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German Pages [289] Year 2020
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„Dumpf schlägt die Gondel auf ...“
„Eine Reise um die Erde“ von Amadeus Cavori und König DadaKovac von 19. bis 24. Oktober 2019. Edition Grüne Minna.
Thomas Hofmann
ABENTEUER Wissenschaft Forschungsreisende zwischen Alpen, Orient und Polarmeer
Böhlau Verlag Wien Köln Weimar
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Zeltgasse 1/6a, A-1080 Wien Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung vorne: Der Geologe Gerhard Fuchs (mit rotem Rucksack) mit Einheimischen bei geologischen Kartierungsarbeiten in der Bergwelt Afghanistans. Umschlagabbildung hinten: Die Buddha-Statuen bei Bamiyan in Afghanistan, die im März 2001 von Mitgliedern des Taliban-Regimes zerstört wurden. Vor- und Nachsatz: Richard Andree’s Allgemeiner Handatlas in sechsundachtzig Karten, Bielefeld-Leipzig 1881. Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Lektorat: Dido Massimo, Wien Layout: Bettina Waringer, Wien
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-21106-8
Inhalt Vorwort – Treten Sie ein!
„Sagt Ihnen der Name Pillewizer etwas?“ 11
Worüber sich Archivare freuen
Zwischen Orient und Okzident 27
Menschliche und tierische Begegnungen
„Herrgott, ein Erdbeben denke ich nur mehr“ 45
Überrascht und erschlagen bei der geologischen Arbeit
Durchs wilde Nurestan 63
Mit dem VW-Bus in den Hindukusch
„Wiener“ Polarhelden 83
Vom Kampf gegen die Kälte
„Dumpf schlägt die Gondel auf“ 105 Wie Piccard Obergurgl 1931 weltweit bekannt machte
Mit Sack und Pack unterwegs 125 Vom Fortbewegen und Mitnehmen
„Das Eierholen war aber keineswegs eine bequeme Sache“ 145 Kulinarik zwischen Völlerei und Hungerleiden
Insel, Halbinsel und Bohrinsel 165 Forscher fern der Heimat
Auf dem Weg zum Ziel 195 Zeitvertreib, Zeremonien und Zwischenfälle
Wissenschaft ahoi 219 Die Macht zur See
Aus Expeditionstagebüchern 243 Respekt vor Privatem und Persönlichem
„Was wird von meinen Forschungen bleiben?“ 253 Endstation ewiger Ruhm
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Literatur und Bildnachweis
Werner E. Piller, meinem Lehrer und Mentor, gewidmet. T.H.
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Vorwort – Treten Sie ein!
Vorwort – Treten Sie ein! Wer wissen will, wie Wissenschaft „funktioniert“, wie Forschungsalltag in der unwegsamen Natur, auf hoher See, einsamen Inseln oder in Polarregionen abseits von Labors und Büroräumen aussieht, ist hier richtig. Willkommen in der Welt der Naturwissenschaft. Willkommen bei der Suche nach dem Einschlagkrater jenes Asteroiden, der zur Auslöschung der Dinosaurier geführt hat. Liebe Leserin, lieber Leser, begeben wir uns auf Zeitreisen, folgen Sie mir ins 19. Jahrhundert. Sie sind Gast auf der Novara, bei deren Reise rund um die Welt. Sie sind bei der Suche nach Nickelerzen auf den Salomoneninseln dabei, wo es 1896 ein Gemetzel gab. Wir kommen ins Tiroler Ötztal, wo bei Obergurgl Auguste Piccard am 27. Mai 1931 landete, und schmökern in Forschertagebüchern. Freilich, bequem war und ist es für Männer und Frauen auf der Suche nach Neuem nur selten. Entbehrungen und Ärger, sei es schlechtes Wetter oder streikende Träger, standen und stehen bei Expeditionen auch im 21. Jahrhundert auf der Tagesordnung. Hier geht es weniger um wissenschaftliche Forschungsergebnisse, vielmehr handelt das Buch vom Alltag forschender Menschen, deren Hoffnungen, Mühen und Freuden. Folgen Sie mir auch in die Welt des Bibliothekars, des Archivars. Schauen Sie mir über die Schulter. Persönliche Passagen in diesem Buch sind ebenso authentisch wie gedruckte Quellen oder die geführten Gespräche und Interviews. Neben den im Buch erwähnten Personen bedanke ich mich bei Alfred Komarek, Albert Schedl und Herbert Starek, die mich unterstützt haben. Besonderer Dank gilt Dido Massimo, die mit Feingefühl lektoriert hat. Ich bedanke mich bei der Programmleiterin des Böhlau Verlages, Waltraud Moritz, die das Buch ins Verlagsprogramm aufgenommen hat. Eva Buchberger hat mich mit konstruktiven Kommentaren durch all die Kapitel begleitet. Julia Roßberg hat Text und Bilder bestens vorbereitet, Bettina Waringer hat beides zu einem wunderbaren Buch zusammengefügt. Danke an alle! Thomas Hofmann im Frühjahr 2020 Mongolei: Gudrun Daxner-Höck notiert ihre Beobachtungen des geologischen Aufschlusses. Werner E. Piller misst mit einer Gamma-Ray-Sonde die natürliche Radioaktivität der Gesteinsabfolgen.
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„Sagt Ihnen der Name Pillewizer etwas?“
„Sagt Ihnen der Name Pillewizer etwas?“ Worüber sich Archivare freuen
Mittwoch, 17. Juli 2019, ein warmer Sommertag. Am Vormittag stellt mir unsere Telefonistin ein Gespräch durch. Ein Mann, dessen Name ich mir nicht ad hoc gemerkt habe, fragt mit freundlicher Stimme: „Sagt Ihnen der Name Pillewizer etwas?“ Ich zögere, schwanke zwischen „Ja“ und „Nein“, glaube den Namen schon gehört zu haben, kann ihn im Moment aber nicht zuordnen. „Ich höre, Sie kennen ihn nicht. Er war Geodät, Professor an der Technik [Technische Universität Wien], sein Sohn ist schon verstorben, ich habe da einige Unterlagen, die werden weggeworfen, mir blutet das Herz!“ „Sie können vorbeikommen, ich schaue mir das gerne an“, antworte ich ihm. „Ich sage es Ihnen gleich, zahlen kann ich nichts. Wenn die Dinge von Interesse sind, nehmen wir sie gerne.“ „Ja, gut, kein Problem, ich will kein Geld, wann kann ich kommen?“ „Wenn Sie wollen, gleich, noch am Vormittag, denn am Nachmittag muss ich weg.“ „Das schaffe ich, ich komme mit einem Koffer.“ Der bibliothekarische Alltag an der Geologischen Bundesanstalt (GBA) in Wien hat mich wieder voll in Beschlag genommen, ich habe nicht einmal richtig Zeit gefunden, mich über den Namen Pillewizer zu informieren. Eben bin ich dabei, Gunnar Mertz, unserem Praktikanten – er ist Dissertant für Zeitgeschichte – zu sagen, dass jemand kommen wird. Gunnar sitzt im Lesesaal. Dieser ist offen für Leser und Gäste. Schon sehe ich einen Mann mit rotem Rollkoffer zwischen den Stelzen des Hauptgebäudes auf unsere Bibliothek zukommen. Ich begrüße den Gast. Er stellt sich vor: „Pecher, mein Name.“ Dann legt er eine große Tragetasche mit zwei gerahmten Bildern auf den Tisch im Lesesaal: Ein großformatiges Aquarell, bezeichnet mit „24. 9. 1988 Blick vom Pillewizer zum Schwarzen Hörndl G. Schmid“, und eine große Karte eines Gletschers. Als er den Koffer öffnet, kommen allerlei Der reichhaltige Nachlass Wolfgang Pillewizers zeigt die vielen Facetten eines erfüllten Forscherlebens im 20. Jahrhundert.
