als Existierendem ab. Dem Denken kommt die Funktion des Unbedingt-Geltenden zu, es strebt auf die von Tillich entwickelte Norm, die Religion des Paradox‘, zu. Die der Normativität zugrundeliegende Wahrheit gründet dabei nicht in einer vom Denken unabhängigen, externen Sphäre, sondern wurzelt im Ursprung des Denkens selbst und in dessen Reflektion auf seine eigenen Bedingungen, die in der Erkenntnis bestehen, dass alles Wirkliche nur Formung ist und damit Denkkonstrukt. Das Unbedingte als der Sinn-Schlechthin fungiert dabei als Voraussetzung dieser Einsicht und dafür, dass überhaupt ein Einzelsinn ist. Sinn wird in der Religionsphilosophie-Vorlesung im Zusammenhang mit religiösem Erleben thematisiert. Jedes Erleben besitze eine Tiefe, die nicht es selbst meint, sondern das, woraus es ist. Das unbedingte Realitätserlebnis wird von Tillich stets als Doppelheit des Sinnes beschrieben, indem es Erlebnis der Absolutheit und Relativität zugleich sei. Einerseits vollziehe das Bewusstsein Sinnzuschreibungen in Form von Objektivationen, andererseits erlebe es in sich ein Widerstandsmoment (Abgrund), da ihm anderes Sein und es selbst (indem es nicht weiß, woher es ist) letztlich fremd bleiben und ihm folglich ein Unbedingtes vorausgehen müsse. Dieses Widerspruchsmoment lässt sich als im Absoluten selbst angelegt deuten, welches sich dann im Bewusstseinsakt offenbart. Denn Tillich bezeichnet das religiöse Verhältnis mit Schelling seiner Wesentlichkeit nach als ein innergöttliches Verhältnis zu sich als Natur, weshalb Gott nicht als Produkt des menschlichen Geistes zu verstehen ist. Gegen eine Projektionstheorie spricht zudem, dass Tillich einen Religionsbegriff ablehnt, der nichts weiter als ein hypostasiertes Ichbewusstsein ist. Gott als das „absolute Ich“ kann für ihn nur einen psychologischen Wert besitzen. Auch schon 1913 kann das Absolute als reales Korrelat verstanden werden. Zwar geht Tillich davon aus, dass das Prinzip der Wahrheit sowie die Rückführung des Bestimmten in die Einheit mit dem Absoluten vom
3 Bestandsaufnahme I
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Denken und nicht von der Wahrheit gesetzt sind, dennoch schreibt er, dass Wahrheit und Denken in jedem Moment des Prozesses in Einheit stehen und das Absolute sich selbst in diesem Prozess als Freiheit und Geist bestimmt und diesen Begriff, indem es die Religion schafft, auf sich selbst anwendet. So gesehen ist der Setzungsprozess des Denkens gleichzeitig Verwirklichung des Absoluten. Das Realitätsgefühl der Religion mache diese nicht zu einem Spiel des Bewusstseins mit sich selbst, sondern könne absolute Ernsthaftigkeit beanspruchen. Tillich versteht die Realisation Gottes im Bewusstsein mit Rekurs auf Hegel nicht als einen nur individuellen Vorgang, sondern als einen kosmischen Akt. Im relativen Geist erfasse der absolute Geist sich selbst. In der Existenzwerdung Gottes im religiösen Akt und dem religiösen Vollzug sei der Sinn religiösen Erlebens erfasst. Intuitiv ist die Tillichsche Methode insofern, als sie aufzeigt, dass Gott nicht ein außerhalb des Denkens zu suchendes Phänomen ist, sondern das „Meinen“ (die Noesis), nicht aber ein dem Denken zugrundeliegender Inhalt (Noema). Die Funktion des Religiösen besteht darin, die Intuition auf den religiösen Akt zu richten und nicht auf das zu erkennende Objekt. Die Existenz metaphysischer Wesenheiten, die unabhängig vom religiösen Akt existieren, sind daher mit Tillich abzulehnen. Das irrationale Moment bezeichnet zwar auch das Moment des Fremden und anderen, den Abgrund des Denkens, aber nicht wie bei Schelling im Sinne einer real gemeinten Mythologie als Prinzip der Personenwerdung Gottes, sondern als Erlebnis des Widerstandsmoments im Denken, welches realisiert, dass es selbst nur bedingt ist und sich selbst stets zur Voraussetzung hat. Normativität ist für Tillich, ob des produktiven Setzungsaktes, nicht ausschließlich subjektiv. Dass die Norm konkret und existentiell entwickelt wird bedeutet die Inklusion des Einzelnen in den Zusammenhang und die Einheit des Seienden. Wahrheit religiöser Aussagen muss nach Tillich einem konkreten Zusammenhang entspringen, da sie nur so als unbedingt angehend und wahr vom Subjekt aus rezipiert werden kann. Folglich erweist sich die Wahrheit des christlichen Kriteriums als eine sich konkret in der Geschichte realisierende, wobei eine Religion dann als wahr beurteilt wird, wenn sie auf eine ideale Konstellation der in ihr enthaltenen Momente (z. B. Freiheits- und Abhängigkeitsmoment) zustrebt. Diese ist dann als wahr zu beurteilen, wenn keiner der beiden Momente in seiner Isoliertheit depraviert und sich damit unbedingt und außerhalb der Gottesbeziehung setzt, sondern beide in ausgeglichenem Verhältnis stehen. Weiterhin wird das Beurteilungskriterium der Norm nicht von außen an die Geschichte angelegt, sondern erwächst aus ihr als einem Selbstbewertungsprozess. Das wahre Verhältnis von Form und Gehalt bzw. das wahre religiöse Verhältnis entsteht von selbst aus einer dynamischen Wechselwirkung von Form- und Normbegriff innerhalb des Geschichtsprozesses. Jede Religion ist nach Tillich dazu angelegt, auf diese ideale Norm hinzustreben. Als
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3 Bestandsaufnahme I
Movens der Religionsgeschichte fungiert bei Tillich jenes religiöse Prinzip, welches den konstanten Faktor der Religionsgeschichte darstellt und mit dem Wesensbegriff korrespondiert. Es bildet die Voraussetzung des Denkens und besagt, dass jeder Mensch substantiell schon immer in Beziehung zu Gott steht und im Religiösen wurzelt. Diese Beziehung müsse jedoch nicht aktuell werden und verwirkliche sich entsprechend der kulturellen Erscheinungsformen der Religion stets unterschiedlich. Tillich geht davon aus, dass das religiöse Prinzip auch alle außerchristlichen Religionen fundiert. Die empirischen Religionsgemeinschaften vereinen, insofern als sie aus demselben konstruierten Ursprung erwachsen, dieselben Grundprinzipien in sich. Allerdings seien diese in unterschiedlichem Maße in ihnen ausgeprägt, sodass sie nach dem idealen Verhältnis dieser Grundprinzipien (Denken und Sein; Form und Gehalt) bewertet werden. Die religiöse Norm könne unter der Voraussetzung von Geschichtlichkeit nie zur vollkommenen Realisierung kommen. Der Wesensbegriff fungiert gleichsam als Beurteilungsmaßstab außerchristlicher Religionen, da er ein Ideal von Religion entwirft. Dieses trägt jedoch unter der Hand die Elemente des Normbegriffs in sich und ist folglich vom christlichen Kriterium her geprägt. Kritisiert werden kann dabei, dass die Beurteilung der außerchristlichen Religionen stets schon deutungsimprägniert ist und nicht als Resultat einer wirklichen geschichtlichen Begegnung erwächst, sondern auf Grundlage eines schon auf theoretischer Ebene apriorisch hergeleiteten Wahrheitsbegriffs. Es ist schon vor der Analyse der außerchristlichen Religionen von Tillich bestimmt, dass sich der zuvor aufgestellte Wesensbegriff nachträglich und durch seine Bewährung in er Geschichte der Religionen als wahr erweist. Die im Wahrheitsbegriff dargestellte Beziehung des Subjekts zum Unbedingten wird konkret angeschaut im Christusbild. Bereits die Religionsphilosophie, die sich der methodischen Herleitung von Wesens- und Normbegriff verschreibt, legt also notwendig stets von einem konkreten Ort der Realisierung Zeugnis ab. Die Religion des Paradox‘ schließt nach Tillich alle Wesenselemente von Religion und Kultur zusammen und schafft eine theonome Geisteslage, die das im Wesen des Sinnes selbst angelegte Ziel aller Sinnverwirklichung darstellt. An diesem Zielpunkt wird gleichsam die Religion als heteronome Geistessphäre aufgehoben. Im Wesen des Sinnes ist bereits das Ziel festgelegt, welches sich nach der Analyse der in der Religionstypologie enthaltenen Religionen als ideale Konstellation erweist. Folglich gibt es für die Beurteilung der den außerchristlichen Religionen zugrundeliegenden Wahrheit oder Unwahrheit keine Alternative als sie in ihrer Eigendynamik in Richtung auf das christliche Ideal hin zu interpretieren. Diese Idealreligion wiederum ist durch einen Zustand des Bewusstseins um bzw. eine Reflexion auf die Vorläufigkeit religiöser Ausdrucksgestalten bzw. die Paradoxie des individuellen und damit nur relativen Standpunktes im Vergleich zum Absoluten gekennzeichnet. Auch das
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Christentum selber – wie jede konkret-historische Erscheinungsform von Religion – muss sich an der idealen Religion als einer Synthese aus Formelement (aus Ethik) und Gehaltelement (aus der Mystik), die in ihr in einer idealen Einheit aufeinander bezogen sind, messen lassen. Nach Tillich ist keine absolute Erkenntnis der Wahrheit möglich, da diese im Sinne einer Identität von Wesen und Erkennen im Erkenntnisakt den qualitativen Unterschied zwischen Gott und Mensch aufheben würde und Gott so zu einem Götzen würde. Folglich lasse sich Wahrheit nur als Grenzerlebnis des Denkens darstellen. Die Formen können als Medien den Gehalt nur dadurch zum Ausdruck bringen, dass sie per Selbstnegation auf das durch sie zum Ausdruck gebrachte Absolute verweisen, ohne für sich selbst Unbedingtheit zu beanspruchen. Alle Formen können stets nur Medien des Gehalts sein, nicht aber selbst mit diesem identifiziert werden. Aus dieser komprimierten Zusammenfassung werden die eingangs zitierte Grenzmetaphorik sowie die sich durchgängig haltende Korrelationsmethode deutlich: Wahrheit ist einerseits stets eine vom Menschen vollzogene. Als solche erschöpft sich die Beurteilung anderer Religionen stets in der eigenen Fallibilität (Grenze). Gleichzeitig erfüllt sich Wahrheit nur im Menschen als Zentrum der göttlichen Liebe und als Medium des Ausdrucks dieser (Hoffnung). Der Mensch als fallibel und gleichzeitig in seiner Fehlbarkeit von Gott angenommen – das ist der auf eine einfache Formel gebrachte Ertrag von Tillichs Religionsphilosophie.
Teil III Die theologische Begründung des christlichen Wahrheitsanspruches
1 Einführung und Forschungsfragen Während im vorangehenden Teil die Wahrheitsfrage ausgehend von Tillichs Religionsphilosophie thematisiert worden ist, soll es nun darum gehen, von theologisch-dogmatischem Standpunkt aus zu ermitteln, was Tillich unter Wahrheit versteht und wie sich davon ausgehend das Verhältnis der christlichen Religion zu den außerchristlichen Religionen darstellen und begründen lässt. Bereits in der Religionsphilosophie wird ein normativer Religionsbegriff entwickelt, welcher inhaltlich – so der Ertrag des ersten Teils – dogmatisch konzipiert ist. Dies wird jedoch nicht expliziert. Unter der Hand enthält jedoch der auf Basis der Religionsphilosophie ermittelte Religionsbegriff (das religiöse Prinzip oder – als telos bestimmt – die Religion des Paradox’) alle Kennzeichen der Tillichschen Christologie: Indirekt weisen die in dem religiösen Prinzip enthaltenen Elemente, die auch für die Religion des Paradox’ bestimmend sind, alle Momente des in Christus erschienenen Seins auf. Folglich lässt sich die Religionsphilosophie, welche Wahrheit abstrakt-philosophisch zu ermitteln sucht, nicht nur als Prolegomenon der formaldogmatischen Realisierung lesen – denn sie basiert bereits auf einer apriorischen und damit bereits deutungsimprägnierten Bestimmung des theologischen Prinzips und der Darstellung der Erfüllung bzw. Rückführung dieses Prinzips in die ideale Synthese. Dieses Prinzip liegt dem Systemanfang (der geltungsphilosophischen Bewusstseinsanalyse) der Tillichschen Religionsphilosophie ebenso zugrunde, wie es auch den idealen, teleologischen Zielpunkt ausmacht. Insofern kann die These vertreten werden, dass Tillichs frühes System prinzipientheoretisch konzipiert¹ ist und auf apriorischen Vorannahmen basiert, die sich im Laufe seiner Bestimmung des Religionsbegriffs mittels der geltungsphilosophischen Bewusstseinsanalyse, der geschichtsphilosophischen Einordnung der verschiedenen Religionsgemeinschaften und des idealen Zielpunkts der typologischen Betrachtungsweise als wahr erweisen. Dabei entwickelt Tillich kein starres System, in welches er die verschiedenen Religionen einordnet und diese am Kriterium des eigens entwickelten Religionsbegriffs misst. Vielmehr enthält das theologische Prinzip selbst eine Eigendynamik, indem es nicht einer außerhalb des Menschen und der Welt stehenden transzendenten Idee gleicht, sondern in der dynamisch-schöpferischen Begegnung von Gott, Welt, Geschöpf und Geschichte generiert wird. Diese Eigendynamik entwickelt sich sowohl durch theoretische Akte der Aufnahme von Mythos und
Das bedeutet, dass das Tillichsche System ausgehend von einem Prinzip konstruiert wird, welches im Wahrheitsgedanken als einem dialektischen Verhältnis von Denken und Wahrheit begründet ist und somit einen erkenntnistheoretischen Ausgang besitzt. https://doi.org/10.1515/9783110671759-007
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1 Einführung und Forschungsfragen
Offenbarung sowie praktische Akte in Kultus und Kultgemeinde, aber auch auf profaner Ebene durch das Stehen in einzelnen Sinnzusammenhängen, die – wenn auch nicht immer intentional – doch ihrer Substantialität nach durch die kulturellen Formen hindurch auf einen unbedingten, absoluten Sinn hinweisen. In diesem korrelativen Wechselspiel von Produktion und Aufnahme treibt die Geschichte selbst auf ihre Vollendung bzw. Erfüllung zu, die jedoch im Endlichen stets in Aussicht gestellt bleiben muss, ohne absolut realisiert werden zu können. Dabei lässt sich kritisch anfragen, ob die Dogmatik als der konkrete Part des Tillichschen Systems der Religionsphilosophie inhaltlich überhaupt noch etwas hinzufügt, da die Realisation des Moments der Selbstüberwindung im Christusbild nicht empirische bzw. reale Kondeszendenz Gottes in die Geschichte gedacht wird. Im Folgenden sollen vornehmlich fünf Fragen einer kritischen Begründung zugeführt werden: Erstens ist zu ergründen, was unter dem Moment der „Konkretion“ bei Tillich genau zu verstehen ist, zweitens, in welchem Verhältnis Theologie und Religionsphilosophie stehen und ob die Theologie wirklich einen „Mehrwert“ gegenüber der Religionsphilosophie liefert, drittens, welche Bedeutung in diesem Kontext das Christusereignis einnimmt und inwiefern es einen Absolutheitsanspruch des Christentums begründet, viertens, in welchem Verhältnis die vollkommene Offenbarung in Christus zu den außerchristlichen Religionen steht und schließlich fünftens, wie die Realität Jesu Christi als eines Realbildes gedacht werden kann, wenn vorausgesetzt wird, dass Gott nicht realgeschichtlich in die menschliche Situation kondeszendiert.
2 Der Vollkommenheitsanspruch der Dogmatik 2.1 Thema und Aufbau der Dresdner Dogmatik-Vorlesung Die Dogmatik legt Zeugnis ab von der sich in Christus erfüllenden Wiederherstellung der Beziehung zwischen Gott und Mensch. Gleichzeitig beansprucht sie, vom Standpunkt des Glaubens aus, den in der Religionsphilosophie erkenntnistheoretisch hergeleiteten Begriff von Religion zur konkreten Erfüllung zu bringen, indem von ihrem Standpunkt aus der Durchbruch des Heils aufgewiesen und der für sich seiende Mensch in seiner existentiellen Einsamkeit erschüttert und auf Gott – und damit sein „wahres“ Sein – hin umgewendet wird. In Christus erfüllt sich dieser Akt der Umwendung bzw. der sogenannte Kairos, die erfüllte Zeit. Der Aufbau der Dogmatik folgt einer triadischen Einteilung, die nach einem einleitenden Kapitel zunächst das Seiende seinem Naturzustand nach schöpfungstheologisch betrachtet („Das Seiende als Natürliches in der vollkommenen Offenbarung“¹), im folgenden Teil das „Seiende als Geschichtliches in der vollkommenen Offenbarung“² behandelt und damit den Zustand der Zweideutigkeit expliziert, in welcher sich auch die Erlösung bzw. der Durchbruch ereignet, um in einem letzten, von Tillich nicht mehr ausgeführten Teil „[d]as Seiende jenseits von Natürlichkeit und Geschichtlichkeit in der vollkommenen Offenbarung“³ darzustellen. Dieser letzte Teil sollte den vollendeten Zustand des Menschen beschreiben und damit eine eschatologische und pneumatheologische Perspektive verfolgen. In einer Einleitung („Das Wesen der Dogmatik“) führt Tillich zunächst für die Dogmatik relevante erkenntnistheoretische Begriffe ein und thematisiert die Normen, die Form, den Aufbau sowie den Zweck der Dogmatik. In diesem Teil grenzt sich Tillich vor allem von der rationalistischen sowie supranaturalistischen Deutung des Durchbruchsereignisses ab und betont die sich in der Offenbarung ereignende Wechselbeziehung zwischen Subjekt und Objekt. Zudem werden der Vollkommenheitsanspruch der Offenbarung, die Unterscheidung zwischen Grund- und Heilsoffenbarung sowie die Bedeutung der Offenbarungsgeschichte für den Durchbruch erörtert. Auch werden der Begriff „Wesen des Christentums“ sowie die Indirektheit der Offenbarung und ihre Symbolkraft thematisiert.
EN, Bd. XIV, S. 121. A.a.O., S. 269. A.a.O., S. 389. https://doi.org/10.1515/9783110671759-008
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2 Der Vollkommenheitsanspruch der Dogmatik
Der erste Teil ⁴ folgt seinerseits wiederum einer triadischen Struktur, indem zunächst der vollkommene Urstand beschrieben wird (A. „Das Seiende als Wesensmäßiges in der vollkommenen Offenbarung (Von Gott und Welt in ihrer Verbundenheit)“), als nächstes der Stand der Sünde expliziert wird (B. „Das Seiende als Wesenswidriges in der vollkommenen Offenbarung (Von Gott und Welt in ihrer Getrenntheit)“), um in einem letzten Kapitel das Ineinander von Wesensgemäßem und Wesenswidrigem in der vollkommenen Offenbarung zu behandeln (C. „Das Seiende im Zusammenhang von Wesensgemäßem und Wesenswidrigem in der vollkommenen Offenbarung (Von Gott und Mensch in dem Zusammensein von Getrenntheit und Verbundenheit)“). Das erste Kapitel (A.) des ersten Teils thematisiert also das Seiende in seiner wesensmäßigen Verbundenheit mit Gott im Urstand („I. Das Seiende in seiner reinen Geschöpflichkeit (Urstand)“) und expliziert folglich die vollkommene Offenbarung vom Standpunkt der Schöpfung aus. Es wird ein Zustand des Menschen beschrieben, der in vollkommener Verbindung mit Gott steht, in welchem sich die Trennung und der Abfall von seiner ursprünglichen Bestimmung noch nicht ereignet haben. Dieser wird näher als Zustand der Unmittelbarkeit und Eindeutigkeit dargestellt, indem im eindeutigen Geschöpfsein des Seienden Hinweise auf das Unbedingte ausgemacht werden können.⁵ Dieser Urstand entspricht im Wesentlichen der in der Religionsphilosophie explizierten primitiven Kulturreligion. Auch behandelt Tillich in diesem ersten Kapitel unter II. („Das UnbedingtSeiende als Ursprung des Seienden“) die Eigenschaftslehre Gottes, unter welcher er „[d]ie Macht Gottes“ bzw. seine „unbedingte Selbstmächtigkeit“ (Aseität) thematisiert und den Fokus auf die im Gottesbegriff gründenden Charakteristika wie Klarheit und Tiefe, Freiheit, Offenheit und Verschlossenheit richtet. In einem weiteren Unterkapitel (b) wird Gott in seiner Beziehung zur Welt in seiner Funktion als allmächtiger, persönlicher allwissender, ewiger Gott dargestellt.⁶ In einem nächsten Kapitel (B.) wird der Sündenstand behandelt und also „[d]as Seiende als Wesenswidriges in der vollkommenen Offenbarung“⁷ beschrieben. In diesem Kapitel wird der Zustand der Trennung von Gott und Mensch expliziert, wobei
„Das Seiende als Natürliches in der vollkommenen Offenbarung (von der Schöpfung. theologische Seinsdeutung)“ Vgl. EN, Bd. XIV, S. 125. Vgl. A.a.O., S. 126 ff.: Die Grenze des Kreatürlichen bildet gleichsam die Geschöpflichkeit des Geschöpfs.Während in der reinen Kreatürlichkeit die die menschliche Natur kennzeichnenden Pole, die die Lebendigkeit ausmachen (wie Mut vs. Schwermut, Todesschmerz vs. Schöpfungslust) eine Einheit bilden, befinden sich diese im Stand der Wesenswidrigkeit bzw. Sünde (Teil B) in Isolation voneinander. Ihre wesensgemäße Einheit ist damit zerbrochen. A.a.O., S. 148. A.a.O., S. 177.
2.1 Thema und Aufbau der Dresdner Dogmatik-Vorlesung
327
zunächst „[d]as Seiende als im Widerspruch zu seiner Geschöpflichkeit“ (Kapitel I) stehend, also seiner Verfehlung nach im Stand der Zweideutigkeit dargestellt wird. Es werden „Wesen und Erscheinung der Sünde“ unter Kapitel a („Die Wirklichkeit des Wesenswidrigen“) sowie der Ursprung (Kapitel b) und die Wirkung (Kapitel c) des Wesenswidrigen erörtert. Unter der Frage nach dem Ursprung diskutiert Tillich verschiedene Begriffe von Sünde (bei Luther, Flacius, Augustin) sowie die Sündenlehre von Leibniz und Schleiermacher. Die Wirkung der Sünde wird als Folge der Zweideutigkeit in seiner Äußerung als Gericht am Menschen dargestellt. Analog zur Wirklichkeit der Sünde in der Existenz beschäftigt sich Tillich in Kapitel II mit dem Symbol des Zornes Gottes, dem „Unbedingt-Seiende[n] als Verneinung des Seienden“⁸. In einem letzten Kapitel des ersten Teils (C.) wird „[d]as Seiende im Zusammenhang von Wesensgemäßem und Wesenswidrigem in der vollkommenen Offenbarung“⁹ aus gefasst, wobei der Fokus auf „[d]as Seiende in der Zweideutigkeit seiner Geschöpflichkeit“ (Kapitel I), spezieller, die Frage nach der Erhaltung des Seins (Kapitel a) und des Sinnes (Kapitel b) im Zustand der Entfremdung gerichtet wird. Das Dämonische, die Erhaltung der Welt, die Begriffe Vorsehung, Freiheit und Schicksal sowie das Verhältnis von Sünde und Gericht werden thematisiert. Auch die Wundertheorie Tillichs findet Erörterung (Kapitel c), da sich im Wunder die Gegenwärtigkeit Gottes in der Zweideutigkeit offenbart. Gott wird im Gegenpart zum ontologischen Teil in Kapitel II. unter dem Gesichtspunkt des „Erhalter[s] des Seienden“¹⁰ als langmütiger, gütiger, weiser, gerechter Gott betrachtet. Auffällig an Tillichs Darstellung ist die zweipolige Darstellung von Seiendem und Unbedingt-Seiendem in der Gliederung der Kapitel. Sowohl in Kapitel A als auch in Kapitel B und C werden zunächst die Perspektive des Seienden – im Urstand (A.I), in der Wesenswidrigkeit (B.I) und in der Zweideutigkeit (C.I) – und im Anschluss der entsprechende Gottesbegriff – als Ursprung (A.II), als Verneinung des Seienden (B.II) und als „Erhalter des Seienden“ (C.II) – in direktem Bezug auf die Verfasstheit des Seienden dargestellt. Kapitel A, B und C sind selbst so aufeinander bezogen, dass zunächst der ursprüngliche, schöpfungsgemäße Einheitszustand von Gott und Mensch beschrieben, im Anschluss die Trennung beider im Stand der Sünde und letztlich ihre Vereinigung in der vollkommenen Offenbarung dargestellt werden. Die triadische Struktur des Seienden (im Urstand, in der Wesenswidrigkeit und in der Zweideutigkeit) wird durch die entsprechende Korrelation mit Gott als dem Unbedingt-Seienden so in Beziehung
A.a.O., S. 217. A.a.O., S. 223. A.a.O., S. 262.
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2 Der Vollkommenheitsanspruch der Dogmatik
gestellt, dass Gott stets die Wirkung auf die jeweilige Verfassung des Seienden darstellt (dessen Ursprung, Verneiner und Erhalter). Dadurch ist bereits hier eine korrelative Methode impliziert, die erst in der Systematischen Theologie expliziert wird. Der zweite Teil behandelt Tillichs Christologie bzw. Soteriologie. Das Seiende wird als „Geschichtliches in der vollkommenen Offenbarung“ unter dem Aspekt der „Erlösung“ betrachtet.¹¹ Der Teil ist wieder in zwei miteinander in Beziehung stehende Kapitel A und B gegliedert, die die Religionsgeschichte im Stand der Vorbereitung (als Religion; Kapitel A) und aus der Perspektive des Durchbruchs (als vollkommene Offenbarung in Christus; Kapitel B) betrachten. Kapitel A umfasst mit den Unterkapiteln I und II sowohl die Offenbarungsgeschichte von Heidentum, Griechentum und Judentum – und wertet sie ausgehend von der vollkommenen Offenbarung (in Christus) als Vorbereitungsperiode – als auch Gott unter dem Symbol des Vaters¹² entsprechend seiner Vermittlung vor seiner Menschwerdung. Er wird als Träger der Geschichte und des Seienden unter dem Aspekt der Liebe betrachtet. Kapitel B stellt im Kern die Christologie Tillichs dar, indem in Kapitel I die „Überwindung des Dämonischen“ im Durchbruch als Menschwerdung Gottes in Christus betrachtet wird und Kapitel II sich sowohl mit der Verortung von Tillichs Christologie innerhalb gegenwärtiger Diskurse und der Dogmengeschichtsschreibung beschäftigt als auch vertiefte Charakterisierungen des in Christus erschienenen Seins und dessen Wirklichkeit sowie dessen Verhältnis zur Geschichte liefert. Das folgende Kapitel (B) behandelt die Tillichsche Christologie, die die Erscheinung Christi als Durchbruch in die Geschichte versteht. Diese wird als Ort der Überwindung des Dämonischen („Die Gnade“) angeschaut, in der sich der Durchbruch als Kairos („Zeitenfülle“) ereignet. Im Fokus steht zudem Jesus Christus, d. i. „[d]as grundlegende Urteil über Jesus als den Christus“, „[d]as Urteil über das Sein Jesu als das Sein des Christus“ sowie „[d]as Urteil über die Wirkung Jesu als die Wirkung des Christus“. Während im Unterkapitel II von Kapitel A die Liebe Gottes als „Gott der Vater“ in der Vorbereitungsperiode der vollkommenen Offenbarung betrachtet wurde, wird Gottes Liebe nun (In Unterkapitel II aus B) aus der Perspektive des Eingehens in die Geschichte als „der Sohn“ erörtert. Im Folgenden soll zunächst danach gefragt werden, welchen Wahrheitsanspruch die Dogmatik stellt und inwiefern ihr Wahrheitserkenntnis unter der Voraussetzung des Stehens auf dem konkret-geschichtlichen Standpunkt zukommen kann. Entsprechend der Frage, inwiefern der Dogmatik ein Letztgültig-
A.a.O., S. 269. A.a.O., S. 300.
2.2 Wahrheit aus konkret-dogmatischer Perspektive
329
keitsanspruch zukommen kann, wird die Geschichte aus der Perspektive der vollkommenen Offenbarung als Heilsgeschichte betrachtet, da ihre Dynamik auf ein telos zuläuft, welches Tillich mit dem Begriff der Theonomie, der unzweideutigen wiederhergestellten Gott-Mensch-Beziehung beschreibt. Worin besteht jedoch der Wahrheit beanspruchende Vollkommenheitsanspruch der christlichen Offenbarung? Erst nachdem diese Fragen geklärt sind, kann expliziert werden, inwiefern in der Erscheinung Christi als des Neuen Seins die Wahrheit zur Erfüllung kommt und sich an diesem Ort das Heil der Menschheit ereignet. Jene Fragen zählen zu den erkenntnistheoretischen Voraussetzungen und dem Wesen der Dogmatik, deren Erörterungen bei Tillich eine gewisse Sonderstellung einnehmen, da sie noch nicht direkt den Kernpunkt der Dogmatik (dieser ist in der Christologie zu sehen) beinhalten, also sich gewissermaßen außerhalb der Dogmatik befinden und dennoch nicht von ihr unabhängig sind.Vielmehr können sie als Prolegomena der Dogmatik gelesen werden und sind damit „als Grundlegung der Dogmatik von entscheidendem Einfluß für sie.“¹³ Diesbezüglich stehen sie der religionsphilosophischen Grundlegung der Dogmatik sehr nahe, beanspruchen jedoch explizit, von der „religiöse[n] Wirklichkeit“ zu zeugen, die „sich nur dem Glauben“ erschließt.¹⁴ Während Tillichs Aussagen über die Haltung der Religionsphilosophie ambigue sind (abstrakte Wesensbeschreibung von Religion vs. Standpunkt aus gläubiger Perspektive), ist Tillich in der Dogmatik eindeutig, indem er den gläubigen Zustand als Bedingung der Erschließungskraft der religiösen Wirklichkeit voraussetzt.
2.2 Wahrheit aus konkret-dogmatischer Perspektive 2.2.1 Der Angriffscharakter der Dogmatik als konkretes Ergriffensein Der Letztgültigkeitsanspruch der Dogmatik liegt zunächst in ihrem Angriffscharakter begründet. Tillich steigt in seine Dogmatik mit einem Nietzsche-Zitat ein: „In jedem Angriff ist klingendes Spiel“¹⁵. Als klingendes Spiel verschafft die
A.a.O., S. 12. A.a.O., S. 14. A.a.O., S. 1; Vgl. Nietzsche, F., Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, in: Colli, G., Montinari, M. (Hrsg.), Nietzsche Werke. Kritische Gesamtausgabe, Abt. 6; 1, Berlin 1968, S. 195: „Muth nämlich ist der beste Todtschläger, – Muth, welcher a n g r e i f t: denn in jedem Angriffe ist klingendes Spiel. Der Mensch aber ist das muthigste Thier: damit überwand er jedes Thier. Mit klingendem Spiele überwand er noch jeden Schmerz; Menschen-Schmerz aber ist der tiefste Schmerz.“
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2 Der Vollkommenheitsanspruch der Dogmatik
Dogmatik sich in Form von Angriff Gehör, denn sie spricht nicht von bedingten, relativen Angelegenheiten, denen sich der Mensch entziehen könnte, sondern von dem Unbedingten als einem „unbedingt wichtigen, auf jeden unausweichlich zugehenden“¹⁶ Gegenstand. Darin liegen sowohl ihr Universalitäts- als auch ihr Absolutheitsanspruch begründet. Sie lässt nicht zu, „daß es neben ihrem noch einen unbedingt wichtigen Gegenstand gibt. Wird sie in dieser Beziehung nebengeordnet, so ist sie schon nicht mehr das, was sie sein soll; sie handelt dann von einer bedingten, fragwürdigen, zweifelhaften Sache […].“¹⁷ Als Voraussetzung für die Beanspruchung von Absolutheit und als Folge des Angriffscharakters der Dogmatik fordert Tillich, „daß ihre erste Bestimmung schlechthin allgemein sein muß“¹⁸: Sie muss ohne Einschränkung für alle gelten können und von dem Zeugnis ablegen, was alle unbedingt angeht. Diese Voraussetzung wird durch ihren Unbedingtheitscharakter erfüllt, dadurch, dass ihr Gegenstand den Anspruch erhebt, über ein „Moment des unbedingten Auf-uns-zu-Gehens“¹⁹ zu verfügen und dadurch von wahrer Existenz zeugt. Es geht der Dogmatik weder darum, die Religion als psychologisches Phänomen bewusstseinsintern aufzuweisen oder die evolutionsbiologische oder soziologische Funktion von Religion für das gesellschaftlich-zweckmäßige Zusammenleben aufzuzeigen, noch „die Offenbarung zu einem fragwürdigen Sonderereignis, das Christentum zu einer Religion unter anderen“²⁰ zu subsumieren. All dies würde ihr den unbedingten Anspruch auf Allgemeingültigkeit nehmen und sie zu einem Phänomen neben anderen degradieren. In der Dogmatik-Vorlesung wird die Notwendigkeit der konkret-normativen Gültigkeit der Dogmatik weiterhin durch eine Ablehnung der rationalistischen Methode begründet. Wahrheit lässt sich laut Tillich nicht ausgehend von der reinen Evidenz aufweisen, sondern nur im Ausgang von der Wirklichkeit, da in ihr Zeugnis von der Existenz abgelegt werden könne, die „in sich unendlich“ ist und folglich „in ihrer Konkretheit nie auflösbar in allgemeine
Vgl. Kleffmann, T., Nietzsches Begriff des Lebens und die evangelische Theologie, S. 423 f.: Kleffmann interpretiert den Angriffscharakter der Dogmatik, der in dem Nietzsche Zitat zum Ausdruck kommt als einen Angriff, durch den die Theologie „‚[…] die Welt und alle Wirklichkeit’“ angreift und dadurch „einen ‚Absolutheitsanspruch’ und ‚Unbedingtheitsanspruch’ [erhebt], in dessen Selbstbewußtsein sie wieder ‚symbolkräftig’ sein kann.“ Gleichzeitig sei „mit diesem Nietzsche-Zitat gleich zu Beginn der Dogmatik […] auch bereits Pathos und Kern des Lebensbegriffs Nietzsches aufgerufen.“ EN, Bd. XIV, S. 4. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
2.2 Wahrheit aus konkret-dogmatischer Perspektive
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Sätze“²¹ bzw. logisch-rationale Formeln. „Die Wahrheit des Wirklichen muß also eine Schicht tiefer liegen als die rationale Allgemeinheit und Notwendigkeit.“²² Folglich lasse sich Wahrheit gerade im Konkreten, Persönlichen, Religiösen anfinden. Würde die Dogmatik lediglich von einem objektiv-gültigen Gegenstand zeugen, welcher auf einem „vernüftige[n] allgemeingültige[n] System religiöser Wahrheit“ basiert, so würde dem Normativen die Lebendigkeit geraubt werden. Es würde zu einem „abstrakt-Allgemeingültigen nach Art der Naturgesetzte oder logisch-mathematischer Wahrheiten“ werden.²³ Das Unbedingte, verstanden als ein Auf-uns-Zukommendes, uns unbedingt Angehendes, kann jedoch nicht zu einem abstrakten Phänomen degradiert werden. Der lebendige Zusammenhang, in welchem jeder Einzelne steht, macht es unmöglich, das Unbedingte gegenständlich-abstrakt zu fassen. Insofern ist die Notwendigkeit der konkreten Normativität durch die „Existentialität der Beziehung auf das Unbedingte“²⁴ begründet. Dabei dürfe Wahrheit jedoch auch nicht mit der Wirklichkeit selbst identifiziert werden, da diese stets zweideutig sei und damit „in einem Verhältnis der Fragwürdigkeit dem Unbedingten gegenüber“²⁵ stehe. Ein abstrakt hergeleiteter Gottesbegriff ist stets den Kategorien der Endlichkeit unterworfen, da er von ihnen abstrahiert, sich jedoch nicht über sie erhebt. Abstraktheit dürfe jedoch nicht mit der Aufhebung „individueller Besonderheit“ identifiziert werden. Denn das Existentielle, das Moment des unbedingten Angehens im Gottesbegriff, schließt „dieses ein[…], daß es die individuelle Besonderung aufhebt.“²⁶ Dadurch wird es jedoch nicht zu etwas Abstraktem. Indem der Mensch vom Unbedingten existentiell, und das heißt in seinem ganzen Sein, erschüttert wird, erlebt er Gott als unbedingt angehend und sieht in dieser Beziehung das wahre Verhältnis der gesamten Menschheit ausgedrückt. Hingegen enthält ein abstrakt entwickelter Gottesbegriff keinen Bezug zur individuellen Existenz. Er bleibt eine leere Konstruktion, die vom Wirklichen abstrahiert und nur theoretisch gewonnen ist. In solch einem Gottesbegriff kann der Mensch nicht seine tiefste Schicht ausgedrückt finden. „Jedes nur theoretische Unbedingte ist als Objekt für ein Subjekt bedingt, ist also kein Unbedingtes.“²⁷ Hingegen findet der Mensch im unbedingt Angehenden „die Tiefe des Subjektiven, die Ich-Wurzel des Ich“ ausgedrückt, die identisch ist mit der Tiefe des Objektiven und folglich einen Überschneidungs-
A.a.O., S. 11. Ebd. A.a.O., S. 8. Ebd. A.a.O., S. 11. A.a.O., S. 6. A.a.O., S. 30.
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2 Der Vollkommenheitsanspruch der Dogmatik
punkt von Subjektivem und Objektivem, Gott und Mensch darstellt.²⁸ Die Wahrheit, die im Konkreten begegnet und sich im Dogma kundgibt, drückt sich aus als „Richtung der Dinge von der Fragwürdigkeit zur Entscheidung“²⁹ oder als „Hinwendung des Fraglichen zum Entschiedenen“³⁰. Folglich ist Wahrheit nicht allgemein, sondern diese „Bewegung aus der Fragwürdigkeit der Dinge zur ihrer Entschiedenheit“, durch die sich Wahrheit ausdrückt, wird von Tillich verstanden als „konkrete Tat“.³¹ Auch gegen Schleiermacher möchte Tillich Dogmatik nicht als „Aussagen über Zustände des frommen Bewußtseins, näher über die in einer Kirchengemeinschaft zu einer Zeit geltenden Lehre“³² verstanden wissen. Dies würde lediglich eine Deskription bedeuten und den religiösen Normbegriff aufgeben. Für die positive Bestimmung von Dogmatik muss diese also sowohl definiert werden als Glaubenszeugnis von einer konkret-existentiellen als auch normativen Position aus. Dogmatische Sätze sind konkret-normativ. Dogmatik stellt etwas dar, was gelten soll, nicht etwas, was ist und historisch und psychologisch aufgezeigt werden kann. Sie erhebt den unbedingten, für jeden Menschen und für den ganzen Kosmos, auch für die Engel gültigen Wahrheitsanspruch.³³
Um das Anliegen eines jeden zu verkörpern, müsse die Dogmatik wieder symbolkräftig werden. Das könne sie jedoch nur dann, wenn ihre Begriffe allgemeinstes Zeugnis von dem ablegen würden, was uns unbedingt angeht. Dieser Forderung stehe folglich entgegen, den Bereich der Religion in eine heteronome Sondersphäre neben anderen kulturellen Bereichen zu lokalisieren und an althergebrachten, fest fixierten Traditionen und religiösen Praktiken nur um ihrer selbst willen festzuhalten – wie Tillich es dem Supranaturalismus vorwirft. Wenn Tillich an die Dogmatik den Anspruch stellt, symbolkräftig zu sein, dann bedeutet dies, dass von einem Gegenstand gezeugt wird, welcher keine Nebenordnung zulässt, der direkt als ein auf uns Zukommendes begriffen wird, dem sich nicht entzogen werden kann. Symbolkräftig ist eine Dogmatik laut Tillich dann, wenn sie nicht von einem Gegenstand redet, dem eine Verbindung zur existentiellen Situation des Menschen entbehrt und welchem sich der Mensch heteronom un-
Ebd. A.a.O., S. 11. A.a.O., S. 12. Ebd. A.a.O., S.8. A.a.O., S. 10.
2.2 Wahrheit aus konkret-dogmatischer Perspektive
333
terwerfen muss, sondern wenn sie von dem spricht, was jedem Menschen eigen ist und ihn deshalb unbedingt betrifft. Ziel der Tillichschen Dogmatik ist es, „daß alle in einem gemeinsamen Wort ihre tiefste Schicht ausgedrückt finden.“³⁴ Der Geltungs- und damit Wahrheitsanspruch der Dogmatik geht direkt aus ihrem Selbstverständnis hervor und grenzt sie gegenüber einer rein dogmengeschichtlichen oder religionsgeschichtlichen Darstellung ab.³⁵ Insofern kommt ihr kein deskriptiver, sondern normativer Charakter zu. Sie ist „wissenschaftliche Rede“³⁶ von dem, was uns unbedingt angeht bzw. vom Unbedingten. Das heißt, es wird nicht das Unbedingte selbst wissenschaftlich dargestellt oder bewiesen, sondern die Rede über das Unbedingte wird im wissenschaftlichen Zusammenhang und damit systematisch entfaltet. Insofern als das unmittelbar prophetische Zeugnis vom Unbedingten wissenschaftlich dargestellt wird, ist „[d]ie Wissenschaft nicht das Erzeugende, sondern das Formgebende.“³⁷ In der Dogmatik spricht sich der „unmittelbare Lebenszusammenhang“ des Menschen aus, der in dem „Angehen“ ausgedrückt ist, d. h. sie zeugt von einem existentiellen Verhältnis des Menschen zum Unbedingten und enthält damit die religiöse Norm.³⁸ Der unmittelbare Lebenszusammenhang drückt also den existentiellen Bezug aus, nur was in ihm erscheint, kann auch Erkenntnisobjekt werden.³⁹ Rede vom Unbedingten wäre also unmöglich, wenn nicht das Unbedingte in diesem erscheinen würde und damit existentiellen Charakter hätte. Unmittelbar ist dieser sich in der Dogmatik aussprechende Lebenszusammenhang, da es nicht möglich ist, ihm, in dem sich Gott für den Menschen ausspricht und der den Gegensatz von Subjekt und Objekt transzendiert, zu entgehen und den Gegenstand der Betrachtung, also Gott, abstrakt zu fassen. Denn dann hätte er nicht mehr die Macht, uns unbedingt anzugehen, über unser Heil zu entscheiden, unser gesamtes Sein aus der uns verknechtenden Selbstliebe, unserem Fürsichsein, zu befreien und uns gerecht zu machen. Dann ist er nur noch ein Gegenstand neben anderen, bedingten Gegenständen. Bereits in seiner Systematischen Theologie von 1913 beschreibt Tillich die Beziehungslosigkeit eines abstrakten Mythos zum menschlichen Bewusstsein. Der abstrakte Mythos erscheint dabei als Folge des Reflexionsstandpunktes, auf dem die Religion bzw. das religiöse Prinzip sich in einzelne Momente auflöst und nicht
A.a.O., S. 5. Vgl. a.a.O., S. 6. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. GW, Bd. I, S. 156.
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2 Der Vollkommenheitsanspruch der Dogmatik
mehr deren Einheit darstellt. Auf dem Reflexionsstandpunkt herrscht nach Tillich Unfreiheit. […] die Freiheit ist dem Reflexionsstandpunkt fremd. Die theoretische Reflexion fixiert die Begriffe und stellt den Freiheitsbegriff in eine abstrakte Isoliertheit […]. Praktisch fixiert die Reflexion die Freiheit auf eine bestimmte Erscheinungsform der Freiheit, ein Individuum, eine Zielsetzung, eine geistige Richtung, und hebt damit gleichfalls die Freiheit auf, die das Hinauskommen über jede ihrer Erscheinungsformen ist.⁴⁰
Durch das Fixieren der Freiheit auf eine „individuelle[…] Erscheinungsform der Freiheit“ bzw. die „Behauptung der Religion in einer bestimmten Kulturgestaltung“ hebt sie sich selbst als Freiheit auf, indem sie sich abhängig macht von etwas Individuell-Vergänglichem.⁴¹ Indem der eine Pol also zur Fixation von Bedingtem wird, intendiert die abstrakte Mystik in ihrer Isolation als Gegenpol eine Aufhebung und Negation von allem Kulturellen und Bestimmten. So hat sich auch das zweite Moment des religiösen Prinzips, das der Aufhebung der Freiheit vor dem Absoluten, verselbstständigt und zeichnet sich durch eine „rein negative Stellung dieser Mystik zur Reflexion“⁴² aus. Auf diese Weise ist jedoch die absolute Religion verfehlt. In ihr würden Freiheit und Mystik so in Beziehung stehen, dass Absolutheit gerade die „Einheit von Selbstbehauptung und Selbsthingabe der Freiheit“⁴³ bedeuten würde. Verselbstständigt sich hingegen der eine Pol gegenüber dem anderen, wird eine konkrete Erscheinungsform der Freiheit verabsolutiert, so erhebt sich der andere Part als selbstständiger Gegenpol gegen ihn. Abstrakte Mystik ist also stets als Reaktion auf ein sich selbst verabsolutierendes Bewusstsein zu verstehen, wogegen sie sich als Aufhebung jeglicher Bestimmtheit zu emanzipieren sucht. Die abstrakte Fassung des Gottesbegriffs leitet das Unbedingte jedoch aus dem Konkreten ab, da die alles Bedingte negierende abstrakte Mystik selbst „als ein Produkt des Reflexionsstandpunktes charakterisiert“⁴⁴ werden kann. Dies lässt sich dadurch erklären, dass der abstrakt gewonnene Gottesbegriff methodisch vom Bedingten induziert wird und folglich nicht über dieses hinausgehen kann. Es kann jedoch als Offenbarung nur das als unbedingt angehend auf den Menschen zukommen, was sich „durch ein NichtIch“ offenbart. „Wäre es anders, hätte die Manifestation keine Realität außer dem Ich, so könnte sie nicht gegen das Ich andringen.“⁴⁵ Hingegen ist die wahre, ab-
EN, Bd. IX, S. 311. A.a.O., S. 313 Ebd. Ebd. Ebd. EN, Bd. XIV, S. 31.
2.2 Wahrheit aus konkret-dogmatischer Perspektive
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solute Mystik allen Gegensätzen gegenüber erhaben, indem sie den Reflexionsstandpunkt nicht negiert, sondern transzendiert, ihm also nicht entgegensteht, sondern über ihm steht. Sie ist ihrem Wesen nach supranatural. Da das Unbedingte im menschlichen Lebenszusammenhang erscheinen muss, kann der Standort der Dogmatik nach Tillich – wie der aller Geisteswissenschaften – beschrieben werden als „konkrete Fundierung aller geistigen Sinnerfassung“.⁴⁶ Tillichs Argumentationsgang richtet sich dabei gegen den rationalistischen Versuch, rationale, allgemeingültige Normen aufzustellen, die jenseits aller Konkretion gültig sind; er kritisiert die Loslösung rationaler Normen von der konkreten „Sache und Situation“. Vielmehr sei Dogmatik Zeugnis von der Situation des persönlichen Ergriffenseins vom Unbedingten und folglich reflektierendes Glaubenszeugnis. „Ein Rationalismus, der die geistigen Dinge nach allgemeinen Normen lösen will, hat Eigenschaft [sic!], daß er sich dem Gericht entziehen will, das über jedes konkrete Wagnis [ergeht].“⁴⁷ Die Dogmatik müsse aber, gerade im Gegensatz zu rein rationalistischen Normen, Zeugnis vom in der Geschichte stehenden Menschen ablegen. Denn nur das geschichtliche Sein kann nach Tillich seine Bestimmung und seinen Sinn auch verfehlen; nur im Zusammenhang der Geschichte kann das Gericht erfahren werden, da Geschichte gleichbedeutend mit Existenz ist. Nur das Existierende ist frei und kann sein Selbst unabhängig von Gott setzen. Diese Selbstaktualisierung ist dann mit dem Verfall ins Dämonische verbunden, wenn das Selbst sich gegenüber Gott Souveränität verschafft, indem es sich selbst absolut setzt und die Verbundenheit mit dem Unbedingten leugnet. Diese Selbstbezogenheit tritt als Hybris in Erscheinung, einem Merkmal des entfremdeten Zustandes.⁴⁸ In seiner Selbstisolierung erfährt der Mensch das Gericht Gottes als Fehlen eines unmittelbaren Sinnes. Der Mensch ist von seinem Sein selbst entwurzelt. Nur im Konkreten der Geschichte kann aber auch Gnade empfangen werden. Gnade und Gericht stehen bei Tillich folglich so in Korrelation, dass sich das Gericht als die Wirkung der Gnade Gottes erweist, indem durch es der unbedingte Sinn verwirklicht wird, der dem Menschen im Zustand seiner Selbstisolation nicht zugänglich ist. Insofern kann „[d]as Gericht […] Gnade und das Fehlen des Gerichts Gericht sein: denn endgültiges Gericht ist nicht Unheil und nicht Verzweiflung, sondern Fernbleiben von unbedingtem Sinn.“⁴⁹ Dieser unbedingte Sinn werde
A.a.O., S. 100. Ebd. Vgl. ST II, S. 57 ff. EN, Bd. XIV, S. 250.
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2 Der Vollkommenheitsanspruch der Dogmatik
jedoch durch das Gericht erhalten. Das Fernbleiben der absoluten Gerechtigkeit wiederum könne als größtmögliches Gericht empfunden werden. Es wird deutlich, dass Tillich Gericht als Offenbarung der Verfehlung des Sinnes nicht mit einer Bestrafung Gottes assoziiert, die auf eine Missachtung der durch ihn erlassenen Gebote erfolgt. Das Gericht entspricht also nicht dem Vergeltungsgedanken nach Begehen einer Einzeltat (z. B. einer Gebotsüberschreitung).Vielmehr ist ein Sünder derjenige, der sich seinem Wesen nach von Gott abkehrt und das Gericht ist die Gottesferne, die Beziehungslosigkeit. Es kann also – ähnlich wie bei K. Barth – die „Wesenswidrigkeit der Sünde […] nur im Licht der Überbietung des Wesensmäßigen durch die Gnade verstanden werden.“⁵⁰ Gnade kann so verstanden aber nur an denjenigen ergehen, der im Konkreten steht. Nur innerhalb der konkreten Wirklichkeit kann die Sünde bzw. das Dämonische überwunden werden. Folglich kann Erlösung auch nur im Konkreten und folglich im Geist erfolgen: Nicht durch von außen an den Menschen herangetragene abstraktrationale Normen, die sich außerhalb der Geschichte und des Gerichts befinden, kann die Dämonie überwunden werden, sondern die Überwindung der Wesenswidrigkeit kann nur im Geist selbst als einem geschichtlichen Ort erfolgen – in ihm wird Gnade empfangen. Das Gericht wird von Tillich also als Hinweis auf das Getragensein des Menschen vom Unbedingten verstanden, da in ihm „[…] offenbar [wird], daß das Seiende auch im Widerspruch an das Unbedingte gebunden ist.“⁵¹ In ihm erweist sich das Unbedingte als die Wahrheit des Tragenden am Sein, nicht außerhalb des Seins. Wahr ist, was für den Geist ist, was im Seienden die Existenz über das schlichte Faktum der Gegebenheit hinausführt in die Sinnhaftigkeit dieser Gegebenheit, in die Sphäre der Einheit mit dem Unbedingten. Der Versuch, sich dem Gericht zu entziehen und sich folglich außerhalb der konkreten Norm zu bewegen, die immer geschichtlich ist (und damit stets in der Existenz als dem Ort des Gerichts generiert wird) führt nach Tillich zum „Gericht der Sinnentleerung“.⁵² Denn abstrakte Normen bleiben inhaltslos und leer, wenn sie nicht die Situation des Menschen erreichen. Sie verlieren ihren Sinn. Das Vorangehende hat verdeutlicht, dass sich Wahrheit nur im Konkreten als Wahrheit erfüllen kann. Folglich kann sie als eine zwar transzendente Realität definiert werden, die, insofern als sie sich am Menschen erfüllt, stets auch das Moment des Allgemeinen in sich trägt, jedoch ohne ihre Realisation im Besonderen keine Gültigkeit hätte und folglich nur durch das wirkliche Eingehen in die
A.a.O., S. 205. Ebd. A.a.O., S. 215.
2.2 Wahrheit aus konkret-dogmatischer Perspektive
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Sphäre des Konkreten Wahrheit beanspruchen kann. Dogmatik als dieser konkrete Standpunkt repräsentiert also das wahre Verhältnis zwischen Gott und Mensch, wie es sich in der Geschichte ereignet und die Dämonie bzw. Verkehrung der Beziehung überwindet. Nur in diesem „konkreten Erfaßtwerden“ besteht auch die Lebendigkeit der Wahrheit, denn diese „ruht nicht an einem abstrakten Ort, sondern in der Spannung des konkreten Daseins, in dem sie sich erfüllt.“⁵³ Wahrheitserkenntnis und Leben stehen in einem korrelativen, lebendigen Zusammenhang und führen nur in dieser Konstellation, nicht in der Isolation voneinander, zur Teilhabe am Sinn. Wahrheitserkenntnis erfüllt sich nur im Lebendigen und das Lebendige kommt zum unbedingten Sinn nur durch Wahrheitserkenntnis. Es stellt sich im Folgenden die Frage, inwiefern der Dogmatik trotz ihres konkret-normativen Standpunktes ein Wahrheitsanspruch zukommen kann, da dieser Standpunkt doch stets subjektives Zeugnis der individuellen Erfahrung des Unbedingten ist.
2.2.2 Das Getragen-Sein des Menschen 2.2.2.1 Das Allgemeine als das Tragende Da Wahrheit im Konkreten begegnet und also weder etwas Abstraktes, noch etwas nur Allgemeines ausdrückt, sollen im Folgenden die Begriffe Allgemeines, Besonderes und Unbedingtes einer näheren Analyse unterzogen werden, um den Wahrheitsbegriff transparenter zu machen. Dabei soll vor allem der Unterschied zwischen dem Unbedingten und dem Allgemeinen hinsichtlich ihrer Trägerfunktion geklärt werden. Tillich spricht einerseits davon, dass „alles Einzelne […] getragen [ist] vom Allgemeinen, von Gestalten und Gesetzen“⁵⁴, andererseits sei es
A.a.O., S. 116. A.a.O., S. 24: Das Allgemeine im Sinne von „Gestalten und Gesetzen“, die das Individuelle tragen, meint vielmehr die Formzusammenhänge, in denen jedes Individuum steht, d. i. sein geschichtliches Dasein bzw. sein kausales Dasein in Raum und Zeit, seine Materie, aus der er geschaffen ist, die Konstruktionsform seins Bewusstseins – sprich – alles, was das Individuum zu einem Menschen macht. Das Allgemeine würde so gesehen das genus proximum der Kategorie „Mensch“ darstellen, während sein differentia specifica etwa „Vernunftbegabung“ sein könnte, die ihn zum Beispiel vom Tier oder unbelebter Materie unterscheidet. Das Allgemeine wäre nach diesem Beispiel nicht das artunterscheidende Merkmal, sondern das, was Mensch-Sein überhaupt erst bedingt und die Voraussetzung darstellt, dass überhaupt etwas existieren kann. Vgl. a.a.O., S. 229: Auch im Zusammenhang der „Erhaltung der Weltform“ spricht Tillich davon, dass die „Wesensgesetze“ und die Weltform als die das Individuum tragenden Kategorien auch in der Wesenswidrigkeit erhalten bleiben: „Nur im ganz Einzelnen gewinnt das Wesenswidrige Existenz. Aber das Individuelle, das Einzelne, das Selbst ist getragen von übergreifenden Zu-
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jedoch auch vom Unbedingten getragen, welches im Durchbruch in unsere Wirklichkeit einbreche: „Das uns unbedingt Angehende als das unbedingt Verborgene, Fremde und zugleich unser Wesen Tragende bricht hinein in unsere Wirklichkeit, in unser daseiendes Ich […].“⁵⁵ Dennoch können Unbedingtes und Allgemeines nicht einfach miteinander identifiziert werden. Wie stehen sie miteinander in Beziehung? Tillich kritisiert, dass das Allgemeine im Idealismus mit dem Unbedingten identifiziert werde, indem es als die eindeutige Erscheinung des Wesens im Bedingten gedeutet werde. Die „Zweideutigkeit des Wirklichen“⁵⁶ sei dadurch missachtet, dass „die Wirklichkeit in der Tat [als] Offenbarung und die Offenbarung [als] Verwirklichung des Tragenden“⁵⁷ verstanden werde. Dieses „Tragende ist das Allgemeine. Das Allgemeine aber ist nicht das unbedingt uns Angehende.“⁵⁸ Im Idealismus werde folglich das Allgemeine als das Wesenhafte gedeutet, welches auf unmittelbare Weise in der Wirklichkeit zur Erscheinung gelangen könne. Tillich kritisiert daran jedoch, dass das so verstandene Allgemeine nicht ein uns unbedingt Angehendes sein könne, da es, „sobald es nicht auf die Existentialität andringt […], sondern zu einem allgemeinen Sinnzusammenhang gemacht wird, abgelehnt werden kann.“⁵⁹ Zudem stünden Allgemeines und Bedingtes in einem rein negativen Verhältnis zueinander, indem das Allgemeine als das Wesenhafte nur durch die Negation des Empirischen zur Erscheinung gelangen könne. So erweise sich jedoch das Allgemeine nicht mehr als das Tragende des Endlichen. Tillich geht davon aus, dass das uns unbedingt Angehende als das unbedingt Existentielle uns „gerade da [betrifft], wo wir selbst im Allgemeinen stehen, nicht da, wo unser Allgemeines getragen ist von unserm schlechthin Individuellen, unsrer konkreten Existenz.“⁶⁰ Damit ist gemeint, dass das Allgemeine, welches vom Individuellen getragen ist, als Produkt desselben verstanden werden kann. Als Abstraktes ist es vom Individuellen geschaffen, transzendiert dieses jedoch nicht. Dadurch ist es stets auch relativ und kann abgelehnt werden. Unser „absolut Individuelles […] kann sich gleichgültig [ihm gegenüber] verhal-
sammenhängen, ist Wesensgesetzen unterworfen, denen es gehorchen muß, um existieren zu können.“ Die Form der Existenz bleibt in ihrer „Ganzheit“ also trotz Wesenswidrigkeit erhalten, trotzdem, dass sie „(material) wesenswidrig ist“. Auch diese Form entspricht dem, was Tillich unter dem Allgemeinen versteht. Das Allgemeine bleibt also tragend. A.a.O., S. 15 – 16. A.a.O., S. 22. Ebd. Ebd. Ebd. A.a.O., S. 22.
2.2 Wahrheit aus konkret-dogmatischer Perspektive
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ten.“⁶¹ Das Unbedingte hingegen bricht da durch, „wo wir selbst im Allgemeinen stehen“, nicht dort, wo wir nur auf unserer eigenen Individualität ruhen, die sich selbst und ihre Schöpfung zur Unbedingtheit erhebt. Das bedeutet, dass das Allgemeine und unsere konkrete Existenz als Standorte des Menschen vom Unbedingten erschüttert und durchbrochen werden. Es gibt keinen Weg vom Bedingten zum Unbedingten; weder, indem das Tragende als das Unbedingte mit dem Allgemeinen, noch mit einem Konkret-Individuellen gleichgesetzt wird. Als abstraktes Allgemeines könnte es nicht an unser Wesen rühren, da es kein uns unbedingt Angehendes wäre. „Unsere konkrete Existenz wird vom Allgemeinen nicht angesprochen.“⁶² Offenbarung kann also nie Durchbruch „des Allgemeinen in das Besondere“ sein, da das Allgemeine aus dem Besonderen stammt.Vielmehr ist sie Offenbarung „des unbedingt-Existentiellen in das Wirkliche.“⁶³ Das Allgemeine ist auch Teil dieses Wirklichen. Wenn Tillich davon spricht, dass die Absolutheit „vom Allgemeinen her […] keinen Ort im Einzelnen, Einmaligen mehr finden“⁶⁴ kann, so ist damit gemeint, dass das Allgemeine nicht als vollkommene, absolute Offenbarung im Einzelnen fungieren kann. Vom Allgemeinen her ist dies nicht möglich. Es kann nichts weiter enthalten, was nicht bereits im Einzelnen oder in dessen Totalität vorhanden wäre. Die Erscheinungsform der vollkommenen Offenbarung ist nach Tillich also die der „konkreten Absolutheit“. Das bedeutet, dass Offenbarung sich im und am Konkreten ereignet, ohne dass jedoch ein konkreter, individueller Heilsweg absolut gesetzt wird (Tillich nennt die Absolutsetzung eines Heilsweges „Naivität dem Heilsweg gegenüber“), sondern so, „daß der Heilsweg in sich die Tiefe hat, über sich hinauszuweisen“⁶⁵, und dadurch nicht an sich selbst als Heilsweg festhält. Wenn also davon gesprochen wird, dass das Individuelle vom Allgemeinen getragen ist, so ist damit lediglich auf die Strukturanalogie allen Seins hingewiesen, die denselben Gesetzen und Strukturen unterliegt. Als Träger des Seins bedeutet das Allgemeine die notwendige, wesenhafte Voraussetzung dafür, dass überhaupt ein Individuelles existieren kann. Denn die allgemeinen Kategorien wie Kausalität und Substanz sind Bedingungen des Seins. Sie sagen deshalb aber noch nicht etwas über den Sinn und das Ziel der Existenz aus, übersteigen nicht das, was in Raum und Zeit gegeben ist. Dieses Allgemeine wird im Durchbruch nicht zerstört, es bleibt die uns tragende Form erhalten, denn „[w]as nicht im Zusammenhang der uns tragenden Form erscheint, erscheint nicht wirklich für uns, d. h. geht uns nicht unbedingt etwas
A.a.O., S. 23. A.a.O., S. 22. A.a.O., S. 23. A.a.O., S. 48. Ebd.
