Aberglaube, Magie und Zuflucht im Übernatürlichen: Der Umgang mit außersinnlichen Erfahrungen in der Trauerbegleitung [1 ed.] 9783666407079, 9783525407073


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Aberglaube, Magie und Zuflucht im Übernatürlichen: Der Umgang mit außersinnlichen Erfahrungen in der Trauerbegleitung [1 ed.]
 9783666407079, 9783525407073

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Sarah Pohl / Yvonne Künstle / Reiner Sörries

Aberglaube, Magie und Zuflucht im Übernatürlichen Der Umgang mit außersinnlichen Erfahrungen in der Trauerbegleitung

EDITION

 Leidfaden

Hrsg. von Monika Müller, Petra Rechenberg-Winter, Katharina Kautzsch, Michael Clausing Die Buchreihe Edition Leidfaden ist Teil des Programmschwerpunkts »Trauerbegleitung« bei Vandenhoeck & Ruprecht, in dessen Zentrum seit 2012 die Zeitschrift »Leidfaden – Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer« steht. Die Edition bietet Grundlagen zu wichtigen Einzelthemen und Fragestellungen im (semi-)professionellen Umgang mit Trauernden.

Sarah Pohl / Yvonne Künstle / Reiner Sörries

Aberglaube, Magie und Zuflucht im Übernatürlichen Der Umgang mit außersinnlichen Erfahrungen in der Trauerbegleitung

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Horoskopautomat in einem Seebad an der Ostsee. Foto: Reiner Sörries Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-2856 ISBN 978-3-666-40707-9

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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Erster Teil Aberglaube – Versuch einer inhaltlichen Klärung . . . . . . . . . . . . . . .  11 Zufall und Empirie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  14 Schutz und Schirm, Glück und Heil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  15 Marginaler Aberglaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  18 Dinge zwischen Himmel und Erde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  20 Begegnung mit oder Suche nach außergewöhnlichen Erfahrungen  24 Alltägliche Wunder: Erfahrungen mit dem Übersinnlichen . . . . . .  28 Zweiter Teil Außergewöhnliche Phänomene und Erlebnisse rund um das Sterben – Beispiele aus der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  30 Ich hab’s geahnt … Beispiele zu Präkognition . . . . . . . . . . . . . . . .  Weitere »paranormale« Phänomene rund um das Thema Tod . .  Klassifizierung der Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Welche Ressource bieten außergewöhnliche Erfahrungen im Kontext Tod? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Belastende außersinnliche Erfahrungen im Zusammenhang mit Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Das Medium als Trauerbegleiter – Kontaktaufnahme mit dem Jenseits und Verstorbenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

34 43 48 51 58 63

6   Inhalt

Aber… Glaube? Ein Leitfaden für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  79 Rituale: Zwischen Aberglauben und Ressource . . . . . . . . . . . . . . . . .  83 Rituale am Sterbebett . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  86 Rituale nach dem Versterben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  90 Umgang mit Aberglauben in den verschiedenen Trauerphasen . . .  95 Erste Phase: Nicht-wahrhaben-Wollen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  95 Zweite Phase: Aufbrechende Emotion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  97 Dritte Phase: Suchen und sich trennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  101 Vierte Phase: Neuer Selbst- und Weltbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . .  104 Auf die Passung kommt es an . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  105 Hilfreiche Maßnahmen und Methoden in der Trauerbegleitung . .  106 Glas voller Glück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  107 Notfallkoffer für Akutsituationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  108 Körperarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  109 Starke Reize . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  110 Reizreduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  111 Gefühlsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  111 Beziehungen aktivieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  112 Beziehungsgeschichte explorieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  113 Fragen nach der Herkunft von Glaubensüberzeugungen . . . . . . .  114 Reframing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  115 Sensibilisierung für Glaubenssätze und gesellschaftliche Normierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  116 Kultursensitives Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  117 Mitgefühl und Selbstreflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  118 Theoretisches Wissen zu Trauerreaktionen und Trauerphasen . . . .  119 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  120

Vorwort

Statistiken haben so ihre Tücken. Aktuellen repräsentativen Umfragen zufolge bezeichnet sich weniger als ein Drittel der Deutschen als abergläubisch. Zwar kennen etwa 80 Prozent der Bevölkerung die Vorstellung, Freitag der 13. sei ein Unglückstag, doch würden dem die meisten keine Bedeutung beimessen. Weniger als 20 Prozent gaben an, an diesem Tag besondere Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Aufschlussreich ist allerdings, dass die Lufthansa und andere Airlines in Rücksicht auf diese Minderheit auf eine Sitzreihe »13« verzichten. Ebenso wird man im ICE der Deutschen Bahn vergeblich einen Wagen mit der Nummer »13« suchen. Gleiches gilt für viele Hotels, in denen es keine Zimmer mit dieser Nummer und auch kein 13. Stockwerk gibt. Man nimmt offenbar Rücksicht auf ein ungutes Gefühl, das offensichtlich weiter verbreitet ist, als man zunächst annehmen möchte. Wer nun tatsächlich mit der »13« hadert, findet für seine Befürchtung freilich rasch gute Gründe. Es sollte die dritte Mondlandung werden, als am 11. April 1970 um 19:30 Uhr die Saturn-V-Rakete von Florida aus in den Himmel abhob. 56 Stunden später explodierte der Sauerstofftank des Raumschiffs und zwang die nun in Lebensgefahr schwebenden Astronauten zu einer risikoreichen Rückkehr. Es war die »Apollo 13«! Die Tücke der Statistiken besteht aber auch darin, dass Aberglaube in Umfragen nur an seiner Oberfläche erhoben werden kann, während tiefere Schichten kaum abfragbar sind. Die Interviewer forschen nach der Einstellung zur Unglückszahl »13«,

8   Vorwort

zur schwarzen Katze, die von rechts den Weg quert; dazu, dass man nicht unter einer Leiter stehen und sich nicht über Kreuz die Hände reichen soll. Vielleicht fragen sie noch nach dem Vertrauen in das Horoskop. Hingegen unterbleibt aus guten Gründen die Frage nach der Begegnung mit Verstorbenen, mit Geistern und anderen Spukerlebnissen. Kaum jemand wird sich im Kontext einer statistischen Umfrage auf solche Fragen einlassen. Menschen mit derartigen Erfahrungen öffnen sich allenfalls einem Therapeuten, einer Therapeutin oder einem Seelsorger, einer Seelsorgerin, falls sie ihre Erfahrungen und gegebenenfalls ihre damit verbundenen Sorgen und Ängste nicht gänzlich für sich behalten. Sie würden es zudem vehement ablehnen, ihre Erfahrungen als abergläubisch zu bezeichnen und damit als gleichsam unwahr einzustufen. Denn sie machen diese Erfahrungen ja. Das, was Aberglaube ist, definieren sowieso immer die anderen von einer Warte aus, von der aus sie behaupten, zwischen richtig und falsch, zwischen Wahrheit und Fiktion unterscheiden zu können. Früher waren solche Urteile das Metier der Kirche, heute sind es Vernunft und Wissenschaft, die Wirklichkeit definieren. Wo es sich um Erfahrungen handelt, die sich offenkundig außerhalb allgemein gültiger Gesetzmäßigkeiten bewegen, ist es deshalb eher Konsens, statt von Aberglauben von paranormalen Phänomenen oder außergewöhnlichen Erfahrungen zu sprechen. Auf den Punkt bringt es die Bezeichnung außersinnliche Erfahrungen, denn sie werden nicht mit den klassischen fünf Sinnen gemacht, und man spricht dann vom sechsten Sinn. Forscherinnen und Forscher mit konträren wissenschaftlichen Positionen versuchen, solche Phänomene zu belegen oder rational zu erklären. Häufig ist den Betroffenen mit paranormalen Erfahrungen mit wissenschaftlichen Debatten allerdings nicht gedient, sondern sie suchen therapeutischen oder seelsorgerlichen Rat.

Vorwort   9

Sind manche Menschen angesichts paranormaler Erfahrungen in Sorge oder ängstigen sich sogar, so ist die Zahl derer nicht gering, die ihr Vertrauen und die Suche nach ihrem Lebensglück gerade auf Phänomene gründen, die außerhalb herkömmlichen Wissens und gültiger Gesetzmäßigkeiten liegen. Manche vertrauen dem uralten Wissen außerhalb der Schulmedizin, manche glauben an übersinnliche Kräfte. Wiederum wird sich kein Mensch, der auf esoterische Praktiken setzt, als abergläubisch stigmatisieren lassen wollen. Statistische Erhebungen von Aberglauben gehen demnach an der Wirklichkeit vorbei. Und es geht auch um etwas anderes. Es geht um jene Dinge, die sich gemäß dem Volksmund zwischen Himmel und Erde ereignen. Ein Buch zu Erfahrungen im übersinnlichen Bereich sieht sich bei aller aufgeklärten Skepsis vor die Aufgabe gestellt, Erfahrungen von Menschen, die sich außerhalb des eigenen Erfahrungshorizonts bewegen, ernst zu nehmen. Denn Menschen, die davon berichten, lügen in aller Regel nicht. Wir als Autor*innen sind nicht willens, nur die eigenen Maßstäbe an Wirklichkeit anzulegen. Erfahrungen bleiben erst einmal Erfahrungen, so weit sie auch außerhalb des Normalen zu liegen scheinen. So wollen die Autor*innen mit ihren Urteilen über wahr und falsch vorsichtig sein. Vielmehr kommt im ersten Teil (Reiner Sörries) zur Sprache, was sich zu den Hintergründen und den Ursprüngen von Aberglauben und zu seiner Systematisierung sagen lässt. Und Aberglaube heißt hier in seiner ursprünglichen Bedeutung nur Gegen-Glaube ohne negative Vorbelastung. In einem zweiten Teil (Sarah Pohl und Yvonne Künstle) geht es anhand von Fallbeispielen aus der Praxis um den Umgang mit außergewöhnlichen Erfahrungen. Wie kann negativen Szenarien begegnet werden und welche positiven Kräfte lassen sich freisetzen? Dabei setzen die Autorinnen ihren Schwerpunkt auf außergewöhn­ liche Erfahrungen im Umfeld von Sterben und Tod und führen

10   Vorwort

zu Ritualen und Praktiken, die dem Volksgauben zuzurechnen sind, aber in der Lage sind, beängstigenden Erfahrungen entgegenzuwirken. Außerdem wird diskutiert, welche Funktion der Besuch eines Mediums im Rahmen der Trauerbearbeitung haben kann und wo hier auf Risiken und Nebenwirkungen zu achten ist. Letztlich geht es darum, Strategien aufzuzeigen, die helfen, angstgesteuerte, einengende und destruktive Glaubensvorstellungen so zu verändern, dass Menschen das ressourcenhafte Potenzial entsprechender Erlebnisse im Trauerverarbeitungsprozess wahrnehmen können. Sarah Pohl, Yvonne Künstle und Reiner Sörries

Erster Teil

Aberglaube – Versuch einer inhaltlichen Klärung Aberglaube hat heute einen deutlich negativen Beigeschmack. Bestenfalls schmunzelt man darüber, schlimmstenfalls hält man abergläubische Menschen für dumm oder gar zurückgeblieben. Dabei meint Aberglaube von seiner Wortbedeutung her etwas, was zum normierten Glauben im Gegensatz oder im Widerspruch steht. War es in unserer Kultur zunächst die Kirche, die Glauben normierte und den Aberglauben mit teils drastischen Mitteln verwarf, so sind es heute Vernunft und wissenschaftlich nachweisbare Gesetzmäßigkeiten, die über wirklich und unwirklich urteilen. Was nicht den Naturgesetzen und der beobachtbaren Wirklichkeit folgt, ist Aberglaube, wenngleich er heute nicht mehr immer so genannt wird. Wie Aberglaube entsteht? Die Welt bestimmt sich nicht allein aus einer Abfolge von logisch aufeinander folgenden Ereignissen. Das fängt beim Wetter an, das so gar nicht immer den Jahres­zeiten und dem durchschnittlichen Mittel folgt, und reicht bis zu Naturkatastrophen, die unerwartet hereinbrechen. Für Menschen, die in einer agrarisch strukturierten Gesellschaft und ohne Katastrophenschutz lebten, waren solche Ereignisse noch weit lebens- und existenzbedrohender als für die moderne Menschheit. Ereignen sich Katastrophen zur bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort, stellt sich die Frage nach dem Warum. Eine Erklärung ist schlichtweg der Zufall. Andere Erklärungen waren früher, solche Ereignisse als Folge von Fehlverhalten und Schuld zu werten, als Strafe durch göttliche oder dunkle

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Mächte. Ebenso kannte man natürlich glückliche Zufälle, ausgelöst durch gute Mächte. Beide hat man gern zwischen Himmel und Erde ansiedelt und auch personalisiert als Dämonen oder Engel. Waren gute wie böse Ereignisse einem Gegenüber zuzuschreiben, so lag es nahe, diese Kräfte zu beeinflussen, wozu man magische Praktiken ersann. Ohne religionsgeschichtlich weit ausgreifen zu wollen, sind Dämonen und Engel, böse wie gute Geister in Judentum, Christentum und Islam bekannt. Solche Vorstellungen reichen weit in die Menschheitsgeschichte zurück und blieben vom Animismus bis zur Hochreligion im Denken und Glauben der Menschen präsent. Mindestens Fragmente davon haben sich bis in das postmoderne, digitale Zeitalter erhalten. Dort feiern sie in Gestalt von bisweilen abstrusen Verschwörungstheorien fröhliche Urständ. Zu Beginn unserer Zeitrechnung hatten die Missionare und Kirchenlehrer nicht nur damit zu tun, den Menschen die frohe Botschaft, das Evangelium, zu verkünden, sondern sie sahen sich mit dem Problem konfrontiert, heidnische Praktiken ausmerzen zu müssen. Es ging darum, den Glauben an einen Gott in seiner dreifaltigen Personalität in und gegen eine Welt mit Göttern, Halbgöttern, Heroen, Fabelwesen und Dämonen durchzusetzen. Man kann schon sagen, dass die antike Welt mit mythischen und magischen Vorstellungen durchsetzt war. Bestenfalls opferte man den Göttern, um für sich Gutes zu erreichen, schlimmstenfalls vertraute man auf Zauberformeln, um dem missliebigen Nächsten zu schaden. Das passte nicht in das christliche Weltbild. Wohl aber passte es ins christliche Weltbild, auf Gott, den Sohn Jesus Christus und die Gnade des Heiligen Geistes zu vertrauen. Es gehörte bald zur christlichen Praxis, in Nöten und Sorgen die Heiligen und Märtyrer um Beistand anzurufen. Durch die Ableistung von frommen Handlungen, Almosen oder Wallfahrten konnte man sich von Schuld befreien. So kannte auch das christliche Weltbild Möglichkeiten einer Ver-

Aberglaube – Versuch einer inhaltlichen Klärung    13

bindung zwischen irdischer und himmlischer Welt, eben genau jenen Raum zwischen Himmel und Erde, der offen ist für außergewöhnliche Erfahrungen. Es war für die Kirche eine notwendige Aufgabe, falschen und richtigen Glauben zu unterscheiden: Glaube und Aberglaube. Wenn beides nahe beieinanderliegt und sich vermischt, spricht man vom Volksglauben. Zur liturgischen und seelsorgerlichen Praxis gehört die Spendung von Segen. Und rund um den Drei­ königstag ziehen die Sternsinger durch die Straßen, sammeln Geld für gute Zwecke und schreiben mit Kreide die drei Buchstaben C + M + B sowie die aktuelle Jahreszahl an die Haustür. Im Volksglauben löst man diese drei Buchstaben gern mit den legendären Namen der Heiligen Drei Könige auf: Caspar + Melchior + Balthasar. Ursprünglich bedeuten diese Worte: Christus mansionem benedicat, Christus segne dieses Haus. Diese Praxis ist kirchlich nicht nur geduldet, sondern modern gesprochen wichtiger Teil ihrer Öffentlichkeitsarbeit. Solcher Segen ist kirchlich legitimiert. Hatte ein Bauer zum Schutz seines Viehbestandes an die Stalltür ein Pentagramm gezeichnet oder andere magische Zeichen angebracht, so wurde dies als abergläubisch verurteilt. Es war oftmals eine schwierige Gratwanderung, zwischen Glauben und Aberglauben zu unterscheiden. Heilige dürfen verehrt und um Beistand angerufen werden. Früher brachten vor allem die Klöster und Wallfahrtskirchen Heiligenbilder massenhaft in Umlauf, um die Andacht zu fördern. Man vertraute ihnen jedoch so sehr, dass man kleinformatige Exemplare bei allerlei Krankheit schluckte; die Volkskunde nennt sie Schluckbildchen, die bis ins frühe 20. Jahrhundert als Bestandteil einer geistlichen Hausapotheke in der Volksmedizin verbreitet waren. Bis heute fahren Menschen zum französischen Wallfahrtsort Lourdes, weil sie dort auf eine wunderbare Heilung hoffen. Nicht wenige Gesundungen dort sind von der Kirche offiziell als Wunderheilungen anerkannt. Menschen, die auf die

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schamanischen Kräfte von Wunder- und Geistheilern vertrauen, werden möglicherweise eher beargwöhnt, weil sie auf solchen Hokuspokus setzen. Längst hat die Kirche ihr Wundermonopol verloren, während nach wie vor Menschen auf Heilung wider alle Prognosen hoffen. Die Not lehrt nicht nur beten, sondern auch den Glauben an das Unerwartbare.

Zufall und Empirie

Aberglaube setzt nicht nur auf Wunder, sondern auch auf be­ stimmte Gesetzmäßigkeiten. Kennt der Volksmund die Re­­dens­ art Kommt einer, geht einer, so kann man den auf eine Geburt folgenden Sterbefall in der Familie, in der Nachbarschaft oder im Dorf einen Zufall nennen. Der Aberglaube setzt aber ­darauf, dass es sich um eine Gesetzmäßigkeit handelt, und er wird immer recht behalten. Möglicherweise werden zwischen Geburt und Sterbefall Tage, Wochen oder Monate vergehen, aber der Todesfall wird irgendwann eintreten und bestätigt alle, die von der Wahrhaftigkeit dieser Prognose überzeugt sind. Ist das Unglück nicht an einem Freitag, den 13. geschehen, sondern später, wird man sagen, dass es sich aber an diesem Tag schon angebahnt hat. Oder Apollo »13« liefert dazu die Bestätigung. Aberglaube hat viel mit Empirie zu tun, wie schon beim Bauern zu sehen war, dessen Viehbestand gesund blieb, weil er ein Pentagramm an der Stalltür angebracht hatte. Starben trotzdem ein oder sogar mehrere Tiere, so konnte man sicher sein, dass die entsprechenden Vorkehrungen nicht ordnungsgemäß getroffen worden waren. Vertraut man dem schamanischen Heiler, so wird man die Genesung seinen Kräften zuschreiben, selbst wenn sich die Ärzte gewissenhaft um den Kranken gekümmert haben. Ein erwartetes oder prognostiziertes Ereignis wird oftmals eintreten, selbst wenn man möglicherweise lange darauf warten

Schutz und Schirm, Glück und Heil   15

muss: Ich habe es doch gleich gewusst! – Es ist halt Zufall gewesen, kann man entgegnen. Und darauf setzt der gesunde Menschenverstand, der derartige Folgeereignisse als normalen Gang der Dinge betrachtet. Dann wird man es ebenso als Zufall ansehen, falls doch jemand an einem Freitag, den 13. über eine schwarze Katze stolpert und sich dabei ein Bein bricht. Freilich will die Wissenschaft weder von Wundern noch von Zufall etwas wissen. Eine überraschende Heilung in Lourdes ohne therapeutische Maßnahme möchte man weder einem Zufall noch einem Wunder zuschreiben, sondern spricht dann lieber in Anerkennung eigener Unkenntnis von Spontanheilung, die man letztlich aber doch mit medizinischen Erklärungen begründet. Ob man gewisse Ereignisse mit Aberglauben erklärt oder zu paranormalen Phänomenen macht, zurück bleibt der Mensch, der unter Umständen mit außergewöhnlichen Erfahrungen hadert, sich ängstigt oder gar verzweifelt. Wer damit rechnet, dass Dinge geschehen, die von außerhalb unserer Erfahrungswelt gesteuert werden, wird Maßnahmen ergreifen, sich diese Kräfte zunutze zu machen oder sich ihrer zu erwehren.

Schutz und Schirm, Glück und Heil

Was hängt nicht alles am Rückspiegel der ansonsten durchgestylten und digitalisierten Automobile: Babyschuhe, Würfel, Kreuze und andere Dinge baumeln daran im Takt der Bodenwellen. Ihre Besitzer, danach gefragt, werden sie etwas verlegen oder schmunzelnd als Glücksbringer bezeichnen. Vielleicht sollen sie auch vor Gefahren schützen. All das mag man seinerseits wohlwollend zur Kenntnis nehmen, kaum der Rede wert. Was aber passiert, wenn in einer zu schnell gefahrenen Kurve das Kinderschühchen aus der Halterung rutscht und zu Boden fällt?

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Drohen Ungemach und Unheil? Versichert man sich mit einem raschen Anruf zu Hause, ob mit den Kindern alles in Ordnung ist? Es kommt darauf an, wie sehr man seinem Talisman Gehör, Glauben oder Aberglauben schenkt. Wo die Welt durchwoben ist von Mächten außerhalb unserer Verfügbarkeit, muss man Mittel und Wege finden, sie doch irgendwie zu steuern. Man schafft sich Talismane als Glücksbringer und Amulette als Abwehrzauber. Beide Varianten magischer Einflussnahme auf die unsichtbare Welt lassen sich weit in der Geschichte zurückverfolgen und finden sich praktisch in allen Kulturen. Judentum und Islam kennen gleichermaßen das blaue Auge, das vor dem gefürchteten bösen Blick schützt. Durch den Blick eines mit magischen Kräften begabten Menschen kann ein anderer Mensch Unheil erleiden, in seinem Besitz geschädigt werden oder gar zu Tode kommen. Vor allem Menschen mit hellblauer Augenfarbe traut man diese Fähigkeiten zu und schützt sich gegen solchen Schadenzauber durch einen entsprechenden Gegenzauber mit einem ebenfalls blauen Auge, das im Orient Nazar genannt wird. Wer ein blaues Auge in dieser Absicht trägt, wird sich nicht des Aberglaubens bezichtigen lassen. Oder er war in der Türkei im Urlaub und hat ein Nazar als Souvenir oder Schmuckstück erworben. Trägt jemand ein Kreuz an der Halskette, mag er oder sie ihm beschützende Funktion zumessen oder trägt es als Andenken an seine Konfirmation oder eben als Schmuckstück. Will sagen, Aberglaube lässt sich nicht auf einen Blick erkennen, und oft wissen die Träger und Trägerinnen solcher Accessoires selbst nicht genau, was sie ihnen wirklich bedeuten. Wenn Blicke töten könnten, sagt man, wenn man einen besonders dunklen Gesichtsausdruck beschreiben möchte. Dass der böse Blick tatsächlich töten kann, ist eine uralte, weltweit verbreitete Sorge und geht in die Tiefe unseres Bewusstseins bis heute. Verstorbenen die Augen zu schließen, mag man als pietätvolle

Schutz und Schirm, Glück und Heil   17

Geste deuten, dahinter steht aber der Glaube, der Tote könnte sich offenen Auges nach einem Opfer umschauen, um es in sein Grab nachzuziehen. Die außerhalb unserer logischen Erfahrungswelt verorteten Geschehnisse wurden oder werden häufig mit mächtigen Untoten in Verbindung gebracht. Hierin wurzeln Phänomene, die man Geistern und Gespenstern zuschreibt, weil dafür ein anderes Vokabular fehlt. Meist will man solche Begegnungen meiden, bisweilen sucht man aber den Kontakt mit Verstorbenen bewusst, um etwas zu erfahren, sich ihres Wissens zu bemächtigen. Im Okkultismus traut man ihnen zu, Tische zu bewegen, Gläser zu verrücken und darin geheime Botschaften zu verstecken. Vernunftbegabt und aufgeklärt ist man geneigt, solche Praktiken ins Reich des Aberglaubens zu verweisen. Wie aber ist mit Berichten zu verfahren, die solche Begegnungen schildern? Vermutlich ist man schnell dabei, okkulte Praktiken ins Reich des Aberglaubens zu verbannen. Schließlich hatte der Okkultismus seine Blüte auch schon vor über hundert Jahren, als spiritistische Sitzungen in gehobenen Gesellschaftsschichten durchaus praktiziert wurden, um Nachrichten aus dem Jenseits zu erhalten. Nicht erloschen ist hingegen das Verlangen, Einsichten in das Drüben zu erlangen. Mit großer Aufmerksamkeit hat man die sogenannten Nahtoderfahrungen rezipiert, die von vielen für real gehalten werden. Man kann daraus schließen, dass das Verlangen nach außergewöhnlichen Erfahrungen nicht erloschen ist, sondern seiner Zeit entsprechend lediglich eine andere, zeitgemäßere, glaubwürdigere Gestalt annimmt. Aberglaube ist ein Stigma. Ausgestorben sind die damit verbundenen Gewissheiten, Hoffnungen, Ängste oder Unsicherheiten nicht.

18    Aberglaube – Versuch einer inhaltlichen Klärung

Marginaler Aberglaube

Mit immer höher steigenden und aufwendigeren Silvesterrake­ ten vertreiben die Menschen rund um den Globus zum Jahresbeginn die bösen Geister. In fröhlicher Runde lassen sie die Sektgläser klingen und stellen Glücksschweinchen auf den Tisch. Kaum jemand wird hier Aberglauben vermuten, auch wenn die Ursache der bösen Geister genau dort zu verorten ist. Es gibt im Alltag zahlreiche Verhaltensweisen, die im Aberglauben ihren Ursprung haben, und zwar oft, ohne dass wir uns dessen bewusst wären. Dabei richten die Raketen an Silvester außer ihrer Feinstaubemission bei sachgerechter Bedienung normalerweise keinen Schaden an. Es dürfte kaum fatale Folgen nach sich ziehen, wenn jemand am Freitag, dem 13. besonders vorsichtig ist, und auch der Blick ins tägliche Horoskop wird in aller Regel ohne gravierende Beeinträchtigungen der eigenen Psyche bleiben. Manche Vorhersage regt vielleicht sogar eher zum Schmunzeln an. Doch schon im Umgang mit dem kleinen Aberglauben im Alltag ist eine gewisse Vorsicht durchaus geboten, weshalb der Personaltrainer und Buchautor Horst Hanisch einen Aberglauben-Knigge verfasst hat, um Ungeschicklichkeiten zu vermeiden (Hanisch, 2016). Man kann nämlich, selbst wenn man selbst bei einer Begrüßung dem Händereichen-über-Kreuz keinerlei Bedeutung beimisst, seinem Gegenüber, der das als Unheils­ zeichen interpretiert, zutiefst erschrecken. Wer aus Termin- oder sonstigen Gründen seinen Geburtstagsgruß vor dem eigent­ lichen Zeitpunkt überbringt, kann das Geburtstagskind arg verunsichern, wenn dies in dessen Augen Unglück bringt. Dabei spielt es keine Rolle, wie begründet oder unbegründet man selbst solchen Aberglauben einschätzt. Selbst wenn der Ehrentag dann gut verlaufen ist, können sich Zweifel einschleichen, ob im kommenden Jahr vielleicht schlimme Dinge drohen.

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Sind solche Achtsamkeiten schon im privaten Miteinander durchaus angebracht, so gilt dies erst recht im professionellen Handeln. Zum uralten Volksglauben zählt es, dass man einen Verstorbenen mit den Füßen voraus aus dem Sterbehaus trägt. Dahinter steht die Vorstellung, dass der Verstorbene sonst im Rückblick auf das, was er zurücklässt, erzürnt und alles, Haus und Hof, mit Unglück belegt oder seine Hinterbliebenen in den Tod nachzieht. Das Bestattungspersonal ist deshalb bis heute immer noch angewiesen, den Leichnam stets mit den Füßen voraus abzuholen. Geschieht dies aus irgendwelchen, vielleicht praktischen Gründen nicht, so kann dies bei den Hinterbliebenen einen tiefen Schock auslösen. Kann! Solche Sorgen können noch tief verwurzelt im Unterbewussten vorhanden sein, selbst wenn man sich des Hintergrundes nicht bewusst ist und rational die Existenz des lebenden Leichnams, wie es volkskundlich heißt, bestreiten würde. Dies soll lediglich darauf aufmerksam machen, dass Vorstellungen, die wir vorschnell dem Aberglauben zuordnen, tief unter der Oberfläche rationalen Handelns verborgen sind und trotzdem Wirkkräfte entfalten können. Was scheinbar marginal ist und gemessen an der Vernunft nicht wahr sein kann, kann wahrhaftig Reaktionen auslösen, egal ob die Dinge geglaubt werden oder nicht. Wer immer glaubt, Aberglauben oder außergewöhnliche Erfahrungen klassifizieren oder gar negieren zu können, muss trotzdem mit deren Wirksamkeit rechnen. Erfahrungen können ganz alltäglich und gewöhnlich sein. Unter bestimmten Voraussetzungen können eben diese zu außergewöhnlichen Erfahrungen werden. Wie oft klingelt das Telefon oder meldet sich das Smartphone, ohne dass wir diesem akustischen Signal mehr Bedeutung beimessen, als dass jemand den Kontakt zu uns sucht. Steht aber die Tochter unmittelbar vor der Geburt oder weiß man einen nahen Angehörigen mit einer schweren Krankheit in der Klinik, kann dasselbe Klingeln

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einen (hoffentlich) freudigen oder eben beängstigenden Klang annehmen. Man nimmt den Anruf mit (vorsichtiger) Erleichterung oder aufwühlender Angst entgegen. Der Klang des Telefons kann ganz unterschiedliche Facetten besitzen. Daraus ist zu schließen, dass die Verfasstheit des Empfängers von Botschaften ganz entscheidend von äußeren Umständen abhängt, ihn empfänglicher für Signale macht, woher diese auch immer kommen.