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„Sagt Ihnen der Name Pillewizer etwas?“
Unterlagen der Deutsch-Österreichischen Himalaya-Karakorum-Expedition (DÖHKE) von 1954 zum Vorschein, darunter ein Tagebuch mit schwarzem Einband. Dann das Buch Zwischen Wüste und Gletschereis: Deutsche Forscher im Karakorum mit einer weiten Hängebrücke am Cover. Allein die Vorstellung darüberzugehen treibt mir Schweißperlen ins Gesicht. Doch für derartige Gedanken ist jetzt keine Zeit. Weniger gefährlich sieht das Cover von Gletscherland in der Arktis aus, zwei Forscher auf einer Geröllhalde sitzend bei Untersuchungen am Eis. Es taucht Pillewizers Pass, dann ein großformatiges Dokument in mehreren Sprachen mit seinem Fingerabdruck auf. „Das ist die Entlassungsurkunde aus der Kriegsgefangenschaft“, erklärt mir Gunnar, der sich auskennt mit dieser Art von Dokumenten. Dann noch eine ganze Reihe von Bildern, die den rüstigen Pillewizer auf dem Gipfel des Pillewizers [sic!], einem nach ihm benannten Berggipfel, zeigen. Also der Pillewizer auf dem Pillewizer, einem Dreitausender in den Hohen Tauern. „Nach ihm ist auch ein Gipfel in der Venedigergruppe benannt“, erklärt uns Herr Pecher, der sichtlich erleichtert ist, als er unser wachsendes Interesse an dem Material merkt, das in zunehmende Neugier auf die Person des Forschers umschlägt. Wer war Pillewizer? Rasch wird uns klar, dass Pillewizer nicht irgendein Geodät war, der im Himalaya tätig war, sondern einer der Großen seines Fachs. Jahrgang 1911, gebürtig in Steyr, hatte er in Deutschland Karriere gemacht. Zunächst in München und dann in Dresden, wo er eine Professur innehatte. Später kam er von der DDR (Deutsche Demokratische Republik) nach Wien an die Technische Hochschule, die 1975 zur TU wurde, wo er ebenfalls eine Professorenstelle bekleidete. 1999 verstarb er. Als wir das Expeditionstagebuch aufschlagen, bin ich begeistert: In leicht lesbarer Schrift sind hier mit Bleistift akribisch persönliche Dinge der DÖHKE, so das Kürzel der Expedition von 1954, zusammengefasst. „Darf ich Ihnen den Sack auch dalassen?“ Peter Pecher schließt seinen nun leeren Koffer, gibt mir eine selbstgedruckte Visitenkarte, „falls Sie noch Fragen haben“, und verabschiedet sich. An unseren begeisterten Gesichtern kann er ablesen, dass der Teilnachlass des großen Geodäten in guten Händen ist; er hat unser Interesse für Wolfgang Pillewizer geweckt.
Die nächsten Tage stehen, soweit es der Betrieb der BibPreisgekrönter Expeditionsfilm: „Im Schatten liothek zulässt, im Zeichen von Pillewizer-Recherchen. Mich interessiert nun brennend die DÖHKE. Denn des Karakorum“ im Nachlass fand sich auch ein kleines Werbeplakat des Films Im Schatten des Karakorum, der damals auf der Expedition gedreht worden war. Im Internet habe ich rasch Details zum Film recherchiert. Gemacht wurde die Dokumentation der Expedition von Eugen Schuhmacher (1906–1973), einem Granden des Genres Tier- und Dokumentarfilm.
Preisgekrönter Expeditionsfilm: „Im Schatten des Karakorum“
Er lief als preisgekrönter Film in den deutschen und österreichischen Kinos: ab 3. August 1955 in Deutschland und dann ab 10. Mai 1956 auch in Österreich. In der AZ, der Arbeiter-Zeitung, vom 13. Mai 1956 findet sich auf Seite 8, die unter dem Titel AZ-FILM dem Kino gewidmet ist, eine Kurzkritik samt Inhaltsangabe. Sehr informativ zu lesen: Die Hunza, jenes Bergvolk aus dem Karakorum, sehen sich als Nachfahren der Armee von Alexander dem Großen, ernähren sich „heute wie ehedem“ von Weizen und getrockneten Marillen. Zu erreichen sind sie über schwankende Hängebrücken, Geröllhalden und Saumpfade. Das klingt wenig einladend, doch am Schluss kommt das Wesentliche: „Der ausgezeichnet photographierte abendfüllende Dokumentarfarbfilm berichtet von den Erlebnissen der deutsch-österreichi- „Im Schatten des Karakorum“ – preisgekrönter Film schen Himalaya-Karakorum-Expedition einer dramatischen Expedition. und vermag es mit so manchem Spielfilm aufzunehmen.“ Nicht alle Filme kamen derart gut weg. Damals waren soeben die Filmfestspiele in Cannes zu Ende gegangen. Der Große Preis des Filmfestivals ging an den französischen Film Die schweigende Welt, ein Unterwasserfilm. Als beste Schauspielerin wurde Susan Hayward (1917–1975) für Und morgen werd’ ich weinen gekürt, der Preis für den besten männlichen Darsteller wurde nicht vergeben. Im Schatten des Karakorum dauerte 87 Minuten, war jugendfrei und erhielt beim Deutschen Filmpreis 1955 das „Filmband in Gold“ als bester abendfüllender Kulturfilm in Farbe. Beim Internationalen Festival für Berg- und Forschungsfilme in Trient folgte die nächste Auszeichnung, die „Bronzene Alpenrose“. Zurück in den bibliothekarischen Alltag. Wir beginnen über Pillewizer zu recherchieren. Gunnar findet in einer Quelle einen Hinweis auf dessen politische Gesinnung. Olaf Kappelt erwähnt 1997 in seinem Buch über die Entnazifizierung in der Sowjetischen Besatzungszone sowie über Rolle und Einfluss ehemaliger Nationalsozialisten in der DDR auch Pillewizer, der 1959 in die DDR kam, aber „bereits 1932 die Mitgliedschaft in der NSDAP erwarb“. Die Tatsache, dass Pillewizer zunächst Mitglied der NSDAP war, dann aber in die sozialistische DDR wechselte, macht ihn für Zeithistoriker zu einer interessanten Persönlichkeit. Doch hier geht es um den
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„Sagt Ihnen der Name Pillewizer etwas?“
Naturwissenschaftler Pillewizer, seine politischen Gesinnungen mögen Thema anderer Forschungen sein. Im Bestand unserer Bibliothek finde ich zu „Pillewizer“ 23 Treffer, darunter die Arbeit von Karl-Heinz Paffen (1914–1983), einem Geografen, Wolfgang Pillewizer und dem Geologen Hans-Jochen Schneider (1923–2006): Forschungen im Hunza-Karakorum: Vorläufiger Bericht über die wissenschaftlichen Arbeiten der Deutsch-Österreichischen Himalaya-Karakorum-Expedition 1954 aus dem Jahr 1956. Schnell verschaffe ich mir einen Überblick über die Expedition, deren Ziel es war, eine Karte herzustellen, die als Grundlage für geologische und pflanzengeografische Untersuchungen dienen sollte. Auf Seite 5 finde ich folgenden Satz: „Als K. Heckler am 26.7.54 tödlich verunglückte, war die Triangulation soweit abgeschlossen, daß sie nun auf Grund seiner Feldbücher berechnet werden kann.“ Der Satz geht mir ebenso nahe wie die extrem kurze und nüchterne Schreibweise. Fortan beschäftigt mich folgender Gedanke: Lassen wissenschaftliche Arbeiten keinen Freiraum für menschliche Gefühle? Muss alles objektiviert werden, frei nach dem Motto, „Hauptsache, die Daten sind gerettet“?