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an.“⁶⁶ Es ist also Bedingung einer wahren Offenbarung, dass die Form, in der das Unbedingte als unbedingt Angehendes für uns erscheint, nicht zerstört, sondern durchbrochen wird. Wesentliche Funktion des Allgemeinen ist es folglich, die Form und damit die Bedingung für den Durchbruch bereit zu stellen. Im Vorangehenden wurde die Beziehung von Unbedingtem und Allgemeinem dargelegt. Im Folgenden gilt es noch die Funktionen, die das Allgemeine im Bedingten einnimmt, näher zu beleuchten. Es lassen sich zwei Funktionen aufführen, die in ihrer Wirkung entgegengesetzt sind: Zum einen besitzt das Allgemeine eine antidämonische Funktion, zum anderen treibt es – im Gegensatz dazu – zur Selbstbemächtigung des Menschen, aus Angst, seine substantielle Tiefe zu verlieren, die seine Individualität ausmacht. Beide Funktionen gehen jedoch nicht vom Allgemeinen selbst aus; „[n]icht das Konkrete erhält eine Funktion vom Allgemeinen her […]. Sondern das Allgemeine erhält eine Funktion im Konkreten […], die nämlich, der Hybris des Konkreten, seiner Dämonisierung entgegenzutreten“⁶⁷ und so einer Verabsolutierung des eigenen Selbst entgegenzuwirken. Damit ist die erste Funktion angesprochen. Antidämonisch wirkt das Allgemeine, indem das Individuum in Ansehung seiner und durch Reflexion auf seine eigene Verfasstheit realisiert, dass es selbst von denselben Gesetzen, Strukturen und Prinzipien getragen ist, die auch für anderes Sein wesentlich sind und damit über eine strukturelle Analogie zu anderem Sein verfügt. Gleichzeitig geht damit die Einsicht einher, dass es in seinem Wert und seiner Geltung nicht überlegen ist und folglich kein Recht hat, sich selbst oder seinem Heilsweg Unbedingtheit zuzuschreiben; es erkennt sich als Teil von der Welt.⁶⁸ Mit diesem A.a.O., S. 24. A.a.O., S. 48. Vgl. Greifenstein, K., Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums, in: Klein, R.-A., Polke, C., Wendte, M., Hauptwerke der Systematischen Theologie. Ein Studienbuch, Tübingen 2009, S. 194: Die Realisierung des Selbst, nur ein Teil von der Welt zu sein und demnach auch eine individuell variable Vorstellung von Gott als dem Absoluten zu haben, ist bereits von Troeltsch ins Zentrum seines religionswissenschaftlichen Bestrebens gerückt worden. In seiner Absolutheitsschrift vertritt er gleich im ersten Kapitel programmatisch den Standpunkt der „Erfahrung historischer Relativität“, welcher bei ihm „ins Zentrum des Verständnisses von Geschichte“ überhaupt rückt. (S. 194) Diese Relativität in der Geschichte bedeutet bei ihm, „‚daß alle geschichtlichen Erscheinungen in der Einwirkung eines näher oder entfernter wirkenden Gesamtzusammenhangs besondere, individuelle Bildungen sind, […] daß erst ihre Zusammenschau im Ganzen eine Beurteilung und Bewertung ermöglicht‘“ (S. 195) Dadurch ist nicht ausgeschlossen, dass innerhalb der Geschichte bestimmte Werte als vollkommen gewertet werden können. Auch Troeltsch sieht im Christentum bzw. „‚in seinem Gottes- und Offenbarungsglauben die Kraft der absoluten Religion […]‘“ (S. 198) wirken, allerdings ist „[i]n der christlichen Form aber […] die ‚Absolutheit, die sich so ergibt, […] nichts anderes als die Höchstgeltung und die Gewißheit, in die Richtung auf die vollkommene Wahrheit sich eingestellt zu haben‘. Damit ist der
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Vorgang und vor dem Hintergrund der Erkenntnis der absoluten Bedeutungslosigkeit des eigenen Selbst vollzieht sich gleichsam das Bewusstsein der existentiellen Einsamkeit, das Gefühl des Verloren-Seins und Auf-sich-selbst-geworfenSeins im Unendlichen des Universums.⁶⁹ An dieser Stelle setzt die Frage nach dem Sinn ein, wobei aus der christlichen Offenbarung in ihrer die existentielle Einsamkeit des Einzelnen negierenden Zuwendung Gottes zum Menschen die Antwort entnommen werden kann, das in Christus die existentielle Einsamkeit (im Sinne des Verlusts einer Beziehung zum Unbedingten) eines jeden Menschen überwunden ist. Der Absolutheitsanspruch der vollkommenen Offenbarung gründet sich dabei auf der „Art, wie das Konkrete selbst die Paradoxie des Verhältnisses zum Unbedingten in sich zur Verwirklichung bringt“, welches in der vollkommenen Offenbarung stets eine Haltung voraussetzt, die von der Gewissheit getragen ist, „daß nichts, auch es [das Christentum] selbst nicht, absolut ist vor Gott.“⁷⁰ Die zweite Funktion, die das Allgemeine im Konkreten erhält ist der ersten entgegengesetzt. Diente es dort der Abwehr von dämonischen Strukturen, so liefert es gleichsam auch die Voraussetzung für die Realisierung der Unerschöpflichkeit des Selbst: „[…] die innere Unerschöpflichkeit des Selbst, seine Individualität, könnte nun doch nie zur Existenz kommen, wenn sie nicht vom Wesen getragen wäre, wenn nicht das Allgemeine, das Gesetz der Natur und Gemeinschaft in ihm wäre.“⁷¹ Unerschöpflichkeit an sich ist noch nicht dämonisch. Allerdings wirkt sie destruktiv, wenn der Akt der „Selbstbemächtigung“ dazu führt, dass der Mensch sich außer Gott setzt. Dies geschieht aus Angst der Preisgabe der Individualität des Selbst. Es hat Angst, seine existentielle Tiefe zu verlieren und dem Allgemeinen zu verfallen. „In jeder Unschuld ist die Angst vor dem Verlust der Individualität […]; darum wird die Unerschöpflichkeit des Indi-
Begriff ‚Absolutheit‘ in den der ‚Höchstgeltung‘ des Christentums überführt.“ (S. 199 – 200). Im Gegensatz zu einer Absolutheit bedeutet der Vollkommenheitsanspruch bzw. der Anspruch auf Höchstgeltung, dass „das Absolute selbst in keiner religiösen Vorstellung dingfest zu machen [ist], sondern […] jenseits der Geschichte […]“ liegt. (S. 195) Ein potentieller „[…] Konvergenzpunkt [der verschiedenen historischen Religionen] aber bleibt als ‚Ziel‘ der Geschichte unseren Vorstellungen von Geschichte jenseitig.“ (S. 196). Vgl. Kleffmann, T., Grundriß der Systematischen Theologie, Tübingen 2013, S. 45: Die Realisation des Fürsichseins des Menschen, welches ihm im Todesbewusstsein vergegenwärtigt wird, wird von Kleffmann auch als Prozess des Erwachsen-Werdens beschrieben. Das „Selbstbewußtsein [ist] im Todesbewußtsein erwachsen […].“ Vernünftig wird der Mensch gleichsam an dem Punkt, wo er „die Grenze seiner Verstandeserkenntnis reflektiert, die sein Fürsichsein ist […].“ (S. 48). EN, Bd. XIV, S. 49. A.a.O., S. 196.
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viduellen heraufgeholt und der Form entgegengesetzt als Widerstand gegen den Übergang ins Wesen.“⁷² Insofern liefert das Allgemeine auch den Anlass zur eigenen Unbedingt-Setzung des Selbst, welche als Versuchung erscheint. „Die Versuchung wendet sich an das Selbst, an den Akt der Selbstbemächtigung.“⁷³ Dieser im „Akt der Selbstbemächtigung“ gründende „Widerstand gegen den Übergang ins Allgemeine“⁷⁴ ist dem Individuum deshalb möglich, da es an der inneren Unerschöpflichkeit des Unbedingten teilhat. Anstoß zu diesem Prozess liefert allerdings die Angst, die Individualität preiszugeben. Das Allgemeine als der eine Pol wird für das Individuum so zum Anlass der Überbetonung des anderen Pols, der Unerschöpflichkeit des Selbst bzw. der individuellen Selbstheit. Diese führt in Abkoppelung vom Unbedingten zur Selbstverherrlichung und steht so dem Allgemeinen entgegen. Denn „[i]n dem Maße, in dem von einem Selbst diese Unerschöpflichkeit gilt“⁷⁵, leistet es auch Widerstand gegen das Allgemeine. Dieser Vorgang wird von Tillich im Zusammenhang des Falls beschrieben. Allerdings bedeutet dies nicht, dass es sich um einen einmaligen, geschichtlichen Akt handelt.Vielmehr hat der Fall bei Tillich typische und symbolische Bedeutung. Er vollzieht sich auch in der Gegenwart – immer dort, wo dämonische Strukturen aktuell werden. Er charakterisiert unsere Situation vor Gott, unser Stehen in der Zweideutigkeit. „Aussagen abgesehen vom Sündenfall gib es nicht; denn dieses ist die Lage vor Gott.“ Der Sündenfall kann, ebenso wie die Schöpfung „als Symbol der Kreatürlichkeit, nicht als kausaler Akt“ gedeutet werden.⁷⁶
A.a.O., S. 197. Tillichs Terminologie ist an dieser Stelle nicht ganz eindeutig, da er hier das „Wesen“ mit dem Allgemeinen, dem Gesetz des Seins, gleichsetzt, an anderen Stellen jedoch das Allgemeine mit dem Wesen des Wesens assoziiert. Ebd. A.a.O., S. 195. A.a.O., S. 196. A.a.O., S. 112; Vgl. ST II, S. 35: „Die Theologie muß klar und unzweideutig den ‚Fall’ als Symbol für die universale menschliche Situation darstellen, nicht als Titel einer Geschichte, die sich einmal ereignet haben soll.“ Wenn Tillich den Fall als „Abwendung des Menschen von Gott“ interpretiert, so ist diese „Möglichkeit […] eine Qualität der Struktur der Freiheit als solcher […].“ (a.a.O., S. 39) Als Qualität hat der Fall ahistorischen Charakter. Er ereignet sich also immer dort, wo die Beziehung von Gott und Mensch durchschnitten ist. Entsprechend der Dresdner DogmatikVorlesung, in welcher Tillich die Möglichkeit des Falls auf die Teilhabe des Menschen an Gottes Unerschöpflichkeit zurückführt, geht er auch noch in seiner ST davon aus, dass es „das Ebenbild Gottes im Menschen [ist], das die Möglichkeit des Falls schafft. Nur was Wesen, was Ebenbild Gottes ist, hat die Macht, sich von Gott zu trennen.“ (ebd.) Der Übergang von der Essenz bzw. „träumenden Unschuld“ zur Existenz wird von Tillich als „ursprüngliche[s] Faktum“ gedeutet. „Es ist wirklich in jeder Wirklichkeit. Das bedeutet, daß der Übergang von der Essenz zur Existenz eine universale Qualität des endlichen Seins ist. Der Übergang ist kein Ereignis in der Vergangenheit, denn er geht allem, was sich in Zeit und Raum ereignet, ontologisch voraus.“ (a.a.O.,
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Die Gegensätzlichkeit von Selbstheit bzw. Unerschöpflichkeit und dem Allgemeinen besteht allerdings nur dann, wenn sich einer der beiden Pole verselbstständigt und gegen den anderen stellt. Nur in der Isolation wirkt die Unerschöpflichkeit dämonisch, indem sie die Beziehung zu Gott durchschneidet. Als Folge des isolierten Zustandes und der Selbstbemächtigung des Menschen verliert der Mensch seine unmittelbare Beziehung zu Gott, die den Akt der Religion als Versuch einer Wiederherstellung der Unmittelbarkeit von Seiten des Menschen notwendig macht. Religion hat für Tillich stets die negative Konnotation, Signum der Entfremdung des Menschen zu sein, denn durch den religiösen Akt setzt sich der Mensch „außer Gott“. „[…] Religion ist der Ausdruck des außer ihm Stehens. Religion ist immer Hybris und Mißtrauen.“⁷⁷ Was Tillich hier jedoch nicht erwähnt ist die Tendenz des sich außer Gott setzenden Menschen, Gott völlig zu leugnen und so die Beziehung ganz zu verlieren. Was hier mit der negativen Konnotation des religiösen Aktes beschrieben ist, müsste als Entfremdung gerade deshalb gelten, da die Gerichtetheit auf Gott im religiösen Akt keine unmittelbare mehr ist und die Mittelbarkeit die Möglichkeit des „falschen“ oder „dämonischen“ Weges, eine Beziehung zwischen Gott und Mensch herzustellen, einschließt. Dämonisch wäre ein Weg dann, wenn „Religion die Tendenz [hat], sich als isolierte Form herrschaftlich über die Formen zu setzen, den Formzusammenhang zu zerbrechen und eine, endliche Form unbedingt zu setzen.“⁷⁸ Jedoch wird auch der Akt der Religion selbst von Tillich – ganz unabhängig auf welchem Wege oder über welche Religion eine Beziehung hergestellt wird – als Trennung und folglich als Signum des entfremdeten Zustandes gedeutet. Gleichzeitig stellt die Situation der Entfremdung und Isoliertheit wiederum eine Bedingung des Durchbruchs dar, indem der Mensch an einen Punkt getrieben wird, an dem er das Außer-GottStehen bzw. sein Fürsichsein und seine eigene Unbedingtsetzung als existentielle Einsamkeit und individuelle Nichtigkeit erlebt. Der Mensch wird an einen Punkt getrieben, an dem das Fürsichsein unerträglich wird und die existentielle Angst vor der eigenen Vergänglichkeit zu der Frage nach Gott führt. Agens dieses Prozesses ist jedoch nicht das Allgemeine, sondern das Konkrete selbst, welches sich in seiner Stellung gegenüber dem Allgemeinen selbst reflektiert und seine entfremdete Situation als existentielle Angst erlebt. Dies ist aber wiederum nur deshalb möglich, da das Konkrete vom Allgemeinen getragen ist. Die Funktion
S. 43) Der Fall kann sich also auch in der Gegenwart, im Hier und Jetzt jederzeit ereignen, da der Übergang von der Essenz zur Existenz „im Charakter der Existenz selbst liegt. Es ist ein Akt der Freiheit, der in die Breite des universalen Schicksals eingebettet ist. In jedem individuellen Akt verwirklicht sich der entfremdete Charakter des Seins.“ (a.a.O., S. 45). EN, Bd. XIV, S. 197. A.a.O., S. 228.
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des Allgemeinen im Individuellen bedeutet also den Einbruch der Erkenntnis, dass Unerschöpflichkeit nur dem Unbedingten zukommt und der Mensch in seiner Richtung auf das Unbedingte stets nur das Allgemeine intendieren kann (das, was Tillich unter der Unbedingtheit der Form versteht wie z. B. den kategorischen Imperativ oder den Satz A = A). Das Unbedingte kann dadurch als Positives jedoch nicht erreicht und also nicht durch Intention auf das Allgemeine zur Verwirklichung getrieben werden. Es ist also weder mit dem Allgemeinen noch mit dem Besonderen bzw. Konkreten zu identifizieren (das wäre ein Dämon), sondern es bricht ein in die Strukturen der Wirklichkeit und transzendiert diese, ohne sie jedoch außer Kraft zu setzen. Wahrheit vollzieht sich dabei, indem Allgemeines und Individuelles miteinander in Korrelation stehen und sie verwirklicht sich in diesem dialektischen Verhältnis als konkrete Tat, nämlich als Richtung des Menschen auf das Unbedingte. Sie erfüllt sich also als konkreter Ausdruck des im existentiellen Zusammenhang und in der Einheit von Allgemeinem und Besonderem stehenden Ergriffenseins des Menschen vom Unbedingten. In-der-Wahrheit-Stehen bedeutet für Tillich immer in der Wirklichkeit verwurzelt zu sein, sich jedoch über diese hinaus in Richtung der Entscheidung zu bewegen, aus der Situation der Konkretheit das Unbedingte zu intendieren. Dieses Wahrheitsverständnis korrespondiert direkt mit der Bestimmung von Normativität in der Religionsphilosophie. Sie ist ein schöpferischer Standpunkt, der Schöpfung als „[d]ie Einheit von Intention auf das Allgemeine und Verwirklichung im Besonderen […]“⁷⁹ versteht und in dieser Intention sich Wahrheit zur Geltung bringen lässt. In der konkreten Wahrheit stehen, bedeutet also, „zur Entscheidung für das Unbedingte“⁸⁰ zu treiben. Damit nimmt Tillich auch im Ausgang von seiner Dogmatik Abschied von einem Wahrheitsbegriff, der neben der Sphäre des Immanent-Wirklichen eine Sphäre der Transzendenz abgrenzt, die jenseits des Subjektes in einer objektiven Sphäre angesiedelt ist. Vielmehr realisiert sich Wahrheit auch hier wieder im Vollzug, und zwar als „konkrete Tat“⁸¹ und in der Richtung auf den unbedingten, jeden Seinszusammenhang fundierenden und doch über diesen hinausweisenden Sinn.⁸² Dieses dynamische Wahrheits-
GW, Bd. I, S. 214. EN, Bd. XIV, S. 12. Ebd. Vgl. Danz, C. Theologie als normative Religionsphilosophie, S. 102: Auch Danz interpretiert den in der Dogmatik vertretenen Wahrheitsbegriff als einen dynamischen: „Der Wahrheitsbezug der Dogmatik liegt in der mit dem Glaubensvollzug verbundenen Selbstdurchsichtigkeit des geschichtlichen Bewusstseins. Daher ist die von der Dogmatik darzustellende Wahrheit ‚keine allgemeine Wahrheit, sondern konkrete Tat‘. Tillich dynamisiert den Wahrheitsgedanken und fasst ihn als Entscheidung und verbindet ihn mit der kontingenten geschichtlichen Selbsterfassung des
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verständnis, welches Wahrheit nicht als eine objektive Tatsache begreift, sondern als ein Geschehen, welches sich nur an einem Subjekt erfüllen kann, spiegelt sich auch in Tillichs Christologie und der Frage nach der Wirkung des transzendenten Seins in Christus wider, was in Kapitel 2.5 näher beleuchtet wird.
2.2.2.2 Das Unbedingte als das Tragende Wie lässt sich nach dem bereits Erörterten jedoch die Frage beantworten, wie das Getragen-Sein des Seins vom Unbedingten verstanden werden kann, wenn vorausgesetzt wird, dass Tillich zwischen einer Trägerfunktion des Allgemeinen und dem Getragensein vom Unbedingten differenziert? Dass alles Sein von Gesetzen und Strukturen getragen ist, die überhaupt erst Menschsein ermöglichen, indem sie die Bedingungen des Daseins bilden (u. a. die Kategorien der Kausalität, Zeitlichkeit, Substanz etc.), steht außer Frage. Allerdings bedarf die Frage, was es bedeutet, dass das Unbedingte ebenfalls als Träger des Seins fungiert, noch einer genaueren Erläuterung: Das Tragen des Seins bedeutet nicht etwa eine Determination des Seins durch das ihn tragende Unbedingte, sondern es stellt vielmehr die Voraussetzung der Überwindung der Trennung von Unbedingtem und Bedingtem dar, was klassisch in der Schöpfungserhaltung und Vorsehung zum Ausdruck kommt. Die Trägerfunktion des Unbedingten wird von Tillich im Zusammenhang der „Erhaltung des Seins in der Zweideutigkeit des Kreatürlichen“⁸³ behandelt, dem Ineinander von Wesensgemäßem und Wesenswidrigem in der Existenz. Das Sein in der Zweideutigkeit wird von Tillich nicht mehr als Kreatürlichkeit beschrieben, sondern als „Geschöpflichkeit“⁸⁴. Diese drücke das Stehen in der Zweideutigkeit, in der Existenz aus, in der auch dämonische Mächte walten können und das Wesensgemäße nicht aufgehoben, aber in seiner Wirkung verkehrt werde. Die „Wesenheiten der Dinge“ selbst erachtet Tillich als unvergänglich. „Aber ihr Vollzug kann sie verhüllen. Die Richtung, in der sie wirken, kann widerspruchsvoll sein […].“⁸⁵ Es wird allerdings davon ausgegangen, dass das Unbedingte trotz der Wesenswidrigkeit tragend wirkt und dass das Sein und die Weltform sowie der Sinn trotz Zerspaltenheit erhalten bleiben. Die Erhaltung sei jedoch nicht so zu verstehen, dass die Wesenswidrigkeit völlig aufgehoben wird – sie habe weiterhin Bestand – sondern sie bedeute ein Tragen des Unbedingten trotz WesenswidrigBewusstseins in der ihm eigenen Reflexivität.“ Gleichzeitig findet dadurch eine „Rückbindung an den individuellen Glaubensvollzug“ statt. EN, Bd. XIV, S. 224. A.a.O., S. 223. A.a.O., S. 253.
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keit. Diese sei gleichsam „[i]m Zusammenhang der Welt […] so eingeordnet in das Wesensgemäße, daß die Welt erhalten wird und ihr Sinn sowie der Sinn jedes Einzelnen in ihr zur Erfüllung kommen kann.“⁸⁶ Der Sinn eines jeden Einzelnen könne im Zustand der Zerspaltenheit zur Verwirklichung gelangen, weil „die unbedingte Klarheit [Gottes] dieses in sich schließt, daß Gott der Wesenswidrigkeit so mächtig ist, daß sie ihm nicht als ein selbstständiges, Dämonisches, gegenübersteht.“⁸⁷ Die „Seinsfülle“ Gottes wirke also in der Existenz weiter und habe in ihr eine erhaltende Funktion. Die fortwährende Neukonstitution von Sinn innerhalb der Existenz wird von Tillich auch als Vorsehung gedeutet. Diese sei nicht etwa „nach Art der Notwendigkeit“ zu denken, sondern Sinnhaftigkeit könne sich nur im Seienden, welches der „Naturnotwendigkeit“ erhaben ist, ereignen, da Freiheit eine wesentliche Komponente von Sinnverwirklichung darstelle. Nur als freie Entscheidung könne Sinn als Sinn erfahren und Sinnzuschreibung vollzogen werden. Gegen den „metaphysische[n] Pessimismus“ geht Tillich davon aus, dass die Welt in ihrer „Ganzheit (formal) wesensgemäß […] [ist], wenn sie auch ganz (material) wesenswidrig ist.“⁸⁸ Wenn an einem Ort Sinn erfahren werden kann, könne die Welt nicht gänzlich wesenswidrig sein. „Denn wenn eine zeitweilige Existenz möglich ist, so ist damit die Wesensmäßigkeit der Existenz zugestanden […]“⁸⁹. Andernfalls, wenn das Dämonische absolut herrschen würde, könnte nichts existieren, da alles zerstört und entwurzelte wäre. Dass jedoch überhaupt etwas existiert, ist für Tillich bereits Zeichen des göttlichen Getragenseins. Doch was genau ist das, was getragen wird? Im Zusammenhang der Welterhaltung ist es die Weltform, die erhalten wird. Wenn zuvor vom „Wesen“ des Seins die Rede war, so war damit noch nicht das Unbedingte selbst gemeint (dieses ist das „Wesen des Wesens“⁹⁰), sondern die das Sein tragenden Strukturprinzipien, die zuvor bereits mit dem „Allgemeinen“ gleichgesetzt worden sind. Das Wesenhafte ist nicht das tragende Unbedingte, sondern die tragende Struktur, die Existenz möglich macht. Diese tragende Form bzw. das Allgemeine ist wiederum ein Produkt der göttlichen Schöpfung. Das, was vom Unbedingten getragen wird, ist also die Menschsein und alles Sein sowie alle Dinge konstituierende Form.⁹¹ Sie ist das „Gesetztsein als solche[s]“, worunter auch die „Naturgrundlage und der
A.a.O., S. 228. A.a.O., S. 233. A.a.O., S. 229. A.a.O., S. 230. A.a.O., S. 90. Vgl. a.a.O., S. 94: Das Unbedingte wird hier von Tillich als „Träger des Allgemeinen“ beschrieben.
2.2 Wahrheit aus konkret-dogmatischer Perspektive
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Sozialzusammenhang“, in den der Mensch gestellt ist, fallen.⁹² Die „Seinsfülle des Unbedingten […] lebt in der kosmischen Seinsform und ermöglicht diese.“⁹³ Das heißt, das Unbedingte ist sowohl Schöpfer der Seinsform als auch in ihr tragend gegenwärtig. Erhalten wird nicht nur das Sein, sondern auch die Sinnhaftigkeit des Seienden. Auch dies bedeutet nicht, dass durch die Erhaltung die gesamte Welt sinnhaft ist. In ihr existiert auch das Sinnwidrige, welches als „Wesenswidrigkeit“ und Zerreißung des „Lebenssinn[es]“ dadurch verwirklicht wird, dass „das Selbst sich Unbedingtheit zuschreibt, damit die Transcendenz aufhört und es der Seins- und der Sinnentleerung verfällt.“⁹⁴ Dass der Lebenssinn trotz der Zerspaltung erfahren werden kann und damit Gott als der Tragende, ist nur möglich unter der Anerkennung, dass der „Lebenssinn […] nicht erfahrbar [ist] in der Selbstheit, auch nicht in der mit dem Opfergedanken verbunden[en] erweiterten Selbstheit […].“⁹⁵ Voraussetzung für die Erkenntnis des Getragenseins des Menschen, welches unabhängig von der Richtung des Menschen auf das Unbedingte, der Leugnung oder Missachtung Gottes wirkt, ist die Einsicht des Menschen, selbst nur bedingt und damit relativ zu sein und wahres Sein nur in der Beziehung zum Unbedingten zu finden. Nur aus dem Zusammenwirken von Allgemeinem und Konkretem ist es dem Unbedingten möglich, vom Konkreten aus als das das Wesen des Seins Bedingende (als Wesen des Wesens) und folglich als das Unbedingt-Existentielle erfasst zu werden. Das den Menschen unbedingt Angehende kommt als Konkretes auf ihn zu, ergreift und erschüttert ihn in seinem ganzen Sein und erweist sich darin als das ihn Tragende.
2.2.2.3 Der Mythos als Erschütterung und Umwendung des Erkenntnisaktes Die im letzten Kapitel beschriebene Erschütterung⁹⁶ und Umwendung des Erkenntnisaktes bezeichnet Tillich auch als Mythos. Dieser meint nicht die Richtung des Erkennens auf das Wesen der Dinge (auf ihr Unbedingtes), sondern im Mythos wird das Moment erfasst, welches dem Erkenntnisakt zugrunde liegt bzw. diesen erst setzt. Folglich wird der Mythos auch als „Frage nach dem Wesen des We-
A.a.O., S. 239. A.a.O., S. 233. A.a.O., S. 232. A.a.O., S. 233. Vgl. a.a.O., S. 24: Erschütterung meint nicht etwa Zerbrechen der Wirklichkeit, sondern „[i]n dem Bild der Erschütterung liegt dieses, daß sie [die endlichen Formen] erhalten bleiben in ihrem Sinnzusammenhang, aber so, daß dieses ihr ruhendes Weilen im Ganzen in Frage gestellt und ihre unmittelbare Beziehung zu ihrem tragenden Grund offenbar wird.“
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sensaktes“ definiert, während Metaphysik die „Frage nach dem Wesen des Wesens“ ist.⁹⁷ Charakteristisch für den Mythos ist also nicht das Wesen der Dinge oder deren Gegenständlichkeit, die direkt der Wissenschaft zugänglich wäre, sondern er beruht auf der Ergründung des „Ungegenständliche[n]“. Dieses „[…] aber kann nur das sein, was als Urständliches die erkennende Beziehung zum Gegenstand überhaupt erst setzt, was also nicht das Jenseits des Erkenntnisgegenstandes, sondern das Diesseits des Erkenntnisaktes ist. Das, was im Jenseits des Gegenstandes liegt, muss im Diesseits des Aktes gegeben sein.“⁹⁸ Aus diesem Satz geht hervor, dass allen organischen wie anorganischen Dingen (einschließlich des Menschen) ein Unbedingtes zugrunde liegt, welches das Jenseits des Gegenstandes bezeichnet. Da der Mensch mittels seiner Erkenntnisfähigkeit bzw. seines Verstandes befähigt ist, Gegenstände zu erschließen, muss diesem Erschließungsakt etwas zugrunde liegen, was ihn ermöglicht und dessen Bedingung darstellt.Wenn Tillich allerdings davon ausgeht, dass das Unbedingte im Diesseits des Erkenntnisaktes gegenwärtig ist, so setzt er voraus, dass Gott sich durch Selbstanalyse des Denkens erschließen lässt. Dass die Gegenstände erkannt werden können, liegt also nicht in ihrem Jenseits, also im Unbedingten begründet, sondern die Erkenntnisbeziehung zwischen Mensch und Gegenständen ist im Erkenntnisakt selbst begründet. Wenn in diesem selbst dasjenige gegenwärtig sein soll, was die erkennende Beziehung erst setzt, so bedeutet dies, dass Gott im Erkenntnisakt verwirklicht wird. Die Frage nach dem Wesen des Wesensaktes, also der Mythos, ist uns nach Tillich durch den Urstand vermittelt. Dieser wird von ihm als der „Punkt [beschrieben], wo der Fragende als Erkennender und daher als Träger sinnhafter Akte überhaupt seinshaft wurzelt.“⁹⁹ Dieser Punkt ist gleichbedeutend mit dem Unbedingten. Entscheidend ist die Beziehung des Mythos auf den Menschen und dessen Verwurzelung im Unbedingten im Unterschied zu einer Erkenntnisrichtung, die auf demjenigen gründet, was den Dingen zugrunde liegt (Metaphysik). Das Unbedingte kann also erfahren werden, indem das eigene, urständliche Sein, der eigene Erkenntnisakt ergründet wird. Was Tillich hier beschreibt ist nichts anderes als die in seiner Religionsphilosophie begründete metalogische bzw. intuitiv-kritische Methode, die nicht auf die Erkenntnis der Gegenstände gerichtet ist, sondern durch die Intuition erfasst, „daß die letzten Principien alles Wirklichen eben nicht in dem Gegenständlichen, sondern im Urständlichen zu erfassen sind und daß, wenn man dieses erfaßt, man eben die
A.a.O., S. 91. Ebd. Ebd.
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Wirklichkeit damit auch hat.“¹⁰⁰ Durch diese Selbstanalyse des Denkens, dass sich selbst als ein Seiendes erfasst, indem es auf das es Bedingende gerichtet ist, fragt der Mensch nach dem Grund seines Seins. Er findet sich vor, kann Seiendes erfassen, jedoch nicht den Grund seiner selbst. Tillich beschreibt dieses Erlebnis auch als das der „Brutalität des schlechthin Seienden“¹⁰¹ und kommt zu dem Schluss, dass das Denken notwendig auf Realität bezogen sein muss, da eine Aufhebung dieser Beziehung die Aufhebung der Realität bzw. Existenz selbst bedeuten würde. Diese Realität, die dem Denken nicht gegenständlich gegeben ist und den Grund seiner Existenz ausmacht, ist das Unbedingte. „Das Seins-Erlebnis ist also zugleich Unbedingtheitserlebnis, Erlebnis der unbedingten Realität, die nicht mehr gesetzt ist von Denkbestimmungen.“¹⁰² Das Unbedingte, welches das Jenseits des Gegenstandes bezeichnet, muss also zugleich im Erkenntnisakt (der Selbstanalyse des Denkens) gegenwärtig sein, um eine Beziehung zum Individuum zu besitzen. Das, was Unbedingt ist, kann nicht nur das Zugrundeliegende des Erkenntnisgegenstandes sein, der uns nicht unbedingt angeht. Sondern in dem unbedingten Angehen ist die Beziehung zum Menschen und damit die Existentialität enthalten. Allerdings geht Tillich davon aus, dass Mythos und Metaphysik einen Überschneidungspunkt besitzen. Das mich unbedingt Angehende ist ob seiner Existentialität auch das allem Sein Zugrundeliegende. Dies „setzt nun freilich voraus, daß im Mythos selbst ein Moment enthalten ist, durch das es der Erhebung ins Allgemeine zugänglich wird. […] Das uns tragende Wesen muß zugleich auch das allgemein tragende Wesen sein, wenn es auch nur als das uns tragende Wesen auf uns zukommt, in unser Dasein durchbricht.“¹⁰³ Das vom Menschen als UnbedingtExistentielles erfasste, durch das er sich persönlich angesprochen fühlt, ist also
EN, Bd. XII, S. 393. A.a.O., S. 400. A.a.O., S. 402. EN, Bd. XIV, S. 92; Vgl. A.a.O., S. 50: Die vollkommene Offenbarung ist nach Tillich einmalig, insofern als sie in der Offenbarungsgeschichte steht und sich damit einmalig in der Geschichte ereignet hat. Gleichzeitig „ist die vollkommene Offenbarung zugleich diejenige, in der Natur und Geschichte sich aussprechen. Die Einmaligkeit enthält also zugleich die Universalität. […] Das uns unbedingt Angehende ist das unsere Existentialität, unsere schlechthin gegebene Seinswurzel Angehende. Nun ist unser Sein aber eingeschlossen in das Sein von Natur und Geschichte. Nur im Zusammenhang mit diesen kommt es zur echten Existentialität.“ Wenn Dämonisierung von Tillich verstanden wird als „sich selbst isolierende Existentialität“, so bedeutet dies, „daß eine Offenbarung, die nicht diese existentielle Universalität hätte, nicht vollkommene Offenbarung wäre.“ Sie „wäre also nicht absolut existentiell, wenn das, was uns absolut anginge, nicht zugleich das Existentielle von Natur und Geschichte wäre, das, worin sie einen schlechthin seienden Grund hat.“
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2 Der Vollkommenheitsanspruch der Dogmatik
identisch mit dem allgemein tragenden Wesen. In der Existenz wird also auch etwas Allgemeines erfasst – hier nicht das Allgemeine als die Struktur des Seins, sondern das allgemein Tragende, was das Unbedingte ist. Es bedarf das bisher über das Allgemeine Gesagte an dieser Stelle eine Differenzierung: Zuvor wurde vom Allgemeinen als dem Tragenden und dem Unbedingten als dem Tragenden unterschieden. Das Allgemeine als die das Individuum tragende Strukturbeschaffenheit erwies sich als tragend, indem es die notwendigen Voraussetzungen von Menschsein lieferte. Es selbst wurde jedoch als ebenso wie das Individuelle vom Unbedingten bedingt und geschaffen erachtet. Wenn Tillich hier nun davon spricht, dass im Mythos das „Allgemeine nicht als Allgemeines [gefasst wird] […], sondern als das mich Angehende, mich Tragende“¹⁰⁴, so ist damit ein anderes Allgemeines gemeint als das zuvor beschriebene. Es wird in diesem Fall darauf rekurriert, dass das Unbedingte das allgemein Tragende Wesen und dieses Allgemeine an einem bestimmten Ort als Existentielles erfahren werden kann, also als unbedingt angehend. Es ist damit zum Ausdruck gebracht, dass Gott nicht nur mein eigenes, individuelles Sein trägt, sondern dass er Träger allen Seins ist und dieses als sein Schöpfer erhält. Diese Erfassung des Allgemeinen im Individuellen meint die Erkenntnis der Unmöglichkeit, Gott etwa als abstraktes Wesen zu verstehen, welches z. B. per Gottesbeweis erschlossen werden könnte. Indem das „Gegebensein“ des Allgemeinen „im Konkreten“ berücksichtigt wird, wird gleichsam verhindert, dass das Allgemeine unabhängig von seiner Gegebenheitsform im Bedingten zur Begründung eines Gottesbegriffs (welcher dann notwendig abstrakt ist) verwendet wird.¹⁰⁵ Denn dieser Gottesbegriff wäre dann pervertiert. Insofern leben die Tillichschen Symbole in seiner Dogmatik von einer dialektischen Vereinigung von konkretem und allgemeinem Moment: Sie vereinigen den begrifflichen Charakter der Metaphysik mit dem anschaulichen des Mythos, denn sie begreifen das Unbedingte als das allgemein Tragende auf Grund des mich konkret Tragens. […] Sie sind der Ausdruck der Offenbarungserschütterung […] Sie haben infolgedessen diese ganz konkrete, lebendige Ichbezogenheit […]. Zugleich sind diese Begriffe […] auffaßbar als Begriffe, in denen das Wesen des Wesens, das allgemeine Wesen, seinen Ausdruck findet.¹⁰⁶
Erschütterung des konkreten Heilsweges meint, dass jenes sich in diesem vollziehende Offenbarungsgeschehen nicht mehr von mir selbst spricht, sondern
A.a.O., S. 93. A.a.O., S. 94. A.a.O., S. 93.
2.2 Wahrheit aus konkret-dogmatischer Perspektive
351
allein vom „transcendenten Grund“¹⁰⁷. Im Durchbruch wird folglich die Selbstbezüglichkeit des endlichen Seins durchbrochen und auf das Unbedingte hin umgewendet.¹⁰⁸ Anschaubar wird dieses Verhältnis in der Selbstnegation Christi, die symbolisch im Kreuz (in Tod und Auferstehung Christi) gegenwärtig ist. Entsprechend der korrelativen Verzahnung von allgemein und konkret verhält sich die dem Offenbarungscharakter innewohnende Beziehung von Subjekt und Objekt. So definiert Tillich, dass Offenbarung „weder nur im Objekt noch nur im Subjekt, noch in beiden nacheinander [geschieht], sondern in der religiösen Wechselbeziehung beider.“¹⁰⁹ Dieser Satz beruht auf der These, dass das, was den Menschen erschüttert und umwendet nicht aus dem Objektiven als einem uns Gegenüberstehenden rührt, sondern der „Tiefe des Subjektiven“ entstammt, der „Ich-Wurzel des Ich […] – und beides ist eins.“¹¹⁰ Die Identität von Subjekt und Objekt verwirklicht sich also erst innerhalb der religiösen „Korrelation“ als Offenbarung und erst in der Korrelation „bekommt eine Wirklichkeit“ „Offenbarungsqualität“.¹¹¹ Es kann sich nichts offenbaren außer für ein Ich. Insofern ist eine reine Objektivität des Unbedingten genauso wie eine rein subjektive Erfassung des Unbedingten, die jedoch dabei nicht über sich hinausweist, sondern im Bedingten bleibt, ausgeschlossen. Die Identität von Subjekt und Objekt, Gott und Mensch, wird also innerhalb der religiösen Korrelation erreicht. Der „absolute Korrelationscharakter der Offenbarung“ wiederum ist „der Ausdruck ihres Stehens in der Wahrheit.“¹¹² Korrespondierend mit dem allgemeinen und konkreten bzw. subjektiven und objektiven Moment in der Offenbarung spiegelt sich auch in dem Verhältnis des konkreten Heilsweges und der Grundoffenbarung das dialektische Ineinander von konkret und absolut wider. Die Grundoffenbarung kann dabei verstanden werden als das allgemein Tragende, welches das konstante Moment der Offenbarung darstellt. Es bezeichnet das „In-der-Offenbarung-Stehen-an-sich“, während die Heilsoffenbarung das „So-in-der-Offenbarung-Stehen“ meint und somit
A.a.O., S. 27. Vgl. a.a.O., S. 25. A.a.O., S. 29. A.a.O., S. 30, Vgl. A.a.O., S. 33: „Dem Wesen nach […] ist das Objekt-Subjekt-Verhältnis ein unzerreißbarer Lebensstrom, der die Alternative unmöglich macht. Was in den Dingen als Offenbarungstiefe sich erschließt, ist immer zugleich objektiv und subjektiv, und was im Subjekt als Offenbarungserschütterung durchbricht, ist immer zugleich subjektiv und objektiv.“ A.a.O., S. 31. A.a.O., S. 33.
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2 Der Vollkommenheitsanspruch der Dogmatik
das konkrete Moment darstellt.¹¹³ In jeder Offenbarung ist stets beides in einem reziproken Verhältnis enthalten.
2.2.3 Die Wirklichkeit Gottes im symbolischen Akt Tillich möchte nachweisen, … […] daß das starke Realitätsgefühl, das die Religion ihren mystischen Objekten gegenüber hat, durch die Einsicht in den symbolischen Charakter dieser Objekte nicht aufgehoben, sondern begründet ist. Mit anderen Worten, es ist nachzuweisen, daß das unbedingte Realitätserlebnis […] die Religion nicht zu einem Spiel des Selbstbewußtseins mit sich selbst macht, sondern daß die Religion auch in diesem Sinne letzte, ja absolute Ernsthaftigkeit beanspruchen kann.¹¹⁴
Wirkliche Ernsthaftigkeit kann eine Religion (die sich im Gefühl eines unbedingten Realitätserlebnisses äußert) laut Tillich folglich erst mit der Gründung dieses Unbedingtheitserlebnisses im Symbolcharakter der mystischen Objekte beanspruchen. Nur durch diesen Symbolcharakter lasse sich Gott unzweideutig und in seiner heilvollen Wirkung offenbaren. Diesbezüglich kann jedoch an Tillich die kritische Anfrage gerichtet werden, ob diese von ihm entworfene Denkfigur nicht nur einen reinen Selbstvollzug des menschlichen Bewusstseins bedeutet. In dieser Arbeit wird der Standpunkt vertreten, dass sich diese Frage mit Tillich verneinen lässt, obwohl es zunächst so scheint, als wäre die „[…] jenseitige übernatürliche Realität […]“ ausschließlich Ausdruck oder Funktion eines sich „[…] im Denken […] selbst vollziehende[n] Sinnerlebnis[ses].“¹¹⁵ So lässt sich davon ausgehen, dass sich das Bewusstsein im religiösen Akt zwar auf sich selbst bezieht, in und durch diesen Selbstbezug und die gleichzeitige Einsicht in die Begrenzung dieses Bezugs sowie durch theoretische und praktische Akte hindurch allerdings das Göttliche offenbar wird (und sich realisiert). Dieser Vorgang sei – so Tillich – jedoch … […] nicht nur kein bloßes Spiel des Bewußtseins mit sich selbst, […] nicht nur kein bloß individueller Vorgang, […] nicht bloß ein Vorgang ideeller Art, sondern […] ein an sich kosmischer Akt. Das Heilige selbst kommt zur Existenz im religiösen Akt und nur in ihm.
A.a.O., S. 40. EN, Bd. XII, S. 413. EN, Bd. XII, S. 414.
2.2 Wahrheit aus konkret-dogmatischer Perspektive
353
Gott, so können wir nun sagen, ist nicht ein fixiertes Objekt, sondern ein Akt der Realisierung; er kommt zur Existenz in jedem religiösen Akt.¹¹⁶
Danz deutet Religion in diesem Zusammenhang als die oben beschriebene reine „Vollzugsform“¹¹⁷, indem durch Religion ein innerer Reflexionsprozess angeregt werde, der die Dialektik des eigenen (menschlichen) Bewusstseins durchschaut. Als dialektisch kann dieser Vorgang deshalb bezeichnet werden, da das „Sinnbewusstsein“¹¹⁸, welches dem Menschen mittels der Religion „durchsichtig“¹¹⁹ werde, „durch das Wissen ausgezeichnet [ist], dass die von ihm selbst hervorgebrachten Formen nicht mit dem unbedingten Sinn identisch sind, sondern geschichtlich wandelbare Ausdrucksgestalten menschlicher Sinndeutung darstellen.“¹²⁰ Das Dialektische deutet also auf eine Doppelfunktion des christlichen Bewusstseins hin: Es produziert einerseits Formen von unbedingter Sinnhaftigkeit und ist gleichzeitig in der Lage, metaperspektivisch diesen Akt als reine Konstruktionsleistung (ob der nur kontingenten Funktion der von ihm geschaffenen Sinnformen) zu betrachten. Danz hat in diesem Sinne m. E. zwar die Notwendigkeit hervorgehoben, religiöse Objektivationen und mystische Objekte stets nur als relative, kontingente und wandelbare Ausdrucksgestalten menschlicher Bewusstseinsproduktionen zu betrachten, worauf Tillich den entscheidenden Fokus legt. Allerdings lässt sich mit Tillich im Umkehrschluss aus dieser Einsicht nicht die Tatsache ableiten, dass der Glaube (oder die Religion) – ob der Reflexion auf den symbolischen Gehalt religiöser Objekte – über diesen Akt des Reflektierens hinaus keinen anderen Grund habe. Denn laut Tillich handelt es sich beim Glaubensvollzug trotz der Kontingenz und damit Wandelbarkeit des religiösen Bewusstseins um einen „kosmische[n] Akt“. Das Bewusstsein treibe eben nicht nur ein „Spiel […] mit sich selbst“ (s.o.), bleibe also nicht im reinen Selbstvollzug des „Reflektierens-auf“ gefangen. Gerade durch das Konkret-Werden des kosmischen Aktes im Bedingten kann die für eine Gottesbeziehung notwendige Objektivation geleistet werden: Das Göttliche kann als ein Gegenüber angeschaut werden. Religion als einen Vollzugsakt zu beschreiben, bedeutet nicht, dass es sich bei dem in der Religion Angeschauten um eine bloße Projektion handelt. Vielmehr konstatiert Tillich gerade auch in Auseinandersetzung mit Hegel, dass der in seiner Vorlesung be
EN, Bd. XII, S. 415 f. Danz, C., Theologie als normative Religionsphilosophie, S. 98. A.a.O., S. 99. Ebd. Ebd.
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2 Der Vollkommenheitsanspruch der Dogmatik
schriebene Religionsbegriff (Religion als Vollzug) mit der Vorstellung Hegels korrespondiere, „daß in dem relativen Geist der absolute [Geist] sich selbst erfaßt [und darin] der Sinn der Realität des religiösen Erlebnisses“ liege. Dieser Sinn könne „als Realisierung oder Existenzwerdung Gottes im religiösen Akt“ gefasst werden.¹²¹ Diese Befreiung der eingangs zitierten Aussagen aus der Engführung einer reinen Projektionstheorie ermöglicht eine erweiterte Perspektive, die Gott nicht nur als Funktion menschlicher Selbsterschließung betrachtet. Die mit dieser Position verbundene Problematik wird aufgrund ihrer Brisanz im Fortgang dieser Arbeit erneut aufgegriffen werden. Welche Vorteile ergeben sich nach Tillich aus der Einsicht in den symbolischen Charakter mystischer Objekte? „Das Symbol hat die Tiefe, daß es die Verborgenheit achtet und doch real auf das Gemeinte hinweist.“¹²² Die Stärke des Symbolbegriffs besteht also in der Negierung jeglicher gegenständlicher Fassung des Unbedingten, also der Erkenntnis, dass „[d]er Seinsgrund und -Abgrund jedes Wesenszusammenhanges […] nicht Gegenstand begrifflicher Erfassung [ist], sondern symbolischen Ausdrucks.“¹²³ Das Symbolverständnis Tillichs widersetzt sich also einer gegenständlichen Fassung Gottes und verhindert damit dessen Dämonisierung. Doch wie genau ist diese Hinweis-Funktion von Symbolen nach Tillich zu verstehen? Wenn die Symbole auf etwas real Gemeintes hinweisen, welches sich jedoch im Symbol nicht vergegenwärtigt, so bleibt das Symbol als Symbol ob seines Anspruchs, auf das Unbedingte hinzuweisen, in der rein subjektiv-reflexiven Sphäre und somit innerhalb der Immanenz. Auch hier liegt wieder der Verdacht nahe: Es EN, Bd. XII, S. 427. Ebd. EN, Bd. XVI, S. 86., Vgl. ST I, S. 19 – 22: Tillich führt zwei „formale Kriterien“ der Theologie auf, die beide in Negationstheoremen verfasst sind, um bewusst die Variabilität des Inhalts offen zu halten. Das erste formale Kriterium bezieht sich auf den Gegenstand, welcher als „das, was uns unbedingt angeht“ charakterisiert wird (S. 20). Als zweites formales Kriterium, welches sich mit dem Inhalt dieses Angehens beschäftigt, führt er keine objektiv-sachliche bzw. direkte Bezeichnung dieses Inhaltes auf (z. B. Gott), sondern nennt lediglich eine nähere Charakterisierung des „Gegenstandes“: Er muss imstande sein, über Sein und Nichtsein zu entscheiden. „Nichts kann von unbedingter Bedeutung für uns sein, das nicht die Macht hat, unser Sein zu bedrohen und zu retten“ (S. 21– 22). Das zweite Kriterium wird, ebenso wie das erste, inhaltlich nicht weiter spezifiziert, außer, dass es eine unbedingte, erschütternde, unser Sein als Ganzes betreffende Bedeutung für uns haben muss. Zum Träger jenes Unbedingten kann jede Wirklichkeit werden, alles „Vorläufige“, insofern als es nicht von sich spricht, indem „etwas wesentlich Endlichem […] unendliche Bedeutung verliehen“ wird (S. 21). Offenbarung kann nur in oratio indirecta erfolgen, indem der Träger des unbedingten Betroffenseins so konzipiert ist, dass „in ihm und durch es hindurch […] sich das Unbedingte“ verwirklicht. „Von solcher Möglichkeit ist nichts ausgeschlossen.“ (ebd.).
2.2 Wahrheit aus konkret-dogmatischer Perspektive
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ereignet sich nicht wirklich etwas in der symbolischen Anschauung des Unbedingten, welches das Bedingte übersteigt. Ringleben kritisiert die Mehrdeutigkeit der Äußerungen und Inkonsequenz der Durchführung von Tillichs Symboltheorie. Im Aufsatz Symbol und göttliches Sein spürt er der Frage nach, wer eigentlich der Initiator dafür ist, dass „Selbsttranszendenz als Vergegenwärtigung des Anderen möglich ist“¹²⁴. Denn ein Symbol ist stets zweischneidig: Einerseits besteht es aus einem Gegenstand, welcher selbst in einem unmittelbaren Sinn Objekt der Anschauung ist, andererseits wird er selbst in seinem unmittelbaren Sinn negiert, indem er an ihm selbst ein Anderes zur Darstellung bringt, welches an ihm eben lediglich „indirekt“ erscheint. Ringleben schlussfolgert, dass ein „Sinn-Ausdruck […] [s]ymbolisch ist […], indem er er selbst nur ist zusammen mit einem Anderen: er hat dies Andere schon an ihm selbst.“¹²⁵ Ringlebens Kritik zielt nun darauf, „[d]aß auch Tillich mit Symbolhaftigkeit eigentlich eine Formbestimmung meint […]“¹²⁶. Das heißt, dass das, was im Symbol vergegenwärtigt werden soll, ein Anderes darstellt, welches jedoch selbst eine Formbestimmung ist. Ringleben führt weiter aus, dass diese Manifestation des Anderen nicht so zu denken sei, dass „ein Gehalt […] ‚in eine für sich leere Form ein[strömt]’, sondern dass sich ‚an vorhandenen Formen […] ein Anders [manifestiert], d. h. als Form.’“¹²⁷ Der ekstatische Charakter der Symbolkräftigkeit, der sich in der „‚Erfülltheit mit dem Gehalt des Unbedingten’“ äußert, sei folglich nicht mit einem „Form-Inhalt-Schema“ zu beschreiben, was bedeuten würde, dass sich ein gehaltvoller Inhalt in eine leere Form begibt, sondern Ekstase bleibe stets der Form verhaftet und bedeute lediglich einen Selbstunterschied der Form (Durchbrechung der Form unter Anerkennung der Form). Insofern als „die Selbsttranszendenz des Glaubensobjektes […] dieses Mehr-Meinen“ nicht ausdrückt, bleibt „Symbolhaftigkeit selber ein Formcharakter“.¹²⁸ Ich verstehe diese Kritik so, dass das Andere der Form, welches durch Selbstnegation der Form an ihr erscheint, nicht ein von außen in eine Form strömender göttlicher Gehalt ist, sondern diese Negation der Form sich als ihr Anderes erweist, jedoch nicht als von ihr verschiedener Gehalt, sondern als das Andere ihrer selbst. Nach dieser Vorstellung würde sich während des symbolischen Aktes nichts ereignen, was die Form übersteigt. Die Selbstnegation der
Ringleben, J., Gott denken. Studien zur Theologie Paul Tillichs (Tillich-Studien, Bd. 8), Münster 2003, S., 89. A.a.O., S. 88. Ebd. Ebd. A.a.O., S. 98.
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2 Der Vollkommenheitsanspruch der Dogmatik
Form bliebe Selbstreflexion des endlichen Individuums.¹²⁹ Das Andere der Form wäre dann lediglich ein anderer Selbstausdruck der Form, der in ihrer Negation bestünde. Die Selbstnegation ist dann das Andere der Form. Nach Ringleben kann die Symboltheorie Tillichs allerdings nur so konsequent gedacht werden, dass sich im Akt der Selbstnegation des Bedingten im Prozess des Symbolisierens bereits Gott selbst vergegenwärtigt, das Symbol also verstanden werden kann „als sich selbst aufhebender Ort der Kondeszendenz des Unbedingten“¹³⁰. Das würde also bedeuten, dass die Selbstaufhebung des Bedingten bereits ein positives SichSetzten des Unbedingten bzw. dessen Selbstvergegenwärtigung bedeuten würde. Nur eine solche Kondeszendenz Gottes selbst in den symbolischen Akt, eine Manifestation unbedingter Selbstdarstellung bzw. eine parallele (indirekte) Erscheinung des Unbedingten während und indem das Bedingte sich aufhebt, würde auch eine wirkliche Entgegenständlichung bedeuten. „Nur der lebendige Gott hebt seine eigene Gegenständlichkeit – die von jedem über ihn Reden bzw. ihn intentional Vermeinen unabtrennlich ist! – selber aktuell wieder auf, d. h. er wird im Symbol erfahren.“¹³¹ Vergegenständlichend ist Tillichs Symboltheorie indes – darauf macht Ringleben ebenfalls aufmerksam – wenn die Aussage, dass das Medium, durch welches hindurch Gott symbolisiert wird, vom Unbedingten her zugleich (in seiner symbolischen Form) bejaht und in seiner unmittelbaren Form verneint wird, lediglich eine „Reflexion über das Verhältnis von zwei objektiven Instanzen (genannt: das Unbedingte und das Bedingte)“¹³² ist. „Bleibt die ‚Entgegenständlichung’ nur subjektiver Denkakt, wird sie dem Unbedingten in subjektiver Reflexion nur angetan, so ist sie selber schon seine Vergegenständlichung.“¹³³ Das Symbol „Gott“ enthält nach Tillich nicht nur die Bedeutung eines höchsten Wesens, sondern auch „die Negation dieses seines unmittelbaren Sinnes. Dieses Mehr schwingt in jedem religiösen Akt mit.“¹³⁴ Beruht diese Vorstellung allerdings auf einer lediglich subjektiven, erkenntnismäßigen Erschließung des Menschen, so kann diese Aussage über Gott – dass er sich nur indirekt im
Vgl. a.a.O., S. 101: In seinen Schlussthesen macht Ringleben noch einmal deutlich, dass er Tillichs Symbolverständnis im Sinne eines reinen Subjektivismus interpretiert: „Tillich will deine Dialektik des Unbedingten denken, ohne sie als Dialektik von unbedingter Subjektivität (Gottes) zu denken. Da er sie nicht systematisch als Dialektik göttlichen Selbstseins, sondern als eine selbstlose denkt, wird das Subjekt des endlichen Denkers zum eigentlichen Beweger und wird folgerecht statt wirklicher Dialektik nur deren Vergegenständlichung (objektiv bestehende Komplementarität) gedacht bzw. vorgestellt.“ A.a.O., S. 90. A.a.O., S. 97. A.a.O., S. 93. A.a.O., S. 97. EN, Bd. XIV, S. 17.
2.2 Wahrheit aus konkret-dogmatischer Perspektive
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Symbol mitteilen kann – als positive und damit vergegenständlichende Aussage gewertet werden. In dieser Form ist sie jedoch wiederum unsymbolisch und wird von Tillich als unbestreitbare Prämisse vorausgesetzt. Insofern fällt Tillich eine positive Aussage über Gott, nämlich die, dass eine Aussage über ihn schlichtweg nur symbolisch in Form einer Selbstnegation des Bedingten erfolgen kann, er folglich das Unbedingte genannt werden müsse. Auf diese Weise und ohne die gleichzeitige Selbstvergegenwärtigung des Unbedingten im Symbol zu denken, würde Gott lediglich einer Projektion des menschlichen Bewusstseins entsprechen, welches sich in seinem eigenen Selbstbezug aktualisiert und sein Selbstverhältnis im Christussymbol repräsentiert sieht. Scheinbar bestätigt wird diese Annahme dadurch, dass Tillich zum Beispiel im Kontext seiner Erörterung „der revelatio als einer suprarationalis“¹³⁵ die Inhalte des „Übervernünftige[n]“ aus dem „Vernünftigen“ ableitet, „denn wo sollen andere Inhalte herkommen, da das Übervernünftige ja nicht anders bestimmt werden kann als durch dieses Nein zum Vernünftigen […].“¹³⁶ Das übernatürliche, supranaturale Moment der Offenbarung ist für Tillich dialektisch als „Negation“ und „Position“ bestimmt; die Negation wird als Erschütterung und Umwendung, also als Verneinung des endlich Seienden gegenüber dem Unendlichen bestimmt. Die Position hingegen ist nicht positiv vom Inhalt (von Gott) her bestimmt, sondern nur als Position des Vernünftigen, welches das „Übervernünftige“ und damit Unbedingte (als Unbedingtes) bejaht.¹³⁷ Der Begriff des „Erschütterns“ wird von Tillich im Wesentlichen als Verneinung der Unbedingtsetzung von Bedingtem verstanden. Er interpretiert das „Supra“ – das Moment, in welchem das Unbedingte die Vernunft transzendiert – so, dass „[d]as Übervernünftige […] darin über der Vernunft [ist], daß es diese erschüttert.“¹³⁸ Darin besteht auch der Sinn der revelatio suprarationalis nach Tillich. Die kritische Anfrage besteht also darin, anzuzweifeln, dass sich in diesem Prozess etwas ereignet, was nicht nur als Selbstbewegung des Selbst im Sinne eines Transzendierens der Vernunft besteht, wodurch Einsichten in die Relativität des Bedingten gewonnen werden, welches sich selbst in seiner eigenen Negation als Übervernünftiges ausspricht. Andererseits spricht sich Tillich im selben Zusammenhang negativ gegenüber der „Möglichkeit [aus], daß das Nein und das Ja, das in dem ‚Über’ enthalten ist, so vereinigt wird, daß ein verzerrtes Vernünftiges als Über-
A.a.O., S. 85. Ebd. A.a.O., S. 84– 85. Ebd.
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vernünftiges neben die Vernunft gestellt und für heilig erklärt wird.“¹³⁹ Würde das Vernünftige das Übervernünftige selbst setzen, so würde dies einer Dämonie entsprechen, die Tillich gerade zu verhindern sucht. Wie können die beiden scheinbar kontradiktorischen Aussagen Tillichs verbunden werden? Zunächst lässt sich fragen, was Tillich mit dem Inhalt meint, der aus dem Vernünftigen stammt. Am ehesten ist dieser Inhalt als positive Zuschreibung von Eigenschaften für das Unbedingte so zu verstehen, dass nicht das Übervernünftige selbst damit konstruiert wird, sondern lediglich sein Inhalt – also was er ist, nicht dass er ist.¹⁴⁰ Gleichzeitig konstatiert Tillich, dass das „Übervernünftige […] nicht anders bestimmt werden kann, als durch dieses Nein zum Vernünftigen […]“. Dies kann mit der Inhaltszuschreibung so zusammengebracht werden, dass zwar in dem Akt der Erschütterung und Umwendung, der Selbstnegation des Bedingten vor dem Unbedingten, Gott sich selbst ausspricht und in dieser Selbsttranszendenz des Bedingten sich selbst vergegenwärtigt bzw. manifestiert, jegliche darüber hinausgehende positive Aussage über das Wesen Gottes, also die inhaltliche Konkretion von dem, was das Unbedingte ist, jedoch nur als Eigenschaftszuschreibung des Menschen verstanden werden kann. Dass sich dennoch in diesem Akt der Erschütterung etwas ereignet, was nicht aus dem Vernünftigen ableitbar ist, widerspricht dem nicht. Die Frage, ob die im symbolischen Akt zum Ausdruck kommende Selbstnegation der bedingten Formen zusammenzudenken ist mit einer Selbstmanifestation Gottes, seiner Kondeszendenz in das Bedingte, bleibt jedoch weiterhin uneindeutig. Es stellt sich die Frage, ob im religiös-symbolischen Akt überhaupt eine wirkliche Erfahrung des Unbedingten erfolgt, oder ob – und dies bedeutet ja eigentlich die Symbolhaftigkeit – ein direkter Weg der Gegebenheitsform sich gerade ob der nur indirekten Repräsentation des Unbedingten im symbolischen Akt verwehrt. In der Religionsphilosophie lautet es: „Aber das Unbedingte ist kein
A.a.O., S. 85; Vgl. a.a.O., S. 97: „[…] der vollkommenen Offenbarung gegenüber gibt es keine Mitwirkung des Erkennens am Zustandekommen der Erkenntnis. Sie ist rein aufnehmend […]. Das, was das Erkennen erschüttert und umwendet, kann nicht vom Erkennen bestimmt werden, sondern ist das ausschließlich Bestimmende.“ Vgl. ergänzend hierzu: Tillich, P., Recht und Bedeutung religiöser Symbole, in: Albrecht, R. (Hg.) (= Gesammelte Werke, Bd. 5, Die Frage nach dem Unbedingten, 1. Aufl.), Stuttgart 1964, S. 241: Auch hier weist Tillich in seiner Charakterisierung der primären Symbole, die direkt „auf den transzendenten Seinsgrund aller religiösen Symbole“ hinweisen, drauf hin, dass während dem Versuch der Erfassung des transzendenten Seinsgrundes auf Begriffe zurückgegriffen wird, „die aus dem Bereich menschlicher Erfahrung und kosmischer Erscheinungen genommen sind“. Diese Begriffe, die „menschliche Eigenschaften wie Personalität, Macht, Liebe, Gerechtigkeit“ etc. enthalten, bilden also den Inhalt des Unbedingten, sollen aber nach Tillich nicht wörtlich, sondern symbolisch verstanden werden.