Dinge zwischen Himmel und Erde Wenn von außergewöhnlichen Erfahrungen gesprochen wird, ist bei jenen, die solche nicht grundsätzlich ausschließen, oftmals davon die Rede, dass es Dinge zwischen Himmel und Erde gebe, die man nicht erklären kann. Himmel und Erde sind dabei Synonyme für das Jenseits und das Diesseits. Tatsächlich sind die einschneidendsten Erfahrungen, die man sich nicht erklären kann, zwischen Leben und Tod oder besser: zwischen Lebenden und Toten angesiedelt. Das muss nicht, kann aber angstbehaftet sein. Das kann, aber muss nicht tröstlich sein. Der solches Erfahrende muss in einem solchen Fall eine, seine Interpretation finden. Im Sinne des Volksglaubens sind Mitteilungen von Verstorbenen an bestimmte Menschen, vorrangig Angehörige, der Tatsache (!) zu verdanken, dass Tote nicht tot im Sinne von existenzlos sind. Sie werden als Untote oder lebende Leichname bezeichnet. Solches ist kein Aberglaube, sondern war (und ist) ein verbreiteter Volksglaube. Angehörige der Kriegsgeneration haben vielfach berichtet, ihr Vater, Mann oder Sohn habe seinen Tod im Feld auf unerklärlichem Weg übermittelt. Bei den Angehörigen kommt es zu unerklärlichen Geräuschen, zu einem Windhauch, ein Bild fällt von der Wand usw. Die Betroffenen schildern ihre sofortige Gewissheit vom Tod des nahestehen-

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den Menschen, obwohl sich die Bedeutung unerklärlicher Phänomene erst im Nachhinein wirklich realisieren lässt. Dieses Todanmelden gehört zu den bekanntesten und in ihrer Glaubwürdigkeit durchaus verbürgten Erfahrungen. Sie sind natürlich eng verknüpft mit der christlichen Überzeugung, dass sich im Tod die Seele vom Körper trennt und ohne ihn weiter agieren kann. Schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hat man versucht, derartige Formen der Fernwahrnehmung zu prüfen und wissenschaftlich zu untersuchen, ohne dafür eine fundierte Erklärung zu finden. Im Volksglauben behalten die vom Körper getrennten Seelen ihre Existenz und werden mit kirchlicher Billigung zu den Armen Seelen. Deren Aufenthaltsort ist zwar das reinigende Fegefeuer, in der Kirchensprache Purgatorium genannt, wo die lässlichen Sünden gebüßt werden, aber offenkundig können sie diesen Bereich verlassen, etwa am kirchlichen Feiertag Allerseelen am 2. November. Für diesen Tag werden je nach Landschaft eigens Allerseelenzopf, Seelenwecken, Totenbrot oder Seelen­ striezel gebacken, um die Armen Seelen zu bewirten. Auch wird der Herd nicht geschürt, damit die Armen Seelen, für einen Tag dem Fegefeuer entronnen, nicht aus Unachtsamkeit die heiße Herdplatte berühren. Darüber hinaus kennen Volksmund und Sage besondere Orte, die von den Armen Seelen und vom Heer der unerlösten Seelen aufgesucht werden. Man begegnet ihnen an Waldrändern, Weggabelungen, Lichtungen und manchen Orten mehr. Wer mit offenen Augen durch die Landschaft wandert, kann diese gespenstischen Orte erahnen oder etwa an Wegkreuzungen in Gestalt von dort aufgestellten Wegkreuzen erkennen. Mit solchen Maßnahmen trachtete man danach, das gespannte und gefährliche Verhältnis von Lebenden und Un­­ toten zu befrieden. Es ist bezeichnend, dass man besonders den unerlösten Seelen Räume der Existenz nachsagt, denn dies deckt sich mit den Erfahrungen von Menschen, deren Begegnungen

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mit Verstorbenen zum Ziel haben, Dinge zu klären, die nicht aufgearbeitet sind. In den unerlösten Seelen sieht man Geister, schlimmstenfalls Gespenster, die mit ihrem spukhaften Treiben die Menschen ängstigen. Über den Volksglauben hinaus gehört es heute beinahe zum Allgemeinwissen, dass es Orte mit besonderen Qualitäten gibt; man nennt sie Kraftorte, denen man mit Wünschelrute und geomantischen Methoden nachspürt. Will heißen, dass Menschen ganz ohne Geister- und Gespensterglauben die Landschaft nicht nur aus dem Blickwinkel des Katasteramts betrachten. Alte Formen werden durch neue abgelöst, ohne dass sie ihre Bedeutsamkeit verlieren. Auf dem Wiener Zentralfriedhof gibt es seit Juli 1999 den »Park der Ruhe und Kraft«, einen Landschaftspark, mit dessen Gestaltung Geomanten und Radiästheten beauftragt wurden. Wörtlich bedeutet Geomantie »Weissagung aus der Erde« und ist eine alte Methode des Hellsehens. Heutzutage versteht man darunter das Erkennen und Erspüren von guten Plätzen in Raum und Landschaft, um damit die Grundlage für ein harmonisches und gesundes Wohnen und Leben zu schaffen. Solchen Kraft­orten geht auch die Radiästhesie nach, wörtlich die Wahrnehmung von Strahlen, und meint die Lehre von Strahlen­ wirkungen auf Organismen, die mittels einer außergewöhn­ lichen Strahlenfühligkeit bzw. Strahlenempfindlichkeit erkundet werden. Ziel des Wiener Friedhofs ist es, mit dem Park der Ruhe und Kraft den Besuchenden, insbesondere den Trauernden, Ruhe und Kontakt mit den Kräften der Natur zu ermöglichen. Durch eine fein abgestimmte Folge von verschiedenen Landschaftsgestaltungen, der auch kosmische und terrestrische Kräfte entsprechen, sollen die Besuchenden zum Schauen und Spüren angeleitet und zur Bewusstwerdung ihrer Gefühle geführt werden. Es sollen dadurch Blockaden gelockert, Trauer abgeladen und die Einheit mit der Natur erlebt werden. Aberglaube? Nun:

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Geomantie und Radiästhesie werden im herkömmlichen Wissenschaftsbetrieb zu den Parawissenschaften oder Pseudowissenschaften gezählt. Esoterisch ausgerichtete Menschen sehen darin bewährte Möglichkeiten, die guten Kräfte der Erde zu nutzen und schädliche Einflüsse zu vermeiden. Dieses Beispiel will lediglich verdeutlichen, wie mit parawissenschaftlichen Messmethoden sonst nicht messbare Wirkungen erforscht werden. Von Aberglauben soll hier nicht gesprochen werden, sondern lediglich von Erfahrbarkeit und Nichterfahrbarkeit. Erfahren Menschen nach ihrem Bekunden solche Wirkungen, dann sind das Erfahrungen, die man hinnehmen sollte. Bei Wirkungen besonderer Kräfte wird man mit der Akzeptanz solcher Erfahrungen eher weniger Schwierigkeiten haben, während die Erfahrung von Begegnungen mit Verstorbenen, mit dem Jenseits, zumeist in den Bereich des Aberglaubens verwiesen wird. Werden außersinnliche Wahrnehmungen in der schulmäßigen Wissenschaft aufgrund einer fehlenden evidenzbasierten Faktenbasis und des Mangels einer Theorie abgelehnt, so ist die Parapsychologie überzeugt, dass Menschen solche außersinnlichen Wahrnehmungen haben können und haben. Werden im Fall einer außergewöhnlichen Erfahrung Beratende hinzugezogen, dann helfen die wissenschaftlichen und parawissenschaftlichen Haltungen nicht weiter, denn es geht weder um die Negation dieser Erfahrung noch um die Deutung, dass der oder die Betreffende eine Erfahrung im feinstofflichen Bereich erlebt hat: Es kann nur das Ziel sein, mit der solches erfahrenden Person eine Deutung für die eigene Lebenswirklichkeit zu erreichen.

24    Suche nach außergewöhnlichen Erfahrungen

Begegnung mit oder Suche nach außergewöhnlichen Erfahrungen Alle außergewöhnlichen Erfahrungen besitzen zwei wesentliche Aspekte. Man kann ihnen unwillentlich begegnen bzw. von ihnen heimgesucht werden, oder man kann versuchen, sie willentlich und absichtsvoll herbeizuführen. Das Todanmelden, eine Geister- oder Spukerscheinung treffen die Menschen zumindest scheinbar unvorbereitet. Vielleicht haben die Angehörigen im Krieg mit einer schlimmen Nachricht gerechnet, aber eher gehofft, eine solche Nachricht nicht erhalten zu müssen. Auch mit einer Spukerscheinung hat man nicht gerechnet, als man in das wunderschöne alte Bauernhaus umzog, nicht wissend, dass dort vor Generationen ein grausames Verbrechen stattfand. Geisterjäger haben es sich zur Aufgabe gemacht, solche Erscheinungen mit einem historischen Ereignis in Verbindung zu setzen. Außergewöhnliche Erfahrungen fordern heraus, müssen bewältigt werden. Sie lassen sich nicht vermeiden und müssen in das eigene Leben integriert werden. Dazu braucht es unter Umständen beratenden oder therapeutischen Beistand. Dabei geht es jedoch nicht darum, für die Erfahrung eine möglichst natürliche Erklärung zu finden, sondern die dahinterstehende Botschaft zu entschlüsseln und für den Erfahrenden fruchtbar zu machen. Anders gelagert ist die Situation, wenn Menschen diese Erfahrungen bewusst suchen und durch bestimmte Praktiken herauf­ beschwören wollen. Solche Versuche, dem Wunsch und der Neugier geschuldet, mehr zu wissen, als man wissen kann, reichen weit in der Menschheitsgeschichte zurück. Prototypisch ist das Orakel von Delphi, die bekannteste Weissagungsstätte des antiken Griechenlands. In wichtigen Angelegenheiten vertraute man der Prophezeiung der Priesterin Pythia, die dem Fragenden in

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einer Art Trancezustand eine Antwort gab. Ihre berühmten Orakelsprüche zeichneten sich vor allem durch ihre Mehrdeutigkeit aus und machen deutlich, dass der Orakelsuchende aus der Antwort der Pythia gern das herauslas, was er hören wollte. So befragte Krösus, der König von Lydien, vor seinem geplanten Feldzug gegen die Perser das Orakel nach dem zu erwartenden Ausgang der Schlacht, worauf Pythia ihm antwortete: »Wenn du den Halys überschreitest, wirst du ein großes Reich zerstören.« Ob dieser Zusage zog Krösus siegessicher in die Schlacht, doch zerstörte er dabei sein eigenes Reich. Auch moderne Wahr­sager, die zuhauf ihre Dienste anbieten, äußern sich gern ­doppel- oder mehrdeutig und überlassen die Auslegung dem Ratsuchenden. Soweit Hellseherinnen und Hellseher gewissenhaft agieren, kann dies beim Klienten zu einer Selbstreflexion führen. Im schlimmeren Fall verlässt er sich auf eine falsche Prognose oder er überlässt zukünftige Entscheidungen ganz dem Wahrsager oder der Wahrsagerin, wodurch eine ungute Abhängigkeit entstehen kann, die die eigene Handlungsfähigkeit einschränkt oder sogar in ein finanzielles Desaster führt. Nicht selten suchen Menschen eine außergewöhnliche Erfahrung, um mit Verstorbenen in Kontakt zu treten. Der Wunsch nach einer außergewöhnlichen/außersinnlichen Erfahrung ist wie gesehen nicht neu, und es gab und gibt dafür ganz unterschiedliche Gründe. Nach dem Abendessen schlug der Hausherr ein unterhaltsames Gesellschaftsspiel vor … So könnte die Schilderung einer spiritistischen Sitzung beginnen, wie sie seit Ende des 19. Jahrhunderts in gehobenen gesellschaftlichen Schichten gern abgehalten wurden. Man erwartete von Verstorbenen, dass sie sich meldeten, um auf bestimmte Fragen Antworten zu geben. Die gewählten Methoden reichten vom Tisch- und Gläserrücken über Trancereden bis zum automatischen Schreiben. Dazu wurden die Zimmer abgedunkelt, Kerzen entzündet und ätherische Gerüche verbreitet. Man kann durch-

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aus annehmen, dass es in vielen Fällen beim schaurig-schönen Spiel blieb, in manchen Fällen folgten jedoch auch Tröstung oder Verstörung. Groß war aber vor allem das Verlangen, dem Wahrheitsgehalt solcher Erfahrungen nachzugehen. Beweise und Gegenbeweise wurden geführt, doch hing das Ergebnis der Beweisführung mehr von der Haltung des Untersuchenden als von der Tatsächlichkeit ab. Spiritistische Sitzungen gehören nicht nur der Vergangenheit an, aber sie haben sich aus der Welt der Erwachsenen (auch) in die Generation der jungen Menschen verbreitet. In seiner Studie »Wege der Entzauberung. Fallanalysen okkultfaszinierter Jugendlicher« an der Universität Bielefeld (2000) hat der Theologe Heinz Streib dieses Phänomen untersucht, um festzustellen, dass es vor allem die pubertierenden Jugendlichen ergriffen hat. Die einen betreiben magische Praktiken aus Zeitvertreib, andere aus persönlichen Nöten heraus. Manchen wird dabei langweilig und sie verzichten auf Pendel und Geisterbeschwörung. Aber unter ihnen sind auch solche, deren künftige Biografie dadurch beeinflusst wird. »Offenbar treten bei manchen Jugendlichen im Zusammenhang mit Okkultpraktizieren psychische Krisen und suizidale Neigungen auf, bei anderen Jugendlichen dagegen nicht«, heißt es in der Streib’schen Studie. Interessanter ist aber eine daran anschließende antwortlose Folgerung: »Die Ursachen dafür liegen weitgehend im Dunkeln. Zwar zeigen Untersuchungen eine Häufung schizotypischer Persönlichkeitsbilder bei Menschen mit okkulten Glaubenshaltungen, aber der Nachweis eines kausalen Zusammenhangs zwischen Okkultfaszination und psychischer Gefährdung ist bislang nicht erbracht« (zur Studie Schöll u. Streib, 2001). Es lassen sich demnach nicht nur außersinnliche Erfahrungen nicht einheitlich beurteilen, sondern sogar ihre Wirkungen sind ambivalent. Sind also okkulte Praktiken ein bisweilen spannender Zeitvertreib, oder besitzen sie ein gewisses Gefährdungspotenzial

Suche nach außergewöhnlichen Erfahrungen   27

und sollte man deshalb davon abraten? Man wird in jedem Fall vorsichtig sein müssen im Fällen von Werturteilen. Im Buch »Seelsorge und Okkultismus« (1953) des evangelischen Theologen und Publizisten Kurt E. Koch, das immerhin 2008 in der 28. Auflage erschienen ist, werden die okkulten Phänomene dämonischen Kräften zugeschrieben, denen nur durch die Absage an den Teufel begegnet werden kann. Es ist klar, dass diese Haltung nicht von allen Menschen geteilt wird. In einer bei Amazon veröffentlichten Lesermeinung liest man dann entsprechend: »der autor scheint sehr katholisch mit scheuklappen belastet zu sein, esoterik im allgemeinen wirkt täglich und überall, seelische kräfte als okkult und gefährlich einzustufen, ist etwas einseitig, okkultes sollte emotional unbelastet betrachtet werden«. Wie das wissenschaftlich daherkommende Buch von Koch belegt, ist bei aller Aufgeklärtheit unserer Gesellschaft die Dämonisierung außersinnlicher Erfahrungen längst nicht überwunden. Selbst wenn man dazu neigt, von der aktiven Suche nach außersinnlichen, vielleicht sogar okkulten Erfahrungen abzuraten, so wird man berücksichtigen, dass sie genauso tiefgreifend und aufwühlend sein können wie jene, die ungefragt und ungebeten auf einen zukommen. Für die beratende Person spielt es keine Rolle, auf welchem Weg die Erfahrungen gemacht wurden. Sie wird sich hüten müssen, wie in dem genannten Buch von Koch geschehen, von okkulter Besessenheit zu sprechen und zur Maßnahme des Exorzismus zu greifen.

28    Alltägliche Wunder: Erfahrungen mit dem Übersinnlichen

Alltägliche Wunder: Erfahrungen mit dem Übersinnlichen War eingangs davon die Rede, dass Aberglaube statistisch schwer zu erfassen ist, weil nur oberflächlich abgefragt wird, während außersinnliche Erfahrungen sich solchen Umfragen eher entziehen, so soll zum Schluss dieses ersten Teils eine Studie genannt werden, die das Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene (IGPP), Freiburg im Breisgau, zu Einstellungen und Erlebnissen im Bereich des Paranormalen in der deutschen Bevölkerung durchgeführt hat (Bauer u. Schetsche, 2003). Zusammenfassend konnte festgehalten werden, dass »außergewöhnliche Erfahrungen recht gewöhnlich sind« (Schmied-­ Knittel, 2008, S. 103). Insgesamt »75 Prozent, also fast drei Viertel der 1.510 Befragten [berichteten,] schon einmal mindestens eine außergewöhnliche Erfahrung gemacht zu haben« (S. 106). Handelte es sich dabei in erster Linie um unspektakuläre Erlebnisse wie Déjà-vu oder »Fügungen«, das heißt um schicksalhafte Ereigniskonstellationen, so waren doch sämtliche Psi-Formen wie Telepathie, Hellsehen, Präkognition, Psychokinese, Ahnungen und Wahrträume vertreten. So häufig solche Erfahrungen auch vorkommen, so hielten es die Befragten durchweg für schwierig, sie zu kommunizieren: »Dass außergewöhnliche Erfahrungen und dazugehörige Vorstellungen Bestandteile des gesellschaftlichen Wissens­vorrats und der populären Kultur sind, ermöglicht […] nicht automatisch eine unproblematische Verständigung mit der sozialen Umwelt. Dies ist vor allem dann nicht der Fall, wenn es darum geht, eigene außergewöhnliche Erfahrungen gegenüber Dritten zu kommunizieren. Dann nämlich, so ließ sich in den Berichten durchgängig feststellen, haftet den Erzählungen jeweils etwas auffällig Zurückhaltendes, ja fast Entschuldigendes an; etwa wenn die Interviewten wiederholt die Glaubwürdigkeit sowohl

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ihrer Beobachtungen als auch ihrer eigenen Person herausstellten« (S. 113). Dabei wäre die Mitteilungsmöglichkeit der Betroffenen von großer Bedeutung, denn ihre Erfahrungen können zu einem bestimmenden Teil ihres Lebens werden. Auf dem Kongress »Imaginatives Erleben in Todesnähe. Hermeneutische Erkundungen einer heutigen ars moriendi«, der vom 23. bis 24. Januar 2014 in Zürich stattfand, erläuterte die in Zürich lehrende Psychoanalytikerin Brigitte Boothe: »Man ist sich einig darüber, dass paranormale Erlebnisse, insbesondere Nahtod- und telepathische Erfahrungen, Kontakte mit Verstorbenen und eindrucksvolle Träume für die Erlebenden meist grosse persönliche Bedeutung haben und ihre Einstellung zum Leben, zu Sterben und Tod stark beeinflussen« (Boothe, 2014). Angesichts eines Akzeptanzrisikos von außersinnlichen Er­ fahrungen, das jenseits spezifischer Überzeugungsgemeinschaften sehr hoch ist, sind hier die Beratenden in besonderer Weise gefordert. Und was für die Therapierenden gilt, muss erst recht für die Seelsorgenden gelten, denn gerade in kirchlich geprägten Milieus sind Widerstände gegen außergewöhnliche Erfahrungen anzutreffen. Vor allem Menschen, die sich durch solche Erfahrungen bedrängt, belastet oder beeinträchtigt erleben, brauchen Entlastung. Sie entsteht weder durch Widerspruch noch durch Zustimmung, sondern in der Hilfe zum Verstehen von außer­gewöhnlichen Erfahrungen und ihrer Integration in die Biografie.

Zweiter Teil

Außergewöhnliche Phänomene und Erlebnisse rund um das Sterben – Beispiele aus der Praxis »That’s the whole problem with science. You’ve got a bunch of empiricists trying to describe things of unimaginable wonder.« (Bill Watterson: Calvin u. Hobbes1)

Die Grundfrage dieses Kapitels lautet: »Wo/wie spielt Aberglaube in der Praxis in Zusammenhang mit Sterben und Tod eine Rolle?« Nun besteht die Herausforderung für uns »Praktiker« darin, dass es eines unserer grundsätzlichen Paradigmen im Umgang mit Menschen und deren Glaubensvorstellungen ist, diese wertfrei und nicht verurteilend zu hören. Im Begriff »Aberglaube« schwingt jedoch per se eine gewisse Wertung mit, denn als Aberglaube wird ein »als irrig angesehener Glaube an die Wirksamkeit übernatürlicher Kräfte in bestimmten Menschen und Dingen« gesehen. Als Aberglaube werden überdies diverse Praktiken oder Überzeugungen gekennzeichnet, die nicht mit den »Lehrmeinungen« oder kulturell vorherrschenden Überzeugungen übereinstimmen. Würde man nun allerdings einen Atheisten um eine Einschätzung bitten, so täte dieser vermutlich sämtliche Glaubensvorstellungen als Aberglauben ab. Fragt man uns als klientenorientierte Beratende, dann zollen wir zunächst jeder Glaubensüberzeugung Respekt. Wir stellen nicht die Frage 1 https://squinch.net/2011/05/13/calvin-and-hobbes-meet-science-and-faith/

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nach wahrem oder falschem Glauben, wenn uns Menschen von paranormalen, außergewöhnlichen oder übernatürlichen Erfahrungen berichten. Weder Trauerbegleitende, noch Therapeutinnen oder Beratungspersonen sollten die Glaubensvorstellungen ihrer Klientinnen und Klienten werten, abwerten oder als »irrig« kennzeichnen. Denn jedes Glaubenskonzept hat seine Funktio­ nalität und kann zur Ressource werden. Und dennoch möchten wir uns der Frage zuwenden, welche Rolle »Aberglaube« im Zusammenhang mit Sterben und Tod spielt. Deswegen rücken wir hier nun solche Erlebnisse in den Fokus, die gemeinhin als paranormale, okkulte oder spiritistische Erlebnisse bezeichnet werden. Der Glaube, dass sich in solchen Ereignissen das Wirken höherer Mächte ausdrückt, wird teilweise als Aberglaube bezeichnet. Denn gerade solche Erlebnisse und Erfahrungen, die den üblichen Erfahrungshorizont sprengen, die nicht in gewohnte Erlebnismuster passen, fordern meist auch religiöse, philosophische und manchmal auch naturwissenschaftliche Haltungen heraus. Je nach bisherigen Glaubenskonzepten fällt es mehr oder weniger leicht, solche Erlebnisse in die eigene Biografie zu integrieren. Insofern ist im Weiteren nicht nur das Erlebnis an sich von Interesse, sondern in den Fallbeispielen legen wir bewusst auch einen Fokus auf die Frage, wie das Erlebnis interpretiert wird, ob es konsistent ist mit bisherigen Glaubensüberzeugungen oder gar zu neuen Glaubenshaltungen führt. Präkognition, Geistererscheinungen und Vorahnungen fordern immer wieder auch eine Diskussion um die »Echtheit« solcher Phänomene heraus: »Alles Einbildung!« oder »ein Beweis für das Wirken höherer Mächte«? Zwischen dem Standpunkt des Spiritisten und dem des kritischen Rationalisten erblüht mittlerweile eine Vielzahl an weiteren Interpretationen und teilweise auch wissenschaftlichen Modellen zur Erklärung solcher Erfahrungen. Die Fronten in der Fachwelt sind hier zumeist

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verhärtet. Die Diskussion um die Echtheit und den ontologischen Status solcher Erfahrungen übersieht jedoch oft einen wesentlichen Punkt: den Erlebenden und dessen Sorgen, Nöte, Deutungskonzepte und Fragen. Der Erlebende stellt sich unserer Erfahrung nach meist weniger die Frage: »War das Erlebnis echt oder eingebildet?«, sondern seine Fragen an die Erfahrungen sind ganz andere. Oft fragen sich Erlebende: »Wie soll ich damit umgehen? Was soll mir durch dieses Erlebnis gesagt werden? Welche Bedeutung hat das Erlebnis für mein Leben und meinen Glauben? Hätte ich vorgewarnt sein sollen? Findet mein Angehöriger, meine Angehörige keine Ruhe? Hat das Medium recht?« In manchen Fällen können entsprechende Erlebnisse eine große Ressource bei der Verarbeitung von belastenden Erfahrungen sein. Allerdings ist das nicht immer so. Manchmal können solche Erlebnisse auch in eine Krise münden. Ob ein Erlebnis schadet oder hilft, hängt meist weniger von der Kategorie des Erlebnisses ab. Es ist also gleichgültig für die Frage nach Schaden oder Nutzen, ob Spuk, Präkognition oder etwas anderes erlebt wird. Sehr viel bedeutsamer für die Frage, ob ein solches Erlebnis gut in die eigene Biografie integriert werden kann und als Ressource wahrgenommen wird, ist die Interpretation des Erlebnisses. Dazu kommen meist weitere Faktoren: Wie reagiert das Umfeld? Gibt es jemanden, mit dem das Erlebnis besprochen werden kann? Entscheidend ist hier auch die Frage: Wird der Glaube eines Menschen von einem anderen als »Aberglaube« disqualifiziert? »Das Urteil darüber, was abergläubisch ist und was nicht, hängt immer davon ab, was man selbst glaubt« (Hemminger u. Harder. 2000, S. 10). Wer vermag also darüber zu urteilen, ob der individuelle Glaube eines Menschen, dessen teilweise auf Erfahrungen basierende Überzeugungen Glaube oder Aberglaube sind? Ungünstig wäre es, wenn dies Trauer­ begleitende tun, das dürfte auf der Hand liegen.

Außergewöhnliche Phänomene rund um das Sterben   33

Doch werfen wir nun einen Blick auf das, was Menschen rund um das Sterben und den Tod erleben und wie sie diese Erlebnisse interpretieren. Die folgenden Fallbeispiele sollen zu einer eigenen Meinungsbildung anregen bzw. dazu verleiten, bisherige Meinungen zu hinterfragen. Manches Erlebnis lässt sich sicherlich herkömmlich erklären, manch anderes Erlebnis jedoch hinterlässt mehr Fragen als Antworten und fordert gerade die­ jenigen heraus, »die es nicht selbst erlebt haben«. Rasch geraten Menschen, die von solchen Erlebnissen berichten, in Verdacht, generell bzw. in den fraglichen Situationen nicht im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte gewesen zu sein. Deswegen wird besonders in unserer durch den kritischen Rationalismus und die Aufklärung geprägten Kultur nur ungern öffentlich von außergewöhnlichen Erfahrungen berichtet. Zu groß ist die Angst vor stigmatisierenden Urteilen. In anderen Kulturen ist der Umgang mit solchen Erfahrungen weitaus selbstverständlicher. Wenn Menschen sich mit solchen Erfahrungen anderen anvertrauen, ist dies zumeist ein großer Vertrauensbeweis, und wir möchten dazu ermuntern, mit solchen Berichten, unabhängig von Ihren eigenen Urteilen oder Vorurteilen, sorgsam und respektvoll umzugehen. Solchen Berichten mit Offenheit und ohne vorgefertigte Meinungen und Modelle zu begegnen, sich ganz darauf einzulassen, ist eine gute Voraussetzung, um auch in der Trauerbegleitung das ressourcenhafte Potenzial dieser Erfahrungen für die Betreffenden zu erschließen. Viele der folgenden Berichte stammen aus unseren b­ isherigen Berufsfeldern. Nun aber möchten wir das Wort denjenigen geben, die im Kontext mit Tod und Verlust von außergewöhnlichen Erfahrungen berichten.