Der erste Griff geht zum Expeditionstagebuch mit der inzwischen vergilbten, in Goldlettern geprägten Aufschrift Deutsch-Österreichische Himalaya-Karakorum Expedition 1954, in dem ich den Unglückstag suche. Vergebens, die Aufzeichnungen enden am 24. Juli 1954. Da kein Autor genannt ist, vermuten wir zunächst, dass es von Pillewizer stammt. Es muss wohl noch ein zweites Tagebuch geben, hoffentlich ist es erhalten! Ich greife nun zu jenem Buch Zwischen Wüste und Gletschereis: Deutsche Forscher im Karakorum mit der weiten Hängebrücke am Cover. Gleich der erste Satz im Vorwort lässt mich innehalten: „Am 26. Juli 1954 stürzte Karl Heckler, der Vermessungsfachmann der Deutsch-Österreichischen Himalaya-Karakorum-Expedition, vom schmalen, ausgesetzten Felspfad in die Hunzaschlucht und ertrank im reißenden Bergstrom. Er wurde das Opfer der gewaltigen Hochgebirgswelt des nordwestlichen Karakorumgebirges, dessen wissenschaftlicher und bergsteigerischer Erschließung all sein Sinnen und Trachten gegolten hatte.“ Doch das war nur der Anfang. Die Recherchen zu Pillewizer, zur DÖHKE und zu Heckler (1911–1954) gehen weiter. Samstag, den 20. Juli frage ich Ewald Brückl, Emeritus der Geophysik an der TU Wien, per E-Mail: „Hast Du Erinnerungen an Pillewizer? Wie war er? Als Forscher, als Lehrer, als Mensch?“ Nicht einmal eine Stunde später antwortet er mir: „An Wolfgang Pillewizer habe ich nur die besten Erinnerungen und auch ein paar Daten. Am liebsten
Was geschah im Karakorum?
Was geschah im Karakorum?
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würde ich bei Dir an der Geologischen Bundesanstalt vorbeikommen und Dir erzählen, was ich zu diesem interessanten und höchst sympathischen Menschen weiß. Bitte sag mir ein paar Termine, einer wird dann schon für mich passen.“ Am Dienstag, den 23. Juli um 10 Uhr ist er bei mir im Büro. Er erzählt mir von den gemeinsamen Arbeiten am Gletscher vom Untersulzbachkees in Salzburg in den 1970er-Jahren und gibt mir einen elfseitigen mit Schreibmaschine getippten Lebenslauf Pillewizers. Verfasst wurde er 1996, anlässlich Pillewizers 85er, ganze 42 Jahre nach der DÖHKE. Hier finde ich eine Passage, geschrieben aus der Perspektive eines erfüllten Forscherlebens, die uns in den Himalaya, zur DÖHKE führt. Hecklers Tod wird hier kurz erwähnt. Die Aufzeichnungen des Tagebuchs beginnen am 29. April „Im Jahre 1954 nahm ich als wissenschaft- 1954 in Genua; als Autor konnte Karl Heckler eruiert werden. licher Leiter an der deutsch-österreichischen Himalaya-Karakorum-Expedition teil. Meine Aufgabe war es, zusammen mit dem dabei tödlich verunglückten Geodäten Karl Heckler für die terrestrisch-photogrammetrische Kartenaufnahme des 7800 m hohen NW-Kammes des Karakorumgebirges zu sorgen und darüber hinaus die Bewegung der Karakorum-Gletscher und des Rakhiotgletschers am Nanga Parbat zu untersuchen.“ Als ich Ewald im Lesesaal das oben erwähnte Aquarell zeige, erinnert er sich spontan: „Das war die Gundi Schmid, die Frau unseres Dekans, die hat das gemalt.“ Und schon tauchen wir in Erinnerungen ein an die Arbeiten am Untersulzbachkees im Bundesland Salzburg. Doch vorerst bleibt mein Interesse bei der DÖHKE. Mittwoch, 24. Juli: Gunnars Kontakte zum Archiv des Deutschen Alpenvereins bringen neue Erkenntnisse. Voll Stolz zeigt er mir digitales Material mit Unterlagen der Expedition. Darin findet sich die Korrespondenz, persönliche Erinnerungen und vieles mehr, so auch Zeitungsartikel und eine Einladung zur „Karl-Heckler-Gedächtnisfeier am 11. 2. 1955, 20:00 Uhr, im Großen Physikhörsaal der Technischen Hochschule München (Eingang Arcisstr. 21)“. Dipl.-Ing. Karl Heckler aus Stuttgart-Weil im Dorf wird als erster der sechs Wissenschaftler des Expeditionsteams genannt. Erste Bilder liefert das Internet im „Timeline Images | Blog“ der Süddeutschen Zeitung vom 30. Juni 2011. Hier ist Heckler auf
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„Sagt Ihnen der Name Pillewizer etwas?“
einem Yak zu sehen. Eine weitere Schwarz-WeißAufnahme zeigt jenen schmalen Felspfad im Hunzatal, wo er in den Tod stürzte. Noch bevor ich am 27. Juli den dreiwöchigen Urlaub antrete, rufe ich Herrn Pecher an. „Das Material, das Sie uns von Pillewizer gegeben haben, ist sehr interessant. Gibt es noch mehr? Ich denke, an der Geologischen Bundesanstalt werden wir wohl kaum etwas behalten, das Material gehört an die TU, wo Pillewizer zuletzt Ordinarius war. Ich würde mich darum kümmern.“ „Machen Sie das! Es freut mich, wenn das nicht weggeworfen wird. Ich habe zuerst einfach nur willkürlich einige Dinge herausgegriffen. Es gibt noch alles, ich richte etwas her, kommen Sie nach dem Urlaub vorbei.“
Mit Karl Heckler verlor die Expedition einen lebensfrohen Kameraden.