2.2 Wahrheit aus konkret-dogmatischer Perspektive
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gegenständliches Objekt. Es kann durch Objekte nur symbolisiert, nicht erfaßt werden.“¹⁴¹ Doch wie kann das Unbedingte im Bedingten überhaupt erfasst werden, wenn es lediglich symbolisch repräsentiert werden kann? Und ist diese symbolische Repräsentation nicht abhängig vom Subjekt, welches in seiner Richtung auf das Unbedingte und „durch Erkennen nur die Erkenntnisseite der Dinge zulänglich [erfassen kann], das Wesen aber unzulänglich“¹⁴²? Die metalogische Schau gründet bei Tillich auf der Voraussetzung, dass „[d]as Ungegenständliche […] als Urständliches die erkennende Beziehung zum Gegenstand überhaupt erst setzt […].“¹⁴³ Die Schöpfung ist also Voraussetzung sich vermittelnder Subjektivität im Erkenntnisvollzug, die sich im Offenbarungsdurchbruch ereignet. Durch diese durch die Schöpfung bedingte Teilhabe (entsprechend der oben beschriebenen analogia entis) ist es dem Menschen möglich, im Symbol das wahre Gottesverständnis repräsentiert zu finden.¹⁴⁴ Dabei kann Tillich unterstellt werden, sein Offenbarungsverständnis gehe an der Christusoffenbarung vorbei, indem unabhängig von ihr ein bloß formaler Zusammenhang zwischen Gott und Mensch angenommen wird, mittels dessen eine Partizipation des Bedingten am Unbedingten möglich ist. Der Weg vom Menschen zu Gott geht über das Symbol, welches in der Offenbarungserschütterung als Medium einer wahren Vermittlung erkannt wird. Dem Christussymbol kommt dabei lediglich die Funktion zu, eine wahre Beziehung (die notwendig symbolisch sein muss) aufzuzeigen, sodass sich in ihm als dem Symbol des Symbols – das sich selbst als Bedingtes entsprechend des Todes Christi aufhebt – überhaupt die wesenhafte Beziehung zwischen Gott und Mensch spiegelt, die dem Menschen jedoch bereits unabhängig vom Christus-Bild aufgrund seiner Wesensverknüpfung mit dem Unbedingten gewahr werden kann. Diese Vergegenwärtigung erfolgt bereits in der Erkenntnistheorie. Auch Kleffmann bemängelt, dass Tillich den „allgemeinen Inhalt der Offenbarung, die Teilhabe […] (wie schon Schleiermacher das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit) ungeschichtlich voraus[setzt]“, anstatt die Einsicht in die existentielle Einsamkeit und Nichtigkeit gegenüber dem Unbedingten „als Selbstbewegung Gottes“ zu denken.¹⁴⁵ Möchte die Symboltheorie Tillichs einer Zirkelhaftigkeit entgehen, so muss das im Symbol Repräsentierte auch wirklich im Symbol – und zwar in seiner
GW, Bd. I, S. 333. EN, Bd. XIV, S. 89 A.a.O., S. 91. Vgl. a.a.O., S. 94: Schöpfung ist bei Tillich „[…] Ausdruck meiner Kreatürlichkeit, eben damit aber auch […] Ausdruck des allgemeinen Seins der Welt vor Gott, des Stehens ihres Wesens im transcendenten Wesen.“ Kleffmann, T., Grundriß der Systematischen Theologie, S. 38, Fußnote Nr. 35.
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Eigentlichkeit – erfasst werden können. Doch Tillichs Aussagen sind ambivalent, wenn er z. B. in der Religionsphilosophie einerseits davon ausgeht, dass „[i]m wahren Symbol […] die Realität erfaßt“ wird, andererseits diese Realität in ihrer symbolischen Repräsentanz lediglich als „uneigentliche Ausdrucksform [gegenwärtig ist], die immer da notwendig ist, wo ein eigentlicher Ausdruck wesensmäßig unmöglich ist.“¹⁴⁶ Abgesehen von der Einsicht der Negation des Bedingten und der gleichzeitigen Transparenz auf das Unbedingte hin, welches in diesem Selbstverneinungsprozess zur Erscheinung gelangt, kann Gott im Bedingten nicht erfahren werden. Ein Symbol ist nach Tillich dann wahr, wenn „[…] das Unbedingte in seiner Unbedingtheit rein erfaßt wird.“¹⁴⁷ „Negativ erweist sich die Wahrheit eines Symbols dadurch, daß es sich selbst in seiner Konkretheit negiert und damit transparent wird für das, was es darstellt.“¹⁴⁸ Was das Unbedingte jedoch konkret ist, bleibt abstrakt und damit offen. Die Erschließungsfunktion des Symbols erschöpft sich in einer Hinweis-Funktion, die jedoch nicht die Realität Gottes positiv aufzeigt, sondern bei der Einsicht haltmacht, dass das Unbedingte mehr ist als das nur Bedingte und dieses notwendig übersteigen muss. So ist in jedem Glaubensakt dieses enthalten, dass er sich zwar „unmittelbar auf ein heiliges Objekt [richtet]. Aber er meint nicht das Objekt, sondern das Unbedingte, das in dem Objekt symbolisch ausgedrückt ist. Glaube geht über die Unmittelbarkeit jedes Dinges hinaus zu dem Grund und Abgrund, auf dem es ruht.“¹⁴⁹ Die symbolhafte Repräsentanz des Unbedingten muss sich notwendig eines Symbolmaterials bedienen, welches den Formen des Endlichen entnommen ist. Aber abgesehen davon, dass Gott nicht mit diesen Formen identisch ist, bleibt dem Menschen eine Einsicht in das Wesen Gottes verschlossen. Der Symboltheorie Tillichs mangelt es also an einer eindeutigen inhaltlichen Bestimmung der Symbole.¹⁵⁰ Bleibt letztlich die Frage offen, ob der Prozess des Transzendierens,
GW, Bd. I, S. 328. Tillich, P., Mythus und Mythologie (1930), in: Clayton, J. (Hrsg.), Paul Tillich. Writings in the philosophy of religion / Religionsphilosophische Schriften (Main Works / Hauptwerke, Bd. IV), New York 1987, S. 223. Tillich, P., Symbol und Wirklichkeit, Göttingen 1986, S. 10. GW, Bd. I, S. 332. Vgl. Mugerauer, R., Symboltheorie und Religionskritik. Paul Tillich und die symbolische Rede von Gott aus theologischer, religionsphilosophischer und psychoanalytischer Perspektive, konkretisiert am Symbol ‚Vater’ für Gott, Marburg 2003, S. 57: Mugerauer kritisiert Tillichs Symbolverständnis ebenfalls aufgrund einer inhaltlichen Unschärfe derjenigen Wirklichkeit, die das Symbol repräsentieren soll: „Durch das Symbol soll das Unbedingt-Transzendente zur Anschauung gebracht werden. Mittels des Symbolmerkmals der Partizipation des Symbols an dem Symbolisierten ist garantiert, daß durch das Symbol tatsächlich das Unbedingt-Transzendente
2.2 Wahrheit aus konkret-dogmatischer Perspektive
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des über sich Hinausweisens des Endlichen in Form der gleichzeitigen Selbstnegation als Durchsichtigmachung des Seins für das Unbedingte als Selbstvermittlung Gottes gedeutet werden kann. Tillich bleibt auch diesbezüglich ambigue. Zwar lautet es an einigen Stellen, dass der Prozess der Selbstnegation vom Unbedingten ausgeht. So etwa, wenn Tillich davon spricht, dass das Symbol „vom Unbedingten zugleich bejaht und verneint wird […]“¹⁵¹ oder dass „[i]n jedem heiligen Sein […] die Bejahung und Verneinung des Seiendem vom Unbedingten her enthalten“¹⁵² ist. Allerdings wird hierbei die Selbstvergegenwärtigung Gottes als sich dem Menschen Mitteilender, diesen im symbolischen Akt Ansprechender von Tillich unterbetont. Doch auch diese Selbstvergegenwärtigung des Unbedingten im symbolischen Akt enthält eine Widersprüchlichkeit: Wenn davon ausgegangen wird, dass die göttliche Wirklichkeit sich im Symbol offenbart, so wird gleichzeitig der Vorgang des Symbolisierens selbst überflüssig, welches doch stets über den Charakter der Uneigentlichkeit verfügt. Eine Kondeszendenz Gottes in den symbolischen Akt würde jedoch die Uneigentlichkeit aufheben und ihn zu einem Akt machen, in dem er sich direkt und unmittelbar in Form einer Anrede offenbart. Trotz der Uneindeutigkeit bleibt anzunehmen, dass sich bei Tillich im symbolischen Prozess der Selbstnegation des Bedingten kein rein subjektiver Akt vollzieht. Denn dies ist explizit von ihm abgelehnt worden: In der Nebenordnung eines „verzerrte[n] Vernünftige[n] als Übervernünftiges neben die Vernunft“ erkennt er die Gefahr der „Zerstörung eines Bewußtseins“.¹⁵³ Auch erfolgen bei ihm alle Erkenntnisse und Aussagen über Gott – auch die schon in der Religionsphilosophie entfaltete Negativitätstheologie – aufgrund einer „Wesensverknüpfung“ des menschlichen mit dem göttlichen Geist. Insofern kann jener zur Erkenntnis seiner eigenen Verneinung vor dem Unbedingten nur infolge einer wesentlichen Teilhabe am göttlichen Geist durchdringen. Die vorherigen Erörterungen über das Verhältnis von Metaphysik und Mythos bzw. Wesen des Wesens und Wesen des Erkenntnisaktes können missverstanden werden, indem Tillich so interpretiert wird, dass das, worauf sich das Erkennen gründet, was ihm also als Unbedingtes vorausgeht, lediglich im Erkenntnisakt vorhanden ist und damit das Erkennen nur um sich selber kreist. Doch die Prämisse, dass das Erkennen nach seinem eigenen „Wesensabgrund“ fragt und damit nach seinem „woher“ und dieses als urständliches Moment seiner selbst erkennt, welches „die erkennende (allerdings nie in seiner Ganzheit) veranschaulicht wird. Dennoch bleibt eine inhaltliche Qualifizierung der Symbolwirklichkeit offen, was sich im konkreten Fall als schwierig erweist.“ A.a.O., S. 329. A.a.O., S. 335. EN, Bd. XIV, S. 85.
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2 Der Vollkommenheitsanspruch der Dogmatik
Beziehung zum Gegenstand überhaupt erst setzt“¹⁵⁴, wird von Tillich nicht als ein reines Erzeugnis des Bewusstseins verstanden. Vielmehr zeugt diese Einsicht von einer Verbundenheit des Erkennens mit dem Unbedingten; das Urständliche, welches im Erkennen gründet und ihm somit als Unbedingtes vorausgeht, impliziert die „Wesensverknüpfung“ von Gott und Mensch. Diese Erschütterung des Menschen als Ganzem geht nach Tillich jedoch nicht wiederum vom Menschen (oder dessen Denkleistung) aus, da „das, was das Erkennen erschüttert und umwendet […] nicht vom Erkennen bestimmt werden [kann], sondern […] das ausschließlich Bestimmende“¹⁵⁵ ist. Dies wiederum ergibt, dass dem Erkennen ein den Erkenntnisakt bestimmendes Apriori vorausgehen muss. Diese Erörterungen machen also deutlich, dass Tillich Gott nicht aus dem Erkennen herleitet und ihn so zu einem hypostasierten Endlichen bzw. Vernünftigen erhebt, sondern der Durchbruch (die Erschütterung der Endlichkeit) am Erkenntnisakt erfolgt, indem dieser erschüttert und auf das Unbedingte umgewendet wird. Diese Umwendung – so ließ sich bisher ermitteln – bedeutet keine positive Vergegenwärtigung des göttlichen Geistes, sondern allein den Einbruch der Erkenntnis, dass vom Bedingten aus keine göttliche Wahrheit abgeleitet werden kann. Dieser Vorgang ist kein direktes, objektives Erkennen Gottes mit Mitteln der Vernunft, sondern stellt lediglich die Voraussetzung dar, die Symbole der christlichen Botschaft als Versinnbildlichung der eigenen Situation zu verstehen. Damit einhergehend expliziert auch das Verhältnis von Subjekt und Objekt in der Offenbarungskorrelation, dass Gott nicht zu einem Gegenstand des Erkennens werden kann, obwohl „[i]m Offenbarungsbegriff […] zweifellos ein Erkenntnismoment“ liegt, Offenbarung also die „Gegebenheitsform des Unbedingten für das aufnehmende Bewußtsein“ liefert und damit auch Gott im Offenbarungsdurchbruch präsent ist, wenn auch nicht als Erkenntnisgegenstand. ¹⁵⁶ Aber diese Aufnahme erfolgt nicht unmittelbar und als objektive Erschließung Gottes im Bewusstsein, wodurch Gott zu einem Objekt würde. Die Vergegenwärtigung des Unbedingten kann nur in einer Schicht liegen, in der der Gegensatz von Wahrnehmen und Handeln, von Objekt und Subjekt aufgehoben ist. Jedes nur theoretische Unbedingte ist als Objekt für ein Subjekt bedingt, ist also kein Unbedingtes.¹⁵⁷
Denn das Unbedingte als ein theoretisch Hergeleitetes würde eben nicht die Struktur der Vernunft des Subjekts transzendieren, sondern aus ihr abgeleitet
A.a.O., S. 91. A.a.O., S. 97. A.a.O., S. 29. A.a.O., S. 30.
2.3 Dogmatik als Zeugin von der vollkommenen Offenbarung
363
sein. Folglich haftet dem so gewonnenen Begriff des Unbedingten etwas Endliches an. Offenbarung transzendiert jedoch das Subjekt-Objekt-Verhältnis, indem sie eine Sphäre eröffnet, die die „Tiefe des Objektiven“ als auch „die Tiefe des Subjektiven“ darstellt. Diese Tiefe aller Dinge und allen Seins ist dasjenige, in dem sie urständlich wurzeln, was ihnen Sein und Sinn zuspricht, das Unbedingte.
2.3 Dogmatik als Zeugin von der vollkommenen Offenbarung 2.3.1 Die Wahrheit des Offenbarungsverständnisses Die Dogmatik beansprucht von dem wahren Verhältnis von Gott und Mensch und folglich von der vollkommenen Offenbarung in Christus zu zeugen. Insofern als Dogmatik „Rede von dem [ist], was uns unbedingt angeht, beruht [sie] auf Kundgebung des Unbedingten an uns“¹⁵⁸. Im Offenbarungsverständnis drückt sich also die Wahrheit der dogmatischen Sätze aus, insofern als das OffenbarWerden Gottes aufgrund seines Enthüllungscharakters ein Wahrheitsmoment enthält. Dennoch geschieht dies nicht auf supranaturalistische Weise, indem Gott sich dem Menschen eindeutig – also auf objektive, für alle sichtbare Weise – offenbart, z. B. im objektiven Wunder durch Außerkraftsetzung der Naturgesetze. Charakteristisch für den Supranaturalismus sei, „daß er das Unbedingte sich realisieren läßt in bestimmten einzelnen Vorgängen, die in das System der bedingten Formen hereinbrechen und in ihnen als fixierte Vorgänge aufzeigbar sind, wie etwa Naturwunder, psychische Wunder, Geschichtswunder.“¹⁵⁹ Nur diejenigen Ereignisse, Natur- oder Geschichtswunder gelten als supranatural, transzendent und göttlich, die den Natur- oder Geschichtsvorgängen widersprechen. Dadurch sei jedoch „das System der endlichen Formen nicht durchbrochen, sondern zerbrochen“¹⁶⁰. Tillich hingegen definiert Offenbarung ihrem Wesen nach als indirekt, als eine „oratio indirecta“¹⁶¹. „Das, was durchbricht, ist das Verborgene, das im Durchbruch das Verborgene bleiben muß. Sein Durchbruch kann darum nicht so geschehen, daß irgendetwas Direktes in die Wirklichkeit tritt, was als solches unmittelbar das Unbedingte wäre.“¹⁶² Folglich ist Dogmatik als Wissenschaft indirekte Rede vom Unbedingten. Es handelt sich bei ihr nicht um „Wissenschaft vom Unbedingten“, sondern um „wissenschaftliche Rede“ vom
A.a.O., S. 14. A.a.O., S. 23. A.a.O., S. 23. A.a.O., S. 19. A.a.O, S. 20.
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2 Der Vollkommenheitsanspruch der Dogmatik
Unbedingten, also um einen denkenden Nachvollzug des in der Offenbarungskorrelation Erlebten. „Die Wissenschaft ist nicht das Erzeugende, sondern das Formgebende“ und reflektiert folglich das im Glaubensakt erlebte mit allgemeinverständlichen Begriffen und stellt diese in einen Zusammenhang.¹⁶³ Dogmatik spricht vom Offenbarwerden des uns seinem Wesen nach Verborgenen. Das Moment der Verborgenheit wird auch nach dessen Offenbarung nicht eingebüßt, zum Wesen des Unbedingten gehört es, stets ein Moment der Unverfügbarkeit zu besitzen,¹⁶⁴ „sonst wäre es ein Glied im Zusammenhang des Bedingten.“¹⁶⁵ Auch müsste etwas, was dem Menschen direkt zugänglich ist, nicht offenbart werden. Wenn von Offenbarung die Rede ist, so ist damit stets auch die Verborgenheit des sich exklusiv im Glaubensakt enthüllenden Unbedingten impliziert. Die Kundgebung des Unbedingten an uns kann aufgrund unserer „Wesensverknüpfung“ mit ihm erfolgen¹⁶⁶ und nur durch sein Offenbarwerden kann es als das uns unbedingt Angehende empfunden werden. Im Offenbarungsgeschehen wird das Fürsichsein des Menschen durchbrochen, indem „[d]as uns unbedingt Angehende als das unbedingt Verborgene, Fremde und zugleich unser Wesen Tragende […] in unsere Wirklichkeit, in unser daseiendes Ich“¹⁶⁷ hineinbricht und uns durch diesen Akt erschüttert und umwendet. Durch ihn sind wir „gemeint, erschüttert, durchbrochen.“¹⁶⁸ Offenbarung ereignet sich also „an uns“¹⁶⁹ und schließt dadurch ein nicht-existentielles Offenbarungswissen aus. Wissen von der Offenbarung kann nur innerhalb dieses existentiellen Zusammenhangs erlangt werden, indem unsere Person, unser gesamtes Sein angesprochen ist.
A.a.O., S. 6. Vgl. a.a.O., S. 20: „Das, was durchbricht, ist das Verborgene, das im Durchbruch das Verborgene bleiben muß. Sein Durchbruch kann darum nicht so geschehen, daß irgend etwas Direktes in die Wirklichkeit tritt, was als solches unmittelbar wäre. Es muß bei der oratia indirecta, bei dem Hinweis bleiben.“ A.a.O., S. 15. Ebd. Ebd. und a.a.O., S. 16. A.a.O., S. 16. Ebd.
2.3 Dogmatik als Zeugin von der vollkommenen Offenbarung
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2.3.2 Die Offenbarungskorrelation als Teilhabe des Menschen an der göttlichen Seinsfülle Bei Tillich gründet sich das Offenbarwerden des Unbedingten auf dem Tragen des Seins vom Unbedingten und der Wesensverknüpfung von Absolutem und Relativem, was eine Strukturanalogie des menschlichen und göttlichen Geistes im Sinne einer analogia entis impliziert.¹⁷⁰ Tillich versteht die analogia entis jedoch nicht als natürliche, strukturelle Seinsanalogie zwischen Gott und Mensch, die eine außeroffenbarungsmäßige Erschließung Gottes bedeuten und Gott dem Menschen unterwerfen würde: Die analogia entis ist nicht die Eigenart einer fragwürdigen Theologie, die durch Schlußfolgerungen vom Endlichen auf das Unendliche Gotteserkenntnis zu gewinnen sucht. Die analogia entis gibt uns allein Recht, überhaupt von Gott zu sprechen. Sie beruht auf der Tatsache, daß Gott als das Sein-Selbst [sic!] verstanden werden muß.¹⁷¹
In Gott als dem Sein selbst sei Personsein enthalten. Das mache ihn jedoch nicht selbst zu einer Person. Die Wesensverknüpfung von Gott und Mensch bedeute nicht, dass der Mensch jederzeit eine absolute Gotteserkenntnis aufgrund einer Seinsgleichheit mit Gott erlangen könne. Sondern sie ermögliche die sich aus der Schöpfung ableitbare Teilhabe des Menschen an Gott und stelle die Gegebenheitsform Gottes dar, der sich in seiner Selbstoffenbarung dem Menschen in der Offenbarungskorrelation als unbedingt angehend mitteile. Diese Teilhabe sei jedoch nicht mit einer Identität gleichzusetzen, die auch abgesehen von der Offenbarungskorrelation in der Natur des Menschen selbst angelegt sei.¹⁷² Vielmehr vermittele sie sich nur im konkreten Moment der Offenbarungserschütterung. Vgl. Eymann, H.-S., Zum Verhältnis von Offenbarung und Sein bei Paul Tillich, in: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie, 17/1, Berlin 1975, S. 83: Eymann konstatiert, dass der in der Theologiegeschichte vieldiskutierte Begriff der „analogia entis, für Tillich einzig die Form darstellt, in der Offenbarungserkenntnis- und somit Gotteserkenntnis ausgedrückt werden muß.“ Vgl. ST I, S. 157 f.: Der im Zusammenhang mit Tillichs Erwähnung der analogia entis stehende Vorwurf, hier vertrete Tillich den Standpunkt einer natürlichen Theologie, wird von ihm selbst in seinem Kapitel Die Offenbarungserkenntnis abgewiesen. Dort hält er fest, dass „ohne eine solche Analogie […] nichts über Gott ausgesagt werden [könne]“ und macht gleichzeitig deutlich: „Aber die analogia entis ist in keiner Weise imstande, eine natürliche Theologie zu schaffen.“ f. A.a.O., S. 278. Vgl. Kleffmann, T., Nietzsches Begriff des Lebens und die evangelische Theologie, S. 456: Allerdings geht Kleffmann davon aus, „daß das Getragensein vom Unbedingt-Tragenden ein Moment der Identität mit dem Unbedingt-Tragenden impliziert“, welches sich „im Mut der Selbstbejahung [aktualisiert] und […] sich (als ‚Stehen im schöpferischen Ursprung’) weiter in der
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2 Der Vollkommenheitsanspruch der Dogmatik
Im Brief Symbol and Knowledge (1940 – 41) an den Herausgeber der Zeitschrift The Journal of Liberal Religion, in welchem Tillich auf die Kritik von Dr. Urban und Dr. Aubrey an seinem Aufsatz Religious Symbol antwortet, gibt er zu verstehen, dass er die klassische Lehre von der analogia entis anerkennt, sie jedoch nicht im Sinne einer rationalen Konstruktion verstanden wissen möchte. Aussagen über Gott beziehen sich nach Tillich nicht „auf etwas, das an sich wahr ist, gleichgültig, ob jemand von dieser Wahrheit ergriffen wird oder nicht.“¹⁷³ Vielmehr handele es sich bei der Gotteserkenntnis, um eine Erkenntnis, die nicht theoretisch, sondern existentiell sei. In this sense the ‚symbols provide no objective knowledge but yet a true awareness,’ namely, of he mystery of the ground, which never can become an object for a subject, but which draws the subject into the object thus overcoming the cleavage between them.¹⁷⁴
Nach Tillich ermögliche die analogia entis es also dem Menschen, Gott in der konkreten Offenbarungserschütterung als unbedingt angehend zu erfahren. In dieser Offenbarungskorrelation werde das Subjekt in das Objekt „hineingezogen“ und dadurch der „Spalt“ zwischen ihnen überwunden. Dies könne nur aufgrund der Wesensverknüpfung von Gott und Mensch erfolgen, jedoch werde diese Identität nur in der Offenbarungskorrelation wirklich. Sie sei keine fixierbare Gegebenheit, die jederzeit und unabhängig von der Offenbarungskorrelation zugänglich wäre. Folglich könne auch nicht von einer Identität im eigentlichen Sinne des Wortes gesprochen werden. Der Mensch stehe mit Gott in einem reziproken Verhältnis, was voraussetzt, dass der absolute Geist durch den relativen Geist in der Offenbarungskorrelation zur Erscheinung gelangen kann – und nur in ihr. Insofern basiert Tillichs Dogmatik auf der Prämisse der Strukturanalogie zwischen Gott und Mensch innerhalb der Offenbarungskorrelation, ansonsten wäre das endliche Zeugnis vom Unbedingten lediglich Kunde von bedingten, nicht aber von unbedingten Angelegenheiten.
schöpferischen Selbstbestimmung auf das Unbedingte hin“ verwirklicht. Indem der Mut zu einer Selbstbejahung führt, die nicht in eine Unbedingtsetzung des Selbst depraviert, sondern eine im Unbedingten gründende Selbstbejahung hervorruft, lässt sich nach Kleffmann davon sprechen, „daß ihm [dem Lebenden] insofern das Unbedingte […] immanent ist. Der Mut der Selbstbejahung ist ein Ausdruck der Teilhabe des einsamen Individuums an der Unerschöpflichkeit des Unbedingten.“ EN, Bd. XIV, S. 316. Tillich, P., The Religious Symbol / Symbol and Knowledge (1940 – 1941), in: Clayton, J. (Hrsg.), Paul Tillich. Writings in the Philosophy of Religion / Religionsphilosophische Schriften (Main Works/Hauptwerke, Bd. IV), New York 1987, S. 274.
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367
Kritisiert werden kann an Tillich, dass sich das Getragensein des Menschen nicht aus der Offenbarung in Christus ergibt. Denn alle Momente, die eine Offenbarung ausmachen, werden bereits erkenntnistheoretisch (in der Religionsphilosophie) hergeleitet und erst nachträglich im Christus-Bild repräsentiert gefunden. Dadurch ist in Frage gestellt, ob die Botschaft, dass sich in Christus Gott für uns in Beziehung mit uns begibt, bei Tillich als Selbstbewegung Gottes verstanden werden kann und erst anschließend in dieser Zusage vom Menschen als Offenbarung aufgenommen wird. Denn bereits in der erkenntnismäßigen Erschließung erfolgt die Einsicht in die eine Offenbarung ausmachenden Momente. Diese bestehen darin, dass in der Offenbarungskorrelation die Erkenntnis durchbricht, dass das Selbst sich keine Unbedingtheit zuschreiben kann und sich aufgrund seiner Relativität vor dem Unbedingten zu negieren habe, in seiner Funktion als Kreatur Gottes jedoch unbedingt bejaht sei. Diese in der Offenbarungskorrelation einbrechende Erkenntnis steht jedoch zunächst in keiner Verbindung zu dem sich in Christus mitteilenden Unbedingten und erfolgt bereits auf religionsphilosophischer Ebene. Folglich ließe sich unterstellen, dass sich das Getragensein nicht aus dem Gottesverhältnis (in Christus) ableiten lässt, sondern von einer erkenntnismäßigen Prämisse abhängt und sich folglich nicht aus einem wirklichen Eingehen Gottes in die Geschichte ergibt. ¹⁷⁵ Korrespondierend dazu lässt sich Offenbarung stets nur als indirekte Mitteilung an uns verstehen, insofern als sie sich nur in „indirekten Worten“¹⁷⁶ und damit in Symbolen ausspricht. Folglich ist auch hier wieder die unlösbare Problemfrage eröffnet, die bereits in Kapitel 2.2.3 erörtert worden ist, ob die Erkenntnis der eigenen Bedingtheit in Form der Selbstnegation in der Offenbarungserschütterung als eine gleichzeitige Selbstkundgabe, als Manifestation des Unbedingten in dieser Erkenntnis verstanden werden kann oder ob sie lediglich Erzeugnis der denkerischen Tätigkeit des Subjekts ist.
2.3.3 Vollkommene Offenbarung und Wesen des Christentums In diesem Unterkapitel sollen zunächst die Merkmale des Durchbruchs in Christus sowie die Bedeutung der Vorbereitungsperiode dargestellt werden. Alsdann wird genauer ins Augenmerk genommen werden, was Tillich unter Wesen des Chris Vgl. Kleffmann, T., Nietzsches Begriff des Lebens und die evangelische Theologie, S. 435: Auch Kleffmann kritisiert die Voraussetzungshaftigkeit „der Identität Gottes mit dem Menschen […] statt als sein Sich-Identifizieren mit dem Menschen Ereignis seiner Selbstbewegung, seiner Lebendigkeit zu sein.“ EN, Bd. XIV, S. 17.
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2 Der Vollkommenheitsanspruch der Dogmatik
tentums versteht sowie die Frage diskutiert, ob die außerchristlichen Religionen nach Tillich diesem Wesen entsprechen können, bzw. ob es „in den übrigen Religionen eine ebenso begründete Selbstaussage geben“¹⁷⁷ kann, dass die vollkommene Offenbarung die Erschütterung der eigenen, konkreten Religion enthält.
2.3.3.1 Die Bedeutung der Vorbereitungsperiode für den Durchbruch Der sich in Christus ereignende Durchbruch, der als Zeitenfülle bzw. Kairos bezeichnet wird, ereignet sich nicht unvermittelt, insofern als er eine Vorbereitungsperiode¹⁷⁸ voraussetzt, die auf ihn hinzielt und welche die Formen für die Aufnahme des Durchbruchs bereitstellt. Folglich spielt die geschichtliche Situation eine entscheidende Rolle für das aufnehmende Bewusstsein. Nur, indem die Geschichte den Weg durch die nicht-christlichen Religionen beschreitet, kann sie das Christusereignis als Durchbruch erfahren. Denn Voraussetzung für diesen, den Tillich als Erschütterung und Umwendung beschreibt, ist eine Dämonisierung des Heilsweges, die nach Tillich „in dem Begriff des Gesetzes enthalten ist.“¹⁷⁹ Es müsse also zunächst ein Erlösungswunsch aufgrund einer unerträglichen Spannung vorliegen, bevor die Offenbarung in Christus wirklich als existentiell und unbedingt angehend, da die eigene ausweglos scheinende Situation aufgreifende Heilsmitteilung, verstanden werden kann. Offenbarungsgeschichte muss also nach Tillich notwendig dreirhythmisch verlaufen, in Form der „Perioden des Vaters, des Sohnes und des Geistes.“¹⁸⁰ Eine Offenbarung, die ohne Vorbereitungsperiode als isoliertes Geschehen in die Geschichte einbrechen würde, könnte nicht den Anspruch der Vollkommenheit erheben. Denn es würde ja gerade das fehlen, was entscheidend ist, nämlich die Verneinung der Unmittelbarkeit der Offenbarung, also die Verneinung ihrer Dämonie. Es wäre nicht möglich, daß eine isolierte Offenbarung sich selbst verneinte. Sie könnte wohl sagen, daß sie es täte, aber sie könnte es nicht realisieren. Denn das Verneinende und das Verneinte träten nicht real gegeneinander.¹⁸¹
Eine isolierte Offenbarung könnte nicht einer real-geschichtlichen Dämonisierung entgegenwirken, indem sie sich wirklich gegen eine Grenzsituation stellt. Die Negation des Konkreten als eine an sich selbst festhaltende Endlichkeit würde
A.a.O., S. 57. A.a.O., S. 31. A.a.O., S. 49. Ebd. A.a.O., S. 49 – 50.
2.3 Dogmatik als Zeugin von der vollkommenen Offenbarung
369
sich nicht aus den Spannungselementen ergeben, die der Offenbarungsgeschichte zugrundeliegen. Folglich könnte auch keine wirkliche Überwindung im Sinne einer Erschütterung und Umwendung erfolgen. Es wird also behauptet, daß der Einbruch der vollkommenen Offenbarung nicht möglich wäre, ohne daß diese Entwicklungen einen bestimmten Grad der Reife erreicht haben […]. Wäre die vollkommene Offenbarung in jedem Augenblick möglich, bedürfte sie keiner Vorbereitung, so würde sie wie ein Fremdkörper, wie ein Klotz in dem Organismus des geistig-geschichtlichen Lebens stehen. Sie würde nicht angeeignet werden können […].¹⁸²
Tillich grenzt sich mit dieser Bestimmung vor allem gegen das Offenbarungsverständnis Friedrich Gogartens ab.¹⁸³ Die Vorbereitungsperiode habe die Bedeutung, dass die Offenbarung auf dem Boden der gesetzlichen Religionen (z. B. dem Judentum) durch die sich im Gesetz widerspiegelnde Dämonisierung zur Verzweiflung am Heil getrieben werde, während sich auf dem Boden der Profanität (dem Griechentum) die Frage nach dem Sinn ergebe und im Heidentum die Verzweiflung am Halt seine maximale Spannung erreiche. Diese Bedingungen führen zu einer religiösen Krisis, die als Grenzerfahrung und existentielle Not erlebt werde und damit erst die Bedingung des Durchbruchs liefere. Erst in dieser Situation, in der ein Höchstmaß an „sich selbst isolierende[r] Existentialität“¹⁸⁴ vorherrscht und der Mensch die existentielle Einsamkeit und das Fürsichsein am eigenen Leib und als existentielle Bedrohung (als Angst vor dem Nicht-Sein) erfährt, könne sich die vollkommene Offenbarung in Christus Gehör verschaffen und realisiert werden, ohne als ein supranaturaler „Fremdkörper“ in eine geistiggeschichtliche Lage einzudringen. Im Durchbruch spreche die Geschichte sich selbst aus, indem sie ihre Erfüllung in der „Selbstaufhebung des Gesetzes“ erfahre; in ihm ereigne sich die „Verneinung der Unmittelbarkeit der Offenbarung“¹⁸⁵. Der Sühnetod Jesu stehe stellvertretend für die Aufhebung des Gesetzes, was bedeutet, dass eine unmittelbare Beziehung des Menschen zu Gott durch Einhaltung des geoffenbarten Gesetzes (welches als unmittelbarer Wille Gottes erscheint) vom Menschen nicht erwirkt werden könne. Es gebe keinen direkten Weg (auch nicht über ein geoffenbartes Gesetz) zu Gott, außer über den Träger Christi, welcher den Menschen endgültig von jedem menschlichen Bestreben,
A.a.O., S. 318. Vgl. a.a.O., S. 318 – 319: „Daraufhin [auf ein unvermittelt eintretendes Offenbarungsereignis] zielen Offenbarungslehren wie die von Gogarten. Aber das sind nur paradox-pathetische Redeweisen, deren Möglichkeit auf der beliebigen Verwendung von Worten beruht, deren Konsequenzen nicht durchdacht werden.“ A.a.O., S. 50. A.a.O., S. 49.
370
2 Der Vollkommenheitsanspruch der Dogmatik
einen direkten Gotteszugang herstellen zu wollen, befreit habe und gleichzeitig die unbedingte Zusage Gottes zum Menschen bedeute. Die Dreigliedrigkeit der Offenbarungsgeschichte fungiere also als notwendige Bedingung der Aufnahme des Offenbarungsdurchbruchs in Christus, der vollkommenen Offenbarung.
2.3.3.2 Das Verhältnis von „Wesen des Christentums“ und außerchristlichen Religionen Um die Frage zu beantworten, ob das Wesen des Christentums auch andernorts in Erscheinung treten kann, muss zunächst erörtert werden, was Tillich unter diesem Wesen versteht. Es fällt bei ihm zusammen mit der vollkommenen Offenbarung: „Wir sehen das Wesen des Christentums darin, daß es beansprucht, vollkommene Offenbarung zu sein, d. h. diejenige, in der der Heilsweg die Erschütterung jedes Heilsweges, auch des eigenen, in sich enthält.“¹⁸⁶ Insofern als das Wesen des Christentums mit der vollkommenen Offenbarung identisch ist, kann es gleichzeitig nicht mit der historischen Gesamterscheinung des Christentums als Religion identifiziert werden. Denn obwohl sich die vollkommene Offenbarung erstmals auf dem Boden der christlichen Religion in Christus erfüllt habe, könne doch „keine historische Realisierung das Wesen des Christentums ausmach[en]. Das Christentum ist wesentlich Protest gegen einen historischen Wesensbegriff.“¹⁸⁷ Zwar fallen Wesen des Christentums bzw. vollkommene Offenbarung und Christentum (als Religion) in einem Überschneidungspunkt so zusammen, dass sich das Wesen des Christentums innerhalb des historischen Christentums erfüllt hat, allerdings könne deshalb nicht das Christentum als einheitliche historische Erscheinung mit seinem Wesen identifiziert werden. Denn als Religion sei es ebenso der Gefahr der Dämonisierung unterworfen, wie jede andere Religion auch. Es selbst sei, um sein Wesen (die vollkommene Offenbarung) zum Ausdruck zu bringen, drauf angewiesen, dies so zu tun, dass in seinem konkreten Heilsweg, der konkreten Realisierung der Religiosität, sich gleichzeitig, indem es sich auf das Christussymbol beruft, ein Protest im Sinne einer Negation der Unbedingtheit des eigenen Heilsweges enthalten ist. Folglich ist das Wesen als ein Prinzip des Christentums nicht identisch mit dem Christentum als Religionsgemeinschaft, sondern es bedeutet eine Verwirklichungsform des Unbedingten (und so der vollkommenen Offenbarung) in der Geschichte. Es ist dort verwirklicht, wo sich auf dem Boden einer geschichtlichen Religion die vollkommene Offenbarung ereignet. Demzufolge wird nicht die
A.a.O., S. 53. Ebd.
2.3 Dogmatik als Zeugin von der vollkommenen Offenbarung
371
Identität von Christentum und vollkommener Offenbarung proklamiert, sondern die erstmalige Realisierung der vollkommenen Offenbarung auf dem historischen Boden des Christentums. „Das Christentum als konkrete geschichtliche Erscheinung hat weder ein Wesen im historischen Sinn – dazu ist es zu Komplex – noch im normativen Sinn, da es keinen Weg gibt, eine Norm aus dem Historischen zu erheben. Es gibt kein Wesen des Christentums im Sinne einer konkret historischen Erscheinung.“¹⁸⁸ Damit ist nicht gesagt, dass das Christentum kein Wesen enthält oder keine Norm, an der es sich zu orientieren hat, sondern lediglich, dass diese Norm nicht dem Christentum als historischer Religion entspricht, obwohl sie in ihm, d. h. in dessen historischer Linie, zur Erscheinung gekommen ist. Auch ist damit nicht die Historizität des Wesens des Christentums geleugnet, so, als erfülle es sich außerhalb der Geschichte in Form einer reinen Abstraktion. Dass das Wesen des Christentums nicht als konkrete historische Erscheinung auftritt, meint lediglich, dass es sich nicht aus einer konkret historischen Erscheinung ableiten lässt, wohl aber, dass es sich innerhalb der Geschichte verwirklicht hat. Mit dieser Interpretation von Wesen des Christentums ist gleichsam eine Öffnung gegenüber den nicht-christlichen Religionen gegeben, da prinzipiell als möglich erachtet wird, dass sich das Wesen des Christentums auch in außerchristlichen Religionen erfüllen kann. So konstatiert Tillich: „Das Christentum steht seinem Wesen nach über jeder seiner Verwirklichungen. Es kann sich darum auch außerhalb ihrer wiederfinden.“¹⁸⁹ Deshalb muss es das Christentum nach Tillich „offenlassen, ob an andern Stellen Wesen des Christentums verwirklicht ist, ob der Durchbruch durch das Gesetz und die Polarität von Protest und Realisierung auch an anderen Stellen eingetreten ist […].“¹⁹⁰ Grundsätzlich schließt er eine Verwirklichung des Wesens des Christentums in außerchristlichen Religionen nicht aus. Der Anspruch des Christentums … […] auf Verkündigung der vollkommenen Offenbarung zu beruhen, würde damit nicht aufgegeben sein, daß auch an anderer Stelle eine Religion vom Christentum als auf vollkommener Offenbarung beruhend anerkannt werden müßte. Es würde das nicht einmal der Einmaligkeit der Offenbarungsgeschichte widersprechen; denn diese Einmaligkeit bedeutet ja nicht eine empirisch-historische Linie, sondern sie bedeutet die einmalige, unwiederholbare Richtung, die die Geschichte in der Offenbarungsgeschichte zum Ausdruck bringt.¹⁹¹
A.a.O., S. 52– 53. A.a.O., S. 55. A.a.O., S. 57. Ebd.
372
2 Der Vollkommenheitsanspruch der Dogmatik
Es würde also dem originalen Durchbruch nicht widersprechen, wenn eine Religion im Zuge ihrer religionsgeschichtlichen Entwicklung auf die im Christentum sich ursprünglich ereignet habende Vollkommenheit der Offenbarung zulaufen würde. Es wäre dies denkbar, indem eine nicht-christliche Religion „auf dem Boden der Grundoffenbarung […] Zweifel an allen Heilsoffenbarungen […]“¹⁹², also auch ihrer eigenen, äußern würde. Sodann würde sich ein Weg öffnen, einen Heilsweg zu beschreiten, der zu einem „Bewusstsein um die Dämonie des Dämonischen […]“¹⁹³ durchbricht. Würde eine andere Religion also zu diesem Bewusstsein durchdringen, so würde sie in sich die vollkommene Offenbarung realisieren. Denn Vollkommenheit im Sinne von Absolutheit lässt sich von Tillich nur von der Offenbarung und nicht von der Religion her bestimmen¹⁹⁴, insofern als diese in sich bestimmte Momente enthält, die den Vollkommenheitsanspruch erfüllen und sich dies geschichtlich realisiert. So definiert Tillich: „Vollkommen ist eine Offenbarung, die wesensmäßig der Dämonisierung widerstrebt.“¹⁹⁵ Das bedeutet, dass der konkrete Heilsweg „in sich ein Element […] [besitzt], das den konkreten Weg erschüttert, das ihn also in dem Augenblick, wo er dämonisiert wird, umwendet.“¹⁹⁶ Dämonisiert ist ein konkreter Heilsweg dann, wenn er nicht mehr auf das tragende Unbedingte verweist, sondern an sich selbst und seiner Konkretheit festhält und sich damit zur Unbedingtheit erhebt. Zur vollkommenen Offenbarung gehört also sowohl der konkrete Heilsweg als auch dessen innere Überwindung im Sinne eines Protestes gegen die Verabsolutierung desselben. Sind diese Kriterien erfüllt, lässt sich laut Tillich durchaus von der „Absolutheit des Christentums“ sprechen, auch in außerchristlichen Religionen. Tillich leitet den Begriff Absolutheit aus den in der Offenbarung enthaltenen Elementen und der Stellung zum konkreten Heilsweg selbst ab. Es ist entscheidend, „wie das Konkrete selbst die Paradoxie des Verhältnisses zum Unbedingten in sich zur Verwirklichung bringt.“¹⁹⁷ Im Gegensatz zu der individuellen Darstellung der Beziehung von Gott und Mensch im Moment des existentiellen Betroffenseins des Menschen vom Unbedingten konstruiere der Rationalismus „ein Vernunftideal von Religion“ und führe erst im Anschluss den Nachweis, „daß dieses im Christentum erfüllt sei.“¹⁹⁸ Offenbarung als Kundgabe Gottes an den Menschen, die den
A.a.O., S. 57. A.a.O., S. 319. A.a.O., S. 52: Nach Tillich muss das Christentum „als Offenbarung“ aufgefasst werden und nicht „als Religion“. A.a.O., S. 45. A.a.O., S. 46. A.a.O., S. 49. A.a.O., S. 48.
2.3 Dogmatik als Zeugin von der vollkommenen Offenbarung
373
Menschen in seinem geschichtlichen Dasein individuell ergreift, werde im Rationalismus nicht berücksichtigt. Die Absolutheit der vollkommenen Offenbarung erschließt sich hingegen nach Tillich aus der inneren Konstitution der Offenbarungskorrelation selbst, aus dem konkreten, existentiellen Betroffen-Sein.¹⁹⁹ Absolutheit ist nach Tillich also abhängig von den in einer Offenbarung enthaltenen Elementen und der Beschaffenheit der Offenbarungskorrelation, die in sich die beiden miteinander korrelierenden Momente des Protests und der Realisierung und folglich das Moment der Selbstüberwindung enthalten muss. Zusammenfassend ergibt sich, dass sich das Wesen des Christentums nicht auf das historische Christentum fixieren lässt. Vielmehr ist „es […] universaler als jede denkbare Verwirklichung des Christentums“. Der Universalismus besteht darin, dass das Wesen überall dort erfüllt sein kann, wo eine Offenbarung „in sich selbst die Verneinung ihres Heilsweges […]“ enthält.²⁰⁰ Jede Offenbarung, auch diejenige, die sich innerhalb außerchristlicher Religionen ereignet, die diese innere Voraussetzung erfüllt, d. h. die Verneinung ihres konkreten Heilsweges in sich trägt, kann den Anspruch erheben, vollkommene Offenbarung zu sein. Folglich kann Tillich zu der Aussage gelangen: „Das Wesen des Christentums ist also identisch mit der vollkommenen Offenbarung in den Religionen“²⁰¹. Das Christentum hat den nicht-christlichen Religionen dann lediglich voraus, dass sich auf seinem historischen Boden erstmals der universale Durchbruch, die originale Offenbarung, ereignet hat, von der jede folgende Offenbarung (außerwie innerchristlich) ihrem inneren Wesen nach abhängt.
2.3.3.3 Das Verhältnis von originalem Durchbruch und abhängiger Offenbarung Würden die im vorangehenden Kapitel aufgeführten Bestimmungen auf dem Boden einer nicht-christlichen Religion realisiert sein, würde sich dort ein Reli-
Vgl. obige Argumente gegen eine natürliche Offenbarung bei Tillich. Es stellt sich allerdings die Frage, was Tillich unter der sog. „Offenbarungskorrelation“ versteht. Meines Erachtens bedeutet diese auch bei Tillich lediglich eine Erkenntnis. Offenbarungskorrelation und Erkenntnis der eigenen Bedingtheit sind bei Tillich identisch. Diesbezüglich fällt Tillichs eigenes Vorgehen mit der von ihm abgelehnten rationalistischen Methode zusammen. Der Unterschied ist freilich der, dass bei Tillich Vernunftideal und Christusereignis praktisch zusammenfallen, indem sich in der Offenbarung in Christus dem Menschen eine wahre Erkenntnis der Offenbarung Gottes erschließt. Beide Akte fallen zusammen, während sie im Rationalismus nacheinander erfolgen. Die Proklamation des Vernunftideals geschieht vor der Identifikation der gewonnenen Erkenntnisse mit dem Inhalt der christlichen Offenbarung. EN, Bd. XVI, S. 53. Ebd.
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2 Der Vollkommenheitsanspruch der Dogmatik
gionsträger selbst in seiner Bedingtheit verneinen und damit auf das Unbedingte hin transzendieren, „[…] so würde das Christentum in diesem sich selbst wiederfinden“²⁰² und dieses Symbol mit dem Christussymbol identisch sein. Allerdings würde es sich bei einem derartigen Offenbarungsdurchbruch innerhalb einer anderen Religion nicht um den originalen Durchbruch handeln – dieser sei nur und einmalig auf dem Boden des historischen Christentums als Kairos in Erscheinung getreten – sondern um einen analogen Durchbruch. Der erstmals sich in der Geschichte realisierende Kairos als der ursprüngliche, sich prophetisch ereignende Durchbruch²⁰³ durch die in sich ruhende Endlichkeit und ihre Formen wird von Tillich auch als der Eintritt einer „neue[n] Wirklichkeit in die Offenbarungskorrelation“²⁰⁴ bezeichnet. Mit diesem ist es dem Menschen allererst möglich, weitere analoge Durchbrüche dieser Art in Form einer neuen Korrelation zu erleben. Insofern kann Tillich auch von der Einmaligkeit der vollkommenen Offenbarung sprechen, die aufgrund ihrer Verwurzelung in der Offenbarungsgeschichte gegeben ist.²⁰⁵ Die Einmaligkeit bezieht sich dabei auf die durch das Erscheinen Christi sich ursprünglich verändernde Wirklichkeit, die durch die Präsenz des Neuen Seins in der Auferstehung Christi und der Aufnahme dieses Ereignisses durch die Jünger bewirkt worden ist. Als dieses historische Geschehen ist die originale Offenbarung einmalig. Sie bedeutet eine qualitative Kulmination. Über das in Christus repräsentierte Gottesverhältnis hinaus gebe es kein Symbol, welches die Wahrheit adäquater zum Ausdruck bringen könne. Tillich unterscheidet demnach – entsprechend der konventionellen Unterscheidung einer revelatio mediata und einer revelatio immediata ²⁰⁶ – zwischen „ur A.a.O., S. 57. Die erste prophetische Kundgebung an die Jerusalemer Juden erfolgte z. B. durch Petrus in dessen Pfingstpredigt. In ihr verweist er auf den Erzvater David: „Da er nun ein Prophet war und wusste, dass ihm Gott verheißen hatte mit einem Eid, dass ein Nachkomme von ihm auf seinem Thron sitzen sollte, hat er’s vorausgesehen von der Auferstehung des Christus gesagt: Er ist nicht dem Tod überlassen, und sein Leib hat die Verwesung nicht gesehen. Diesen Jesus hat Gott auferweckt; dessen sind wir alle Zeugen.“ (Luther Bibel 1984, Apg. 2, 30 – 33) Mit einer pathetischen Schlussrede deutet Petrus das Ausgießen des Geistes, den Jesus von Gott empfangen hat: „So wisse nun das ganze Haus Israel gewiss, dass Gott diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt, zum Herrn und Christus gemacht hat.“ (a.a.O., Apg. 2, 36) EN, Bd. XVI, S. 32. Vgl. a.a.O., S. 50. An dieser Stelle muss ergänzt werden, dass sich die konventionelle Unterscheidung einer revelatio mediata (abhängige Offenbarung) als eine über die Schrift vermittelte und damit mittelbare Offenbarung und einer revelatio immediata (ursprüngliche, originale Offenbarung) als einer unmittelbaren Uroffenbarung der Jünger nicht mit der Grund- und Heilsoffenbarung gleichsetzen lässt, auch wenn Analogien bestehen. Grundoffenbarung bei Tillich meint nicht nur die unmittelbare Offenbarung des Petri (obwohl sie auch Voraussetzung dieser Offenbarungser-
2.3 Dogmatik als Zeugin von der vollkommenen Offenbarung
375
sprünglicher und abhängiger, zwischen primärer und sekundärer Offenbarung.“ Die analogen und damit abhängigen Durchbrüche beziehen sich jeweils auf den ursprünglichen, originalen Durchbruch, indem „jene erste Offenbarungskorrelation ihrerseits in Korrelation tritt“, also in einer neuen geschichtlichen Situation das Unbedingte vom Individuum als ein Auf-ihn-Zugehendes erfahren wird.²⁰⁷ Diese Analoga des Durchbruchs können die ursprüngliche, primäre Offenbarung jedoch nicht beeinflussen, die als Grundlage allzeitige Voraussetzung sei und auf welche sich jede abhängige Offenbarung ihrem inneren Sinn nach beziehe. Die Unterscheidung zwischen originaler und abhängiger Offenbarung erlaubt es Tillich, die Offenbarung nicht als fixiertes, abgeschlossenes Ereignis aufzufassen, noch als ein aus einer natürlichen Quelle stets neu hervorgehendes und aus dieser ableitbares Phänomen. Vielmehr wird deutlich, dass Offenbarung immer nur „für uns Offenbarung sein [kann]“, wenn sie auch „als Offenbarung auf uns zukommt“.²⁰⁸ Die analogen Durchbrüche zeugen stets von dem Ergriffensein des Menschen von der Heilsbotschaft in Christus und beziehen sich damit auf das sich bereits in Vorwegnahme ereignet habende Heilsereignis im Wunder der Auferstehung Jesu Christi, wenn auch die Medien wechseln, in denen dieses Grunderlebnis offenbar werden kann. Es wird also einerseits vorausgesetzt, dass Christus als das die Geschichte durchbrechende transzendente Sein zwar die Wirklichkeit einmalig verändert habe, indem die von ihm ausgehende Wirkung den Durchbruch im Menschen initiiert und ihn zum Unbedingten hin umgewendet habe, jedoch macht Tillich andererseits deutlich, dass auch die Erscheinung des Christus – und dies unterscheidet ihn von der Christologie Karl Barths – kein „objektives Erlösungswerk“²⁰⁹ darstelle, sondern Offenbarung sich auch in
fahrung ist), sondern das Stehen in der Offenbarung an sich, also die Präsenz des Heiligen (als Prinzip), die dem Bewusstsein des Heiligen vorausgeht. Damit ist gemeint die vorläufige, umfassende und rechtfertigende Gottespräsenz, die der Erkenntnis des Sinnes und der konkreten Bewusstwerdung des Göttlichen und dessen Offenbarung (Heilsoffenbarung) vorausgeht. Dieses prinzipielle In-der-Offenbarung-Stehen als einem Grundmodus ist insofern auf die ursprüngliche Offenbarung der Jünger bezogen, als sie mit diesem ursprünglichen Ereignis erstmals geschichtlich offenbar und somit erfahrbar wurde. Jede konkrete Heilsoffenbarung ist folglich an diese erste Grundoffenbarung geknüpft und von ihr abhängig. Der Begriff „Grund“ meint hier also sowohl Ursprung (im Sinne eines erstmaligen Offenbarwerdens) als auch Fundament, Basis bzw. Prinzip, was auf das generelle Getragensein des Menschen von Gott unabhängig von der Intentionalität menschlicher (Glaubens‐)Akte hinweist. Es ist die mit der Schöpfung gegebene Verwurzelung des Menschen im göttlichen Ursprung. EN, Bd. XIV, S. 32. Ebd. A.a.O., S. 352; Vgl. Barth, K., Dogmatik im Grundriss im Anschluss an das apostolische Glaubensbekenntnis, Stuttgart 1947, S. 91: Mit „objektivem Erlösungswerk“ ist gemeint, dass Barth
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2 Der Vollkommenheitsanspruch der Dogmatik
Christus nur dann erfülle, wenn das subjektive Moment des unbedingten Betroffenseins die Person als Ganze ergreife und erst dadurch die wirkliche Offenbarungskorrelation gegeben sei. Diese bedeute niemals eine „außeroffenbarungsmäßige Abhängigkeit“²¹⁰, sondern nur im konkreten Moment des Durchbruchserlebens könne die Subjekt-Objekt-Struktur transzendiert werden.²¹¹ „An sich, im Sinne seiner historischen Existenz oder seiner vergangenen Offenbarungswirkungen ist er ein Stück Geschichte, die uns nicht unbedingt etwas angeht.“²¹² Die Einmaligkeit der Offenbarungskorrelation im Kairos meint gleichzeitig die Unüberbietbarkeit der im Kairos erfolgten Christus-Offenbarung, die sich geschichtlich erfüllt hat. Qualitativ könne keine andere Offenbarung diese Vollkommenheit überbieten. Wenn Tillich allerdings den Ausschließlichkeitscharakter der Offenbarung für mögliche zukünftige sich am Menschen ereignende Offenbarungen scheinbar relativiert, indem er zugesteht, „daß ein alle anderen Objekte beseitigendes, unüberbietbares Objekt in die Korrelation der ganzen Menschheit […]“²¹³ eintreten könnte, so muss dieses die gesamte Menschheitsgeschichte betreffende Offenbarungsereignis wiederum eschatologisch im Sinne einer jenseits der vollkommenen Realisierung im Leben liegenden Theonomie interpretiert werden. Diese Aussicht auf eine vollkommene Aktuali-
die Offenbarung Gottes in Christus als ein unabhängig von der menschlichen Situation widerfahrendes Ereignis betrachtet. Die Offenbarungswirklichkeit ist bei Tillich nicht unabhängig vom menschlichen Subjekt gedacht, insofern als sie sich nur in der Offenbarungskorrelation für ein Subjekt als Offenbarungswirklichkeit erschließt. Nach Barth „gibt [es] nichts, was nicht in diesem Geschehen: Gott ward Mensch uns zugute, nicht schon gut gemacht ist. Was noch aussteht, das kann eigentlich immer nur die Entdeckung dieser Tatsache sein.“ EN, Bd. XIV, S. 31. Vgl. a.a.O., S. 32. Vgl. a.a.O., S. 31: Es entspricht laut Tillich dem „Wesen der Offenbarung als Durchbruch des Unbedingten“, „nie ein objektives oder ein subjektives Geschehen“ zu sein. „Offenbarungsqualität bekommt eine Wirklichkeit erst durch die religiöse Korrelation. Es gibt keine Vergegenwärtigung des Unbedingten ‚an sich’, d. h. keine Objektwerdung des Unbedingten. Es kann sich als Unbedingtes nur für ein Subjekt offenbaren, für ein Wesen, an dem es seine Unbedingtheit, nämlich, das unausweisliche Andringen, das kein Naturzwang ist, realisieren kann. Nur für das Ich gibt es Offenbarung als Durchbruch.“ Ebd. A.a.O., S. 32. Vgl. a.a.O., S. 321: Tillich geht davon aus, dass sich die „Wirkungen des ersten Durchbruchs […] zeitweilig erschöpfen [können] und daß sie einen neuen Durchbruch von Seiten der Aufnahme her wirken müssen, damit der erste Durchbruch nicht entschwindet.“ Es müssen sozusagen die analogen Durchbrüche dafür sorgen, dass die originale Offenbarung sich nicht erschöpft. Vgl. a.a.O., S. 329: Prinzipiell hält Tillich es jedoch für möglich, dass sich die originale Offenbarung erschöpft bzw. sie von einem Objekt überboten wird. Folglich gäbe es „keine Möglichkeit“ a priori davon auszugehen, dass die „Vollkommenheit der Offenbarung […] in sich eine lebendige Kraft hat, die es nicht zuläßt, daß sie endgültig erschüttert wird.“
2.3 Dogmatik als Zeugin von der vollkommenen Offenbarung
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sierung Gottes entspricht der Frage nach dem „Reich Gottes“. Sie kann lediglich in Form eines zweiten Erscheinens Christi, dem Anbruch eines weiteren Äons bzw. einer Apokalypse beantwortet werden. Es lässt sich nun fragen, wie die sich in anderen Religionen ereignenden analogen Durchbrüche mit dem originalen, vollkommenen Durchbruch in Christus im Verhältnis stehen. „Wenn wir nun […] die Möglichkeit von andersartigen Durchbrüchen der vollkommenen Offenbarung in Betracht ziehen, so ist der Unterschied der, daß die eine universal menschliche Bedeutung hat, die anderen Analoga des Durchbruchs [sind], aber nicht Vorgänge, die die Kraft haben, eine menschheitliche Offenbarungsgeschichte zu schaffen.“²¹⁴ Denn Tillich möchte an der „einheitlichen Existenzwurzel der Menschheit, d. h. […] [der] einheitlichen Offenbarungsvollendung“²¹⁵ festhalten. Es könne nicht zwei unterschiedliche Menschheiten oder Offenbarungsgeschichten geben, folglich auch nicht zwei verschiedene Durchbrüche mit unbedingtem Anspruch, obschon es Geschichtsabläufe gebe, die fern unseres Zugangs liegen (da sie sich z. B. auf einem anderen Stern oder jenseits unserer Kultur befinden).²¹⁶ Vom Standpunkt der vollkommenen Offenbarung, d. h. von seinem konkreten Heilsweg aus könne das Christentum beanspruchen, „zur Menschheitsreligion bestimmt zu sein“²¹⁷. Es könne also keine außerchristliche Religion mit gleichem Recht auf Vollkommenheit neben der christlichen Offenbarung geben. Wäre dies so, so würde sie mit der christlichen Offenbarung zusammenfallen. Dies allerdings sei sehr wohl möglich. Aufgrund des historischen wie typischen Charakters der vorbereitenden Linien, komme auch dem Kairos ob seines historischen auch ein typischer Charakter zu. „Wenn diese Formen der Dämonisierung, Profanisierung und Vergesetzlichung
A.a.O., S. 59. Ebd. Vgl. a.a.O., S. 273: Eine begrenzte Kenntnis der Gesamtgeschichte, also „diese Grenzen, die unserer Betrachtung gegenüber Natur, anderen Geisterwelten und anderen Geisteswelten gesetzt sind, [heben] den Universalismus der theologischen Geschichtsdeutung nicht auf[…].“ Denn was betrachtet wird, ist ja das Sein in der Geschichte. Und eine theologische Sinndeutung der Geschichte, die sich irgendwie begrenzte, würde damit den Anspruch aufgeben, vom Unbedingten zu reden. Es ist nicht möglich, von der Kreatur, ihrem Wesen und ihrer Wesenswidrigkeit zu reden und dann der Überwindung der Wesenswidrigkeit eine Grenze zu setzen. Darum bezieht der christliche wie auch der iranische Mythos das Heil, das in Christus respektive Saoshyant erscheint, auf den Kosmos.“ Vgl. a.a.O., S. 275: Die theologische Sinndeutung der Geschichte ist zwar „auf die uns tragende und darum zugängliche Geschichte“ beschränkt, allerdings gründet sich ihre Wahrheit auf der „Gewißheit, in ihrer Begrenztheit dennoch den universalen und uns unbedingt angehenden Sinn des Geschichtlichen überhaupt zu treffen.“ A.a.O., S. 60.
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2 Der Vollkommenheitsanspruch der Dogmatik
immer wieder eintreten, so muß auch der Begriff des Kairos eine übergreifende Bedeutung gewinnen.“²¹⁸ Mit der übergreifenden, typischen und universalen Form, die den Kairos charakterisiert, sei die Möglichkeit eingeschlossen, dass sich ein analoger Kairos bzw. Offenbarungsdurchbruch andernorts, in einem anderen „soziologischen“ Zusammenhang oder eben innerhalb einer anderen Religion ereignen könne. Aber auch dies geschehe nicht unvermittelt, sondern es müssen die Bedingungen gegeben sein, die für die Auf- und Annahme des Kairos obligatorisch sind: „die relative Entdämonisierung einerseits, die Höchstspannung andererseits […].“²¹⁹ Die Art und Weise, wie ein Zusammenschluss von Offenbarungssymbolen (denn die Vollkommenheit einer Offenbarung bemisst sich ja an dem Symbol, durch welches das göttliche Sein zum Ausdruck gebracht wird und welches das Nein über sich selbst als Bedingtes enthalten muss) geschieht, wird von Tillich als „Assimilation“ beschrieben, die durch einen Sieg des dominantesten Symbols erfolge. „Das stärkste Symbol aber ist dasjenige, in dem das Nein über sich selbst stärksten Ausdruck gefunden hat und demgemäß die größte siegreiche Kraft über die an sich selbst gebundene Religion hat.“²²⁰ Die vorangehenden Erörterungen eröffnen die Frage nach einer Bedeutung der Selbstkundgabe Gottes in Christus für den Vollkommenheitsanspruch der Offenbarung. Diese Frage soll in diesem Kapitel nicht ausgeführt werden – allerdings möchte ich in diesem Zusammenhang bereits den Problemhorizont eröffnen, der in Kapitel 2.5 weiter entfaltet werden soll. Dieser gründet sich auf der rein symbolischen Bedeutung des Christusereignisses und der sich daran anschließenden kritischen Anfrage, ob diese als Kondeszendenz Gottes gedeutet werden kann. Wenn davon ausgegangen wird, dass sich die vollkommene Offenbarung bei Tillich auch unabhängig von der Erscheinung Christi (also des spezifischen Christussymbols) ereignen kann, so stellt sich die Frage, welcher exklusive Anspruch diesem dann noch zukommt. Es entsteht der Eindruck, als ermangele Tillichs Christologie einer eindeutigen Verknüpfung von erkenntnismäßiger Erschließung des Offenbarungsinhaltes, dem Stehen in der Offenbarungskorrelation (im konkreten Heilsweg), dem damit verbundenen individuellen Ergriffen-Sein vom Unbedingten bei gleichzeitiger Universalität des Heilsereignisses und der Selbstkundgabe Gottes in Christus. Einerseits kann Offenbarung nicht anders geschehen als in der Offenbarungskorrelation, im Durchbruch der Erkenntnis einer Gottesbeziehung in die existentielle Situation des Menschen. Andererseits bleibt ob der rein symbolischen Repräsentanz Gottes im Offenba-
A.a.O., S. 320. Ebd. A.a.O., S. 59 – 60.