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Ich hab’s geahnt … Beispiele zu Präkognition

»Der Abend des Lebens gibt mir geheimnisvolle Weisheit, und künftige Ereignisse werfen ihre Schatten voraus.« (Thomas Campbell, schottischer Dichter, 1777–1844; aus: Lochiel’s Warning, 1802) Zunächst wollen wir dazu einladen, einige Fälle von Vorahnungen im Zusammenhang mit Sterben kennenzulernen. Grundsätzlich spricht man dann von Präkognition oder Vorahnungen, wenn Informationen über zukünftige Ereignisse oder Sachverhalte erlangt werden, ohne dass es einen kausalen Bezug gibt oder eine andere rationale Wissensquelle zur Verfügung steht. Telepathie ist auch unter den Schlagworten Gedankenübertragung oder Gedankenlesen bekannt. Gelangen Informationen, Gedanken, Empfindungen wie auch Gefühle einer Person ohne Nutzung eines bisher bekannten Informationsübertragungs­ weges an eine andere Person, dann spricht man von Tele­pathie. Der Glaube an außergewöhnliche Erfahrungen ist weit verbreitet in der Bevölkerung (Schmied-Knittel, 2008). Nur ca. ein Viertel aller befragten Menschen hat keinerlei außergewöhnliche Erfahrungen erlebt. Spitzenreiter bilden die Déjà-vu-­Erfahrungen (51 Prozent), dicht gefolgt von Wahrträumen und Fügungen. Schmied-Knittel (2008, S. 108) weist auch darauf hin, dass gerade Erfahrungen im Bereich der außersinnlichen Wahrnehmung, ähnlich wie Erscheinungen Verstorbener, vermehrt mit religiösen Deutungsmustern in Verbindung gebracht werden. Diese komplexe Bindung an spirituelle Deutungsmuster zeigt sich auch in einem Zusammenhang zwischen der Häufigkeit von außergewöhnlichen Erfahrungen und dem Glauben daran. Was allerdings Huhn und was Ei ist, lässt sich aus diesen Zahlen nicht herauslesen: Begünstigen außergewöhnliche Erfahrungen spirituelle Deutungsmuster oder sorgt der Glaube für ver-

Ich hab’s geahnt … Beispiele zu Präkognition   35

mehrtes Auftreten solcher Erfahrungen? Oder gibt es gar einen dritten unbekannten Faktor? In einer qualitativen Nachbefragung wurde außerdem festgestellt, dass es im Bereich außersinnlicher Wahrnehmung zwar durchaus auch bedeutsame alltägliche Ereignisse gibt, die »vorweggesehen« werden, jedoch die größte Gruppe tragische persönlich bedeutsame Ereignisse betrifft (Unfälle, Sterbefälle). Inhaltlich findet sich eine große Bandbreite. Interessant ist die Frage, wie die Studienteilnehmenden zunächst selbst ihre Erlebnisse interpretierten. Schmied-Knittel stellt hier fest, dass die Befragten fast durchweg »eine recht rationale Haltung bedienten« (2008, S. 112) und primär psychologische (Stressreaktion u. Ä.) bis hin zu naturwissenschaftlichen Alltagstheorien ins Feld führten. So kommt die Autorin zu dem Schluss, dass es sich bei diesen vermeintlich paranormalen Erfahrungen doch um eher »gewöhnliche« Erfahrungen handelt, weil sie von vielen Leuten geteilt und mit großer Selbstverständlichkeit akzeptiert werden. »Tatsächlich sind es oftmals nicht die Erfahrungen selbst, sondern die vermeintliche oder tatsächliche Reaktion des sozialen und gesellschaftlichen Umfelds, die das Erleben des Übersinnlichen zum psychohygienischen Problem werden lassen« (Schmied-Knittel, 2008, S. 115). Nach diesem kurzen theo­retischen Vorspann richten wir nun den Blick auf die Praxis. Fallbeispiel 1: Vorahnungen, ausgelöst durch besondere Sinneswahrnehmungen

Besondere Sinneswahrnehmungen können sich prinzipiell auf allen Sinneskanälen einstellen. So berichten manche Menschen davon, dass sie in Bezug auf den Tod eines Menschen vorab oder währenddessen besondere sensorische Wahrnehmungen hatten: »Ein bitterer Geschmack«: »Plötzlich standen mir die Haare zu Berge«; »Ich bekam schlagartig Schüttelfrost und wusste, dass etwas passiert war«. Oft stehen diese besonderen Sinneswahr-

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nehmungen in Zusammenhang mit Vorahnungen. Ausgelöst durch einen bestimmten Geruch, ein bestimmtes Gefühl oder einen bestimmten Geschmack spüren die Betreffenden, dass gerade jemand verstorben ist oder stirbt. Im vorgestellten Fall nähern wir uns dem Thema Tod gemeinsam mit einem Feuerwehrmann, dem der Tod auf professioneller Ebene immer wieder begegnete. Er berichtet davon, dass er bei Einsätzen mit Toten dies vorab riechen könne: »Wenn ich in den Einsatz gehe, schauen mich meine Kameraden oft mit großen Augen an und fragen schon auf der Anfahrt zum Einsatzort, wie schlimm es sein wird. Für Außenstehende klingt das sicher seltsam. Wir Feuerwehrleute sind täglich unterschied­ lichsten Szenarien ausgesetzt. Zu unserem Job gehört nicht nur, die Katze vom Baum zu holen. Uns ist die Brandbekämpfung und Menschenrettung bei Brandeinsätzen genauso vertraut wie die technische Hilfeleistung bei Verkehrsunfällen. Unwetterlagen gehören genauso dazu wie der Umgang mit Gefahrgut. Norma­ lerweise sind wir alle sehr bodenständig, und nur sehr wenige von uns sind irgendwie spirituell veranlagt. Dann war da dieses eine Erlebnis, das mich so sehr verändert hat. Es war ein schwerer, aber nicht außergewöhnlicher Verkehrs­ unfall. Ich war als Angriffstrupp mit Schere und Spreizer ganz vorne mit dabei. Damals hatte ich zum ersten Mal den Eindruck, ich spüre, wenn ein Mensch gehen muss. Seither habe ich immer ein zutref­ fendes Gefühl, was uns am Einsatzort erwartet. Wenn wir rausfah­ ren, spüre ich ein seltsames Gefühl. Es wird warm und irgendwie kribbelt es mich von unten nach oben. Schwer, das in Worte zu fassen. Spätestens beim Aussteigen rieche ich, wenn jemand am Einsatzort verstorben ist. Es riecht süßlich und fast balsamisch, und das, bevor ich in ›Riechweite‹ des Opfers kommen kann. Ich weiß, es hört sich seltsam an. Es klingt sicherlich für viele unglaublich oder sogar beängstigend. Das war es für mich anfangs auch.

Ich hab’s geahnt … Beispiele zu Präkognition   37

Ich rieche und spüre aber nur diese Besonderheiten, wenn wirklich etwas Schlimmes passiert. Es ist unabhängig vom Melde­ bild und damit unabhängig davon, ob ich etwas ahnen könnte. Es ist auch unabhängig von der Tageszeit, also spielt es keine Rolle, ob ich bei Nacht eventuell empfindsamer sein könnte. Was ich im Übrigen von Haus aus nicht bin. Meine Wahrnehmungen sind mir außerdem nicht unangenehm. Sie sind völlig neutral und eher positiv spürbar. Viele meiner Kameraden sagen, sie seien dankbar über meine, nennen wir es einfach mal ›Gabe‹. Sie können sich wappnen und schlittern nicht unnötig in unschöne Situationen hinein. Klar erzähle ich nicht jedem davon, denn es hört sich schon ein biss­ chen verrückt an. Manchmal habe ich aber das Gefühl, dass ich damit andere entlasten kann.«

Fallbeispiel 2: Vorahnungen

Wie oben gezeigt wurde, gehören Vorahnungen und Präkognition zu den häufigen Erlebnissen im Kontext mit Sterben. Vorahnungen können sich unterschiedlich äußern: in Träumen, die sich nachträglich bewahrheiten, in Visionen, in einem vagen Gefühl oder einem plötzlichen Wissen. Diesen Fall berichtete eine junge Frau (21 Jahre), die den tragischen Unfalltod ihrer Großmutter miterlebte: »Im Sommer war ich wie jedes Jahr bei meinen Großeltern in der Schweiz, die ich über alles liebe und die mir sehr naheste­ hen. Meine Großmutter mag es zu schwimmen und zu wandern. Sie war 65 und eine sehr aktive Frau, die mitten im Leben stand und kerngesund war. Eines Morgens war meine Großmutter verschwunden. Das war an und für sich normal, da sie häufig bereits früh aufstand und einen Morgenspaziergang unternahm. (Meine Großeltern leben in einem abgelegenen Bergdorf in den Schweizer Alpen.) An diesem Morgen jedoch packte mich eine

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gewisse Unruhe. Ich erwachte bereits um 6 Uhr, es war, als habe eine Stimme mich wachgerufen; ich hörte immer wieder, wie die Stimme meiner Großmutter sagte: ›Nadine, wach auf!‹ Ich stand auf und sah nach, aber von Großmutter war keine Spur zu sehen, sie war, wie so oft, schon unterwegs. Großmutter liebte die Berge und nutzte oft den frühen Morgen für ihre Spazier­ gänge. Auch Großvater war schon wach. Ich fragte ihn, ob er auch Oma gehört habe, er verneinte, aber er meinte, er habe unruhig geträumt und mache sich Sorgen. Er habe den Eindruck, als sei ein schwerer Stein auf das Hausdach gefallen, er fragte, ob ich den Schlag auch gehört habe. Meine kleine Schwester stand auch eine Viertelstunde später auf und kam mit verschlafenem Blick in das Wohnzimmer. Sie behauptete steif und fest, Oma habe in ihrem Zimmer gestanden und sie geweckt. Sie habe an der Decke gezogen. Uns alle packte eine starke innere Unruhe. Wir versuchten, Großmutter per Handy zu erreichen, aber sie nahm nicht ab. Ich wollte losziehen und sie suchen, aber Groß­ vater meinte, es sei bestimmt alles in Ordnung, meist komme sie ja erst gegen 9 Uhr zurück und wir sollten uns nochmals schla­ fen legen. Um 9 Uhr war Großmutter nicht da. […] Später am Tag fand man sie, tot. Ein Steinschlag hatte sie getroffen. […] Im Nachhinein stellte sich heraus, dass Großmutter vermutlich in den frühen Morgenstunden getroffen wurde, zu der Zeit, als Opa den Schlag hörte und ich ihre Stimme rufen hörte. Ich glaube, meine Oma wollte sich auf diese Art von uns verabschieden. Ich glaube, wir sind miteinander so verbunden, dass ihr Tod nicht einfach so geschehen konnte, sondern wir dies spürten. Ich bin dankbar dafür.«

Fallbeispiel 3: Wahrtraum

Besonders häufig berichten Menschen uns in Zusammenhang mit dem Tod eines Menschen von Wahrträumen. Der Begriff »Wahrtraum« ist kein wissenschaftlich akzeptierter Begriff. Wahrträume

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sind, wie es der Name vermuten lässt, Träume, die sich in irgendeiner Form bewahrheiten. Sehr drastisch ist der folgende Fall für die Mutter eines neugeborenen Babys (Frau H., 34 Jahre): »Nach drei Jahren erfolgloser Bemühungen wurde ich endlich schwanger. Sie können sich vorstellen, wie sehr wir uns auf dieses Kind gefreut haben. Jedoch wurde die Schwangerschaft, die pro­ blemlos verlief, begleitet durch eigenartige Träume. Ich sah, wie ich an einem Grab stand und weinte. In einem anderen Traum suchte ich einen kleinen Sarg aus. Als meine Tochter auf die Welt kam, war ich überglücklich. Doch nach drei Wochen hatte ich wie­ der einen Traum. Dieses Mal sah ich meine verstorbene Mutter im Traum. Sie sagte zu mir: ›Du wirst nicht mehr lange Zeit haben mit deiner Tochter. Genieße die Zeit.‹ Der Traum war anders als alle bisherigen Träume. Er fühlte sich eigenartig real an, obwohl meine Mutter ja längst tot ist. Ich hatte den Eindruck, sie war wirk­ lich da. Ich war beunruhigt. Mit meiner Tochter war jedoch alles in Ordnung, ein kerngesundes Mädchen, das sich prächtig ent­ wickelte. Als mein Mädchen acht Wochen alt war, fand ich es tot im Babybett. Plötzlicher Kindstod. Es war furchtbar. Ich wünsche keinem Menschen dieses Leid. […] Vielleicht haben mich diese Träume vorbereitet. Manchmal tröstet mich der Gedanke, meine Mutter passt nun auf die Kleine auf. Manchmal hadere ich mit mir und denke, ich hätte durch die Träume gewarnt sein sollen. Aber was hätte ich tun können?«

Fallbeispiel 4: Synchronistische Ereignisse

Exemplarisch für unzählige weitere Fälle soll hier von einem typisch synchronistischen Erlebnis berichtet werden. Zufälle können zu sinn- und bedeutungsvollen Zufällen, sogenannten Synchronizitäten, werden, wenn ein zufälliges Ereignis mit einer bedeutungsvollen Situation zusammentrifft, wie etwa in dem folgenden Fall:

40    Außergewöhnliche Phänomene rund um das Sterben

»Mein Sohn Dieter starb viel zu früh, er war erst 35 Jahre alt und war gerade selbst Vater geworden, als ihn die Diagnose Magenkrebs ereilte. Es ging dann alles schnell, viel zu schnell. Eine Chemo, doch der Krebs war bereits viel zu fortgeschritten. […] In seiner Sterbestunde ergriff eine heftige Windböe unse­ ren gemeinsamen Wohnwagen und blies ihn um. Einfach so, obwohl es an dem Tag keine Sturmwarnung gegeben hatte und der Wohnwagen fest verankert war und an einem windgeschütz­ ten Platz stand. Ich stand nicht weit entfernt von dem Wohnwa­ gen, als die Böe ihn mit voller Wucht erfasste und ihn umwarf. In dem Augenblick wusste ich: Jetzt ist Dieter gestorben. […] Die­ ses Erlebnis, noch oft denke ich daran. Ich glaube, als die Seele von Dieter ging, wollte sie das nicht sang- und klanglos tun. Nein. Das war Dieters Art, sich zu verabschieden. Er ist mit einem Knall gegangen. Ich habe mir lange vorgeworfen, dass ich zum Zeit­ punkt seines Todes nicht bei ihm war. Nun denke ich, dass er zum Zeitpunkt seines Todes bei mir war. Das beweist der umgekippte Wohnwagen. Mich tröstet dieser Gedanke etwas.«

Bekannt sind auch Berichte aus Kriegszeiten, in denen Angehörige angeben, dass just in dem Moment, als der Sohn gefallen war, dessen Bild von der Wand fiel. Häufig spüren Betroffene einen starken Handlungs- oder Mitteilungsimpuls nach einem Wahrtraum oder einer Vorahnung. Oft entsteht beispielsweise das Bedürfnis, jemanden nochmals zu sehen oder anzurufen. Solchen Impulsen zu folgen kann dabei helfen, den Wahrtraum im Nachhinein als hilfreiche Ressource wahrzunehmen. Denn immerhin hat der Traum dann dazu beigetragen, sich eventuell bewusster zu verabschieden. Es kann sein, dass sich die Wahrnehmung von Träumen und der Umgang mit Träumen nach einem Wahrtraum drastisch verändert. Nachdem sich ein Traum in der Realität völlig unerwartet bewahrheitet hat, neigen manche Menschen dazu,

Ich hab’s geahnt … Beispiele zu Präkognition   41

ihre Träume genau zu betrachten. Das intuitive Gespür für die Andersartigkeit oder Bedeutsamkeit bestimmter Träume geht dadurch verloren, dass gewissermaßen jedem Traum Bedeutsamkeit verliehen wird. Damit reduzieren Betreffende gleichzeitig einen Traum auf eine Eigenschaft, nämlich die Frage, ob er sich bewahrheitet oder nicht. Der übrige Mehrwert, welchen Träume im Gepäck haben, wird unwichtig oder über­sehen. Es erfolgt eine perspektivische Verengung auf die oft ängstliche Befürchtung, dass es sich wieder um einen Wahrtraum handeln könnte. Dieses Verhalten betrifft meist Menschen, die einen pros­pektiven Traum erlebten, der auf ein bevorstehendes Unglück, Tod oder Krankheit deutete. Oft ist gerade die Frage der Verantwortung ein zentrales Thema, das Betreffende quält, nachdem sie einen Wahrtraum erlebt haben. In einem Fall beispielsweise träumte eine Mutter (Frau F.) sehr detailliert den Tod ihres fünfjährigen Sohnes voraus, der wenige Wochen später eintrat (durch einen Verkehrsunfall). Sie quälte sich seither mit der Frage, was sie hätte tun können, um den Tod ihres Kindes zu verhindern. Den Traum interpretierte sie als War­ nung, die sie nicht ernst genug genommen habe. Sie sah des­ halb eine Mitverantwortung für den Tod ihres Sohnes bei sich (und nicht bei dem Autofahrer, der aus nicht nachvollziehba­ ren Gründen auf den Gehweg gerast war). »Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte besser aufpassen müssen. Ich hätte mein Kind warnen müssen«, dies sind Sätze, die sehr typisch sind für Men­ schen, die beispielsweise einen schweren Verlust erlebten und diesen vorwegträumten. Möglicherweise stellen sich auch ohne vorhergehenden Wahrtraum solche Schuld- und Verantwortungs­ themen ein, gerade wenn ein Kind ums Leben gekommen ist. Der Wahrtraum wirkte im Fall von Frau F. jedoch verstärkend, da er als Warnung interpretiert wurde. In der Folgezeit berichtete die Mutter über immer wiederkehrende Albträume, in welchen sie

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ihre anderen Kinder sterben sah. Daraus entwickelte sich bei ihr ein übervorsichtiges und angstgesteuertes Verhalten in Bezug auf ihre Träume und in Bezug auf ihre Kinder. Wenn sie einen Traum hatte, in welchem es um ein Unglück ging, tat sie alles, um zu vermeiden, dass solch ein Unglück eintreten konnte. Aufgrund der traumatischen Umstände durch den Unfalltod ihres Sohnes ist es nachvollziehbar, dass sie recht oft von Unglücken und Tod träumte, welche auch ihre anderen Kinder betrafen. Durch den Wahrtraum gelang es ihr nur schlecht, diese Träume in Zusam­ menhang mit der Verarbeitung des Geschehenen zu bringen. Stattdessen war sie jedes Mal alarmiert und in Angst. Weiterhin litt sie an Einschlafproblemen und Schlafstörungen. Durch die Albträume konnte sie sich im Schlaf nicht mehr erholen, sondern fürchtete den Schlaf.

Manchmal besteht auch die Angst, durch den Traum ein Unglück ausgelöst zu haben, quasi im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Oft reagiert das Umfeld auf Menschen, die Präkognitionen haben, eher ablehnend und skeptisch. Vorahnungen und Wahrträume können den Mitmenschen Angst machen und diese zutiefst verunsichern. Daher erleben Menschen, die anderen von ihren Wahrträumen berichten, oft Ablehnung und Misstrauen. Dass Überbringer schlechter Nachrichten geköpft wurden, lehrt uns die Geschichte. Der Bote wird mit der Botschaft gleichgesetzt. Deshalb ist es umso wichtiger, mit Menschen Sprachregeln zu entwickeln, die es einerseits erlauben, Befürchtungen anzusprechen, die andererseits jedoch nicht zu konfrontativ und grenzüberschreitend sind.

Weitere »paranormale« Phänomene rund um das Thema Tod    43

Weitere »paranormale« Phänomene rund um das Thema Tod

Nachdem im vorherigen Kapitel dem gut abgrenzbaren Bereich der Präkognition Raum gegeben wurde, liegt nun das Augenmerk auf weiteren Fällen rund um das Thema Tod. Ob diese Fälle unter dem Label »paranormal« geführt oder eher als Form der »außergewöhnlichen Wahrnehmung« gesehen werden, überlassen wir dem Betrachter, der Betrachterin. Grundsätzlich hatten wir es bei den oben genannten Beispielen eher mit »internalem Erleben« zu tun, also solchen Erlebnissen, die sich im Inneren einer Person abspielen. Die folgenden Beispiele können eher im »externalen Erleben« angesiedelt werden. Fallbeispiel 5: Spuk oder Wahrnehmung des Verstorbenen nach dessen Tod

Auch Spukfälle werden häufig nach dem Tod eines Menschen berichtet. Die Phänomene beim Spuk werden zumeist von mehreren Personen wahrgenommen. »Seit mein geliebter Mann gestorben ist, dies war vor fünf Mona­ ten und ich dachte, es reißt mir das Herz aus dem Leib, hat sich mein Glauben vollkommen verändert. Ich habe vorher nichts von dem ganzen Hokuspokus rund um Glauben und Jenseits gehal­ ten. Ich bin Wissenschaftlerin, mein ganzes Leben lief in geord­ neten Bahnen, für solch irrationale Vorstellungen hatte ich allen­ falls ein müdes Lächeln übrig. Nun verstarb jedoch mein Mann von einem Tag auf den anderen an Herzversagen, er wurde nur 75 Jahre alt. Wir hatten noch so viele Pläne. Und mein Leben lag in Scherben vor mir. Am liebsten wäre ich auch gestorben. Als ich voller Verzweiflung weinend auf dem Bett lag, hörte ich Schritte, die zu meinem Bett kamen. Es waren nicht irgendwel­ che Schritte, sondern die Schritte meines Mannes. Ich kann nach

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45 Jahren Ehe diese Schritte unter tausend anderen heraushören, er hatte eine bestimmte Eigenheit beim Gehen. Ich spürte, wie sich etwas Warmes auf meine Schultern legte. Ich wagte nicht aufzublicken. Die Anwesenheit meines Mannes war so stark, so tröstlich und so wirklich. Ich habe mir das nicht eingebildet. In diesem Moment spürte ich, wie sich innerlich ein tiefer Friede in mir ausbreitete. Ich wusste, dass es meinem Mann gut geht. Sol­ che Phänomene wiederholten sich in den folgenden Wochen immer wieder. Mehrmals hörte ich seine Stimme rufen. Einmal roch es in der ganzen Wohnung nach Hefekuchen, den er immer gebacken hatte, dies roch auch meine Nachbarin und fragte ver­ wundert, ob ich gerade backen würde. Auch sein Aftershave war immer wieder zu riechen. Auf meinem Nachtisch lag ges­ tern Morgen eine Kette, die ich lange vermisst habe und die er mir zu unserem zweiten Hochzeitstag geschenkt hatte. Ich habe keine Ahnung, wie diese Kette da hingelangt sein könnte. Aber ich weiß, dies ist ein Zeichen meines Mannes. Ich fühle mich ihm sehr verbunden.«

In dem folgenden Fall stellten sich die spukhaften Phänomene einige Wochen nach dem Tod des Bruders von Herrn L. ein. Besonders bemerkenswert ist hier die Symbolik des Wassers, worin sich ein beinahe metaphorischer Bezug zur zurückgehaltenen Trauer des Betreffenden erahnen lässt. »Ich bin sehr beunruhigt. Glauben Sie mir, ich bin nicht verrückt, aber seit zwei Wochen passiert es immer wieder, dass in unserem Badezimmer die Wasserhähne voll aufgedreht sind. Wir leben mit drei Personen in einem alten Haus, die Wasserhähne haben einen Drehverschluss, den man normalerweise nur mit größerer Kraftanstrengung betätigen kann. In der Küche treten immer wie­ der große Pfützen auf, wir haben alle Leitungen checken lassen und auch das Dach ist in Ordnung. […]

Weitere »paranormale« Phänomene rund um das Thema Tod    45

Ich hatte viel Stress in den letzten Wochen. Dazu kam noch, dass mein Bruder vor acht Wochen plötzlich durch einen Auto­ unfall verstarb. Ich kann mir das alles nicht erklären. Ist es mein Bruder, der keine Ruhe findet, oder liegt es am Haus?«

Fallbeispiel 6: Erscheinungen

Immer wieder berichten Menschen auch von Erscheinungen vor, während oder nach dem Tod eines geliebten Angehörigen. In manchen Fällen erscheint der Sterbende persönlich, im folgenden Fall hat die Erscheinung einen Ankündigungscharakter: »Ich saß vor dem Fernseher und ließ mich berieseln. Alles war ruhig im Haus, meine Kinder schliefen. Plötzlich wurde es sehr hell, als würde die Lampe im Wohnzimmer sich in eine Sonne verwandeln. Ich sah eine Gestalt in dem Licht. Es war ein Engel. Alles fühlte sich warm und geborgen an. Der Engel sagte zu mir: ›Ich werde deinen Sohn zu mir holen.‹ Dann war alles vorbei. Ich rieb mir die Augen. Es war eigenartig. Die Anwesenheit es Engels hatte etwas Überwältigendes und Erhebendes. Auf der anderen Seite diese Botschaft. […] Mein Sohn verstarb in der folgenden Woche bei einem Verkehrsunfall. Ich glaube, ich hätte mich selbst umgebracht, wenn ich nicht diese Erscheinung gehabt hätte. Wenn es ganz schlimm wird, tröstet mich das Bild, dass mein Sohn nun bei diesem Engel ist. Ich weiß, er ist an einem guten Ort.«

Fallbeispiel 7: Spüren einer Anwesenheit

Auch im Folgenden geht es zunächst um die Erfahrungen von Menschen, die im professionellen Kontext mit Tod konfrontiert sind. Dazu geben wir das Wort an die 55-jährige Altenpflegerin Frau E.: »Ich arbeite seit vielen Jahren als Pflegerin in einem Altenheim. Ich liebe diesen Beruf, ich empfinde es als großes Privileg, Men­

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schen, die oft ihr Leben lang für andere da waren, in ihren letzten Jahren und Monaten zu begleiten. Nun habe ich oft miterlebt, wie Menschen im Altersheim starben. Selbstverständlich stehen alle diese Menschen dort kurz vor dem Tod, und dennoch konnte ich mit einiger Gewissheit spüren, wenn es bei jemandem wieder so weit war. Irgendetwas an der Atmosphäre um diesen Menschen herum ist dann verändert. Ich habe auch den Eindruck, dass der Raum des Sterbenden dann oft erfüllt ist von einer ganz beson­ deren Stimmung. Es hat etwas Heiliges, Friedvolles oder Erha­ benes, ich weiß nicht richtig, wie ich das beschreiben sollte. Mir hilft dies, diese letzten Tage mit den Betreffenden nochmals sehr bewusst zu erleben, ich nehme mir dann meist etwas mehr Zeit, soweit dies der stressige Alltag erlaubt, und versuche, bei die­ sen Menschen etwas länger zu verweilen. Wenn ich zu einem ver­ storbenen Bewohner komme, dann habe ich meist sehr spezielle Empfindungen. Oft spüre ich die Präsenz des Verstorbenen, ja es fühlt sich zumeist so an, als sei er noch im Raum. Dies macht mir keine Angst, sondern es hat etwas sehr Friedvolles und Kraftvol­ les. Es ist mir beinahe peinlich, jedoch empfinde ich, obwohl ich meine Bewohner durchaus mag, meist keine Gefühle von Trauer, sondern nehme oft eine große Leichtigkeit wahr. So was kann man kaum erzählen, rasch gerät man dann ja in den Verdacht, man sei froh, dass der Betroffene gestorben ist. Oder man könnte vermuten, ich habe keine Beziehung zu den Bewohnern aufge­ baut. Das ist jedoch nicht so. Ich bin durch diese häufige Begeg­ nung mit dem Tod auf eine besondere Weise gläubig geworden. Ich glaube bzw. würde sagen, ich weiß mit einer tiefen inneren Sicherheit, dass es nach dem Tod nicht vorbei ist. Es ist für mich so deutlich spürbar.«

Berichten Menschen von solchen externalen Erfahrungen, dann fordert dies Zuhörende meist mehr heraus als Berichte über internale Wahrnehmungen, wie oben beschrieben. Mit unse-

Weitere »paranormale« Phänomene rund um das Thema Tod    47

rem rationalen Weltbild sind solche Erlebnisse nur schwer vereinbar. Das Erklärungs- und Interpretationsspektrum zu diesen Erfahrungen ist sehr weit. Mittlerweile jedoch setzt sich nach und nach in der Fachwelt die Überzeugung durch, dass solche Erlebnisse teilweise auch als Sprachrohre des Unbewussten verstanden werden können. Emotionen und verdrängte Lebens­ themen, die sonst kaum verbalisiert werden können, suchen sich in solchen Erlebnissen ihren Ausdruck. Bei den Erklärungen zum Spuk scheiden sich die Geister. So gibt es unterschiedlichste Erklärungsansätze, die alle mehr oder weniger plausibel sind. • Spiritistische Theorie: Die Erlebnisse lassen sich durch das Einwirken von Geistern oder verstorbenen Seelen erklären; besonders beliebte Hypothese beim Trauerspuk. • Naturalistische Theorie: Es muss eine natürliche Erklärung für das Geschehen geben. • Manipulationstheorie: Jemand hat nachgeholfen. • Wahrnehmungspsychologische Theorie: Menschen unter Stress oder Angst können dazu neigen, sich Dinge einzubilden oder zu fantasieren. • »Psychogeografische« Theorie: Bestimmten Orten haftet eine unheimliche Atmosphäre an. • Esoterische Theorie: Häuser oder Gegenstände nehmen »seelische Energie« auf, speichern diese und übertragen sie auf bestimmte sensitiv veranlagte Menschen. • Animistische Theorie: Spukphänomene werden von Lebenden verursacht, allerdings nicht durch Manipulation, sondern man spricht in diesem Kontext von einer nach außen verlagerten psychosomatischen Interaktion zwischen Betreffenden und Umwelt. Der Spuk externalisiert sozusagen innere Spannungen (Irwin u. Watt, 2007, S. 153 ff.). Auch die Ansätze von Lucadous passen in diese Theorie (von Lucadou, 1995). Neuere Untersuchungen deuten darauf hin, dass nicht immer

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eine belastende Situation hinter dem Spuk stecken muss. Fach (2011, 2016) zeigt, dass häufig auch Themen rund um die Grundbedürfnisse, und hier insbesondere Autonomieund Bindungsbedürfnisse, im Zusammenhang mit Spuk stehen können. Ganz gleich jedoch, ob es nun Geister gibt oder all die Phänomene Ausdruck unseres Unbewussten sind bzw. eine andere Erklärung vorliegt, ist ein personenzentriertes Vorgehen hilfreich im Umgang mit Betroffenen. Es ist sehr sinnvoll, die sogenannte Fokusperson und deren näheres Umfeld genauer kennenzulernen, die inneren Strukturen, Nöte, Ängste und Veränderungsprozesse zu begreifen, in denen diese Person gerade steckt. Nur so kann es gelingen, die Botschaft, die hinter den Phänomenen steckt, gemeinsam mit der Klientin oder dem Klien­ten zu entschlüsseln. Für das therapeutische Vorgehen ist die Frage zweitrangig, wer der Sender dieser Botschaft ist, das eigene Unbewusste oder die Geister aus dem Jenseits. Als Berater und Therapeuten lenken wir den Blick auf den Inhalt der Botschaft. Wichtig ist es dabei, den Erlebenden selbst, dessen Emotionen, Sorgen und Nöte in den Mittelpunkt zu rücken.