Prompt ruft mich Herr Pecher am 19. August an. Schon für den nächsten Tag haben wir einen Termin ausgemacht. Gunnar und ich fahren mit dem Dienstwagen zur Wohnung Pillewizers in Wien Hietzing. Die Parkplatzsituation scheint zunächst hoffnungslos, aber dann haben wir doch Glück. Im Wohnzimmer von Pillewizers Wohnung hat seine Schwiegertochter Dias, Bücher und Sonderdrucke wissenschaftlicher Arbeiten aufgetürmt. Daneben eine ganze Reihe von Ordnern, seine Korrespondenz der letzten Jahrzehnte. Herr Pecher, ein Freund der Familie Pillewizer, ist auch anwesend und zeigt uns die wohlgeordneten Bücherkästen in Pillewizers Arbeitszimmer. Gunnar und ich packen alles ein, was uns wichtig erscheint. Dafür stehen eigens Bananenkisten bereit – eine derart wohlgeordnete Nachlassübergabe habe ich noch nie erlebt! Wir finden auch ein Tagebuch mit schwarzem Einband und der uns schon bekannten Aufschrift Deutsch-Österreichische Himalaya-Karakorum Expedition 1954; hoffentlich ist es die Fortsetzung des ersten Tagebuches! In der Bibliothek werden wir es überprüfen. Tatsächlich sollten wir Glück haben: Das waren die Originalaufzeichnungen von Wolfgang Pillewizer, er schrieb kurrent und streute gelegentlich Worte in Lateinschrift ein. Der Eintrag vom 26. Juli 1954 war mit dreieinhalb Seiten extrem lang, auch der 27. umfasst etwas über eine Seite, der vom 28. knapp mehr als zwei Seiten. Die weiteren Tage sind nur mehr mit wenigen Absätzen beschrieben. Das erste Tagebuch,
Weiteres Material bringt neue Erkenntnisse
Weiteres Material bringt neue Erkenntnisse
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das wir am 17. Juli bekamen, ist durchgängig in gut lesbarer Lateinschrift geschrieben und stammt definitiv nicht von Pillewizer, sondern von einem anderen Expeditionsteilnehmer, das konnte Gunnar mit Gewissheit aufgrund der Verschiedenartigkeit der Handschriften feststellen. Mein Freund und einstiger Schulkollege Thomas Kristen transkribierte beide Tagebücher. Seine Leidenschaft ist die Sprachwissenschaft, er findet zum Glück für derartige Aktionen fast immer Zeit. Ihm gelang es auch, den Verfasser des ersten Tagebuches auszumachen: Karl Heckler! Das hätte uns schon früher klar sein können, denn die Aufzeichnungen enden am 24. Juli 1954, zwei Tage vor Hecklers tragischem Tod. Jetzt gewinnen wir langsam einen Überblick. Der große Tisch in der Mitte des Lesesaales der Geologischen Bundesanstalt ist voll mit dem Nachlass Pillewizers. Was tun? Uns ist klar: Das gehört an die TU Der Expeditionsarzt Paul Bernett (mit Hut) und Karl Heckler bei Wien, an Pillewizers letzte Arbeitsstätte. Der einer Lagebesprechung vor der Bergkulisse des Karakorum. Kontakt zu Paulus Ebner, dem Archivar der TU, ist rasch aufgenommen. Er hat auch schon einen Teil von Pillewizers Nachlass in seinem Bestand. Den ersten Teil übergab Pillewizer am 22. März 1994 selbst dem Archiv der TU, der zweite Teil stammt vom Institut für Kartografie und Reproduktionstechnik, wo er Ordinarius war. Damit ist klar, Pillewizer wollte sein wissenschaftliches Erbe noch zu Lebzeiten in sicheren Händen wissen. Gut, dass uns Herr Pecher angerufen hat. Montag, 26. August: Am späten Vormittag kommt Paulus Ebner zu uns. Wir zeigen ihm den Nachlass und sichten gemeinsam den Bestand näher. Auch für ihn ist klar: Das alles gehört an die TU. Die wohlgeordnete Korrespondenz, die Dokumentation seiner Arbeit, ja selbst die drei Diakästchen, die nicht wirklich zu den Desiderata von Archivaren gehören, sind eine einzigartige, komplette und geschlossene Dokumentation eines großen Forschers, die man in dieser Vollständigkeit nur selten bekommt. Diese Fakten überzeugen Paulus Ebner. Er wird dafür Platz finden (müssen). Ja, das Platzproblem quält uns alle, Bibliothekare und Archivare; selbst IT-Experten jammern, denen es zwar nicht um Regalmeter oder Stellflächen geht, aber um Terabytes auf Servern für die digitale Langzeitarchivierung.
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Zunächst die veröffentlichte Version, eine Niederschrift des Münchener Geologen Jochen Schneider (1923– 2006) in Pillewizers Buch Zwischen Wüste und Gletschereis, nachzulesen auf Seite 147 f.: „Ja, wie war es eigentlich geschehen? Gegen 14 Uhr waren wir alle, das heißt Karl Heckler, Eugen Schuhmacher, ich und unsere Tragtier- und Trägerkolonne, nach kurzer Mittagsrast an der großen Schluchtecke beim schlucht Lord-Kitchener-Denkmal aufgebrochen. In der wildromantischen Hunza wollte Eugen noch einige Filmaufnahmen drehen und blieb bald etwas hinter uns zurück, während Karl und ich an der Spitze unsrer Kolonne langsam weitermarschierten. Es war drückend heiß in der Schlucht. Gerade hatte Eugen wieder einmal seine Filmarbeiten beendet und uns auf etwa 100 m Abstand eingeholt, als Karl an einer besonders malerischen Wegecke stehen blieb, um zu photographieren, während ich, das Marschtempo verlangsamend, an der Spitze der Kolonne weiterziehe. Ein gellender Schrei vom Ende der Kolonne her reißt mich plötzlich herum. Ich sehe gerade noch, wie Karl – etwa 30 m zurück – sich rückwärts überschlagend, von der Rafik [sic!] hinunterstürzt. Einige große Steinblöcke poltern hinter ihm her. Etwa 20 m tiefer schlägt Karl auf einer steilgeneigten, glatten Felswand auf und fällt dann rückwärts in den wildbrausenden Fluß, der in diesen Wochen gerade sein sommerliches Hochwasser führte. Im schlammig trüben Wasser ist nichts zu sehen, bis wenige Sekunden später sein Kopf noch einmal kurz auftaucht, mit der starken Strömung rasch abtreibend. In diesem Augenblick durchzuckt mich die Hoffnung, daß Karl – sofern er noch bei Bewußtsein ist – sich als guter Schwimmer im Abtreiben noch eine Strecke über Wasser halten könnte.“ Schneider wollte ihn retten, er rannte zum Fluß hinunter und war eben dabei, sich in die Fluten zu stürzen. „Da ertönt Eugens Ruf über mir: ‚Jochen! Um Gottes Willen! – Willst du auch noch ertrinken?!‘“ Zum Glück blieb Schneider am Ufer, sonst hätte es möglicherweise zwei Todesopfer gegeben. Und jetzt werfen wir einen Blick in das Tagebuch des Expeditionsleiters. Pillewizer war ja nicht dabei, aber wie ging es ihm, als er davon erfuhr? Er schrieb gerade einen Brief an seine Frau Rosemarie, als das Telefon läutete. Jochen Schneider, der Augenzeuge, teilte ihm mit aufgeregter Stimme die Hiobsbotschaft mit allen Details mit. Wolfgang Pillewizer war geschockt. Der Gedanke, dass die bislang erfolgreiche Expedition nun ein Todesopfer habe, dass er Hecklers Frau vom Tod ihres Mannes verständigen müsse, beschäftigten ihn. Als Expeditionsleiter dachte er auch an den wissenschaftlichen Auftrag. „Ob ich allein die Kartenaufnahme zu
Unveröffentlichte Protokolle zu Hecklers tragischem Tod
Unveröffentlichte Protokolle zu Hecklers tragischem Tod
Durch einen Fehltritt auf diesem schmalen Pfad stürzte am 26. Juli 1954 Karl Heckler beim Fotografieren in die Tiefe und versank in den hochwasserführenden Fluten des reißenden Hunzaflusses.