2.4 Die Beurteilung der nicht-christlichen Religionen
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rungsereignis fraglich, ob sich hier wirklich eine Selbstkundgabe Gottes ereignet und welche Bedeutung das Christusereignis hat, wenn Gott nicht wirklich als real in die Geschichte eingehend gedacht wird. Denn wenn es sich bei alldem tatsächlich – wie Tillich sagt – um „kein bloßes Spiel des Bewußtseins mit sich selbst, […] kein[en] bloß individuelle[n] Vorgang“²²¹ handelt, sondern um einen „an sich kosmische[n] Akt“, wenn es sich hier „eben nicht bloß um eine Sache [handelt], die sich im Bewußtsein abspielt, sondern […] hier wirklich etwas angerührt ist, auf dem das Bewußtsein ruht […]“, sich hier also wirklich Gott in Christus für die Menschen ausspricht und kundgibt, dann muss auch die göttliche Selbstmanifestation in Jesus von Nazareth und somit der historische Ort bzw. das empirische Sein, an und in dem diese Selbstkundgabe manifest geworden ist, von Bedeutung sein. Diese historische Bedeutung wird allerdings von Tillich unterbestimmt.
2.4 Die Beurteilung der nicht-christlichen Religionen vom Standpunkt der vollkommenen Offenbarung Das Verhältnis der vollkommenen Offenbarung zu den außerchristlichen Religionen wurde im vorangehenden Kapitel bereits angerissen. Bejaht seien diese in zweierlei Hinsicht: Zum einen sind die Religionen in die Heilsgeschichte bzw. Offenbarungsgeschichte integriert, indem sie als der Vorbereitungsperiode zugehörig eine notwendige Voraussetzung für den Durchbruch darstellen. Diesbezüglich gehören sie nach Tillich „an zwei Stellen in die christliche Offenbarungsgeschichte, einerseits als Gesetz, der ständigen Voraussetzung des Durchbruchs, und als konkretes Element der Realisierung, das zwar unter dem Protest steht, aber darum doch nicht aufhört.“²²² Als konkretes Moment seien sie zwar in die vollkommene Offenbarung integriert, jedoch automatisch in der Überwindung und Negation begriffen. Zum anderen werden die außerchristlichen Religionen von der vollkommenen Offenbarung aus bejaht, indem nicht ausgeschlossen wird, dass sich auf dem Boden ihrer empirischen bzw. historischen Erscheinung eine vollkommene Offenbarung ereignet, die analog des ursprünglichen Durchbruchs die „Polarität von Protest und Realisierung“²²³ in sich vereint. Indem außerchristliche Religionen den Weg des Protests gehen und in ihrem konkreten Heilsweg ein Element enthalten, welches die Konkretion negiert, sei es
A.a.O., S. 415 f. A.a.O., S. 55. Ebd.
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2 Der Vollkommenheitsanspruch der Dogmatik
möglich, dass auch ihr Heilsweg „vom Geist angesprochen, umgewandelt und zur Stätte der vollkommenen Offenbarung gemacht werden“ könne.²²⁴ „Das Christentum hat also in sich die Möglichkeit, die vollkommene Offenbarung als Erschütterung auch des Christentums und darum als Aufnahme auch des Judentums und Heidentums zu predigen.“²²⁵ Indem das Christentum selbst erlösungsbedürftig sei, ebenfalls unter dem Nein der vollkommenen Offenbarung stehe und ständig durch diese gerichtet werden müsse, sei es als Religion dem Judentum und Heidentum nicht überlegen. Gleichzeitig, indem es das Judentum und das Heidentum predige, schaffe es zunächst gewisse Grundvoraussetzungen des Glaubens, eine Sensibilisierung für die Offenheit gegenüber der Religion an sich und damit eine Überwindung der rein profanen Geisteshaltung. Denn die vollkommene Offenbarung könne sich kein Gehör verschaffen, wenn sie unvermittelt in die menschliche Situation einbreche. Es gebe keinen Weg, die vollkommene Offenbarung direkt aus der Profanität heraus zu empfangen. Folglich müsse ihrer Vermittlung die „Religion“ vorausgehen. Zwar sei es nicht möglich, mehrere konkrete Heilswege als unbedingt angehend zu erleben, allerdings wäre die vollkommene Realisierung der Offenbarung auf dem Boden der nicht-christlichen Religion identisch mit dem Wesen des Christentums, was bedeutet, dass die vollkommene Offenbarung insofern den Identitätspunkt aller Religionen bildet, als ihnen Vollkommenheit und damit der unbedingte Durchbruch zugrunde liegt. Denn dann „würde das Christentum in diesem sich selbst wiederfinden.“²²⁶ Als einziges Kriterium für die Vollkommenheit der Offenbarung und damit der Überlegenheit eines Offenbarungssymbols über einem anderen gilt Tillich lediglich der Grad, „in dem das Nein über sich selbst […] Ausdruck gefunden hat und demgemäß die größte sieghafte Kraft über die an sich selbst gebundene Religion hat.“²²⁷ Konkret bedeutet die Bejahung und Verneinung der nicht-christlichen Religionen die „Aufhebung und Bestätigung der gesetzlichen, der sakramentalen und der profan-religiösen Haltung“²²⁸ von dem in Jesus Christus erschienen Sein aus. Die Aufhebung und Bestätigung der gesetzlichen Haltung sei durch das Moment der „unbedingten Forderung“²²⁹ initiiert, der unbedingten Gerechtwerdung (Rechtfertigung) durch Einhaltung der göttlichen Gesetze. Diese jüdisch-gesetzliche Haltung erweise sich jedoch als unerfüllbar, was unausweichlich zur Ver-
A.a.O., S. 57. Ebd. Ebd. A.a.O., S. 57– 58. A.a.O., S. 346. Ebd.
2.4 Die Beurteilung der nicht-christlichen Religionen
381
zweiflung am Heil führe. Die Möglichkeit der Erfüllung der unbedingten Forderung im Endlichen gebe dem Glauben etwas Kalkulierendes, Rationales, was zur Einhaltung ritueller Verpflichtungen und Gesetze führe, von deren Ausführung und Einhaltung das Heil abhängig gemacht werde. Das in Christus erschienene Sein enthält in sich das Ja zur unbedingten Forderung; es ist ihre Erfüllung, und zwar dadurch, daß überhaupt nichts einzelnes erfüllt wird, sondern die Gesamtexistenz Hingabe an das Unbedingte und damit erfülltes Sein ist.²³⁰
Durch den einen Sühnetod Jesu erfülle sich für die gesamte Menschheit die unbedingte Forderung, aber so, dass mit ihm die Einsicht erfolge, dass das Heil nicht vom Menschen aus durch gesetzliche Pflichten und Gebote erlangt werden könne, sondern so, dass das Heil von Gott her und durch seine Gnade bewirkt werde. „Insofern sind die radikalen Forderungen nicht etwa Steigerungen der Forderung, sondern Befreiungen von dem Rechenverhältnis mit Gott […]. Damit aber werden sie als Gesetze sinnlos und sind sämtlich nur Ausdrücke für das in ihnen erschienene Sein.“²³¹ Tillich findet die Bestätigung der Forderung als „Freiheit vor dem Gesetz“ in den Worten und Taten Jesu widergespiegelt, in denen sich sowohl der „Radikalismus“ (im Sinne der unbedingten Hingabe für die Menschheit und der damit verbundenen Erfüllung der unbedingten Forderung und dem Appell an die unbedingte Bindung des Menschen an Gott) als auch die „Freiheit“ gegenüber der Gesetzlichkeit (im Sinne deiner Rechtfertigung allein durch den Glauben, ohne Werkgerechtigkeit) ausdrücke.²³² Insofern sei auch das Nein über jeglichen Sakramentalismus, der vor Gott gerecht machen soll, ausgesprochen. Nach Tillich steht im Christentum bzw. Protestantismus die sakramentale Sphäre, die durch eine unmittelbare Präsenz des Göttlichen gekennzeichnet sei, unter der „prophetisch-antidämonischen Kritik“, was bedeutet, dass das Sakrament, welches lediglich Selbstzweck ist und als notwendiges Moment der Gottesverehrung erachtet wird, als dämonisch kritisiert und abgelehnt wird. „Das Sakrament als fromme Sitte wird anerkannt, aber in Freiheit benutzt. Das Sakramentale als mit dämonischer Kraft begabt, verunreinigend, wird radikal abgelehnt.“²³³ Hinter diesem Argumentationsgang Tillichs verbirgt sich die Kritik an einer Haltung, durch welche einzelne sakramentale Akte (z. B Eucharistie, Taufe, heilige Weihe etc.) eine besondere, exklusive Beziehung und Teilhabe des Menschen an der göttlichen Wirklichkeit evozieren und damit zur Erlösung oder zum
A.a.O., S. 347. Ebd. Ebd. Ebd.
382
2 Der Vollkommenheitsanspruch der Dogmatik
Heil führen. Beschränkt auf die Funktion einer „frommen Sitte“ bedeute die sakramentale Huldigung Gottes also keine Notwendigkeit, Gottes Gnade zu erhalten. Auch bedürfe der Mensch keines Opfers, um sich Gottes Liebe zu verdienen. Durch Christus sei er davon befreit, eine Beziehung zu Gott durch eigenes Erwirken (z. B. durch Opfer oder Sakrament) herzustellen, welches nie ausreichend sein könne. Der Mensch wird als Kreatur Gottes als schöpfungsmäßig „rein“ erachtet, weshalb er keines Sakramentes und damit keines Werkes bedürfe, um gerecht zu werden. Das Sakrament in seiner Funktion als „Stützung des religiösen Selbstbewußtseins“ sei dämonisch, insofern als ihm eine Macht zu gesprochen wird, die zu Gott führen kann. Das Sakrament wird also in dieser Funktion „zerbrochen“, während allein das ursprüngliche, schöpfungsmäßige Aufgehoben-Sein des Menschen im Unbedingten und die erneute Zusage der Beziehung zu Gott durch Christus als Garanten des Heils dienen.²³⁴ Durch Christus sei das ursprüngliche Schöpfungswerk weitergeführt und vollendet, das Dämonische besiegt. In Christus selbst bzw. in dem in ihm erschienenen Sein sei dem Menschen ein „neues Sakramentale[s]“ gegeben, welches gegenüber dem einzelnen Sakramentalen den Vorzug habe, dass es sich selbst nicht unbedingt setze, es in all seinen Worten und Taten nicht auf ihn, Christus, ankomme, sondern auf das Unbedingte, dessen Träger er ist²³⁵. Im Vordergrund stehe das in ihm erschienene Sein, nicht Jesus als Person. Damit ist aber gleichzeitig die Unmittelbarkeit der Beziehung zu Gott aufgrund der Notwendigkeit der Mittlerschaft Christi ausgeschlossen. Insofern als sich der Träger als unmittelbar Sakramentales verneint, bejahe er sich zugleich in seiner Funktion, auf Gott zu verweisen und nur als dieser Hinweis bei gleichzeitiger Wahrung der unbedingten Forderung die Partizipation an Gott zu ermöglichen.²³⁶ Das „unbedingt Geforderte[…]“ könne aber
Ebd. Vgl. a.a.O., S. 351: Tillich erwähnt auch, dass „in Christus zugleich eine Negation des Priestertums enthalten ist, mit seinen sakramental-dämonischen Elementen […].“ Dennoch besteht „eine Beziehung auf das Opfer. Und zwar so, daß er sich selbst als Opfer dargebracht hat.“ Darin zeigt sich, „daß die Opfersymbolik zugleich aufgehoben ist durch die vollkommene Offenbarung, […] daß ihre Benutzung zugleich verneint wird. Denn die unbedingte Forderung läßt kein begrenztes Opfer zu. Das unbegrenzte Opfer ist aber nicht Opfer, sondern unbedingte Hingabe.“ Damit ist gleichzeitig auch „der Gedanke des Opfers für andere oder des stellvertretenden Strafleidens aufgehoben.“ Für Gott müssen keine Opfer mehr erbracht werden, da er mit seiner Selbsthingabe als Opfer in Christus sich dem Menschen in seiner ewigen Gnade zuwendet und ihn damit von der Opferdarbietung befreit habe. Die unbedingte Forderung bleibt bestehen. Ihre Unbedingtheit bedeutet einen unüberschreitbaren Grenzübergang, welcher eine direkte, unvermittelte Aneignung Gottes vom Menschen aus unmöglich macht.
2.4 Die Beurteilung der nicht-christlichen Religionen
383
nicht vom Menschen erlangt werden.²³⁷ Diese Grenze sei unüberbrückbar und auch nicht durch Christus zu überwinden. Er selbst bedeute also Beziehung zu Gott unter Anerkennung der Distanz und der unbedingten Forderung, die eben unbedingt bleibt und damit prinzipiell vom Menschen aus nicht zu erreichen sei, welcher seine Endlichkeit zu keinem Moment in Zeit und Raum abstreifen könne. Dennoch sei der Mensch durch die Gnade von Gott aufgenommen und gerechtfertigt. Ebenso wie die Gesetzlichkeit und der Sakramentalismus sei auch die Profanität von Christus als dem vollkommenen Offenbarungsträger sowohl bestätigt als auch verneint. Bestätigt werde sie insofern, als sie Widerstand gegen die Gesetzlichkeit und den Sakramentalismus leiste und diese als dämonisch entlarve. Indem sie jeglicher Religiosität kritisch gegenüberstehe, mache sie gleichsam auf die in der Religiosität enthaltene Dämonisierung aufmerksam. Allerdings sei dieses damit noch nicht wirklich gebrochen, durch die Hinwendung zu den reinen Formen der Endlichkeit, noch nicht ihre „wesenswidrige Wirklichkeit“²³⁸ verändert, da Dämonie nur in der Religiösen Sphäre gebrochen werden könne, durch einen Heilsträger, der sich selbst nicht verabsolutiert. Auch könne selbst die Profanität letztlich ins Dämonische verkehrt werden, indem „die in sich ruhende Endlichkeit […] hintenherum, d. h. durch die Gültigkeit der Form hindurch Heiligkeit an[nimmt].“²³⁹ Weiterhin sei die Profanität abgelehnt, insofern als sie „Christus [lediglich] als Lehrer der reinen Vernunft […] erfaßt […]. Denn das in Christus erschienene Sein ist gerade die unbedingte Gottgebundenheit, nicht die Autonomie.“²⁴⁰ Diese Gottgebundenheit werde dem Menschen im Moment der Bewusstwerdung seiner Endlichkeit²⁴¹ gewahr, sodass „der Gedanke des Endes
EN, Bd. XIV, S. 351. A.a.O., S. 290, Fußnote Nr. 2. A.a.O., S. 291. A.a.O., S. 348. Vgl. ST I, S. 137: In der späten ST verwendet Tillich den Begriff des „ontologischen Schock[s]“ zur Explikation des Negativitätsmoments, welches jedem Endlichen anhaftet. Er ist die Angst des Individuums vor seiner eigenen Grenze, dem empirischen Tod bzw. vor der „Bedrohung durch das Nichtsein, die das Bewußtsein ergreift“. „In ihm wird die negative Seite des Seinsgeheimnisses – sein abgründiges Element – erfahren. Vgl. Kleffmann, T., Grundriß der Systematischen Theologie: Es handelt sich um die existentielle Angst, die den Menschen nach Kleffmann in dem Moment seines Erwachsenwerdens ergreift. Erwachsen wird der Mensch dann, wenn sein kritischer Verstand erwacht und „die ganze Selbstverständlichkeit bloß überlieferter, nicht angeeigneter Sinngehalte“ (S. 48) infrage stellt. Dies wird ihm vor allem vor dem Hintergrund der Unentrinnbarkeit des eigenen Todes bewusst. Im „Todesbewußtsein“ ist das „Selbstbewußtsein“ erwachsen. Der mit dieser Realisierung einhergehende „Schock“ besteht darin, dass der Mensch die Einheit seiner Identität, die im vorkri-
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2 Der Vollkommenheitsanspruch der Dogmatik
[…] die absolute Beunruhigung und Aufhebung des In-sich-Ruhenden der Profanität“²⁴² bedeute. Mit dem Bewusstsein des Endes der eigenen, individuellen Existenz werde das Fürsichsein des Menschen erschüttert und als notwendige Folge der existentiellen Einsamkeit im Anschluss auf Gott hin umgewendet. Es könne also eine Religiosität, „die Bindung an Gott […] direkt von der Profanität aus geschehen […].“²⁴³ Sie ereigne sich als Folge der existentiellen Einsamkeit im Todesbewusstsein des Menschen. Allerdings könne die vollkommene Offenbarung nur von einem Bewusstsein empfangen werden, welches die sakramentale Sphäre durchlaufen habe; nur ausgehend von einer Gesetzesreligion (z. B. dem Judentum) oder einer Religion, die durch einen starken Sakramentalismus (z. B. Heidentum) geprägt ist, sei eine Beziehung zur vollkommenen Offenbarung möglich. Von dem im Neuen Testament repräsentierten Christusbild lassen sich allerdings keine direkten Rückschlüsse auf die Beziehung der vollkommenen Offenbarung zur profanen Geisteshaltung als „Kulturhaltung“²⁴⁴ und „Zustand der Offenbarungslosigkeit“²⁴⁵ ziehen. Die autonome Geisteslage könne folglich nicht „aus dem Sein in Christus“ beurteilt werden, da die historische Jesusfigur sich in seiner kulturellen Umgebung keiner echt profanen Lebenshaltung ge-
tischen Bewusstsein an überlieferten Traditionen oder am Schein einer konstruierten Evidenz orientiert war, verliert. Indem er erkennt, dass er die Wirklichkeit, den Sinn und das Ziel der Existenz nicht erfassen kann, fühlt er sich „von der nun rein unbekannten Wirklichkeit an sich entfremdet“ (S. 47). „Das Subjekt des Verstandes erfährt sich als leer, als leeres Fürsichsein, als leeres Selbstverhältnis im Welterkennen […]. Der Mensch realisiert seine absolute, das All der ihm bewußten Welt einschließende Einsamkeit.“ (S. 48) Mit dieser Erkenntnis setzt nach Kleffmann Geistigkeit ein: „Erst an dieser Grenze, als Fürsichsein wird der Mensch ein geistiges Wesen.“ (S. 42) Vgl. ST I: Auch Tillich verwendet den Begriff der „Grenze“, mit der sich die Vernunft im Moment des ontologischen Schocks konfrontiert sieht. (S. 137) Die Vernunft erkennt, dass sie die Grenze nicht überschreiten kann. In diesem Moment stellt sich nach Tillich die philosophische Grundfrage, warum überhaupt etwas ist (und nicht etwa nichts). Doch allein die Fragwürdigkeit des Seins an sich bedeutet im Gegenzug noch keine Beziehung des Menschen zur göttlich-transzendenten Sphäre. Dass diese Frage gestellt wird, wird von Tillich als Hinweis darauf verstanden, dass dem Sein im rein formalen Sinne etwas vorausgeht. Formal bedeutet lediglich, dass mit der Frage selbst die Möglichkeit vorausgesetzt wird, dass dem Sein etwas (Göttliches) vorausgeht. Durch diese Frageform kann jedoch nicht automatisch auf Göttliches geschlossen werden, sondern „[d]er Sinn der Frage kann nur aus der Behauptung verstanden werden, daß das Sein das ursprüngliche Faktum ist, das sich nicht von irgend etwas anderem ableiten läßt.“ EN, Bd. XIV, S. 348. Ebd. Ebd. Ebd.
2.4 Die Beurteilung der nicht-christlichen Religionen
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genüber gesehen habe, für die eine Verzweiflung am Sinn bezeichnend wäre.²⁴⁶ Die Geistessphäre der Sinnlosigkeit, Dekadenz und des Nihilismus sei hingegen Signum unserer modernen Gesellschaft und habe sich erst im Zuge der Aufklärung im 18. Jahrhundert – mit dem Erwachen der autonomen Vernunft – entwickelt. Christus selbst liefert keinen Anknüpfungspunkt für eine „Überwindung der skeptischen Fragestellung und […] der Erfahrung einer letzten Sinnlosigkeit des Seins.“²⁴⁷ Von hier aus müssen also neue Antworten auf die Frage nach einem letzten Sinn gefunden werden, die das Neue Testament Tillichs Meinung nach nicht differenziert aufgreift.²⁴⁸ Diesbezüglich stellt Tillich in Frage, „ob hier eine Grenze der Vollkommenheit der in Christus gegebenen Offenbarung vorliege.“²⁴⁹ Unter dieser Voraussetzung verlöre aber die vollkommene Offenbarung die Beziehung zum modernen Menschen, da die Bilder, in denen das Neue Testament spricht, nicht mehr symbolkräftig und dadurch unverständlich geworden wären; sie könnten, ohne einen Bezug zu unserer geistigen Ausgangslage, nicht als unbedingt und existentiell angehend empfunden werden. Es müsse also Jesu Verhältnis zur sakramentalen (heidnisch-griechischen) wie gesetzlichen (jüdischen) Geisteslage in die Situation der Profanität transferiert werden. Da die profane Lage dadurch gekennzeichnet sei, dass sie die Offenbarung Gottes negiere oder der profane Mensch diese nicht als identitätsstiftend aufnehme, ist es nach Tillich zunächst ausschlaggebend, überhaupt die Fähigkeit des Hörens der Grundoffen-
A.a.O., S. 349: Auch das im Kulturraum Israel gegenwärtige Griechentum müsse „[…] im neutestamentlichen Zeitalter nicht als Profanität, sondern als Heidentum gewertet“ werden, welchem ein Sakramentalismus zugrunde liege, der von Tillich wiederum als dämonisch gewertet wird. Ebd. Vgl. a.a.O., S. 348: Allerdings können die biblischen Zeugnisse auch unabhängig davon, ob sie von gläubigen oder ungläubigen Menschen zeugen, denen Jesus begegnet, durch die Worte und Taten (Gleichnisse,Wunder) Jesu ein Bild von Gott transportieren, welches auch den profanen Menschen in seiner existentiellen Sinnkrise erreicht. Tillich betont, „daß die Bindung an Gott nicht bedingt ist durch den Eingang in eine sakramental-kultische Sphäre, sondern direkt von der Profanität aus geschehen kann.“ Denn auch die säkulare Kultur des Menschen kann Verzweiflung am Halt bedeuten, nicht, indem sich die Fragwürdigkeit der Gesetzestreue (als Form von Religiosität) stellt, sondern indem gefragt wird, ob die selbstverständlichen Sinngebilde der säkularen Kultur Antworten auf die Frage nach einem Sinn und Ziel der Existenz bieten. Die Botschaft des Kreuzes bietet nicht nur eine neue, religiöse Wirklichkeit als Alternative zu einer „falschen“ Religion, sondern auch als Alternative zum Unglauben an sich. Ebd.: Tillich bezweifelt, dass das Christusbild eine Lösung für die „eschatologische Indifferenz“ bereithält. „Vor allem finden wir keine Überwindung der skeptischen Fragestellung und des Dekadence-Erlebnisses, der Erfahrung einer letzten Sinnlosigkeit des Seins. Mit dieser ganzen Sphäre ist Christus nicht in Berührung gekommen. Sie liegt außerhalb der Spannungen der Gesetzlichkeit.“
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2 Der Vollkommenheitsanspruch der Dogmatik
barung (als entscheidende Vorbereitung der vollkommenen Offenbarung) zu entwickeln. Diesbezüglich spricht er den außerchristlichen Religionen eine entscheidende Funktion zu. Für Tillich ist die Einbettung der vollkommenen Offenbarung in die Religionsgeschichte entscheidend, da nach ihm in der vorbereitenden Periode jene Fähigkeit des Hörens der Grundoffenbarung entwickelt werde. Die Grundoffenbarung als das konstante Moment der Religionsgeschichte bedeutet zunächst, unabhängig vom individuellen Heilsweg, das Stehen des Menschen in der Offenbarung an sich, im Gegensatz zu einer völlig haltlosen, auf sich selbst geworfenen Verankerung in der reinen Profanität. Sie bezeichne einen allgemein gläubigen Zustand, eine allgemeine Religiosität, die auch unabhängig vom Christusbekenntnis den Menschen als göttliche Selbstbekundung in ihre Herzen geschrieben sei. Bezüglich dieser Vorstellung lassen sich Anklänge an Paul Althaus²⁵⁰ feststellen: Althaus bezeichnet das Stehen des Menschen in der Offenbarung an sich als Uroffenbarung. Er geht von einer „zweifachen Offenbarung Gottes“ aus, wonach sich Gott ursprünglich in seinem Schöpferwerk, in der Natur und dem Geiste des Menschen und in Christus offenbart hat.²⁵¹ Die Christusoffenbarung möchte er – unter Verweis auf Röm. 1,18 ff. und Joh. 2,15 – als mit der Uroffenbarung in Kontinuität stehend begreifen: Die Offenbarung in Christus „beansprucht nach dem neutestamentlichen Zeugnis nicht, die erste und einzige Selbstbezeugung Gottes an die Menschheit und den einzelnen Menschen zu sein. Sie weist vielmehr zurück auf eine Begegnung zwischen Gott und Menschheit, von welcher diese immer schon herkommt und bestimmt ist.“²⁵² Folglich erscheine dem Menschen aufgrund der Uroffenbarung die Verkündigung Christi auch nicht als fremd: „Aber das Neue und Andere ist kein Fremdes, nämlich nicht ohne Beziehung auf die Wahrheit, die dem Menschen schon kund ist, sondern ganz und gar auf sie bezogen.“²⁵³ Nur, indem der Mensch schon immer von Gott herkommt und, „[w]eil jeder Mensch durch Gottes ursprüngliche Bekundung an seinem Geist und sein Gewissen um Gott weiß, kann er auch für Christus nicht blind sein.“²⁵⁴ Der Ausdruck „Ur“ in „Uroffenbarung“ hat prinzipielle Bedeutung und meint, „daß sie [die Uroffenbarung] von der Heils-Offenbarung Gottes schon vorausgesetzt wird,
Vgl. Althaus, P., Die christliche Wahrheit. Lehrbuch der Dogmatik, Gütersloh 1962, S. 37 fff. A.a.O., S. 41. A.a.O., S. 37. A.a.O., S. 45 A.a.O., S. 43.
2.4 Die Beurteilung der nicht-christlichen Religionen
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daß sie ihr zugrunde liegt, daß diese sich auf sie wesentlich zurückbezieht.“²⁵⁵ Althaus bezeichnet die Uroffenbarung auch als „Grund-Offenbarung“ und die Offenbarung in Christus als „Heils-Offenbarung“.²⁵⁶ Er plädiert mit der Bezogenheit der Christus-Offenbarung auf die Uroffenbarung auch für einen Einbezug der nicht-christlichen Religionen in das Heilsgeschehen, insofern als das Neue Testament nicht nur Motive der spätjüdischen Eschatologie aufnehme, sondern auch des Hellenismus und des Parsismus. „Durch dieses sein Verhältnis zu außerbiblischen Gedanken bezeugt das Evangelium religiöse Wahrheit auch jenseits von ‚Gesetz und Propheten’.“²⁵⁷ Darin erkennt er eine „positive Beziehung des Evangeliums auf die vorchristliche Religion, eine Anerkennung von Wahrheitsgehalt.“²⁵⁸ Die Uroffenbarung meint eine durch Gottes Schöpferwerk sich durch die Natur und den Geist vermittelnde Offenbarung Gottes an den Menschen. Folglich fällt sie zusammen mit einer natürlichen Offenbarung. Althaus unterscheidet also zwischen natürlicher und übernatürlicher Offenbarung (in Christus).²⁵⁹ Die natürliche Offenbarung sieht Althaus bei Paulus darin begründet, dass der Mensch „ursprünglich die ‚Wahrheit’ (Röm. 1,18) hat. Diese besteht in dem Zwiefachen, untrennbar zusammengehörigen, daß Gott die Welt geschaffen hat, die nunmehr von ihrem Schöpfer zeugt, und daß er dem Menschen den νους, die ‚Vernunft’ gegeben hat, mit der der Mensch die Wirklichkeit als Schöpfung und damit den Schöpfer erkennen kann. […] Allen Völkern ist ‚das Werk des Gesetzes in ihre Herzen geschrieben’ (2,15).“²⁶⁰ Gott wirke in der Uroffenbarung also ursprünglich und unabhängig vom Christus-Ereignis in Form eines „allgemeinen Geistwirken […], durch das jeder Mensch von ihm weiß und an ihm schuldig wird.“ Mit Johannes geht Althaus davon aus, dass in der Ur-Offenbarung „von einem Geistwirken Gottes im Menschen die Rede [ist], das geschieht, schon ehe der Mensch Jesus begegnet; eine Bekundung Gottes ist gemeint, die derjenigen durch das Wort Jesu voraufgeht.“²⁶¹ Diese Bezogenheit des Menschen auf die UrOffenbarung nennt Althaus gleichzeitig sein „Gewissen“, sein „Wahrheitsbewusstsein“.²⁶² Es sei also die Wirkung des Logos im Menschen, der diese Offenbarung evoziert. Anders als in der Grundoffenbarung sei es in der Heilsoffenbarung der Heilige Geist Christi, „der den Glauben schenkt und im Glauben
A.a.O., S. 41. Ebd. A.a.O., S. 47. A.a.O., S. 48. Vgl. a.a.O., S. 51. A.a.O., S. 38. A.a.O., S. 46. A.a.O., S. 45.
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2 Der Vollkommenheitsanspruch der Dogmatik
geschenkt wird […].“²⁶³ Allerdings möchte Althaus sich mit der Rede von einer UrOffenbarung auch entschieden gegen ihre Identifikation mit natürlicher Theologie aussprechen. Er kritisiert an Barth, dass dieser eine solche Identifikation vorgenommen und damit die Lehre von der Ur-Offenbarung radikal abgelehnt habe. Althaus betont hingegen, dass es sich bei der Ur-Offenbarung „nicht um ein Vermögen und Unternehmen des Menschen, Gott von sich aus zu erkennen [handelt], sondern um die Betroffenheit des Menschen von Gott. Es geht nicht um die Behauptung der ‚Vernunft’ gegen die Offenbarung.“²⁶⁴ Natürliche Theologie bedeute folglich nicht schon die Erkenntnis des Gesetzes, das Wissen um das, was gut und böse ist, sondern „der Synergismus [fängt], wenn der Begriff sinnvoll bleiben soll, […] erst da an, wo der Mensch das erkannte Gesetz benutzt, um sich seine Ehre und Geltung bei Gott aus eigener Kraft erwirken zu wollen.“²⁶⁵ Auch spricht Althaus von einer „ursprüngliche[n] Gottgebundenheit des Menschen“, im Gegensatz zu einer „ursprüngliche[n] Gottverbundenheit“. Die Terminologie „Gottgebundenheit“ richtet den Fokus darauf, dass der Mensch immer schon von Gott aufgenommen ist, was nicht bedeutet, dass er automatisch mit ihm verbunden sein muss. Denn eine solche Verbindung erfordert eine positive Anerkennung der Gottbezogenheit vom Menschen. Indem Althaus jedoch von einer „Gottgebundenheit“ spricht, betont er, dass der Mensch immer auf Gott bezogen bleibt – auch, wenn er Gott im Stand der Sünde verkennt und das Gottesverhältnis dadurch verkehrt ist. Denn er sei von seinem Wesen her an ihn gebunden: „[D]as Verhältnis des Menschen zu Gott ist durch die Sünde nicht aufgehoben, sondern verkehrt […]. Der ‚gottlose’ Mensch ist gerade nicht los von Gott, sondern seine Gottlosigkeit hat ihren Ort in der unaufhebbaren Beziehung zu Gott.“²⁶⁶ Abschließend lässt sich festhalten, dass Althaus dafür plädiert, der Christologie eine Lehre von der Uroffenbarung voranzustellen. Denn sie bezeuge einen Mythus, der im Evangelium des Neuen Testaments positiv aufgenommen und weitergeführt werde. Auch in Bezug auf einen Dialog mit den nicht-christlichen Religionen gilt ihm die Ur-Offenbarung als Mittel zur Beziehungsherstellung zwischen Evangelium und außerchristlichen Religionen. Denn auch in Letzteren sei die in der Ur-Offenbarung wirksame „natürliche Religion“ enthalten. „Denn [diese] existiert, wenn nicht ausschließlich, so doch überwiegend und entscheidend in der Gestalt der positiven Religionen […].“²⁶⁷
A.a.O., S. 44. A.a.O., S. 58. Ebd. Ebd. Vgl. a.a.O., S. 50.
2.4 Die Beurteilung der nicht-christlichen Religionen
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Tillich verwendet eine ähnliche Terminologie, auch er spricht von der „Grundoffenbarung“. Wie Althaus versteht Tillich die Grundoffenbarung als die immer schon währende, unverlierbare Seinsgemeinschaft zwischen Gott und Mensch, die aber deshalb nicht jederzeit vom Menschen als solche anerkannt werden muss. Doch auch Tillich geht davon aus, dass der Mensch auch in der Sünde noch von Gott getragen ist. Die Grundoffenbarung ist nach Tillich demnach in allen vorbereitenden Religionen wirksam, allen nicht-christlichen Religionen. In-der-Grundoffenbarung-Stehen bedeute demnach gleichzeitig auch die „Durchbrochenheit der in sich ruhenden Endlichkeit“²⁶⁸ und die Hinwendung zum Unbedingt-Tragenden. Die Grundoffenbarung bezeichne eine unmittelbare Gottesgewissheit und sei die Gegebenheitsform des Unbedingten in der Ichgewissheit. „Die Selbstgewißheit des Ich ist […] begründend für die Gottesgewißheit.“ In ihr sei „ein Doppeltes enthalten: das Unbedingte einer Realitätserfassung, die jenseits von Subjekt und Objekt liegt, und das Teilhaben des subjektiven Ich an diesem Unbedingt-Wirklichen.“²⁶⁹ In der Grundoffenbarung stehe also das Subjekt in direkter Beziehung zu seinem Realitätsgrund, die Einheit von Gott und Mensch werde als unmittelbare in der Selbstgewissheit, im Ich, erfahren. Oder wie Schüßler festhält: „Gott von der Grundoffenbarung her verstehen heißt nach Tillich, ‚sich um eine ungegenständliche Fassung des Gottesgedankens’ bemühen.“²⁷⁰ In der Grundoffenbarung sei Gott also nicht gegenständlich gegeben, da sie sich im Inneren des Ichs ereigne, in dem der „Gegensatz von Subjekt und Objekt aufgehoben“ ist und sich deshalb im Ich ein „unmittelbares Gottesbewußtsein“ ereignen könne.²⁷¹ Sie bedeute, in den Dingen die unmittelbare Wirksamkeit des Göttlichen zu erkennen, den bedingten Formen eine unbedingte Ursache zuzuschreiben und so von der Existenz eines Gottes überzeugt zu sein. Unmittelbar sei diese Gottesgewissheit, da ihr in der Grundoffenbarung zunächst keinerlei konkrete inhaltliche Bestimmung über die Art und Weise und den Charakter der Gegebenheitsform des Unbedingten für das gläubige Bewusstsein anhafte. Diese können nur symbolisch in der Heilsoffenbarung erfasst werden. Die Grundoffenbarung „steht [nach Tillich] am Anfang, ‚es ist die Geburtsstunde der Religion in jedem Menschen’.“²⁷²
EN, Bd. XIV, S. 350. GW, Bd. I., S. 377. Schüßler, W., Der philosophische Gottesgedanke im Frühwerk Paul Tillichs (1910 – 1933). Darstellung und Interpretation seiner Gedanken und Quellen, Würzburg 1986, S. 121. A.a.O., S. 123. A.a.O., S. 122.
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2 Der Vollkommenheitsanspruch der Dogmatik
Sie habe „[…] überhaupt kein bestimmtes Symbol“²⁷³, da sie keinen bestimmten Heilsweg beschreibe, sondern lediglich eine allgemeine Religiosität bedeute. Mit der Grundoffenbarung bezeichnet Tillich also bereits einen religiösen Zustand des Menschen. Steht aber ein Mensch, der sich nicht direkt zum Gottesglauben bekennt, ebenfalls in der Grundoffenbarung? Eindeutig sei der Mensch auch im Zustand der Sünde von Gott getragen. Denn selbst das Dämonische als Inbegriff der Wesenswidrigkeit sei ein Zeichen der unbedingten Gottgebundenheit, in der die Religiosität jedoch ihrem Wesen nach verkehrt sei: Das „Seiende [ist] auch im Widerspruch an das Unbedingte gebunden […].“²⁷⁴ „Wo der Begriff des Dämonischen [hingegen] fehlt, steht die Welt gleichsam auf sich selbst, und das Bewußtsein wird als schlechthin losgelöst vom Unbedingten gedacht.“²⁷⁵ Während also die Wesenswidrigkeit vornehmlich durch eine Verkehrung der Sinnformen als unbedingt angehend und heilsnotwendig den Menschen in seiner Gottesbeziehung dahingehend pervertiert, dass er glaubt, durch eigenes Erwirken mit Gott in eine Beziehung treten zu können (z. B. durch Sakrament, Opfer, Gesetzestreue), befindet sich die Profanität völlig außerhalb der religiösen Beziehung. Im Stand der Wesenswidrigkeit sei eine Beziehung des Menschen zu Gott prinzipiell vorhanden, wenn sie auch pervertiert sei. Der Zustand der reinen Profanität beschreibe jedoch ein Bewusstsein, in welchem das Verhältnis zu Gott völlig durchschnitten sei, da die Welt als von Gott unabhängig, auf sich selbst stehend begriffen werde. Folglich könnte man annehmen, dass die Grundoffenbarung lediglich die anderen Religionen einschließt (in denen zwar der Gottesglaube pervertiert, aber dennoch existent ist). Allerdings sei es laut Tillich auch möglich, dass die Profanität – wenn sie zur Unbedingt-Setzung der profanen Formen und einer Selbstverabsolutierung des Subjektes führt – in Sünde depravieren könne. Wesenswidrig sei dann „daß die erfaßten Formen in den Dienst der Selbstheit, der Begierde und Hybris gestellt [werden], daß die Formen, die Ausdruck der Getragenheit vom Unbedingten sind, zu Formen der Selbstheit werden.“ Folglich wird den „profanen Formen“ „Heiligkeitscharakter“ zugesprochen, wodurch Dämonie entsteht.²⁷⁶ Dieses Zusprechen von Heiligkeit sei Zeichen einer substantiellen Religiosität des Menschen, denn auch in der autonomen Sphäre herrschen Beziehungen, die der religiösen Beziehung entsprechen. „Es gibt kein Ding, das nicht durch seine Beziehung auf den irrationalen Seinsgehalt religiöse Qualitäten in sich tragen würde. Es gibt nichts schlechthin Profanes.“²⁷⁷ Und so
EN, Bd. XIV, S. 349. A.a.O., S. 205. A.a.O., S. 279, Fußnote Nr. 1. A.a.O., S. 291. EN, Bd. XII, S. 407.
2.4 Die Beurteilung der nicht-christlichen Religionen
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sei auch jedes kulturelle Schaffen seinem inneren Sinn nach auf das Unbedingte hin ausgerichtet und jeder Kulturakt und „jede Bedingte Form [stehe] unter dem Geist und der Sehnsucht der unbedingten Form“²⁷⁸, weshalb in jedem Kulturakt Religion enthalten sei und so „das Profane in einer tieferen Schicht den göttlichen Grund offenbaren kann.“²⁷⁹ Wenn so argumentiert wird, müsste das In-derGrundoffenbarung-Stehen auch den profanen Zustand mit einschließen, welcher substantiell von Gott getragen ist. Dagegen spricht allerdings die These Tillichs, dass eine in sich selbst ruhende Endlichkeit, eine Abkapselung der bedingten Formen vom unbedingten Seinsgrund nicht in der Lage sei, „die Grundoffenbarung zu hören“. Das bedeutet jedoch nicht, dass der profane Mensch von der Grundoffenbarung ausgeschlossen ist. Er hat sich lediglich dagegen entschieden, ihr Gehör zu verschaffen. Folglich kann Tillich so interpretiert werden, dass zwar die Grundoffenbarung allgemeine Grundlage – auch des sich aktiv von Gott abwendenden, den reinen autonomen Formen verhafteten Menschen – ist, ihr aber deshalb noch keine aktive Zuwendung entspricht. Erst, wenn die Grundoffenbarung gehört wird, erst nachdem also die Durchbrochenheit der in sich ruhenden Endlichkeit erfolgt ist und sich gleichzeitig die Frage nach einem unendlichen Sinn stellt, könne auch das Christusereignis als unbedingt angehend aufgenommen werden. Denn wo sich dem Menschen die Frage nach einem unbedingten Sinn des Seins und seiner Existenz nicht stellt, könne der Offenbarungsinhalt auch nicht als ein Auf-ihn-Zugehendes, sein Wesen oder den Kern seines Daseins Betreffendes, rezipiert werden. Theoretisch gäbe es also für die Profanität auch die Möglichkeit, sich gegenüber jeder sakramentalen Dämonisierung (die letztlich zum Haltverlust führe, da die dämonischen Götter oder Halbgötter nicht als heilbringend erfahren werden) sowie der Unmöglichkeit der Erfüllung der unbedingten Forderung (was zur Verzweiflung am Heil führe) indifferent zu verhalten, da jegliche Form von Religion (und damit auch Offenbarung) an sich abgelehnt wird. Der Mensch sucht dann seinen Halt lediglich in innerweltlichen Bezügen, zum Beispiel in der Gemeinschaft, im technischen Fortschritt, dem eigenen Selbst und seinem autonomen Lebensgesetz. Um den Menschen jedoch für den aktiven Eintritt in die Grundoffenbarung überhaupt zu sensibilisieren, stellt für Tillich die Verkündigung der nicht-christlichen, die vollkommene Offenbarung vorbereitenden Religionen, eine entscheidende Funktion der Christusverkündigung selber dar. Es müsse zunächst eine allgemeine religiöse Sensibilisierung des Menschen an sich erfolgen. Denn die Tillich, P., Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie, in: Danz, C., Schüßler, W., Sturm, E. (Hrsg.): Paul Tillich. Ausgewählte Texte, Berlin; New York 2008, S. 71. Schüßler, W., „Was uns unbedingt angeht“. Studien zur Theologie und Philosophie Paul Tillichs, 4. Aufl. (Tillich-Studien, Bd. 1), Berlin 2015, S. 48.
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2 Der Vollkommenheitsanspruch der Dogmatik
Aufnahme des Christusereignisses als eines konkreten Heilsweges samt seiner individuellen Symbolik könne nur dann dem Menschen als wirkliche und vollkommene Offenbarung Gottes begegnen, wenn er bereits in der Grundoffenbarung verankert sei und es nun darum gehe, den Weg der Gotteserkenntnis zu erkennen, welcher weder dämonisiert ist noch an der Unerfüllbarkeit der göttlichen Gebote verzweifeln muss. Tillich schlussfolgert, dass zu einigen Zeiten die Aufgabe zentral sein kann, „die Verkündigung der vorbereitenden Offenbarung“²⁸⁰ als Teil der Christusverkündigung in den Vordergrund zu stellen. „[D]ie Möglichkeit, in Christus das Heil zu schauen“ ist nach Tillich „abhängig […] von dem vorbereitenden Schicksal, von der Fähigkeit, die Grundoffenbarung zu hören, also von der Durchbrochenheit der in sich ruhenden Endlichkeit.“²⁸¹ Ist diese Voraussetzung, das Stehen in der Grundoffenbarung an sich, nicht gegeben, so könne auch die Offenbarung Gottes in Christus nicht verstanden werden. Nimmt man Tillichs Worte ernst, so könnte der Weg zur vollkommenen Offenbarung nie durch einen direkten Sprung von der Profanität zum Glauben an Christus führen. Ausgehend von der profanen Situation müsste zunächst durch das eigene Todesbewusstsein bzw. die Realisation der Grenze des Endlichen (ontologischer Schock) das In-sich-Ruhen der Profanität infrage gestellt und nach einem Sinn des Lebens gefragt werden. Ist dieser Schritt vollzogen, so müsste sich der Mensch, welcher auf diesem Stand dem Glauben an einen Gott als unendlichen Sinnstifter nicht mehr abgeneigt ist, einer bestimmten Form von Religiosität zuwenden. Dadurch würde er in der Grundoffenbarung stehen. Innerhalb dieser Entwicklung der Religiosität müsste der Mensch dann in die Situation einer Verzweiflung am Heil oder am Halt getrieben werden, was ihn dazu befähigen würde, das Christusereignis als Lösung seiner religiösen Aporien positiv aufzunehmen. Die Bedeutung der außerchristlichen Religionen beruht also nach Tillich auf einer religiösen Sensibilisierung des Menschen an sich, die eine Alternative zur rein kulturell-profanen Lebenshaltung samt ihrer vorläufigen Sinnkonstrukte darstellt. Ist der Weg der Religiosität, des Stehens in der Grundoffenbarung an sich, gegeben, so erschöpfe sich die Bedeutung der nicht-christlichen Religionen nach Tillich lediglich in ihrer Potentialität, an der Grenze ihrer selbst zum Christussymbol als einer Erfüllungskategorie vorzustoßen. Die außerchristlichen Religionen sind von Tillich in das Ganze der Offenbarungsgeschichte inkludiert, indem sie Teil der Vorbereitung der vollkommenen Offenbarung sind. Das Christentum als empirische Religion wird von Tillich von der vollkommenen Offenbarung aus nicht anders beurteilt als die nicht-christli-
EN, Bd. XIV, S. 350. A.a.O., S. 349 – 350.
2.4 Die Beurteilung der nicht-christlichen Religionen
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chen Religionen, da es selbst nur dann auf vollkommener Offenbarung beruhe, wenn es von seinem sinngebenden Grund durchbrochen werde.²⁸² Der Durchbruchsort ist zwar ein geschichtliches Moment, dennoch dürfe er nicht in seiner Geschichtlichkeit fixiert und absolut gesetzt werden. Das Christentum in seiner historischen Gestalt entspreche ebenso wie die nicht-christlichen Religionen der Vorbereitungsperiode. Nur, indem sich auf seinem Boden die Bedingungen der vollkommenen Offenbarung ereignen, kann es den Durchbruch aufweisen und ist darin den anderen Religionen überlegen. Tillich erkennt an, dass auch in der vorbereitenden Geschichte Durchbrüche als sinngebende Momente gegenwärtig sind, negiert jedoch deren Gültigkeit als unbedingtem Sinn, wie er nur in Christus offenbar werden könne. Zwar sei „mit dem Eintritt des Christentums in die Geschichte“ die Vorbereitungsperiode bzw. Religion nicht etwa beendet, jedoch bedeute der Durchbruch des Christusereignisses in die Geschichte, „daß die Religion durchbrochen und darum in der Religion Kirche möglich ist.“²⁸³ Unter „Kirche“ versteht Tillich in diesem Zusammenhang also nicht das sich in Kultus und Ritus vollziehende religiöse Praktizieren, sondern das Bezeugen der vollkommenen Offenbarung, was den Durchbruch des Unbedingten in Christus und das Ergriffen-Sein des Menschen von demselben voraussetzt.²⁸⁴ Es lässt sich also schlussfolgern, dass in den anderen Religionen auch nur dann von „Kirche“ gesprochen werden könnte, wenn diese zu dem Bewusstsein der vollkommenen Offenbarung durchdringen würden. Denn dort, „wo die vollkommene Offenbarung sich in der Geschichte wiederfinden würde, [könnte] sie auch von Kirche reden. Allerdings würde dieses „Kirche-Sein“ dann mit dem christlichen „KircheSein“ zusammenfallen.²⁸⁵ Da sich der christliche Durchbruch historisch erstmals auf dem Boden der christlichen Religion ereignet hat (im Urchristentum), ist damit die normative Richtung, die die Vollkommenheit einer Offenbarung markiert, angezeigt worden. Das Christentum als geschichtliche Religion nehme jedoch im Vergleich zu den nicht-christlichen Religionen keine Exklusivstellung ein; denn auch das Christentum sei nicht von der Gefahr befreit, hinter das Sta-
Vgl. a.a.O., S. 316. A.a.O., S. 277. Vgl. ST III, S. 169: Auch aus pneumatologisch-theologischer Sicht versteht der späte Tillich unter „Kirche“ die auf die Christusverkündigung bezogene Verkündigung, die sich selbst als konkreter Heilsweg verneint. Vgl. EN, Bd. XIV, S. 277: „Das Kirche-Sein aber ist keine der Religionsphilosophie zugängliche Qualität einer religiösen Gemeinschaft, sondern etwas, was als Qualität nur in der OffenbarungsKorrelation erfaßt werden kann.“ Der Stand der Religionsphilosophie ist bei Tillich gleichbedeutend mit dem Stand der Religion oder der nicht-christlichen Religionen.
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2 Der Vollkommenheitsanspruch der Dogmatik
dium derjenigen Qualität, die Tillich als „Kirche-Sein“²⁸⁶ bezeichnet, zurückzufallen, indem das Gottesverhältnis auch innerhalb der christlichen Religion pervertiert sein könne. Begründen lässt sich dies dadurch, dass Religion und Offenbarung von Tillich nicht synonym verwendet werden, sondern sogar in antinomischem Verhältnis zueinander stehen: Dort, wo Religion vorhanden ist, wird von zweideutigen, vorläufigen Vorgängen gezeugt. Der Glaubensvollzug stehe immer unter dem Vorzeichen der Zweideutigkeit, da er als Ausdruck dessen, was der Mensch in der Unbedingtheitserfahrung von Gott erfährt, als rein menschliche Antwort auf die göttliche Offenbarung verstanden werden könne. Echte Offenbarung hingegen spreche nicht von bedingten Angelegenheiten, sondern sei reines Zeugnis einer sich im Glaubensvollzug enthüllenden Unbedingtheit Gottes, die als das letzte Anliegen des Menschen auf diesen zukomme. Im Gegensatz zu der Relativität jeder Religion als Religion (jedes Glaubensvollzugs) könne … […] jede Religion als Offenbarung absolut sein; denn Offenbarung ist das Durchbrechen des Unbedingten in seiner Unbedingtheit. Jede Religion ist insoweit absolut, als sie Offenbarung ist, d. h. insoweit als das Unbedingte in ihr als Unbedingtes herantritt im Gegensatz zu allem Relativen, was ihr als Religion zukommt.²⁸⁷
Der göttliche Geist, von Tillich verstanden als universaler logos, könne als verbindendes Moment der verschiedenen Religionen erachtet werden; denn Tillich geht davon aus, dass er nicht nur im Durchbruch gegenwärtig ist, sondern auch in der vorbereitenden Periode die Erfahrung des Heiligen als sinngebendem Moment innerhalb der Geschichte ermögliche, indem er sich in den konkreten Religionen manifestiere. Tillichs späterer pneumatologischer Ansatz geht davon aus, „[…] daß derselbe göttliche Geist, der Jesus zum Christus macht, in der Gesamtgeschichte der Offenbarung und Erlösung wirksam ist – vor und nach dem Erscheinen Jesu als dem Christus.“²⁸⁸ Der sich im Durchbruch offenbarende göttliche Geist, der die Endlichkeit, in der er sich manifestiert, selbst negiere und dadurch in Christi Tod und Auferstehung zur Erscheinung komme, sei also identisch mit dem die sinngebenden Durchbrüche in der Vorbereitungsperiode evozierenden göttlichen Geist. Da die Religion auch nach dem Christusereignis aufgrund der Zweideutigkeit der Welt und alles Seienden der Vollkommenheit der Offenbarung in Christus widersprechen könne, seien die drei Perioden „Religion, Durchbruch und Kirche“, in die die Offenbarungsgeschichte von Tillich unterteilt wird, nicht als zeitlicher Ablauf zu denken, sondern sie implizieren „ein prin-
Ebd. Tillich, P., Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie, S. 75. ST III, S. 174.
2.4 Die Beurteilung der nicht-christlichen Religionen
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cipielles Verhältnis“.²⁸⁹ Dadurch stehen die drei von Tillich in der Vorbereitungsperiode verorteten Religionen (Judentum, Heidentum, Griechentum) in ihrem Bezug zur Offenbarung in einem jeweils für sie typischen Verhältnis. „Prinzipiell“ meint also ein Verhältnis, welches sich aus den inneren Konstitutionsbedingungen und den im Offenbarungsgeschehen enthaltenden Elementen herleitet und folglich typische Bedeutung hat. Tillich leitet die Wahrheit einer Religion also prinzipientheoretisch her, indem er die Vollkommenheit der in ihr enthaltenen Offenbarung davon abhängig macht, wie sehr die Religion das „Nein“ zu sich selbst zum Ausdruck bringt. Die prinzipientheoretische Kategorisierung erlaubt es ihm auch, die profane Lage generalisierend als „Griechentum“ zu bezeichnen, da sie von ihm durch einen allgemeinen Sinnverlust charakterisiert wird, welchen Tillich in der griechischen Religion repräsentiert sieht. Folglich erlangt „Griechentum“ eine typische Bedeutung und wird von Tillich mit dem Wesen der Profanität assoziiert.²⁹⁰ Das Judentum wird unter den Begriff des Gesetzes gebracht, was bedeutet, dass die „unbedingte Forderung“ noch als prinzipiell realisierbar gedacht wird. Erst die Einsicht in die Unmöglichkeit der absoluten Gottesfurcht treibe im Judentum zur Verzweiflung am Heil. In einem Nebensatz findet Tillich eine allumfassende, alle – nicht nur die oben aufgeführten – Religionen inkludierende Formel zur Demonstration seiner Position gegenüber den Religionen. So meint er – auf der Grundlage seines Studiums der Paulusbriefe und durch „Äußerungen der Theologie“, vor allem aber überzeugt durch den tatsächlichen Eindruck der Religionsgeschichte, in all diesen Zeugnissen eine „Polarität von Forderung und Verheißung“ beobachten zu können.²⁹¹ Nur in der Gnade, die dem Menschen in Christus begegnet, seien Forderung und Verheißung in positiver Korrelation miteinander vereint. Die göttliche Forderung sieht Tillich vor allem (im Unterschied zur Gesetzesreligion, in welcher das Verhältnis des Menschen zu Gott durch zahlreiche Gebote und Pflichten aufrechterhalten werde) im ersten Gebot des Dekalogs repräsentiert, „keine Götter neben Gott zu haben“²⁹². Indem allerdings in der Vorbereitungsperiode die Dämonisierung des Gottesverhältnisses durch Absolutsetzung von Endlichem vorherrschend sei, sei die Beziehung zwischen Gott und Mensch dadurch depraviert, dass der Mensch glaubt, von sich aus die Forderung erfüllen zu können. Dadurch stehe sie aber nicht in Korrelation mit der göttlichen Verheißung, denn diese bestehe in der Zusage von Gottes unverdienter Gnade, die gerade nicht vom EN, Bd. XIV, S. 277. Vgl. A.a.O., S. 278: Die „Geschichte der autonomen Kultur“ wird von Tillich „principiell als ‚Griechentum’ bezeichnet. A.a.O., S. 281. Ebd.
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2 Der Vollkommenheitsanspruch der Dogmatik
Menschen erwirkt werden könne. Die Unbedingt-Setzung des Menschen ziehe jedoch nicht Gnade, sondern Gericht nach sich, welches sich in Form von Gottesferne äußere. Nur in Einheit mit dem Wahren des ersten Gebotes, nur wenn der Mensch anerkennt, dass er die Forderung nicht von sich aus erfüllen kann, sondern er die Heilsmitteilung Gottes empfangen muss, könne die Verheißung der Gottesgemeinschaft wirkliche Überwindung des existentiellen Misstrauens im Sinne von Gnade bedeuten. „Aber diese Gnade ist das, was in der Vorbereitung nicht wirklich ist.“²⁹³ Trotz der Unwirklichkeit der Gnade in den außerchristlichen Religionen betrachtet Tillich diese nicht als ausgeschlossen von der göttlichen Seinsgemeinschaft. Auch in ihnen sei der „Sinngrund“ tragendes Fundament, „[…] ganz gleich, ob sie sich ihm ausdrücklich zuwenden oder ob sie auf sich selbst in ihrer Endlichkeit gerichtet sind.“²⁹⁴ Allerdings führe der Heilsweg in den nicht-christlichen Religionen nicht über Christus. Diese Vorstellung des tragenden Grundes auch in den anderen Religionen korrespondiert mit Tillichs Offenbarungsbegriff als einer oratio indirecta und lässt sich schöpfungstheologisch erklären: Die Welt als Schöpfung Gottes ruht auf dem Fundament der göttlichen Gnade, was nicht bedeutet, dass diese auch verwirklicht und aktualisiert wird. Und doch könne kein menschlicher Akt diesen tragenden Grund zerstören, sonst wäre Gott von diesem abhängig und folglich nicht mehr unbedingt. „Der Widerspruch gegen das Unbedingte kann nie so werden, daß das Tragende aufgehoben wird. Sonst würde er sich selbst aufheben. Auch im Bösen ist das Unbedingte tragend.“²⁹⁵ Die Wirkung Gottes im Moment der Abwendung des Menschen von seinem ihn tragenden Grund werde als Gottesferne und absolute Einsamkeit – und folglich als Gericht – erfahren. Auch das Gottessymbol Tillichs steht so mit der Religionsgeschichte im Zusammenhang, dass es „die eigentümliche Zwiespältigkeit des religionsgeschichtlichen Processes, seinen vorbereitenden Sinn nach negativer und positiver Seite hin zum Ausdruck bringt.“ In positiver Richtung enthält das Vatersymbol das Moment der „erziehenden Führung“, was nichts anders als das Tragen der Geschichte vom Unbedingten meint, welches sich auch auf die außerchristlichen Religionen bezieht.²⁹⁶ In negativer Hinsicht werden die nicht-christlichen Religionen eben nur als Hinweis, nicht aber als Erfüllung der vollkommenen Offenbarung gedeutet. Dennoch geht Tillich davon aus, dass die Geschichte an sich eine Dynamik hin zum Heil enthält. Das Symbol der „erziehenden Führung“ verweist über das Moment der reinen „Leitung und Erhaltung
Ebd. A.a.O., S. 276. A.a.O., S. 19 – 20. Vgl. a.a.O., S. 314.
2.4 Die Beurteilung der nicht-christlichen Religionen
397
der wesenswidrigen Welt“²⁹⁷ hinaus auf eine direktive Dynamik der gesamten Religionsgeschichte, die darin besteht, dass die Geschichte von Gott „zum Höhepunkt, der Heilsoffenbarung“²⁹⁸ hingeführt wird. In ihm erfülle sich erst der Sinn des Tragens der Geschichte. Religiös hat dieser Gedanke die Bedeutung, daß wir von der vollkommenen Offenbarung her jeden Geschichtsablauf als Hinführung zu ihr selbst deuten können, daß wir keinen Geschichts[ab]lauf als grundsätzlich heillos auffassen müssen und daß wir in uns selbst jeden Verlauf unseres Lebens als Vorbereitung deuten können, daß er den Sinn hat, unseren Weg zum unbedingten Sinn zu finden und dem Erleben des unbedingten Sinnes den Weg zu bahnen. Es ist also die tragende Liebe Gottes, die wir hier aussagen.²⁹⁹
Eingeschlossen in diesen Weg der Hinführung zum unbedingten Sinn ist über den gesamten religiösen Geschichtsprozess hinaus auch der autonome Kulturprozess, den Tillich als „ständige Wegbereitung“ der vollkommenen Offenbarung versteht und dessen innere Dynamik auf den Kairos ausgerichtet sei.³⁰⁰ Dabei bezieht er sich nicht nur auf die Vorbereitungsperiode, die sich historisch vor der erstmaligen Erscheinung des Christus, dem ursprünglichen, originalen Kairos ereignet hat, sondern der gesamte Geschichtsablauf – auch der heutige – ist dabei intendiert. Die gesamte Geschichte befindet sich nach Tillich aufgrund ihres Getragenseins vom Unbedingten und der göttlich-väterlichen Führung im Prozess der Richtung auf das Heil. Der Kairos ereigne sich dort, „wo die vorbereitenden Entwicklungen, die sakramentale, profane und gesetzliche, […] zu einem Bewußtsein um die Dämonie des Dämonischen durchgedrungen sind“, ohne an dieser Erkenntnis zu verzweifeln und infolge der „Entdämonisierung“ einer „Entleerung“ zu verfallen, die in dem Gefühl allgemeiner Sinnlosigkeit (Profanität) mündet.³⁰¹ Nach Tillich sind also zwei Bedingungen für den entscheidenden Durchbruch gefordert: 1) Eine solche Entdämonisierung, daß eine dämonisierte Auffassung nicht möglich ist. 2) Eine solche Spannung, daß ein Durchbruch möglich und als Rettung aus der Spannung notwendig ist. Zu solcher Spannung treibt das Griechentum durch Sinnverlust als höchste Form der Zerspaltenheit und treibt das Judentum durch Schuldbewußtsein als Bewußtmachung des Gerichts […]. Eine dritte, dem Heidnischen angemessene Form ist die Verzweiflung am Halt.³⁰²
A.a.O., S. 313. A.a.O., S. 314, Fußnote Nr. 1. A.a.O., S. 314. A.a.O., S. 315. A.a.O., S. 319. Ebd.