Klassifizierung der Fallbeispiele

Dieses (keinesfalls erschöpfende) Potpourri unterschiedlicher außergewöhnlicher Erfahrungen rund um den Tod verdeutlicht Verschiedenes. Die Erfahrungen, von denen Menschen hier berichten, sind sehr unterschiedlich und können keinesfalls über einen Kamm geschoren werden. Es gibt nicht »die typische Erfahrung«, und jeder Bericht weist seine eigenen Strukturen und individuellen Elemente auf. Generalisierte Urteile zu solchen Erfahrungen sind deshalb schlicht und ergreifend

Klassifizierung der Fallbeispiele   49

nicht möglich. Aus phänomenologischer Perspektive jedoch lässt sich durchaus eine gewisse Ordnung in dieses Erfahrungsspektrum bringen. Zunächst ist zwischen internalen und externalen Erfahrungen zu unterscheiden. Internale Phänomene spielen sich im Gegensatz zu den externalen Phänomenen in der inneren Erlebniswelt der Betroffenen ab (Belz-Merk u. Fach, 2005; Fach, 2006). Zu den externalen Phänomenen zählen beispielsweise Spuk, Erscheinungen, akustische Phänomene, körperliche Veränderungen wie Stigmata sowie Anomalien auf Fotos. Internale Phänomene hingegen können innere Bilder, Visionen, Stimmenhören, Paralyse, außerkörperliche Erfahrungen, Gedanken­eingebungen oder Vorahnungen betreffen. Diese Unterscheidung wurde auch bei der Klassifikation der Fallbeispiele berücksichtigt. Außerdem haben die Erfahrungen einen unterschiedlichen Zeitbezug. So gibt es Erfahrungen, die • vor dem Tod eines Menschen gemacht wurden; • zum Todeszeitpunkt stattfinden; • nach dem Tod eines Menschen gemacht wurden. Es zeigt sich, dass der Zeitbezug sowohl bei externalen als auch bei internalen Erfahrungen alle genannten Dimensionen betreffen kann. An den unterschiedlichen Beispielen wird außerdem sichtbar, dass die Erfahrungen sich in allen Fällen spontan und ohne bewusstes oder willentliches Zutun der Erfahrenden einstellten. Die Erfahrung entzieht sich damit auch der Kontrollier- und Steuerbarkeit des Erfahrenden. Im Gegensatz zu den später thematisierten mediumistischen Erfahrungen geht die Kontaktaufnahme nicht vom Diesseitigen aus, sondern die Erfahrenden schreiben die Kontaktaufnahme oft dem Verstorbenen zu. Deutlich wird hier auch, dass im Kontext mit Tod und außer­ gewöhnlichen Erfahrungen in allen beschriebenen Fällen diverse

50    Außergewöhnliche Phänomene rund um das Sterben

Glaubens- und Interpretationsansätze zu finden sind. Die Erfahrenden interpretieren die Erfahrungen oft als ich-fremd und schreiben diese dem Wirken des Sterbenden oder Verstorbenen zu. Diese interpretative Festlegung ist eine Besonderheit im Kontext außergewöhnlichen Erfahrungen und Tod. Für gewöhnlich findet sich bei derartigen Erfahrungen eine weitaus größere Bandbreite an Interpretationen und Einkleidungen. Die emotio­ nale Reaktion auf die Erfahrung kann variieren. Es wird außerdem deutlich, dass die jeweiligen Erfahrungen (die hier teilweise sehr gekürzt wiedergegeben wurden) für die Betreffenden eingebettet sind in individuelle Geschichten und in der Regel eine eindeutige Interpretation der Betreffenden stattgefunden hat, indem das Ereignis mit dem Versterbenden in Verbindung gebracht wird. Hier findet sich ein deutlicher Unterschied zu außergewöhnlichen Erfahrungen, die nicht im Kontext mit Tod stattfinden. In der Regel hinterlassen Erfahrungen im Kontext mit Tod weniger Ratlosigkeit, sondern Erlebende stellen rasch innere Verknüpfungen zum Verstorbenen her. Erlebnisse dieser Art scheinen sich im Gegensatz zu anderen Erlebnissen besser in die individuelle Biografie integrieren zu lassen, weil Sinnhaftigkeit und Bedeutung dahinter gesehen werden. Verführerisch wäre es nun, der Frage nachzugehen, wie solche Erfahrungen zu erklären sind. Außenstehende diskutieren zumeist vehement über diese Frage, stellen unterschiedliche Modelle auf und sind bemüht um wissenschaftliche Anerkennung. Allerdings zeigt sich, dass für die wenigsten Betroffenen die Frage nach der Erklärung solcher Erfahrungen von Bedeutung ist. Die oben angeführten Beispiele zeigen sehr eindeutig: Für die Erlebenden steht es außer Frage, dass die Erfahrungen einen Bezug zum Tod oder Verstorbenen haben. Wir stellen deswegen nicht die Frage, wie sich diese Erfahrungen einordnen und erklären lassen, sondern wir richten den Blick auf die Frage, wie mit solchen Erfahrungen umgegangen werden kann.

Welche Ressource bieten außergewöhnliche Erfahrungen?   51

Welche Ressource bieten außergewöhnliche Erfahrungen im Kontext Tod?

Die kleine Fallsammlung lässt bereits erahnen, dass außergewöhnliche Erfahrungen in Zusammenhang mit dem Verlust eines Menschen durchaus auch eine Ressource sein können. Solche Erlebnisse können auf unterschiedlichen Ebenen wirken und hilfreich sein. Zum einen berichten Betroffene beispielsweise, dass der Abschied durch solche Erlebnisse leichter falle. Zum anderen können diese Erlebnisse auch die spirituellen Vorstellungen maßgeblich beeinflussen. Oft berichten Menschen, dass sie durch diese Erlebnisse einen neuen Bezug zu spirituellen Fragen wie »Was geschieht nach dem Tod?« entwickelten. Das folgende etwas ausführlichere Beispiel soll verdeutlichen, welche Ressourcen in positiv konnotierten Erfahrungen liegen. Ob mit solchen Erfahrungen jedoch immer eine positive Konnotierung einhergeht, damit werden wir uns im nächsten Kapitel beschäftigen. Am nachfolgenden Fallbeispiel wird zum einen deutlich, dass die Erlebnisse von ihrem zeitlichen Verlauf her vor, während und nach dem Tod des Angehörigen stattfanden. Zum anderen wird ein ganzes Spektrum unterschiedlicher Wahrnehmungen und Erfahrungen geschildert, welche für die Betreffende eine hohe Evidenz hatten. Es wird hier deutlich, dass es sich oft nicht um losgelöste und singuläre Erlebnisse handelt, sondern dass diese eingebettet sind in einen bestimmten Kontext, zeitlichen Verlauf und in Beziehungen. Der folgende Fall ist ein Beispiel dafür, wie es der Betreffenden gut gelungen ist, solchen Erfahrungen Bedeutung zu verleihen und sie ins Narrativ der eigenen Lebensgeschichte zu integrieren. Daher handelt es sich weniger um einen typischen Fall einer Hilfe suchenden Person, sondern vielmehr um ein Beispiel, wo es der Betreffenden besonders gut gelungen ist, das ressourcenreiche Potenzial solcher Erfahrungen zu erschließen.

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Fallbeispiel 8: »Oma« »Zu meiner Großmutter hatte ich schon immer eine sehr enge und intensive Bindung. Sie war für mich der Inbegriff für ›in Würde altern‹. Aufgrund einer schweren Grunderkrankung wurde sie dialysepflichtig. Nach langer Dialysezeit beschloss sie, diese nicht mehr auf sich nehmen zu wollen und zu können. Sie sagte uns, sie wolle zu ihrem Ehemann, der einige Jahre zuvor gegangen war. Die Dialyse wurde auf ihren Wunsch hin abgebro­ chen. Sowohl die Ärzte als auch das Pflegepersonal waren in ihrer Prognose bezüglich des weiteren Krankheitsverlaufs sehr trans­ parent und sprachen von wenigen Wochen. Es war für uns alle schwierig, mit der Situation zurechtzukommen. Wir alle hatten eine sehr enge und tiefe Bindung zu ihr. Sie forderte die Besuche von entfernt wohnenden Familienangehörigen ein und sprach sehr bewusst über ihre Wünsche nach dem Tod. So wünschte sie sich von mir, sie auf dem allerletzten Weg zu begleiten, sie danach zu waschen, sie anzuziehen und sie dort hinzulegen, wo sie letztendlich liegen würde. Einige Tage vor ihrem Tod war die Toxinbelastung durch die fehlende Dialyse immer deutlicher sichtbar, hörbar und spürbar. Sie war immer tiefer im Delir und kaum mehr ansprechbar. Nur bei einzelnen Personen, die sie lange nicht gesehen hatte oder die eine besondere Bedeutung für sie hatten, klarte sie sich für kurze Zeit auf. Meine Mutter und ich teilten uns je zwölf oder 24 Stunden, um zu gewährleisten, dass immer jemand bei ihr war, wenn sie das wünschte. In dieser Zeit wuchsen wir drei Frauen auf eine besondere Art zusammen. Am Tag vor meinem Geburtstag machte sie sehr klar, dass ich an diesem Tag nicht zu ihr kommen sollte. Sie wünschte sich, dass ich einen schönen Tag habe und nicht an ihre ausweglose Situation denke. Diesbezüglich duldete sie keinen Widerspruch. Auch meiner Mutter machte sie unmissverständlich klar, dass sie mich an diesem Tag nicht sehen wolle. Um null Uhr des Folge­

Welche Ressource bieten außergewöhnliche Erfahrungen?   53

tages rief das Seniorenzentrum an. Meine Großmutter schickte nach meiner Mutter und mir. Wenige Minuten später trafen wir ein und fanden eine relativ vergnügte, entspannte und kogni­ tiv glasklare Frau vor uns. Sie saß im Bett, konnte sich selbst sta­ bil halten und schien so fit wie seit Jahren nicht mehr. Wir ver­ brachten gute acht Stunden mit ihr. Es schien ihr wichtig zu sein, mir und meiner Mutter noch einige Dinge mit auf den Weg zu geben. Besonders mir erzählte sie, wie sie mich sah, wie stolz sie auf mich sei, was sie sich für mein Leben wünsche. Es waren unglaublich intensive und ergreifende Stunden. Wir hielten uns an den Händen und hatten sehr viel Wertschätzung, Achtsam­ keit und Liebe für den anderen bereit. Wir gingen immer schon sehr wertschätzend miteinander um, aber diese Stimmung, diese Atmosphäre toppte alles Bisherige. Um 8 Uhr sollte ich zur Arbeit. Mein Anliegen, bei Klienten anzurufen, eine Vertretung zu organisieren und bei ihr zu bleiben, schlug sie mehrfach aus. Das Gleiche galt für meine Mutter. Sie hatte uns förmlich rausgeschmissen. Zu diesem Zeitpunkt machte ich mehrere ungewöhnliche Erfahrungen, die ich bis dahin auf mein Schlafdefizit bezog oder für schlichte Einbildung hielt: Ich hatte den Eindruck, hinter mir stünde jemand. Immer wieder fasste ich mir auf meine rechte Schulter, da ich das Gefühl hatte, berührt zu werden. Es fühlte sich nach wohliger Wärme und Geborgenheit an. An der Stelle meiner Schulter hatte ich später eine verschwitzte Stelle. Es fühlte sich positiv nach ganz viel Liebe und Zugewandtheit an. So als würde mich jemand oder etwas ein Stück begleiten … nein, eher tragen. Alles war plötzlich ganz leicht, ohne die Schwere und die Traurigkeit der letzten Tage. Egal, was es war, was da bei mir war, es begleitete mich wäh­ rend der nächsten Stunden. Es war auch da, als ich zur Arbeit fuhr. Dem Eindruck, nicht mehr nur zu dritt im Raum zu sein, konnte ich mich nicht entziehen. Ich war sicher, wir waren mindestens zu fünft. Auch hinter meiner Mutter, die mit am Sterbebett saß,

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konnte ich etwas wahrnehmen. Es war genauso wenig sichtbar wie bei mir. Ich hatte den Eindruck, ich konnte etwas spüren, eventuell sogar riechen. Es ist bis heute schwierig, dieses Ereig­ nis in Worte zu fassen. Es roch plötzlich nach dem Tabak meines Großvaters. Immer wieder schien meine Großmutter Richtung Fußende zu schauen. Immer wieder lächelte sie verschmitzt, so wie sie meinen Großvater immer angelächelt hatte. Immer wie­ der nickte sie. Auf unser Nachfragen lächelte sie und sagte, es sei schon alles in Ordnung. Der Geruch meines Großvaters wurde immer stärker und blieb, solange wir in diesem Raum waren. Sie verabschiedete sich sehr herzlich und liebevoll, tolerierte jedoch nicht, dass wir weiter bei ihr blieben. Ich fuhr also wider­ willig zur Arbeit. Beim Arbeiten hatte ich das Gefühl, von die­ ser friedlichen, wärmenden Atmosphäre mit sehr viel Ruhe und Geborgenheit begleitet zu werden. Ein bisschen irritiert davon war ich schon. Wie konnte ich mich gerade so gut fühlen, fast ein wenig beschwingt, obwohl meine Großmutter im Sterben lag? Wie konnte ich mich jetzt so entspannt anderen Dingen wid­ men? Ein kleines bisschen schämte ich mich dafür. Ich spürte, wie ich innerlich und äußerlich immer ruhiger wurde. Bei der Heim­ fahrt hatte ich plötzlich das Gefühl, meine Großmutter sei bei mir. Es war so stark und intensiv, dass ich auf die Uhrzeit schaute: 9:55 Uhr. Meine Geburtszeit und, wie sich herausstellte, auch ihre Sterbezeit. Einige Minuten später rief meine Mutter an, das Senioren­zentrum habe mitgeteilt, dass meine Großmutter gegan­ gen sei. Ich machte mich auf den Weg und war als Erste bei ihr. Sie lag ganz friedlich und entspannt, sie hatte ein Lächeln auf den Lippen. Auch meine Mutter kam einige Minuten später. Wir konnten uns gemeinsam bei ihr für all die wunderbare Zeit mit ihr bedanken. Wir wuschen sie gemeinsam mit dem sehr einfühl­ samen Pflegepersonal und zogen sie an. Nachdem meine Großmutter angezogen und gebettet war, hielt dieses Gefühl der inneren Ruhe und des Begleitetseins noch

Welche Ressource bieten außergewöhnliche Erfahrungen?   55

gute drei bis vier Stunden an. Dann verschwand es genauso, wie es gekommen war. Zu diesem Zeitpunkt waren wir im Familien­ verbund sehr stark eingebunden und auch emotional gut ver­ sorgt. Es war, als hätte das Jemand oder Etwas eine Art emotio­ nale Notfallversorgung übernommen, da, wo es am nötigsten war. Als wir uns gegenseitig stützen konnten, war es offensicht­ lich nicht mehr notwendig. Bis drei Jahre nach ihrem Tod hatte ich immer wieder das Gefühl, sie besuchte mich nachts. Die Träume waren immer sehr klar und manchmal schwer vom Wachzustand abzugrenzen. Immer wieder wünschte sie sich, ich solle meiner Mutter sagen, wie wichtig sie für meine Großmutter gewesen ist. Sie habe es ihr nur nie richtig sagen können. Immer wieder hatte ich danach den Impuls, meiner Mutter zu berichten, wie dankbar und froh meine Großmutter war, sie als Tochter gehabt zu haben, und wie sehr sie sie geliebt habe. Ich bin unglaublich dankbar, diese Erfah­ rung gemacht zu haben. Die Erinnerung an meine Großmutter und die letzte intensive Zeit mit ihr erfüllt mich immer noch mit unglaublich tiefer Liebe, Dankbarkeit und Geborgenheit.«

Rasch könnte nun der Verdacht aufkeimen, dass der Sterbeprozess in diesem Fall sozusagen vorbildlich lief und gut eingebettet war, weshalb auch die außergewöhnlichen Erfahrungen positiv konnotiert sind. Aus diesem Grund wollen wir diese Schilderung mit einem anderen Fall kontrastieren. Eine junge Frau (31 Jahre) erlebte diese Vorkommnisse, als sich ihr bester Freund suizidierte. Fallbeispiel 9: »Suizid« »Mein bester Freund Gerhard bekam mit gerade einmal 38 Jah­ ren die Diagnose Krebs. Ich besuchte ihn damals und wir spra­ chen viel über den Tod. Er verzweifelte und haderte mit seinem

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Leben. Doch er kämpfte, machte eine Chemo und kam wieder auf die Beine. Als wir uns wiedersahen, ging es ihm viel bes­ ser. Er sah gesund aus und er war voller Pläne, wollte umziehen, wieder mehr in unsere Nähe. An seinen letzten Besuch erinnere ich mich noch gut. Er war von morgens bis abends da, spielte mit den Kindern, lachte und aß mit uns, er hatte mir ein kleines Geschenk mitgebracht. Als er sich verabschiedete, nahm er mich lange in den Arm. Am Donnerstag nach seinem Besuch beschlich mich ein eigenartiges Gefühl. Ich war in einer inneren Unruhe. Mit einem Mal sah ich, wie ein Blatt aus meinem Zeichenblock sich löste und quer durch das Zimmer flog. Es war kein Wind, kein Fenster stand auf und die Flugbahn des Blattes war völlig ­anormal. Auch mein Mann hatte das gesehen. Gemeinsam unter­ suchten wir, ob irgendwoher ein Luftzug gekommen sein könnte, und blieben ratlos zurück. Als meine Kinder und mein Mann längst schliefen, begann mein Handy zu klingeln. Immer wieder. Ich sah nach und stellte fest, dass unsere Festnetznummer mich anrief. Das Festnetztelefon lag neben mir. In diesem Moment wusste ich intuitiv, dass mit Gerhard etwas passiert war. Ich ver­ suchte, ihn zu erreichen, doch er ging nicht dran. Drei Tage später erreichte mich die Nachricht, dass er sich umgebracht hatte. Sein Todeszeitpunkt fiel mit dem Moment zusammen, als unser Tele­ fon mein Handy anrief. Es war eigenartig. Obwohl wir uns sehr nahestanden, fühlte ich nicht so, wie man normalerweise fühlen sollte. Ich hatte über viele Tage das Gefühl, Gerhard sei direkt bei mir. Es fühlte sich völlig real an, und ich konnte beinahe in einen direkten Dialog mit ihm gehen. Ich hatte ein sehr warmes, geborgenes, leichtes und glückliches Gefühl und verstand, dass es ihm gut gehe und dass er die richtige Entscheidung getroffen habe. Immer wieder vermittelte er mir dieses Gefühl. Erst an sei­ ner Beerdigung wurde ich mit der Realität der trauernden Eltern und Geschwister konfrontiert und begriff, dass er nicht mehr da war. Trotzdem habe ich bis heute das Gefühl, dass er nicht ganz

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weg ist. Es fühlt sich irgendwie tröstlich an, zu wissen, dass mein bester Freund auf der anderen Seite auf mich wartet. Ich war nie besonders gläubig, lange dachte ich, es sei einfach vorbei nach dem Tod. Aber seither weiß ich einfach, dass es nicht vorbei ist. Dazu spüre ich Gerhards Anwesenheit einfach zu real.«

Auch in diesem Fall waren die außergewöhnlichen Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Tod maßgeblich für die Verarbeitung des Verlustes. Wie auch im vorherigen Fall stellten die außergewöhnlichen Erfahrungen auch einen spirituellen Mehrwert dar. Denn die Erzählerin fand durch diese Erlebnisse einen neuen Bezug zum Glauben. Seither hatte sich in ihr die innere Überzeugung gefestigt, dass es nach dem Tod etwas geben müsse. Zwar trauerte die Betreffende um den Freund, allerdings fand auch hier eine bewusste Auseinandersetzung mit seinem Tod statt. Bereits Monate vorher, als die Diagnose gestellt wurde, stand im Raum, dass der Freund sterben könnte. Die Betreffende erkannte auch einen starken symbolischen Bezug zwischen dem, was geschah, und ihrer Beziehung zu Gerhard: Beide waren sich über das Zeichnen nähergekommen, ihre Freundschaft hatte sich in einem gemeinsamen Zeichenkurs entwickelt. Gerhard war die erste Person, von der die Erzählende eine Nachricht auf ihr damals brandneues Handy bekommen hatte. Ausgerechnet die beiden Gegenstände, in welchen sich die Verbindung zu Gerhard ausdrückte, verhielten sich zum Zeitpunkt seines Todes eigenartig. Auch das Fallbeispiel »Oma« ist in vielerlei Hinsicht lehrreich. Für die Betreffende waren die Erfahrungen, wenngleich sie »außergewöhnlich« waren, stimmig, positiv konnotiert und halfen bei der Verabschiedung der Großmutter und der Verarbeitung ihres Todes. Von solchen Positivbeispielen lässt sich viel lernen. Folgende Hypothesen lassen sich dazu aufstellen:

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• Wenn die Interpretation mit den eigenen Glaubensvorstellungen übereinstimmt, erschüttern solche Erfahrungen nicht, sondern können eine positive Begleitung sein. • Solche Erfahrungen können die positive Beziehung zum Verstorbenen widerspiegeln und bieten die Chance, auch nach dessen Tod wichtige Themen zu lösen und im Fokus zu behalten. • Solche Erfahrungen können die Angst vor Verlust und Ab­ schied nehmen. • Die Erfahrungen können unmittelbar Glaubensvorstellungen positiv beeinflussen und eine bewusste Verabschiedung und Verarbeitung der Trauer begünstigen. • Auch für Angehörige der Erlebenden können die Erfahrungen von Nutzen sein, etwa wenn es dadurch gelingt, belastete Beziehungen nachträglich zu klären.

Belastende außersinnliche Erfahrungen im Zusammenhang mit Tod

Nicht immer jedoch sind außergewöhnlichen Erfahrungen in Zusammenhang mit dem Tod derart positiv für die Erfahrenden. In den dargestellten Bespielen ist die Integration gelungen, die Erfahrungen sind gut in das eigene spirituelle Konzept eingebettet und wurden als hilfreich für die Verarbeitung des Verlustes empfunden. Wenden wir nun den Blick auf einige Fälle, welche für die Betreffenden zunächst belastend wirkten. Fallbeispiel 10: »Gewalttätiger Ehemann« »Mein Mann verstarb vor einigen Monaten. Ich sage es gleich vorweg: Wir hatten keine glückliche Ehe. Er war Alkoholiker und neigte zu cholerischen Ausbrüchen. Trotzdem blieb ich all die Jahre bei ihm. Ich schäme mich fast etwas, aber eigentlich bin

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ich ganz erleichtert darüber, dass er verstorben ist. Das Leben ist nun viel schöner. Mir geht es viel besser als vorher, ich habe zum ersten Mal wieder eigene Pläne und Ideen. Nun ist es jedoch so, dass ich den Eindruck habe, er ist immer noch da. Ich spüre manchmal einen eiskalten Hauch und bekomme dann schreck­ liche Angst. Als ich neulich meine erste Reise seit zwanzig Jah­ ren gebucht habe, da ging es richtig rund in der Küche. Meh­ rere Töpfe und Tassen fielen zu Boden, es war ein Riesenkrach. Auch die Nachbarn hörten den Lärm und fragten, was bei uns denn los sei. Dann bin ich am nächsten Morgen aufgewacht und hatte blutige Kratzer an den Armen. Richtig krass wurde es, als ich gestern im Keller war. Ich spürte einen kalten Luftzug an mir vorbeischweben und dann bekam ich aus dem Nichts mit voller Wucht eine Ohrfeige. Es fühlt sich so an, als wäre er noch leben­ dig und würde mich mit seinen Schlägen weiter tyrannisieren. Ich will doch endlich nur mein Leben in Ruhe leben und genießen. Was soll ich tun, wie kann ich meinen Frieden vor ihm finden? Er hat immer noch Macht über mich. Soll ich die Reise stornieren? Was wird er tun, wenn ich gegen seinen Willen trotzdem fahre?«

Wieder stellen wir nicht die Wahrheitsfrage, sondern nehmen an, dass die Berichtende dies so, wie sie es schildert, wahrgenom­ men und gefühlt hat. Die Klientin war der festen Überzeugung, dass die Seele ihres Mannes immer noch anwesend sei, und fühlte sich weiterhin durch ihn kontrolliert und eingeengt. In den Gesprächen stellte sich heraus, dass sie über viele Jahre eine Form der Co-Abhängigkeit entwickelt hatte und sich starke Dependenzen fanden. Zunächst verschaffte ihr der Tod ihres Mannes eine erste Erleichterung, im weiteren Verlauf jedoch fühlte sie sich durch die Freiheit überfordert und irritiert. Einerseits wünschte sie sich ein autonomes Leben, andererseits hatte sie sich viele Jahre ihrem Mann untergeordnet und seine Schläge in Kauf genommen. So war es gut verständlich, dass die per-

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sönlichen Strukturen und Abhängigkeiten nicht mit dem Tod automatisch aufgelöst waren, sondern es zur Aufarbeitung und Veränderung mehr brauchte. Es wäre nun eine Möglichkeit, der Idee des toten Gatten, der sie weiter drangsaliert, ein psychologisches Konzept von Bindung und Abhängigkeit gegenüberzustellen. In unserem Fall jedoch entschied ich (Sarah Pohl) mich dafür, in dem Glaubenssystem der Klientin zu bleiben. Der herumspukende tote Gatte bot die Chance, zu üben, wie eine Ablösung von diesem Menschen gelingen könnte und sie zu einem selbst kontrollierten und nicht von Ängsten bestimmten Leben finden konnte. Die Klientin lernte, sich gegen den Geist ihres Gatten zu Wehr zu setzen, ihn in seine Schranken zu verweisen, deutlich Nein zu sagen und ihr Leben auch gegen den Willen des Geistes selbst in die Hand zu nehmen. Letztlich bot das Konzept »Geist« hier eine optimale Übungs­fläche, um Themen wie Abgrenzung, Autonomie und Selbst­bestim­mung unter beinahe realistischen Bedingungen anzugehen. Nach einigen Monaten berichtete die Klientin voller Stolz, dass sie der Geist des Mannes nun verlassen habe. Vorher jedoch habe sie dem Geist gründlich die Meinung gesagt, sie habe das getan, was sie in den Jahren ihres ehelichen Marty­riums nie gewagt habe, sie habe ihm widersprochen, ihn in seine Schranken verwiesen und festgestellt, dass sie von ihm nichts mehr zu befürchten habe. In diesem Sinn bot der Geist eine i­deale »Benutzer­oberfläche«, um den Umgang mit Befürchtungen und Ängsten zu üben und letztlich diese Ängste zu überwinden. Es wird hier ersichtlich, weshalb es sinnvoll ist, auch negative Konstrukte und Einkleidungen nicht vorschnell zu korrigieren, sondern einen gründlichen Blick auf die Ressource solcher Interpretationen zu werfen. Es wäre jedoch auch fatal, die Betreffende in dieser Interpretation zu bestärken. Wichtig ist es, dass sich der oder die Beratende möglichst neutral bezüglich der Interpretationen verhält.

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Viele Betroffene sprechen von »Geistern«, »verstorbenen Seelen« oder Ähnlichem. Damit wird dem Umfeld gleichzeitig ein Erklärungskonzept angeboten. Nun ist es keinesfalls Aufgabe von Therapeutinnen und Beratern, in Glaubensvorstellungen korrigierend einzugreifen, sondern diesen ist mit Respekt zu begegnen. Natürlich ist nicht jede Glaubensvorstellung hilfreich, manches mag auch verstörend wirken und eine Belastung darstellen. Dann sind Alternativerklärungen gefragt, die jedoch stets mit Vorsicht und eher im Sinne eines Angebots verbalisiert werden sollten. Folgendes Beispiel veranschaulicht, welche Chancen und Risiken Interpretationen und Glaubensvorstellungen bergen können: »Ich bin in der zwölften Woche schwanger, habe große Angst und schäme mich so sehr. Meine Mutter erzählt mir, dass mein Vater schwer krank sei. Sie glaubt, wenn ein Mensch in die Welt kommt, muss ein anderer gehen. Einer für den anderen Platz machen, damit ein weiteres Kind in der Familie leben dürfe. Immer wie­ der erzählt sie mir, dass mein Vater so schwer krank ist, dass er eventuell bald sterben werde. Ich habe immer wieder das Gefühl, dass ich und vor allem mein ungeborenes Kind Schuld an der schweren Krankheit tragen. Nur weil ich so egoistisch bin und ein Kind wollte, musste mein Vater jetzt krank werden. Was mache ich denn, wenn er wirklich deshalb sterben muss? Ich habe mir sogar schon überlegt, abzutreiben. Was soll ich denn jetzt machen?«

Die Schwangere erlebt starke Schuldgefühle. Solchen Ansichten mit einem platten Korrektiv wie etwa »Das ist alles Aberglaube, so etwas gibt es nicht!« zu begegnen, verfehlt aufgrund der starken emotionalen Verknüpfung mit Schuldgefühlen rasch die Wirkung. Zwar ist es Ziel im Umgang mit Betroffenen, die sich durch entsprechende Glaubensvorstellungen sehr belastet fühlen, die Verengung auf solche Vorstellungen durch eine

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perspektivische Weitung etwas zu lockern. Dennoch ist es auch notwendig, die emotionalen Komponenten nicht zu vernachlässigen. Es war wichtig, mit der Klientin das Thema »Schuld« genauer anzusehen. Es zeigte sich, dass es ein sehr bewährtes Muster der Klientin war, sich in unterschiedlichen Kontexten schuldig zu fühlen. Darüber hinaus nutzte zur Erweiterung der Perspektive eine Erzählrunde im Kreis anderer Schwangerer, die von ihren Erfahrungen mit »Kommen und Gehen« berichteten. Letztlich gelang es in diesem Fall mittels »Reframing«, eine neue Bedeutung in den äußeren Umständen zu sehen: Die betreffende Klientin entwickelte die Vorstellung, dass »genug Platz« für das Neugeborene und den Vater sei. In Gesprächen mit dem Vater erkannte sie, dass es für den Vater eine sehr tröstliche Vorstellung war, dass ein Kind geboren werden sollte, und ihn dies motivierte, bis zur Geburt des Kindes »durchzuhalten«, da er sich sehr darauf freute, »Großvater« zu werden. Gerade dann, wenn Volks- oder Aberglaube sich derart belastend auswirken, ist es notwendig, die Menschen dabei zu begleiten, neue Perspektiven wahrzunehmen und andere Interpreta­ tio­nen zuzulassen. Dies hat jedoch stets mit Fingerspitzengefühl zu erfolgen. Das folgende Beispiel zeigt, inwiefern feste Glaubensvorstellungen, die sich nicht selten auch in rituellen Handlungen ausdrücken, erschüttert werden können durch entsprechende Erlebnisse: »Ich weiß nicht, was wir falsch gemacht haben. Wir haben meinen Mann so beerdigt, wie es sich gehört, ich habe eine Messe lesen lassen, wir haben den Rosenkranz gebetet, und er lag noch auf­ gebahrt bei uns im Haus. Wissen Sie, hier im Bayrischen auf dem Lande ist es üblich, manchmal noch den alten Ritualen zu folgen, weil man sonst sagt, der Tote findet keine Ruhe und kommt wie­ der. Jetzt ist es so, dass mein Mann trotzdem keine Ruhe gefun­ den zu haben scheint. Er spukt regelrecht durch das Haus. Ich

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höre immer wieder seine Schritte, es sind besondere schlurfende Schritte, die sonst keiner hat, ich kann diese Schritte unter hun­ dert anderen unterscheiden. Ich hörte ihn mehrfach rufen in den letzten Tagen seiner Krankheit, und jetzt ruft er auch wieder nach mir […]. Dinge von ihm liegen immer wieder an anderen Plätzen. Ich habe seinen Schrank nach dem Tod geräumt, ich wollte seine Dinge nicht mehr sehen. Und nun scheint er mich ständig an sich erinnern zu wollen. Warum? Was haben wir falsch gemacht? Sol­ len wir noch mal eine Messe lesen lassen?«

Die Familie hatte sozusagen alle äußerlichen Rituale vorbildlich abgearbeitet und war nun mit dem Latein am Ende. In solchen Fällen ist es wichtig, den Blick auf das Innere zu richten. Hier war es hilfreich, mit der Betreffenden Rituale zu entwickeln, die es erlaubten, in sich hineinzuhorchen und einen Bezug zur Trauer aufzubauen. Wenn Rituale nur noch als veräußerlichte Handlungen und angstgesteuert durchgeführt werden, wirkt sich dies eher ungünstig auf den individuellen Glauben aus. »Glaube im religiösen Sinne heißt Vertrauen. Vertrauen auf Gott. Aberglaube hingegen ist immer gleichbedeutend mit Glauben an bestimmte Menschen oder bestimmte Dinge und Zusammenhänge« (Hemminger u. Harder, 2000, S. 27). Im letzten Kapitel sollen nun solche Rituale vorgestellt werden, die dabei helfen können, einen inneren Bezug zu Emotionen, zum Verstorbenen und zu sich selbst wiederzuentdecken.