Ende führen kann, ist noch nicht zu überblicken. Zuerst müssen Karl’s Aufzeichnungen von mir durchgesehen werden.“ Keiner beneidete ihn in diesen Stunden. „Die ganze Nacht geht mir Karl nicht aus dem Sinn, ich schlafe sehr schlecht.“ Am nächsten Tag schrieb Pillewizer Briefe und Telegramme. Er hatte die offiziellen Stellen in Pakistan und daheim in Deutschland zu informieren, wahrlich keine beneidenswerte Aufgabe. Pillewizer war ein gewissenhafter, genau arbeitender Forscher und auch ein exzellenter Archivar seiner Schriften. Die Hoffnung, dass in seinem Nachlass auch jener erwähnte Brief enthalten ist, den er am 26. Juli 1954 an seine Frau schrieb, sollte sich erfüllen. In einer Flügelmappe sind persönliche Briefe zu finden, die er von seinen Expeditionen schrieb. Sie sind chronologisch geordnet. Mit einem Griff finde ich den gesuchten Brief, datiert mit 26. Juli 1954 aus Baltit. Damit liegt nach der Erwähnung in wissenschaftlichen Arbeiten und dem Eintrag im Expeditionstagebuch nun wohl die persönlichste Lesart des Unglücks vor. Ich gestehe, die Zeilen über Hecklers dreijährigen Sohn, der am Todestag seines Vaters Geburtstag hatte,
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gehen mir sehr nahe. Doch nun die Originalstelle aus dem Brief: „Er muß beim Photographieren neben den schmalen Weg getreten und abgestürzt sein. Ich muß nun heute seine Frau verständigen, sein Bub hat heute 3. Geburtstag! Die Leiche konnte noch nicht gefunden werden, das ganze Tal ist deswegen alarmiert. Nun hat die wiss. Gruppe bisher so viel Glück gehabt, kein Krankheitsfall, im Gegensatz zu den Bergsteigern, die Arbeiten vor allem dank des unermüdlichen Einsatzes von Karl fast vollendet und nun das!“
Verlassen wir den Karakorum, begeben wir uns wieder nach Europa. Der reiche Schatz an Archivalien lässt Pillewizer wieder lebendig werden. Wir erfahren Details seiner Karriere, die ihn nach Dresden führte und dann erneut zurück nach Wien, wo er Ordinarius an der TU wurde. Die DÖHKE war nur eine der Expeditionen in seinem Leben. Er veröffentlichte nicht nur wissenschaftliche Ergebnisse, sondern hielt auch Erlebnisse in einem Buch fest. Ähnlich war es bei seinen Forschungen im hohen Norden, nachzulesen in seinem Opus Gletscherland in der Arktis (1967). Pillewizer leitete zwei Polarexpeditionen, 1962 und 1964–1965 nach Spitzbergen, dabei entstanden hochwertige Gletscherkarten. Er dokumentierte nicht nur seine Reisen, er schrieb auch eine Autobiografie. Anlass war sein 75er, den Lebensrückblick betitelte er: Zwischen Alpen, Arktis und Karakorum: Fünf Jahrzehnte kartographische Arbeit und glaziologische Forschung (1986). Einmal mehr rückte er im Vorwort seine Leidenschaft für Kartografie in den Vordergrund: „Ein Leben ohne Karte kann ich mir nicht vorstellen. Ob es ein Leben für die Karte geworden ist, das mögen die geneigten Leser entscheiden.“ Ich habe mich entschieden: Es war ein Leben für die Karte, das kann ich bestätigen. Doch es war noch mehr, es war ein Leben für die Glaziologie, ein Leben für die Forschung und für die Lehre an der Universität, voller Leidenschaft, neue Methoden und Wege zu erkunden. Es war ein Leben, wie man es sich von einem Wissenschaftler erwartet. Das „sagen“ mir all die Archivalien, die vorläufig noch bei uns sind. Nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft war er ab August 1947 Technischer Leiter der GeographischKartographischen Anstalt Karl Wenschow GmbH in München. Im April 1958 folgte er einem Ruf nach Dresden, wo er bis zu seiner Rückkehr nach Österreich im September 1970 Professor für Kartografie an der dortigen Technischen Hochschule war. Interessant sind aus dieser Ära seine Begegnungen mit russischen Kollegen. So berichtete er von einem
Streiflichter aus Pillewizers Leben
Streiflichter aus Pillewizers Leben
Anlässlich der Spitzbergenexpedition 1962 bekam der Expeditionsleiter Wolfgang Pillewizer ein Fotoalbum von seinem Team geschenkt.
Treffen im Dezember 1966 in Moskau, wo er die Redaktion für die „Internationale Weltkarte 1 : 1 Million“ besuchte. Hier wurden mit Hilfe diplomatischer Auslandsvertretungen der damaligen Sowjetunion (UdSSR) Kartenmaterialien und Informationen aus aller Welt zusammengetragen. Pillewizer machte die Probe aufs Exempel, er ließ sich Material zu seiner Heimatstadt Steyr (Oberösterreich) heraussuchen und staunte nicht schlecht: Er fand dort nicht nur die neuesten Karten und Literaturangaben zu dieser Gegend, „sondern sogar mehrere heimatkundliche Aufsätze über die alte Eisenstadt erwähnt“, die sein Vater, Realschulprofessor Emmerich Pillewizer (1879–1945), in Steyr vor dem Ersten Weltkrieg geschrieben hatte. Natürlich ist in diesem persönlichen Werk auch die Rückkehr nach Österreich ein Thema. Pillewizer sah sich zunehmend der Zensur in der DDR ausgesetzt. Parallel dazu erfuhr er Ende der 1960er-Jahre, dass man an der damaligen Technischen Hochschule (heute TU) in Wien plane, ein Kartografiestudium für Geodäten einzurichten. Zur selben Zeit wurde in Dresden der von ihm entwickelte Fachstudienplan, der für elf Semester ausgelegt war, auf acht Semester reduziert. All das bereitete ihm wachsendes Unbehagen „und schließlich wurde auch versucht, auf mich politischen Druck auszuüben, von dem ich allerdings fast 10 Jahre lang verschont geblieben war“.
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„Sagt Ihnen der Name Pillewizer etwas?“
Als er 1970 an der Deutsch-Österreichisch-Schweizerischen Kartografentagung in Wien teilnahm, war das für manche in der DDR ein Problem. Man gab ihm zu verstehen, dass seine geplante Reise nach Wien, um den Vortrag Erfahrungen mit kartographischen Hochgebirgsaufnahmen auf Forschungsreisen zu halten, nicht gewünscht war. Pillewizer in seiner Autobiografie: „Abschließend wurde dann bemerkt, daß mein beabsichtigtes Auftreten auf der genannten Tagung nicht der Stärkung meines Ansehens diene und nicht verstanden werde.“ Dennoch fuhr er, dennoch trug er vor und zeigte Entschlossenheit. Am 1. Juni 1970 kündigte er mit eingeschriebenem Brief seine Stellung als Professor in Dresden und verließ dann im November 1970 endgültig die DDR. Freilich gab er damit auch alle Pensionsansprüche auf, doch er wollte, wie er schrieb, „auf keinen Fall, nun schon bald 60 Jahre alt, meinen Lebensabend in einem Land verbringen, in dem ich mit zunehmender Einengung meiner fachlichen Tätigkeit und wachsendem politischem Druck rechnen mußte“. Freilich verließ er nicht im Groll das damalige Ostdeutschland, hatte er doch in dieser Zeit auch eine Reihe positiver Erlebnisse, wie die erwähnten Polarexpeditionen. Doch auch an der TU Wien, wo er 1981 emeritierte, hatte er Großes geleistet, er gründete (1971) und leitete das Institut für Kartografie und Reproduktionstechnik bis 1981. Damit legte er „die Basis für die Kartographie an der TU Wien in Lehre und Forschung“, wie ich seiner Festschrift zum Siebziger entnehme. Hier wird er als Weltbürger gewürdigt, „dessen Toleranz und Besonnenheit man im Unterricht, in der fachlichen Zusammenarbeit und im persönlichen Gespräch verspürt“. War er bei der damaligen Festveranstaltung noch dabei, erlebte er das wissenschaftliche Kolloquium zu seinem 100. Geburtstag in Dresden 2012 nicht mehr. Auch hier gab man eine Festschrift heraus, ein Zeichen der Anerkennung, wie es in wissenschaftlichen Kreisen üblich ist. Dass jedoch jemand gleich zwei Festschriften erhält, gehört zu den raren Ausnahmen. Bei der Dresdner Festschrift findet man auf der Rückseite einen Hinweis auf seine bergsteigerischen Ambitionen. Kein Wunder, einer der Herausgeber, der 1950 in Wels (Oberösterreich) geborene Manfred Buchroithner, seines Zeichens ebenfalls Kartograf und Geologe, ist auch Bergsteiger. Im Übrigen hatte auch er ab 1992 den Lehrstuhl für Kartografie in Dresden inne. Als ich Buchroithner bei der Festveranstaltung zur Emeritierung von Werner E. Piller am 5. Oktober 2019 in Graz treffe und ihn auf Pillewizer anspreche, erzählt er mir, dass Pillewizer auch ein respektabler Bergsteiger war und die Dachsteinsüdwand (Schwierigkeitsgrad 5) durchstieg. Ehe wir uns verabschieden, fügt er noch hinzu: „Ich im Übrigen auch!“
Auf dem Gipfel der Karriere: der 3.000 Meter hohe Pillewizer
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Gleich bei den ersten Materialien, die uns Herr Pecher Auf dem Gipfel der am 17. Juli 2019 gebracht hatte, waren mehrere Fotos, Karriere: der 3.000 Meter die den stolzen Pillewizer auf dem Pillewizer zeigten. hohe Pillewizer Diese Wortwiederholung bedarf einer Erklärung. Mit der Formulierung „auf dem Pillewizer“ ist ein 3.000 Meter hoher Berg im Salzburger Anteil des Nationalparks Hohe Tauern gemeint. Ist es durchaus üblich, dass Straßen, Gassen und Plätze nach berühmten Personen benannt werden, so werden – freilich viel seltener – auch Berggipfel nach Personen benannt. Ad hoc fällt mir die MojsisovicsSpitze (2.904 Meter) in der Ankogelgruppe im Grenzgebiet der Bundesländer Salzburg und Kärnten ein. Nein, ich bin kein Bergsteiger und werde sicher keiner werden, aber ich habe mich mit dem Namenspaten, Johann August Edmund Mojsisovics von Mojsvár (1839–1907), Geologe und Paläontologe, befasst. Mojsisovics war nicht nur Vizedirektor der k. k. geologischen Reichsanstalt, er war auch einer der Begründer des Alpenvereins im Jahr 1862 und dessen erster Schriftführer. Wir blenden zurück in das Jahr 1988 ins Salzburger Untersulzbachtal. Reichhaltiges Archivmaterial und unzählige Fotos dokumentieren, wie ein namenloser Berggipfel am Samstag, den 24. September 1988 um 11:00 Uhr zum Pillewizer wurde. Mit dabei nicht nur der rüstige Pate, mittlerweile war er Emeritus an der TU Wien, sondern auch der damalige Landeshauptmannstellvertreter von Salzburg, Hans Katschthaler (1933– 2012), der es sich nicht nehmen ließ, mit seiner Frau den Gipfel zu besteigen. Bürgermeister Peter Nindl von Neukirchen am Großvenediger begrüßte die Gäste, darunter auch Hochschulseelsorger Dr. Peter Hofer, der die Gipfelweihe vornahm. Angerückt war auch die Bläsergruppe der Trachtenmusikkapelle Neukirchen am Großvenediger. Da die Anreise am selben Tag unmöglich zu bewerkstelligen gewesen wäre, hatte man
Einladung zur Einweihung des 3.000 m hohen Pillewizers im Salzburger Anteil des Nationalparks Hohe Tauern.