398
2 Der Vollkommenheitsanspruch der Dogmatik
Alle drei Religionen werden also an einen Punkt getrieben, welcher von den in ihnen enthaltenen Elementen nicht mehr getragen werden kann, da die Verzweiflung ein nicht zu überwindendes Ausmaß erreicht, auf welches nur die vollkommene Offenbarung sinnvoll antworten könne. Mit dem Durchbruch sei die in der Gesetzessphäre in ihrer fruchtbarsten Spannung existierende Dämonisierung und Wesenswidrigkeit zwar nicht aufgehoben, allerdings habe sich innerhalb der Wesenswidrigkeit ein Weg Ausdruck verschafft, der durch Partizipation am Christusereignis und Negation der eigenen Absolutheit den Widerspruch der Vorbereitungsperiode zu überwinden beansprucht, indem eine Beziehung zu Gott hergestellt und in dieser Beziehung Heil erfahren werde. Damit sei die „Reinheit der vorbereitenden Typen“³⁰³ gebrochen. „Das Dämonische ist grundsätzlich überwunden.“³⁰⁴ Die drei nicht-christlichen Religionen seien in ihrer Richtung auf den Kairos in ihrer je eigenen geschichtlichen Konstellation einmalig – wie auch der Durchbruch „von der objektiven Seite her unwiederholbar“³⁰⁵ und damit einmalig sei – wenn er auch typische Elemente enthalte, die auch nach dem Kairos in das „Zeitalter der Kirche“ hineinwirken und sich in ähnlicher Form wiederholen.³⁰⁶ Das Dämonische sei durch den ursprünglichen Kairos zwar prinzipiell und grundsätzlich überwunden und gebrochen, dennoch könne es auch nach dem Kairos zu dämonischer Deprivation innerhalb der Religionen kommen – auch der christlichen Kirche. Aber die Richtung zum Heil sei mit der erstmaligen Realisierung innerhalb der Geschichte unabänderlich angezeigt worden. Damit wirken die in der vorbereitenden Periode vorhandenen Elemente zwar in die Zeit nach dem ursprünglichen Kairos hinein, dennoch gebe es „innerhalb der Entwicklung einen Unterscheid der Zeiten […]. Die Zeit zwischen Ankunft und Wiederkunft des Messias ist eine andere als die vorher, […]“³⁰⁷ Denn der Kairos sei eine geschichtliche Wirklichkeit, auf die sich nun immer wieder bezogen werden könne. Insofern als die vorbereitenden Perioden gleichzeitig typische und historische Bedeutung haben, sei auch der Kairos als eine zeitlich-historische Kategorie zu verstehen, die trotz ihrer geschichtlichen Unwiederholbarkeit und Einmaligkeit auch typische Elemente in sich trage, die seinen Universalitätsanspruch markieren. Das universelle Moment schließe die Möglichkeit ein, dass auch zu anderen Zeiten und an anderen Orten (Tillich inkludiert sogar Entwicklungen auf anderen Sternen) unter den gegebenen Bedingungen der „relative[n] Entdämo
A.a.O., S. 324. Ebd., Fußnote Nr. 3. A.a.O., S. 324. Ebd. Ebd.
2.5 Christus als Realisierungsort der vollkommenen Offenbarung
399
nisierung“ und der „Höchstspannung“ ein von der Qualität her ebenbürtiger Kairos erreicht werden könne, der freilich lediglich in seiner konkreten Ausprägung variieren würde.³⁰⁸ In Bezug auf die geschichtliche Verwirklichung und das erstmalige historische Hinstreben auf den ursprünglichen Kairos sei der Vorbereitungsprozess samt dem erstmaligen Durchbruch unwiederholbar. Denn trotz der typischen Elemente, die die Religionen der Vorbereitungsperiode charakterisieren und die konstanten Bedingungen für den Durchbruch liefern, verändern sich in der Zeit nach dem ursprünglichen Kairos die konkreten Momente, die die Religionen im Zeitalter der Kirche ausmachen. Da ihre konkreten Momente Variablen darstellen, die so in der Vorbereitungsperiode nicht gegeben waren, geht Tillich davon aus, dass auch der ihre Bedingtheit erschütternde Durchbruch bezüglich seiner konkreten Ausprägung Abweichungen vom ursprünglichen Kairos enthalten könne. Die in der vollkommenen Offenbarung enthaltenen Elemente seien also weder als rein typisch zu werten – wären sie dies, so entsprächen sie einer „allgemeinen Idee“, der mangels ihrer existentiellen Wirkungskraft jedoch nicht die Macht der Erlösung zukäme – noch seien sie in ihrer historischen Erscheinung als Kairos auf den konkreten Ort ihrer erstmaligen Verwirklichung zu fixieren. Vielmehr stehen die beiden Momente des Konkreten und Universalen in der vollkommenen Offenbarung zwar in einem korrelativen Verhältnis und in einer inneren Spannung zueinander, ohne jedoch einseitig verabsolutiert werden zu dürfen. Die Erscheinung Christi sei demnach als eine „geschichtliche Offenbarung“, als ein „reales Eintreten in die Geschichte“ zu werten, durch welches die Richtung und das Ziel der gesamten Geschichte auf das göttliche Heil hin vorgegeben worden sei und sich das „Typische“ im „Einmaligen“ manifestiert habe, wodurch dieses Ereignis den Anspruch erheben könne, universales Heil für alle Menschen zu bedeuten.³⁰⁹
2.5 Christus als Realisierungsort der vollkommenen Offenbarung Dieses Kapitel möchte die besonderen Merkmale des Christussymbols als Ort der vollkommenen Offenbarung darstellen. Zudem soll diskutiert werden, wie das Eingehen des Tragenden in die Geschichte nach Tillich zu denken ist, wenn dies nicht die Inkarnation Gottes in einen wirklichen, empirischen Menschen bedeu-
Vgl. a.a.O., S. 320. A.a.O., S. 324.
400
2 Der Vollkommenheitsanspruch der Dogmatik
tet. Daran schließt sich die Frage an, worin die Realität des Christusbildes als eine „Realbildes“ besteht und was dessen konkrete Geschichtlichkeit ausmacht. Der Kern der Christologie der Dresdner Dogmatik-Vorlesung ist im Vorangehenden bereits umrissen worden. Er besteht in der im Christusbild enthaltenen Abwehr einer Dämonisierung (in Form von Verehrung anderer Götter oder der Absolutsetzung vorläufiger, bedingter Angelegenheiten und der Vergottung des eigenen Selbst) und Profanisierung (im Sinne von Sinnentleerung bzw. Gottesferne). Stattdessen symbolisiere Christus eine „vollkommene Verbundenheit eines seiner-selbst Mächtigen mit dem Unbedingt-Mächtigen.“³¹⁰ Folglich sei im Christusbild ein Symbol gefunden, welches trotz seiner Konkretheit die eigene Selbstbezogenheit negiere und welches durch die absolute Selbstnegation im Kreuzestod und die folgende Auferstehung die Überwindung der existentiellen Einsamkeit verkörpere. Im Vordergrund stehe dabei die Überwindung der Entzweiung vom eigentlichen Leben (in der Gottesgemeinschaft) durch die unbedingte Verbundenheit und Einheit mit dem Unbedingt-Tragenden im Moment der absoluten Einsamkeit, aus dem der Mensch sich selbst nicht befreien könne. Im Christusbild sei die Wesenswidrigkeit prinzipiell aufgehoben, was bedeutet, dass sich in ihm weder Selbstliebe, Begierde noch Hybris finden lassen. Zwar sei die Wesenswidrigkeit noch in der Wirklichkeit gegenwärtig, jedoch bedeute sie „nicht die letzte Aussage über die Wirklichkeit“, „sondern die letzte Aussage ist das in die Empirie hineinbrechende Heil.“³¹¹ Indem alle Momente, die Christus als „Person“ ausmachen, wie zum Beispiel ein die Wesenswidrigkeit auszeichnendes und durch Selbstliebe depraviertes In-sich-verkehrt-Sein, in den Hintergrund gestellt und in der unzweideutigen Liebe zu Gott aufgehoben sind, werde Christus vollkommen transparent für das durch ihn sich offenbarende Unbedingte. Er selbst beanspruche für sich selbst keinerlei Absolutheit, seine Gottesebenbürtigkeit werde von ihm nicht in den Fokus gestellt, sondern er verneine sich selbst als Heilsbringer und erhebe sich nicht selbst zum Messias. Alle Elemente im Christusbild, die durch Worte und Taten Jesu vermittelt sind, weisen von dem Menschen Jesus als messianischem Träger fort und verweisen allein auf den, der ihn gesandt hat: auf Gott und dessen anbrechendes Reich.³¹²
A.a.O., S. 340. A.a.O., S. 341. Die Funktion Jesu als Indikator Gottes wird u. a. von Johannes in Kapitel zwölf bezeugt: „Jesus aber rief: Wer an mich glaubt, der glaubt nicht an mich, sondern an den, der mich gesandt hat. Und wer mich sieht, der sieht den, der mich gesandt hat.“ (Joh. 12, 44– 45). Die Selbstlosigkeit Jesu wird auch im Markusevangelium durch das Messiasgeheimnis illustriert. Jesus sucht stets zu vermeiden, seine Werke und Wunder publik zu machen und gebietet der auf seine Wundertaten aufmerksam gewordenen Volksmasse, die aus den verschiedensten Gebieten
2.5 Christus als Realisierungsort der vollkommenen Offenbarung
401
Indem Jesus für seine eigene Person keine Absolutheit beansprucht und so den Anspruch auf Letztgültigkeit verweigert, überwinde er in sich die Macht des Dämonischen. Der Sinn des Seins wird nicht in ihm selbst gesucht. „Der Eros hat sich völlig in Hingabe an das göttliche Werk und in Barmherzigkeit gegenüber den Menschen verwandelt. Und der Machtwille in den Willen zur Macht Gottes.“³¹³ Insofern sei jegliches schöpferische Tun, jegliche Vitalität von sich selbst als Endlichem abgewendet und allein auf Gott gerichtet. In Christus seien alle Momente des Kreatürlichen enthalten, allerdings bleibe das Kreatürliche in seiner Selbstmächtigkeit gebunden an das „Unbedingt-Mächtige[…]“³¹⁴ und so stehen schöpferische Lust und Todesschmerz in der ursprünglichen Einheit. Auch „fehlt die Überheblichkeit, die Ursünde; d. h. der Wille, [sich] mit dem Gehorsam gegen die Klarheit Gottes selbst unbedingt zu setzen.“³¹⁵ Die in dem Bild enthaltenen Elemente, die eine „Verbindung völliger Bejahung des Sinnes und des Heils, völlige Einheit mit dem Unbedingt-Seienden“ bedeuten, überwinden „mit der Bejahung des die Welt treffenden Gerichts“ gleichzeitig das sich am Einzelnen ereignende Gericht der Verdammung und des Leids, indem es dadurch aufhöre, „Gericht zu sein“ und „Weg zur Vollendung“ werde.³¹⁶ Dieser Prozess werde symbolisch angeschaut in Tod und Auferstehung Christi, wobei letztere die Überwindung des vom Leben getrennten Todes bedeute. Am Kreuz sterbe der
Israels angereist kommt und ihn in einem enormen Ansturm aufsucht, um von ihm geheilt zu werden, „streng, dass sie ihn nicht offenbar machten.“ (Mk. 3,12) Auch in Kapitel zehn des Markusevangeliums (Vom Herrschen und Dienen) hält er seine Jünger zu selbstlosem Leben in seiner Nachfolge an, indem er ihnen das Ideal einer Geringhaltung der eigenen Person nahelegt: […] wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der soll aller Knecht sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele. (Mk. 10, 43 – 45). Vgl. das Kapitel „von der Rangordnung und Auswahl der Gäste in Lk. 14, 11: „Denn wer sich selbst erhöht, der soll erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, soll erhöht werden.“ EN, Bd. XIV, S. 342. A.a.O., S. 340. Ebd., Vgl. a.a.O., S. 341: Trotz der unbedingten, ungebrochenen Verbundenheit des Kreatürlichen mit Gott in Christus lehnt Tillich den Begriff der „Sündlosigkeit“ in Bezug auf Christus ab, da dieser Missdeutungen nach sich ziehen könne. Er könnte so verstanden werden, als könne ein empirischer Nachweis der Sündlosigkeit Jesu erbracht werden. „Durch die negative Formulierung ist eine klar gegenständliche Fixierung eingetreten, etwas Rechenhaftes, das dazu zwingt nachzurechnen, ob irgendwo doch vielleicht eine Sünde zu verzeichnen ist.“ Eine solche Feststellung sei jedoch nicht durchführbar, da das empirische Leben Jesu von Nazareth für uns nicht nachvollziehbar ist und damit im Verborgenen liegt. Statt des Begriffes der Sündlosigkeit bevorzugt Tillich daher den positiv gewendeten Begriff der „Gottverbundenheit“. A.a.O., S. 343.
402
2 Der Vollkommenheitsanspruch der Dogmatik
Mensch Jesus, gleichzeitig erwache jedoch mit diesem Ereignis der Jesus, der nur Christus ist. Auch in seiner späteren Systematischen Theologie I bezeichnet Tillich als entscheidendes Charakteristikum des Heilsträgers Jesu Christi, „die ständige Selbstpreisgabe des Jesus, der Jesus ist, an den Jesus, der der Christus ist.“³¹⁷ Indem Jesus also nichts für sich selbst beansprucht, sei er absolut transparent für Gott selbst. Er sei vollkommen mit dem Grund des Seins, und somit mit Gott, verbunden. Die Verneinung Jesu Person bedeute Verneinung des Offenbarungsmediums als Offenbarungsquelle. Auch hier wird deutlich, dass es nicht auf die Person selbst ankommt, die Offenbarungsträger ist bzw. durch die sich Offenbarung ereignet, sondern auf die entscheidende Qualität, den Seinsgrund für andere Menschen transparent zu machen. „Es ist niemals eine moralische, intellektuelle oder emotionale Eigenschaft, die ihn zum Träger der letztgültigen Offenbarung macht […] [sondern es ist] die Gegenwart Gottes in ihm, die ihn zum Christus macht.“³¹⁸ Das Aufgehoben-Sein des Menschen in Gott wird durch die sich in der Auferstehung selbst negierende Personenhaftigkeit repräsentiert, durch die die Gottesbeziehung bejaht wird. Die Zweideutigkeit werde durch das Eingehen des Unbedingten in die Geschichte (in Christus) zwar nicht aufgehoben, da sie unausweichliches Moment der Existenz selber sei, wohl aber werde in ihr durch die Verwirklichung der Offenbarung der Weg aufgezeigt, sie nicht in letzter Konsequenz als Gericht erfahren zu müssen. Jesu Lebens- und Leidensweg lege Zeugnis davon ab, dass sich die Wirkung des Gerichts auch an ihm ereignet habe, allerdings werde das Gericht „nicht als Gericht“³¹⁹ erfahren. Gericht könne zweierlei bedeuten: Als Folge der Selbstvergottung und Unbedingt-Setzung des Menschen bedeute es einen Zustand der Beziehungslosigkeit. Indem der Mensch sich selbst vergöttert, bleibe ihm die Beziehung zu und Gemeinschaft mit Gott verwehrt. Die Strafe der Sünde sei die Gottesferne. In diesem Fall sei das Gericht eine notwendige Folge der aktiven Sündhaftigkeit (im Sinne von Abwendung von Gott) des Menschen. Das Gericht wirke sich in diesem Fall als Gericht bzw. Strafe am Menschen aus (Gottesferne, Beziehungslosigkeit). Im zweiten Fall sei das Gericht ebenso wirksam, da der Mensch trotz Hinwendung zu Gott dem Stand der Zweideutigkeit verhaftet bleibe, da er sich nicht über seine Existenz in die absolute Einheit mit dem Unbedingten erheben könne. Dennoch sei ihm in der Gottesbeziehung das Heil in Aussicht
ST I, S. 161. A.a.O., S. 162. EN, Bd. XIV, S. 344.
2.5 Christus als Realisierungsort der vollkommenen Offenbarung
403
gestellt. Dass das Gericht innerhalb der Beziehung zu Gott in letzter Konsequenz nicht als Gericht erfahren wird, werde im Ostergeschehen symbolisch veranschaulicht. Das Gebet des sterbenden Jesus, welches er in seiner Verzweiflung und im Moment seines größten Leids klagend an Gott richtet („mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk. 15,34)) scheine im Lichte des Kreuzes und des unmittelbaren Todes Jesu von Gottesferne zu zeugen. Es lasse den Menschen an der Allgegenwärtigkeit und an dem Heilswillen Gottes zweifeln. Doch die Kluft, die das Todesgrauen zwischen Gott und Mensch aufreißt, werde überwunden. Auch im Todesschmerz wende sich Jesus noch an seinen Vater und klage ihn an. Die Beziehung ist noch da. Und es zeigt sich: Gott hat Jesus nicht verlassen. Sein Gebet wird beantwortet im Osterereignis, der Auferstehung Christi und der absoluten Vereinigung mit Gott. „Auch die schicksalsmäßige Gottverlassenheit hebt die Gottverbundenheit nicht auf.“³²⁰ Christus begebe sich zwar „in das Gericht der Existenz“, allerdings wirke sich das Gericht, welches eine „Zerspaltenheit bis zum Sinnverlust“ hervorrufen könne, „nicht in ihm aus[…], sofern er mit dem Unbedingten unbedingt verbunden ist; es kann sich nur an ihm auswirken. Er kann im Gericht nur Objekt sein, nicht auch Subjekt im Sinne der Identität von Gericht und Wesenswidrigkeit.“³²¹ Es ist also „vorausgesetzt, daß es nicht in sein Centrum dringt, nicht in die Gottverbundenheit.“³²² Wesenswidrigkeit bedeute also im Wesentlichen Trennung von Gott, die dann als Gericht und existentielle Einsamkeit erlebt werde. Die unmittelbaren Konsequenzen des Gerichts, denen Jesus ebenso wie alle Menschen ausgeliefert sei, können seine unbedingte Gottverbundenheit nicht zerstören. Die „Sinnlosigkeit des Todes“ wird von Tillich als die „Vollendung des widerfahrenden Gerichts“ beschrieben.³²³ Und doch werde sie überwunden im unbedingten Zuspruch Gottes an die Menschheit in Christi, in der Überwindung des Gerichts, welches symbolisch veranschaulicht ist in der Auferstehung Jesu von den Toten. „Den Tod der Kreatur freilich muß er sterben mit aller Kreatur; aber nicht den Tod des Gerichts. Die Auferstehung ist nicht Aufhebung des kreatürlichen Todes, sondern des Todes, der durch das Gericht gesetzt ist.“³²⁴ Insofern hafte diesem Vorgang auch nichts Mirakulöses an, sondern er gelte als „Ausdruck für die Wiedervereinigung von Tod und Leben, freilich nicht mehr in der Existenz, sondern in der Transcendenz.“³²⁵
A.a.O., S. 345. A.a.O., S. 344– 345. A.a.O., S. 345. Ebd. Ebd. Ebd.
404
2 Der Vollkommenheitsanspruch der Dogmatik
Im Zusammenhang mit der Selbstnegation als Indikator des göttlichen Wirkens in Christus steht der für die Tillichsche Christologie typische Grundsatz einer Entwicklung des Glaubensurteils unter Absehung von jeglichen historischen Besonderheiten, die dieses Urteil umkleiden.³²⁶ Jesus Christus repräsentiere den historischen Ort, an welchen die Christologie anknüpfe, allerdings gründe sich das christologische Urteil deswegen nicht auf historischen Fakten, sondern allein auf der von diesem Ort ausgehenden Wirkung. Diese sei zwar nicht historisch
Im Vordergrund von Tillichs Christologie steht nicht der historische Jesus. Vielmehr müsse die „Hinwendung zum Christus ebenso frei [sein] […] von einer metaphysischen wie von einer historischen Belastung, wenn sie Ergriffensein, Offenbarungsempfang ist, in unmittelbar freier, allein auf Gott gerichteter Haltung.“ (A.a.O., S. 329). Demnach sei die Frage, worauf sich das Urteil, dass Jesus der Christus ist, gründet, auch nicht Teil der dogmatischen Erörterungen, sondern der Geschichtswissenschaft zuzuordnen (a.a.O., S. 326). Auch steht die „Intention des Urteils der Urgemeinde“ nicht im Vordergrund, sondern der „religiöse[…] Gehalt“ ist „von dieser Intention unabhängig“. „Auch hier ist zu sagen: Der Sinn des ursprünglichen Bekenntnisses zu Jesus ist Gegenstand der historischen Forschung.“ (A.a.O., S. 327) Hingegen sei es Aufgabe der Dogmatik, den „Gehalt des Glaubens […] in freiem dogmatischem Urteil zum Ausdruck“ zu bringen und die Art der Vollkommenheit des in Christus erschienenen Seins ausgehend von seiner Wirkung zu verstehen. Denn diese Wirkung sei es, die trotz variierender theologischer Auslegungen innerhalb der Geschichte vom Urchristentum an über Paulus und die Apologeten bis hin zu Augustin und die zeitgenössische Theologie „nicht die Einheit des Bekenntnisses gehindert“ habe. (A.a.O., S. 328) Auch ist es Tillich nicht daran gelegen, die Christusfigur in ihrer endlichen Funktion als Religionsstifter, Lehrer, Prophet etc. zu analysieren. Denn obgleich „[i]n dem Begriff Christus […] dieses enthalten [ist], daß hier zwar Elemente all jener Begriffe enthalten sind“, so sind diese „aber getragen von einem höheren, unbedingten Begriff, der auch dann nicht angetastet werden kann, wenn all jene Begriffe die Konsequenzen ihrer Relativität zeigen. D. h. Jesus bleibt der Messias, auch wenn seine Prophetie, seine Lehre, seine Führerschaft, seine religiöse Kraft sich erschöpft hätten […].“ (A.a.O., S. 331) Im Zentrum der Christologie steht allein das in Christus uns erschienene transzendente Sein. „Die mythisch-legendären Aussagen, die mit der ursprünglichen Verkündigung von Jesus Christus verbunden sind, können aufgenommen werden, sofern sie die Anschauung seiner Realität verdeutlichen, und müssen ausgeschieden werden, soweit sie die Anschauung seiner Realität hemmen. Ein Urteil über sein Berufungsbewußtsein und seinen numinosen Charakter kommt nicht der Dogmatik, sondern der Historie zu.“ (A.a.O., S. 335) Das in Christus erschienene Sein weise eine Dialektik auf, indem „[d]er Christus-Begriff […] zwar immer bezogen auf Jesus [ist], aber er ist auch wieder frei von ihm.“ (A.a.O., S. 332) Bezogen auf den Menschen Jesus von Nazareth sei der Christus-Begriff, insofern als das transzendente Sein in der historischen Person Jesus von Nazareth erschienen bzw. auf diese Weise tradiert worden ist und daher von diesem empirischen Ort aus angeschaut werden kann. Frei von ihm sei er, insofern als es für das Bekenntnis nicht auf die historische Person Jesus von Nazareth ankomme. Vielmehr müsse das Glaubensurteil frei von der Fixierung auf einen bestimmten empirischen Ort sein, damit der Fokus allein auf das in dieser Person erschienene transzendente Sein gerichtet werden könne. Die Wirkung dieses Seins gilt für Tillich auch dann als unerschöpflich, wenn die historische Jesusforschung die Nichtexistenz Jesu von Nazareth aufdecken würde.
2.5 Christus als Realisierungsort der vollkommenen Offenbarung
405
indifferent, verstehe das Historische für die Entstehung des Glaubensurteils jedoch nicht als das Primäre. Auch Kähler betont die ausschließliche Relevanz des dogmatischen Christus für den Glauben, indem er den historischen Jesus und die Erzeugnisse der LebenJesu-Forschung für „eine moderne Abart von Erzeugnissen menschlicher erfindender Kunst“ erachtet.³²⁷ Nach ihm gibt es keine eindeutigen, objektiven Berichte über eine Biografie Jesu. Auch bei den synoptischen Evangelien sieht er „schriftstellerische Absicht, fromm umgestaltete Sage, unwillkürliche Entstellung […] am Werk, sofern sie sich auch nicht mit Sicherheit auf Augenzeugen zurückführen lassen.³²⁸ Folglich seien auch die Evangelien „durchweg Zeugnisse und Bekenntnisse von Christusgläubigen“.³²⁹ Es gebe demnach keine Quellen, die das Leben Jesu auf zuverlässige Weise nachzeichnen würden. Alle zu seiner Zeit geläufigen Versuche, wie z. B. „Untersuchungen über sein Temperament oder seine Individualität […], die langsame Entwicklung seiner religiösen Genialität, das Durchbrechen seiner sittlichen Selbständigkeit, das Aufdämmern […] seines messianischen Bewußtseins […]“³³⁰ seien gescheitert. Und so werde außer Acht gelassen, daß „die Quellen selbst, die Berichterstatter nicht an eine solche Entwicklung denken.“³³¹ Dabei wird von ihm der Einfluss der Zeitgeschichte auf die biblischen Erzählungen nicht geleugnet; jedoch genügen diese nicht um eine vollständige Biografie zu schreiben, die einem Tatsachenbericht gleichkäme.³³² Die Bedeutung der Person Jesu Christi liegt nach Kähler nicht in dem, „worin er uns gleich war“, sondern in dem, „worin er uns völlig ungleich war und ist“.³³³ Zum Glauben wird nach ihm keine Kenntnis der genaueren Lebensumstände Jesu benötigt, sondern wichtig sei „das Zeugnis und Bekenntnis des Glaubens, der die Welt überwunden hat (1. Joh. 5,4).“³³⁴ Es müsse also, wenn „wir auf den offenbaren Gott verzichten […]“ müssen, „eine andre Wirklichkeit Christi geben als die des biographischen Einzelwerkes.“³³⁵ Diese sei im Werk Christi gegeben, welches in dem Glauben und der Verkündigung seiner Jünger bestehe und welches sein Kähler, M., Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus, in: Wolf, E. (Hrsg.), Theologische Bücherei. Neudrucke und Berichte aus dem 20. Jahrhundert, Bd. 2 (Systematische Theologie), 4. Aufl., München 1969, S. 16. A.a.O., S. 17. A.a.O., S. 75. A.a.O., S. 23. A.a.O., S. 23, Fußnote Nr. 1. Vgl. S. 27. A.a.O., S. 32. A.a.O., S. 33 A.a.O., S. 37.
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2 Der Vollkommenheitsanspruch der Dogmatik
Wesen auszeichne.³³⁶ Gewissheit über den Kreuzestod Christi und dessen Auferstehung könne nicht ein historischer Bericht liefern, sondern allein die Überzeugung der Jünger von der Heilstat Gottes. Auch bestehe darin die übergeschichtliche, universale Bedeutung Jesu.³³⁷ So kommt Kähler zu dem Urteil: „Der wirkliche Christus ist der gepredigte Christus. Der gepredigte Christus, das ist aber eben der geglaubte; der Jesus, den wir mit Glaubensaugen ansehen […].“³³⁸ Person und Werk Christi werden von Kähler nur in ihrem Zusammenhang betrachtet, da „[s]ein Werk […] seine Person in ihrer geschichtlich-übergeschichtlichen Wirkung“ ist.³³⁹ Kähler möchte den Glauben sowohl von „unsicheren Feststellungen über ein angeblich zuverlässiges Jesusbild, das mit den Mitteln der spät entwickelten geschichtlichen Forschung herausgequält wird“ befreien als ihn auch unabhängig von einem dogmatischen Urteil eines einzelnen gelehrten Theologen wissen.³⁴⁰ Folglich beglaubige auch die Schrift nicht den Glauben an Christus, sondern durch den Glauben an Christus erschließe sich ein Verständnis der Schrift. „‚W]ir glauben nicht an Christum um der Bibel willen, sondern an die Bibel um Christi willen’“.³⁴¹ Den Wert und die Bedeutung Christi machen also erst „Trinitätslehre und Christologie“ aus.³⁴² An der Entstehung des Inhaltes der Christus-Verkündigung sieht Kähler Gott selbst am Werk: „Wenn man nun diese Meinung über die tatsächliche Vollkommenheit der Evangelien als Wort Gottes für den Glauben zum Heile hegt, und wenn man weiter den lebendigen Gott in seinem Geist in er Kirche wirksam gegenwärtig glaubt, dann wird man nicht anstehen, die Entstehung und Bewahrung dieser Evangelien als eine göttliche Handlung zu betrachten.“ Die Art und Weise der Genese und Vermittlung des Christusereignisses ist also nach Kähler Werk des Heiligen Geistes. Nur durch ihn können wir zum Glauben kommen und von der Gewissheit einer sich hinter den Zeugnissen verbergenden Heilswahrheit Gottes ergriffen werden. Auch Bultmann unterscheidet zwischen dem biblischen Jesus und dem kerygmatischen, verkündigten Christus. Zwar leugnet er nicht die Kontinuität zwischen der historischen Person Jesus und der urchristlichen Verkündigung, insofern als der historische Jesus zum Anlass der Verkündigung wurde. Allerdings bestehe keine Kontinuität zwischen Jesus als Person (dem Verkündiger) und dem ver-
Vgl. A.a.O., S. 39. Vgl. A.a.O., S. 41. A.a.O., S. 44 f. A.a.O., S. 78. A.a.O., S. 49. A.a.O., S. 52. A.a.O., S. 83.
2.5 Christus als Realisierungsort der vollkommenen Offenbarung
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kündigten Christus. Geschichtlich sei nicht der kerygmatische Christus, sondern lediglich die Tatsache der Christus-Verkündigung. Gegenstand des Glaubens ist also auch bei Bultmann nicht der historische Jesus, sondern der Christus des Kerygmas.³⁴³ Bedeutend sei also lediglich das im Kerygma verkündigte eschatologische Ereignis, welches in der Predigt gegenwärtig sei und durch die Trägerin der Kirche und das Wirken des Heiligen Geistes vermittelt werde.³⁴⁴ Bultmann bestätigt eine oft hervorgebrachte Kritik an seiner Theologie, dass „Jesus ins Kerygma auferstanden sei.“ Dieser Glaube „setzt voraus, daß das Kerygma selbst eschatologisches Geschehen ist; und er besagt, daß Jesus im Kerygma wirklich gegenwärtig ist, daß es sein Wort ist, das den Hörer im Kerygma trifft.“³⁴⁵ Hier lassen sich Parallelen zu Tillich ziehen, der ebenfalls von einer Inkarnation Gottes in den symbolischen Akt und damit in seine Verkündigung und gläubige Vergegenwärtigung ausgeht. Anschließend an Kähler und Bultmann möchte folglich auch Tillich die „Frage nach der Begründung des Glaubens an Jesus als den Christus“ als „völlig unabhängig von der Frage nach den Ursachen der Entstehung dieses Glaubens […] beantworten.“³⁴⁶ Trotz der relativen Gebundenheit eines jeden dogmatischen Urteils an historische Tatbestände – der Dogmatiker steht ja selbst auch in einer religiösen Traditionsgeschichte und greift stets das Material auf, welches ihm die gegenwärtige theologische Debatte, aber auch die eigene Form der Religiosität zur Verfügung stellt – fällt nach Tillich „[d]ie Entscheidung über das christologische Urteil […] in der dogmatischen Ebene, d. h. in der Sphäre des Glaubens, unabhängig vom geschichtlichen Erkennen.“³⁴⁷ Insofern könne sich auch „[d]as Urteil, daß jenes historische X, an dem sich das biblische Jesusbild entzündet hat, Träger oder Ort der vollkommenen Offenbarung ist […] nur in einem inneren Akt des Erschüttertseins und Umgewendetseins, der unbedingten Gerichtetheit des Empfangens einer Offenbarung verwirklichen“³⁴⁸, nicht aber in einem Glauben an die faktische Existenz Jesu von Nazareth. Indem der Mensch vom Christusbild in seiner individuellen Situation angesprochen und erschüttert wird, ereigne sich in ihm der Durchbruch als die Offenbarung Gottes in den Erkenntnisakt. Dieser
Vgl. Bultmann, R., Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse, Jg. 1960, 3. Abhandlung), Heidelberg 1965, S. 7. A.a.O., S. 26. A.a.O., S. 27. EN, Bd. XIV, S. 327. A.a.O., S. 328. A.a.O., S. 329.
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Durchbruch wird also nicht durch die Glaubwürdigkeit oder Unglaubwürdigkeit einer realen historischen Existenz des Offenbarungsträgers vermittelt. In der 1911 verfassten Thesenreihe Die christliche Gewißheit und der historische Jesus beschäftigt Tillich sich mit dem Verhältnis des historischen Jesus und dem dogmatischen Christus. Tillich versucht in diesem Aufsatz zu erweisen, dass sich der Glaube bzw. die christliche Gewissheit nicht auf dem historischen Urteil „Jesus, der Christus ist (hat existiert)“³⁴⁹ gründen lässt. Als Ausgangspunkt dient ihm das Verständnis eines historischen Anschauungsbildes (d. i. die Anschauung einer historischen Persönlichkeit) als Produkt einer „Wechselwirkung zwischen Angeschautem und Anschauendem.“³⁵⁰ Dabei wird von Tillich kein Unterschied gezogen, ob es sich um eine historische, poetische oder mythologische Anschauung handelt. Die Gewissheit über die Realität dieser Anschauungen ist in allen Fällen dieselbe. Begründet wird Tillichs These dadurch, dass er das Anschauungsbild (in diesem Fall das Christusbild) als zufällig beschreibt (es hätte auch eine andere Person Träger der göttlichen Seinsmächtigkeit werden können³⁵¹). Dieses „Zufällige, die äußere Veranlassung“ hat nach Tillich „die Bedeutung des Mittels der Anschauung und ist als solches zwar unentbehrlich, aber nur mittelbar Gegenstand der Anschauung“. Das bedeutet, dass das Christusbild zwar notwendig in Form einer Persönlichkeit erscheinen müsse, die Wirklichkeit und Bedeutung dieser Erscheinung als Medium bzw. „Mittel der Anschauung“ jedoch von der historischen Persönlichkeit völlig unabhängig sei. ³⁵² Trotz der Ungewissheit über den historischen Jesus bleibt das Urteil „Jesus ist der Christus“ bestehen und wird zum Inhalt des dogmatischen Beweises. Vom „Wesen des
Tillich, P., Die christliche Gewißheit und der historische Jesus. Vortrag auf der Kasseler Pfingstkonferenz 1911, in: Albrecht, R. (Hrsg.) Paul Tillich. Briefwechsel und Streitschriften. Theologische, philosophische Stellungnahmen und Gespräche (Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, Bd. VI), Stuttgart 1983, S.S. 51. A.a.O., S. 24. Vgl. Lax, D., Rechtfertigung des Denkens, S. 44– 45: Auch Lax versteht Tillich so, dass es laut ihm „durchaus denkbar [wäre], dass eine andere historische Erscheinung oder Person zum Träger der Christusvorstellung hätte werden können […].“ Dies würde nichts an dem durch die Person vermittelten geistigen Gehalt ändern, wohl aber differierende formale bzw. geschichtliche „Rahmenbedingungen der Vermittlung des geistigen Gehalts“ bedeuten. „Damit hätte zwar die Wirkung auf den geistigen Gehalt aufnehmenden Menschen innerhalb der geschichtlichen Entwicklung eine andere sein können, der geistige Gehalt als solcher wäre jedoch der gleiche, weil er wesensmäßig absolut ist, d. h. nicht der Subjekt-Objekt-Differenz unterliegt, sondern die apriorische und letztgültige Einheit zu Bewusstsein bringt.“ Tillich, P., Die christliche Gewißheit und der historische Jesus (1911), in: Hummel, G. (Hrsg.), Theological Writings / Theologische Schriften (Main Works, Bd. VI), Berlin; New York 1987, S. 24.
2.5 Christus als Realisierungsort der vollkommenen Offenbarung
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Christus“ schließt Tillich auf dessen „Wirkungen und Wirklichkeit“ bzw. auf die „Realität der ganzen Gleichung“. Gleichzeitig lehnt Tillich all diejenigen Beweise ab, die einen anderen Ausgangspunkt als den Christusbegriff zum Inhalt haben. Darunter fallen laut ihm Beweise aus der „Autorität der Schrift“ sowie „aus dem Walten des Geistes“. Auch den Beweisen „aus der Person [dem historischen Jesus oder den Wirkungen des erhöhten Christus] oder aus dem Werk Christi“ steht Tillich skeptisch gegenüber, da „[a]lle drei Beweisarten […] die a priori mangelhafte Form eines Schlusses von der Wirkung auf die Ursache“ innehaben.³⁵³ Tillich versucht in den folgenden Thesen 18 bis 80 den Nachweis zu erbringen, dass die Schlüsse aus der Wirkung des evangelischen Jesusbildes, der Gemeinschaft mit dem erhöhten Christus sowie dem Werk Christi keine „notwendige Beziehung auf die äußere Geschichte“³⁵⁴ haben und es sich „hier nirgends um historische Probleme, sondern allein innerlich-religiöse Notwendigkeiten handelt“³⁵⁵. Grundlegend für Tillichs Argumentationsgang sind seine epistemologischen Erörterungen, die veranschaulichen sollen, dass das Einzelne als Einzelnes (so auch in seiner rein historischen Ausprägung) nicht die Grundlage eines Glaubensurteils bilden kann. Dabei Vertritt Tillich den Standpunkt der Geschichtsphilosophie, die sich vom Rationalismus und Historizismus abgrenzt. Der Rationalismus sei dadurch charakterisiert, dass die Wirklichkeit in ihrer konkreten Geschichtlichkeit und Faktizität geleugnet wird, indem davon ausgegangen werde, dass das Wirkliche allein aus Denkbestimmungen und folglich Konstrukten besteht. Das „Individuelle[…] in der Geschichte [wird also] zu Gunsten der individuellen Begriffe des Historikers“³⁵⁶ negiert. Lax betont jedoch die Bedeutung der konkreten Geschichtlichkeit für Tillichs Standpunkt, insofern als „der geistige Gehalt sich […] immer – gleich in welcher Gestalt – in geschichtlichen, bedingten, relativen Erscheinungen ausdrückt, um überhaupt vom Relativen erfasst werden zu können […]“. So müsse auch „im denkerischen Nachvollzug der Erfassung und in der reflektierenden Darstellung die Korrelation von Gehalt und Geschichte erhalten bleiben“.³⁵⁷ Hingegen vertrete der Historizismus unter Ablehnung alles Allgemeinen einen Standpunkt, der die Individualität zugunsten eines Verzichts auf den „Wahrheitsgedanken“ verabsolutiere und die „Allgemeingültigkeit jedes Einzelnen“ proklamiere.³⁵⁸ Einzelnes kann nach Tillich jedoch nur dann von Gültigem zeugen, wenn es „im Absoluten begründet […] [ist] und Offenbarungen
A.a.O., S. 25. A.a.O., S. 28. A.a.O., S. 27. A.a.O., S. 30. Lax, D., Rechtfertigung des Denkens, S. 45. MW, Bd. VI, S. 31.
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des Absoluten […]“³⁵⁹ enthält. Nur dann kann nach Tillich auch von einer Autonomie des Geistes gesprochen werden. Zerstört werde diese jedoch, wenn sie einer fremden Autorität unterworfen wird, indem „bestimmte Orte der Geistesgeschichte, etwa Papst, Bibel, historischer Jesus, umschrieben werden als Gebiet, aus dem die Wahrheit angeeignet werden soll […].“³⁶⁰ „In allen diesen Fällen wird der Glaube an Gott abhängig gemacht von dem Glauben an eine geschichtliche Offenbarung Gottes; es entsteht ein doppelter Glaube, und der autonome wird abhängig vom heteronomen, statt daß die Offenbarung Gottes nur insoweit für den Glauben Bedeutung gewinnt, als sie den Gläubigen mit Gott direkt in Verbindung bringt.“³⁶¹ Sämtlichen historischen Daten könne allerdings nur approximative Gewissheit zukommen, weshalb die Geschichte „[ü]ber einen höchsten Grad von Wahrscheinlichkeit“³⁶² nicht hinaus komme. Die Geschichtsphilosophie hingegen erfasse das „dialektische Verhältnis von Allgemeinem und Individuellem in der Geschichte“³⁶³. Voraussetzung dieser Haltung ist die Prämisse eines erkenntnistheoretischen Prinzips, auf dem die gesamte Erörterung Tillichs basiert. Dieses ist „letztlich nichts anderes als die denkend vollzogene Rückbesinnung des Denkens auf seinen ‚Anfang’, seinen ‚Ursprung’“³⁶⁴. Prinzip des Denkens ist – dies hat Tillich auch in der Systematischen Theologie von 1913 ausgeführt – der Wahrheitsgedanke, welcher identisch ist mit dem Satz „Ich gleich Ich“ als eines „sich selbst setzenden“ Erkenntnisprinzips, welches Wahrheit als Voraussetzung der Ermöglichung von Erkenntnis setzt.³⁶⁵ „In dieser nicht weiter ableitbaren Tat der geistigen Selbstsetzung liegt die Behauptung der Einheit der Wahrheit und der Identität von Subjekt und Objekt im Erkenntnisakt.“³⁶⁶ Allerdings ist dieser Setzungsakt nicht subjektiv, sondern er beruht auf der Voraussetzung, dass das „Verhältnis von absolutem und individuellem Geist“ als „ein Verhältnis der Identität“ bestimmt ist, „sofern und soweit die Aktualisierung des Individuums eine Aktualität Gottes im Individuum ist“.³⁶⁷ Aufgrund der wesensmäßigen Einheit von Individuellem und Allgemeinem im Absoluten kann jeder individuelle Setzungsakt als Realisierung des Wesens verstanden werden. Im Denkvollzug
EN, Bd. VI, S. 52. MW, Bd. VI, S. 31– 32. A.a.O., S. 32. EN, Bd. VI, S. 53. MW, Bd. VI, S. 31. Lax, D., Rechtfertigung des Denkens, S. 29. MW, Bd. VI, S. 31. A.a.O., S. 30. A.a.O., S. 32.
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selbst als einer erkenntnismäßigen Betätigung ist ein Punkt enthalten, an dem die Subjekt-Objekt-Spaltung in die Identität von Subjekt und Objekt im Absoluten aufgehoben ist und diese Einheit im Zustand der Differenz vom denkenden Bewusstsein praktisch nachvollzogen werden kann. Aufgrund dieses Punktes der Aufhebung der Subjekt-Objekt-Spaltung im Denken ist es dem Menschen möglich, Einzelheiten in ihrem Gehalt zu erfassen, indem diese als ihrem Wesen nach im Absoluten fundiert erkannt werden. „Das Einzelne bleibt als solches immer irrational und darum problematisch. Nur dem in den einzelnen Erscheinungen sich realisierenden geistigen Gehalten kommt Gewißheit zu.“³⁶⁸ Historische Fakten seien deshalb stets ungewiss, da die „Aneignung geschichtlicher Werte“ nicht möglich sei ohne „Umgestaltung“. Das bedeutet, dass historische Daten stets schon deutungsimprägniert seien, da sich diese Umgestaltung bereits während der „Anschauung einer geschichtlichen Persönlichkeit“ vollziehe. „Die Wirkung, die eine Persönlichkeit auf mich ausübt, ist schon das Resultat einer Wechselwirkung zwischen ihr und meinem geistigen Besitz.“ Geistigen Werten kommt nach Tillich jedoch im Unterschied zu den die Person umkleidenden historischen Fakten Gewissheit zu, insofern als sie „in meinen Geist eingehen können und so das Gesetz der Identität erfüllen.“³⁶⁹ Tillich unterscheidet also zwischen der durch eine historische Anschauung transportierten Gewissheit, die einem geistigen Wert und der durch ihn repräsentierten Wahrheit zukommt und der Gewissheit, die dem Träger dieser Anschauung zukommt, also der „Wirklichkeit des mitangeschauten Zufälligen“³⁷⁰. Die Anschauung selbst kann nie von unbedingter Gewissheit sein, da sie in der Überlieferung stets Umformungen unterworfen ist, die das ursprünglich Angeschaute verfälschen. Insofern kommt Tillich zu dem Schluss, dass „[d]as Konkrete der Geschichtsforschung […] [zwar] Mittel zum Verständnis des Allgemeingültigen [ist]. Aber Wirkung und Gewißheit des Allgemeingültigen […] nicht an das Konkrete gebunden [ist]. Die notwendige Unsicherheit alles Individuellen ändert an der Gewißheit des Allgemeingültigen nichts.“³⁷¹ Das Entscheidende des historischen Jesusbildes ist nicht die von ihm ausgehende Wahrheit, die an der Wirklichkeit bzw. Tatsächlichkeit der Person Jesu Christi haftet, d. i. „der sittlich-religiöse Inhalt und das messianische Bewußtsein“³⁷² Jesu. Gewissheit und Wahrheit des evangelischen Jesusbildes kommt vielmehr seiner „unleugbare[n] Göttlichkeit“ zu, d. h. der
EN, Bd. VI, S. 52. A.a.O., S. 53. MW, Bd. VI, S. 24. EN, Bd. VI, S. 54. A.a.O., S. 59.
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2 Der Vollkommenheitsanspruch der Dogmatik
Kraft, „uns Gott in ihm schauen zu lassen“.³⁷³ „Der im evangelischen Christus angeschaute, zugleich heilige und gnädige Gott ist Grund und Gegenstand des Glaubens zu gleicher Zeit.“³⁷⁴ Dass sich das Glaubensurteil nach Tillich in einem inneren Akt unbedingter Gerichtetheit vollzieht, deutet auf seinen Hinweischarakter und damit auf das göttliche Unbedingte hin. Die Bezeichnung „unbedingte Gerichtetheit“ steht hier im Kontrast zu einer möglichen bedingten Gerichtetheit (eine Ausrichtung auf bedingte Angelegenheiten, die mit einer Offenbarung gleichgesetzt werden), die nicht die durch Christus in seiner Selbstnegation vollzogene Hinwendung Gottes zum Menschen im Fokus hat, sondern das Heil und den eigenen Glauben von den Merkmalen des Heilsträgers (oder der Wirklichkeit seiner Existenz oder Nichtexistenz) abhängig macht. Eine bedingte Gerichtetheit impliziert, dass die Offenbarung nicht als Zusage Gottes an den Menschen erachtet wird, die durch ein Medium erfolgt, welches sich als nur empirisch verneint und nur in seiner völligen Einheit mit Gott bejaht. Stattdessen wird die Heilsgewissheit von den Merkmalen des (nur bedingten) Trägers abhängig gemacht; seiner empirischen, geschichtlichen Funktion. Die unbedingte Gerichtetheit impliziert jedoch, dass im Vordergrund nicht das Empirische steht; nicht die Person Jesus von Nazareth ist relevant für den Glauben, sondern die Heilsmitteilung Gottes an den Menschen, die nur empfangen werden kann, wenn der Mensch Offenbarung nicht mit einer empirischen Person, einem Wort, einem Ereignis in Zeit und Raum gleichsetzt, sondern – vermittelt durch die Selbstmitteilung Gottes im Offenbarungsgeschehen – einsieht, dass es sich bei all diesen Formen nur um Medien handelt, durch die hindurch sich die göttliche Wirklichkeit für einen Menschen im Moment seines existentiellen Ergriffenseins erschließt.³⁷⁵ Das Glaubensurteil ist also nach Tillich völlig unabhängig von historischen Tatbeständen und könnte auch dann nicht erschüttert werden, wenn die historische Forschung die Nichtexistenz Jesu von Nazareth aufdecken würde. „Wir müssen den dogmatischen Satz vielmehr so A.a.O., S. 60. Ebd. Die Zurückweisung der Bedeutung der empirisch-historischen Persönlichkeit Jesu von Nazareths für die Entstehung des Glaubensurteils widersprich nicht der Aussage, dass das Christussymbol notwendig das Moment der Persönlichkeit enthalten muss. Dass das Christus-Symbol über das Moment des Person-Seins verfügen muss, meint nicht, dass das durch das Symbol repräsentierte Medium tatsächlich existiert haben muss. Es sagt lediglich aus, dass das Moment des Person-Seins in der Vorstellung vom religiösen Träger gegeben sein muss. Allein die erkenntnismäßige Erschließung der im Offenbarungssymbol enthaltenen Elemente – wozu Person-Sein notwendig zählt – wird von Tillich als Bedingung des Durchbruchs der vollkommenen Offenbarung in den Erkenntnisakt gewertet.
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fassen, daß er auch in Gültigkeit bleibt, wenn die Ursachen-Forschung auf wesentliche andere Ursachen für das christliche Grundbekenntnis kommt als auf den historischen Jesus […].“³⁷⁶ Die Wahrheit oder Unwahrheit der Bestimmung, „daß Jesus der Christus ist, [vollziehe] sich rein in der innerreligiösen Sphäre […]“³⁷⁷ und könne folglich nicht von Ergebnissen der historischen Forschung oder mythischer Voraussetzungen³⁷⁸ (z. B. dem Mythos der Jungfrauengeburt, der leiblichen Auferstehung, der Himmelfahrt etc.) abhängig gemacht werden. Ähnlich wie Bultmann plädiert auch Tillich für eine Entmythisierung des Christusbildes. Mit seinem Programm der Entmythologisierung möchte Bultmann das Neue Testament nicht vollkommen von jeglichem Mythos befreien, sondern ihn als existentielle Ausdrucksgestalt und Selbstreflexion des Menschen interpretieren, der versucht, sich und seine Welt zu verstehen. Die mythologische Welt des Neuen Testaments sei dem modernen Menschen nicht mehr verständlich. Auch könne der Mythos nicht rational angeeignet werden. „[E]in blindes Akzeptieren der neutestamentlichen Mythologie wäre Willkür; und solche Forderung als Glaubensforderung erheben, würde bedeuten, den Glauben zum Werk erniedrigen […]“³⁷⁹, da das moderne Leben in all seinen Formen dem neutestamentlichen Wunder- und Dämonenglauben widerstehe: „Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben.“³⁸⁰ Doch wie kann die Botschaft des Neuen Testaments vom modernen Menschen verstanden werden, wenn das Neue Testament von einem Weltbild geprägt ist, in dem der Mensch als von dämonischen Mächten abhängig gedacht wird und welches durchzogen ist von mythologischen Vorstellungen, die Motive aus der jüdischen Apokalyptik und hellenischen Eschatologie aufnehmen? In Bezug auf das Christusgeschehen stellt sich die Frage: ist es möglich, den Tod und die Auferstehung Christi als Heilsereignis EN, Bd. XIV, S. 327. A.a.O., S. 328 – 329. A.a.O., S. 333: Tillich versteht die Entmythisierung als einen „notwendige[n] Prozess der Entdämonisierung und Christianisierung der Weltauffassung“. Das Entsagen jeder mythischen Tendenz, das Unbedingte in einer Art „Zwischenwelt“ zu fixieren, bedeutet ein einvernehmliches „nein“ gegen die Vorstellung, sich die göttliche Wirklichkeit als eine Seinssphäre neben oder über der unsrigen Welt vorzustellen. Vgl. Bultmann, R., Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung (Beiträge zur evangelischen Theologie. Theologische Abhandlungen. Begründet von Ernst Wolf, Bd. 96), 3. Aufl., München 1988, S. 15. A.a.O., S. 16.
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der gesamten Menschheit und meines individuellen Lebens zu denken, ohne dies in mythologischen Kategorien zu tun? Wie kann das Christusereignis als mich unbedingt angehend verstanden werden, wenn die Auferstehung vom modernen Menschen nicht mehr verstanden und angeeignet werden kann? Die Problematik bestehe darin, dass der Mensch unserer Zeit den Zusammenhang von Vergehen und Schuld so versteht, dass er sich selbst als verantwortlich für eine mögliche Schuld erachtet. Folglich sei es ihm nicht möglich, die Erbsündenlehre zu verstehen. Denn er kenne „Schuld nur als verantwortliche Tat.“ Auch „die Lehre von der stellvertretenden Genugtuung durch den Tod Christi“ müsse ihm folglich fremd bleiben.³⁸¹ Deshalb gebe es nur zwei Möglichkeiten: Entweder die gesamte Mythologie des Neuen Testaments muss verworfen oder in ihrer Gesamtheit bejaht werden. Eine teilweise Entmythologisierung ist laut Bultmann nicht vertretbar. Daraus ergibt sich jedoch hinsichtlich der zentralen Botschaft des Neuen Testaments, des sog. Kerygmas bzw. der Inkarnation Gottes in Christus, ein Problem. Denn Jesu Verkündigung dürfe nicht als „bloße Mythologie“ beseitigt werden.³⁸² Der Kerygma-Charakter des Neuen Testaments ist nach Bultmann in jedem Fall zu erhalten. Deshalb stellt sich für ihn die Frage, ob „[…] es eine entmythologisierende Interpretation geben [kann], die die Wahrheit des Kerygmas als Kerygma für den nicht mythologischen Menschen aufdeckt.“³⁸³ Für Bultmann ist die Lösung des Problems darin gegeben, dass das Wesentliche der zentralen Botschaft nicht auf historischen Tatsachen gründe, sondern in der überzeitlichen Präsenz Gottes im gepredigten Wort bestehe – so, wie es in der frühchristlichen Gemeinde und auch heute noch verkündigt wird. Im Zentrum stehe dabei nicht der Mythos, sondern die heilende Botschaft der Auferstehung. Unter Absehung vom Historischen gesteht Bultmann der Auferstehung folglich eine andere Wahrheit zu: Beispielsweise möchte er den Begriff Fleisch nicht im Sinne von „Körperlichkeit und Sinnlichkeit“ verstanden wissen. Vielmehr bedeute Fleisch das Vertrauen des Menschen auf das ihm Gegebene, auf eine „falsche“ Sicherheit, die ihm endliche Dinge suggerieren würden. Nach dem Fleisch leben (und damit sündig leben) bedeute dann, in sich selbst und der Welt eine vermeintliche Sicherheit zu sehen.³⁸⁴ Durch dieses Festhalten an sich selbst entstehe jedoch eine „Knechtschaft der Angst“, die in dem Gefühl begründet liege, dass dem Menschen „alles, auch sein eigenes Leben, entgleitet“. Die Teilhabe an Kreuz und Auferstehung durch die Verkündigung des Wortes befreie den Menschen jedoch aus dem Kreisen um sich selbst und seine Welt. Auferstehung meint dann den Akt der
A.a.O., S. 19. Vgl. A.a.O., S. 26 f. A.a.O., S. 28. Vgl. A.a.O., S. 33.
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Befreiung des Menschen aus der nur scheinbaren Sicherheit, die ihm die materielle Welt verschafft. „[E]in echtes Leben des Menschen [wäre] dasjenige, das aus dem Unsichtbaren, Unverfügbaren lebt, das also alle selbstgeschaffene Sicherheit preisgibt“, was eine „Wegwendung des Menschen von sich selbst“, ein „Verzicht, sich selbst seine Geltung und sein Leben zu gewinnen“, bedeuten würde. Dies meine ein „Leben nach dem Geist im Glauben“. Bultmann schlussfolgert weiter: „So existieren aber heißt: eschatologisch existieren; ein ‚neues Geschöpf’ sein (2. Kor. 5,17).“ Durch Teilhabe an diesem geistigen Leben als vermittelt durch den Heiligen Geist verwirkliche sich gleichsam das Reich Gottes. Mit dieser existentiellen Interpretation von Auferstehung geht Tillich konform. Auch er plädiert dafür, dass „die Glaubensentscheidung […] nicht ein für allemal vollzogen [ist], sondern sie ist jeweils in der konkreten Situation zu bewähren, indem sie neu vollzogen wird.“ Im konkreten Ergriffensein von der Botschaft des Neuen Testaments, von dem in der Verkündigung gepredigten Wort, vollziehe sich die Wahrheit immer als konkrete Tat bzw. als ein ständiges „Unterwegssein zwischen dem ‚noch nicht’ und dem ‚doch schon’“, als ein ständiges „Jagen nach dem Ziel“.³⁸⁵ Die Teilhabe am Glauben ist folglich nach Bultmann nichts Mirakulöses. Doch in welchem Verhältnis steht nun dieser Glaube zum Heilsgeschehen in Christus? Ist „das christliche Seinsverständnis vollziehbar […] ohne Christus“³⁸⁶? Bultmann verneint dies, indem er aufzeigt, dass der Mensch nach neutestamentlichem Verständnis zu seiner Eigentlichkeit bzw. Natürlichkeit, also zu dem, was seinem eigentlichen Wesen angemessen ist, erst durch den befreienden Glauben an Christus komme. Die Frage, ob der Glaube eine natürliche Haltung des Menschen sei, die auch ohne Offenbarung offengelegt werden könne, wird von Bultmann nur teilweise bejaht. Zwar sei Glaube eine natürliche Haltung, allerdings könne die Natur des Menschen und dessen Freiheit nur durch die erlösende „Heilstat Gottes“ bewirkt werden. Sie stehe ihm also nicht jederzeit frei zur Verfügung und könne nicht durch ein bloßes „Aufweisen der ‚Natur’ des Menschen“ herbeigeführt werden. Bultmann schlussfolgert: Das Neue Testament „[…] behauptet, daß sich der Mensch von seiner faktischen Weltverfallenheit gar nicht frei machen kann, sondern durch eine Tat Gottes frei gemacht wird; und seine Verkündigung ist nicht eine Lehre über die ‚Natur’ des Menschen, sondern eben die Verkündigung dieser frei machenden Tat Gottes, die Verkündigung des in Christus vollzogenen Heilsgeschehens.“³⁸⁷ Der Sinn des Christusgeschehens ist nach Bultmann also dadurch entmythologisiert, dass er es als befreiende Tat
A.a.O., S. 34 ff. A.a.O., S. 39. A.a.O., S. 44 f.
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Gottes versteht, als die Erkenntnis, dass der Mensch „sein eigentliches Leben nur in der Hingabe [hat]“, die er aber nicht realisieren kann. „[S]ein eigentliches Leben [wird nur dann] faktische Möglichkeit für ihn, wenn er von sich selbst befreit wird.“ Und weiter: „Das in Christus sich ereignende Geschehen ist also die Offenbarung der Liebe Gottes, die den Menschen von sich selbst befreit zu sich selbst, indem sie ihn zu einem Leben der Hingabe im Glauben und der Liebe befreit.“ Wenn jedoch davon ausgegangen wird, dass wir zur Hingabe an Gott dadurch befreit sind, dass er sich selbst in Christus für uns hingegeben hat, so bleibt zuletzt die Frage offen, ob dies nicht auch als mythisches Ereignis interpretiert werden muss und damit also der „Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung eine Grenze gesetzt ist […]“.³⁸⁸ Die Lösung liegt für Bultmann darin begründet, dass er die Kreuzigung nicht als einen mirakulösen geschichtlichen Akt im Sinne einer übernatürlichen Handlung Gottes an Christus versteht, sondern als ein Geschehen, dessen Aktualität und Heilswirkung sich durch die Teilhabe des Menschen am Kreuz vollzieht. Das bedeutet konkret, dass sich der Mensch symbolisch mit Christus kreuzigen lässt. Deshalb sei „[d]as Kreuz als Heilsgeschehen“ kein „isoliertes Ereignis, das an Christus […] passiert ist, sondern dieses Ereignis hat in seiner Bedeutung ‚kosmische’ Dimension.“ Und weiter: „[…] es ist das eschatologische Ereignis in der Zeit und jenseits der Zeit, sofern es, in seiner Bedeutsamkeit verstanden und d. h. für den Glauben, stets Gegenwart ist.“ Damit wird die verobjektivierende Vorstellung des Neuen Testaments, dass ein „präexistente[r], Mensch gewordene[r] Gottessohn [gekreuzigt wurde], der als solcher sündlos war“ und dass er das Opfer darstellt, „dessen Blut unsere Sünden sühnt“, indem er „stellvertretend die Sünde der Welt“ trägt, entmythologisiert und existentiell interpretiert. Gleichzeitig ist folglich das Kreuz Christi „[a]ls Heilsgeschehen […] kein mythisches Ereignis, sondern ein geschichtliches Geschehen, das in dem historischen Ereignis der Kreuzigung von Nazareth seinen Ursprung nimmt.“ Geschichtlich bedeutsam sei also nicht, dass in Christus Gott inkarniert ist und sich hier ein mythischer göttlicher Eingriff vollzogen habe, sondern von Bedeutung sei die neue geschichtliche Situation, die nicht schon durch den Opfertod Jesu selbst hervorgerufen sei, sondern erst durch die „Verkündigung des Kreuzes als des Heilsereignisses“ durch diejenigen, die an Christus glauben. Damit trete auch die Bedeutung des historischen Jesu in den Hintergrund. Denn aus ihm „kann sich uns die Bedeutung des Kreuzes [nicht] erschließen; für uns ist [das Kreuz] als Ereignis der Vergangenheit kein Ereignis des eigenen Lebens mehr; wir wissen von ihm als historischem Ereignis nur durch historischen Bericht.“ Zudem wird „der Gekreuzigte im Neuen Testament ja auch
A.a.O., S. 50 ff.
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gar nicht [so] verkündigt, daß sich der Sinn des Kreuzes aus seinem historischen […] Leben erschlösse; sondern er wird verkündigt als der Gekreuzigte, der zugleich der Auferstandene ist.“ Kreuz und Auferstehung bilden als kosmisches Geschehen eine Einheit. Sie stellen das zentrale christliche Ereignis dar, welches die „Möglichkeit echten Lebens“ schafft.³⁸⁹ Damit sei die Auferstehung auch kein den Tod Jesu beglaubigendes Mirakel, sondern selbst Gegenstand des Glaubens. Sie sei der Glaube an das Kreuz als Heilsereignis.³⁹⁰ Was den Glauben hervorrufe ist nicht ein sich auf historischen Fakten gründendes mirakulöses Ereignis, sondern „Christus, der Gekreuzigte und Auferstandene, begegnet uns im Worte der Verkündigung, nirgends anders. Eben den Glauben an dieses Wort ist in Wahrheit der Osterglaube.“ Durch diesen Glauben an Christi Tod und Auferstehung als eines Heilsereignisses werde uns gleichzeitig die Möglichkeit des Verständnisses unserer selbst eröffnet. Das einzige wirklich verifizierbare historische Geschehen sei die Entstehung dieses Glaubens an den Auferstandenen, in dem die Verkündigung ihren Ursprung hat. Nur „[I]m Erklingen des Wortes werden Kreuz und Auferstehung Gegenwart, ereignet sich das eschatologische Jetzt.“ Wie für Tillich hat also auch für Bultmann das historische Ereignis der Kreuzigung und Auferstehung der Person Jesu von Nazareth nur die Bedeutung, dass das Geschehen um die Person Jesu von Nazareth zum Anlass des Glaubens der Jünger und Apostel geworden sei und sich erst nachösterlich dieses Ereignis als Heilsereignis durch den Heiligen Geist im Glauben an Tod und Auferstehung Christi vermittelt habe. Damit sei Gott nicht in die Person Jesus von Nazareth inkarniert, sondern das wirkliche Handeln Gottes am Menschen geschehe erst im Glauben an das Christusereignis. Dieses Glaubenserzeugnis könne jedoch als eine wirkliche sich durch den Geist vermittelnde Heilswirkung Gottes verstanden werden, als ein reales Geschehen Gottes am Menschen. Und so bleibe, laut Bultmann, nur für denjenigen ein „mythologischer Rest“, der „[…] es schon Mythologie nennt, wenn von Gottes Tun, von seinem entscheidenden eschatologischen Tun, die Rede ist“.³⁹¹ Dieses eschatologische Tun als das Wirken Gottes vollziehe sich jedoch erst im Moment des Glaubens. Damit bedeutet Offenbarung für Bultmann die Entstehung des Osterglaubens der Jünger. Über Gott lasse sich gleichsam nur sagen, was er am Menschen tut, und nicht, wie er an sich ist. Im Unterschied zu Tillich vermittelt sich das Heilsgeschehen nach Bultmann im gepredigten Wort, während bei Tillich das Symbol zum Ort der Vergegenwärtigung des Göttlichen avanciert. Versteht man jedoch das Symbol ebenfalls als Wort Gottes, indem die Rede von Gott stets
A.a.O., S. 54 ff. Vgl. A.a.O., S. 57 ff. Vgl. A.a.O., S. 61 ff.