Das Medium als Trauerbegleiter – Kontaktaufnahme mit dem Jenseits und Verstorbenen

Oben wurde eine Vielzahl von außergewöhnlichen Erfahrungen im Zusammenhang mit Tod geschildert. Ein Charakteristikum solcher Erfahrungen ist das nicht willentliche und spon-

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tane Auftreten. Der Kontakt wird, um in den Sprachbildern der Erfahrenden zu bleiben, von der anderen Seite hergestellt. Nun möchten wir einige Fälle näher betrachten, bei denen die Kontaktaufnahme durch die Diesseitigen erfolgt. Die Berufsbranche des Mediumismus ist seit alters her verbreitet und wird in unterschiedlichen Kulturen gepflegt. Viele Menschen sagen von sich, dass sie Kontakt zu Verstorbenen hatten, beinahe die Hälfte aller Menschen in Deutschland glaubt an ein Jenseits und die Unsterblichkeit der Seele (Thiede, 2008). Grundlage für den Mediumismus ist der uralte Glaube an ein Jenseits, in welchem sich die Verstorbenen befinden bzw. deren Seelen. Zu der Frage, ob ein Kontakt zu diesem Jenseits hergestellt werden kann, gibt jede Kultur und Zeit ihre Antworten und schlägt diverse Methoden vor. In unserer Kultur tragen auch zahlreiche Berichte aus der Kategorie Nahtoderfahrung zum Glauben an ein Leben nach dem Tod bei. Die Frage, ob es nun ein Jenseits gibt oder nicht, lässt sich aus wissenschaftlicher Perspektive nicht beantworten. Bei dieser Frage bewegen wir uns in einem Bereich, der von unterschiedlichen Glaubensvorstellungen und Überzeugungen gefüllt werden kann und darf. Im materialistischen Denken ist oft wenig Platz für den Glauben ans Jenseits, und dennoch stellen sich Trauernde gerade nach dem Verlust eines nahestehenden Menschen oft intensiv die Frage nach dem Jenseits. Der Job eines Mediums setzt an diesen Fragen an. Gerade Menschen, die in unserer säkularen Gesellschaft keine Heimat mehr in einem Glaubenssystem haben, kann ein Medium nach dem Verlust eines Nahestehenden einen Zugang zu einem wie auch immer gearteten Jenseits verschaffen, ohne dass eine Festlegung in Glaubensfragen stattfinden muss. Das Medium übernimmt in unserer Kultur in diesem Sinne also die Rolle eines säkularen Trauerbegleiters. Es stellt im Namen des Klienten oder der Klientin einen Kontakt zu dem oder der Verstorbenen her und übermittelt Botschaften aus

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dem Jenseits. Im günstigsten Fall wirken diese sich tröstlich aus und können manchmal auch bei der Verarbeitung des Verlustes helfen. Menschen, die nach dem Tod eines Nahestehenden ein Medium aufsuchen, schreiben diesem die Fähigkeit zu, besser in Kontakt mit dem Verstorbenen zu treten, als sie selbst dies vermögen. Der Glaube, selbst einen inneren Kontakt mit dem Verstorbenen herstellen zu können, ist erschüttert, und die Kompetenz dafür wird nach außen abgegeben. Eine große Verantwortung wird hier in die Hände eines Mediums gelegt. Der Markt der Anbieter in diesem Bereich ist sehr breit gefächert. Es gibt Medien, die in der Szene regelrechten Popstar-­ Status erlangt haben, ganze Säle füllen und im Schein des Rampenlichts Kontakte zu Verstorbenen knüpfen. Es gibt aber auch zahlreiche weniger schillernde Anbieter, die ihre Dienste über Internet und Anzeigen offerieren und im stillen Kämmerlein gemeinsam mit dem Klienten oder der Klientin einen Kontakt herstellen. Auch gibt es mediumistische Sitzungen und Zirkel; in Kleingruppen und unter der Führung eines Mediums können Trauernde erfahren, wie es ihren Verstorbenen geht. Es geht uns hier nicht darum, Menschen zu verurteilen, die die Dienste eines Mediums in Anspruch nehmen. Denn keinesfalls hegt jedes Medium »scharlataneske« Absichten. Wir wollen stattdessen zeigen, wie unterschiedlich sich die Prognosen eines Mediums auf individuelle Trauerprozesse auswirken können. Im Folgenden stellen wir zwei Szenarien mediumistischer Sitzungen vor. Erster Fall: Das Medium trifft ins Schwarze. Zweiter Fall: Das Medium liegt daneben. Anschließend sollen in einer kurzen Diskussion Risiken und Nebenwirkungen des Besuchs bei einem Medium erörtert werden.

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Das Medium trifft ins Schwarze

»Man kann von Propheten nicht verlangen, dass sie immer irren.« (Voltaire, 1694–1778, eigentlich François-Marie Arouet, französischer Philosoph der Aufklärung, Historiker und Geschichtsschriftsteller) Tom, ein junger Mann, erzählt: »Ich habe meine Mutter verloren, als ich 17 war. Ich glaubte damals, erwachsen zu sein, aber heute würde ich sagen, ich hätte sie damals mehr denn je gebraucht. Ich verbrachte die Sommerferien mit Freunden am Mittelmeer, und die Nachricht von ihrem Unfalltod traf mich völlig unvorbe­ reitet und unvermittelt. Ich hatte kaum an zu Hause gedacht, ich war zum ersten Mal richtig verliebt. Von meinen Eltern wollte ich damals wenig wissen. Mir zog diese Nachricht förmlich den Boden unter den Füßen weg. Ich konnte schlichtweg nicht damit umgehen. Ich betrank mich an dem Abend, als ich von ihrem Tod erfuhr, bis ich mich erbrechen musste und mich anschlie­ ßend an nichts mehr erinnern konnte. Das Jahr nach ihrem Tod fühlte sich an, als sei ich in Watte gepackt, ich war kaum noch zu Hause, das Haus fühlte sich kalt und leer an. Mein Vater schlich wie ein Schatten durch das Haus. Ich zog nach meinem Abi aus, ich trank viel Alkohol und ging auf Partys. Damals kam ich mit einem Hippie­mädchen zusammen, Hannah. Sie war es, die mich zu einem Medium mitnahm. Sie war damals voll auf dem Esotrip und ich dachte, okay, wenn es Hannah beeindruckt, dann geh ich halt mal mit. Wir gingen zusammen zu einem mediumistischen Abend. Es war alles sehr klischeehaft, Kerzen flackerten, ein Grüppchen von Leuten saß auf dem Boden und sang Mantras. Dann kam das Medium. Ein älterer Herr mit englischem Akzent. Er hatte irgendwie eine Autorität, die den Raum füllte. Als er kam, verän­ derte sich die Stimmung schlagartig. Das Medium saß im Schnei­

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dersitz, hatte die Augen geschlossen und summte mit. Plötzlich öffnete er die Augen, sah mich durchdringend an und sagte: ›Hier ist jemand für dich, Tom.‹ In diesem Moment spürte ich, wie ein Schauer über meinen Rücken lief. Und ich konnte bei­ nahe selbst fühlen, dass da jemand gekommen war. ›Es ist eine Frau. Sie hat lange braune Haare, ist ca. vierzig Jahre alt und trägt ein schwarzes Kostüm. Sie sieht sehr schick aus. Als würde sie in einem Büro arbeiten. Kennst du sie?‹ In diesem Moment gab es keine Fragen mehr für mich: Er hatte sehr präzise meine Mutter beschrieben. Ich konnte nichts sagen, sondern nickte nur. ›Sie trägt rote Schuhe‹, fuhr er fort. Ich nickte weiter. ›Sie möchte dir etwas sagen. Sie hätte sich gern von dir verabschiedet und es tut ihr sehr leid, dass sie sich in den letzten Jahren so wenig um dich gekümmert hat. Hätte sie heute noch mal die Chance, dann hätte sie mehr Zeit mit dir verbracht. Es tut ihr leid, dass sie nicht da war für dich.‹ Wieder traf er ins Schwarze. Meine Eltern waren erfolgreiche Banker und ich hatte einen Großteil meiner Kindheit mit Au-pairs verbracht. Für mich war das eigent­ lich nicht schlimm, sondern eine Form der Normalität. Doch in diesem Moment begann ich, und das war untypisch für mich, zu weinen. ›Deine Mutter möchte dir noch etwas sagen. Sie zeigt mir ein Symbol, einen flachen Stein‹, sagte das Medium. ›Weißt du, was es damit auf sich haben könnte?‹ Ich schluckte. Seit dem Tod meiner Mutter trug ich in meinem Geldbeutel einen flachen Stein bei mir. Meine Mutter hatte es geliebt, Steine zu flippen, und ich hatte diesen Stein an ihrem Todestag am Strand gefunden und aufgehoben, in die Hose gesteckt, ohne dass ich mir dabei etwas gedacht hatte. Ich brachte meiner Mutter immer wieder flache Steine mit, das war eine Art Ritual zwischen uns. Seit meiner Kind­ heit. Dies konnte das Medium unmöglich wissen. […] Das Medium sagte mir noch einige andere Dinge, dass meine Mutter mich liebte und dass sie wolle, dass ich mein Leben auf die Reihe bekäme. Hinterher fragte ich mich, ob meine Freundin

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dem Medium über mich erzählt haben könnte, doch sie wusste kaum etwas von meiner Vergangenheit. Auch von dem Stein wusste sie nichts. Diese Begegnung hat meinem Leben eine neue Wendung gegeben. Ich habe aufgehört zu trinken und zu kiffen. Ich habe mich um einen Studienplatz bemüht. Ich war zum ersten Mal an ihrem Grab. Ich konnte weinen. Zwei Jahre nach ihrem Tod. Hannah beendete die Beziehung zu mir, sie fand mich zu schräg und verstand nicht, was da los war mit mir. Ich schloss mich einer Trauergruppe an und begann in kleinen Schritten, den Tod mei­ ner Mutter zu verarbeiten, die Sehnsucht nach ihr zuzulassen und zu trauern. Ich bin dem Medium sehr dankbar. Er hat den Schlüs­ sel in den Schrank meiner zurück­gehaltenen Trauer gesteckt und meinem Leben dadurch eine neue Wendung gegeben.«

Dieses Beispiel zeigt einen günstigen Verlauf nach dem Besuch eines Mediums. Zugleich verdeutlicht es, dass es durchaus sein kann, dass ein Medium mit einigen Aussagen ins Schwarze trifft. Typischerweise werden im Übrigen auch solche Treffer besser memoriert als Dinge, die nicht zutreffen. Tom gelang es durch den Besuch beim Medium, einen Zugang zu seiner verdrängten Trauer zu finden. Für ihn war das Erlebnis berührend und evident zugleich. Zwar suchte er nach Alternativhypothesen und zog allerlei Überlegungen in Erwägung, wie sich das Medium die Informationen beschafft haben könnte, verwarf diese letztlich jedoch wieder. In einem Gespräch meinte er: »Durch das Medium kam ich in Kontakt. Ob dies ein Kontakt zu meiner Mutter war oder zu meiner vernachlässigten Trauer, weiß ich nicht. Dies spielt auch keine Rolle, Wichtig für mich war, dass ich diesen Teil, den ich in mir abgetrennt hatte, danach wieder integriere konnte.« Die Frage also, woher das Medium die Informationen haben könnte, war für Tom nicht relevant. Er zog in Erwägung, dass diese Informationen möglicherweise auch aus seinem Unbewussten von dem Medium empfangen worden sein

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könnten. Doch nicht immer laufen solche Besuche derart positiv und heilsam ab, wie dieser Fall verdeutlicht: »Ich habe meinen Sohn verloren. Es war viel zu früh. Er ertrank bei einem Unfall am Baggersee. Ich kann den Schmerz nicht in Worte fassen. Damals in meiner Verzweiflung versuchte ich viel. Ich ging in die Kirche, ich betete, ich ging in die Natur. Der Schmerz war grausam und ließ nicht nach. Meine Arbeitskollegin gab mir die Adresse einer Heilpraktikerin, die auch sehr begabt sei, was Jenseits­kontakte betreffe, meinte sie. Ich klammerte mich damals an jeden Strohhalm und ging dorthin. Die Heilpraktikerin nahm sich viel Zeit für mich. Irgendwann war es so weit, sie sagte, sie spüre die Anwesenheit meines Sohnes. Er wolle mir etwas sagen. Zuerst sagte sie mir Dinge wie, dass ich den Blick nach vorne richten solle und er mich liebe und ich mir keine Sorgen machen solle, es gehe ihm gut. Dann meinte sie, er wolle sich bei mir ent­ schuldigen. Er sei im Streit von mir gegangen und er habe das, was er zuletzt gesagt habe, nicht so gemeint. Mir verschlug es die Sprache. Ich hatte niemandem davon erzählt, was vor dem Unfall vorgefallen war. Es hatte einen heftigen Streit zwischen meinem Sohn und mir gegeben. Mir half dieses Gespräch zunächst. Ich war sehr gewillt, mich an das zu klammern, was das Medium mir gesagt hatte. Deswegen ging ich immer wieder dorthin. Ich gab viel Geld aus. Ich löste meinen Bausparvertrag auf und geriet in eine regelrechte Abhängigkeit. Und mit jedem Kontakt, den das Medium herstellte, war ich etwas enttäuschter. Heute frage ich mich, warum mein Sohn sich nicht bei mir persönlich gemeldet hat, sondern bei diesem geldgierigen Medium? Habe ich eine solch schlechte Verbindung zu ihm?«

Auch in diesem Fall trifft das Medium zunächst ins Schwarze. Im weiteren Verlauf jedoch stellten sich seine Aussagen als Allgemeinplätze heraus und blieben recht unspezifisch. Am Anfang

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war das Medium hilfreich, das Verhältnis kippte jedoch. Es wäre in der Verantwortung des Mediums gelegen, zu erkennen, dass die Klientin in eine Abhängigkeit geraten war. Diese Abhängigkeit verhinderte die weitere Trauerarbeit und vergrößerte die persönlichen Probleme der Betroffenen, da sie nun auch noch Schulden hatte. Es zeigt sich also, dass selbst zutreffende Prognosen sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf Trauernde haben können. Das Medium liegt daneben »Der Tod meines Mannes traf mich nicht unvorbereitet, es war ein jahrelanges Krebsleiden vorangegangen. Wir hatten nie die beste Beziehung gehabt, es hatte viel Streit gegeben. Auch hat er mich mehrfach betrogen. Trotzdem haben wir uns nie getrennt. Als er starb, war es schwierig. Ich musste so viel neu lernen, was er in den Jahren zuvor übernommen hatte. Obwohl ich, wenn ich ehrlich bin, zu seinen Lebzeiten manchmal seinen Tod herbei­ gewünscht hatte, fühlte ich mich nun wie betäubt. Obwohl er mich mit seiner ständigen Nörgelei manchmal fast in den Wahn­ sinn getrieben hatte, fühlte ich eine furchtbare Leere. Je länger ich trauerte, desto größer wurde die Wut auf meinen Mann. Ich spürte das dringende Bedürfnis, nochmals mit ihm zu sprechen. Deswegen nahm ich Kontakt zu einem Medium auf. Ich war dort, sie nahm eine Verbindung auf, und dann sagte sie mir allerlei Allgemeines zu meinem Mann. Es gehe ihm gut, ich brauche mir keine Sorgen zu machen, er liebe mich immer noch und er sei so glücklich mit mir gewesen. Als ich aus dieser Sitzung ging, war ich fassungslos. Ich fühlte mich betrogen. War ich doch hinge­ gangen, um reinen Tisch machen zu können, in der Hoffnung, ich hätte die Chance, meinem Mann noch ein paar Dinge zu sagen. Stattdessen richtete mir das Medium Dinge aus dem Jenseits aus. Ich wurde, wie so oft in unserer Ehe, nicht gehört. Für meine Gefühle war mal wieder kein Platz gewesen.«

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Dieses Beispiel verdeutlicht Unterschiedliches. Zum einen kann die Ehefrau nichts mit den Botschaften aus dem Jenseits anfangen. Sie kann daran nicht ankoppeln. Zum anderen bestand bei ihr zwar der Wunsch, einen Kontakt nach »drüben« aufzunehmen, jedoch war es ihre Absicht, in diesem Rahmen »Tacheles« mit dem verstorbenen Ehemann zu reden. Dazu war sie nicht gekommen, sondern das Medium spulte ein Routineprogramm ab. Die Tragik in diesem Fall liegt in der Musterwiederholung. Bereits in der Ehe gelang es der Frau nicht, für sich und ihre Gefühle einzustehen. Nun wiederholte sich diese Erfahrung in dem Setting. Für die Frau war es nach dieser enttäuschenden Erfahrung wichtig, nicht dort stehen zu bleiben, sondern eine Musterunterbrechung anzustreben. Dies gelang, indem sie in dem Beratungsgespräch mittels einer sogenannten Stuhl­ arbeit die Gelegenheit bekam, ihrem verstorbenen Mann all die Dinge zu sagen, die sich in ihr aufgestaut hatten. Bei der Stuhl­ arbeit erhielt der Verstorbene Platz auf einem leeren Stuhl und es wurde ein Dialog initiiert. Es war wichtig, diese Stuhlarbeit gut vor- und nachzubereiten. Für die Frau lösten sich dabei viele Emotionen, die sich in ihr aufgestaut hatten. Sie schrie, weinte, und am Ende der Stuhlarbeit gelang es ihr, sich ruhig zu verabschieden. Im nächsten Beispiel ging eine junge Frau zu einem mediumistischen Abend. Bei diesem Abend waren ca. zwanzig Personen anwesend, und es wurde mittels eines Holztisches, durch das sogenannte Tischerücken, eine Verbindung zu den Verstorbenen aufgenommen. Das Tischerücken ist wie auch das Gläserrücken eine spiritistische Praxis, um Kontakt zur vermeintlichen Geisterwelt oder zum Jenseits aufzubauen. Die scheinbare Bewegung des Tisches, auf den diverse Beteiligte ihre Hände legen, wird durch das Einwirken der Jenseitswelt erklärt. »Als physikalisches Phänomen kommen die Bewegungen wohl durch unwillkürliche Nervenregungen der Beteiligten

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zustande. Psychisch (inhaltlich) spielt ihr Unterbewusstsein eine wichtige Rolle. Wenn sie dabei ausdrücklich oder stillschweigend eine Verbindung mit Dämonen oder Seelen Verstorbener suchen, forschen sie in unerlaubter Weise nach Geheimwissen (divinatio). Ohne solche Absicht kann die Übung zur Erforschung des physikalischen Phänomens oder auch der natürlichen psychischen Zusammenhänge zulässig sein« (Hörmann, 1969). Übrigens ist diese spirituelle Praxis keine neuzeitliche Erfindung, sondern in unterschiedlichen Kulturen und Zeiten wurde Tischerücken praktiziert. Die physikalische Wirkweise dieser Praxis ist gut belegt und erforscht, es bleibt dabei kein Raum, der interpretativ mit Geisterwesen gefüllt werden könnte. Dies ist den Teilnehmenden an solchen Sitzungen zumeist nicht klar. Für manche liefert die Bewegung des Tisches einen überaus lebendigen und haptisch wahrnehmbaren Beweis, dass übernatürliche Kräfte im Spiel sein müssen bzw. eine verstorbene Seele gerade am Werk ist. Leah, die ihre Schwester verloren hat, ging zu einem solchen Abend und berichtet Folgendes: »Ich habe eine Freundin mitgenommen. Weil ich etwas Angst hatte, dort allein hinzugehen, ich wusste ja nicht, was passieren würde. Wir kamen in einen abgedunkelten Raum, es war eine gemütliche Atmosphäre, überall standen Kerzen und Salz­lampen, und in einer Duftlampe verdampften irgendwelche ätherischen Öle. Wir saßen im Kreis. Das Medium sagte anfangs ein paar einleitende Worte und dann kam der Tisch zum Einsatz. Immer drei bis vier Personen legten die Hände auf den Tisch, und dann kam Bewegung in das Tischchen. Ich glaube übrigens, es war eine besonders leichte und mobile Sonderkonstruktion. Der Tisch nahm regelrecht Fahrt auf und bewegte sich von einem Teilnehmer zum anderen. Er stoppte bei diversen Teilnehmern, die dann mittels Ja-und-Nein-Fragen ihre verstorbenen Ange­ hörigen befragen durften. Der Tisch antwortete bzw. die Ange­

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hörigen über entsprechende Bewegungen. Er kippte mal in die eine, mal in die andere Richtung. Dazu gab das Medium seine Eindrücke preis. Manche begannen zu weinen, so sehr berührte sie, was die Verstorbenen via Tisch mitteilten. Als der Tisch zu mir kam, war ich entsprechend gespannt. Das Medium sagte, er sehe eine Frau, ca. 45 Jahre alt. Das stimmte nicht, meine Schwester starb mit 23 Jahren. Als ich dies sagte, korrigierte das Medium die Aussage und fragte, ob meine Schwester an einer Krankheit gestorben sei, sie wirke sehr ein­ gefallen, deswegen könne er ihr Alter nicht ganz präzise einschät­ zen. Meine Schwester war durch einen Badeunfall in Thailand verunglückt, sie war keinesfalls durch Krankheit ausgemergelt, sondern eine junge, lebensfrohe Person gewesen. Weil ich jedoch keine Lust auf Diskussion mit dem Medium hatte, bejahte ich. Von da an lief das Gespräch in eine absurde Richtung. Sie habe schrecklich gelitten in den Monaten vor ihrem Tod, sagte mir das Medium. Und es sei letztlich eine Erlösung für sie gewe­ sen, gehen zu dürfen. Ich nickte beinahe mechanisch und war sprachlos. Sprachlos über so viel Selbstverständlichkeit, mit dem das Medium Dinge behauptete. Ich fand dies anmaßend. Sie sei nun bei Gott, sagte das Medium, und es gehe ihr gut, das Leiden habe ein Ende, und er sehe, wie sie lächelnd neben einem strah­ lenden Licht stehe. Der Tisch kam noch zum Einsatz. Ich durfte an meine Schwester eine Frage stellen, im Stillen. Ich fragte den Tisch: ›Ist es Schwachsinn, was hier passiert?‹ Der Tisch bewegte sich nach links. Dies bedeute Ja, bestätigte mir das Medium. Gut, dass er nicht wusste, was ich den Tisch da gefragt hatte. Ich war nach dieser Erfahrung kuriert und ging nie wieder zu einem mediumistischen Abend. Alles Betrug!«

Die Geschichte von Leah verdeutlicht einiges über die Arbeitsweisen vieler Medien. Häufig wird das sogenannte Cold Reading praktiziert. Diese Technik wurde ursprünglich von professionel-

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len Zauberkünstlern und Mentalisten entwickelt und angewandt. Dabei wird in interviewartigen Situationen ohne wirkliches Wissen über den Gesprächspartner bei diesem der Eindruck eines vorhandenen Wissens erweckt. Nicht immer wird diese Technik bewusst eingesetzt. Das Medium tastet sich am Anfang oft mit vagen Aussagen voran und spürt rasch, ob diese Zustimmung finden oder nicht. Dies kann sich durch unbewusste Körper­ signale ausdrücken oder aber auch durch verbale Zustimmung. Bei manchen Klientinnen und Klienten entsteht so der Eindruck, das Medium verfüge tatsächlich über übernatürliche Fähigkeiten und sei in der Lage, dem Gegenüber ins Gehirn zu schauen. Diese rhetorische Technik kann manchmal zu unverhofften Treffern oder zu sehr präzisen Aussagen führen. Leah legte eine falsche Fährte, nicht aus böser Absicht, eher weil sie sich im Druck der Gruppe dazu veranlasst fühlte, Zu­ stimmung zu zeigen und das Medium nicht infrage zu stellen. Dadurch wurden die rhetorischen Strukturen für sie sichtbar. Auf der einen Seite ging sie zwar enttäuscht aus der Veranstaltung, auf der anderen Seite jedoch war diese Enttäuschung für sie der Anlass, nochmals genauer hinzusehen. In dem Gespräch mit ihr wurde deutlich, dass ein starker Wunsch bestand nach Verbindung zur Schwester. Ihr war jedoch klar, dass kein anderer Mensch für sie in Verbindung treten konnte, sondern es ihre Aufgabe war, einen Weg zu finden, mit ihrer Schwester eine innere Verbindung aufzubauen. Sie entschied sich dazu, der Schwester einen Brief zu schreiben. Diesen Brief schrieb sie an einem bedeutsamen Ort, wo sie viel Zeit mit der Schwester verbracht hatte: unter dem Apfelbaum im Garten des Elternhauses. Sie vergrub den Brief unter dem Baum. Diese Form, eigeninitiativ in Kontakt zu treten, fühlte sich für Leah sehr stimmig an. Zwar lösten sich dadurch nicht alle Probleme, jedoch spürte sie Selbstwirksamkeit.

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Risiken und Nebenwirkungen eines Besuchs beim Medium

»Das Tragische liegt nicht darin, daß die Aussage des Orakels zweideutig ist, sondern darin, daß der Heide es nicht zu unterlassen wagt, sich bei ihm Rat zu holen.« (Søren Kierkegaard, 1813–1855, dänischer Philosoph, Theologe und Schriftsteller) Es ließen sich hier nun noch zahlreiche weitere Geschichten von Menschen erzählen, die in ihrer Trauer und Verzweiflung Hilfe bei einem Medium suchten. Deutlich sollte werden, dass dieser Wunsch nach Verbindung zu dem Verstorbenen ein sehr häufiges Bedürfnis ist und Trauernde mit diesem Bedürfnis keinesfalls allein sind. Deutlich wurde auch, dass es unterschiedliche Auswirkungen haben kann, ein Medium zu besuchen. Im ersten Fall wirkte sich der Besuch positiv aus, aber es kann auch zu Enttäuschung, Abhängigkeit und ungünstiger Musterwieder­ holung kommen. Die Frage, welche Technik zur Kontaktaufnahme angewendet wird, ist zweitrangig für die Beurteilung, ob sich eine Kontaktaufnahme durch ein Medium positiv oder negativ auswirkt. Vielmehr kommt es auf die Passung zwischen dem Klienten und dem Medium an. Gerade die expliziten und impliziten Wünsche und Bedürfnisse des Trauernden, dessen Erwartungen, Vorgeschichte und individuellen Believe-Systeme spielen eine wichtige Rolle. Ein Generalrezept, wann von einem Besuch bei einem Medium abzuraten ist, gibt es deswegen nicht. Daher möchten wir im Folgenden Vor- und Nachteile abwägen und kritisch diskutieren. Der wichtigste Punkt bei der Diskussion, ob der Besuch eines Mediums für Trauernde gewinnbringend ist oder nicht, liegt in der Frage der Selbstwirksamkeit. Besteht der Wunsch nach Kontakt­ aufnahme, dann kann diesem Wunsch auf unterschiedlichsten

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Arten nachgegeben werden. Grundsätzlich sind solche Settings und Formen günstiger, die dem Trauernden ein Gefühl der Selbstwirksamkeit verschaffen. Wenn der Kontakt von einem fremden Dritten initiiert wird, kann dies verhindern, dass die trauernde Person selbst in einen inneren Dialog tritt bzw. die innere Verbindung zum Verstorbenen pflegt. Gern geben wir Trauernden, die fragen, ob sie zu einem Medium gehen sollen oder nicht, den Satz mit auf dem Weg: »Sie sind selbst das beste Medium. Keiner kennt den Verstorbenen besser als sie selbst. Trauen Sie sich zu, selbst und eigenmächtig in einen Kontakt zu treten.« Ein weiterer Kritikpunkt an mediumistischen Praktiken liegt in der Tatsache, dass dort teilweise erklärbare physikalische Phänomene (Bewegung des Tisches oder Glases etc.) fehlinterpretiert werden als Einwirkung der Geisterwelt. Gleichzeitig können solche Techniken einen Zugang zum Unbewussten legen. Sie sollten jedoch stets sorgsam gerahmt sein, in einem geschützten Rahmen stattfinden und eine gute Vor- und Nachbereitung beinhalten. Dies ist bei mediumistischen Zirkeln und Sitzungen zumeist nicht der Fall. Die Betreffenden bleiben mit dem, was ihnen dort mitgeteilt wird, allein. Es kann auch zu einer Verschiebung von persönlichen Glaubenshaltungen kommen, weil die Bewegungen fehlinterpretiert werden. So kann sich bei manchen der Eindruck einstellen, mit der Geisterwelt könne man nach Belieben Kontakt aufnehmen, man müsse dazu nur einen Tisch oder ein Glas zur Hand nehmen. Wenn Aussagen des eigenen Unbewussten als Aussagen der Geisterwelt interpretiert werden, können sich zudem Schwierigkeiten ergeben. Diese können vielfältig sein und es kann dadurch eine aktive Auseinandersetzung mit eigenen inneren Bedürfnissen, mit Ungesagtem, Verdrängtem auch behindert werden. Mit dem Unbewussten in Kontakt treten lässt sich auch auf andere Arten, ohne dass dieser Kontakt als Einfluss der Geisterwelt interpretiert wird. Techniken wie die Stuhlarbeit sind dafür ein gutes Beispiel.