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„Sagt Ihnen der Name Pillewizer etwas?“
24. September 1988: Einweihung des Pillewizer-Gipfels mit dem lachenden Paten, flankiert von Bürgermeister Peter Nindl mit Klarinette und Landeshauptmannstellvertreter Hans Katschthaler mit Sekt.
schon tags zuvor auf der Kürsinger Hütte ab 19:30 Uhr zu einem gemütlichen Hüttenabend anlässlich der „Pillewizer-Gipfeltaufe“ geladen. Am Samstag ging es dann bei herrlichem Wetter entlang des Südostkammes des Schwarzen Hörndls (3.099 Meter) zum „neuentdeckten Dreitausender“ Pillewizer. Korrekterweise müsste man statt „neuentdeckt“ wohl richtiger „neuvermessen“ schreiben, doch das sind Spitzfindigkeiten. Die Festversammlung hatte die Höhe von 2.999,56 Metern erklommen. Da aber ein knapper halber Meter auf die runde Zahl von 3.000 fehlte, wurden Pillewizers Studenten „kreativ“. Sie schichteten ein paar Steine (Zentralgneis der Hohen Tauern) auf den neu vom Bundesamt für Eich- und Vermessungswesen (BEV) vermessenen Triangulierungsstein. So wurde die magische Marke erreicht. Ja, man muss sich eben zu helfen wissen. Peter Waldhäusl, einer der Initiatoren, Professor am Institut für Fotogrammetrie und Fernerkundung der TU Wien, hielt auf Einladung des Salzburger Landeshauptmannes in luftigen 3.000 Metern Höhe eine launige Laudatio. Wolfgang Pillewizer kam damit zu Ehren, die nur wenigen zuteil werden. Denn Benennungen zu Lebzeiten sind seltene Ausnahmen. Dafür bedarf es freilich auch einiger Personen, die nicht nur Ideen haben, sondern diese bis zur Verwirklichung vorantreiben. Beim Salzburger Pillewizergipfel hatte Erich Jiresch (1941–2009), sein langjähriger Assistent und späterer Archivar der TU Wien, die Idee. Dazu kamen Ewald Brückl und Peter Waldhäusl, mit dem er auch die Leidenschaft für Berge teilte, sowie
Auf dem Gipfel der Karriere: der 3.000 Meter hohe Pillewizer
Karl Färbinger (1931–1990) aus Lofer (Salzburg). Pillewizer verfügte über ein breites Netzwerk von Fachkollegen und Freunden. Und so ist es wenig verwunderlich, dass es neben dem Pillewizergipfel in Salzburg auch in Spitzbergen zwei topografische Punkte gibt, die seinen Namen tragen: das Pillewizerfjellet (739,5 Meter) und der Pillewizer knatten (561 Meter). 3.000 m hohe Festversammlung! Sehr geehrter Herr Professor Pillewizer! Lieber Wolfgang! Am heutigen Festtag wollen wir Dir ein herzliches Dankeschön für Deine Lebensarbeit sagen, wir, Deine Kollegen, Deine Mitarbeiter, Deine Studenten und Freunde. […] Die Gletscher haben es Dir schon immer angetan. Du hast auf Expeditionen nach Norwegen, zweimal nach Spitzbergen und als wissenschaftlicher Leiter der deutsch-österreichischen Himalaya-Karakorum-Expedition Kartenaufnahmen und glaziologische Studien durchgeführt. Du giltst mit Recht als einer der großen Glaziologen und Kartographen. Hier am Obersulzbachkees warst Du schon als Student, hast zu Kriegsbeginn von der Kürsingerhütte aus einen kartographisch-glaziologischen Gletscherkurs vorbereitet und später, 1973 bis 1983, von Wien aus ein umfangreiches Gletscheruntersuchungsprogramm geleitet, über das Dr. Brückl heute noch mehr berichten wird. […] Darum soll Dein Name auch hier inmitten Deiner Gletscher eine dauernde Heimat finden. […] Wir befinden uns hier in einer Höhe von exakt 3000 m. Auf der alten topographischen Karte ist hier die Höhenkote 2997 m angegeben. Offenbar handelt es sich dabei um die Höhe des alten topographischen Standpunktes und nicht um die des höchsten Gipfelfelsens. […] Vor etwa 10 Jahren haben wir zur Kontrolle photogrammetrischer Paßpunkthöhen alle topographischen Koten der Umgebung herangezogen. Uns ging es um die Aufklärung eines offenkundigen Fehlers. Und dabei ist uns auch aufgefallen, daß die Höhe 2997 unmöglich stimmen könne, weil photogrammetrisch immer wieder bei genau 3000 m aufgesetzt worden ist. […] Heute wissen wir es sogar noch genauer, die Höhe des trigonometrischen Festpunktes beträgt 2999,56 m. Wenn man dazu noch die Differenz zum höchsten Felsen daneben addiert, kommt man ganz sicher in den Bereich ± 50 cm um den Dreitausender, sodaß die topographische Höhe 3000 auf alle Fälle stimmt. […] Ein so schöner Platz wie dieser hier, mit einer so runden Höhe, der muß einfach einen anständigen Namen bekommen. Die Schweiz hat ihren höchsten Berg, die Dufourspitze 4634 m, nach ihrem berühmten General und Kartographen Henri Dufour (1787–1875) benannt. Es ist daher naheliegend, diesen runden Dreitausender hier ebenfalls nach einem Kartographen zu benennen. Und daher haben wir, Deine Gletscherknechte, vorgeschlagen, diesen schönen Platz in Erinnerung an so viele schöne, in herzlicher Bergkameradschaft verbrachte Bergtage, nach Dir, lieber Wolfgang, zu benennen.“ Peter Waldhäusl
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Zwischen Orient und Okzident
Streiflichter aus Pillewizers Leben
Zwischen Orient und Okzident Menschliche und tierische Begegnungen
Üblicherweise versteht man unter Orient das Morgenland, das Land der aufgehenden Sonne. Im Gegensatz dazu: der Okzident, das Land der untergehenden Sonne. Diese Unterscheidung habe ich nie hinterfragt, doch jetzt – angesichts dieses Buchkapitels – wollte ich es genauer wissen. Erste Recherchen in den Lexikonklassikern des 19. Jahrhunderts verliefen höchst unbefriedigend. Da wurden keine Länder genannt. Ich wende mich nun an die Universität Wien. Das Institut für Orientalistik hat auf seiner Website unter dem Menüpunkt „Forschung“ eine für mich befriedigende, durchaus weit gefasste Antwort: „Die philologische, kulturwissenschaftliche und historische Forschung am Institut für Orientalistik betrachtet grundsätzlich den gesamten Nahen und Mittleren Osten einschließlich der von dieser Region stark beeinflussten angrenzenden Gebiete (insbesondere Nordafrika, Zentralasien und den Balkan).“ Diese Erklärung hilft mir weiter. Der Balkan ist uns in Wien ja durchaus vertraut, nicht zuletzt durch das geflügelte Wort: „Der Balkan beginnt am Rennweg.“ Diese Worte – wahr oder falsch, sei dahingestellt – werden dem einstigen Staatskanzler Klemens Wenzel Fürst von Metternich (1773–1859) zugeschrieben. Der Rennweg ist eine Hauptstraße, die am Schwarzenbergplatz am Rande des Wiener Zentrums beginnt und durch Wien Landstraße Richtung Südosten führt. An der Adresse Rennweg 27 / Ecke Metternichgasse befand sich der einstige Wohnsitz Seiner Durchlaucht, heute Sitz der Italienischen Botschaft. Man könnte annehmen – sollte er wirklich die geflügelten Worte geäußert haben –, dass er wusste, wovon er sprach. Folgt man den metternichschen Worten und der Definition der Universität Wien, läge die einstige Reichshaupt- und Residenzstadt nicht nur am Balkan, sondern – unter Heranziehung der universitären Betrachtung – auch im Orient. Diese These überrascht, kann aber bevölkerungsstatistisch mit Zahlen unterlegt werden. Grundlage dafür ist das Statistische Jahrbuch der Stadt Wien (Ausgabe 2019): Mit Stichtag 1. Jänner 2019 weist Wien eine Gesamtbevölkerung von 1.897.491 Personen auf. Davon sind 773.176 ausländische Staatsbürger: Auf Länder des Balkans kommen 293.094 Personen; rechnet man die Einwohner aus Ägypten, Afghanistan, dem Iran, Irak und In Wien pflegt man zu sagen, „Der Balkan beginnt am Rennweg“, und meint damit eine Ausfallstraße, die vom Zentrum Richtung Südosten führt.