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in Symbolen erfolgen muss, so können Bultmann und Tillich als konsensuell gelesen werden. Entmythologisierung zielt bei Tillich im Wesentlichen auf eine Befreiung des Christussymbols von für gültig und wahr erachteten mythischen Einkleidungen, an denen die moderne, historische Auslegung der Evangelien notwendig scheitern müsse. Zu den mythischen Inhalten zählt er die Vorstellung von der Enderwartung, die Wundergeschichten sowie die Geburt und Auferstehung Jesu. Während Tillich Wunder und Legenden aus der dogmatischen Betrachtung ausschließt, sieht er in der Enderwartung, die den „Mittelpunkt der neutestamentlichen Verkündigung“ bildet, die Verkündigung des Verhältnisses von Ewigkeit und Zeit als aktuelle konkrete Situation“ repräsentiert. In dieser Hinsicht, als „Betrachtung der Wirkung Jesu“ könne sie dogmatischer Inhalt werden. Der Mythos der Geburt und Auferstehung Jesu wird von Tillich zwar in die Dogmatik aufgenommen, insofern als Tod und Auferstehung Jesu Christi die zentralen Inhalte der Dogmatik bilden, allerdings werden sie nicht als „Geschichten“, sondern als Ausdruck des „Wesens der vollkommenen Offenbarung“ betrachtet. Aus dieser Perspektive wird nach der Bedeutung und Gegenwärtigkeit der Mythen gefragt, danach, was sie uns heute sagen. „Das bedeutet aber: In welchem Sinne ist er [der Mythos] Ausdruck dessen, was für uns Heil ist? Inwieweit ist Auferstehung des Christus, des Trägers der vollkommenen Offenbarung, ein Element der vollkommenen Offenbarung selbst?“ Im Vordergrund steht also nicht der Inhalt der Mythen bzw. das, was sie über die Person Jesus von Nazareth aussagen; vielmehr werden sie in ihrer Funktion als „Symbole für die Anschauung des Unbedingt-Seienden“, als „symbolische Hinweise auf die Art und den Charakter des Heils“ betrachtet.³⁹² Das Christusbild symbolisiert für Tillich weder einen reinen Mythos, noch etwas rein Historisches, sondern wird von ihm als „ein Drittes“ beschrieben, „was sich ergab, als das Mythische auf das Historische traf.“ Indem es „zwischen mythischer Form und empirischer Tatsache“³⁹³ stehe, nehme es zwar mythische und historische Momente auf, sei jedoch gleichzeitig auch frei von ihnen. Seine Souveränität gegenüber aller mythischen und historischen Erkenntnis, die das Christusereignis wiederum auf etwas Empirisch-Gegebenes fixieren würde, zeichne seine besondere Qualität gegenüber der dämonischen Verzerrung einer Offenbarung aus. Im Christusbild vereinigen sich zwar „historische, legendäre, apologetische, kultische [und] mythische Elemente“, die allerdings relativ und
EN, Bd. XIV, S. 338. ebd.
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erschöpflich und demnach für den Glauben und die Rechtfertigung unerheblich seien. Unerschöpflich und demnach entscheidend sei jedoch das durch dieses Mythische hindurch uns ergreifende Unbedingte. „Das, wodurch das Christusbild Medium ist für unser Ergriffensein im Zentrum, darauf kommt es an. Der Mythos ist uns fremd. Die Historie ist uns unbekannt. Dazwischen steht unsre eigenste religiöse Wirklichkeit“³⁹⁴, die von dem Christusbild als dem Dritten sinnbildlich verkörpert wird. „[I]in diesem Dritten stehen wir; es ist unsere Vergangenheit, unsere Gegenwart; das, was uns geformt hat“.³⁹⁵ Indem Christus also als Abbild unserer religiösen Wirklichkeit fungiere, sei eine Identifikation zwischen ihm und dem Menschen ausgesagt. Das Christussymbol liefere uns die Inhalte einer vollkommenen Offenbarung, die vom Menschen als unbedingt angehend aufgenommen werden können, da er in ihm seine eigene religiöse Wirklichkeit ausgedrückt findet. Obwohl die Frage nach der tatsächlichen Existenz der historischen Person Jesus von Nazareth, an der sich das Christusbild entzündet hat, für Tillich für die Entwicklung des Glaubensurteils, dass in Christus die göttliche Wirklichkeit auf die Erde gekommen ist, unerheblich ist, spielt das Symbol der Persönlichkeit, die dem Heilsträger notwendig zukommen müsse, dennoch eine entscheidende Rolle. Im Christusbild sei notwendig die Beziehung auf einen Menschen enthalten, da der Durchbruch nur als „persönliche Tat […] Überwindung des Dämonischen sein“³⁹⁶ könne. Damit ist jedoch nicht gemeint, dass in Christus als historischer Person die Wesenswidrigkeit tatsächlich bzw. empirisch überwunden werden muss (was voraussetzen würde, dass Gott tatsächlich in den Menschen Jesus von Nazareth inkarniert wäre), sondern lediglich, dass das Moment der Persönlichkeit in die Vorstellungswelt der Menschen Einzug erhalten muss, da sonst keine Identifikation mit dem Christussymbol möglich wäre. Das Moment des Persönlichen gelte als unentbehrliches Charakteristikum des Christusbildes und wird als notwendiges Kriterium der Aufnahme der vollkommenen Offenbarung erachtet, da es die Überwindung der Wesenswidrigkeit indizieren soll. Die Wesenswidrigkeit könne jedoch nur durch einen geistigen Akt überwunden werden, da sie die Tätigkeit des Menschen einschließe, welcher aktiv die Sünde überwindet – so, wie er sich im Stand der Wesenswidrigkeit auch aktiv gegenüber Gott verschließt.
Ebd. A.a.O., S. 334. A.a.O., S. 322.
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Nur in einem geistigen Wesen könne es überhaupt erst zum Abfall von der ursprünglichen Einheit mit Gott, dem Überschreiten des Zustandes der Unmittelbarkeit (Natur) und der Selbstbemächtigung unter Missachtung der seinshaften Verbindung mit dem Unbedingten kommen. Denn „nur in der Sphäre des Geistes [sei] ein Abbilden der Klarheit Gottes möglich […]“³⁹⁷, die in der Wesenswidrigkeit missachtet wird. Das Wesen der Sünde ist nach Tillich folglich dadurch gekennzeichnet, dass im Menschen die ihn tragende göttliche Tiefe hervorbricht und sich dabei „gegen die göttliche Klarheit“³⁹⁸ stellt. Unter der Klarheit Gottes versteht Tillich Gottes „Ungespaltenheit in sich und die Ungespaltenheit in mehrere göttliche Wesen.“³⁹⁹ Sie ist Ausdruck seiner Aseität. Indem der Mensch an Gottes Klarheit teilhat, ist es ihm möglich, sich von seiner Umgebung abzugrenzen und zwischen Innen- und Außenperspektive zu differenzieren. Nur so kann er sich dem Unbedingten gegenüber verhalten bzw. mit ihm in eine Beziehung treten. Die Wesenswidrigkeit der Sünde äußere sich so, dass der Mensch sich selbst „Unbedingtheit auf dem Boden der Kreatürlichkeit“ aneignen möchte, um dadurch einen „Seinsmangel“ auszugleichen, der ihm als Existierender im Bewusstsein des Todes und der eigenen Endlichkeit – was immer eine Beschränkung bedeutet – zukommt.⁴⁰⁰ Der Mensch, der so sein möchte wie Gott, missachte die Ungespaltenheit (Klarheit) und Verschlossenheit Gottes, indem er sich selbst zum Gott erhebe. Dieses Suchen eines Sinnes in sich selbst, das sich als Selbstbezogenheit bzw. Hybris äußere, ist nach Tillich das Wesen der Sünde. Ihre Voraussetzung ist also die „Selbstheit“ der Kreatur, die mit der Existenz an sich gegeben ist: „Jedes Sein hat ein Für-Sich, es hat irgendwie Teil an der Selbstmächtigkeit des unbedingten Seins. Es hat einen Punkt, wo es nicht mehr bedingt ist durch anderes.“ Diese Form von Selbstbestimmung sei im Stand der Sünde jedoch in absolute Selbstliebe depraviert, die eine „Absonderung von Gott“ bedeute und damit nicht die wahre Bedeutung von „Liebe“ erfülle.⁴⁰¹ Geistigkeit bzw. Persönlichkeit setze also stets Selbstbestimmung und Freiheit voraus, was zudem ein Verhältnis des eigenen Selbst zu anderem inkludiere. Indem die Möglichkeit des In-VerhältnisSetzens gegeben ist, sei es dem Menschen auch möglich, sich gegenüber der Gemeinschaft mit anderem (also auch mit Gott) abzusondern und sich selbst „über die schöpferische Macht“ und „über das andere Selbst“ zu erheben, dieses zu „vergewaltigen“.⁴⁰² In der späten Systematischen Theologie wird die Teilnahme
A.a.O., S. 322. A.a.O., S. 179. A.a.O., S. 150. A.a.O., S. 178. A.a.O., S. 179. A.a.O., S. 182.
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an Gottes Klarheit als Zentriertheit des Menschen gefasst. Aufgrund der Selbstzentrierung sei es dem Menschen möglich, „sich selbst und seine Welt zu transzendieren, auf beides hinzuschauen und sich selbst als Zentrum anzusehen, in dem alle Teile seiner Welt konvergieren.“⁴⁰³ Vollkommene Zentriertheit im Sinne von Selbstbewusstsein ist nach Tillich ein Ermöglichungsgrund von Sünde und Signum der Entfremdung des Menschen von seinem Seinsgrund, indem der Mensch sich selbst zum Zentrum der Welt erhebt. „Diese strukturelle Zentriertheit verleiht dem Menschen seine Größe und Würde und macht ihn zum ‚Ebenbild Gottes’.“⁴⁰⁴ Gleichzeitig könne auch nur in der geistigen Sphäre „das Unbedingt-Seiende in seinem Charakter als unbedingte Forderung, als unausweichlicher Anspruch“ erfahren werden und sich folglich „auch nur im Geistigen das Wesenswidrige vollenden […]“.⁴⁰⁵ Es wird also ein Zusammenhang zwischen dem Streben nach der Erfüllung der unbedingten Forderung und der Vollendung der Wesenswidrigkeit behauptet. Dies lässt sich so erklären: Tillich charakterisiert in seiner Sündenlehre die oben beschriebene Selbstmächtigkeit bzw. Hybris (Selbstüberhebung) des Seienden, die durch die „Teilnahme an der Klarheit Gottes“ ermöglicht wird, als „Tendenz des Selbst auf das Gesetz“.⁴⁰⁶ Das Unbedingte kann dem Menschen nur deshalb als Forderung gegenübertreten, da der Mensch an Gottes Klarheit partizipiert, durch welche er Selbstzentrierung erhält. Nur, indem der Mensch sich selbst zum Zentrum seiner Selbst und der Welt erheben kann, ihm dadurch gewahr wird, dass er potentiell frei und „an keine spezielle Situation oder einer ihrer Elemente gebunden ist“⁴⁰⁷, ist es ihm auch möglich, sich in der Zuwendung zu sich selbst, die Tillich als Hybris beschreibt, von Gott abzuwenden. Der sich von seinem Seinsgrund isolierende Mensch versucht seinen Halt in von ihm selbst geschaffenen Gesetzen zu finden, durch die er seine Freiheit und Autonomie zum Ausdruck bringt. Er versucht so, durch die Tendenz zur unbedingten Forderung (der Richtung auf eine „universale Form“) seinen Sinn im autonomen, selbst geschaffenen Gesetz zu finden. Dieses stellt für ihn die Möglichkeit dar, „auf dem Boden des Selbst die Unbedingtheit zu haben“⁴⁰⁸. Das Gesetz, die unbedingte Forderung, sei lediglich Symptom der Selbstliebe des Menschen. Gesetzlichkeit wird auf diese Weise von Tillich als eine Seite der Sünde verstanden. Anders gesagt, dient das Gesetz für den sich von Gott in seiner Selbstheit isolie-
ST II, S. 57. Ebd. EN, Bd. XIV, S. 182. A.a.O., S. 188. ST II, S. 58. EN, Bd. XIV, S. 189.
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renden Menschen als „Mittel […], mit dem das Selbst sich [zur Selbstheit] erhebt.“ „Die unbedingte Forderung an das Seiende nimmt ihm seine Unmittelbarkeit. Der Gehorsam gegen das Gesetz fügt das Selbst ein in den Zusammenhang der Welt. Das Selbst wird seiner selbst oder seines Selbst mächtig durch die gültige Form. Die geistige Sünde aber ist die, daß diese Form sich loslöst vom schöpferischen Grund […].“⁴⁰⁹ Das Gesetz wird zur Form der autonomen Machtausübung und Selbstbestimmung. Da der Mensch jedoch die unbedingte Form nicht erlangen kann, müsse er notwendig an sich selbst scheitern: Er kann nicht wie Gott selbst Schöpfer sein, da er sich letztlich in seinem Fürsichsein, in absoluter Einsamkeit wiederfindet. Kein endliches Gesetz könne ihm unbedingten Halt geben, am Ende sei er allein. In der Isolation werde die Begrenzung des eigenen Lebens als „Todesgrauen“ erfahren.⁴¹⁰ Indem der Mensch als freies geistiges Wesen über die Möglichkeit der „Seinsverfehlung“, der Abwendung von Gott und der Zuwendung zu sich selbst, verfügt, bedeute Erlösung hingegen ein Durchbrechen dieser Selbstbezogenheit. Das Wesen der Sünde könne sich also nur in einem geistigen Wesen vollenden. Denn Selbstzentriertheit und Ichbezogenheit seien Voraussetzung dafür, dass sich das Selbst gegenüber Gott verschließen und selbst zur Unbedingtheit erheben könne. Folglich müsse die Offenbarung den Widerstand in der persönlichen Sphäre brechen, um das Wesen der Sünde brechen zu können. Und insofern, als Offenbarung sich nur innerhalb von geschichtlichen Zusammenhängen ereignen, da sie nicht unvermittelt, also supranaturalistisch, in das Bewusstsein einbrechen könne, sondern einer Vorbereitung bedürfe, in welcher sich das Bewusstsein hin zur Bereitschaft der Aufnahme entwickelt, sei der eigentliche Ort der Geschichte der Geist. „Eine Offenbarung, die in irgendeiner unterpersönlichen Sphäre erschiene, würde den Widerstand in der persönlichen Sphäre nicht brechen können, würde Tendenz, Hinweis aber nicht Verwirklichung sein.“⁴¹¹ Das Christus-Bild müsse also notwendig das Moment der Persönlichkeit enthalten. Doch bei Tillich muss die Überwindung der Wesenswidrigkeit nicht geschichtlich real in Jesus von Nazareth (als Inkarnation Gottes) geschehen. Realität kommt der Überwindung der Sünde dadurch zu, dass sie sich in der Aufnahme des Christusereignisses durch die Jünger vollzieht. Darin besteht auch ihre Geschichtlichkeit. Nicht das Unbedingte selbst, das Durchbrechende ist in seinem Durchbruch geschichtlich (sich bewegend), sondern zum einen die unmittelbare Selbstbestimmung als negierte, zum
A.a.O., S. 182. A.a.O., S. 188. A.a.O., S. 150.
2.5 Christus als Realisierungsort der vollkommenen Offenbarung
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anderen die Realisierung des Getragenseins und der Teilhabe in der schöpferischen Selbstbestimmung zum Unbedingten hin. Das Unbedingte geht in die Geschichte ein, indem es die Beziehung des geschichtlich Seienden zu ihm als übergeschichtlich sichselbstgleichen ermöglicht – als Durchbruch der Wahrheit des Getragenseins. Zwar ist die entsprechende ‚Gemeinschaft’ geschichtlich, doch fällt deren Geschichtlichkeit nicht auch auf die Seite des Unbedingten.⁴¹²
Nicht die historische Person Jesus von Nazareth überwindet in sich selbst die Wesenswidrigkeit, indem dies wirklich als göttlicher Vollzug in Christus in Form einer Selbstvermittlung von Gottes Lebendigkeit gedacht wird, die in dessen Kreuzestod als eines wirklichen – und damit notwendig mythisch-mirakulösen – Sterbens Gottes kulminiert. Vielmehr vollzieht sich die Überwindung der Wesenswidrigkeit dadurch, dass die Jünger – veranlasst durch die im Christusbild enthaltenen Elemente – durch das Vorbild des Christusbildes der Sünde widerstehen. Dieser im Erkenntnisakt (im symbolischen Akt) sich vollziehende Vorgang der Überwindung der Wesenswidrigkeit entspricht der Vorstellung, dass die „Sünde […] Dämonisierung Gottes im Bewußtsein des Sünders“⁴¹³ ist. Die vollkommene Offenbarung ereignet sich also komplementär zum Sündig-Werden als Vorgang im Bewusstsein des Menschen.⁴¹⁴ Sie kann sich ereignen, da dem Menschen im Christusbild das wesenhafte Bezogen-sein auf Gott angezeigt wurde. Es ist Kleffmann darin zu folgen, den „Geltungsanspruch des Bildes […]“ als einen nur „noetische[n]“ zu interpretieren, anstatt ihn als „die Kondeszendenz Gottes in das geschichtliche Leben“ zu denken.⁴¹⁵ Das, was durch das Christusbild aufgezeigt wird, ist das immer schon durch die Schöpfung Währende: In der Heilsoffenbarung in Christus wird dem Menschen erst die ursprüngliche Selbstbezeugung Gottes in der Grundoffenbarung gewahr. Im Durchbruch erkennt sich der Mensch als schon immer mit Gott in Verbindung Stehender, was ihm im Zustand des In-sich-selbst-Verkehrtseins bisher verschleiert war. Es wird also in Christus nichts Neues verkündet – und auch das ist für das Verhältnis des Christentums zu den nicht-christlichen Religionen von Bedeutung – sondern in ihm vermittelt sich die Wahrheit eines jeden Menschen, um die jeder Mensch bereits durch das Stehen in der Grundoffenbarung weiß. Andererseits erschöpft sich das Christusbild nicht nur in seiner Hinweisfunktion. Dann würde es das bedeuten, was z. B. Bultmann gerade ablehnt, dass der Mensch allein durch das Aufzeigen seiner
Kleffmann, T., Nietzsches Begriff des Lebens und die evangelische Theologie, S. 452. EN, Bd. XVI, S. 177– 179. Vgl. Kleffmann, T., Nietzsches Begriff des Lebens und die evangelische Theologie, S. 439: „Der Offenbarungsdurchbruch bedeutet nur die menschliche Erkenntnis der Wesenhaftigkeit Gottes, nicht auch diese als Selbstvermittlung.“ EN, Bd. XIV, S. 448.
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wahren Natur zu seiner Eigentlichkeit vordringen kann. Denn damit käme der Mensch zu seiner Wahrheit allein durch sich selbst und nicht durch eine Tat Gottes. Tillich muss aber so interpretiert werden, dass sich in der Offenbarung eine entscheidende Tat Gottes ereignet, nämlich die, die den Glauben durch den Heiligen Geist erzeugt. Zwar ist Gott in Christus nicht wirklich Mensch geworden, aber dennoch handelt er an den Jüngern und an allen Gläubigen, die das Christusereignis als existentiell angehend aufnehmen und als Heilstat Gottes am Menschen verstehen. Auch deshalb müsse das Heilssymbol, welches den Durchbruch verkörpert, über „den Charakter der Personenhaftigkeit“ verfügen, da es in Vorwegnahme den Prozess widerspiegelt, den der Mensch in Partizipation am Christusbild durchlaufen müsse, um den Widerspruch gegen Gott in sich zu brechen. Die Erkenntnis, im Unbedingten verwurzelt zu sein, als Reaktion auf das Scheitern des bedingten Sinnvollzugs sei nur als Bewusstseinsprozess eines denkenden, geistigen (und damit personenhaften) Seins möglich. Jesus nachzufolgen, würde dann bedeuten, dem „Wille[n] des Selbst zur Unbedingtheit“⁴¹⁶ zu widerstehen und in einen Willen zur Macht Gottes unter Achtung der Klarheit Gottes umzuformen. Voraussetzung zur Überwindung der Wesenswidrigkeit ist die Freiheit des Menschen, das Nicht-Gebunden-Sein an die seinshafte Unmittelbarkeit, sondern die Möglichkeit des Erhebens über die Sphäre des Unmittelbaren in die persönliche Geistigkeit. Ebenso wie diese Erhebung verfehlt werden kann, wenn sie in reine Selbsterhebung und Selbstverwirklichung bei gleichzeitiger Negation Gottes (was der Sünde entspräche) münden würde, könne sich gleichzeitig nur in ihr als einem Ort der Entscheidung auch das Heil ereignen. Dies erfolge, indem die „gemeinsame Wurzel“ von „Concupiszenz und Hybris, Begierde und Überhebung“, das „Mißtrauen gegen Gott“ im Zentrum der Persönlichkeit erschüttert und durchbrochen wird.⁴¹⁷ Dieser Prozess setzet einen freien, geistigen Akt des Menschen, eine Entscheidung, voraus. Folglich müsse auch „[d]er Ort, an dem wir die vollkommene Offenbarung anschauen, […] ein solcher [sein], an dem vollkommene Sinnerfüllung und Heilssicherheit das Wesen einer Persönlichkeit gestalten.“⁴¹⁸ Da bei Tillich die Historizität der Jesus-Figur der Wirkungskraft des ChristusBildes als eines Symbolträgers weicht, die sich zwar notwendig an dem Bild eines realen Menschen entzünden müsse, dessen Existenz oder Nicht-Existenz für die Kraft der von ihm ausgehenden Wirkung jedoch unerheblich sei, stellt sich un-
A.a.O., S. 184. A.a.O., S. 183. A.a.O., S. 342.
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weigerlich die Frage, wie das Eingehen des Tragenden in die Geschichte nach Tillich zu denken ist, wenn dies nicht die Inkarnation Gottes in einen wirklichen, empirischen Menschen bedeutet. Inwiefern lässt sich dann überhaupt noch von einem realen Geschehen sprechen? Das Wort „Christus“ steht bei Tillich … … nicht als Name für einen Einzelnen, nicht einmal notwendig als Bezeichnung eines Menschen, sondern nur als allgemeinste Bezeichnung einer Wirklichkeit, in der der Himmel auf die Erde kommt, in der das Unbedingte eingeht in die Geschichte, in der das Dämonische überwunden ist⁴¹⁹.
Und dennoch spricht Tillich von dem Christus-Bild als eines „Realbildes“ im Gegensatz zu einem rein abstrakten Idealbild. Zunächst lässt sich sagen, dass mit der Realität, die von diesem Bild ausstrahlt, nicht die Realität der Inkarnation bzw. Kondeszendenz Gottes gemeint ist, sondern „real verändert“ ist die Geschichte mit dem Erscheinen des Christus insofern, als die Wirkung dieses Bildes eine reale „Wandlung in der Existenz“ hervorrufe, die der Gläubige durch seine durch das Christusbild evozierte Offenbarungserschütterung erfährt und die Tillich „[…] als das messianische Sein bezeichnet […]“.⁴²⁰ Dies geschehe also nicht durch die Identifikation Gottes mit dem Menschen und dessen durch die Endlichkeit bewirkten Isolation und existentiellen Einsamkeit, sondern durch eine „Identifizierung des Christus mit einer Persönlichkeit.“⁴²¹ Dies wiederum setzt einen Erkenntnisakt des Menschen voraus, durch den diese Zuschreibung vollzogen wird. Die Realität der Vorstellung, dass Gott sich in Christus in unsere Situation herabgelassen hat, um an der Zweideutigkeit unserer Existenz, unserer Entfremdung vom Seinsgrund und dem in der Existenz wirkenden Leid zu partizipieren, vollzieht sich rein in der Erkenntnissphäre. Die Menschwerdung Gottes wird im Bewusstsein als Symbol vorstellig. Allein dass sich dieser Bewusstseinsvorgang im Menschen ereignet, kann dann als Kondeszendenz Gottes gedacht werden (als von Gott evoziert). Allerdings würde dies keine Herablassung Gottes in ein einzelnes Menschenleben bedeuten, sondern in den Erkenntnisakt eines jeden Christen. Im Moment unbedingten Betroffenseins von der in Christus repräsentierten Heilsbotschaft, die er als Zuspruch Gottes erfährt, reflektiert sich der Mensch als mit Gott in Einheit stehend, wird die ihm bereits durch die Schöpfung vermittelte Gottesbezogenheit gewahr, die ihm innerhalb der Zweideutigkeit der Existenz verschleiert war. In dieser Offenbarungserschütterung erlebt er die Verkehrtheit des sich gegen Gott isolierenden und sich selbst unbe-
A.a.O., S. 316. A.a.O., S. 336. A.a.O., S. 324.
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dingt setzenden Seins. Damit kann das Christussymbol als Resultat eines gläubigen Erkenntnisaktes verstanden werden, welcher „symbolkräftige[…] Worte für etwas Unfaßbares“⁴²² schafft. Demnach bleibt der Erkenntnisakt der primäre Ort der Vergegenwärtigung der göttlichen Wirklichkeit. Von Bedeutung für die Entstehung es Glaubensurteils ist demnach also lediglich die durch das Sein in Christus – verstanden als ein solches, in dem Heiligkeit und Ausstrahlung an Kräften des ‚Ganz-Anderen’ erlebbar„⁴²³ sind – transportierte Anschauung des Unbedingt-Seienden unabhängig von mythischen Elementen, die das biblische Jesusbild umkleiden. Nicht eine bestimmte „Funktion“ des Christusbildes steht im Vordergrund, sondern die Wirklichkeit, die mittels des Symbols des „Sohnes“ vermittelt wird, enthält nichts weiter als die Botschaft, dass in Christus „eine Beziehung Gottes zu einer einzelnen Wirklichkeit gedacht [ist], durch die ein neues Symbol entsteht.“⁴²⁴ Folglich lasse sich die Kategorie „Sohn Gottes“ nach Tillich auch nur „im Zusammenhang mit der Gottesfrage“ behandeln.⁴²⁵ Das, was im Vordergrund stehe, sei das „Ja“ Gottes an den Menschen, die Zusage zu seiner Kreatur. Insofern zeige das Christusbild an, dass Gott sich jedem Menschen in seinem individuellen Dasein zuwenden kann. Im Zentrum der Christologie steht demnach nicht die Frage nach den persönlichen Charakteristiken der Jesus-Figur, sondern ihr ist es primär darum zu tun, die von dem in Christus repräsentierten Sein ausgehende (nachösterliche) Wirkung aufzuweisen, die die entscheidende und heilsstiftende „Wandlung in der Existenz“ nach sich zieht.⁴²⁶ Das Christusbild dient dabei als Medium für unser Ergriffensein vom Unbedingt-Seienden und insofern entzündet sich an diesem Bild dieses Ergriffensein vom Unbedingten her. Das, was dabei erschüttert und umwendet, stammt also von Gott selber und wird vom Menschen durch das Christusbild als Medium vermittelt. Aus dem Vorangehenden lässt sich nun verstehen, was Tillich meint, wenn er das Christus-Bild als ein Realbild bezeichnet. Im Fokus steht dabei, dass es sich nicht um eine bloß abstrakte Idee ohne wirklichen Berührungspunkt mit unserer Existenz handelt (was eine Wandlung in der Existenz ausschließen würde), sondern dass es vielmehr als eine „existent gewordene Wirklichkeit“ zu verstehen ist, von der auch „die Wirkung einer existierenden Wirklichkeit“ ausgehe.⁴²⁷ Diese bestehe im Wesentlichen darin, „die Realität des wesenhaften Verhältnisses von
Ebd. A.a.O., S. 336. A.a.O., S. 337. Ebd. Ebd. A.a.O., S. 339.
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Unbedingtem und Bedingtem“⁴²⁸ zu vermitteln. Eine abstrakte Idee hingegen hätte nicht die Kraft zu einer „realen Umwandlung der Existenz“, insofern als ihr „unreale[…] Bilder und Anschauungen“ zugrunde liegen würden.⁴²⁹ Eine abstrakte Vorstellung von Gott sei – im Unterschied zu der uns in Christus direkt ansprechenden, da unsere menschliche Situation aufgreifenden Heilsbotschaft – reines Erzeugnis des Denkens und Resultat der Abstraktionsfähigkeit des Menschen ohne Berührungspunkt mit unserer Existenz. Schöpferische Kraft hingegen komme nur einem Symbol zu, welches den Kern der Existenz des Menschen, die Frage nach einem unbedingten Sinn, treffe und überwinde – dies sei die Angst vor dem Nichtsein, vor der Sinnlosigkeit und dem Tod. Realität komme dem Christusbild also nur in seiner Funktion als uns ergreifende Mitteilung zu. Die Realität entscheide sich nicht an der Frage, ob Gott als Mensch real war, sondern ob die Wirkung der im Glauben angenommenen Heilsmitteilung Gottes an den Menschen eine reale Wandlung in der Existenz hervorrufen konnte. Kritisiert werden kann die Theorie Tillichs dann, wenn die Umwandlung der Existenz, die durch das reale Christusbild als Eingriff in unsere Wirklichkeit gedeutet wird und die sich lediglich als ein Geschehen in uns, nicht jedoch ohne uns und außer uns vollzieht, lediglich Zeugnis des sich in seinem eigenen Sinnvollzug reflektierenden Individuums ist, ohne eine wirkliche Selbstkundgabe Gottes zu bedeuten. Dann würde das Christusbild zwar von einer Realität zeugen, die sich in der Aufnahme des Christusereignisses im Bewusstsein der Mitglieder der frühchristlichen Urgemeinde tatsächlich ereignet hat, diese bliebe jedoch ohne wirkliche Substanz und damit ohne Bedeutung für den heutigen Menschen, da sie lediglich eine psychologische Wirklichkeit der frühen Christen beschriebe. Dann würde das Christusbild wiederum nur in unserer Anschauung wirkliche Realität besitzen. Wenn Tillich davon spricht, dass das Christusbild aufgrund seiner unbedingten Gottverbundenheit durchweg menschlich im Sinne historisch-psychologischer Wirklichkeit sei, so muss davon ausgegangen werden, dass Gott sich also in der Psyche des Menschen, also in seine Erkenntnis offenbart. Wenn allerdings vorausgesetzt wird, dass Gott sich im Erkenntnisakt eindeutig offenbaren kann, wird gleichsam die symbolische Bedeutung des Christusereignisses obsolet, die ja stets nur indirekt von der Wirklichkeit Gottes zeugen kann. Wenn Gott, indem er sich als symbolisch vermittelt und damit einen direkten Zugang des Menschen zu Gott als dämonisch und pervertiert kennzeichnet, sich auf diese Weise im Symbol offenbaren kann, ist nicht einsichtig, warum sich dann – wenn es sich dabei um eine göttliche Offenbarung handelt – nicht ein
Ebd. Ebd.
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konkreteres Wissen um Gottes Realität erschließen könnte. Tillich enthält sich jedoch jeglicher Spezifizierung, die diese Realität expliziter beschreiben würde: „Wie freilich diese Realität aussieht und wie die Existenz umgestaltet ist, das wissen wir nur durch das Bild, d. h. wir wissen es nicht.“⁴³⁰ Folglich soll hier eine Umwandlung von einem Realbild ausgehen, über dessen Wirklichkeit jedoch nichts außer der Kraft seiner umwandelnden Wirkung ausgesagt werden kann. ⁴³¹ Eine weitere Kritik ist die mangelnde Unmittelbarkeit der Wirkung des Christus-Bildes. Die durch das Christusbild transportierte „numinose Fülle Jesu“ kann vom heutigen Standpunkt aus „nicht mehr in ihrer Unmittelbarkeit, sondern nur in ihrer Deutung“ erlebt werden. Folglich ist das biblische Christusbild stets schon deutungsimprägniert und geprägt durch die ursprünglichen und auch noch heute gegenwärtigen „Kategorien der Gemeindedeutung“.⁴³² Die sich im Christusbild ausdrückende „menschliche Realität“⁴³³ ist die Realität des Ergriffenseins des Menschen vom Unbedingten, wie sie sich u. a. in der Geschichte, z. B. im Urchristentum, manifestiert hat und an welcher die Menschen bis in die Gegenwart partizipieren.⁴³⁴ So hat sich der historische Ort, an welchem der ursprüng-
A.a.O., S. 340. Vgl. Kleffmann, T., Nietzsches Begriff des Lebens und die evangelische Theologie, S. 431: Auch Kleffmann kritisiert sowohl Tillichs Symbollehre als auch den Begriff der vollkommenen Offenbarung. Die christlichen Symbole, wie z. B. Gott als das Unbedingte (oder unbedingt Tragende) können nur Symbole für das im Glaubensakt gemeinte sein, was letztlich bedeutet, dass „ihre Bestimmung […] allein darin begründet [ist], daß im Offenbarungsdurchbruch nicht nur die endlichen Formen in ihrem ‚in sich selber Ruhen‘ negiert sind, sondern dass das Negierende als das ‚unbedingt Tragende‘ offenbar ist.“ Insofern bekommt das Negierte eine positive Bestimmung, die lediglich vorausgesetzt ist. Ich stimme Kleffmann darin zu, dass diese Voraussetzungshaftigkeit der Bestimmungen Gottes einen Mangel an Tillichs Symboltheorie darstellt. Tillichs Auffassung der „vollkommenen Offenbarung“ ist nach Kleffmann zu kritisieren, da „ihre Bestimmtheit als Offenbarung nicht Kondeszendenz [bedeutet], sondern, […] Hinweis auf das Tragen des an sich jenseitigen Unbedingten, wobei das Bewußtsein des Getragenwerdens sich als Bewußtsein der „Gegenwart des Unbedingten“ versteht.“ Nach Kleffmann ist damit aber das Wesen bzw. der „zentrale[…] Sinn der Christologie [verfehlt], daß Gott sich vermittels seiner ewigen Selbstunterscheidung mit der geschichtlichen Wirklichkeit des Menschen, genauer: mit dem Menschen in der Nichtigkeit seines (gottlosen) Fürsichseins, identifiziert.“ (A.a.O., S. 449). An anderer Stelle lautet es bei Kleffmann: „Bei Tillich kondeszendiert Gott als Schöpfungsmittler nicht, um sich bzw. die liebende Kondeszendenz zur sich im menschlichen Selbst zusammenfassenden Andersheit zugleich als Wesen Gottes und als Sinn, ursprüngliche und zukünftige Einheit der Schöpfung zu offenbaren. Der Offenbarungsdurchbruch bedeutet nur die menschliche Erkenntnis der Wesenhaftigkeit Gottes, nicht auch diese als Selbstvermittlung.“ (a.a.O., S. 439). EN, Bd. XIV, S. 336. A.a.O., S. 343. Vgl. Danz, C., Theologie als normative Religionsphilosophie, S. 101: Auch Danz hält fest, dass dem der Dogmatik zugrundeliegenden normativen Moment, welches gleichfalls deren Wahrheit
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liche Wandel stattgefunden hat (Jesus Christus), zu einem Kultbild fortentwickelt. Die Realität dieses Bildes ist allerdings lediglich bedingt durch die Kraft seiner Umwandlung in der Existenz und somit durch dessen Wirkung. Diese Wirkung hat sich in der Urgemeinde Ausdruck verschaffen und wenn Tillich von einem „außerordentlich[n] reale[n] Geschehen“⁴³⁵ spricht, so rekurriert dies auf das Ergriffensein der ersten Christen von dem sich durch Christi Auferstehung ereignenden Heils. Nur wenn dieses Ergriffensein wirklich vom Unbedingten evoziert worden ist, kann hier von einer eigentlichen Offenbarung gesprochen werden. Schließlich kann am Christusbild als eines scheinbaren Realbildes kritisiert werden, dass Tillich nicht die Ebenen seiner Argumentation explizit macht: Real ist das Christusbild nach Tillich lediglich hinsichtlich seines symbolischen Inhaltes. Das bedeutet konkret, dass nicht der vom Symbol verkörperten Wirklichkeit Realität zukommt, sondern lediglich der mit dem Symbol als Sinnbild assoziierten Wirkung. Diese allein in der Vorstellung gegenwärtige Wirklichkeit stellt sich dem Bewusstsein als eine Dialektik von konkretem und allgemeinem Moment in der Gottesbeziehung dar, indem sie eine Überwindung des Konkreten im Konkreten vom Allgemeinen her repräsentiert. Dieser Vorgang kann nicht anders als symbolisch erfolgen, da eine reale Überwindung das Auslöschen des empirischen Seins bedeuten würde. Somit erweist sich die Realität in einem symbolischen Akt des Konkreten, welches sich in der Gewissheit, von Gott ganz bejaht zu sein, als Konkretes symbolisch hinter sich lässt und sich in die Gottesgemeinschaft transzendiert. Damit ist die der Existenz an sich anhaftende Zweideutigkeit des Seins prinzipiell überwunden, da in der Existenz ein Symbol gefunden worden ist, welches zeigt, dass sich dem Bewusstsein ein Verständnis der unzweideutigen, und damit wahren, Gott-Mensch-Beziehung erschlossen hat. Diese Einsicht kann als göttliche Offenbarung gewertet werden. Sie ist insofern absolut, als der Mensch sich selbst als Absolutes verneint und dadurch allein auf Gott verweist. Allerdings – und an dieser Stelle erschließt sich die Widersprüchlichkeit der Tillichschen Argumentation – ist dieses Bild ob seiner in sich vereinten realen Momente selbst wiederum unreal und abstrakt. Tillich möchte sich allerdings gerade von der einer reinen Idee anhaftenden Abstraktheit abgrenzen. Dies ge-
bezeugt, die Aufgabe zukommt, „ein wahres geschichtliches Bewusstsein“ zu beschreiben. Aus dieser Bestimmung folgt die Charakteristik der Dogmatik als einer „reflexiv[en] Beschreibung der mit dem Glaubensvollzug verbundenen geschichtlichen Selbstdurchsichtigkeit des Bewusstseins.“ Da das religiöse Bewusstsein den kulturellen und religiösen Formen gegenüber eine dialektische Haltung einnehme, indem es diese zwar „negiert und andererseits sich gar nicht anders realisieren kann als unter Aufnahme dieser Formen“, könne Religion nicht nur als „Vollzugsform“ gedeutet werden, sondern auch als „das Bewusstsein um diese Dialektik“. (S. 98). EN, Bd. XIV, S. 343.
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lingt ihm jedoch nur teilweise. Denn sowohl der empirische und damit historische Jesus als auch der mythologisch durch die Ursprungsgemeinde vorgeprägte Christus dienen als Bildspender. Aus ihnen erwächst die Anschauung des uns heute gegenwärtigen Christusbildes. Das so entstandene Bild ist allerdings, insofern als es „nur“ Anschauung (also subjektives Urteil) ist, immer auch abstrakt und tritt zum Beispiel in Widerspruch mit anderen Anschauungen desselben Bildes. Tillich misst auch die Abstraktheit eines Symbols nicht an der Realität der hinter dem Symbol stehenden Wirklichkeit (diese kann abstrakt sein, indem sie nur in der Vorstellung real ist), sondern abstrakt ist eine Idee für ihn dann, wenn sie selbst kein Moment der Konkretion, keine Beziehung zur existentiellen Situation des Menschen, enthält. Das Christussymbol hingegen greift die existentielle Situation des Menschen auf; insofern eignet es sich als Identifikationssymbol. Die vom Christusbild repräsentierte Wirklichkeit steht für meine konkrete Wirklichkeit und zeigt den Weg meines Heils auf. Darin erweist sich seine Realität und Konkretheit. Und doch lässt sich entgegen Tillich urteilen, dass nicht der Bezug zur Lebenswelt des Menschen entscheidend dafür ist, ob ein Symbol als konkret gewertet werden kann, sondern auch der Vorstellungsinhalt müsste konkret sein. Im Vordergrund steht also die Funktion von Symbolen überhaupt. Und diese kann nur als abstrakt gewertet werden, wenn keine notwendige Beziehung zwischen Symbol und Objekt besteht. Meines Erachtens nach, gibt es also keine konkreten Symbole. Der Objektbezug bleibt stets abstrakt und spiegelt lediglich die mit einem Objekt assoziierten Inhalte wider, nicht jedoch den Gegenstand der Betrachtung selbst. Konkret ist das in Christus erschienene Sein nach Tillich lediglich, als es konkreten Einzug in die Vorstellungswelt der Menschen (z. B. der frühen Christen) gehalten hat. Auch ist sehr stark zu bezweifeln – auch wenn Tillich das anders sehen würde – dass sich eine Offenbarung Gottes in einem symbolischen Vollzug ereignen kann, wenn Symbole und die durch sie verkörperte Wirklichkeit stets nur abstrakt sind. Würde sich im Symbol wirklich Gott vergegenwärtigen, könnte man von einem realen Symbol sprechen. Aber dann wäre auch der Begriff „Symbol“ nicht mehr angemessen. Das Symbol würde sich selbst aufheben. Zuletzt enthält die Tillichsche Christologie noch eine Antinomie, die in der Bedeutung des Christusbildes für den individuellen Glauben besteht. Wenn angenommen wird, dass jede Religion – auch Unabhängig von ihrer Kenntnis des Christentums – im Prozess ihrer geschichtlichen Entwicklung zu einem Bewusstsein um die Kriterien einer vollkommenen Offenbarung gelangen kann, dann stellt sich freilich die Frage, welche Bedeutung das Christus-Bild noch für die Entstehung des Glaubens hat. Denn dann würde sich die Offenbarung Gottes allein im Erkenntnisakt (unabhängig vom Christusbild) des Menschen vollziehen und diese Erkenntnis würde dann das Prius der Christologie darstellen, während
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erst nachträglich und damit sekundär ein Symbol gefunden würde, welches dieser Erkenntnis entspricht. Das Christussymbol würde also nicht erst den Vorstellungsinhalt der vollkommenen Offenbarung liefern, sondern dieser wäre bereits im Erkennen antizipiert und würde sich erst nachträglich im Symbol des Christus bestätigen. Dieses wird dann nur deshalb als gültig angenommen, da es die sich bereits vorher im Erkennen erschlossen habenden Kriterien einer wahren, antidämonischen Gott-Mensch-Beziehung enthält. Im Falle der nicht-christlichen Religionen könnte das Symbol konkret ganz anders aussehen als die Figur Jesus von Nazareth, allerdings müssten in ihm dieselben Kriterien enthalten sein, die sich auch im Christussymbol wiederfinden lassen. Diese Annahme, dass sich ein Wissen um die im Christussymbol enthaltenen Kriterien auch unabhängig vom geschichtlichen Christus erschließt, kann aus zwei Gründen zurückgewiesen werden: zunächst würde unter dieser Voraussetzung die gesamte Symboltheorie Tillichs hinfällig. Wenn Gott sich dem Bewusstsein eindeutig erschließen lässt, muss dies nicht über die indirekte Weise eines Symbols erfolgen. Der nicht-symbolische Zugang zur göttlichen Wirklichkeit würde jedoch einer natürlichen Theologie entsprechen. Zweitens wäre das Christusbild dann wirklich rein abstrakt, da es sich nicht aus der Kontinuität der Offenbarungsgeschichte entwickeln würde, sondern jederzeit und an jedem Ort Einzug in das Bewusstsein des Menschen erhalten könnte. Auch wäre dann nicht verständlich, warum sich dem Menschen keine expliziteren, direkten Einsichten in die Realität Gottes erschließen würden. Es kann also nicht von einer außeroffenbarungsmäßigen Erschließungsfähigkeit Gottes die Rede sein. Dennoch wählt Tillich einen dritten Weg zwischen natürlicher Theologie (natürlicher, auf Basis der Vernunft gründender Gotteserkenntnis) und positiver Offenbarungstheologie (im Sinne einer wirklichen Inkarnation Gottes in die Geschichte). Die Erkenntnis Gottes aus der Vernunft des Menschen ist nur aus der Offenbarung Gottes zu verstehen. Es muss angenommen werden, dass Gott in den symbolischen Akt kondeszendiert und sich damit gleichzeitig in der Vernunft des Subjektes offenbart, die diesen symbolischen Akt vollzieht. Dabei handelt es sich um die sich selbst als Offenbarung bezeugende Schöpfung. Der Mensch als Geschöpf Gottes ist immer schon vernunftmäßig so ausgestattet, dass er Gott vernehmen kann, ein Organ für ihn hat, welches die Vernunft ist. Wozu dann das Christusereignis, wenn Gott sich direkt im symbolischen Akt offenbaren kann? Nicht in Christus, sondern in der Aufnahme des Christusereignisses durch die Jünger im Urchristentum hat sich erstmals in der Geschichte Gott im symbolischen Akt so offenbart, dass in einem einzigen Symbol die Gleichzeitigkeit von Protest und Realisierung, von Bejahung und Verneinung zum Ausdruck gebracht worden ist. Dieser Prozess konnte sich nur durch das überlieferte Christus-Bild entwickeln. Wenn allerdings nicht davon ausgegangen
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2 Der Vollkommenheitsanspruch der Dogmatik
wird, dass Gott wirklich Mensch geworden ist und sich aus dieser göttlichen Realität der Glaube entwickelt, dann muss die ursprüngliche bzw. originale Bezeugung Christi, die sich in der Vorstellung der Jünger ereignet hat, sich so vollzogen haben, dass sich Gott dort direkt im Bewusstsein der ersten Christen offenbart hat. Allerdings mussten diese auch dazu bereit sein, weshalb dem Christusereignis eine vorbereitende Periode (Religionsgeschichte) vorausgehen musste, die u. a. das messianische Bild, an dem sich die Offenbarung entzündet hat, generiert hat. Insofern hat sich auch die Offenbarung der ersten Mitglieder der urchristlichen Gemeinde nicht nur in einem einzelnen Bewusstsein erzeugt, sondern in einer Gemeinschaft, der eine Traditionsgeschichte vorausging. In der Nachfolge des ursprünglichen Kairos kann dieser Durchbruch durch Partizipation am Christusbild immer wieder neu erzeugt werden. Die abhängige Offenbarung entzündet sich dabei an dem ursprünglich überlieferten Christusbild. Dabei offenbart sich Gott dann im Akt der Aufnahme des Christusereignisses – unabhängig davon, ob Gott tatsächlich in Jesus von Nazareth gegenwärtig war. Gott muss nicht Mensch geworden sein, damit dies geschehen kann. Aber er muss in das Bewusstsein der Menschen eingegangen sein in Form des Christus-Bildes. Dieses führt zur Realität Gottes in der Art und Weise des Gerichtet-Seins des menschlichen Geistes (Aktes) auf das Unbedingte. Diese Gerichtetheit ist symbolisch. Für die nicht-christlichen Religionen kann der Durchbruch entweder durch Aufnahme des Christusbildes erfolgen, indem sie von diesem Bild erschüttert und umgewendet werden. Dies würde einer Bekehrung entsprechen. Oder sie müssten im Laufe ihres religionsgeschichtlichen Prozesses an den Punkt geführt werden, an dem sie Gottes Wirklichkeit – entsprechend der ersten Jünger – in einem sich in ihrer Tradition vorgeformten Symbol, welches sich auf einen historischen Träger beruft, widergespiegelt finden. Dieses Symbol müsste dann aber dieselben Kriterien wie das Christussymbol enthalten und würde ihm also inhaltlich entsprechen. Es würde sich dann im Bewusstsein der Menschen ebenso ein originaler, dem Durchbruch in Christus adäquater, Durchbruch ereignen. Aber unter der Voraussetzung, dass die nicht-christliche Religion nicht um das Christentum weiß, wäre er als original einzustufen. Andernfalls würde es sich um eine Bekehrung handeln.
3 Bestandsaufnahme II Im Folgenden soll das Verhältnis von Religionsphilosophie und Theologie zusammenfassend in seiner werkhistorischen Genese von 1913 bis in die 1920er Jahre dargestellt werden. Dadurch wird die Voraussetzung geschaffen, die Ergebnisse des religionsphilosophischen und theologischen Parts in ihrer korrelativen Verzahnung im Schlusskapitel (Teil IV) präsentieren und die eingangs aufgestellte Kernthese prüfen und weiterentwickeln zu können. Davon ausgehend lassen sich auch alle weiteren Thesen und Forschungsfragen beantworten. Die Kernthese dieser Arbeit setzte voraus, dass sich die Religionsphilosophie und Theologie Tillichs in den 20er Jahren in ihrem Korrespondenzverhältnis als verschiedene, sich gegenseitig bedingende und befruchtende Ausdrucksformen von ein und derselben Sache verstehen lassen: Sie bilden beide den Prozess göttlichen Wirkens in der Geschichte und am Menschen ab. Der Mensch ist bei Tillich das existentielle Zentrum, an dem sich die göttliche Wahrheit erfüllt und durch den Gott gleichzeitig gesetzt und realisiert wird. Dies lässt sich religionsphilosophisch und theologisch beschreiben. Keine der beiden reflexiven Möglichkeiten dieses Ausdrucks sind allerdings unabhängig vom existentiellen Ort der Teilhabe. Folglich gibt es keine neutrale Religionsphilosophie bei Tillich. Auch die Beurteilung außerchristlicher Religionen gelangt deshalb von beiden Standpunkten aus zu demselben Urteil. Zunächst soll die Beziehung von Religionsphilosophie und Dogmatik in Tillichs frühem System von 1913 betrachtet werden. Der Unterschied beider Disziplinen besteht darin, dass die Religionsphilosophie im absoluten bzw. intuitiven Standpunkt fundiert ist¹ und folglich die Einheit des Bewusstseins mit sich selbst und der absoluten Wahrheit voraussetzt, während der theologische Standpunkt das Differenzverhältnis zwischen Mensch und Absolutem an den Anfang stellt. Dabei wurde das Moment der Intuition in der Religionsphilosophie als Identität von Wahrheit und Denken im Prinzip des Denkens beschrieben. Dies bedeutet, dass zwar das Denken Gott als „absolute Wahrheit“ setzt, dieser Setzungsprozess jedoch nur deshalb stattfinden kann, da es gleichzeitig mit dem Absoluten in einem reziproken Korrespondenzverhältnis steht und aus diesem Identitätsverhältnis heraus lebt. Die intuitive Einheit von Denken und Wahrheit im Wahr-
Vgl. Danz, C., Theologie als normative Religionsphilosophie, S. 96 – 97: Auch Danz hält hier fest: „Sie [Die Religionstheorie] nimmt das erste Moment des theologischen Prinzips auf und entfaltet es als eine religionsphilosophische Theorie der Religion.“ Vgl. EN, Bd. IX, S. 316: Tillich hält fest, dass „es „in dem absoluten Standpunkt keine Theologie, sondern nur eine Religionsphilosophie“ gibt. https://doi.org/10.1515/9783110671759-009
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heitsgedanken setzt unhinterfragt voraus, dass das Sein in einer absoluten Wahrheit verwurzelt ist und diese nicht etwa einer Konstruktion des menschlichen Geistes entspricht. Es zeigt sich, dass der Gottesbegriff folglich abstrahiert vom Konkret-Wirklichen entwickelt wird, indem nicht zuerst danach gefragt wird, wie das Absolute dem Menschen im Konkreten begegnet, sondern der Standpunkt der Identität vorausgesetzt wird. Auf dem Identitätsprinzip als einem Apriori gründet zudem das gesamte (Wissenschafts‐)System. Gott wird von Tillich durch die Bezeichnung „das Unbegreifliche“ als Existenz des absoluten Denkens gefasst und nicht als ein dem Denken gegenüberstehendes Sein oder eine außerhalb des Denkens befindliche Wirklichkeit. Das Unbegreifliche ist das sich selbst stets zur Voraussetzung habende Denken, welches in sich den Widerspruch wahrnimmt, zwar einerseits (religiöse) Objektivationen zu produzieren, um das Absolute zu fassen, andererseits jedoch über diese eigenen Denkleistungen nicht zum Absoluten vordringen zu können. Doch nur, indem Gott im Denken liegt, kann er auch Gegenstand des Denkens werden und sich als der erweisen, der er ist: als das, was das Denken nicht ist, als dessen Negation oder als das Unbegreifliche. Durch diese Definition wird einerseits die Vorstellung von Gott als Existierendem und andererseits als hypostasiertes Nichtsein zurückgewiesen. Denn Gott ist im Denken gegenwärtig und ist nur in der Korrelation von Relativem und Absolutem wirklich. Dieses Absolute als die eine Seite des Gottesbegriffs wird deshalb in der Religionsphilosophie von 1913 zum Systemausgang erklärt, da es die Voraussetzung des lebendigen Prozesses der Wahrheitskonstruktion bildet. Gleichzeitig wird dadurch die Notwendigkeit der Rückführung des Denkens und dessen Denkbestimmungen in seinen intuitiven Ursprung betont. Denn, indem das Denken durch den Begriff von Bestimmtheit zu Bestimmtheit getrieben wird, erkennt es, dass es selbst lediglich relative Ausdrucksgestalt des Unbedingten ist und deshalb in einem notwendigen Verhältnis zu Gott steht. Die zweite Seite des Gottesbegriffs, die persönliche Bestimmtheit, wird dann erst nachträglich als Objektivationsleistung des Bewusstseins vollzogen. Die Funktion der Personifizierung eröffnet dem Menschen die Möglichkeit, mit Gott in eine Beziehung zu treten, wobei das Absolute² stets die allgegenwärtige Grundlage dieser Bewegung bleibt. Im theologischen Teil der ST von 1913 hingegen wurden Absolutes und Relatives – im Unterschied zum absoluten Standpunkt, welcher noch von einer intuitiven Einheit von Denken und Wahrheit ausgeht – nicht in einem Identitätsverhältnis, sondern in ihrer Trennung beschrieben, die jedoch im religiösen Paradox überwunden wird. Dadurch hat sich auch das Verhältnis des Subjekts zur Wahrheit als Paradox dargestellt. Gott und Mensch stehen in einem reziproken
Das Absolute korrespondiert mit dem Unbegreiflichen und dem Begriff.
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Identitätsverhältnis, wobei das Moment der Trennung des Bewusstseins vom absoluten Grund und Ursprung die Voraussetzung und den Systemanfang dieser paradoxen Beziehung darstellt. Im Vordergrund stand dabei allerdings nicht die Distanz von Gott und Mensch, sondern das Partizipationsverhältnis bzw. der Prozess der Rückführung des relativen Standpunktes in seine absolute Einheit.³ Erst der theologische Part zeigt somit auch die Notwendigkeit einer Wiedervereinigung und Überwindung des Gegensatzes von relativ und absolut aufgrund einer vorangehenden Trennung des Bewusstseins mit dem Unbedingten durch Christus auf, die jedoch immer – trotz einer bereits sich im Diesseits erfüllenden Partizipation – ein eschatologisches Moment mit einschließt. Folglich wurde der theologische Standpunkt auch als Grenzbegriff illustriert, da in der paradoxen Beziehung von Gott und Mensch stets enthalten ist, dass die Rückführung des Bewusstseins (oder des theologischen Standpunktes) in die Intuition (oder den absoluten Standpunkt) sich im Bedingten nicht vollkommen erfüllen kann. Dieses Verhältnis wird von Tillich durch ein drittes Moment charakterisiert, das zwar im theologischen Prinzip als aufgehoben gesetzt ist, diese Aufhebung jedoch stets nur im Begriff ist, sich zu realisieren. Es enthält also in sich ein Moment der Selbstüberwindung. Da sich die religiöse Dynamik als (im Begriff befindliche) Rückführung des relativen in den absoluten Standpunkt darstellt und diese Rückführung ihren Ausgang im Kreuzesgeschehen nimmt, wurde vorausgesetzt, dass die Ermöglichung dieses „Christusereignisses“ (als existentielles Geschehen) auch den (religions‐)philosophischen Erwägungen Tillichs zugrunde liegen muss. Denn auch dem religionsphilosophischen Nachsinnen über das Verhältnis Gottes (oder des Absoluten) und des Menschen liegt ein Ermöglichungsgrund dieses Erkennens zugrunde: Das Urverhältnis von Denken und Sein bzw. das sog. „natura sua“ (die reine Substanz des menschlichen Bewusstseins). Der Unterschied zwischen Religionsphilosophie und Theologie lässt sich folglich so beschreiben, dass die Religionsphilosophie den Ursprung des Denkens
Die Momente der Partizipation, der Trennung des absoluten und relativen Standpunktes sowie der eschatologischen Einheit stehen so in Beziehung, dass die Trennung die Voraussetzung der Partizipation bildet, die jedoch im Paradox überwunden ist. Die Überwindung geschieht einerseits durch die Rechtfertigung des Menschen durch Gott, andererseits durch Partizipation am Christus-Ereignis. Das Paradox expliziert das Eingehen Gottes in die Relativität und die Rückführung des Standpunktes der Relativität in den absoluten Standpunkt. Allerdings ist diese Rückführung innerhalb der Geschichte nicht absolut erfüllt, sondern als im Begriff befindlich vorzustellen. Deshalb wird die absolute Einheit von absolutem und relativem Standpunkt, obwohl sie durch Partizipation an Christus prinzipiell wiederhergestellt ist, erst in Aussicht gestellt. Dadurch ist gleichsam ein eschatologisches Moment in den Prozess integriert.
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in seiner Verwurzelung im Absoluten darstellt und die Theologie den Zustand der Trennung des Bewusstseins vom Absoluten aufgreift, um aufzuzeigen, wie eine Rückführung zum Absoluten unter den Bedingungen der „Entfremdung“ möglich sein kann. Das Christusereignis als Heilsereignis bildet jedoch das strukturierende Zentrum, welches die fundamentale Basis beider Wissenschaften bildet. Die Grundlegung der Religionsphilosophie im Absoluten bricht allerdings nach Ende des Ersten Weltkriegs bei Tillich auf, sodass es zu einer nur vorübergehenden und in den 20er Jahren bereits wieder überwundenen prinzipientheoretischen Systemänderung kommt. Als Konsequenz wird von Tillich in den 20er Jahren das Verhältnis von Religionsphilosophie und Theologie durch sinn- und symboltheoretische Einsichten erweitert, was allerdings lediglich zu einer formalen Neubestimmung führt. Der Briefwechsel zwischen Tillich und Hirsch im Jahre 1917 ist als Übergangsdokument bezeichnet worden, welches Zeugnis von dem sich im Umbruch befindlichen Systemansatz Tillichs ablegt. Als Resultat war die fehlende unmittelbare Einheit des Menschen mit dem Unbedingten zum Systemausgang der Religionsphilosophie avanciert. Es wurde dargestellt, dass Tillich nun nicht mehr von der intuitiven Einheit von Denken und Wahrheit im absoluten Wahrheitsgedanken (dem Absoluten) ausgeht, sondern „[…] der theoretische Zweifel“ zum neuen „Zentralproblem […] [seines] Denkens“ avanciert.“⁴ Die Religionsphilosophie, die 1913 noch im Absoluten bzw. Intuitiven fundiert war, setzt nun wesentlich – ebenso wie der theologische Ansatz bereits 1913 – das Moment der Trennung voraus. Der theologische Systemanfang bleibt hingegen auch noch beim späten Tillich konstant. Folglich besteht die Neubestimmung darin, dass auch die Religionsphilosophie zu einem „Grenzbegriff“ avanciert und damit das Gesamtsystem Tillichs nicht mehr auf dem Begriff des Absoluten aufbaut, sondern von dem Moment der Trennung von Bewusstsein und absoluter Wahrheit ausgeht, was durch den Sinnbegriff zum Ausdruck kommt. Diese prinzipientheoretische Veränderung ließ sich biografisch durch die Kriegserfahrungen des zum Feldgeistlichen berufenen, erst 28-jährigen Tillich erklären, die eine starke Auseinandersetzung mit dem „theoretischen Zweifel“ angestoßen hatte.⁵ Die den jungen Tillich stark beeinflussenden idealistischen
EN, Bd. VI, S. 99. Vgl. Zahrnt, H., Paul Tillich – Wanderer zwischen zwei Welten (Vorwort), in: ebd. (Hrsg.), Paul Tillich. Auf der Grenze. Eine Auswahl aus seinem Lebenswerk, München 1987, S. 4: Zahrnt verweist auf das historische Moment, in welchem Tillich selbst den ontologischen Schock erfahren hat: „Was Tillich selbst im Ersten Weltkrieg – vier Jahre als Militärpfarrer an der Westfront – erlebt hat, ist der Zusammenbruch der idealistischen Philosophie und der liberalen Theologie. Tillich meint für dieses Erleben sogar ein genaues Datum angeben zu können. Er erinnert sich an eine
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Referenzgrößen, die für ihn die Möglichkeit repräsentieren, das Absolute durch das Denken (bzw. durch Denksysteme, die auf gewissen Prinzipien aufbauen) vernunftmäßig zu durchdringen, sieht er durch die vom Krieg hervorgerufene (auch geistige) Destruktion entwertet. Das urständliche Moment von Religion beschreibt er nun als rein subjektives Moment, als reine Zuständlichkeit, welches nur durch Objektivationstätigkeit des Menschen zum Gegenstand von Religion werden könne. Für Tillich lässt sich der Sinn des absoluten Realitätserlebnisses für ein Subjekt nur noch durch Vergegenständlichung und durch ein der Sphäre des Gegenständlichen entnommenem Symbol erfassen. Da dieser Gegenstand nie dem Göttlichen selbst entspricht, kann der konkrete Standpunkt der Theologie stets nur ein Grenzbegriff sein. Er gründet auf einem Glaubensurteil, welchem – so wurde für Tillichs neuen Ansatz hervorgehoben – keine absolute und intuitive Erfassung des Unbedingten zugrunde liegen kann. Vielmehr begegne dieses Unbedingte stets in der Geschichte und im Medium des eigenen Glaubensvollzugs. Dabei spricht Tillich im Briefwechsel noch nicht einmal mehr der Erlebniskategorie eine unmittelbare Bezogenheit auf das Unbedingte zu. Stattdessen betont er die Subjektivität allen Erlebens ob seiner bereits deutungsimprägnierten Form der Aufnahme von Sinneseindrücken. Die Wahrheit des christlichen Symbols erweist sich für ihn also darin, dass es der adäquateste Ausdruck für die Unbedingtheit des Absoluten ist, dass es in sich ein Moment der Selbstüberwindung und eine Rückführung zum Absoluten selbst enthält, welches es vor eigener Absolut-Setzung bewahrt. Das Resultat der sich im Briefwechsel abzeichnenden Wandlung ist die von Kant entlehnte Integration des kritischen Moments in die Methode der Religionsphilosophie, die der geltungsphilosophischen Grundlegung der Religionsphilosophie von 1920 zugrunde liegt. Das kritische Moment bedeutet eine Reflexion des Bewusstseins auf seine eigenen Voraussetzungen und Bestimmungen sowie seinen Gehalt als Merkmal der Trennung des Menschen vom Absoluten. Der Religion kommt eine Mittlerfunktion zu, den Geltungsnachweis von Religion für das von Gott getrennte Bewusstsein aktiv aufweisen zu müssen und die verloren gegangene Intuition wiederherzustellen. Das Kritische der Methode besteht deshalb in der Funktion von Religion, eine Selbstanalyse des Denkens zu vollziehen, die darauf gerichtet ist, Religion als jenes Prinzip der Erscheinungswelt und als
Nacht von Verdun, in der er im Trommelfeuer zwischen den Sterbenden umherirrte und schließlich erschöpft zwischen den Toten einschlief: ‚Als ich erwachte, sagte ich mir: Das ist das Ende der idealistischen Seite meines Denkens! In dieser Stunde begriff ich, daß der Idealismus zerbrochen war.‘“
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Voraussetzung für die einheitliche Konstruktion der Wirklichkeit nachzuweisen.⁶ Gleichzeitig betont das kritische Moment die Unhintergehbarkeit der Form: Alle vom Bewusstsein vollzogenen Sinnakte sind formbestimmt, auch religiöses Erleben und die Erfassung des religiösen Gehaltes können nie anders als durch die gültige Form hindurch erfolgen. Da das Absolute für Tillich allerdings nur innerhalb einer religiösen Korrelation, also von einem gläubigen Standpunkt aus erfasst werden kann, wird in die Methode ein spekulatives Moment integriert: das Intuitive. Die Intuition bezeichnet die Richtung der religiösen Funktion auf den religiösen Akt als eine Selbstanalyse des Denkens, nicht aber auf ein zu erkennendes mystisches Objekt. Das intuitive Moment ergibt sich aus der notwendig mit menschlichem Denken einhergehenden Funktion der Selbstreflektion und der Reflexion des Denkens „auf seine eigene Existenz“⁷ und der damit einhergehenden Grenzerfahrung, die in der Einsicht in die Unauflösbarkeit des Seins in Denkbestimmungen besteht. Diese erfordert gleichsam die Anerkennung eines irrationalen Moments, welches im Denkakt selbst angelegt ist und erst durch den Bewusstseinsprozess des sich Reflektieren des Denkens hervortritt. Das sich intuitiv erfassende Denken erkennt, dass es Momente der Wirklichkeit gibt, die nicht in Denkbestimmung aufgelöst werden können und ihm als fremd und damit irrational gegenüberstehen. Dem Denken kommt in diesem Prozess eine normative Funktion zu. Diese besteht allerdings nur aufgrund der substantiellen Verwurzelung des Denkens im Unbedingten und der Manifestation des Unbedingten im religiösen Vollzugsakt. Aus der Entwicklung des Verhältnisses von Religionsphilosophie und Theologie vom Systementwurf von 1913 über den Briefwechsel bis in die 20er Jahre konnten also mehrere Erkenntnisse gezogen werden: Erstens bestätigte sich die Annahme, dass sich die Zuordnung der Religionsphilosophie zur Intuition bzw. dem absoluten Part des Systems (wie noch 1913) für die sinntheoretische Systemkonzeption der Religionsphilosophie ab dem Briefwechsel und bis in die 20er Jahre nicht mehr halten lässt. Vielmehr setzt diese das Moment der Trennung des Bewusstseins vom Ursprung im Absoluten voraus. Religion hat demnach – entsprechend der Ergebnisse von Teil II dieser Arbeit – die Funktion, den Bruch von Denken und Sein zu überwinden und die verloren gegangene Intuition wiederherzustellen. Im Zentrum der Religionsphilosophie steht eine sich selbst fragwürdig gewordene Subjektivität, die nach ihrem woher fragt. In direkter Verbin EN, Bd. XII, S. 403: Die Methode ist kritisch, indem „[…] im Zusammenhang des Bewußtseins eine Funktion aufgewiesen werden muß, die zur Konstitution des Bewußtseins und damit der Erscheinungswelt notwendig ist und deren Charakterisierung sie in die Nähe derjenigen Erscheinung rückt, die in der phänomenologischen Erfahrung als ‚Religion‘ gekennzeichnet wird.“ A.a.O., S. 392.