Das Medium als Trauerbegleiter   77

Oft sind Trauernde auf besondere Weise vulnerabel. In vielen Fällen sprechen wir mit Menschen, die einen verstärkten Wunsch nach einer Autorität und einer Orientierungsfigur haben. Dies kann sich in manchen Phasen entlastend auswirken. Menschen, die beispielsweise einen festen Platz in einer Gemeinde haben, fühlen sich in Trauerphasen oft besser getragen, nicht nur von den Beziehungen innerhalb der Gemeinde, sondern auch von der spirituellen Autoritätsfigur. Gerade bei Menschen, die sich spirituell nicht gut angebunden fühlen, kann ein Medium diese Funktion übernehmen. Dies bedeutet: Der Trauernde schreibt dem Medium Autorität zu, klammert sich an dessen Aussagen und orientiert sich an dessen Ratschlägen und Tipps. Mit solch einer Autoritätszuschreibung muss ein Medium sehr bewusst und reflektiert umgehen. Dies geschieht jedoch in vielen Fällen nicht. Entweder sind sich die Anbieter über diese Zuschreibungen nicht bewusst oder solche Zuschreibungen werden aufgrund von monetären oder anderen Interessen schamlos ausgenutzt. Die Folge können starke Abhängigkeiten, Autonomieverlust und Machtmissbrauch seitens des Mediums sein. Anmaßende und übergriffige Aussagen können gerade solche Trauernden ungünstig beeinflussen, die stark nach einer Fremdautorität suchen. Ein weiterer Risikofaktor liegt in der Häufigkeit, mit der ein Medium besucht wird. Handelt es sich um eine einmalige Angelegenheit, kann dies, selbst wenn die Erfahrung negativ ist, dazu beitragen, dass eine innere Auseinandersetzung angestoßen wird. Sobald sich jedoch Tendenzen finden, dass Menschen in Trauer­ phasen häufiger ein Medium aufsuchen, wird es kritisch. Im Gegensatz zu einer Psychotherapie oder einer guten Trauer­ beglei­tung wird dann eine aktive Trauerarbeit verhindert, die Trauerarbeit wird zu einer passiven, da nicht der Trauernde arbeitet, sondern das Medium dies an seiner Stelle tut. Meist wirkt sich ein Besuch bei einem Medium als kurzfristig entlas-

78    Außergewöhnliche Phänomene rund um das Sterben

tend aus; es ergeben sich jedoch keine nachhaltigen Wirkungen, wenn der Trauernde immer wieder dorthin geht. Gern vergleichen wir den Besuch bei einem Medium mit der Einnahme einer Valiumtablette. In speziellen Fällen kann dadurch bei einmaliger und sorgsamer Einnahme ein beruhigender Effekt erzielt werden. Bei längerfristiger Einnahme jedoch entstehen Abhängigkeiten. Oben wurde bereits der Punkt der Selbstwirksamkeit angesprochen. Der Besuch bei einem Medium kann auch in einer Verantwortungsabgabe münden. Die Verantwortung für das eigene Weiterleben, für die Bearbeitung und Aufarbeitung von inneren Konflikten wird nach außen delegiert. Dies kann und sollte nicht das Ziel sein. Jedoch ist es gerade in Phasen, in denen die Welt wie ein Kartenhaus zusammenbricht, oft ein zutiefst nachvollziehbares und verständliches Bedürfnis, die Verantwortung in die Hände eines Dritten zu legen. Es wird sozusagen jeder Strohhalm ergriffen, an den man sich klammern kann. An der Hand eines Mediums Trost zu erfahren und dazu noch die Gewissheit zu spüren, dass das Medium einen ganz besonderen Draht nach »drüben« hat, kann zunächst helfen, stabil zu bleiben. Die längerfristige Wirkung kann aber eine »verschleppte Trauer« sein. Oft besuchen Menschen über Jahre regelmäßig mediumistische Sitzungen mit den immer gleichen Fragen und Nöten. Es gibt heutzutage vielerorts das Angebot von Selbsthilfegruppen für Trauernde. Ein mediumistischer Zirkel kann eine ähnliche Funktion übernehmen. Denn in der Regel werden diese Zirkel auch von anderen Menschen besucht, die einen Verlust erlitten haben. In diesen Sitzungen ist es erlaubt, Emotionen freien Lauf zu lassen, zu weinen und sich berühren zu lassen. Anderen in der Gruppe geht es ähnlich. Man ist nicht allein in seiner Verzweiflung und Trauer. Diese Erfahrung nehmen Trauernde häufig aus mediumistischen Treffen mit. Dieses Aufgehobensein in einer Gruppe mit Menschen, die Ähnliches durchleben, ist sehr hilfreich und kann sich stabilisierend aus-

Aber… Glaube? Ein Leitfaden für die Praxis    79

wirken. Doch für diese Erfahrungen benötigt es keine mediumistischen Treffen, sondern sie können auch in Trauergruppen gemacht werden. Wenn Teilnehmende mediumistischer Zusammenkünfte also spüren, wie gut ihnen solche Abende tun, kann es auch eine Überlegung wert sein, sich einer Trauergruppe anzuschließen. Abschließend halten wir fest: Das Bedürfnis, sich in der Trauer an ein Medium zu wenden, ist in vielerlei Hinsicht nachvollziehbar und kann in manchen Fällen auch eine Hilfe bei der Verarbeitung darstellen. Wichtig ist es jedoch, Risiken und Nebenwirkungen im Blick zu behalten.

Aber… Glaube? Ein Leitfaden für die Praxis »Es gibt viele, die glauben, allerdings aus Aberglauben.« (Blaise Pascal, 1623–1662) Wie wir bereits festgestellt haben, sind außergewöhnliche Erfahrungen im Kontext von Trauer vielfältig und sehr unterschiedlich. Es gibt Erlebnisse von Spuk, Träumen, Erfahrungen bei mediumistischen Sitzungen etc. Gemeinsam ist all diesen Erfahrungen, dass sie von den Betreffenden als Kontakt mit dem Verstorbenen interpretiert werden. Diese Kontaktaufnahme kann aktiv initiiert werden, wie etwa bei diversen mediumistischen Praktiken, oder völlig unvorbereitet und spontan eintreten. Das Besondere an außergewöhnlichen Erfahrungen rund um den Tod liegt in der Interpretation dieser Erfahrungen. Während außergewöhnliche Erfahrungen in anderen Kontexten häufig eine breite Varianz an Interpretationen aufweisen, werden sie in Zusammenhang mit dem Verlust einer Person meist dahin­gehend aufgefasst, dass es

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sich um eine Kontaktaufnahme mit dieser Person handele. Solche Erfahrungen können dazu beitragen, Glaubensüberzeugungen zu initiieren und zu stabilisieren, sie können den Glauben an ein Weiterleben nach dem Tod begünstigen und damit für die Trauernden zunächst tröstlich sein. Aber: Nicht immer wirken sich solche Erfahrungen positiv auf den Glauben aus. Nicht immer sind solche Erfahrungen tröstlich. Deshalb haben wir im folgenden Teil einige Anregungen zusammengestellt, die helfen können, mit solchen Erfahrungen konstruktiv umzugehen. Glaube ist, und darauf weisen viele Forschungsergebnisse hin, zunächst einmal eine große Ressource. Von Raphael M. Bonelli stammt der Satz: »Wenn Religion eine Pille wäre, dann wäre sie heute wohl als Medikament zugelassen« (Heinrich, 2013). Dieser etwas plakative Satz ist in vielerlei Hinsicht zu relativieren, verweist jedoch darauf, dass Religion und Glaube durchaus psychische Stabilität und ein Gefühl der Geborgenheit verschaffen können, was gerade in Phasen der Trauer von besonderer Bedeutung ist. Doch grundsätzlich ist zu konstatieren: Glaube ist nicht gleich Glaube. Heutzutage unterscheidet man zwischen intrinsisch und extrinsisch motivierter Religiosität (Zwingmann, Hellmeister u. Ochsmann, 1993). Intrinsische Religiosität ist eine innere Glaubenshaltung, die einer tiefen inneren Überzeugung entspringt, einem Glauben an einen Gott. Extrinsisch motivierte Religiosität ist eher von außen motiviert und damit oft auch angstgesteuert. Schwierigkeiten für die menschliche Psyche bereitet vor allem die extrinsische Religiosität. Mediumistische Praktiken und einige außergewöhnliche Erfahrungen können gerade eine solche extrinsische Religiosität beeinflussen. Durch das Erleben scheinbarer Einwirkungen der Verstorbenen auf die physische Welt, durch spiritistische Erklärungen zu physikalisch erklär­baren Phänomenen kann sich eine extrinsische Religiosität herausbilden. Diese ist abhängig von Fehlinterpretationen

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oder einer Externalisierung eigener psychischer blinder Flecken. Wenn Glaube also von äußeren Erlebnissen abhängig gemacht wird, ängstigt, in Abhängigkeiten führt, könnte man nicht nur von extrinsischer Religiosität, sondern (unter Vorbehalt) auch von »Aberglauben« sprechen. Doch es kann auch sein, dass äußere Erlebnisse eine Auswirkung auf die intrinsische Religiosität haben; es lässt sich hier eben nicht so einfach zwischen Glauben und Aberglauben differenzieren, die Sachlage ist komplexer. Was hilft also im Umgang mit außergewöhnlichen Erfahrungen im Zusammenhang mit Tod zu verhindern, dass sich angstgesteuerte und ungünstige Glaubenskonstrukte herausbilden? Grundsätzlich und entscheidend ist die Frage, mit ­welcher Haltung man außergewöhnlichen Phänomenen begegnet. Dabei können Trauerbegleitende, denen von solchen E ­ rlebnissen berichtet wird, die im folgenden vorgeschlagenen Aspekte zur Haltung berücksichtigen und den Betreffenden so durch »Lernen am Mo­ dell« vorleben, wie man zu einer angstfreien und entspannten Haltung im Umgang mit außergewöhnlichen Erfahrungen gelangen kann. Im Folgenden werden solche Haltungsaspekte nur stichpunktartig aufgeführt; vertiefend sei auf Pohl (2020) verwiesen. • Spirituelle Mehrsprachigkeit meint, dass seitens der beratenden Person eine Offenheit besteht, sich auf unterschiedliche spirituelle Deutungen eines außergewöhnlichen Erlebnisses einzulassen. Es ist nicht Aufgabe des Beraters oder der Beraterin, ein Erlebnis für den Klienten oder die Klientin zu interpretieren. • Deutungshoheit liegt beim Klienten: Der Klient hat die Hoheit, sein Erlebnis so zu interpretieren, wie er dies möchte und wie es für ihn passend ist. Wir reden ihm seine Deutung nicht aus. Jedoch dürfen wir dazu Fragen stellen, die zum Nachdenken anregen. Die Deutung der beratenden Person kann eine andere sein, steht jedoch nicht über der Deutung des Klienten oder der Klientin.

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• Positiven Selbstbezug herstellen: Es ist günstig, wenn wir Klien­ ten dazu anregen, zu dem Erlebnis einen Selbstbezug zu finden, der in einer positiven Art und Weise gerahmt ist. Dies gibt Selbstwirksamkeit zurück und erleichtert es, eine Sinnhaftigkeit hinter dem Erlebnis zu entdecken. • Normalisieren statt Pathologisieren: Berichten Klienten in der Beratung von außergewöhnlichen Erfahrungen rund um den Tod einer Person, ist es zunächst sehr hilfreich, diese Erfahrungen zu normalisieren. Denn sehr viele Menschen machen solche Erfahrungen; groß ist allerdings die Scham, davon zu sprechen, weil man Angst hat, für verrückt erklärt zu werden. • Normalisieren statt Überhöhen: Manche Klienten neigen dazu, ihre Erfahrungen völlig zu überhöhen. Auch hier kann es hilfreich sein, dies zu normalisieren und anhand einiger an­­de­rer Beispiele zu zeigen, dass solche Erfahrungen völlig normal sind und zu Trauerprozessen dazugehören. • Rollenklarheit: Es muss immer wieder betont werden, dass die beratende Person nicht die Funktion des Richtenden innehat. Sie hat nicht zu entscheiden, wie wahr oder falsch die Er­­leb­­ nisse des Klienten oder der Klientin sind. • Eine gesunde Portion Skepsis ist dennoch erlaubt: In manchen Fällen darf der interpretative Rahmen durchaus erweitert werden um mögliche physikalische oder psychische Erklärungshypothesen. Inwieweit der Klient diese annimmt, bleibt ihm selbst überlassen. • Einbezug von spirituellen und existenziellen Fragen: Dies ist in den meisten Fällen unumgänglich, werfen außergewöhnliche Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Tod doch oft die Frage auf: Gibt es ein Weiterleben nach dem Tod, gibt es ein Jenseits? • »Und was glauben Sie eigentlich?«, wird die Beraterin oder der Berater oft in solchen Situationen gefragt. Der Umgang mit Gretchenfragen in solchen Situationen muss gut reflek-

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tiert sein; gerade wenn eine Autoritätszuschreibung stattfindet, neigen Klienten manchmal dazu, die Autorität in der Beantwortung von Glaubensfragen nach außen zu delegieren, was im ungünstigen Fall eine extrinsische Spiritualität begünstigen kann. • Erklärungsflucht meiden: Manchmal flüchten sich Beratende in wissenschaftliche Erklärungen zu einem Phänomen und vergessen darüber, auf die Bedeutung, die dieses Phänomen für den Erlebenden hat, zu achten. Erklärungen können helfen, sollten jedoch nicht die Bedeutungsebenen ausklammern. • Neutralität gegenüber Interpretationen: Wie bereits mehrfach angeklungen ist, steht es letztlich dem Klienten selbst frei, sein Erlebnis zu interpretieren. Dieser Interpretation sollte mit Respekt begegnet werden.

Rituale: Zwischen Aberglauben und Ressource Was haben Rituale mit Aberglauben zu tun? Viele Rituale werden heute als abergläubische Handlungen wahrgenommen und deswegen nicht immer mit dem nötigen Respekt behandelt. Dabei zeigt sich bei genauem Hinsehen, dass Rituale im Kontext von Sterben oft sehr spezifische Funktionen erfüllen. Im Umgang mit Trauernden ist es deshalb wichtig, Ritualen gegenüber einen wertschätzenden Umgang zu zeigen. Rituale zu ignorieren kann sich in manchen Fällen ungünstig auf die Psyche auswirken, selbst wenn die Betreffenden den tieferen Sinn der Rituale gar nicht kennen. Daher plädieren wir für einen ressourcenhaften und wertschätzenden Blick auf Rituale. Das folgende Negativbeispiel zeigt, wie verstörend es sein kann, sich über Rituale hinwegzusetzen:

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»Als mein Vater starb – er starb zu Hause –, ging alles sehr schnell. Ich weiß gar nicht mehr, wer dies entschied, aber er wurde quasi sofort abtransportiert. Wir konnten keine Totenwache halten, ich hatte das Gefühl, seine Seele war noch im Raum, konnte nicht gehen. Aber sein Körper war weg. Bei meiner Mutter damals war das anders. Wir hatten Zeit zu begreifen, dass sie tot war. Ich konnte ihre Hand halten und spüren, dass da kein Leben mehr drin war. Ich fühlte, wie sie langsam kälter wurde. Mein Vater spukt hier im wahrsten Sinne des Wortes noch rum. Ich denke, wir hätten Totenwache halten müssen, dann hätte er besser gehen können. Ich habe das Gefühl, wir haben ihn nicht so verabschie­ det, wie es hätte sein sollen. Obwohl ich eigentlich nicht beson­ ders abergläubisch bin.«

In diesem Beispiel klingt die Irritation eines Betroffenen an, der keine Gelegenheit hatte, ein wichtiges Ritual einzuhalten: die Totenwache. Der Betreffende spürt, dass ihm selbst dies nicht guttat, allerdings argumentiert er auch, dass der Vater keine Ruhe finden würde. Diese doppele Argumentationslinie findet sich häufig, wenn Rituale verletzt oder nicht eingehalten wurden. Oft äußern Betreffende zunächst Sorge um die verstorbene Person und befürchten, dies könne ihr in irgendeiner Weise schaden. Ein Gefühl der Irritation, des Kontrollverlustes oder der Sorge um den Verstorbenen dominieren. Es erinnert an die Situation, wenn Gäste nicht richtig verabschiedet worden sind, dies hinterlässt bei den Gastgebern oft ein ungutes Gefühl. Gepflogenheiten des Abschieds einzuhalten ist nicht nur wichtig, weil es der Knigge so vorsieht, sondern hinter Abschieds­ ritualen steckt meist eine tiefere Bedeutung. Der Umgang damit verliert in unserer Kultur zunehmend an Wert. Bedeutung ist nicht immer rational begründbar. Bedeutung kann sehr individuell sein, aber auch kulturübergreifend. Für manche Menschen können Rituale auch ohne jegliche Bedeutung sein. Und manch

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einem wird die Bedeutung einer Handlung erst bewusst, wenn diese Handlung versäumt wird (siehe obiges Beispiel). Rituale können unterstützend bei der Bearbeitung von Trauer wirken. Da der Tod früher sehr viel mehr zum Leben dazugehörte und weniger Tabuisierung erfuhr, kannte jeder den Ablauf und den Sinn diverser Rituale. Heute wird das Thema »Tod und Sterben« weitestgehend gesellschaftlich ausgeklammert. Deswegen wollen wir im Folgenden Rituale, die möglicherweise als Volks- oder Aberglaube abgetan werden, kurz umreißen. Dies kann gerade auch Trauerbegleitenden helfen, die nötige Sensibilität und ein Verständnis zu entwickeln. Denn das, was hier auf den ersten Blick wie »Irrglaube« wirkt, hat doch oft einen tieferen Sinn, da solche Rituale helfen, Tod und Trauer besser in das soziokulturelle System der Hinterbliebenen einzubetten. Damit wirken solche Rituale entlastend, geben Handlungskontrolle und ein Gefühl der Selbstwirksamkeit. Die Rolle des Trauerbegleiters kann in diesem Prozess vielfältig sein. Für den Trauerbegleiter, die Trauerbegleiterin kann es äußerst hilfreich sein, die verschiedenen Glaubenskonstrukte und damit verbundene rituelle Handlungen zu kennen. Sollte beispielsweise eine spirituelle Vorstellung für den Trauernden schwierig sein oder Sorge auslösen, können epochen- oder auch kulturspezifische Hintergründe erklärt werden. Trauernde sollten in ihrem Schmerz und der Irritation nicht alleingelassen werden. So kann die Balance zwischen Glauben, überliefertem Ritus und praktischer Sinnhaftigkeit gehalten werden und gewinnbringend in den Trauerprozess eingebracht werden. In manchen Fällen können Trauerrituale individuell abgewandelt werden, um mehr Passung zu erreichen. Im Nachfolgenden wird nur eine kleine Auswahl von Ritua­ len beschrieben, von denen heute einige als Aberglaube disqualifiziert werden. Rituale haben oft den gleichen Zweck: Sie spenden Trost, reduzieren Schmerz und Anspannung, tragen

86    Rituale: Zwischen Aberglauben und Ressource

dazu bei, Handlungs- und Kontrollfähigkeit wiederzuerlangen, lassen Gemeinschaft spürbar werden und helfen, Trauer mit all ihren Facetten zu gestalten.

Rituale am Sterbebett Sterbekreuz

Sterbenden oder Schwerkranken wird oft ein sogenanntes Sterbeoder Festhaltekreuz bereitgestellt. Das als Lazaruskreuz gestaltete Kruzifix wird je nach Größe und Beschaffenheit entweder dem Sterbenden in die Hand gelegt oder aufgestellt. Lazarus ist dabei der Hinweis auf die Verheißung der Auferstehung. Es verbleibt während des gesamten Sterbeprozesses wie auch bei der Aufbahrung und anschließenden Trauerfeier bei dem Verstorbenen, danach nehmen es die Angehörigen oft an sich. Aus christlicher Sicht soll sich der Kranke oder Sterbende Gottes Nähe und unbestrittenen Hilfe sicher sein. So sollen Trost und Zuversicht sowie Kraft im Glauben erfahrbar sein. Eine andere Variante ist ein helles Metallkreuz, eingebettet in dunklem Holz. Auch hier stehen die Erleuchtung und das Heilsbringende durch Gott in der dunklen Zeit im Fokus. Auf der Rückseite sind oft Worte wie Liebe, Glaube, Kraft oder Hoffnung eingefräst oder aufgeschrieben. Die Kraft dieser Worte soll auf den Sterbenden stützend und heilend übergehen. Psychologisch gesehen kann dieses Ritual Trauernden helfen, indem sie das Gefühl vermittelt bekommen, dem Verstorbenen einen letzten hilfreichen Dienst erwiesen und ihm im Sterbeprozess Kraft und Durchhaltevermögen zugesprochen zu haben. Aus religiöser Sicht hat das Sterbekreuz die Kraft, das Sterben einfacher und weniger leidensvoll zu gestalten. Durch die haptisch spürbare Zuwendung Gottes müssen die Angehörigen auch keine Sorge haben, den Sterbenden alleinzulassen, und können

Rituale am Sterbebett   87

wichtigen Alltagsdingen nachgehen, denn sie spüren, dass Gott bei ihm ist. Da das Kreuz während des gesamten Sterbeprozesses beim Verstorbenen war, verbindet der Trauernde den Gegenstand automatisch mit ihm. Auch im späteren Trauerprozess kann diese wichtige Erinnerung helfen, das Trauern zu bewältigen. Viele Angehörige stellen das Kreuz in der eigenen Wohnung auf und haben so einen Platz der Trauer und Zwiesprache. Eine fünfzigjährige Frau berichtet, im Sterbeprozess immer wie­ der die Hände des sterbenden Vaters mit dem Sterbekreuz sanft berührt zu haben. Immer wieder hatte sie über seine Hände und das Kreuz gestreichelt, um Kontakt aufzunehmen, wichtige Dinge anzusprechen und ihm Segenswünsche mit auf den Weg zu geben. Sie erinnert sich daran, bei so einer Berührung von ihrem Vater gehört zu haben, wie wichtig sie für ihn sei und dass er sie sehr liebe. Das war für sie ein besonderer Moment, da sie sich bisher von ihm nie wertgeschätzt gefühlt hat. Nach dem Tod des Vaters lag das Kreuz immer in ihrem Nachttisch. Anfangs hatte sie es jeden Abend in der Hand. Später bei besonderen Herausforderungen, wenn sie ihren verstorbenen Vater um Hilfe bitten wollte. Immer wenn sie das Kreuz in der Hand hatte, spürte sie Liebe, Wertschätzung und ein wenig die Präsenz des Vaters. Dadurch fühlte sie sich gehalten.

Das geöffnete Fenster

In vielen Religionen ist das Öffnen eines Fensters während des finalen Sterbeprozesses oder nach Eintritt des Todes üblich. Die spirituelle Sichtweise verweist auf das Emporfahren der Seele. Wenn sich die Seele direkt nach Eintritt des Todes von ihrer irdischen Hülle löst, so kann sie ungehindert in den Himmel oder das Paradies auffahren. Wird der Seele diese Möglichkeit nicht oder zu spät gewährt, bestehe die Gefahr, dass sie für alle Zeit umherwandelt. Diese Perspektive begleitet auch hiesige Spuk-

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fantasien. Der Glaube, in längst stillgelegten Krankenhäusern oder Seniorenzentren gingen Geister um, weil sie keine Ruhe fänden, befeuert besonders die Medienlandschaft. Ein Blick auf die Wurzeln dieses Rituals lässt allerdings dessen Sinnhaftigkeit erkennen. Früher starben viele Menschen zu Hause, das geöffnete Fenster hatte hier vor allem gesundheitsspezifische Gründe und sollte den Hinterbliebenen in damals schwierigen hygienischen Bedingungen eine saubere und gute Raumluft ermöglichen. Besonders im Sommer stellte die Begleitung des häuslichen Sterbeprozesses die Angehörigen vor große Herausforderungen. Außerdem spielt die Handlungskontrolle auf psychologischer Ebene eine wichtige Rolle. Direkt nach dem Versterben stellen sich schnell Hilflosigkeit und innere Leere ein. Da kann es beruhigend sein, einige Handgriffe tun zu müssen und damit die eigene Regulationsfähigkeit zurückzuerlangen. Das gute Gefühl, etwas getan zu haben, und das auch noch für das Seelenheil des Verstorbenen, lässt aufatmen. Das Personifi­ zieren der entweichenden Seele kann ebenfalls hilfreich beim Abschiednehmen sein. Stellt man sich die Seele als etwas vor, das man unterstützen kann, das durch eine Öffnung hinausfliegen kann, so entsteht der Eindruck eines greifbaren Bildes. Der Seele kann hinterhergeschaut werden, und so kann das Abschiednehmen leichter fallen. Die Seele ist somit auf dem Weg zu einem Ort, an dem es ihr gut geht. Dieser Gedanke wirkt oft sehr tröstlich. Spiegel verhängen und die Uhren im Sterbezimmer stoppen

Das Verhängen der Spiegel im Sterbezimmer und im Haus hat ebenfalls lange Tradition. Dieses Ritual ist nicht nur dem jüdischen Glauben zuzuordnen, sondern fand auch in mitteleuropäischen Breitengraden große Zustimmung. Der Glaube vermittelt, dass Spiegel sofort nach Eintritt des Todes verhängt

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werden müssen. Eine Interpretation betrifft die Sicht auf den Verstorbenen: Würde sich die Seele im Spiegel sehen, würde sie so sehr erschrecken, dass sie nicht mehr aufsteigen könnte und erdgebunden bliebe. In manchen Kulturen glaubt man, die Seele hätte durch den Spiegel die Fähigkeit, die Lebenden mit ins Totenreich zu reißen. Eine andere Interpretation betrifft eher eine gesellschaftliche Perspektive: Im Tod verliere jede Eitelkeit ihre Bedeutung, denn es ist egal, wie wir aussehen, ob wir arm oder reich sind; im Tod sind alle Menschen gleich. Das Anhalten der Uhren im Sterbezimmer oder im Haus weist darauf hin, dass im Angesicht des Todes jede Zeit ihre Bedeutung verliert. Eine weitere symbolische Bedeutung betrifft das Verhältnis zu dem Verstorbenen selbst und meint eine Ehr­ erbie­tung, denn wenn ein geliebter Mensch verstorben ist, steht für die Hinterbliebenen oft die ganze Welt still. Aus psychologischer Sicht ermöglicht dieses Ritual nicht nur Handlungskompetenz und damit Selbstwirksamkeit, es lässt einen kurzen und bewussten Moment der inneren Einkehr zu, beispielsweise für ein Zwiegespräch mit dem Verstorbenen. Werden noch einmal die Gedanken gesammelt und eventuell sogar dem Verstorbenen gute Wünsche mit auf den Weg gegeben, kann ein aktiver Trauerprozess frühzeitig beginnen. Beide Rituale sind also hochfunktionell. Einerseits hat der Hinterbliebene etwas zu tun und hat damit die Möglichkeit, dem Verstorbenen einen letzten Dienst zu erweisen und sich selbst zu schützen. Beides sind wichtige Elemente der Selbstfürsorge und Achtsamkeit. Andererseits kann der Trauerprozess in Gang gesetzt werden, indem möglicherweise ein innerer Diskurs zur eigenen Sterblichkeit und zum Umgang mit dem Tod angeregt wird.