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Zwischen Orient und Okzident
Syrien dazu, sind das weitere 75.419 Menschen; insgesamt also 368.513 „Orientalen“ im weiteren Sinne – Männer, Frauen und Kinder. Ungeachtet der Statistik wird man Wien wohl als Stadt des Abendlandes betrachten. Ist diese Metropole nicht wunderbar vielfältig, eine schillernde Stadt der Begegnung?
Ami Boué: Hamburger mit Wiener Standbein
Zu den faszinierendsten und gleichzeitig auch kaum allgemein bekannten Persönlichkeiten unter den Naturwissenschaftlern des 19. Jahrhunderts gehört zweifelsfrei Ami Boué (1794–1881). Er war der Erste, der Anfang der 1840er-Jahre eine geologische Karte der Welt unter dem Titel Versuch einer geologischen Charte des Erdballes 1:43.000.000 zeichnete. Dank der kommentierten Autobiografie, die Johannes Seidl und Angelika Ende im Jahr 2013 in deutscher Übersetzung herausgaben, ist es ein Leichtes, das Leben und die Erlebnisse dieses Mannes näher kennenzulernen. Schon das Titelblatt seines Lebenslaufes vom November 1879 ist Ami Boué, Büste (1878) von Victor Tilgner. interessant: Der gebürtige Hamburger bezeichnete sein Curriculum als Autobiographie des Dr. med. Ami Boué, Mitglied der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien, geboren in Hamburg am 16. März 1794 und gestorben als Österreicher in Wien. Gleichzeitig verfügte er, dass dieses Werk erst nach seinem Tod verbreitet werden dürfe. Boué studierte zunächst in Edinburg Medizin, ging dann nach Paris, machte anschließend geologische Studien und ausgedehnte Reisen in Europa. Er war fast ständig auf Achse, wie seinen Memoiren zu entnehmen ist. Doch 1835 ließ er sich definitiv in Wien nieder. Interessant ist die Begründung des rastlos Reisenden, der Paris, Genf oder Wien in die engere Wahl gezogen hatte: „Paris kam nicht in Betracht, und Genf war mir wegen des Hanges zum Muckertum [Mucker = Duckmäuser], den viele meiner Bekannten zeigten, zuwider, also konnte ich nicht zögern, auf das schöne Wiener Becken zurückzukommen, den echten, natürlichen Kreuzungspunkt von vier Straßen, deren jede zu verschiedenen Völkern und Ländern führte, und dies an der Pforte zum Orient.“ Boué, der Protestant, ließ sich in jener Stadt nieder, in der er schon 1826 seine Frau, die Katholikin Eleonore Beinstingel, geehelicht hatte. Hier sah er einen idealen Ausgangspunkt für seine Reisen Richtung Osten. Kaum in Wien angekommen, begann er mit Vorbereitungen, um die „gesamte europäische Türkei“ zu erkunden. „Unverzüglich ging ich an das Studium
„Besonders merkwürdige Ereignisse“
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orientalischer Sprachen, nämlich Serbisch und Türkisch.“ Serbisch als slawische Sprache fiel ihm nicht so schwer, konnte er doch schon Russisch. Beim Türkischen begnügte er sich mit der Umgangssprache. Für Albanisch fand er keinen Lehrer, also studierte er, frei nach dem Motto, „Selbst ist der Mann“, Wörterbücher. Bei der ungarischen Sprache musste er feststellen, dass sie die slawischen Sprachen, aber auch das Türkische an Schwierigkeit übertraf. Von einer Reise nach Bulgarien im Jahr 1837 berichtete er von zwei Erlebnissen bei Etropole, das circa achtzig Kilometer östlich von Sofia liegt. „Ich hatte hier zwei Abenteuer; das eine, dass ich mich, so wie in Radomir, Selenigrad und in einem anderen Dorf, gegen eine Meute von Hunden verteidigen musste, die nicht eher die Flucht ergriff, als bis ich sie mit einem Hammer bedrohte. Zum anderen schickte mir der Herr des Dorfes sechs junge Mädchen, unter denen ich meine Wahl treffen sollte, und er war sehr erstaunt darüber, dass ich diese Höflichkeit ablehnte.“
„Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen.“ „Besonders merkwürdige Zu diesem Zitat, das auf den deutschen Dichter MatEreignisse“ thias Claudius (1740–1815) zurückgeht, kann Boué, der Zeit seines Lebens viel gereist ist, natürlich eine ganze Reihe von Episoden beisteuern. So wurde er im Jahr 1828 in Paris Zeuge eines Gefängnisausbruchs: Der Militärhäftling war vom Gefängnisdach auf eine Pappel beim Nachbarhaus gesprungen und heruntergeklettert. Dort hielt ihn der Hauswart für einen Bewohner, öffnete ihm die Tür und so war der Gefangene frei. Im Jahr 1836 sah Boué in Wien einen betrunkenen Mann aus dem dritten Stock in den Hof fallen. Der Arme hatte das Fenster mit der Tür verwechselt und „blieb mit zerschmettertem Schädel liegen“. Im Jahr 1838, als Boué in Bosnien unterwegs war, fand er auf einer Waldstraße bei Pale-Prača (in der Nähe von Sarajevo) einen ermordeten Mann. Boué sah ihn an, wollte sich um ihn kümmern und merkte: „Er war noch halb warm.“ Im Revolutionsjahr 1848 wurde er Augenzeuge eines Selbstmordes „mit einem Pistolenschuss“ im barocken Garten von Schloss Belvedere in Wien. Auch nichts für schwache Nerven. Das wohl einschneidendste Erlebnis finde ich in seiner Autobiografie unter Besonderheiten aus meinem Leben. Dieses Kapitel beginnt er mit der Erklärung seines Vornamens. Ami ist eine Kurzform von Amédée. Die vorausdenkenden Eltern hatten diese Kurzform gewählt, damit später bei geschäftlichen Angelegenheiten seine „Unterschrift nicht lang zu schreiben war“. An einer anderen Stelle beschreibt er seine „ernsthafteste Erkrankung“, eine 1824 erlittene Vergiftung in Transsilvanien [Siebenbürgen]. Von wegen „Erkrankung“, das war ein Giftattentat! Ein hinterhältiger Mordanschlag auf einen Reisenden durch Einheimische.