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dung mit der Klärung dieser Frage steht das Bedürfnis nach dem Aufweisen des Geltungs- bzw. Wahrheitsanspruchs der Religion. Zweitens wurde festgestellt, dass dieses Bedürfnis von Tillich – im Gegensatz zum Erstentwurf (1913) – in den Fokus des Systems gestellt wird.⁸ Drittens ließ sich ermitteln, dass die Systemänderungen keine Veränderungen prinzipieller Art nach sich zogen, sondern lediglich einen anderen Systempart beleuchteten. Damit geht einher, dass die subjektivistischen Anklänge des Briefwechsels, den religiösen Vollzug als rein subjektive Reflexionsleistung des Menschen zu deuten, spätestens ab Rechtfertigung und Zweifel (1919) als überwunden interpretiert worden waren. Denn die daraus resultierende Sinntheorie geht nach wie vor (wie auch schon 1913) von einer Korrelation von Absolutem und Relativem im religiösen Vollzug aus und setzt damit das Fundiert-Sein des Menschen im Absoluten voraus. Zuletzt lässt sich eine Annäherung von Religionsphilosophie und Theologie hinsichtlich ihres Ausgangspunktes in den 20er Jahren belegen. Diese Feststellung zieht nach sich, dass die zu Beginn dieser Arbeit entwickelte Kernthese zum Verhältnis von Religionsphilosophie und Theologie in den 20er Jahren einer abschließenden Klärung zugeführt werden muss. Deshalb soll diese im nachfolgenden Abschlusskapitel (Teil IV) geprüft und weitergeführt werden.
In der Systematischen Theologie (1913) geht es hingegen noch nicht darum, zu erweisen, welchen Geltungs- bzw. Wahrheitswert Religion per se besitzt, da das Subjekt ausgehend von dem absoluten Wahrheitsgedanken bereits als in Einheit mit dem Absoluten stehend gedacht wird – Ganz unabhängig davon, ob die Identität so zu denken ist, dass sie vom Denken (also vom Menschen) oder vom Absoluten (bzw. Gott) evoziert wird. Von diesem Identitätsverhältnis aus wird der Gottesbegriff in seinen verschiedenen Momenten des absoluten (Standpunkt der Intuition), relativen (Standpunkt der Reflexion) und theologischen Standpunktes (Standpunkt des Paradox’) expliziert. Die Bewegung, die der Begriff letztlich beschreibt, ist die des Eingehens des absoluten Standpunktes in den relativen Standpunkt, der dadurch in das Absolute zurückgeführt wird. Die zu erstrebende Einheit wird dabei als im Werden befindlich gedeutet und damit als noch nicht innerhalb der Geschichte absolut erfüllt (eschatologisches Moment).
Teil IV Ergebnisse und Beantwortung der Forschungsfragen
1 Zum Korrelationsverhältnis von Religionsphilosophie und Theologie In diesem Abschlusskapitel sollen nun die anfänglich aufgeworfenen Thesen und Forschungsfragen überprüft und beantwortet werden. Den Ausgangspunkt für dieses Vorhaben bildet die in der Einleitung formulierte Kernthese zum Verhältnis von Religionsphilosophie und Theologie. Die Ergebnisse der vorangehenden zweiten Bestandsaufnahme haben bereits verdeutlicht, dass der Briefwechsel zwischen Tillich und Hirsch einen nur vorübergehenden prinzipientheoretischen Wandel von Tillichs Systemkonzeption dokumentiert, der wiederum Auswirkungen auf die Verhältnisbestimmung von Religionsphilosophie und Theologie in den 20er Jahren nach sich zieht. Mithilfe einer Darstellung dieser Verhältnisbestimmung und anknüpfend an die Auswirkungen, die der zuvor beschriebene Systemwandel in den 20er Jahren nach sich zieht, lässt sich meine Kernthese bestätigen und weiterführen. Diese behauptet, der Religionsphilosophie sei eine implizit christologische Perspektive eigen, die das Zentrum von Tillichs Denken bildet. Im Folgenden soll erstens (Teil IV, Kapitel 1) dieses korrelative Verhältnis von Religionsphilosophie und Theologie als Ergebnis entfaltet werden. Aus diesem Sachverhalt ergeben sich darüber hinaus mehrere Fragen, die hier ebenfalls beantwortet werden sollen: Zunächst kann kritisch eingewandt werden, ob sich die These, dass die Religionsphilosophie die christologische Perspektive bereits enthält und dadurch stets schon christlich präfiguriert ist, auch umkehren lässt. Dies würde einen philosophisch konstruierten Offenbarungsbegriff zur Folge haben. Daran anknüpfend muss anschließend das Selbstverständnis der Religionsphilosophie hinterfragt werden, indem geprüft wird, was die Religionsphilosophie gegenüber der Theologie leistet, wenn letztere – entsprechend meiner Eingangsthese – systembildend ist und daher gegenüber der Religionsphilosophie eine Vorrangstellung einnimmt. Zweitens werden die sich aus der Kernthese ergebenden Thesen und Forschungsfragen beantwortet werden. (Teil IV, Kapitel 2) Diesbezüglich wird die eingangs aufgestellte These überprüft werden, dass Tillichs Systemkonzeption als methodisch und inhaltlich stringent bezeichnet werden könne und er mit der Einführung der Sinntheorie und dem veränderten Systemausgang keinen prinzipientheoretischen Kurswechsel vollziehe, wohl aber andere Akzente setze. Für die Beantwortung der vierten und fünften Forschungsfrage wird drittens in einem Ausblick dargestellt werden, wie die Ergebnisse dieser Arbeit für den interreligiösen Dialog und die religionstheologische Debatte fruchtbar gemacht werden können. (Teil IV, Kapitel 3) In diesem Zusammenhang wird ebenfalls geklärt, ob https://doi.org/10.1515/9783110671759-010
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sich Tillichs Frühwerk im Hinblick auf beide Disziplinen einheitlich gegenüber außerchristlichen Religionen positioniert. Zuletzt soll eine Perspektive für an diese Untersuchung anschließende Forschungsarbeiten aufgezeigt werden. Zum ersten: Alle vorangehenden Betrachtungen ermöglichen eine Bestätigung der eingangs aufgestellten Kernthese zum Verhältnis von Religionsphilosophie und Theologie. Demnach hat die Religionsphilosophie Tillichs in den 20er Jahren implizit das Christusereignis als eine auf den Menschen zukommende und ihn umwendende Wirklichkeit zum Zentrum und expliziert dies lediglich mittels philosophischer Begrifflichkeiten. Die Christologie bildet folglich das strukturierende Zentrum des Tillichschen Systems und damit den übergeordneten Rahmen von Religionsphilosophie und Theologie. Deshalb kann die Religionsphilosophie der 20er Jahre auch als eine Art Kryptotheologie bezeichnet werden; sie hat den religiösen Standpunkt zur Voraussetzung und unterscheidet sich demnach lediglich formal von der Theologie Tillichs. Letztere ist folglich nicht als Fortführung der Religionsphilosophie zu lesen, sondern beide Disziplinen müssen in ihrem korrelativen Verhältnis betrachtet werden. Dies wird dadurch begünstigt, dass sie bezüglich ihres Systemanfangs eine Annäherung erfahren haben. Entsprechend liegt ihnen auch derselbe Inhalt zugrunde: Sie bilden beide ein und denselben Prozess göttlichen Wirkens in der Geschichte und am Menschen ab. Beide gehen von einem Zustand fehlender unmittelbarer Einheit des Menschen mit Gott aus und haben den normativen Begriff der christlichen Religion zum Inhalt mit dem Ziel, die Trennung zu überwinden und den Menschen in das Gottesverhältnis zurückzuführen – wenn auch die Dogmatik dies erst mittels theologisch-christlicher Begrifflichkeiten expliziert. Auch die Beurteilung außerchristlicher Religionen gelangt deshalb von beiden Standorten aus zu demselben Urteil. Denn für die Religionsphilosophie bedeutet dies, dass es nicht ihr Anliegen ist, eine neutrale Haltung einzunehmen und Wahrheit und Wesen von Religion als einen Allgemeinbegriff zu bestimmen. Um abschließend zu verdeutlichen, warum Tillichs Religionsphilosophie einerseits implizit christologisch sein kann und warum die Theologie andererseits die Offenheit besitzt, sich auch philosophisch auszusprechen, möchte ich im Folgenden zunächst die Konzeption von Tillichs Religionsphilosophie in den 20er Jahren zusammenfassend skizzieren und im Anschluss die Grundzüge der Christologie in ihrem Zusammenhang mit der Religionsphilosophie darstellen. Aus den vorangehenden Betrachtungen geht hervor, dass Tillichs Religionsphilosophie prinzipientheoretisch konzipiert ist. Das bedeutet, dass den Systemausgang das religiöse Prinzip bildet, welches die substantielle Gebundenheit und Einheit des menschlichen Bewusstseins mit dem Absoluten darstellt. Damit gründet Tillichs System auf einem apriorischen Wahrheitsprinzip. Als überge-
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ordnetes Prinzip der gesamten Geistesgeschichte wertet Tillich das religiöse Prinzip als den konstanten Faktor des religionsgeschichtlichen Prozesses. Es lässt sich bewusstseinstheoretisch in der Wirklichkeitskonstruktion des Individuums verorten und bildet eines der beiden Momente von Religion. Das andere ist das aktuelle Moment. Es bedeutet, dass sich die Einheit des Bewusstseins nur durch eine der drei Geistesfunktionen Denken, Handeln oder Fühlen realisieren kann und so erst im religiösen Vollzug zur Realität kommt. In der Wirklichkeit tritt das Religiöse nie ohne sein aktuelles Moment in Erscheinung, welches auch als Qualität des religiösen Prinzips gewertet wird. Nach dem ersten Weltkrieg entwickelt Tillich eine Sinntheorie, die das Subjekt samt seiner fehlenden unmittelbaren Einheit mit dem Unbedingten zum Systemausgang erhebt. Im Fokus der Religionsphilosophie der 20er Jahre steht der zweifelnde Mensch, der Sinn als Vermittlungsinstanz benötigt, um in einem Prozess der Selbstreflektion sein Kontingenzbewusstsein zu bewältigen und dabei zu realisieren, dass dem Denken ein unbedingter Sinn zugrunde liegen muss. Das Absolute bleibt das fundierende Apriori, aber die Bewegung geht vom Menschen aus. Dieser realisiert seine Bestimmung erst, indem er durch den Zweifel hindurchgeht und diesen letztlich mittels des Sinnes überwindet und so zu einem Bewusstsein seines Fundiert-Seins im Sinn schlechthin durchdringt. Das geschieht dadurch, dass der Mensch in jedem Sinnerlebnis eine Doppelheit erfährt: Absolutheit und Relativität zugleich. Einerseits vollzieht er Sinnzuschreibungen und produziert religiöse Objektivationen, andererseits realisiert er, dass diese Sinnzuschreibungen immer bedingt sind und er sich selbst und anderes Sein nie vollkommen erfassen kann. Im Sinnbewusstsein realisiert der Mensch, dass der Sinn des Seins das dem Denken widerstehende Sein, also das Fremde im eigenen Denken, das Unbegreifliche, sein muss. Dieses wird von Tillich auch als „Abgrund“ bezeichnet. „Sinn“ bezeichnet das, was das Sein nicht ist, ihm vielmehr entgegensteht, seine Negation. Durch diese Erkenntnis realisiert der Mensch, dass jedem Sinnerlebnis etwas zugrunde liegen muss, was diese Erfahrung erst ermöglicht. Er weiß sich von einem Sinn schlechthin getragen. Der Sinnbegriff rückt somit das subjektive Moment in den Vordergrund, indem davon ausgegangen wird, dass Gott in diesem religiösen Vollzugsakt aktuell wird. Denn das im Denken vorhandene Widerstandsmoment sei im Absoluten selbst angelegt und kann als innergöttliches Verhältnis zu sich selbst gedeutet werden. Folglich fungiere das Unbedingte als Voraussetzung der Erkenntnis, dass alles Denken nur Formung sei und damit Denkkonstrukt. Da dieser Prozess sich nur im religiösen Akt vollziehen kann, wird Gott nicht als ein außerhalb des Menschen stehendes Phänomen beschrieben. Es wird vorausgesetzt, dass das denkende Bewusstsein auch im Zustand der Reflexion und damit Trennung in einem substantiellen Verhältnis zu Gott steht – auch, wenn dies nicht jederzeit vom Subjekt aktualisiert wird. Am
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inhaltlichen Systemausgang steht weder der eine (das Absolute), noch der andere Part (das Subjektive). Es fallen auch nicht beide Momente zusammen. Vielmehr steht am Anfang die Beziehung, das reziproke Konstitutionsverhätlnis von Gott und Mensch in der religiösen Begegnung. Das religiöse Prinzip bleibt folglich auch in der sinntheoretischen Fassung als Grundlage und Voraussetzung der Gottesbeziehung bestehen. Gleichzeitig entspricht es dem Wesensbegriff von Religion, welcher nach Tillich auch alle außerchristlichen Religionen fundiert. Deshalb wird Religion auch als allumfassende Funktion des menschlichen Geistes und als Prinzip der Erscheinungswelt definiert, welches allen Bewusstseinsfunktionen zugrunde liegt. Sie wird als notwendige Voraussetzung für die einheitliche Wirklichkeitskonstruktion des Bewusstseins verstanden, wodurch sich gleichzeitig ein Universalitätsanspruch des Phänomens Religion ableiten lässt. Als Funktion bleibt religiöses Erleben stets an die Formen des Denkens gebunden. Dem Denken wiederum kommt – wie die Ergebnisse im Hinblick auf die kritischintuitive Methode bereits in der vorangehenden Bestandsaufnahme ergeben haben – Normativität nur aufgrund seiner substantiellen Verwurzelung im Unbedingten zu. Diese wird im religiösen Vollzugsakt realisiert. Daran anknüpfend kann nun gezeigt werden, wie die Christologie Tillichs an die abstrakt-philosophischen Begrifflichkeiten der Religionsphilosophie anschließt und warum sogar behauptet werden kann, dass sie mit diesen inhaltlich identisch ist: Aufgabe der Religionsphilosophie ist es, einen Religionsbegriff zu entwickeln, der darstellt, dass die Verwirklichung des religiösen Prinzips in der Religionsgeschichte auf Christus als konkret-geschichtliche Erfüllung zielt. Christus erweist sich dabei als Wahrheit des religiösen Verhältnisses. Diese der Norm zugrundeliegende Wahrheit wurzelt wiederum im Ursprung des Denkens selbst und äußert sich als das zuvor beschriebene Sinnerlebnis, welches auch als unbedingtes Realitätserlebnis bezeichnet wird. Der Religion kommt die Aufgabe zu, das religiöse Prinzip so zu aktualisieren, dass eine Erschütterung erfolgt, die dem Denken die Relativität seiner begrifflichen Ausdrucksmöglichkeiten bewusst macht, sodass es sich selbst vor dem Absoluten verneint. Dieses Negativitätserlebnis wird von Tillich in seiner Religionsphilosophie-Vorlesung weder als „individueller Vorgang“, noch als ein „Spiel des Bewußtseins mit sich selbst“, sondern als ein „kosmischer Akt“ beschrieben: „Das Heilige selbst kommt zur Existenz im religiösen Akt und nur in ihm. Gott, so können wir nun sagen, ist nicht ein fixiertes Objekt, sondern ein Akt der Realisierung; er kommt zur Existenz in jedem religiösen Akt.“¹
EN, Bd. XII, S. 415 f.
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Gleichzeitig stellt das Moment des Durchbruchs den Überschneidungspunkt zwischen Christologie und Religionsphilosophie dar. In diesem wird der Absolutheitsanspruch der Religion – d.i. der Anspruch „[…] außer sich keine Position zu dulden“ – durchschaut. Das bedeutet religionsphilosophisch, dass sich dem religiösen Bewusstsein durch die Reflexion auf die eigene Standortgebundenheit die Relativität religiöser Objekte und Objektivationen erschießt, wodurch der konkrete Standpunkt in seiner Konkretion auf das Unbedingte hin „erschüttert und vollendet“ wird.² Bereits auf religionsphilosophischer Ebene erfolgt also eine Erschütterung, die im sog. „Durchbruch“ die Erkenntnis aufgezeigt, dass die Richtung des Geistes auf das Unbedingte immer nur Richtung bleiben darf, die Identifikation von Religion mit einem bestimmten theoretischen oder praktischen Bewusstseinsakt allerdings negiert werden muss. Dies wurde als absolutes Realitätserlebnis bezeichnet. Entsprechend ist das religiöse Prinzip als apriorische Kategorie dargestellt worden, welches nicht mit einer spezifischen Geistessphäre identifiziert werden darf, sondern als allumfassende Funktion des menschlichen Geistes allen Geistesfunktionen (Denken, Wollen, Fühlen) zugrunde liegt. Das Bewusstsein sei also bereits a priori im Religiösen verwurzelt. Dieses Moment der Überwindung des Fixierens und Festhaltens an einem spezifischen Akt (sei es ein Denkkonstrukt, ein Gefühl oder eine intentionale Handlung) ist identisch mit dem, was auch christologisch als „Durchbruch“ bezeichnet wird. Dieser äußert sich dort als Akt der Selbstnegation, der im Christus-Bild, in Leiden, Tod und Auferstehung Christi, repräsentiert und vorweggenommen ist. Das bedeutet, dass bereits in der Religionsphilosophie das im christlichen Offenbarungsträger Jesus Christus enthaltene Moment der Selbstnegation realisiert wird. Für Tillich selbst gelten die in der Religionsphilosophie gewonnenen Erkenntnisse „über Schrift und Tradition“ und die „Betrachtung dieser Objekte als Religion“ [Hervh. d. Verf.] als „negative Voraussetzung für die Betrachtung als Träger der Offenbarung“.³ Denn Religion ist stets Signum der Trennung des Menschen vom Unbedingten. Und nur, wenn Religion⁴ als lediglich relative Ausdrucksgestalt des menschlichen Unbedingtheitserlebnisses anerkannt und zu überwinden gesucht wird und damit das Moment der Selbstnegation enthält, kann für Tillich das Unbedingte als das Andere offenbar werden, welches inhaltlich jedoch bestimmungslos bleiben muss. Dieses Offenbar-Werden, welches theologisch als „Durchbruch“ und göttliche Offenbarung bezeichnet wird, ist jene schon auf religionsphilosophischer Ebene realisierte Erkenntnis der Relativität und Bedingtheit des menschlichen EN, Bd. XIV, S. 102. EN, Bd. XIV, S. 103. Denn die Religion bedarf nach Tillich stets der Überwindung, insofern als sie Signum der Trennung des Menschen vom Unbedingten ist.
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Unbedingtheitserlebnisses. Folglich setzt der in der Religionsphilosophie entwickelte Religionsbegriff stets schon voraus, dass die religiöse Funktion⁵ Absolutheit nur dadurch beanspruchen kann, dass sie sich selbst als vermittlungs- und rückführungsbedürftig zum Absoluten erkennt. Dies wird religionsphilosophisch im Prozess der Bewegung des Denkens aus einer konstruierten, ursprünglich intuitiven Einheit von Form und Gehalt, Denken und Sein, Ethik und Mystik in der primitiven Kulturreligion über den Weg der Trennung dieser Pole im religionsgeschichtlichen Prozess bis hin zur Rückführung in die sog. „Religion des Paradox‘“ veranschaulicht. Gleichzeitig wird dieser Prozess von Tillich sowohl vollständig in der Religionsphilosophie als auch analog in der Dogmatik abgebildet. Mit dem Unterschied, dass die Termini zur Beschreibung des Prozesses sich einer anderen Sprache bedienen. Ziel der Rückführung ist in beiden Fällen die neu und bewusst wiederhergestellte Einheit des Menschen mit Gott in der Religion des Paradox‘ bzw. der christlichen Religion. Bereits die Religionsphilosophie zeugt also von einer Erschütterung und einem absoluten Realitätserlebnis auf Basis des absoluten Nichtigkeitserlebnisses. Das bedeutet, dass dem Menschen das Gottesbewusstsein im Erlebnis seiner Endlichkeit, Begrenztheit und Nichtigkeit gegenwärtig wird. In dem Moment, in dem der Mensch der Bedrohung des Nichtseins ausgeliefert ist und die Unzulänglichkeit, sich selbst zu erlösen, als radikale Bedrohung seines ganzen Wesens erlebt, wird ihm gleichzeitig seine absolute Bezogenheit auf Gott gewahr. Er erfährt sich als vom Unbedingten als schlechthinniger Realität getragen. Tillich betont selbst, dass die Religionsphilosophie als Prolegomenon der Dogmatik nur dann „aus dem Allgemeinen der Religionsphilosophie in das Konkret-Existentielle der Dogmatik […]“ überleiten könne, „[…] wenn auch die Religionsphilosophie schon aus dem Stehen in der konkret-existentiellen Haltung der Dogmatik heraus geschaffen ist.“ Folglich könne auch die formale Kategorisierung der dogmatischen Inhalte in der Religionsphilosophie als „[…] Ausdruck der wirklichen Sache, der religiösen Haltung selbst […] in allgemein-philosophischer Form“ verstanden werden.⁶ Die bisherigen Ausführungen illustrieren, dass sich die Kernthese dieser Arbeit beweisen ließ: Inhaltliches Zentrum der Religionsphilosophie bildet – ebenso wie das der Christologie – das Moment der Selbstnegation des Offenbarungsmediums im Erkenntnisakt. Dieses wiederum fungiert als Voraussetzung der absoluten Gültigkeit der im Christusereignis enthaltenen Elemente, die bereits im Gemeint ist Religion als allumfassende Funktion des menschlichen Geistes, die allen anderen Bewusstseinsfunktionen (Denken, Wollen, Fühlen) zugrunde liegt bzw. die Gottesbeziehung als die Substanz des Menschen. EN, Bd. XIV, S. 13.
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religiösen Prinzip präfiguriert sind, aus dem sich der in Tillichs Religionsphilosophie entfaltete Religionsbegriff ergibt. Christus (als der Kairos) kann folglich als der konkret-geschichtliche Ort im Prozess der geschichtsphilosophischen Konstruktion der Religionsgeschichte verstanden werden, an dem das religiöse Prinzip sich verwirklicht. Aus dieser korrelativen Grundfigur ergibt sich, dass die eine Disziplin ohne die andere keine ausreichende Begründung für Tillichs Wahrheitsverständnis liefert. Folglich ließ sich auch zeigen, dass die religionsphilosophischen Inhalte ohne ihre konkrete Verwirklichung in der Christologie unverständlich bleiben und der gläubige Standpunkt (also die dogmatischen Inhalte) der Religionsphilosophie als deren Apriori vorausgehen. Der Religionsphilosophie kommt damit keine Beliebigkeit zu. Was in der Theologie inhaltlich konkret am Christusbild erwiesen wird, wird analog auf religionsphilosophischer Ebene formal mittels philosophischer Termini vorgebildet. Ohne den konkreten Hintergrund der Christologie bleibt die Religionsphilosophie allerdings unverständlich und abstrakt. Deshalb wird der christlichen Perspektive gegenüber der Religionsphilosophie eine prioritäre Funktion oder auch eine systembildende Funktion für das System Tillichs zugeschrieben – wenn auch beide so in einem reziproken Irreduzibilitätsverhältnis stehen, dass sie einander bedürfen, um den vollständigen Prozess abzubilden. Denn auch die Theologie bleibt auf den Rückgriff auf erkenntnistheoretisch entwickelte philosophische Termini und Gedanken angewiesen (wie zum Beispiel das Prinzip der Selbstüberwindung), durch welche sie ihre Inhalte allgemein zugänglich machen und in einen größeren anthropologischen Rahmen stellen kann. Mit der Ansicht, der Christologie einen übergeordneten Rahmen für das System Tillichs zuzuschreiben, grenze ich mich von Dienstbeck ab, der – andersherum – die Religionsphilosophie als notwendig für den Nachvollzug der Theologie Tillichs (als religionsphilosophische Prämissen im Konkreten) erachtet. Als Grund hierfür führt er an, dass die konkreten Prämissen der Theologie Tillichs in dessen Religionsphilosophie grundgelegt seien. Meine Ergebnisse verschieben diese Sichtweise insofern, als zwar die Religionsphilosophie als Prolegomenon der theologischen Dogmatik verstanden wird, sie allerdings – wie oben gezeigt – keinesfalls als beliebig erachtet wird. Der Beliebigkeitsfaktor der Religionsphilosophie fällt folglich nicht erst – wie Dienstbeck veranschlagt – in der Dogmatik dahin, vielmehr ist er für die Religionsphilosophie gar nicht festzumachen. Denn die religionsphilosophischen Prämissen setzten bereits den theologischen (und damit gläubigen) Standpunkt voraus und sind deshalb an die christologischen Inhalte gebunden. Die Religionsphilosophie Tillichs geht folglich nie von einem rein abstrakt-allgemeinen Standpunkt aus, sondern das religiöse Prinzip setzt bereits die Verbundenheit der göttlichen und menschlichen Sphäre im Bewusstsein voraus. Deshalb ist das Apriori christologisch bestimmt.
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Weiterhin zu klären ist die Frage, wie es der Theologie Tillichs möglich ist, an die „abstrakt-philosophischen“ Begrifflichkeiten der Religionsphilosophie anzuschließen und diese sogar als ihren Inhalt mit aufnehmen zu können, wenn „Christus“ in der Religionsphilosophie explizit noch nicht thematisiert wird. Der Grund dafür geht aus der symbolischen Konzeption der Christologie hervor. Das Realbild als Verkörperung des in Christus erschienenen und damit geschichtswirksam gewordenen Seins symbolisiert den mit Gott in einer ungebrochenen Einheit stehenden Menschen und greift damit die Symbolik der Religionsphilosophie auf. Es bildet das Zentrum der Christologie, indem es den Ort des menschlichen Heils (den Kairos) verkörpert. Christus bedeutet bei Tillich jedoch keine Kondeszendenz Gottes in die Geschichte und drückt damit keine Selbstbewegung Gottes aus. Im Vordergrund stehen entsprechend nicht die historischen Fakten, die die Person Jesus von Nazareth umkleiden, sondern das durch seine Person transportierte und in ihm zur Erscheinung gebrachte Sinnbild einer vollkommenen Gott-Mensch-Beziehung und folglich die von diesem Realbild ausgehende Wirkung.⁷ Diese müsse sich zwar an einem historischen Ort entfalten, dürfe jedoch nicht auf diesen Ort fixiert werden. Denn nur an einem geschichtlichen Ort und in Form einer historischen Erscheinung (die alle Merkmale einer Persönlichkeit aufweisen muss) könne das Neue Sein in Christus dem Menschen als unbedingt angehend begegnen und somit die Möglichkeit der Partizipation und Identifikation eröffnen. Dennoch dürfe sich die christliche Gewissheit nach Tillich nicht auf dem Urteil gründen, dass Jesus der Christus existiert hat. Die historische Person, die Medium göttlichen Wirkens ist, sei vielmehr variabel. Die Dogmatik fügt also den bereits in der Religionsphilosophie entwickelten Merkmalen des in Christus erschienenen Seins nichts Neues hinzu, sondern sie veranschaulicht nur die bereits dort entwickelten Kategorien mithilfe des Christus-Symbols. Dieses wird als ein Realbild beschrieben, von welchem eine die Existenz umwandelnde Kraft ausgeht. Diese Realität des Christus-Bildes besteht in der realen und historisch nachweislichen „Wandlung in der Existenz“, die dieses Anschauungsbild bei den ersten Jüngern hervorgerufen hat.⁸ Realität kommt ihm dadurch zu, dass es eine uns ergreifende Mitteilung besitzt, die den Kern der menschlichen Existenz trifft und überwindet: die Frage nach einem unbedingten Sinn, die Angst vor dem Nichtsein, vor Sinnlosigkeit und dem Tod.
Vgl. Lax, D., Rechtfertigung des Denkens, S. 55: Auch Lax hebt hervor, dass – entsprechend der Bultmannschen Formulierung des ‚nackten Dass des Gekommenseins’ auch Tillich davon ausgeht, dass „[n]ur das Dass des Christus in Jesus […] dem Menschen gewiss sein [kann], nicht jedoch die an Raum und Zeit gebundenen und davon bestimmten Einzelheiten bezüglich der historischen Person Jesus.“ EN, Bd. XIV, S. 337.
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Im Gegensatz zu einem abstrakten Bild weist das Christusbild folglich einen wirklichen Berührungspunkt mit unserer Existenz auf und nur dadurch ist eine Wandlung in der Existenz möglich. Aus der symbolischen Konzeption des Christusereignisses resultiert eine Negierung jeglicher gegenständlicher Fassung des Unbedingten. Damit ist ein Schutz vor Dämonisierung des Gottesbegriffs gegeben. Das Wahrheitsverhältnis von Gott und Mensch wird folglich analog zur Religionsphilosophie auch in Tillichs Dogmatik erkenntnistheoretisch als von einem Symbol ausgehende Wirkung entfaltet. Aus der Verhältnisbestimmung von Religionsphilosophie und Theologie geht also hervor, dass auch die Christologie Tillichs auf erkenntnistheoretischen Einsichten gründet und Christus symbolisch auf eine Wirklichkeit referenziert, die religionsphilosophisch als absolutes Realitätserlebnis bezeichnet worden war. Das bedeutet, dass auch die Christologie Tillichs Gott nicht positiv aufweisen kann. Dies wird auch durch die Bezeichnung der Theologie Tillichs als normative Religionsphilosophie ⁹ hervorgehoben. Diese wird von Tillich selbst verwendet und von Danz in besonderem Maße betont. Der Begriff bringt darüber hinaus zum Ausdruck, dass die Religionsphilosophie nur als Theologie normativ wird. Dies suggeriert allerdings, es gäbe eine nicht-normative Religionsphilosophie, was – entsprechend der Ergebnisse dieser Arbeit – negiert werden muss. Denn auch die Religionsphilosophie Tillichs erweist sich als normativ und entwickelt diese Normativität systematisch. Deshalb schlage ich vor, Tillichs Religionsphilosophie besser als negative Theologie oder auch Negativitätstheologie zu bezeichnen.¹⁰ Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass das in der Theologie positiv Vgl. Danz, C., Theologie als normative Religionsphilosophie, S. 93, Fußnote Nr. 28: Danz verweist auf Tillichs eigene Interpretation von Theologie als normativer Religionsphilosophie in seiner im Sommersemester 1919 gehaltenen Vorlesung Das Christentum und die Gesellschaftsprobleme der Gegenwart: „‚Die Einheit aber des normativ-Allgemeingültigen mit dem lebendig Konkreten möchte ich in dem Wort ‚theologisch‘ wiederfinden. Denn Theologie ist meiner Überzeugung nach normativ gewandte Religionsphilosophie.‘“ Diese Interpretation suggeriert eine Inhaltslosigkeit eines jeden philosophischen Allgemeinbegriffs, insofern als dieser nicht auch als Normbegriff auf einer konkreten Grundlage erfasst ist. A.a.O., S. 95: Diese Interpretation ließe sich auch an die Überlegungen von Danz anschließen, welcher „sowohl die Religionsphilosophie als auch eine Geschichtsphilosophie der Religion [als] Bestandteile von Tillichs Theologiebegriff“ deutet. Der theologische Begriff, welcher im theologischen Prinzip gründet, ist somit der übergeordnete Standpunkt. Dieser entspricht jedoch explizit der christlich-trinitarischen Auffassung einer Beziehung von Gott und Mensch und zeigt sich in seiner trinitarischen Erscheinung entsprechend der drei Momente des theologischen Prinzips: als Religionsphilosophie (Standpunkt der Religionen, des Vaters), als normative Klimax in der Religion des Paradox’ (in seiner Erscheinung als Sohn) und in der theologischen Deutung der Erfahrung des Unbedingten über den göttlichen Träger Jesus Christus (als Geist, der Fundament der Kirche ist).
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gewendete Verhältnis von Gott und Mensch letztlich auf negativitätstheoretischen Voraussetzungen gründet: auf der Einsicht in die Unfassbarkeit Gottes und der Relativität religiöser Objektivationen. Das bedeutet konkret, dass dem Menschen das Gottesbewusstsein im Moment seines absoluten Negativitätserlebnisses, dem Erlebnis seiner Endlichkeit, Begrenztheit und Nichtigkeit, gegenwärtig wird. Dieses Nichtigkeitserlebnis begründet Tillichs Religionsverständnis.¹¹ In dem Moment, in dem der Mensch dem Negativitätserlebnis ausgeliefert ist und die Bedrohung des Nichtseins und die eigene Unzulänglichkeit, sich selbst zu erlösen, radikal als Bedrohung seines ganzen Wesens erlebt, wird ihm gleichzeitig seine absolute Bezogenheit auf Gott gewahr. Er erfährt sich als vom Unbedingten (als schlechthinniger Realität) getragen. Auch der Christologie Tillichs ist es folglich nicht möglich, positives Zeugnis von Gott abzulegen, sondern das Erlebnis der Realität des Unbedingten wird stets nur durch das Erlebnis seiner absoluten Negativität vermittelt. Die Negation der unmittelbaren Gotteserkenntnis wird folglich zur Voraussetzung eines wahren religiösen Verhältnisses. Deshalb fügt die Theologie dem System Tillichs inhaltlich nichts Neues hinzu. Dennoch bildet sie das strukturierende Zentrum des Systems, welches im religionsphilosophischen Part stets mit vorausgesetzt ist. Der Begriff negative Theologie betont die Dominanz der Theologie Tillichs gegenüber der Religionsphilosophie. An die vorangehenden Überlegungen schließen sich mehrere Problemkomplexe an, die im Folgenden diskutiert werden sollen. Zunächst sollen die Symboltheorie und das Offenbarungsverständnis Tillichs kritisch hinterfragt werden. Anschließend soll diskutiert werden, ob sich die These, dass die Religionsphilosophie die christologische Perspektive bereits enthält, nicht auch umkehren lässt. Das würde bedeuten, dass das Christus-Bild von der allgemeinen Teilhabe am Unbedingten (aufgrund der Wesensverknüpfung von Gott und Mensch) im Moment der Negativität her verstanden werden kann und der Offenbarungsbegriff damit rein philosophisch konstruiert ist. Um diese Frage zu klären, soll auch überlegt werden, was die Religionsphilosophie gegenüber der Theologie leistet. Denn wenn entweder die eine oder die andere These stimmt, wenn also entweder die Religionsphilosophie christologisch oder die Christologie philosophisch konstruiert ist (während der Inhalt deckungsgleich ist), dann muss Tillich auch
Vgl. MW, Bd. II, S. 74: „Religion ist die Erfahrung des Unbedingten und das heißt Erfahrung schlechthinniger Realität auf Grund der Erfahrung schlechthinniger Nichtigkeit; es wird erfahren die Nichtigkeit der des Seienden, die Nichtigkeit der Werte, die Nichtigkeit des persönlichen Lebens; wo diese Erfahrung zum absoluten, radikalen Nein geführt hat, da schlägt sie um in eine ebenso absolute Erfahrung der Realität, in ein radikales Ja.“
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danach befragt werden, warum er überhaupt beide Disziplinen voneinander unterscheidet. Zunächst zur Kritik an Tillichs Symbol- und Offenbarungsbegriff: Die symbolische Konzeption von Tillichs Offenbarungsbegriff kann als Verarmung der Christusoffenbarung kritisiert werden, indem eine wirkliche Erfahrbarkeit Gottes als dessen Selbstbewegung nicht aus Tillichs Systemkonzeption hervorgeht. Denn Symbolhaftigkeit haftet stets ein Formcharakter an, da nicht etwa in eine an sich leere Form ein göttlicher Gehalt oder Inhalt strömt. Vielmehr offenbart eine Form ein Anderes, ohne sich dabei jedoch selbst ihres Formcharakters zu entledigen. Denn das Göttliche lässt sich nur durch Negation vergegenwärtigen und zwar so, dass sich die Form selbst verneint und der Gehalt dann nur das Andere der Form, also ihre Negation, darstellt. Eine direkte Gotteserfahrung ist somit nicht möglich. Nichtsdestotrotz lässt sich Tillichs Offenbarungsverständnis so auslegen, dass sich im symbolischen Akt der Selbstnegation des Bedingten Gott vergegenwärtigt. Damit ist die Gefahr der Vergegenständlichung Gottes durch Gott selbst aufgehoben. Denn obwohl das Unbedingtheitserlebnis im Symbolcharakter der mystischen Objekte gründet, will Tillich die Offenbarung Gottes nicht als bloßen Selbstvollzug des Menschen verstanden wissen. Hingegen versucht er nachzuweisen, „daß das unbedingte Realitätserlebnis […] die Religion nicht zu einem Spiel des Selbstbewußtseins mit sich selbst macht, sondern daß die Religion auch in diesem Sinne letzte, ja absolute Ernsthaftigkeit beanspruchen kann.“¹² Dennoch ist diesbezüglich, vor allem in der Christologie, eine Uneindeutigkeit zu vermerken. So bleibt fraglich, ob die Selbstnegation der bedingten Formen im symbolischen Akt mit einer Selbstmanifestation Gottes identisch ist und ob in diesem religiösen Akt eine wirkliche Erfahrung des Unbedingten erfolgt. Denn Tillich liefert keine genaue Spezifizierung dieser Realität, indem er eingesteht, dass wir nicht wissen können, wie diese genauer aussieht und wie unsere Existenz umgestaltet ist.¹³ Es wird zwar im Christussymbol die wesenhafte Beziehung zwischen Gott und Mensch aufgezeigt, indem das Bedingte sich selbst analog zum Tod Christi als Unbedingtes negiert. Diese Erkenntnis kann jedoch auch unabhängig vom Christus-Bild aufgrund der Wesensverknüpfung des Menschen mit dem Unbedingten erfolgen. Da Offenbarung nicht als Kondeszendenz Gottes verstanden wird, ist es möglich, die von dem Realbild hervorgerufene Umwandlung in der Existenz nur als Geschehen im Menschen zu deuten, der sich in seinem Sinnvollzug reflektiert, und nicht als Selbstkundgabe Gottes. Damit wird das
EN, Bd. XII, S. 413. EN, Bd. XIV, S. 340: „Wie freilich diese Realität aussieht und wie die Existenz umgestaltet ist, das wissen wir nur durch das Bild, d. h. wir wissen es nicht.“
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Offenbarungsgeschehen auf eine rein psychologische Wirklichkeit reduziert. Aber die Interpretation, den Prozess der Selbstnegation als vom Unbedingten evoziert zu deuten und von einer Manifestation des Unbedingten im symbolischen Akt auszugehen, enthält einen Widerspruch: Eine solche Offenbarung würde gleichzeitig den Vorgang des Symbolisierens überflüssig machen, da eine Kondeszendenz Gottes in den symbolischen Akt die Uneigentlichkeit, die jedem symbolischen Akt notwendig anhaften muss, aufheben würde. Offenbarung nach Tillich bedeutet jedoch eine Umwendung, mit der keine positive Vergegenwärtigung Gottes einhergeht, sondern allein der Einbruch der Erkenntnis, dass vom Bedingten ausgehend keine göttliche Wahrheit abgeleitet werden kann. Dass Tillich das Christus-Symbol als real und konkret bezeichnet, birgt ebenfalls eine Ungereimtheit. Denn diese Konkretheit wird an der von ihm ausgehenden Wirkung festgemacht, nicht am Gegenstand der Betrachtung selbst. Es müsste aber auch der Vorstellungsinhalt konkret sein, nicht nur der Bezug zur Lebenswelt des Menschen, um ein Symbol als konkret auszuweisen. Konkrete Symbole kann es aber nicht geben, da damit eine weitere Bedingung von Symbolhaftigkeit, nämlich Arbitrarität, aufgehoben wäre und es sich folglich nicht mehr um ein echtes Symbol handeln würde. Diese sind jedoch immer abstrakt, da die Beziehung zwischen Signifikat und Signifikant auf menschlicher Konvention beruht und sich nicht aus der konkreten Beschaffenheit des Signifikats ableiten lässt. Wenn auch die Christologie Tillichs Gott nicht positiv erweisen kann und inhaltlich nicht über die Religionsphilosophie hinausgeht, kann nach beiden Seiten hin gefragt werden, worin das jeweilige Selbstverständnis der beiden Disziplinen besteht und warum überhaupt eine formale Unterscheidung stattfindet. Denn beide Fachrichtungen zeugen vom christlichen Kriterium und entwickeln dieses negativitätstheoretisch. So zeugt auch die Religionsphilosophie vom sich in der Offenbarung mitteilenden Unbedingten, welches dann in der Dogmatik systematisch und in seiner christlich-trinitarischen Erscheinungsform als Vater, Sohn und Heiliger Geist begrifflich ausgearbeitet und dargestellt wird. Zunächst lassen sich drei Aspekte aufführen, die den Nutzen der Religionsphilosophie gegenüber der Theologie betonen: Erstens spricht die Religionsphilosophie über das Unbedingte, ohne die christologische Symbolik zu gebrauchen, womit eine Offenheit einhergeht. Die Religionsphilosophie besitzt einen apologetischen Charakter und ermöglicht die Eröffnung einer Kommunikationssituation, an die die Theologie anschließen kann. Zweitens ist es für Tillich von entscheidender Bedeutung, vom Menschen auszugehen und um sein System herum einen anthropologischen Rahmen zu spannen. Den Menschen nur mit Werkzeugen, die die Theologie liefert, zu erfassen, wäre eine Begrenzung, die dem umfassenden Menschenbild Tillichs nicht gerecht wird. Für Tillich ist es wichtig, zu klären, ob dem Menschen ein religiöses Bewusstsein in seinem Selbst-Welt-Sein
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innewohnt und wie dieses gestaltet ist. Das kann nur die Religionsphilosophie leisten. Und so wird gleichsam durch die Religionsphilosophie das philosophische „Werkzeug“ zur Verfügung gestellt, um die Inhalte der Dogmatik noch adäquater zu explizieren und in einen größeren Kontext einzuordnen. Dadurch wird die Dogmatik weder von einem fremden Prinzip abhängig gemacht, noch bleibt sie auf sich selbst gestellt. Vielmehr besitzt sie begriffliche und erkenntnistheoretische Voraussetzungen, die dann in ihr entwickelt werden und die gleichsam die Grundlage ihrer eigenen Erwägungen bilden. Diese sind dadurch nicht unvermittelt. Ihnen voraus geht die „gesamte Sphäre der Realisierung“ (die Religionsgeschichte), die „für die Betrachtung dessen, was sich in ihr realisiert“ elementar ist.¹⁴ Drittens ist es nur der Religionsphilosophie möglich, einen Wesensbegriff von Religion zu formulieren, um dann die Erscheinungsformen von Religion in ein Verhältnis setzen zu können. Andersherum ist die Religionsphilosophie abhängig „von dem Gegenstand [Hervh. d. Verf.], der sich unmittelbar prophetisch und vermittelt dogmatisch ausspricht. Die religiöse Wirklichkeit erschließt sich nur dem Glauben. Er ist auch für die Religionsphilosophie Voraussetzung.“¹⁵ Die Dogmatik Tillichs ermöglicht darüber hinaus eine Darstellung der Erkenntnistheorie aus konkret christologischer Perspektive und liefert eine dezidiert christliche Antwort auf die Möglichkeiten und Grenzen der Gotteserkenntnis ausgehend von der Mitte der Christologie, der Offenbarung in Christus. Dieser „Durchbruch“ bildet zwar den gemeinsamen Schnittpunkt beider Disziplinen, darüber hinaus haben beide jedoch ihre spezifisch eigenen Funktionen, die den Bereich der jeweils anderen überschreiten und erweitern. Zuletzt soll in Bezug auf das Verhältnis von Religionsphilosophie und Theologie geprüft werden, ob sich die von mir aufgestellte und nachgewiesene These, Tillichs Religionsphilosophie sei stets schon christlich präfiguriert, auch umkehren lässt. Es stellt sich also die Frage, ob nicht der Offenbarungsbegriff – umgekehrt – philosophisch konstruiert ist. Diese These umzukehren, würde bedeuten, dass das Christus-Bild von der allgemeinen Teilhabe am Unbedingten
EN, Bd. XIV, S. 103. Zur Sphäre der Realisierung zählt Tillich die gesamte Geistesgeschichte, also auch die nicht-christlichen Religionen, die mit der Religionsphilosophie auf einer Stufe – der Vorbereitungsstufe – stehen. Ebd. und a.a.O., S. 14. Vgl. Tillich, P., Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie, S. 63: Auch in diesem Aufsatz konstatiert Tillich, dass Religionsphilosophie stets innerhalb der „religiösen Wirklichkeit“ steht: „Religionsphilosophie, die außerhalb der religiösen Wirklichkeit steht, ist so sinnwidrig wie Ästhetik, die außerhalb der künstlerischen Wirklichkeit steht, denn beides hieße: über einen Gegenstand reden, dessen einzige Gegebenheitsform unzulänglich bliebe.“
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(aufgrund der Wesensverknüpfung von Gott und Mensch) im Moment der Negativität her verstanden werden muss. Hierzu ist festzustellen, dass eine Umkehrung der These sich ebenso aus den Ergebnissen meiner Arbeit ableiten lässt, wie die von mir ursprünglich aufgestellte Theorie und sich ihre Vertretbarkeit aus Tillichs symbolisch konzipiertem Offenbarungsbegriff ergibt. Denn, wie zuvor dargestellt, gründet das Unbedingtheitserlebnis bei Tillich im Symbolcharakter der mystischen Objekte. Daraus geht hervor, dass das von Tillich so bezeichnete Realitätserlebnis auf einem Negativitätserlebnis gründet und sich folglich das Göttliche nur durch seine Negation vergegenwärtigen lässt, indem die Form sich selbst verneint. Der dadurch zum Ausdruck kommende Gehalt ist dann aber nur die negierte Form, also selbst noch Form. Dieser symbolische Erkenntnisvorgang ist bei Tillich identisch mit dem symbolischen Sprechen von Gott, da beides der Form verhaftet bleibt. Die Verneinung der Unbedingt-Setzung von Bedingtem wird von Tillich auch als Erschütterung bezeichnet. Der Akt der Erschütterung und Umwendung des Menschen im Offenbarungserlebnis meint eine Selbstnegation des Bedingten vor dem Unbedingten. Die Teilhabe des Menschen am Unbedingten ist ihm schon durch die Schöpfung mitgegeben, d. h. er kann auch unabhängig vom Christussymbol das wahre Gottesverhältnis repräsentiert finden (Vgl. analogia entis). Es ist also möglich, das Christus-Bild von dieser philosophischen Grundlage und der sich im Erkenntnisakt offenbarenden Negativitätserfahrung her zu verstehen und nicht andersherum.Vorrang für die religiöse Erfahrung hat dann nicht das Christus-Bild oder die Tatsache einer Kondeszendenz Gottes in Christus, sondern die erkenntnistheoretische Erschließung der Negativität im Durchbruch. Das heißt, nicht Christus begründet dann die religiöse Erfahrung, sondern das Negativitätserlebnis. Das Christus-Bild dient dann nur nachträglich als Symbol zur Veranschaulichung der schon auf religionsphilosophischer Ebene erschlossenen religiösen Erfahrung. So gesehen könnte nicht mehr davon ausgegangen werden, dass die Religionsphilosophie christlich präfiguriert ist, da sie vielmehr eine allgemeine religiöse (Grund‐)Erfahrung des Menschen voraussetzen würde. Dadurch würde die Christologie Tillichs dessen Religionsphilosophie nicht überbieten oder ihr etwas hinzufügen, was nicht schon in ihr selbst enthalten ist, da das Christus-Bild keine wirkliche Selbstbewegung Gottes in die menschliche Situation beschreiben würde. Gleichzeitig würde eine rein philosophisch konzipierte Christologie bedeuten, dass bereits die Negativität in der Situation des Durchbruchs die religiöse Erfahrung selbst begründet. Damit einhergehend wäre ein Wissen um die im Christussymbol enthaltenen Kriterien auch unabhängig vom geschichtlichen Christus erschließbar. Dagegen spricht allerdings die hohe Relevanz, die Tillich der Religionsgeschichte beimisst. Denn das Christusereignis lässt sich nach Tillich nur als ein durch den religionsgeschichtlichen Prozess Vermitteltes und als
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existentiell Angehendes rezipieren. Zwar handelt es sich beim Christus-Bild um ein Symbol, welches sich dem Menschen in einem Erkenntnisakt erschließt. Diese Offenbarungserkenntnis muss sich jedoch nach Tillich aus der Kontinuität der Offenbarungs- und Traditionsgeschichte ergeben: Eine Erschließung Gottes außerhalb von Offenbarung ist laut ihm nicht möglich. Er lehnt folglich jede Form natürlicher Offenbarung ab. So konnte sich der originale Durchbruch im Urchristentum nur durch das überlieferte Christus-Bild entwickeln und es musste eine Bereitschaft der ersten Christen bestehen, dieses als unbedingt angehend anzunehmen. Hierzu musste dem Christusereignis allerdings eine Vorbereitungsperiode vorausgehen, um das messianische Bild vorzubereiten, an dem sich die originale Offenbarung entzündet hat. Ohne diese Vorbereitung, das Offenbarungserlebnis der Jünger und den ursprünglichen Kairos wären auch abhängige Offenbarungen nicht möglich. Folglich muss dem Negativitätserlebnis das Christusereignis vorausgehen, damit es als Spiegel für die existentielle Situation des Menschen dienen kann. Es stellt den Mittelpunkt jedes Offenbarungserlebnisses dar. Eine Christologie, die sich nur negativitätstheoretisch ausspricht, greift in Bezug auf Tillichs Konzept allerdings zu kurz. Denn so würde Gott alles abgesprochen werden, was unsere sinnlich-erfahrbare Welt ausmacht. In Tillichs Werk lassen sich jedoch auch Stellen finden, die von einer positiven Setzung Gottes zeugen. Im „Mut zum Sein“ drückt sich diese Positivsetzung in der Formulierung „Gott über Gott“ bzw. „Gott über dem Gott des Theismus“ aus.¹⁶ Hier kommt zum Ausdruck, dass Tillich den Durchbruch nicht nur negativ entfaltet. Der Fokus liegt nicht auf dem Zerbrechen von etwas, sondern auf der Macht des neuen Seins, das durch dieses Zerbrechen enthüllt und hervorgerufen wird. Absoluter Glaube oder der Zustand des Ergriffenseins von dem Gott über Gott ist kein Zustand, der uns neben anderen Seelenzuständen zuteil wird. […] Er ist kein Ort, wo man leben kann; er ist ohne die Sicherheit, die Worte und Begriffe vermitteln, ist ohne Namen, ohne Kirche, ohne Kult, ohne Theologie. Aber er ist in der Tiefe von ihnen allen wirksam. Er ist die Macht des Seins, an dem sie alle partizipieren und dessen fragmentarische Ausdrucksformen sie sind.¹⁷
Entsprechend lässt sich auch Gnade nicht negativitätstheoretisch erklären. Denn sie wirkt stets als eine „Macht“ im Menschen.¹⁸ Aufgrund der genannten Beispiele ist es schwierig und nicht eindeutig, Christus bei Tillich ausschließlich von einem Negativitätserlebnis her zu verstehen.
Tillich P., Der Mut zu Sein, Berlin; New York 1991, S. 138 f. A.a.O., S. 139. Vgl. a.a.O., S. 137 f.
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Insgesamt lässt sich die Frage nach einer möglichen Umkehrung meiner Eingangsthese so lösen, dass das Verhältnis von Theologie und Religionsphilosophie stets nur korrelativ und hermeneutisch gedacht werden kann. Denn beide Disziplinen lassen sich nur aus dem Horizont der jeweils anderen verstehen und beide greifen ineinander. In ihrer Korrelation spiegeln sie nicht nur die Methode Tillichs wider, sondern offenbaren auch die sich in jedem Denken und Sein enthüllende Seinsfülle Gottes, die sich ebenfalls nur in der Kraft ihrer Erschließung durch den Menschen verwirklichen kann. Hinsichtlich des Hauptanliegens dieser Arbeit, das Wahrheitsverständnis Tillichs zu ergründen und Beurteilungskriterien aus dem Zentrum von Religionsphilosophie und Christologie für den Wahrheitsanspruch außerchristlicher Religionen aufzuspüren, ist es entscheidend, dass Tillichs Religionsphilosophie und Theologie sich nur formal und nicht inhaltlich unterscheiden und folglich in einem Korrelationsverhältnis betrachtet werden müssen. Denn aufgrund ihrer nur divergierenden Ausdrucksgestalt können beide Disziplinen herangezogen werden, um das christliche Wahrheitsverhältnis als Verhältnis von Gott und Mensch unter den Bedingungen von Geschichtlichkeit im Gefüge außerchristlicher Religionen und Weltanschauungen nachzuvollziehen.
2 Zur Frage nach einem Systemwandel Zum zweiten: An die Kernthese dieser Arbeit schlossen sich vier weitere Thesen und Forschungsfragen an. Zunächst stellte sich (zweite Forschungsfrage) die Frage nach der methodischen wie inhaltlichen Stringenz von Tillichs Gedanken unter Einbezug der neu zu erörternden RP-Vorlesung. Die Darstellung der vorangehenden Zusammenhänge konnte bereits verdeutlichen, dass Tillichs frühes System trotz der Wandlung des Ausgangspunktes der Religionsphilosophie und der damit einhergehenden formalen Angleichung von Religionsphilosophie und Theologie inhaltlich keine grundlegenden Veränderungen durchlaufen hat. Das heißt, dass die Grundhaltung bezüglich des Wahrheitsverhältnisses der GottMensch-Beziehung und davon ausgehend die Beurteilung außerchristlicher Religionen sowohl für Tillichs Religionsphilosophie als auch für seine Theologie konstant geblieben ist. Auch lässt sich eine Kontinuität zum späten Tillich ausmachen, obschon dies mehr als Hypothese formuliert werden muss (da das Spätwerk nicht explizit Gegenstand dieser Untersuchung ist). Weiterhin lässt sich nach der Darstellung obiger Ergebnisse auch die dritte Forschungsfrage bejahen: Aus der formalen wie inhaltlichen Synergie von Religionsphilosophie und Theologie geht hervor, dass Tillich in der Beurteilung außerchristlicher Religionen von beiden Standpunkten aus eine am christlichen Kriterium orientierte und damit standortgebundene Perspektive einnimmt. Wie sich diese Perspektive konkreter in ihren Vor- und Nachteilen gegenüber der Beurteilung außerchristlichen Religionen und für die moderne religionstheologische Debatte und den interreligiösen Dialog darstellt, soll im Folgenden kritisch erörtert werden. Gleichzeitig lassen sich damit die vierte und fünfte Forschungsfrage aus der Einführung beantworten.¹
Da (aufgrund der vorangehenden Ergebnisse) als Grundalge für die folgende kritische Beurteilung stets vorausgesetzt werden kann, dass Tillichs Religionsphilosophie keine neutrale außerperspektivische Haltung einnimmt, wird im Folgenden der Einfachheit halber nur noch von Tillichs Gedanken gesprochen; diese schließen die religionsphilosophische und theologische Perspektive der Frühzeit ein. https://doi.org/10.1515/9783110671759-011
3 Zum interreligiösen und religionstheologischen Ertrag Zum dritten: Zunächst stellte sich die Frage, wie religionsphilosophische und theologischer Gedanken für die religionstheologische Debatte sowie den interreligiösen Austausch fruchtbar gemacht werden können, der das Ziel verfolgt, Voreingenommenheit abzubauen und gegenseitiges „einfühlendes Verstehen“ sowie Perspektivübernahme zu fördern (vierte Forschungsfrage). Dabei wurde kritisch erwogen, ob Tillichs stets deutungsimprägnierter Ansatz die geforderte Offenheit eines dialogischen Austauschs als „Voreingenommenheit“ beschränken oder begrenzen könnte. Anknüpfend daran wurden seine frühen christozentrischen Gedanken über das Verhältnis der christlichen Religion zu den außerchristlichen Religionen nach ihrem Nutzen für die religionstheologische Debatte sowie den interreligiösen Dialog befragt. Im Zentrum steht also die Frage, ob sich aus dem Kern der Christologie heraus geeignete und weiterführende Impulse entwickeln lassen oder ob diese Form des Austauschs auf der Basis einer neutralen Religionsphilosophie geführt werden müsste, die die Gefahr gegenseitiger „Vereinnahmensdynamik[en]“ verhindert.¹ Für die Beantwortung dieser Frage muss zunächst zwischen den Begriffen „interreligiöser Dialog“ (bzw. „Dialog der Religionen“) und der religionstheologischen Debatte (bzw. der sog. „Theologie der Religionen“) differenziert werden. Dabei bildet letztere den theoretischen Bezugsrahmen bzw. das theoretische Konzept „[…] für das Herangehen an den interreligiösen Dialog […]“ und kann mit Dehn als „Methode der Sensibilisierung für die Begegnung mit den Menschen anderer religiöser Traditionen“ oder auch als „‚Denkschule’ des Dialogs“ verstanden werden.² Sie dient der Orientierung und Vergewisserung über den eigenen Standpunkt bzw. bedeutet die reflexive Richtung, die dem Dialogpartner als Grundhaltung gegenüber eingenommen werden kann und die auch das Gespräch selbst strukturiert und leitet. Wenn im Folgenden überlegt werden soll, wie sich Tillichs Gedanken für den interreligiösen Dialog fruchtbar machen lassen, so bedeutet dies zunächst, Impulse für diesen religionstheologischen Diskurs von Tillich abzuleiten. Die oben aufgeworfenen Fragen, beispielsweise nach dem Ausgangspunkt des Dialogs von einer bestimmten Fachrichtung aus, nach einer möglichen Vor Dehn, U. Einleitung: Brauchen wir für den interreligiösen Dialog eine Theologie der Religionen? In: Ders. (Hrsg.), Handbuch Dialog der Religionen. Christliche Quellen zur Religionstheologie und zum interreligiösen Dialog, Frankfurt am Main 2008, S. 25. A.a.O., S. 27. https://doi.org/10.1515/9783110671759-012
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eingenommenheit, nach den Verstehensmöglichkeiten und -grenzen von Anhängern anderer Religionen, der Eigenwahrnehmung, der Wahrnehmung des Anhängers der anderen Religion etc., werden in diesem Diskurs über eine „Theologie der Religionen“ ausgehandelt. Mit diesen und vielen weiteren Fragestellungen beschäftigt sich die Theologie seit den 70er Jahren, welche im Anschluss an die Theorie des „religiösen Pluralismus“³ zunächst darum bemüht war, religionstheologische Modelle zu entwickeln. Diese zielen darauf, mit der Vielheit divergierender religiöser Wahrheitsansprüche sinnvoll umzugehen.⁴ Zunächst fanden Diskussionen im Rahmen des entwickelten Dreiermodells Exklusivismus – Inklusivismus – Pluralismus statt, welches jedoch aufgrund seiner einseitigen Kategorisierungen kritisiert und primär in seinem heuristischen Wert gewürdigt worden war.⁵ Neuere Modelle, wie beispielsweise der sog. „mutuale“ oder „aufgeklärte“ Inklusivismus sowie die komparative Theologie bemühen sich vor allem um die Integration einer immer höher ausgebildeten Metatheorieebene in der Eigenkonzeption religiöser Wahrheit. So ist ein Inklusivismus beispielsweise aufgeklärter, der um die „Partikularität der eigenen Sicht der anderen Religionen“ weiß und sich (und seine Begrenztheit) so aus einer Metaebene betrachten kann. Dieser reflexive Prozess der Selbstvergewisserung über den eigenen Standort wird auch im Anschluss an die Ergebnisse dieser Arbeit als unverzichtbare „Vorarbeit“ vor der interreligiösen Begegnung erachtet. Nur von diesem Ort der Selbstvergewisserung aus und durch die intensive rationale Auseinandersetzung mit dem eigenen Glauben ist es auch möglich, Alternativen (wie beispielsweise die von Dietrich Korsch⁶) zum klassischen Diskurs der Theologie
Fachbegriffe wie „Pluralismus“, „Inklusivismus“, „Exklusivismus“, „Komparative Theologie“ etc. setzte ich unerklärt voraus und verweise für Hintergrundinformationen über die jeweiligen Konzept auf die Literatur in der folgenden Fußnote. An dieser Stelle möchte ich auf die vielen Publikationen des letzten Jahrzehnts zum Thema verweisen. Der Rahmen meiner Arbeit ermöglicht lediglich einen kleinen Ausblick und versteht sich als Impuls zur Weiterarbeit. Einen Überblick über den religionstheologischen Diskurs bieten u. a. folgende Werke: Danz, C., Körtner, U.H.J.(Hrsg.), Theologie der Religionen, Positionen und Perspektiven evangelischer Theologie., Neukirchen-Vluyn 2005; Danz, C., Einführung in die Theologie der Religionen, Wien 2005; Danz, C., Hermanni, F. (Hrsg.), Wahrheitsansprüche der Weltreligionen – Konturen gegenwärtiger Religionstheologie, Neukirchen-Vluyn 2006; Dehn, U. (Hrsg.), Handbuch Dialog der Religionen (s.o.); Winkler, U., Wege der Religionstheologie. Von der Erwählung zur komparativen Theologie (Salzburger Theologische Studien, Bd. 46), Innsbruck; Wien 2013; Bernhard, R. (Hrsg.), Beiträge zu einer Theologie der Religionen (mehrere Bände). Vgl. Dehn, U., Handbuch Dialog der Religionen, S. 24. Danz, C., Hermanni, F., Zur Einführung. Wahrheitsansprüche der Weltreligionen – Konturen gegenwärtiger Religionstheologie, in: Dies. (Hrsg.), Wahrheitsansprüche der Weltreligionen – Konturen gegenwärtiger Religionstheologie, Neukirchen-Vluyn 2006, S 5.