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Rituale nach dem Versterben Totenwache und Aufbahrung oder ein letzter Gruß

Früher sehr viel gängiger als heute ist das Ritual der Aufbahrung und Totenwache (Brumann, Knopff u. Stascheit, 1998). Durch die Hospitalisierung Sterbender ist ein häusliches Umfeld eher ungewöhnlich geworden. Dennoch finden klinische oder andere Einrichtungen durchaus pietätvolle Möglichkeiten der Abschiednahme. Der zeitliche Rahmen ist dabei zwar deutlich kürzer gesteckt und die mögliche Anzahl der Trauernden ist deutlich geringer. Im ländlichen Raum und zu früheren Zeiten wurde der Verstorbene bis zu 36 Stunden zu Hause im Sterbezimmer oder im Wohnbereich aufgebahrt, entweder auf dem Sterbebett oder im offenen Sarg. Dies war und ist teilweise heute noch ein fester Bestandteil des Totenkults und Mittel der Trauerbearbeitung. In allen Religionen, in denen eine Aufbahrung als zentrales Element gesehen wird, gelten die Aufbahrung und Totenwache als Zeichen der Ehrerbietung für den Verstorbenen, also als eine Art letzter Tribut an den Toten. Oft ist dieses Ritual stark religiös motiviert und regional sehr unterschiedlich. In dieser spirituellen Sichtweise geht es darum, dass der Verstorbene nicht allein gelassen wird, falls er sich, besonders nachts bei Dunkelheit, fürchten sollte. Die Nachtwache wurde vor allem von besonders nahestehenden Personen gehalten. Durch ständige Gebete und die Andacht des Rosenkranzes soll einer Besetzung des Leichnams durch Dämonen oder andere böse Geister Einhalt geboten werden. Aus psychologischer Perspektive ist zu fragen, welche Wirkung dieses Ritual auf die Hinterbliebenen hat. Die Zeit, den Verstorbenen zu begleiten und ihm nahe zu sein, bietet die Chance, den Tod in die eigene Realität zu integrieren. Der Verstorbene kann berührt werden, der Tod wird damit begreiflich. Die Trauernden können ganz in Ruhe und mit ausreichend Zeit

Rituale nach dem Versterben   91

Abschied nehmen. Ungesagtes kann eventuell in einer Art Zwiegespräch geklärt werden. Eigene Schuldgefühle können verbalisiert werden oder dem Verstorbenen gute Wünsche mit auf den Weg gegeben werden. In manchen Religionen wird dem Verstorbenen noch einmal gesagt, wie er sich auf dem Weg ins Jenseits verhalten soll, beispielsweise solle er nicht vergessen, den Fährmann zu bezahlen. Das Gefühl, dem Verstorbenen einen letzten Dienst erwiesen zu haben, kann den Abschied und die Realisierung des Todes erleichtern. Das Ritual hat weitere Auswirkungen auf eine gelingende Trauerarbeit. Bei der Aufbahrung und der Totenwache kommen Freunde, Nachbarn und Bekannte zusammen. Das Gefühl von Gemeinschaft ermöglicht es bei diesem ungezwungenen Beisammensein, die ersten wichtigen Kontakte und Hilfs­ angebote für die Zeit danach zu organisieren. Dazu gehören nicht nur Fragen der Beisetzung, sondern auch Ideen für die folgenden Trauerphasen. Das Gemeinschaftsgefühl wurde oft durch ein gemeinsames Essen im Beisein des Verstorbenen gestärkt. Ein achtzigjähriger Mann aus Südbaden berichtet immer noch mit einem Lächeln auf den Lippen vom gemeinsamen Alkohol­ konsum. Damals war es keineswegs üblich, als Mann Trauer­ emotionen nach außen kommen zu lassen, denn das oblag dem vermeintlich schwachen Geschlecht. Frauen durften wei­ nen und ihrer Fassungslosigkeit mit anderen Frauen Ausdruck verleihen. Die Männer profitierten vom Alkohol als spannungs­ lösendes ­Mittel und konnten so noch einmal in besonderer Weise Abschied nehmen. Immer wieder wurde ein Schlückchen Schnaps in den Sarg gekippt mit den Worten »Prost, Heinrich. Wir trinken auf dich. Bist ’ne schöne Leiche«. Dem Verstorbenen wur­ den noch einmal besondere Stationen seines Lebens erzählt. So wurde sein Wirken aus der Per­spektive unterschiedlicher Trauer­

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gäste kontrastiert und gewürdigt. Diese Ehrerbietung und das Gefühl, noch ein letztes Mal gemeinsam zu feiern, habe die Män­ ner noch mehr zusammengeschweißt.

Schwarze Kleidung

Direkt nach dem Verlust eines Menschen, spätestens aber ab dem Zeitpunkt der Beerdigung gilt im mitteleuropäischen Raum das Gebot, Schwarz zu tragen. Dies wurde früher für den Zeitraum eines Jahres festgesetzt. In heutiger Zeit sind die Regeln deutlich gelockert, bis hin zur Aufforderung in Todesanzeigen, von einer schwarzen Bekleidung bei der Beisetzung abzusehen, weil es der oder die Verstorbene nicht gewollt hätte. Die Farbe Schwarz hat dabei unterschiedliche Bedeutungen. Sie ist zum einen die liturgische Farbe der Trauer und kann Ausdruck dafür sein, die Trauer selbst ernst zu nehmen. Auf diesem Weg wird versucht, dem Verstorbenen mit Respekt und Würde entgegenzutreten. Schlichte und vor allem gepflegte und sittsame Trauerbekleidung ist Ausdruck der Wertschätzung. Seit dem sechsten Jahrhundert tragen Benediktinermönche Schwarz, um die spirituelle Dunkelheit zu symbolisieren. In Asien gilt Schwarz als Farbe der Fruchtbarkeit, deshalb wird dort bei Trauer Weiß getragen. Aus historischer Sicht war Schwarz eine kostspielige und wertvolle Farbe, die sich nicht jeder leisten konnte. Auch die hochoffizielle und festliche Funktion der Farbe verstärkt deren besondere Bedeutung (Höpflinger, 2017). Aus psychologischer Sicht kann man auch bei diesem Ritual eine positive, schützende Funktion erkennen: Die trauernde Person sollte sich keine Sorgen um ihr Auftreten machen und darf sich ganz auf ihre Trauer und die organisatorischen Erfordernisse konzentrieren. Niemand würde sie stigmatisieren, wenn sie nicht zurechtgemacht zu diesem schwierigen Ereignis antritt. Das Kleidungsritual soll also einen erforderlichen

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Schutz­bereich markieren: Hier lebt jemand in einer besonderen Situation. ­Darauf gilt es, Rücksicht zu nehmen. Der Leichenschmaus

Eines der ältesten Trauerrituale stellt der Leichenschmaus (lat.: epulum funebre) dar. Die Angehörigen laden dabei zum gemeinschaftlichen Essen und/oder Trinken ein (Schmid, 2014). Das Ritual findet immer direkt nach der Beerdigung statt, kann regio­ nal jedoch variieren. Ursprünglich diente der Leichenschmaus zur Abwehr von bösen Geistern und Dämonen. Da die Trauernden bei der Beisetzung mit dem Tod und auch mit dem Totenreich konfrontiert wurden, könnten sie vulnerabel gegenüber den dort ansässigen bösen Geistern sein. Deshalb wurde Brot mit scharfen oder bitteren Gewürzen bestreut. Die Schärfe oder Bitterkeit sollte den Körper stärken und so die Abwehrkraft erhöhen. Heute wird das Ritual des Leichenschmauses eher als Übergangs- oder Integrationsritual gesehen. Die Hinterbliebenen werden in der schwierigsten Phase der Trauer nicht alleingelassen. Nach Beerdigungen treten häufig emotional sehr herausfordernde Phasen auf: Der Druck und die Ablenkung durch die Organisation und Informationsweitergabe an Freunde und Verwandte sind vorbei. Dann fühlen sich viele Trauernde hilflos und erleben einen Kontrollverlust. Setzen sich nun aber Freunde und Familie zusammen, sprechen über die positiven Erlebnisse mit dem Verstorbenen mit all seinen Besonderheiten und Eigenarten, entsteht das Gefühl von Nähe zum Verstorbenen, verbunden mit Wertschätzung. Die Trauernden erfahren in der Gemeinschaft gegenseitige Stütze. Die oft entstehende Heiterkeit hilft in dieser akuten Trauersituation, Anspannung abzubauen und emotionalen Krisensituationen vorzubeugen. Über den Verstorbenen sollte dabei nur Gutes berichtet werden, seine Fehler und Schwächen sollten eher außen vor gelas-

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sen werden. Manche Kulturen fürchten bei einem Regelverstoß weitreichende Folgen. Beispielsweise könnte der lange Arm des Verstorbenen aus dem Jenseits durch Spuk oder Heimsuchung Schlimmes verursachen. Auch die Sorge, deshalb selbst dem Verstorbenen zu folgen und dann durch die unmoralische Tat in die Hölle zu kommen, wird immer wieder überliefert. Einen ganz praktischen Vorteil hat dieser Ritus außerdem: Trauergäste, die von weither angereist sind, die Sargträger, die auch körperliche Arbeit geleistet haben, und die direkten Hinter­ bliebenen, die gerade eine sehr herausfordernde Situation erlebt haben, können sich stärken. Man sollte nie aus den Augen verlieren, wie anstrengend und kräftezehrend die Trauerarbeit als solche ist. Dieser kurze Ausflug zu den Wurzeln diverser Rituale verdeutlicht: Rituale, welche heutzutage »abergläubisch« scheinen, haben ihre sinnhaften Wurzeln und können, selbst wenn nicht alle Teilnehmenden den gleichen Glauben an die Wirkung des Rituals teilen, auf unterschiedlichen Ebenen unterstützend bei der Trauerarbeit wirken. Mit einem zunehmenden Verlust von überlieferten Traditionen und Riten sind wir in unserer heutigen Gesellschaft mehr denn je gefragt, Rituale wiederzuentdecken oder neu zu gestalten, die im Sterbeprozess hilfreich sind. Viele der folgenden Methoden zum Umgang mit außergewöhnlichen Situationen im Kontext Tod beziehen deshalb bewusst rituelle Aspekte mit ein. Und gleichzeitig haben wir heute auch die Freiheit, uns von Ritualen zu lösen, mit denen wir nichts verbinden, die von außen bestimmt werden. Für Trauernde ist es eine besondere Herausforderung, einen Weg zwischen Tradition und Neuorientierung zu finden.

Umgang mit Aberglauben   95

Umgang mit Aberglauben in den verschiedenen Trauerphasen In der Art, wie Menschen trauern, lassen sich durchaus Strukturen erkennen. Diese Strukturen klassifizierten diverse Autorinnen und Autoren auch als Trauerphasen (Kübler-Ross, 1971, 1983). Verena Kast (2018) beschreibt wie viele andere Trauerforscher und -forscherinnen sehr treffend die unterschied­lichen Phasen der Trauer: Die erste Phase des »Nicht-wahrhaben-­ Wollens«, die zweite Phase der »aufbrechenden Emotion«, die dritte Phase des »Suchens und sich Trennens« und abschließend die vierte Phase des »neuen Selbst- und Weltbezugs«. Dabei bekräftigt sie, wie individuell die Trauerverläufe sind. William J. Worden (2011) spricht von »vier Traueraufgaben«. Im Folgenden soll in aller Kürze Bezug auf diese Phasen genommen werden unter der Fragestellung, inwiefern Aberglaube in den entsprechenden Trauerphasen eine Rolle spielt und wie methodisch damit umgegangen werden könnte. Grundsätzlich ist festzustellen, dass außergewöhnliche Erfahrungen in allen Trauer­ phasen auftreten können. Es gibt zahlreiche Beispiele, in denen von spukhaften Phänomenen rund um den Todeszeitpunkt oder kurz nach dem Tod berichtet wird. Typischerweise werden diese Phänomene in einen Zusammenhang mit der verstorbenen Person gebracht und gern als »letzter Gruß« interpretiert. In vielen Fällen sind solche Erlebnisse eine Ressource. Doch auch in den weiteren Phasen spielen außergewöhnliche Erfahrungen und entsprechende Konzepte von »Aberglauben« eine wichtige Rolle.

Erste Phase: Nicht-wahrhaben-Wollen

Was sich bei fast allen Trauernden finden lässt, ist der als sehr schmerzhaft erlebte akute Verlust des geliebten Menschen. Der

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Trauernde empfindet so große Fassungslosigkeit, dass er diese Situation nicht wahrhaben will. In dieser ersten Phase treten häufig synchronistische oder externale Erlebnisse auf. »Mein geliebter Mann starb bei einem Autounfall. Ich hatte in den Tagen nach seinem Tod das Gefühl, er sei noch anwesend. Ich sah seinen Schatten. Seine Stiefel standen immer wieder im Flur, obwohl ich sie wegräumte. Auf meinem Handy war eine Nach­ richt, die er wohl noch vor seinem Tod geschickt hatte: ›Gelieb­ ter Schatz, mir geht es gut. Mach Dir keine Sorgen um mich. Ich komme heute später heim. Ich bin immer bei Dir.‹ Ich las diese Nachricht immer wieder. Es fühlte sich an wie ein letzter Gruß. Es half mir irgendwie, mit dem schlimmsten Schmerz zurechtzukom­ men. Ich hatte was zum Dranfesthalten.«

Solche und ähnliche Erlebnisse kennen ­Trauerbegleiterinnen und Trauerbegleiter wahrscheinlich aus ihrer Arbeit. Wie kann nun damit umgegangen werden? Zunächst ist es wichtig, zu akzeptieren, dass in dieser ersten Phase oft ein Nicht-­wahr­ haben-Wollen vorherrscht. Man könnte denken, es wäre nur bei einem plötzlichen und unvorhersehbaren Todesfall mit Schock und einer Art Erstarrungsmodus zu rechnen. Erfahrene Begleitende wissen aber, dass es nach langer Krankheit genauso erschütternd sein kann, mit dem Tod konfrontiert zu werden. In dieser Phase begegnen wir auf der einen Seite Trauernden, die auch körperlich erstarrt wirken. Sie sind kaum dialogfähig, wirken apathisch und verstört. Auf der anderen Seite gibt es aber auch diejenigen, die völlig außer Rand und Band scheinen. Sie schreien, schlagen um sich, können sich kaum beruhigen und sind oft auch kommunikativ schwer erreichbar. All diese Reaktionen, egal in welchem Erscheinungsbild sie auftreten, sind Zeichen für die tiefe Fassungslosigkeit, Hilflosigkeit und Verzweiflung.

Zweite Phase: Aufbrechende Emotion   97

In dieser Phase ist Stabilisierung vordringlich. Treten also außergewöhnliche Erfahrungen auf, dann ist es hilfreich, diese gemeinsam mit den Trauernden so zu interpretieren, dass sie als stabilisierend erlebt werden und nicht als zusätzliche Belastung. Meist sprechen Betroffene solche Erfahrungen erst viel später an, wenn sich der erste Schock gelegt hat. Wenn solche Erlebnisse retrospektiv thematisiert werden, ist es hilfreich, die oben genannten Grundsätze im Umgang mit außergewöhn­ lichen Erfahrungen zu berücksichtigen. Aus vielen Fällen entstand der Eindruck, dass derartige Erfahrungen in dieser ersten Phase möglicherweise die Funktion haben, den Schmerz zu lindern und einen besseren Übergang und bewussteren Abschied zu ermöglichen. Viele Betreffende finden beispielsweise die Vorstellung tröstlich, der Verstorbene habe sich nach seinem Tod noch verabschiedet. Auch das Gefühl einer Präsenz wird häufig beschrieben und hat, richtig eingebettet, oft eine stabilisierende und beruhigende Wirkung. Allerdings spielen gerade in dieser ersten Phase auch Rituale eine wichtige Rolle, damit es den Trauernden später besser gelingt, den Verstorbenen loszulassen und gehen zu lassen. Der Tod eines Menschen ist ein höchst bedeutsamer Moment – mit dieser Bedeutsamkeit umzugehen, gelingt gerade auch durch rituelle Handlungen.

Zweite Phase: Aufbrechende Emotion »Ich hörte seine Schritte in den Wochen nach seinem Tod immer wieder. Er hatte eine besondere Art zu gehen, weil er sein Bein durch eine Kriegsverletzung immer etwas nachzog. Diese Schritte konnte ich immer wieder im oberen Stockwerk hören. Anfangs dachte ich immer, Johann ist da, bis mir schmerzlich bewusst wurde, dass Johann verstorben ist.«

98   Umgang mit Aberglauben

Außergewöhnliche Erlebnisse und ihre entsprechenden Interpretationen spielen jedoch nicht nur in der Akutphase, wo es sich meist eher um die beschriebenen synchronistischen Erlebnisse handelt, sondern auch in der Folgephase eine wichtige Rolle. Das kurze Fallbeispiel ist sozusagen prototypisch für die zweite Phase, wo häufig von externalen Erlebnissen berichtet wird. Es zeigen sich hier unterschiedlichste Spielarten, doch meist geht es um Gefühle und den Umgang damit. Hinterbliebene erleben Wut und Zorn genauso wie Selbstmitleid, Schmerz oder auch Angst. Manchmal ist auch kein Platz für Gefühle, wie das folgende Beispiel zeigt: »Ich musste gleich nach der Beerdigung viel regeln. Dann ging das Leben weiter, ich hatte das Gefühl, es drehte sich noch schneller als vorher. Es gab so viel zu tun. Das Haus meiner Mut­ ter musste geräumt werden, das Auto verkauft. In all dieser Zeit blieb kein Platz für Tränen. Was mich wunderte, war, dass über­ all, wo ich war, immer eigenartige Dinge mit Wasser passierten. Es ging los mit einem Rohrbruch. Dann hatte ich Wasser im Kel­ ler. Dann waren im Haus meiner Mutter überall Pfützen. Ich hatte den Eindruck, meine Mutter konnte keine Ruhe finden. Irgend­ wie brachte ich das ganze Wasser mit ihr in Verbindung. […] Erst als ich irgendwann mal an einem Punkt war, dass ich den Tränen freien Lauf ließ, hörten diese eigenartigen Phänomene mit Was­ ser auf. Heute glaube ich, diese Phänomene stehen in irgendeiner Verbindung zu meinen zurückgehaltenen Gefühlen von Trauer. Ich nehme mir bewusster Zeit für meine Mutter, ich lasse es zu.«

In dem Beispiel wird auch eine Möglichkeit des Umgangs mit außergewöhnlichen Erfahrungen deutlich: Der betroffenen Person gelingt es schließlich, einen Selbstbezug herzustellen; was sie anfangs als das Einwirken der Mutter interpretierte, kann sie nun als Ausdruck ihrer eigenen Gefühle sehen. Hier kön-

Zweite Phase: Aufbrechende Emotion   99

nen Trauerbegleitende unterstützend wirken, indem sie durch gezielte Fragen helfen, solche Selbstbezüge herzustellen und dem Betroffenen dadurch Handlungsraum zurückzugeben. Doch es gibt auch zahlreiche Betroffene, die beispielsweise noch Monate nach dem Tod die Präsenz des Verstorbenen spüren. Oft wirkt dies tröstlich und kann, wie bereits im ersten Teil dieses Buches gezeigt, hilfreich dabei sein, offene Themen zu klären und langsam und im eigenen Tempo Abschied zu nehmen. Erlebnisse in diesem Sinn als Ressource wahrzunehmen, als Hilfestellung in der Bearbeitung von Trauer oder als Möglichkeit eines bewussten Abschiedsprozesses, setzt voraus, dass wir solche Erfahrungen nicht als Aberglauben disqualifizieren, sondern einen respektvollen Umgang damit finden. »Ich lebe mit meinem verstorbenen Mann. Er ist immer bei mir. Er ist seit acht Jahren tot, aber es fühlt sich nicht so an. Ich kann ihn alles fragen. Ich pflege kaum Kontakte, weil ich ja ihn habe. Er gehört zu mir und ich zu ihm. Ich kann ihn manchmal auch spü­ ren, wie er mir beispielsweise über den Kopf streicht. In letzter Zeit jedoch merke ich, dass es ihm schlechter geht. Vielleicht, so frage ich mich, habe ich ihn zu lange hier festgehalten und er fin­ det den Weg nicht mehr zurück. Was kann ich tun?«

Dieser auf den ersten Blick etwas bizarre Fall verdeutlicht, was geschehen kann, wenn in der zweiten Phase keine Trauer­arbeit geleistet wird und außergewöhnliche Erfahrungen Mittel zur Vermeidung der Trauer werden. Hier klammert sich die Hinterbliebene an Erlebnisse, sie sucht regelrecht danach und lässt nicht los. Daher ist es in dieser Phase wichtig, die Erlebnisse nicht zu überhöhen, sie sozusagen als hilfreiches Angebot zur Bearbeitung wahrzunehmen, gleichzeitig jedoch weiter am Abschiedsprozess zu arbeiten und Gefühlen von Trauer Raum zu geben.

100   Umgang mit Aberglauben

Trauerbegleitende können in dieser Phase der trauernden Person Möglichkeiten der »Kontaktaufnahme« anbieten, beispielsweise könnte ein Brief an den Verstorbenen geschrieben oder ein Bild für den Verstorbenen gemalt werden oder ein inneres Zwiegespräch mit ihm geführt werden. Diese Maßnahmen sind gerade dann hilfreich, wenn Betroffene die Kontaktaufnahme als vom Verstorbenen ausgehend erleben und damit Schwierigkeiten haben. Selbst in Kontakt zu treten, hilft, wenn der Kontakt von außen als unvorhersehbar, störend und überfordernd empfunden wird. Oft gibt dies Gelegenheit, nochmals in einen Klärungsprozess zu kommen. Typischerweise gewinnen in dieser Phase Schuldgefühle die Oberhand. Eine Unterstützung beim Ausdruck und Verstehen der hochkommenden Emotionen kann hier maßgeblich zum gelingenden Trauerprozess beitragen. Wenn Gefühle oder auch Gefühlsausbrüche zugelassen werden, kann die Trauer weiter verarbeitet werden. Hier geht es ums Zulassen, Wahrnehmen und So-sein-Dürfen, wie man gerade fühlt. Ablenkung oder Verdrängen führt in der Regel dazu, dass der Trauerprozess irritiert wird oder stagniert. Außergewöhnliche Erlebnisse hier in den Trauerprozess zu integrieren bzw. ihnen im Verarbeitungs­ prozess eine Bedeutung zu verleihen, kann also in jeglicher Hinsicht hilfreich sein. In manchen Fällen entwickeln sich in dieser Phase aber auch angstgesteuerte Glaubenskonzepte. Aberglaube kann sich dann durch extrinsisch motivierte Handlungen äußern. Dazu gehören vor allem angstgesteuerte Handlungen oder Rituale, die den Zweck verfolgen, innere Spannungen zu reduzieren. Ängste, die aus Glaubensvorstellungen entstehen, können in dieser Phase sehr vielfältig sein. So fürchten manche Trauernde, der Verstorbene habe noch keinen Seelenfrieden gefunden und geistere durch die Wohnung, andere haben Angst davor, heimgesucht zu werden, wieder andere fürchten, den Verstorbenen zu rasch zu vergessen.

Dritte Phase: Suchen und sich trennen   101

Solche für Außenstehende manchmal irrational erscheinenden Ängste zu thematisieren und ihnen Raum zu geben, ist in dieser Phase wichtig. Auch kann es hilfreich und notwendig sein, auftretende Spukerlebnisse zu normalisieren und nach deren Bedeutung für den Trauernden zu fragen. Für manche ist es tröstlich, auch sensitiv wahrzunehmen, dass der Verstorbene »irgendwie noch anwesend ist«, für andere hingegen ist dies eine beängstigende Vorstellung. Manch einer fürchtet sogar um die eigene psychische Gesundheit und hat Angst, verrückt geworden zu sein. Grundsätzlich gilt: Je bewusster unausgesprochene und verdrängte Themen werden, die möglicherweise hinter solchen Geschehnissen liegen, desto eher nehmen diese Vorkommnisse ab. Aufgabe des Trauerbegleiters, der Trauer­begleiterin ist es also, Trauernde auch dabei zu begleiten, auf verdrängte Emotionen und Themen zu blicken. Auch kann es sein, dass die Wahrnehmung den Trauernden in dieser Phase einen Streich spielt. Wenn über viele Jahre bestimmte Geräusche oder Gerüche oder andere Eigenheiten gehört, gefühlt, wahrgenommen werden, kann es passieren, dass das Gehirn das Bild der Realität automatisch um diese Eigenheiten ergänzt. Dies ist ein sehr häufiges Phänomen, gerade dann, wenn über lange Zeit bestimmte Gewohnheiten wahrgenommen wurden. Irritierend wirkt es in dem Moment, in welchem sich die trauernde Person bewusst wird, dass der Betreffende bereits verstorben ist. Es ist wichtig, hier auch ein psychoedukatives Angebot zu machen.

Dritte Phase: Suchen und sich trennen

Die Trauernden fühlen sich in dieser Phase oft verloren und suchen in Erinnerungen oder an gemeinsamen Orten Halt. Es wird das Lieblingsessen des Verstorbenen gekocht und der Tisch wird mit einem zusätzlichen Teller gedeckt. Intuitiv werden Gewohnheiten

102   Umgang mit Aberglauben

des Verstorbenen übernommen. In dieser Phase werden oft Ähnlichkeiten bei Fremden erkannt. Das Gefühl, der Verstorbene sei gar nicht tot oder er habe ein Zeichen geschickt, ist nicht unüblich. Eine Möglichkeit der gelungenen Trauer kann hier eine Art inneres Zwiegespräch an einem Ort sein, den die trauernde Person mit dem Verstorbenen verbindet. In dieser Zeit entsteht immer wieder ein Begegnungsgefühl. Der Eindruck, Kontakt zum Verstorbenen zu finden, egal durch welche Handlung, birgt oft viel Ambivalenz: einerseits die Freude und das tiefe Gefühl der Verbundenheit, andererseits das schmerzhafte Gefühl, danach wieder getrennt zu sein. Das Gefühl von Verlust bekommt vorrangige Bedeutung. Der überaus positive Aspekt dieser sehr kräftezehrenden Phase ist der anstehende Wendepunkt. Die trauernde Person kommt nicht um die Wahl eines Lebens ohne den Verstorbenen herum. Viele Betroffene berichten von einer leichteren Trennung, je sinnhafter das Erlebte und das Leben des Verstorbenen scheinen. Je mehr Erinnerungen, je mehr Gegenstände, Gedanken oder auch Ideologien danach weitergegeben werden können oder Wert haben, umso leichter fällt die Akzeptanz der Trennung. In dieser Phase können Begleitende Erlebnisse aus der Vergan­ genheit aufgreifen. Aktives Nachfragen zu Details aus der Vergangenheit oder auch gemeinsames Weiterspinnen der Fantasien können heilsam wirken. Auch Fantasien zum Überleben des Verstorbenen sind zulässig. Das Anfertigen von Erinnerungs­stücken (z. B. Fotoalben) kann hilfreich sein. Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. Die trauernde Person kann am Ende dieser Phase über Neuorientierung sprechen. Typisch sind Fragen zur »Erlaubtheit« von Zukunftsplänen (neuer Partner, neue Wohnung etc.). Viele Trauernde berichten, dass sie nach dem Tod eines Menschen eine Art Präsenz spüren oder sogar eine Art Zwiesprache halten können. Dieses Phänomen wird kulturübergreifend beschrieben. Oben wurden bereits diverse Fälle aufgegriffen, wel-

Dritte Phase: Suchen und sich trennen   103

che beschreiben, wie Trauernde die Präsenz von Verstorbenen spüren. Für einige ist dies ein tröstliches Erleben. Allerdings sollte immer auch bedacht werden, welche Beziehung zwischen Hinterbliebenen und Verstorbenen zu Lebzeiten geherrscht hat. Wenn die hinterbliebene Person etwa Angst vor dem langen Arm der bösen Schwiegermutter hat, die aus dem Totenreich schlimme Dinge bewirken könnte, hat die supportive Option dieses Kon­ strukts schnell Grenzen. Auch das Fallbeispiel »Gewalttätiger Ehemann« im Abschnitt »Belastende außersinnliche Erfahrungen im Zusammenhang mit Tod« (S. 58) greift dies auf. Allerdings bieten auch solche negativen Kontakt­erlebnisse positive Möglichkeiten: beispielsweise zu lernen, den prügelnden Ehegatten in seine Schranken zu verweisen. Auch die unliebsame Schwiegermutter, welche sich nach dem Tod präsent zeigt, bietet die Möglichkeit, unausgesprochene Konflikte auf den Tisch zu bringen und post mortem zu üben, sich nicht mehr alles gefallen zu lassen. Sowohl in der zweiten als auch in der dritten Phase der Trauer­ arbeit begegnen wir häufiger Glaubenskonzepten als wich­tiger Ressource. Der trauernden Person fällt es schwer, die ver­än­derte Wirklichkeit als real und gegeben hinzunehmen. Sie wünscht sich nichts sehnlicher, als ihr altes Leben wieder aufnehmen zu können. Außerdem spielt der Verlust der Handlungskontrolle eine bedeutsame psychologische Rolle. Daher können in der dritten Phase gerade solche Phänomene, die scheinbar vom Verstorbenen initiiert werden, zunehmend als störend empfunden werden. Trauernde möchten wieder Handlungskontrolle erlangen. Aus diesem Grund können hier Maßnahmen helfen, die Selbstwirksamkeit begünstigen. Glaubenskonzepte, die im Volksmund als Aberglaube bezeichnet werden, stellen in diesem Prozess eine Bewältigungsstrategie dar. Gelingt es, auch angstgesteuerten bzw. sogenannten abergläubischen Konzepten eine positive Bedeutung zu verleihen und einen Selbstbezug herzustellen, dann steht der vierten und letzten Phase der Trauerbearbeitung nichts mehr

104   Umgang mit Aberglauben

im Wege. Hinterbliebene lernen, die Welt ohne den Verstorbenen zu akzeptieren, und der Verstorbene hat einen festen Platz im Leben gefunden. Rituale und Gedenktage helfen dabei, diese innere Ordnung auch zu veräußerlichen. Die Intervalle und die Intensität von Ritualen werden immer geringer. »An wichtigen Tagen decken wir für meinen Mann mit. Das tun wir noch nach vielen Jahren. Am Geburtstag der Kinder beispiels­ weise holen wir ihn so dazu. Es ist uns ein lieb gewordenes und wichtiges Ritual geworden, meinem Mann und dem Vater meiner Kinder so einen wichtigen Platz zu erhalten.«

Vierte Phase: Neuer Selbst- und Weltbezug

Wie bereits erwähnt, würden wir vor allem solche Formen des Glaubens als Aberglauben bezeichnen, die angstgesteuert sind und damit Handlungsfähigkeiten verringern und Perspektiven einengen. Ist es gelungen, in den vorhergehenden Trauerphasen positive Selbstbezüge herzustellen, Bedeutung zu konstruieren und Erlebnisse auch als Ressource zu interpretieren, dann spielt solch ein angstgesteuerter Glaube in der letzten Phase keine Rolle mehr. Nachdem viele Emotionen durchlebt und in unterschiedlichster Form zum Ausdruck gebracht werden durften, kehrt ganz langsam Ruhe ein. Dem Verstorbenen wurde ein Platz gegeben. Am Ende dieser Phase gelingt es vielen Trauernden, neue Pläne für das Leben zu entwerfen. Bei manchen Trauernden haben sich die Perspektive auf das eigene Leben und die vorherigen Werte verändert. Auch hier können Trauernde von einer Begleitung profitieren. Allerdings ist die aktive Rolle der begleitenden Person nahezu gänzlich erloschen. Es geht eher um das Loslassen des Begleiters oder der Begleiterin, auch wenn sich ein enges Band zwischen beiden gewoben hat.

Auf die Passung kommt es an   105

Auf die Passung kommt es an Betrachtet man die unzähligen Rituale und Glaubensvorstellungen rund um Sterben, Tod und Trauer, zeigt sich, dass es keinesfalls angezeigt ist, diese von außen zu be- und entwerten. Wie bereits thematisiert wurde, gilt es vielmehr, darauf zu achten, ob Glaubensvorstellungen Züge extrinsisch oder intrinsisch motivierter Religiosität tragen. Gleichzeitig ist auch zu berücksichtigen, welche individuelle Bedeutung die Glaubensvorstellungen haben und wie diese in ein Kollektiv eingebettet sind. Nicht zuletzt zeigt auch die Betrachtung der Trauerphasen mit Bezug auf Glaubensüberzeugungen, wie vielfältig und unterschiedlich individuelle Bewältigungsmechanismen und -wege sein können. Auch hier gibt es eher aktive Herangehensweisen, aber auch passive Strategien. Aberglaube knüpft in vielerlei Hinsicht an extrinsische Konzepte von Religion an. Ist Glaube veräußerlicht, angstgesteuert, dann ist es hilfreich, Trauernde explizit auch in diesem Bereich zu begleiten. Dabei geht es wie erwähnt nicht darum zu korrigieren, sondern vielmehr den Blick wieder nach innen zu richten und einen individuellen Bedeutungsbezug zwischen Erlebnis, Interpretation und eigener Lebenssituation zu schaffen. Um Menschen, die sich von ihren Glaubenskonzepten verängstigt, bedroht oder verunsichert fühlen, in ihrer Trauer gut zu begleiten, haben sich neben den bereits genannten Haltungsaspekten einige der folgenden Maßnahmen und Methoden bewährt. Ziel ist es dabei immer, den angstgesteuerten Blick wieder mehr auf das eigene Innere zu richten und einen Bezug zwischen einem verängstigenden Erlebnis und sich selbst herzustellen. Für jeden gibt es somit eine Möglichkeit, mit dem eigenen Bedürfnis umzugehen und das Richtige für sich und seine aktuelle Situation zu finden. Wichtig ist es allerdings, auf Passung zu achten. Dazu ist vom Trauerbegleiter, von der Trauerbegleiterin

106    Methoden in der Trauerbegleitung

größte Sensibilität gefordert. In unserer individualistischen und teilweise säkularen Gesellschaft lassen sich Rituale nicht einfach überstülpen. Es bedarf eines ganzheitlichen Blicks auf die trauernde Person, deren Biografie, Vorerfahrung, deren spirituelle Überzeugungen und Fragen, um unterstützende Schritte und Maßnahmen zu planen. Genau das ist eine der wichtigsten Aufgaben für Begleitende: die Draufsicht auf genutzte Heran­ gehensweisen und Rituale mit einem guten Gespür, ob die Wahl überdacht werden oder einfach mit einem anderen Rahmen versehen werden könnte. Wie bei den Trauerreaktionen und dem Durchlaufen der Trauerphasen gibt es kein Richtig oder Falsch. Wenn sie der trauernden Person dabei helfen, psychologisch und auch physiologisch Trauer zu bewältigen, sind sie passungsfähig und deshalb auch dienlich. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, Betreffende in ihren spirituellen Herangehensweisen ernst zu nehmen. Können Rituale und Konstrukte, die oft schon in der Kindheit verwurzelt sind, in den aktuellen Trauerprozess mit einbezogen werden, können sie eine beachtliche Ressource sein.

Hilfreiche Maßnahmen und Methoden in der Trauerbegleitung Abschließend sollen in Kürze einige grundsätzliche Maßnahmen vorgestellt werden, die ganz allgemein in Trauerphasen hilfreich sind, aber gerade auch dann, wenn die trauernde Person aufgrund ihrer Glaubenskonzepte ängstlich und verunsichert ist. Diese Interventionsstrategien werden seit vielen Jahren sehr gewinnbringend von Trauerbegleitenden genutzt. Ein Urheber ist dabei jedoch nicht mehr ermittelbar.

Glas voller Glück   107

Glas voller Glück Suchen Sie sich ein schönes, großes Glas, das mindestens ein Liter fasst. Außerdem benötigen Sie viele kleine bunte Papier­ zettel. Das Papier sollte sich gut anfühlen und eine angenehme Oberfläche haben. Schreiben Sie auf jeden Zettel eine beson­ ders schöne Erinnerung oder einen besonderen Moment, der Sie mit Freude und Glück erfüllt. Schließen Sie die Augen, erin­ nern Sie sich ganz genau an diesen Moment. Erinnern Sie sich an so viele Details wie möglich und stellen Sie sich die Situa­ tion vor Ihrem inneren Auge so realitätsnah wie irgend möglich vor. Nehmen Sie ganz bewusst wahr, was Sie in diesem Moment gefühlt haben. Benennen Sie das Gefühl genau. Versuchen Sie, das Gefühl tief in sich aufzunehmen. Schreiben Sie Ihre Erin­ nerung so detailliert wie möglich auf. Notieren Sie auch gern das Gefühl dazu. Ein kleines Erinnerungsstück, ein Foto oder vielleicht eine kleine Muschel aus dem Urlaub kann den einen oder anderen Zettel ersetzen. Nehmen Sie sich ganz viel Zeit. Jeder Mensch besitzt solch ein Glas mit vielen kleinen Kostbar­ keiten und Glücksmomenten. Es dürfen auch ganz viele Gläser gefüllt werden. In besonders schwierigen Momenten kann so viel Glück aus dem Glas entnommen werden, wie es gerade braucht. Manchmal reicht eine Erinnerung nicht aus und es braucht viel mehr. Ihr Vorrat wird irgendwann unerschöpflich sein.

Diese Technik hat viele Vorteile. Anfangs kann das Erinnern an schöne Momente mit dem Verstorbenen helfen, einen aktiven Trauerprozess in Gang zu bringen. Gefühle, die wichtig in der Trauerarbeit sind, werden so hervorgebracht und können verarbeitet werden. Die trauernde Person hat dabei die Möglichkeit, Häufigkeit, Intensität und Dauer ihrer aktiven Verarbeitungs­ phasen selbst zu bestimmen. Das Glas kann nach Belieben gefüllt werden. Die Pausen zwischen der aktiven Bewältigungszeit kön-

108    Methoden in der Trauerbegleitung

nen selbst bestimmt werden, um Ruhe- und Verarbeitungs­phasen in optimaler Balance zu gewährleisten. Die Wertschätzung der individuellen Trauerarbeit bei den verschiedenen Familien­ angehörigen kann damit unterstützt werden. Es entstehen nicht nur retrospektiv schöne Momente, denn die trauernde Person füllt ihr Glas mit immer mehr Ereignissen aus der Gegenwart. So erhält die verstorbene Person einen wichtigen Platz im Leben der Hinterbliebenen. Dieses aktive Vorgehen ist eine gute Prävention bei sich verselbstständigenden »Kontakten von drüben«, die mit Ängsten verbunden sind. Auch Kinder können dabei gut einbezogen werden. Den unsichtbaren Ängsten, den gefürchteten Geistern wird mit einem sichtbaren Gegenstand begegnet. Die passive Rolle, in welcher sich Betroffene oft fühlen, wenn sie den Eindruck haben, dass die verstorbene Person Kontakt zu ihnen aufnimmt, wird durch ein aktives Vorgehen durchbrochen.

Notfallkoffer für Akutsituationen Suchen Sie sich einen Schuhkarton oder eine große Kiste und viele kleine Zettel, die sich in der Hand schön anfühlen. Schrei­ ben Sie alles auf, was Ihnen in schlechten Zeiten guttun könnte. Manchmal ist es in Notfallsituationen schwierig, einen klaren Kopf zu behalten und Gedanken zu Ende zu bringen. Deshalb versuchen Sie, die Maßnahmen so detailliert wie möglich aufzu­ schreiben, damit Sie im Notfall unmissverständlich und ganz klar zu befolgen sind. Denken Sie auch an kleine Dinge, die guttun könnten. Nehmen Sie in schlimmen Momenten so viele Zettel heraus, bis Sie die richtige Maßnahme für den aktuellen Augen­ blick gefunden haben. Ihr Koffer wächst mit der Zeit zu einem Schatz an Möglichkeiten. Legen Sie sich auch kleine Leckereien oder eine schöne CD in den Notfallkoffer. Oder ein Buch mit Ihren Lieblingscartoons.

Körperarbeit   109

Diese Intervention hat eine ähnliche Wirkung wie die obige. Das größte Problem bei Aberglauben ist in der Regel die Angst: Angst vor dem Jenseits, Angst vor Geistern oder die Angst davor, etwas falsch zu machen. Wenn solche Ängste oder die Trauer akut werden, kann der Notfallkoffer zum Einsatz kommen.

Körperarbeit

Sowohl regelmäßiger Sport als auch körperliche Betätigung ermöglichen eine bessere emotionale Regulationsfähigkeit (Evans u. Hardy, 1995; Ley u. Barrio, 2019). Die Körpergrenzen werden gespürt und somit auch sinnbildlich die eigenen Grenzen, über die hinaus einen nicht nur die Trauer immer wieder führt. Auch bei manchen außergewöhnlichen Erlebnissen empfinden es Betreffende als grenzüberschreitend oder belästigend, wenn sie den Eindruck haben, aus dem Jenseits kontaktiert zu werden. Körperliches Training hilft, die eigenen Grenzen klarer abzustecken. Zudem werden Cortison, Endorphin und Serotonin ausgeschüttet. Diese Hormone werden normalerweise bei Schmerz- und Stressmomenten freigesetzt und helfen nun bei der Regulation von emotionalem Stress und Trauer. Bevor sich die betroffene Person ein neues Lebensziel stecken kann, ist es eventuell hilfreich, sich als ersten kleinen Schritt ein kleines sportliches Ziel zu setzen. Ein weiterer Nutzen der sportlichen Betätigung ist die physische Stärkung. Der lange und herausfordernde Trauerprozess ist für viele kräftezehrend. Umso besser, wenn der Körper in Kraft und Ausdauer gestärkt wird und so intensive und schmerzhafte Episoden besser tragen kann. Von einem langen Dauerlauf oder einer anstrengenden Radtour können Betreffende also auf unterschiedlichen Ebenen profitieren.

110    Methoden in der Trauerbegleitung

Starke Reize

Gerade dann, wenn Betroffene von internalen Erlebnissen be­­ richten, also dem Gefühl, vom Geist des Verstorbenen auch körperlich heimgesucht zu werden, sind neben einer aktiven Körperarbeit auch weitere starke Reize hilfreich. Gleichzeitig hilft dies auch, wenn Trauernde Angst aufgrund ihrer abergläubischen Vorstellungen entwickeln. Die möglichen Interventionen sind hier vielfältig und reichen von einer kalten Dusche oder einem Bad in einem kalten See über Fußbäder bis hin zu kühlenden Armbädern, ganz im Sinne von Kneipp. Ein ähnlicher Effekt kann durch die Nutzung von Pfefferminz oder Kampfer erzielt werden. Wenn keine Allergien vorhanden sind (bitte dennoch beim ersten Gebrauch vorsichtig an einer kleinen, gut zugänglichen Stelle anwenden), kann ein entsprechendes Öl sogar auf den ganzen Körper aufgetragen werden. Durch den entstehenden Kältereiz setzen die gleichen Mechanismen wie bei der kalten Dusche ein. Manchmal hilft es auch, scharfe Bonbons oder scharfes Essen zu sich zu nehmen. Auch olfaktorische Reize sind seit alters her ein bekanntes Mittel bei nervlicher Überreiztheit. Diese Maßnahmen sollten, wie alle anderen, immer gut eingebettet sein und einen wertschätzenden Rahmen haben. Bei jeder Intervention, egal welchen Umfangs, sollte die Stärkung von Autonomie, Selbstwert und Selbstwirksamkeit im Mittelpunkt stehen. Jede trauernde Person entscheidet selbst, welches Werkzeug sie benutzen will und kann, denn sie kennt sich und ihren Körper am besten.

Gefühlsarbeit   111

Reizreduktion

Ein aufmerksamer Umgang mit sich selbst kann aber auch viel einfacher stattfinden. Viele Reize von außen sind besonders in der akuten und schwierigen Trauerzeit anstrengend und schnell als Überlastung wahrzunehmen. Eine Reizabschirmung und bewusste Fokussierung auf angenehme Reize sind sehr hilfreich. Dazu gehört ein Abschirmen von medialen Reizquellen. Trauernde berichten es als wohltuend, wenn Smartphone-, Fernseherund PC-Nutzung deutlich reduziert werden. Auch die ständige Berieselung über Social Media durch Hiobsbotschaften aller Art ist für viele kräftezehrend. Die bewusste Beschäftigung mit einer guten Lektüre und somit mit einer selbst gewählten und thematisch umgrenzten Aufgabe lässt die Gedanken zur Ruhe kommen und ermöglicht vielleicht sogar eine kleine kognitive Auszeit.

Gefühlsarbeit

Immer wieder ist zu beobachten, dass sich außergewöhnliche Erlebnisse gerade dann in besonderem Maße einstellen, wenn kein Zugang zur eigenen Gefühlswelt besteht. Die Erlebnisse haben dann sozusagen die Funktion, hier einen Zugang zu schaffen, und wollen auf verdrängte Gefühle aufmerksam machen (siehe Spuk). Wie bereits beschrieben, ist es sinnvoll, die emotionalen Höhen und Tiefen auch nach außen zu bringen. Nur wenn Gefühle zugelassen werden, können sie verarbeitet werden. Gefühle begegnen uns nicht ohne Grund. Sie sind wichtig und wollen uns wichtige Botschaften mit auf den Weg geben. Sei es das Gefühl der Scham, das uns darauf aufmerksam machen will, die eigene Schuld endlich zu klären – wenn auch nur für uns selbst. Das Gefühl der Traurigkeit möchte uns vielleicht sagen, dass der Verlust weh tun darf. Diese Ambivalenz der Gefühls­

112    Methoden in der Trauerbegleitung

achterbahn zwischen Hoffnungslosigkeit und Momenten des Glücks ist oft schwer erträglich, besonders wenn auch hier starke Normierungen oder extrinsische Glaubenskonzepte bestehen. Grundsätzlich sollte dazu geraten werden, den Umgang mit Alkohol oder sonstigen Substanzen zu regulieren. Der Trauer­ prozess kann durch deren Konsum stark beeinträchtigt werden. Ähnlich wie andere aktive Verdrängungsmechanismen wirkt auch Alkohol- oder Substanzmittelkonsum negativ auf die Trauer­bearbeitung. Die Trauerarbeit wird dadurch verzögert und zieht sich deutlich länger hin. Zudem lernt die trauernde Person, den Prozessen ausgeliefert zu sein und selbst keine Handlungsregulation herstellen zu können. So sinken Selbstwirksamkeit und Kontrollmechanismen.

Beziehungen aktivieren

Der Tod eines Menschen stellt gewissermaßen einen radikalen Beziehungsabbruch dar. Bindung und Beziehung spielen bei außergewöhnlichen Erfahrungen oft eine wichtige Rolle. Ein hilfreiches Mittel in der fortgeschrittenen Phase ist die Aktivierung des sozialen Netzwerks (Kreicbergs, Lannen, Onelov u. Wolfe, 2007; Kaunonen, Tarkka, Paunonen u. Laippala, 1999). Zur prospektiven Lebensplanung gehören auch alte und neue Kontakte. Besonders hilfreich ist die Empfehlung, in Beziehungen mit irritierenden Situationen offensiv umzugehen und die Situation bewusst wahrzunehmen. So können Missverständnisse schnell aus dem Weg geräumt werden und soziale Kontakte gelingen besser. In akuten Krisenzeiten kann sozialer Kontakt mit engen Freunden elementarer Rettungsanker sein. Manche Trauernde können dabei auf ein ganzes Netzwerk von lieben Begleitern und Begleiterinnen zurückgreifen.

Beziehungsgeschichte explorieren   113

Beziehungsgeschichte explorieren

Für Trauernde und Trauerbegleitende ist es zunächst wichtig zu explorieren, wie die Beziehung zum Verstorbenen war. In den Beispielen haben wir gesehen, dass gerade dann Spukerfahrungen besonders belastend sind, wenn die Beziehung zum Verstorbenen nicht positiv war. Dann beängstigt die Vorstellung, dieser könnte sich noch in der Wohnung herumtreiben und durch Geräusche oder Ähnliches auf sich aufmerksam machen. Oft ist es entlastend, dieser Beziehung Raum zu geben, die Beziehungsgeschichte der Betroffenen zu hören und herauszufinden, ob es ungeklärte Themen gibt. Fühlen sich Angehörige durch Erlebnisse, die sie dem Verstorbenen zuschreiben, belastet, geht es also weniger darum, diese Erlebnisse zu rationalisieren, sondern sie vielmehr als Gesprächseinladung zu sehen. Eine schöne Methode zur Exploration von Beziehungen stellt beispielsweise die Arbeit mit der Time-Line dar, die mit Bildkarten oder kleinen Gegenständen die Beziehungsgeschichte mit der verstorbenen Person nachzeichnet. »Ich war über viele Jahre völlig abhängig von meinem Mann. Obwohl er mehrere Affären hatte, blieb ich bei ihm, weil ich Angst hatte vor einem Leben ohne ihn. Er behandelte mich nicht nett, eher wie eine Bedienstete, und er machte kein Hehl ­daraus, wenn er sich wieder mit ›seinen‹ Frauen traf. Nach seinem Tod fiel ich in ein tiefes Loch. Ich merkte jedoch auch, dass das Leben ohne ihn gar nicht so schlimm war. Aber ich verurteilte mich dafür, dass ich das all die Jahre mit mir habe geschehen lassen. In den Wochen nach seinem Tod hörte ich seine Schritte in unserem Haus. Mehrfach schlossen sich die elektrischen Rollläden, und ich roch sehr intensiv seinen Geruch. Mich machte das sehr wütend. Ich wollte ihn endlich los sein. Ich habe in dieser Zeit immer wie­ der mit dem Geist geredet. Ihm gesagt, dass er gefälligst zu

114    Methoden in der Trauerbegleitung

Christine gehen und mich in Ruhe lassen soll. Ich habe alle Dinge meines Mannes weggegeben und habe Platz geschaffen. Der Geist hat mir geholfen, dass ich diese Wut, die sich über all die Jahre in mir angestaut hatte, entladen konnte. Die Wut, meine besten Jahre mit diesem treulosen und desinteressierten Mann verloren zu haben. Die Wut auf Christine, der er teure Geschenke gemacht hatte. Heute bin ich froh, dass sein Geist noch bei mir war. Dadurch hatte ich ein Ventil für meine Wut.«

Fragen nach der Herkunft von Glaubensüberzeugungen

Nicht immer entstehen Glaubensüberzeugungen aus uns selbst heraus. Auch unser Umfeld wirkt erheblich darauf ein, was wir glauben und wovon wir überzeugt sind. Glaubenssätze und Überzeugungen, die von außen an uns herangetragen werden, können in manchen Fällen eine massive Auswirkung haben: »Ich habe im März erfahren, dass ich zum zweiten Mal schwan­ ger bin. Mein Mann und ich haben uns riesig gefreut. Unerwar­ tet sollten wir bald zu viert sein. Kurz darauf bekam ich in der sechsten Schwangerschaftswoche plötzlich Blutungen. Wir fuh­ ren sofort in die Klinik und uns wurde gesagt, dass unser Kind gegangen sei. Ich war tieftraurig und konnte es gar nicht fassen. Von außen bekamen wir allerdings alles andere als Verständnis und Zuspruch zu spüren. Viele lachten darüber und sagten, es sei ja noch nicht mal ein richtiger Mensch und noch gar nicht auf der Welt gewesen. Unser Gynäkologe hatte uns sehr eindringlich über sein Glaubenskonzept informiert. Vermutlich war es seine unbeholfene Art, Trost zuzusprechen. Er sei Christ und wisse somit, dass die Seele eines Kindes erst entstehe, wenn das Herz beginne, sichtbar zu schlagen. In dieser Zeit sei es ja nur ein wertloser Zell­

Reframing   115

haufen gewesen. Er fragte mich völlig verwundert, ob ich keine Christin sei, denn jeder gute Christ wisse das doch. Eigentlich sei Gottes Gnade über uns gekommen, indem er unser Kind so früh zu sich genommen habe. Eine so frühe Bindung zum Ungebore­ nen sei schlicht Dummheit und einfach nur absurd. Das hat mich sehr zornig gemacht. Hatte ich nicht das Recht, um mein ungebo­ renes Kind zu trauern? Ich hatte von Anfang an eine sehr starke Verbindung. Mein Mann und ich haben von Anfang an abends oft mit der Hand auf meinem Bauch Zwiesprache mit unserem Ster­ nenkind gehalten. Wir hatten es von Anfang an genauso lieb wie unseren Erstgeborenen. Und nun hatte ich von meinem Arzt nicht nur die Trauer um mein Kind abgesprochen bekommen, sondern auch noch, eine gute und verwurzelte Christin zu sein.«

Es ist also notwendig, dass Trauerbegleiterinnen und Trauer­ begleiter sich Zeit nehmen, um herauszufinden, woher belastende Glaubensüberzeugungen kommen. Oft haben vermeintliche Autoritätspersonen diese vertreten. Manchmal hilft es in dieser Situation, ein Gespräch etwa mit einer Seelsorgerin oder einem Pfarrer zu führen, damit solchen Glaubensüberzeugungen ein positives und weniger belastendes Bild gegenüber­ gestellt wird.

Reframing

Oft bewährt es sich, mit der trauernden Person gemeinsam eine neue Perspektive auf bestehende Konzepte zu wagen und somit Wege hin zu einer positiven Bewertung der eigenen Wahrnehmung und soziokulturellen Herangehensweise zu beschreiten. Die bekannte Methode des Reframings wird in unterschiedlichen Arbeitsbereichen der Psychologie und Psychotherapie erfolgreich eingesetzt (Greve, 2013). Sie ist besonders gewinnbringend,

116    Sensibilisierung für Glaubenssätze

wenn sich eine Erklärung für das Erlebte oder für den Umgang mit dem Erlebten fest verankert hat. Betroffene sind von festgefahrenen Auffassungen oder unumstößlichen Überzeugungen in nahezu lähmender Art betroffen. Dabei sind sie oft nicht ohne externe Unterstützung in der Lage, ihre eigene Perspektive zu wechseln. Bei einschneidenden Erlebnissen wie der Trauer wird das Unvermögen des Perspektivwechsels stärker deutlich, denn die Betroffenen fühlen deutlich intensiver und ausschließlich negativ. So fällt der Versuch, die Situation von außen zu betrachten, oft schwer. Man könnte sagen, der Rahmen um das Bild ist schon ausgesucht und steht nicht mehr zur Diskussion. Also kann nur dieser eine Ausschnitt aus dem komplexen Bild betrachtet werden. Die begleitende Person kann in diesem Fall unterschiedliche Alternativlösungen anbieten. Immer im Blick zu haben ist die Passung zur Erlebenswelt des Betroffenen. Alternative Vorschläge können hierbei lediglich als vorsichtige und offene Fragen formuliert werden, was ein Maximum an Spielraum verlangt, diese Anregungen aufzugreifen oder abzulehnen. Durch diesen externen Impuls kann es gelingen, die Situation und deren gesamte Rahmenbedingungen in einem anderen Kontext zu beleuchten. Auch bei einem Re­­framing sollten die grundsätzlichen Glaubenssätze des Trauernden nicht infrage gestellt werden. Gewinnbringend ist es dabei in jedem Fall, in der Sprache des Betroffenen und auf Augenhöhe zu bleiben.

Sensibilisierung für Glaubenssätze und gesellschaftliche Normierungen »Männer weinen nicht« ist ein Satz, der auch heute noch von vielen geteilt wird. Umso schwieriger wird es, wenn ein Mann dann mit einer Situation konfrontiert wird, in welcher er am liebsten

Kultursensitives Vorgehen   117

weinen würde. Zur Trauer kommt ein innerer Kampf mit erlernten Normierungen. Wenn der Trauernde immer wieder von Kindesbeinen an gelernt hat, dass der Ausdruck von Gefühlen nur etwas für Schwächlinge sei und Haltung zu bewahren das Mittel der Wahl, könnte es für jeden noch so guten Begleiter schwierig werden, überhaupt mit dem Trauernden ins Gespräch zu kommen, auch wenn dieser um Trauerbegleitung bittet. Diese Trauernden sind oft doppelt bestraft. Sie fühlen die Trauer und den Schmerz genauso heftig über sich hereinbrechen wie andere, können aber aufgrund selbst auferlegter oder gesellschaftlich normierter Regeln kein Ventil nach außen nutzen. Zusätzlich spüren sie persönliche Schwäche und Versagen, weil sie so fühlen, und fürchten Gesichtsverlust und Stigmatisierung. Für viele wirkt es geradezu heilsam, wenn Trauerbegleitende erst einmal nur mit wenigen Worten da sind. Durch gemeinsames Schweigen oder Besprechen von Alltagsthemen fernab jeglicher Trauer­ situation kann es manchmal gelingen, Vertrauen aufzubauen und nach einer gewissen Zeit auch Gespräche anzubieten, in welchen Trauernde ihren Gefühlen Raum geben können.

Kultursensitives Vorgehen

Trauer ist allerdings nicht nur eine Frage der Sozialisation, son­­ dern muss überdies vor dem jeweiligen kulturellen Kontext betrachtet werden. Für die Begleitenden ist es sinnvoll, ein Grund­verständnis für diese unterschiedlichen Aspekte zu haben und sich auch Wissen über Trauerstrategien und Riten in anderen Kulturen anzueignen. Dieses Wissen über unterschiedliche kulturelle Ausprägungen von dargebotener Trauer hilft Trauerbegleitenden, Akzeptanz und Neutralität zu wahren. Gerade im Kontext von Aberglauben ist zu berücksichtigen, welche Glaubensvorstellungen zum Tod in den jeweiligen Kulturen existieren

118    Sensibilisierung für Glaubenssätze

und wie diese Glaubensüberzeugungen den Trauerprozess beeinflussen können. Ein respektvolles Umgehen mit Ritualen rund um den Tod sollte dabei eine Selbstverständlichkeit sein. Deswegen ist es bei außergewöhnlichen Erlebnissen im Zusammenhang mit Tod dringend notwendig zu erfragen, welche Rituale dem Betreffenden bekannt sind und welche kulturellen Gepflogenheiten zu beachten sind. Es empfiehlt sich, ein gewisses Hintergrundverständnis auch für die psychologische Wirkungsweise verschiedener Rituale zu haben.

Mitgefühl und Selbstreflexion

Die Begleitung Trauernder ist eine der Königsdisziplinen der psychosozialen Betreuung. Es verlangt der Begleiterin, dem Begleiter ein Höchstmaß an Einfühlungsvermögen, Offenheit, Flexibilität und Fingerspitzengefühl ab. Die eigene Sicht auf den Trauerprozess des zu Begleitenden gelingt nur, wenn die begleitende Person bereit ist, sich selbst zu reflektieren und Introspektion zuzulassen. Das kann bedeuten, sich mit eigenen biogra­ fischen Hürden konfrontiert zu sehen. Immer wieder haben wir auch mit Trauerbegleitenden gesprochen, die selbst verunsichert oder verängstigt waren, wenn Trauernde von außergewöhn­ lichen Erfahrungen rund um das Sterben berichteten. Wichtig ist es aber, dass Trauerbegleitende Betroffene dabei unterstützen, einen angstfreien und ressourcenorientierten Blick auf solche Erlebnisse zu werfen.

Theoretisches Wissen zu Trauerreaktionen   119

Theoretisches Wissen zu Trauerreaktionen und Trauerphasen Für viele Begleiterinnen und Begleitern ist es hilfreich, über das Wissen zu unterschiedlichen Trauerphasen die Gefühlswelt der Betroffenen besser zu verstehen. Um Urteile zu überdenken, Vorurteile aufzugeben und die Erlebniswelt der Trauernden von innen heraus zu verstehen, ist manchmal Wissen notwendig: Wissen über außergewöhnliche Erfahrungen, deren Häufigkeit und Verortung, Wissen über den Umgang mit und die Funktionalität solcher Erfahrungen, Wissen über den Sinn von scheinbar abergläubischen Ritualen und Wissen über Trauerprozesse. Das eigene Wissen um die unterschiedlichen und oft auch sehr eindrucksvollen Reaktionen lässt Helfende ruhiger und gelassener mit der besonderen Situation umgehen. Besonders wenn in die »ganz normale« Trauerarbeit Aberglaube und spezifische Glaubenskonzepte hineindiffundieren, ist es sinnvoll, diese Konfundierung wahrzunehmen und vor allem anzunehmen. Glaubenskonzepte können, richtig gerahmt, eine große Ressource darstellen.

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