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der Religionen zu beurteilen und selbst zu entwickeln. In einem nächsten Schritt können diese dann für einen interreligiösen Dialog das praktische „Handwerkszeug“ liefern. Die Frage, ob nach Tillich für einen Dialog eine neutrale Religionsphilosophie Basis der Auseinandersetzung sein sollte, kann eindeutig verneint werden. Denn auch von Tillichs christozentrischen Gedanken lassen sich wichtige Impulse für die religionstheologische Debatte ableiten. Danz und Hermanni heben hervor, dass selbst der „aufgeklärte Inklusivismus“ noch kritisiert wurde, da er ob seiner Metareflexivität um die eigene Voreingenommenheit „fremde Religionen vereinnahmt, solange er auf eine religionsphilosophische Reflexion des Religionsbegriffs verzichtet“⁷. Im Anschluss an die Untersuchung dieser Arbeit (und damit aus der Perspektive Tillichs) muss allerdings bemerkt werden, dass trotz der religionsphilosophischen Reflexion außerchristlicher Religionen diese Vereinnahmung stattfindet (oder geradezu stattfinden muss), da den Ausgangspunkt für die eigene religiöse Selbstvergewisserung stets die christologische Perspektive bildet. Bei Tillich lassen sich folgende religionstheologische Ansätze deutlich ausmachen: Erstens die bereits ins religiöse Prinzip integrierte und sich im Christus-Bild verwirklichende Voraussetzung einer Metatheorieebene, die eine Reflexion des religiösen Bewusstseins auf seine Voraussetzungen und Bedingungen bedeutet. Zweitens die Notwendigkeit, den eigenen religiösen Standpunkt als partikular, konkret in der Geschichte erfahrbar und somit exklusiv zu formulieren, ohne gleichzeitig andere, konkurrierende Wahrheitsansprüche dabei ablehnen zu müssen. Damit einhergehend drittens die Ablehnung eines religiösen Pluralismus, der den großen Religionen (als Religionen) gleiche Heilsbedeutung zugesteht. Denn den Ausgangspunkt für die eigene religiöse Selbstvergewisserung bildet bei Tillich stets die christologische Perspektive. Damit ist seine Position inklusivistisch. Mit Tillich lässt sich das „wahrheitstheoretische Problem der Religionstheologie“ folglich so lösen, dass zwar der eigene religiöse Standpunkt als in der Geschichte erfahrbar, exklusiv und qualitativ unüberbietbar formuliert wird, andere, divergierende Wahrheitsansprüche dabei jedoch nicht abgelehnt, sondern als Teil der eigenen Religionsgeschichte mit aufgenommen werden. Es wird davon ausgegangen, dass diese sich in einer Dynamik hin zur Idealreligion befinden. Deshalb wird ihr Heilsweg selbst nicht schon als Erfüllung und als Entsprechung des substantiellen Wahrheitsverhältnisses von Gott und Mensch gedeutet, sondern als nur relative, bedingte und deshalb überwindungsbedürftige Ausdrucksform des Verhältnisses von Gott und Mensch. Jeder dieser Einzel- bzw.
A.a.O., S. 3.
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Individualansprüche muss nach Tillich am christlichen Kriterium gemessen werden, auch der Anspruch der eigenen, christlichen Religion. Auch die eigene religiöse Überzeugung stellt sich folglich im Bewusstsein um ihre Fallibilität und Begrenzung als Religion (und somit kontingente Ausdrucksgestalt) hinter die Größe Gottes, von der sie sich getragen weiß. Hierin besteht die Stärke der Theologie Tillichs. Tillich eröffnet die Perspektive – so die Ergebnisse dieser Untersuchung – erneut den „zentralen Problemaspekt in den religionstheologischen Diskussionen“⁸, nämlich die Christologie, in den Fokus zu stellen. Denn sie bleibt Dreh- und Angelpunkt aller Überlegungen Tillichs. Im Folgenden soll deshalb im Anschluss an die fünfte Forschungsfrage dieser Arbeit ein Antwortversuch auf die Frage formuliert werden, welchen Nutzen die Gedanken Tillichs über christliche Wahrheit auf religionsphilosophischer und theologischer Ebene für die Selbstvergewisserung des christlichen Glaubens haben kann. Gerade die Verzahnung von Religionsphilosophie und Theologie und somit die übergeordnete christozentrische Perspektive liefert bei Tillich den Schlüssel für eine Durchbrechung beidseitig gefestigter Haltungen und Voreingenommenheit zwischen möglichen Dialogpartnern im interreligiösen Austausch. Die Chance einer Öffnung gegenüber außerchristlichen Religionen besteht einerseits in der prinzipientheoretischen und symbolischen Konzeption des Wahrheitsverständnisses, andererseits in der inhaltlichen Unbestimmtheit und den formalen Bedingungen für Wahrheit. Jede Religion kann hier anschließen. Die Rezipierbarkeit des christlichen Kriteriums ist deshalb für andere Religionen gut möglich, da das religionstypologische Modell das Wahrheitsprinzip geschichtsphilosophisch entfaltet und die konkret-geschichtlichen Situationen anderer Religionen mit aufnimmt. Das Christus-Symbol kann so auch Anhängern anderer Religionen als existentiell bedeutsam begegnen. Da die von Tillich in seiner Religionstypologie behandelten Religionen mit dem Christentum in einer prinzipientheoretischen und heilsgeschichtlichen Beziehung stehen, ist es ihnen möglich, das auf christlicher Basis entwickelte Ideal als etwas aufzunehmen, das auch sie unbedingt angeht. Denn die in Tillichs Religionstypologie aufgenommenen Religionsgemeinschaften vereinen dieselben Grundprinzipien in sich (Denken und Sein, Form und Gehalt), da sie aus demselben konstruierten Ursprung erwachsen. Folglich sei auch jede Religion darauf angelegt, auf die ideale Norm hinzustreben, die alle Wesenselemente von Religion und Kultur verbindet und eine theonome Geisteslage schafft, die das im Wesen des Sinnes selbst angelegte Ziel aller Sinnverwirklichung bedeutet. Gleichzeitig ist Religion dort als
A.a.O., S.6.
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heteronome Geisteslage aufgehoben. Allerdings ist dieser ideale Zustand von Tillich eschatologisch gedacht. Im Bedingten sei keine absolute Wahrheitserkenntnis möglich, folglich lasse sich Wahrheit auch nur als Grenzerlebnis des Denkens darstellen, alle Formen können stets nur Medien des Gehalts sein. Andere Religionen können deshalb an dieser Sinnerfüllung partizipieren, da die vom Christus-Bild ausgehende Erschütterung den Menschen in seiner konkreten Situation ergreift und nicht nur eine abstrakt anzueignende Idee bedeutet. Die Christologie dient Tillich somit als Beurteilungsmaßstab anderer Religionen, wobei sie den Ort bildet, an dem der Mensch zu einem Bewusstsein um die Wandelbarkeit und Bedingtheit seiner religiösen und kulturellen Ausdrucksformen durchdringt. Das Christus-Bild zeigt deshalb die Fehlbarkeit einer Identifikation einzelner Denkformen mit dem Unbedingten auf. Gott ist nicht das Denken selbst und kann auch nicht aus einer Analyse des Denkens oder der Wirklichkeit gewonnen werden, sondern transzendiert diese. Diese Erkenntnis können auch andere Religionen im Moment des Durchbruchs erlangen. Sie wird von Tillich als einzige Bedingung für ein wahres Gottesverhältnis aufgestellt.⁹ Würde auf dem Boden einer anderen Religion ein Religionsträger sich selbst in seiner Bedingtheit analog zu Christus verneinen und nur in seiner medialen Funktion, Träger des Unbedingten zu sein, bejahen, so würde dies dem Christussymbol entsprechen. Ausgehend von Tillichs Offenbarungsverständnis ist also keine andere Religion von der Heilsgeschichte ausgeschlossen. Zwar wird die Christusoffenbarung als qualitativ unüberbietbar angesehen, dennoch wird nicht ausgeschlossen, dass sie sich auch in anderen Religionen in Form von analogen Durchbrüchen erfüllen kann. Das auf einem Prinzip gründende Wahrheitsverhältnis zwischen Gott und Mensch setzt darüber hinaus bei Tillich voraus, dass es zwei absolute (extreme) Ansätze zu vermeiden gilt: Weder ist Gott vom Denken gesetzt, noch setzt Gott das Denken. Stattdessen bestimmt die Methode der Korrelation alle Denkbestimmungen in Tillichs System. Auch schon die Methode kann bei Tillich immer nur durch eine Kombination und Verzahnung bereits vorhandener Methoden und Erkenntniswege generiert werden, weshalb es ihm gelingt, divergierende philosophische und theologische Ansätze in ein korrelatives Verhältnis zu setzen. Analog geht es ihm auch in der Beurteilung nicht-christlicher Religionen um die Herausarbeitung idealtypischer, teils divergierender Elemente und Polaritäten in den Religionen. Diese negieren sich zwar gegenseitig, fordern sich aber auch Vgl. a.a.O., S. 57 f.: Als einziges Kriterium für die Vollkommenheit der Offenbarung und damit die Überlegenheit eines Offenbarungssymbols über einem anderen gilt Tillich der Grad, „in dem das Nein über sich selbst […] Ausdruck gefunden hat und demgemäß die größte sieghafte Kraft über die an sich selbst gebundene Religion hat.“
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gegenseitig heraus und entwickeln folglich die Dynamik hin zur idealen Synthese, welche dann als paradoxe Einheit der Polaritäten gefasst wird. Nur so könne Wahrheit generiert werden. Ohne Divergenzen, so könnte man mit Tillich festhalten, kann es keine Dynamik in Richtung der „Religion des Paradox‘“ geben. Von Bedeutung ist, dass bereits die Dynamik der Methode zur Aufstellung des Wesensbegriffs von Religion der Dynamik der Wirklichkeit selbst entspricht. Denn durch das Denken der Wirklichkeit wird diese zuallererst für ein Ich zur Wirklichkeit. Gott als das Sein selbst wird in Analogie zu diesem Wirklichkeitsverständnis gedacht. Ebenso wie die Wirklichkeit der Methode entspricht, entspricht auch das Sein selbst bzw. Gott dieser Wirklichkeit. Die Struktur Gottes wird also notwendig auch als eine paradoxe gedacht. Es ist folglich nur konsequent, auch die konkrete Manifestation „Gottes“ innerhalb der Geschichte in Analogie zur paradoxen Struktur der Wirklichkeit und des Denkens (Methode) zu begreifen. Christus ist nach Tillich folglich der Inbegriff der konkret sich in der Geschichte der Menschheit manifestierenden paradoxen Struktur des Denkens (Methode). Bezeichnend und von großer Bedeutung für das Verhältnis der christlichen Religion zu außerchristlichen Religionen ist nun allerdings das Reflektieren auf diese Voraussetzung als überwindungsbedürftig: Das Christus-Bild zeigt die Fallibilität dieser Analogien auf und macht bewusst: Gott ist nicht das Denken selbst und kann auch nicht aus einer Analyse des Denkens oder der Wirklichkeit gewonnen werden. Die sich aufdrängende Frage, ob Gott das Denken bedingt oder das Denken Gott, kann bei Tillich nicht dahingehend aufgelöst werden, entweder nur bei der einen oder nur bei der anderen Polarität anzusetzen. Dies wäre eine inkonsequente Reduktion der komplexen inneren Dynamik Gottes selbst. Eine Behauptung des einen und des anderen Extrems (alle Wirklichkeit und so auch Gott sind nur Konstrukte vs. alle Wirklichkeit, so auch Mensch, Geschichte etc. sind von einem als real existierend vorausgesetzten Gott determiniert) kann mit Tillich hingegen als Perversion identifiziert werden. Vielmehr ist Gott eben die Mitte, das Transzendente, welches nicht in der einen oder anderen Bestimmung aufgehen darf und auch nicht vom Denken eingeholt werden kann. Damit aber ist ausgesagt, dass Wahrheit nie eine objektive Tatsache sein kann. Diese psychologische Dimension, dass Gottes Wahrheit nicht als objektive Tatsache, sondern nur als ein Geschehen zu fassen ist, welches sich an und im Selbst (und zwar im Moment des Durchbruchs) erfüllt, beinhaltet die Chance, dass jeder Mensch unabhängig von seiner geschichtlichen Religionszugehörigkeit die Offenbarung Gottes zu jeder Zeit und an jedem Ort vernehmen kann. Die einzige Voraussetzung, die dafür erfüllt sein muss, ist eine Haltung, die einer Dämonisierung des Gottesverhältnisses entgegensteht. Entsprechend werden von Tillichs offenbarungstheologischem Standpunkt aus andere Religionen zunächst als notwendige Bedingungen für die Aufnahme des geschichtlichen Kairos er-
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achtet und damit in die Heilsgeschichte würdigend integriert, jedoch als überwindungsbedürftig und sich in ihrer Dynamik hin auf die Religion des Paradox‘ zubewegend gedeutet. Die Geschichte muss den Weg durch die nicht-christlichen Religionen beschreiten, um das Christusereignis als Durchbruch aufnehmen zu können. Denn die Voraussetzung für die Aufnahme ist eine Dämonisierung des Heilsweges, die im Begriff des Gesetzes enthalten ist.¹⁰ Auch kann eine isolierte Offenbarung, die sich nicht aus der Kontinuität der Religionsgeschichte ergibt, nicht einer real-geschichtlichen Dämonisierung entgegenwirken, indem sie sich wirklich gegen eine Grenzsituation stellt. „Wäre die vollkommene Offenbarung in jedem Augenblick möglich, bedürfte sie keiner Vorbereitung, so würde sie wie ein Fremdkörper, wie ein Klotz in dem Organismus des geistig-geschichtlichen Lebens stehen. Sie würde nicht angeeignet werden können.“¹¹ Gleichzeitig kann die vollkommene Offenbarung nicht direkt aus der Profanität heraus empfangen werden, da sie nicht gehört werden kann, wenn sie unvermittelt in die menschliche Situation einbricht. Ihr müssen andere Religionen vorausgehen, die in sich an einen Punkt der Verzweiflung getrieben wurden, der sie für die Aufnahme des Durchbruchs sensibilisiert. Den nicht-christlichen Religionen kommt auch deshalb eine entscheidende Funktion zu, da Tillich es als notwendig erachtet, für die Aufnahme des Kairos zunächst eine allgemeine Religiosität im Menschen zu entwickeln, die sie befähigt, die Grundoffenbarung zu hören. Dies geschieht durch die Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit. Im Todesbewusstsein als ontologischem Schock wird dem Menschen seine existentielle Einsamkeit bewusst, wodurch das In-sich-Ruhen der Profanität infrage gestellt und nach einem höheren Sinn des Lebens gefragt wird. Andererseits werden andere Religionen dadurch nicht in ihrer Eigenständigkeit gewürdigt, sondern lediglich funktionalisiert und in den Dienst der Christus-Verkündigung gestellt, indem sie dazu dienen, eine religiöse Sensibilisierung des Menschen zu bewirken und eine Alternative zur rein kulturell-profanen Lebenshaltung samt ihrer nur vorläufigen Sinnkonstrukte zu liefern. Ist Religiosität bereits gegeben, so erschöpft sich die Bedeutung der nicht-christlichen Religionen lediglich in ihrer Potentialität an der Grenze ihrer selbst zum Christus-Symbol als Erfüllungskategorie vorzustoßen. Als Verdienst kann jedoch festgehalten werden, dass Tillich das Christentum als historische Religion den anderen Religionen gleichstellt. Es wird von ihm als Religion nicht anders beurteilt als die außerchristlichen Religionen und ebenso in die Vorbereitungsperiode eingeordnet, da es selbst von seinem sinngebenden
Vgl. EN, Bd. XIV, S. 49. a.a.O., S. 318.
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Grund durchbrochen werden muss.¹² Zwar geht Tillich davon aus, dass sich im Christentum der originale Durchbruch als Kairos ereignet hat, dennoch kann auch das Christentum als empirische Religion laut ihm immer wieder depravieren. Religion und Offenbarung werden folglich nicht synonym verwendet. Religion samt ihres Glaubensvollzugs sei stets zweideutig und vorläufig, da sie eine rein menschliche Antwort auf die göttliche Offenbarung darstelle. Echte Offenbarung hingegen wird als reines Zeugnis der Unbedingtheit Gottes gewertet, wodurch jede Religion als Offenbarung Absolutheit für sich beanspruchen dürfe. Durch das Christusereignis ist die Richtung zum Heil unabänderlich in der Geschichte angezeigt worden. Die in der vorbereitenden Periode vorhandenen Elemente wirken zwar nach Tillich in die Zeit nach dem ursprünglichen Kairos hinein, dennoch gibt es einen Unterschied der Zeiten, da der Kairos eine geschichtliche Wirklichkeit ist, auf die sich immer wieder bezogen werden kann. Vom Standpunkt der vollkommenen Offenbarung, d. h. von ihrem konkreten Heilsweg aus, kann das Christentum durchaus für sich beanspruchen „zur Menschheitsreligion bestimmt zu sein“¹³, denn es kann keine außerchristliche Religion mit gleichem Recht auf Vollkommenheit neben der christlichen Offenbarung geben. Allerdings schließt Tillich nicht aus, dass sich auch in anderen Religionen, aufgrund ihrer prinzipientheoretischen Konzeption, das sogenannte Wesen des Christentums erfüllt. Das universale Moment im Wesen des Christentums ermöglicht es, dass das Wesen überall dort erfüllt sein kann, wo eine Offenbarung in sich selbst die Verneinung ihres Heilsweges enthält. Würde auf dem Boden einer anderen Religion ein Religionsträger sich selbst in seiner Bedingtheit verneinen und nur in seiner medialen Funktion, Träger des Unbedingten zu sein, bejahen, so würde dies folglich dem Christussymbol entsprechen. „Das Wesen des Christentums ist also identisch mit der vollkommenen Offenbarung in den Religionen.“¹⁴ Das bedeutet, dass sich auch in anderen Religionen analoge Durchbrüche ereignen können. Die Einmaligkeit der christlichen Offenbarung ist damit jedoch nicht infrage gestellt, da der originale Durchbruch der immerwährende Bezugspunkt bleibt, auf den sich alle nachfolgenden, abhängigen Offenbarungen beziehen. Diese haben allerdings nicht die Kraft, „eine menschheitliche Offenbarungsgeschichte zu schaffen.“¹⁵ Die sich im Christentum ereignende vollkommene Offenbarung wird also als
Vgl. a.a.O., S. 276: Auch das Christentum sei Bestandteil der Vorbereitungsperiode, indem „[…] mit dem Eintritt des Christentums in die Geschichte die Religion nicht etwa aufhört, auch im Christentum nicht. Es kann nur bedeuten, daß die Religion durchbrochen und darum in der Religion Kirche möglich ist.“ A.a.O., S. 60. A.a.O., S. 53. A.a.O., S. 59.
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unüberbietbar verstanden. Außerchristlichen Religionen wird lediglich die Möglichkeit eingeräumt, an dieser teilzuhaben. Diese Offenheit der Tillichschen Theologie ergibt sich wiederum aus der zuvor dargestellten inhaltlichen Unbestimmtheit. Dadurch ist die Chance eröffnet, dass an die formalen Bedingungen für Wahrheit im Prinzip jede geschichtliche Ausgestaltung von Religion anschließen könnte. Fraglich bleibt natürlich, ob dies so akzeptiert werden würde – so ein Anhänger einer anderen Religionszugehörigkeit diese Offenheit durchaus als nicht sehr überzeugend empfinden könnte. Hier lässt sich jedoch ein Verdienst des religionstypologischen Modells anschließen.¹⁶ Denn gerade aufgrund der geschichtsphilosophischen Entfaltung des Wahrheitsprinzips im Fortgang der Religionsgeschichte wird von Tillich die Rezipierbarkeit des christlichen Kriteriums aus der konkret-geschichtlichen Situation auch anderer Religionen heraus begründet. Christus kann als Realisierungsort des Unbedingten in der Geschichte und infolge der speziellen „Vorgeschichte“ der Religionen auch Anhängern anderer Religionen als existentiell bedeutsam und rezipierbar begegnen – Zumindest birgt das Christusbild und dessen Verortung in der Religionsgeschichte dieses Potential. Denn die von diesem Bild ausgehende Erschütterung ergreift den Menschen in seiner konkreten Situation und verweist daher nie nur auf eine nur abstrakt anzueignende Idee. Damit ist ein direkter Anschluss an die zuvor knapp skizzierte, gegenwärtige interreligiöse Debatte gegeben, die sich hauptsächlich mit den Darstellungsformen einer Theologie der Religionen, den Themen Toleranz, Dialogizität, Pluralismus sowie Synkretismus auseinandersetzt. Tillichs Gedanken sind deshalb für den modernen Religionsdiskurs relevant, da sie einseitige absolute Haltungen vermeiden und damit dem Anspruch des modernen Diskurses gerecht werden, welcher von einseitiger Vereinnahmung Abstand nehmen möchte und stattdessen eine Haltung der Offenheit und Toleranz gegenüber divergierenden und pluralen Weltanschauungen vertritt. Im Diskurs begegnet immer wieder die Frage nach dem Selbstverständnis des Christentums und dessen Exklusivitätsanspruch, der vor allem trinitarisch bzw. christologisch begründet wird. Kann das Christentum trotz seines Vollkommenheitsanspruchs anderen Religionen tolerant begegnen? Muss ein Absolutheitsanspruch aufgegeben werden? Wie können Modelle interreligiöser Begegnung von Seiten des Christentums gestaltet werden, ohne die eigene Standortgebundenheit prinzipiell zu nivellieren? Die Ergebnisse meiner Arbeit zeigen, dass Paul Tillichs Bestimmungen von Wahrheit sowohl auf religi-
Vgl. Kapitel 2.1 (Tillichs Einteilungsprinzip: Die Architektonik der Religionstypologie): In diesem Kapitel ist Tillichs Typologie bereits ausführlich kritisiert worden, weshalb an dieser Stelle darauf zurückverwiesen wird.
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onsphilosophischer als auch theologischer Ebene dazu geeignet sind, aus der Mitte des Christentums (und dessen Anspruch, auf vollkommener Offenbarung zu beruhen) heraus, eine Haltung der interreligiösen Toleranz zu begründen, die den eigenen Wahrheitsanspruch nicht aufgeben muss. Sie zeigen, dass nicht dem Christentum als Religion Wahrheit zukommt, sondern dieses als Religion den anderen Religionen gleichgestellt ist. Ihm selbst kommt Absolutheit nur dadurch zu, „daß in ihm das letzte Kriterium für alle anderen Religionen sowie für das Christentum gegeben ist.“ ¹⁷ Dieser Begriff von Absolutheit ist in einem späten Festvortrag anlässlich des 40-jährigen Bestehens des amerikanischen Nachrichtenmagazins „Time“ im Jahre 1963 von Tillich entwickelt worden, lässt sich allerdings auch auf den Ertrag der in dieser Arbeit analysierten Frühschriften Tillichs anwenden und gibt Tillichs eigenes Ziel in der Auseinandersetzung mit den nicht-christlichen Religionen vor. So definiert er auch 1963 die Absolutheit einer Religion nicht als einen „Anspruch auf Ausschließlichkeit, Exklusivität, die sagt, es ist die einzige Wahrheit, es ist die einzige Form der Erlösung“. Vielmehr räumt er ein, „daß das Christentum oder etwas im Christentum nicht exklusiv ist und nicht universal ist, im Sinne des Allumfassenden, sondern, daß in ihm das letzte Kriterium für alle anderen Religionen sowie für das Christentum gegeben ist.“¹⁸ Absolutheit meint demnach keine „Absolutheit des Christentums“, sondern eine „Absolutheit im Christentum“, ausgehend von dem Prinzip der Selbstoffenbarung Gottes in Christus.¹⁹ Dabei handelt es sich also nicht um eine Absolutheit im exklusiven Sinne, sondern um einen Anspruch, genauer, um einen „reflektierte[n] Anspruch die Wahrheit zu haben“.²⁰ Dieser bezieht sich nicht auf eine konkrete historische Erscheinung, auf das Christentum als die Religion, sondern „Gegenstand des Absolutheitsanspruches […] [ist] das, was über der Religion steht, auch der christlichen […]. Nämlich das Ereignis, auf dem die Kirche beruht“²¹: Die Erscheinung Jesu als Christus. Dieses Ereignis entspricht wiederum dem, was auch schon der frühe Tillich als die Substanz des menschlichen Bewusstseins (natura sua), den unbedingten Sinn, den Kairos, die Mitte der Geschichte, das Christusbild als Realbild usf. bezeichnet. Deshalb kann an dieser Stelle der zu Beginn dieser Arbeit aufgeworfene Bezug zwischen dem späten und dem frühen Tillich dargestellt werden. Dort ist
Tillich, P., Der Absolutheitsanspruch des Christentums und die Weltreligionen, (Vortrag, Tübingen 1963), in: Aveline, J.-M., Paul Tillich (Artisans du dialogue), Marseille 2007, S. 58. Ebd., S. 54 f. Ebd. A.a.O., S. 58. A.a.O., S. 62.
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davon ausgegangen worden, dass der späte Tillich das Ziel für die interreligiöse Debatte vorgibt, während die Gedanken des frühen Tillichs zu einer hermeneutischen Präzision und einem tieferen Verstehen dieses Ziels genutzt werden können. Die Ergebnisse dieser Arbeit bestätigen diese Vermutung. Aber nicht nur der Aspekt der Vermeidung einseitiger absoluter Haltungen und die Vermeidung einer Gleichsetzung der eigenen Religion mit einer absoluten Wahrheit können bei Tillich als gewinnbringend erachtet werden. Sondern die Rückbesinnung der christlichen Religion auf das ihr zugrundeliegende Prinzip ermöglicht gleichzeitig einen Anschluss an komparative Vorgehensweisen: Es lassen sich idealtypische Elemente und Polaritäten herausarbeiten, die sich in jeder Religion in unterschiedlicher Ausprägung wiederfinden (wie etwa Mystik und Ethik, Form und Gehalt, Sakrales und Prophetisches). Nur ausgehend von einer solchen Strukturanalyse (und -analogie) ist bei Tillich ein Vergleich der Religionen ermöglicht. In Jesus Christus sind diese Strukturelemente, die für Tillich die Vollkommenheit einer Offenbarung repräsentieren, in einer idealen Synthese vorhanden. Deshalb müssten sich aus offenbarungstheologischer Sicht die inhaltlichen Kriterien der nicht-christlichen Religionen aber auch des Christentums selbst (als historischer Religion) an ihnen messen lassen. Ausgehend von Tillichs Offenbarungsbegriff müssen sich andere Religion also daraufhin befragen lassen, ob sie dem in Christus repräsentierten Ideal entsprechen oder nicht. Dieses Ideal besteht vor allem in einer Selbstnegation (Verneinung der eigenen Religion als Religion) und damit der Abwehr von eigener Absolut-Setzung gegenüber der Absolutheit Gottes. Hier schließt sich eine Kritik an Tillich an. So lässt sich beispielsweise mit Danz einwenden, dass es bei einem Versuch einer „Theologie der Religionen“ hauptsächlich darauf ankommen müsse, die Beurteilung anderer Religionen als „systeminterne Konstruktion“ zu durchschauen und so die Selbstreferentialität der eigenen Systemkonzeption zu reflektieren.²² Diesbezüglich stößt Tillichs Systemkonzeption jedoch an eine entscheidende Grenze. Zwar bezieht er in seine Überlegungen zu anderen Religionen mit ein, dass die Wirklichkeit einer nichtchristlichen Religion sich aus der Perspektive eines anderen Religionsanhängers immer nur durch Definition des eigenen Binnensystems und in Abgrenzung dazu erschließen lässt. Er reflektiert durchaus, dass die von ihm beurteilten außerchristlichen Wahrheiten nicht identisch sind mit der tatsächlichen Selbstbeschreibung eines Anhängers einer anderen Religion, indem er um die Abhängigkeit seines konstruierten Wesensbegriffs von der spezifisch europäisch-
Danz, C., ‚Einführung in die Theologie der Religionen, S. 37.
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christlichen Kultur und damit um dessen Begrenzung weiß.²³ Allerdings nutzt er dieses Wissen nicht, indem er diesen Perspektivwechsel auch wirklich durchführt und die religionswissenschaftliche Außenperspektive mit in sein System integriert, wie es beispielsweise das Konzept eines mutualen Inklusivismus vorsieht. Gleichzeitig lässt sich freilich fragen, ob es überhaupt möglich ist, trotz eigener gläubiger Überzeugung gleichzeitig auch andere religiöse Standpunkte aus einer „Innenperspektive“ (als Gläubiger) zu verstehen und ob dies nicht einen notwendigen „Selbstverlust“ bedeuten würde. Anders gefragt: Ist ein Verstehen in diesem Sinne überhaupt eine notwendige Voraussetzung dafür, andere Wahrheitsansprüche akzeptieren und tolerieren zu können? Das religiöse Paradox oder Jesus Christus – so könnte man weiterhin kritisch anmerken – sind beides Analogien für den Einbruch der Erkenntnis, dass der Mensch sein Heil nicht selbst erlangen kann, sondern in einem notwendigen Verhältnis zu Gott steht. Diese Erkenntnis dient als Beurteilungskriterium für den Wahrheitsanspruch außerchristlicher Religionen. Während dieses Beurteilungskriterium 1913 noch in der Konzeption des Freiheits- und Abhängigkeitsbewusstseins dem Absoluten gegenüber begründet war, wird in der Religionsphilosophie von 1920 das Begriffspaar Form und Gehalt zum Movens der Religionsgeschichte und zum Beurteilungsmaßstab der Wahrheit außerchristlicher Religionen. Der Analyse liegt ein apriorischer Wesensbegriff von Religion zugrunde, der schon zu Beginn bestimmt, in welchem Verhältnis Form und Gehalt in der idealen Religion stehen müssen. Kritisiert werden kann dabei, dass die Entfaltung des Normbegriffs als Erfüllung des Formbegriffs bei Tillich einen menschlichen Setzungsakt erfordert, der apriorisch gesetzt ist und damit das Ziel schon vor der Begegnung mit den anderen Religionen vorbestimmt ist. Somit schließt die Religion des Paradox‘ nach Tillich alle Wesenselemente von Religion und Kultur zusammen und schafft eine theonome Geisteslage, die das im Wesen des Sinnes selbst angelegte Ziel aller Sinnverwirklichung darstellt. Das bedeutet, dass im Wesen des Sinnes bereits das Ziel festgelegt ist, welches sich nachträglich, also nach der Analyse der in der Religionstypologie enthaltenen Religionen, als ideale Konstellation erweist. Ausschlaggebendes Wahrheitskriterium ist dabei die existentielle Bedeutung für den Menschen, der den Wesensbegriff als Gegenstand unbedingter Gültigkeit erleben muss. Die Dogmatik deutet dabei den Erkenntnisstand der Selbstnegation, welcher bereits auf religionsphilosophischer Ebene erfolgt, positiv als Hinweis auf das Getragen-Sein des Menschen vom Unbedingten. Dieses Getragen-Sein benötigt nach Tillich ein positives Urteil²⁴ (Er-
EN, Bd. XII, S. 447 f. EN, Bd. XIV, S. 271.
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lösung), welches von ihm jedoch vorausgesetzt wird und sich dem Menschen als Erkenntnis der Wesenhaftigkeit Gottes als des Tragenden offenbart. Wenn allerdings davon ausgegangen werden kann, dass – wie in dieser Untersuchung bestätigt worden ist – das religiöse Apriori (die Substanz des menschlichen Bewusstseins) bereits Signum der Verbundenheit Gottes mit dem Menschen ist, kann die vorangehende Kritik wiederum entkräftet werden. Denn dann ist alles Nachdenken über Gott, jeder Setzungsakt des Menschen ein Ausdruck der Beziehung zwischen Gott und Mensch. Auch wenn der frühe Tillich den aktuellen Tendenzen in der religionstheologischen Debatte nicht vollkommen gerecht werden kann, so lässt sich seine Systemkonzeption dennoch als Vorläufer und Wegbereitung eines mutualen Inklusivismus verstehen, da sein Denken durch eine starke Offenheit charakterisiert ist und er eine Metatheorieebene konstruiert, die um die Partikularität und Begrenztheit der eigenen religiösen Sicht weiß. Weiterhin möchte ich als Verdienst Tillichs seine Beharrlichkeit hervorheben, mit der er die Wahrheitsfrage immer wieder zur Diskussion bringt. Für einen interreligiösen Dialog gibt er damit die Richtung vor, konkurrierende Wahrheitsansprüche nicht einfach zu nivellieren, sondern daraus resultierende Konflikte als Potential zu betrachten, sich gegenseitig zu bereichern. Der größte Verdienst Tillichs besteht schließlich darin, dass seine Gedanken trotz ihrer Komplexität und Dichte und der gesamten Tragweite ihrer philosophieund theologiegeschichtlichen Voraussetzungen dennoch die Möglichkeit bieten, nach einer umfassenden Analyse in einen einfachen Kerngedanken gebracht werden zu können. Durch Tillichs Gedanken schimmert die Sehnsucht, den Anspruch des persönlichen Glaubens von falschem Absolutismus zu befreien, das Wort Gottes von wörtlicher Fixierung, die individuelle Glaubenspraxis von Pflicht, Christus von seiner Existenz, Gott vom menschlichen Beiwerk. Das aber ist die Sehnsucht nach der Liebe Gottes, die den Menschen im Moment unbedingten Betroffen-Seins ergreift. Nicht etwas in dieser Welt, an dem man festhält, das man für wahr hält, bewirkt diese Offenbarung der Liebe Gottes. Sondern das, was diese Welt übersteigt und dem wir nur nachschauen können, das wir aber nie (er‐) fassen und somit auch nicht vereinnahmen können. Tillich hat die Metapher der Grenze zur Charakterisierung seines Lebenswerkes genutzt. Aber diese Metapher drückt mehr aus als nur die Darstellung einer biografischen Selbstbespiegelung. Sie bündelt die vorangehenden Gedanken in besondere Weise: „Es gibt eine Grenze menschlichen Tuns, die nicht mehr Grenze zwischen zwei Möglichkeiten ist, sondern Begrenzung durch […] das Gute und die Wahrheit selbst.“²⁵ Die Liebe
GW, Bd. XII, S. 57.
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Gottes offenbart sich in dieser Begrenzung menschlichen Tuns. Das Reflektieren darauf bedeutet Befreiung. Diese Arbeit hat das Ziel verfolgt, die Grundbegriffe des Wahrheitsverständnisses und -Verhältnisses von Gott und Mensch aus religionsphilosophischer und theologischer Sicht im Kontext außerchristlicher Religionen beim frühen Tillich so zu interpretieren, dass die Ergebnisse nun für weitere Forschungen genutzt werden können. Dabei lag der Fokus auf dem Ziel, nicht nur Tillichs späte Äußerungen zur Thematik für den modernen Religionsdiskurs zu nutzen (was bisher primär geschah), sondern zunächst einen Schritt zurück zu gehen und die Gedanken (auch des frühen) Tillichs zum Thema zu präzisieren und zu vervollständigen, um ein umfassendes Bild zu erhalten. Für nachfolgende Arbeiten bietet es sich an, in zwei Richtungen weiter zu forschen: Zum einen ist Tillichs Gesamtwerk längst noch nicht ausreichend zur Thematik erforscht worden. Es müssten also weitere (primär frühe) Schriften Tillichs unter der Fragestellung analysiert werden. Zum anderen ist es möglich bereits auf Basis des aktuellen Standes eine dezidierte Einordnung Tillichs in den interreligiösen Dialog und die religionstheologische Debatte vorzunehmen und intensiver zu prüfen, welchen Gewinn seine Überlegungen hierfür erzielen könnten. Mit dieser Arbeit ist der Grundstein dafür gelegt worden.
Abkürzungsverzeichnis GW, Bd. I-XIV EN, Bd. I-XVII MW, Bd. I-VI RP ST Hervh. d. Verf. Dies. Ders.
Gesammelte Werke von Paul Tillich Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich Main Works/ Hauptwerke Religionsphilosophie Systematische Theologie Hervorhebung durch den Verfasser Dieselbe(n) Derselbe
https://doi.org/10.1515/9783110671759-013
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Index Abgrund 77, 82, 84 f., 123, 134, 181, 187, 259, 306 f., 316 f., 354, 360 f., 445 Absolute, das 3, 16, 35, 41, 46, 49 – 56, 58, 67, 95, 99 – 101, 103 – 105, 108, 111, 116 – 118, 120 f., 125, 134, 142, 144, 150 – 153, 157, 164, 171 – 175, 177 f., 186 – 188, 194 – 197, 201, 210 – 212, 214 f., 251, 259, 265, 267, 269, 292 f., 304, 306 f., 315 – 319, 334, 340 f., 365, 409 – 411, 429, 433 – 439, 444 – 446, 448, 471 Allgemeine, das 38 f., 85 – 91, 96 f., 126 f., 138 – 142, 163 f., 173, 185, 232, 337 – 347, 349 f., 409 f., 429 Animismus 71, 232 – 235, 237 – 242 Augustinismus 271 – 274 Bewusstsein 31, 33, 35, 37, 42, 46, 48, 50 f., 53, 55 – 58, 64 – 69, 72, 74 f., 80 f., 85 f., 90 f., 97, 103, 106 f., 109, 113 – 116, 118 – 125, 133, 143 – 146, 149 – 153, 157, 160, 162 f., 165 – 168, 170 – 176, 178 – 185, 189 f., 192 – 197, 201 – 203, 205 – 207, 209 – 212, 215 f., 218 – 220, 222 – 241, 243 f., 246 – 251, 258, 266, 268 f., 279, 286, 289 – 291, 293, 297, 306 – 308, 315 – 318, 332 – 334, 341, 352 f., 357, 361 f., 368, 372, 379, 384, 389 f., 393, 411, 420, 422 f., 425, 427, 429 – 438, 444 – 447, 449, 454, 462 – 464, 469, 472 Bewusstseinsanalyse 48, 62, 66, 74, 96, 154, 180, 323 Bewusstseinsfunktion(en) 67 f., 120, 173, 175, 179 f., 196, 230, 315, 446 Christ 16, 35, 283, 425, 427, 429 f., 432, 457 Christentum 3 – 5, 8 – 10, 14, 21 – 23, 25, 33, 45 f., 53, 68, 74, 80, 137, 155, 203 – 205, 209, 215, 219, 258, 264, 269, 276, 285, 289, 313, 319, 324 f., 330, 341, 370 – 374, 377, 380 f., 392 f., 423, 430, 432, 463, 466 – 470 https://doi.org/10.1515/9783110671759-015
christlich 3, 5, 7 – 13, 15 – 19, 21 – 23, 26, 29, 33, 37, 40, 43, 45 f., 66, 74, 137, 147, 176 – 178, 202 f., 219, 221, 272, 276, 278, 281, 283 f., 287, 289 – 291, 295, 301, 315, 317 f., 323, 329, 341, 353, 362, 370, 373, 377, 379, 386, 393, 396, 398, 408, 413, 415, 417, 428, 437, 443 f., 448 – 450, 454 – 456, 458 – 460, 463, 465, 467 – 470 Christologie 7, 18, 22, 46, 138, 142, 202, 205, 323, 328 f., 345, 375, 378, 388, 400, 403 f., 406, 426, 428, 430 f., 444, 446 – 458, 460, 463 f. Christus 4, 10, 19, 33, 38, 43, 52, 74, 142, 164, 203 f., 265 – 270, 274 – 277, 281 – 284, 311, 323 – 325, 328 f., 341, 345, 351, 359, 363, 367 – 370, 373 – 385, 387, 392 – 397, 399 – 404, 407 – 409, 411 – 413, 415, 418 f., 423 – 427, 429 – 432, 435, 446 f., 449 – 451, 453, 455 – 457, 464 f., 468 – 472 Christusbild 312, 318, 324, 359, 367, 384 f., 399 f., 407 f., 413, 418 f., 422 – 432, 447, 449 – 453, 455 – 457, 462, 464 f., 469 Christusereignis 270 – 272, 324, 368, 373, 378 f., 387, 391 – 394, 398, 406, 414, 417 f., 422, 424, 427, 431 f., 435 f., 444, 448, 451, 456 f., 466 f. Christussymbol 311, 357, 359, 370, 374, 378, 392, 399, 412, 418 f., 426, 430 – 432, 453, 456, 464, 467 Dämonische, das 78, 137, 140 f., 206, 260, 298, 306 – 310, 328, 372, 390, 397, 401, 419 Denken, das 17, 33, 35 – 38, 40, 43 f., 47, 49 f., 55 f., 58, 68, 72, 76, 80 – 85, 88 – 91, 96 f., 100, 102 – 104, 107 f., 112 – 121, 123 – 125, 130 – 136, 143 f., 146, 151 – 154, 156 f., 167, 175 f., 179 – 181, 184 f., 190 – 198, 200, 210, 214, 216 f., 219 f., 224, 226 – 230, 232 f., 247, 257, 293, 296, 307, 309, 312, 315 – 319, 323,
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Index
348 f., 352, 410 f., 427, 433 – 439, 445 – 448, 458, 463 – 465 Denkwissenschaft 35, 37, 59, 82, 132 – 135, 184 Ding an sich 31, 131, 167, 185, 189 f., 192 Dualismus 79, 200, 251, 257, 259 Durchbruch 85, 198, 205 f., 211, 260 f., 263, 266 – 268, 270 – 272, 285, 325, 328, 338 – 340, 343, 351, 362 – 364, 367 – 369, 371 – 380, 393 f., 397 – 399, 407, 412, 419, 423 f., 432, 447, 455 – 457, 464 – 467 Ekstase 79, 95, 147, 194 f., 228 – 230, 269 f., 297, 355 Endlichkeit 52, 54, 142, 147, 159, 211, 218 f., 228, 297 f., 300, 308, 331, 362, 368, 374, 383, 389, 391 f., 394, 396, 420, 425, 448, 452, 466 Ergriffensein 19, 72, 335, 344, 375, 378, 393, 404, 412, 415, 419, 426, 428 f., 457 ethisches Moment 37, 71 f., 78, 123, 208, 225, 248, 254, 256 f., 260 – 262, 267, 270 f., 275, 277 – 280, 295, 298, 301 – 303, 305 Existenz 30, 36 f., 39, 41, 44, 51, 54, 56, 58, 82 f., 87, 101 f., 120, 135, 144, 147, 169, 174, 183 f., 187, 192 f., 197 f., 213, 215, 218, 220, 222, 225, 228, 256, 327, 335, 338, 341 f., 345, 349, 352, 376, 384 f., 389, 391, 402, 407, 412, 419 f., 425 – 429, 444 Forderung 36, 39 f., 56, 72, 84 – 86, 91, 105, 123 f., 128, 136, 141 f., 147, 194, 211, 215, 218, 264, 280, 311 f., 332, 380, 382, 391, 395, 413 Form, die 17, 38 – 40, 42, 65, 68, 70, 73 f., 77 – 79, 81 – 85, 89 – 91, 114, 120, 122 – 124, 133 f., 137 – 148, 164 f., 169, 171, 175, 180 – 183, 190, 192 – 195, 198 f., 203, 209 f., 212, 215 f., 218, 220 f., 223, 226 – 228, 230 – 232, 240 – 243, 245 – 248, 250, 252 f., 255 – 259, 261 f., 265 f., 268 – 270, 276, 279 f., 285, 287 – 297, 299 f., 302 – 313, 325, 330, 338, 340 – 343, 346 f., 355 – 357, 361, 365, 367 f.,
374, 377 f., 383, 385, 387, 390 – 392, 395, 397 f., 400, 407 – 409, 418, 420 – 422, 432, 437, 450, 471 Fürsichsein 333, 343, 364, 369 Gehalt 7, 17, 41, 65, 73 f., 78, 89, 94 – 96, 117, 124, 137 f., 141, 143 – 148, 169, 174 f., 182 f., 188 – 192, 194 f., 203, 208 – 211, 215, 217 f., 221, 224, 226 – 228, 230 f., 233, 240 f., 247, 250, 253 – 255, 258 – 260, 266, 270, 279 f., 285, 290, 292 f., 296 – 299, 303, 305, 307 f., 311 f., 317 – 319, 353, 355, 404, 408 f., 411, 437 f., 448, 453, 456, 463 f., 470 f. Gehaltserlebnis 145, 209, 234, 241 f., 247, 255, 259, 269 f., 285 f., 289 f., 294 f., 297, 305, 311 f. Geist 22, 37, 41, 51, 55, 58 f., 65, 67, 69, 82, 88, 90, 101, 103, 106 f., 112, 117, 122, 128, 134, 140 f., 144, 164 f., 171 – 174, 209, 211 f., 215, 226, 231 f., 235, 240, 269, 273, 282, 292, 313, 317, 336, 354, 361, 366, 380, 386 f., 390, 394, 406, 410 f., 415, 417, 420, 422, 451 Geist, absoluter 173 f., 212, 216, 232, 317 Gott 3 f., 8, 10, 12, 17, 19, 30 f., 33, 35, 42, 45, 50 – 52, 54 – 58, 60 f., 63 f., 66 f., 77, 82, 86 f., 91, 95, 100 f., 103, 105 – 109, 115, 117, 121, 125, 134, 139 f., 142, 144, 150 – 153, 156 – 158, 164, 168 – 170, 172 – 180, 183, 187, 192, 197 f., 200, 206 f., 210 – 215, 219, 222, 227 f., 230 – 233, 236 f., 242, 248 – 269, 272 – 284, 286, 288, 293, 295 – 298, 302, 304 – 310, 312 f., 315 – 319, 323 – 329, 331 – 333, 335 – 337, 340 – 343, 346 – 348, 350 – 363, 365 – 367, 369 f., 372 – 379, 381 – 392, 394 – 407, 410 – 412, 414 – 417, 419 – 435, 437, 439, 444 – 446, 448, 450 – 454, 456 – 458, 462 – 465, 467, 469 – 473 Gottesbegriff 42, 71, 73, 99, 101, 104 – 106, 108, 117, 143, 156 – 158, 168, 170, 172, 175, 179, 266, 326 f., 331, 334, 350, 434, 439, 451 Griechentum 19, 298 – 301, 328, 369, 385, 394 f., 397
Index
Grund 72, 77, 100, 116, 123, 151, 174, 176, 180, 187, 259, 348 – 351, 360, 375, 392, 396, 402, 435, 467 Grundoffenbarung 351, 372, 374 f., 386 – 392, 423, 466 Heidentum 250, 259, 299, 328, 369, 380, 384, 394 heilig 77, 258, 261 – 263, 265, 268, 275, 278, 305 f., 358, 360 f., 381, 412 Heilige, das 70, 77, 109, 147, 195, 197, 204, 227 f., 247, 249, 251, 290, 306 – 309, 312, 352, 375, 394, 446 Heilsoffenbarung 325, 351, 372, 374 f., 387, 389, 397, 423 interreligiöser Dialog 5, 8, 10 f., 21, 460 Intuition 49, 51, 134, 165, 175, 183, 188 – 190, 349, 438 f. intuitiv-kritische Analyse/Methode 179, 202, 348 Intuitive, das 31 f., 134, 189, 436, 438 intuitives Moment 32, 123, 148, 165, 171, 175, 180, 182 – 185, 190, 192, 224, 315, 438 Irrationale, das 31, 54, 101 f., 109, 124, 146, 185 – 190, 242, 312 irrationales Moment 70, 80, 115, 123, 184, 187 f., 192, 224, 317, 438 Judentum 19, 257, 260 – 265, 270, 279 f., 313, 328, 369, 380, 384, 394 f., 397 Kairos 31, 34, 205, 260, 263, 325, 328, 368, 374, 376 – 378, 397 – 399, 432, 449 f., 457, 465 – 467, 469 Kondeszendenz 324, 356, 358, 361, 378, 423, 425, 428, 450, 453 f., 456 kritische Methode/kritisches Moment 31 f., 48, 57, 70, 80, 115, 123, 148, 154, 165 – 168, 171 f., 175, 177, 180 – 183, 186, 189 f., 192, 315, 437 f. Kultur, die 5, 14, 22 f., 35 – 38, 41 f., 49, 51, 56, 60, 63, 65, 77, 79 f., 117, 119, 147, 181, 201, 204, 214, 217 – 220, 223 – 226, 228, 230, 234, 247, 257, 280, 287, 299, 301, 305, 318, 377, 385, 395, 463, 471
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Kulturreligion 18, 73 f., 78, 130, 204, 208, 220 – 226, 228, 230, 234 f., 237, 240 f., 243, 245, 247 f., 252 f., 258, 261, 279, 285, 287, 294, 306, 326, 448 Metaphysik 9, 29, 68, 74, 79, 83, 168, 216, 219, 348 – 350, 361 Mysterien 254, 259, 268, 294 f., 298, 301, 304 f. Mystik 9, 220, 270, 275 – 277, 293, 305, 311 – 313, 319, 334, 448, 470 mystisches Moment 257, 272 f. Mythos 60, 62 f., 70 f., 79, 229, 248 – 250, 323, 333, 347 – 350, 361, 377, 413 f., 418 f. Natur 51, 82, 111, 127, 133 f., 147, 153, 173, 187, 199, 209 f., 222 – 224, 227, 229 – 242, 245, 247, 258, 261, 272, 275 f., 309, 316, 326, 341, 349 f., 365, 377, 386 f., 415, 420, 424 Naturreligion 78, 222 – 225, 235, 240 Negativitätserlebnis 446, 452, 456 f. Neues Sein 164, 203, 303, 329, 374, 450, 457 Normbegriff 13, 18, 33 – 37, 40 f., 43 – 46, 66, 69, 73, 77, 155 f., 163 – 165, 216 – 218, 227, 310, 313, 317 f., 332, 451, 471 Offenbarung 19, 21 f., 54, 63, 71, 79, 111, 115, 142, 155, 164, 173, 188, 193, 210, 213, 219, 251 f., 310, 324 f., 329 f., 334, 336, 338 – 341, 349, 351 f., 354, 357, 359, 362 – 365, 367 – 369, 371 – 378, 380, 385 – 388, 391 – 395, 399, 402, 407, 409 f., 412, 415, 417 f., 422, 424, 428 – 432, 447, 453 – 455, 457, 464 – 467, 470, 472 Paradox, das 74, 77, 144, 203, 220, 257, 259, 274, 312, 341, 372 Parsismus 259 f., 267, 387 Polytheismus 79, 251, 265, 310 profan 75 – 77, 206, 218, 247, 253, 294, 298 – 301, 324, 380, 384 f., 390 – 392, 395, 397, 466
486
Index
Profane, das 35, 75, 77, 218, 247, 300 f., 390 f. Profanität 298 – 300, 369, 380, 383 – 386, 390 – 392, 395, 397, 466 rationales Moment 187 Realitätserlebnis 70, 105, 114 – 116, 120 f., 125, 181, 195, 316, 352, 437, 446 – 448, 451, 453, 456 Relative, das 50, 53, 101, 103, 106, 111, 117 f., 150, 191, 194, 365, 394, 409, 434, 439 Religion des Paradox’ 7, 17, 26, 33, 41 f., 46 f., 73, 77 – 79, 81, 130, 147, 180, 202, 207, 211, 220, 280, 285 f., 289, 293, 299, 303 – 306, 310 f., 313, 316, 318, 323, 448, 451, 465 f., 471 Religionstypologie 7, 12, 16, 18, 23, 26, 60, 73, 137 f., 203 f., 207, 217, 220, 222, 228, 252, 285, 301, 318, 463, 468, 471 religiöses Prinzip 41 f., 46, 49 – 53, 55 f., 60 f., 71, 98, 100 f., 104, 108 f., 114, 118, 121, 125, 150, 153, 198, 200 f., 214, 242, 315, 318, 323, 334, 444 – 447, 449, 462 Sein, das 17, 30 f., 36, 38 f., 47, 51, 53 – 56, 58 f., 63, 67, 75, 81 – 89, 94 – 96, 100 – 102, 109, 113 – 116, 118 – 122, 124 f., 127 f., 130 – 136, 140 – 144, 146, 151 f., 154, 161, 165 f., 173, 176 f., 180 f., 184 – 186, 188 – 195, 200, 210 f., 213, 216, 219 f., 224, 226 – 228, 230, 244 – 247, 252, 257, 284, 286, 291, 296, 306 f., 310, 312, 316, 318, 323, 325, 327 f., 331, 333, 335 – 337, 339 f., 345 – 351, 354 f., 361, 363 – 365, 375, 377 – 385, 391, 393, 401 – 404, 412, 420, 424 – 426, 429 f., 434 f., 438, 445, 448, 450, 457 f., 463, 465 Sein selbst, das 365, 465 Seinsgehalt 70, 144, 194, 390 Seinsgrund 198, 354, 358, 391, 402, 421, 425 Seinswissenschaft 59, 69, 74, 132, 134 f. Sinn 4, 22, 49, 53, 55 – 60, 72, 76, 79 f., 82, 92, 94 – 96, 98, 101 f., 106 f., 109 – 125, 128, 136, 143 f., 154, 162 f., 172, 174 f.,
180 f., 183, 189, 191 f., 194 f., 197, 203, 206, 216, 219, 244 – 246, 268, 299, 306, 316, 318, 324, 327, 335 – 337, 341, 344 – 346, 354, 356, 363, 369, 375, 384 f., 390 – 392, 396 f., 401, 420 f., 428, 437, 445, 463, 466, 471 Sinn, unbedingter 76 f., 81, 84, 98, 109, 111, 119, 125, 143, 192, 219, 335 – 337, 353, 391, 397, 427, 445, 450, 469 Sinn schlechthin 53, 101, 110, 119, 124 f., 316, 445 Sinnabgrund 80, 116, 218, 307, 309 Sinnakt 98, 113, 120, 182, 438 Sinnbegriff 50, 57 – 61, 97 f., 101, 106, 109 – 112, 114, 118 f., 121, 124, 126, 128, 436, 445 Sinnbewusstsein 49, 51, 57, 76, 98 f., 102, 110, 125, 316, 353, 445 Sinnelemente 60, 73 f., 76, 84, 123, 183 Sinnerfassung 122, 128, 335 Sinnerfüllung 122, 124, 128, 141, 145, 183, 202, 244 f., 424, 464 Sinnerlebnis 50, 116 f., 119, 196, 352, 445 f. Sinnform 76, 122 – 124, 144, 167, 182 f., 244, 251, 307, 353, 390 Sinnfunktionen 60, 68, 76, 121 – 123, 244, 246 Sinngebiete 76, 122 f., 143 Sinngebung 59, 98, 109, 114, 118 – 122, 124, 180, 195, 199, 202, 216, 244 f., 392 – 394, 466 Sinngehalt 49, 76, 124, 144, 146 f., 183, 307, 383 Sinngrund 50, 80, 147, 218, 306, 308, 396 Sinnhaftigkeit 76, 120, 336, 346 f., 353 Sinnprinzip 123, 183 Sinnsetzung 101 f., 109 f., 113, 125 Sinnsphäre 110, 113, 125 Sinntheorie 17, 24, 47 – 50, 57 f., 60 f., 97 – 101, 104, 109, 114, 121, 123, 126, 149, 316, 438 f., 443, 445 f. Sinnverwirklichung 75, 79, 318, 346, 463, 471 Sinnvollzug 76, 97, 120, 424, 427, 453 Sinnzusammenhang 53, 59 f., 76, 102, 128, 311, 324, 338, 348 Sinnzuschreibung 115, 143, 316, 346, 445
Index
Sünde 139 f., 206, 222 f., 245, 268, 272 – 274, 276 f., 282, 310, 326 f., 336, 388 – 390, 401 f., 416, 419 – 424 supranatural / supranaturalistisch 54, 70, 154 – 156, 170, 230 f., 240, 255, 259, 305, 325, 335, 357, 363, 369, 422 Supranaturalismus 54 f., 101, 164, 332, 363 Symbol 22, 54, 128, 189, 192, 237, 249 f., 265, 295, 311, 327 f., 342, 350, 354 – 362, 366 f., 374, 378, 389, 396, 400, 412, 417 – 419, 425 – 432, 437, 450 f., 454, 456 f., 463 Unbedingte, das 19, 34, 39, 49, 54 f., 57 f., 71, 75, 79, 81, 85 f., 90 f., 95 f., 105, 109 – 112, 114 – 116, 120 f., 123 – 125, 142, 145, 151, 155, 158 – 160, 165, 171, 176, 179, 181, 192, 194, 205 – 207, 210 – 212, 219, 224, 230, 243, 245 – 247, 249 – 251, 258 – 260, 264, 266, 270 f., 278, 280, 285 – 291, 293, 297 – 300, 304, 306 – 308, 310, 312, 316, 318, 326, 330 f., 333 – 342, 344 – 351, 354 – 367, 370, 372, 374 – 378, 381 f., 389 f., 393 f., 396 f., 400, 402 f., 412 f., 419 – 421, 423 – 429, 432, 434 – 438, 445 – 448, 451 – 456, 464, 467 f., 471 unbedingte Form 39, 192 Unbedingtheitserlebnis 60, 70, 120, 174, 185, 191, 194, 203, 220, 226, 242 f., 255, 257, 259 f., 266 – 269, 288, 349 Unmittelbarkeit 74, 83 – 85, 88, 106 – 108, 117, 177, 231 f., 244, 311, 313, 326, 343, 360, 368 f., 382, 420, 424, 428 Uroffenbarung 251, 374, 386 – 388 Urprotestantismus 271 f., 274, 285
487
Urzustand, primitiver 85, 221 f., 227 f., 232, 235, 237, 239 – 241, 252, 258 vollkommene/letztgültige Offenbarung 19, 34, 204 f., 219, 250 – 252, 262 – 265, 270, 298 – 301, 310 f., 324 – 329, 339, 341, 349, 358, 363, 368 – 374, 377 – 380, 382, 384 – 386, 391 – 393, 396 – 399, 402, 407, 412, 418 f., 423 f., 428, 430 f., 466 f., 469 vorbereitende Offenbarung 264, 392 Wahrheit 3, 7 f., 11, 13, 17, 19, 24, 29, 31, 37, 40, 43, 47, 49 – 51, 55 f., 58, 60, 68 – 71, 76, 81, 86 f., 91 – 93, 96 – 103, 107 f., 110, 112 f., 117 f., 124 f., 128 – 131, 135, 139 f., 148 – 154, 163, 168, 174, 183 – 185, 192, 195, 200, 202, 210 f., 215, 217, 229, 232, 249, 273, 292, 305, 315 – 319, 323, 329 – 332, 336 f., 341, 344 f., 351, 360, 362 f., 366, 374, 377, 386 f., 395, 410 f., 413 – 415, 423 f., 429, 433 f., 436 f., 444, 446, 454, 461, 463 – 465, 468 – 472 Wahrheitsanspruch 3, 7 f., 11 f., 15 f., 22 f., 46, 63, 139, 155, 219, 328, 332 f., 337, 439, 458, 469, 471 Wahrheitsfrage 3, 15, 19, 22 – 25, 29, 33, 35, 47, 68 f., 76, 81, 154, 315, 323, 472 Wahrheitsgedanke 61, 98 – 102, 104 f., 108, 151 f., 154, 316, 323, 345, 409 f., 434, 436, 439 Wahrheitsprinzip 17, 151, 316, 444, 463, 468 Wesenswidrigkeit 203, 213, 300, 307, 310, 326 f., 336, 338, 345 – 347, 377, 390, 398, 400, 403, 419 – 424