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In Rumänien wollte man Ami Boué vergiften. In Kronstadt [Brașov] spürte er eine Schwäche in den Beinen.
Was war passiert? Zunächst hatte er in Klausenburg [Cluj-Napoca] einen walachischen Kutscher angemietet und zwei Pferde gekauft. Als er im Süden des Landes angekommen war, mischten ihm seine beiden Diener den Saft aus der Frucht des Gemeinen Stechapfels (Datura stramonium) in seine Frühstücksschokolade. In Kronstadt [Brașov] spürte er eine außerordentliche Schwäche in den Beinen. Diese beachtete er nicht weiter und führte sie auf die Strapazen der Reise zurück. In Hermannstadt [Sibiu] hatte er sich wieder einigermaßen erholt. Als die beiden Halunken merkten, dass er ihr Attentat überlebt hatte, machten sie in Dobra [Hunedoara] einen zweiten Versuch, diesmal mit stärkerer Dosis. Weil das Gift bitter schmeckte, trank Boué nur eine halbe Tasse. Den Rest der ersten und die zweite Tasse tranken ein Diener und ein Mädchen, die ebenfalls in der Herberge waren. Als den beiden auch übel wurde, war klar: hier ist Gift im Spiel. Die halluzinogene Wirkung der Stechapfelfrucht ließ nicht lange auf sich warten. „Eine halbe Stunde, nachdem ich den Wagen bestiegen hatte, fühlte ich mich elend, meine Pupillen waren geweitet, meine Augen sahen alles rot und gelb.“ Zum Glück musste Ami Boué erbrechen, was ihm wohl das Leben gerettet haben dürfte. Seine verbrecherischen Begleiter führten ihn zur ungarischen Grenze in einen Wald zu einem abgelegenen Wirtshaus. Dort ließen sie ihn unter dem Vorwand, einen Arzt zu holen, allein zurück. Der Wagen mit Ami Boués Hab und Gut war weg, gestohlen. Was ihm blieb, war seine kostbare Taschenuhr mit einem diamantenen [!] Triebwerk. Sein Erinnerungsvermögen war mehr als ein Jahr beeinträchtigt. Als Boué 1881 starb, war er ein mit wissenschaftlichen Ehrungen, Orden und Auszeichnungen überhäufter Mann. Sein Grab befindet sich in Bad Vöslau (Niederösterreich) südlich von Wien, wo er und seine Frau ein Landhaus erworben hatten.
Emil Tietze in der persischen Zwickmühle
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Hatte Boué die Balkanhalbinsel bereist und beforscht, so Emil Tietze in der drang der Geologe Emil Tietze (1845–1931) ein Stück weiter persischen Zwickmühle Richtung Morgenland vor, er war in Persien. Tietze begann 1870 an der k. k. geologischen Reichsanstalt. Er war, wie damals alle Geologen dieser Institution, als Feldgeologe mit der Herstellung geologischer Karten befasst. Zunächst waren das Banat, Kroatien und die Grenzgebiete zu Serbien seine Arbeitsgebiete. Schon 1873 ging er als 28-Jähriger nach Persien. Seine Aufgabe war, wie sein Direktor und späterer Schwiegervater Franz von Hauer (1822–1899) in den Verhandlungen der k. k. geologischen Reichsanstalt 1874 schrieb, „geologische Untersuchungen in Persien durchzuführen, die in Verbindung stehen mit der dort durch englische Ingenieure ins Werk gesetzten Tracirung von Eisenbahnlinien“. Als nach einem Jahr die Arbeit für die englischen Ingenieure fertiggestellt war, trat Tietze bis zu seiner Rückkehr im November 1875 in den Dienst der persischen Regierung, für die er geologisch tätig war. Zurück in Wien publizierte und referierte Emil Tietze, Geologe in persischer Mission. er noch viele Jahre über seine Forschungen und Beobachtungen in Persien. So sprach er am 26. Jänner 1886 vor der k. k. Geographischen Gesellschaft Ueber die Bodenplastik und die geologische Beschaffenheit Persiens. Nicht allein seine Schilderungen und Betrachtungen zur Geologie des 5.604 Meter hohen Vulkans Damawand [auch: Demavend] sind von Interesse, sondern auch sein Verhältnis zum Arbeitgeber: Tietze war zwar angestellt worden, aber selbst nach einigen Wochen hatte sich noch niemand um ihn gekümmert. Auch die vereinbarte Auszahlung des monatlichen Gehalts ließ oft sehr lange auf sich warten. Dies veranlasste Tietze zu der Aussage: „Es schien manchmal, als ob die Regierung, die mich engagirt hatte, auf meine Existenz überhaupt vergessen hätte.“ Doch ganz vergessen wurde er nicht. Die folgende Begebenheit klingt, als stammte sie aus dem bekannten Märchen Tausendundeine Nacht: Eines Tages begab er sich von Teheran aus nach Niāvarān am Fuße des Elbursgebirges, ein kühler Ort, den viele Europäer und auch der König als Sommerfrische wählten. Ein persischer Offizier holte Tietze und bat ihn, in das königliche Lustschloss zu kommen. Im Vorzimmer erklärte man ihm den Grund: Er hatte einen Stein zu bestimmen. Den „etwa walnussgroßen wasserhellen Stein“ erkannte Titze eindeutig als Quarz [= Bergkristall]. Doch die Diener des Monarchen gaben ihm zu verstehen, dass sie einen Diamanten erwartet hätten, hatte doch der König den Stein am Fuße des Damawand selbst gefunden. Tietze, der seine Bestimmung dem König mitteilen sollte, war in Gewissensnot. Er konnte
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Tietze kartierte die Region rund um den Demavend, einen erloschenen Vulkan, den höchsten Berg des Iran (5.671 m), der zwischen der Hauptstadt Teheran und dem Kaspischen Meer liegt.
Iran: mit Ali Hamedani im militärischen Sperrgebiet
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und wollte nicht lügen und so erkundigte er sich nach eventuellen Konsequenzen. Der Großwesir blieb bestimmt: „Sie können, wenn Sie jetzt vor den König geführt werden, demselben unmöglich sagen, dass dieser Stein werthlos ist.“ Es blieb kaum Zeit, länger nachzudenken, schon stand er im Empfangszimmer des Königs, wo er – gemäß persischer Sitte – seine Schuhe auszog. Der König war freundlich und leutselig. Er hoffte durch Tietzes Fachexpertise eine Bestätigung zu beIn Persien sollte Tietze einen Quarz (Symkommen, dass der „ominöse Stein“, den er Tietze bolbild) als Diamant erklären. nun entgegenstreckte, ein Diamant sei. Folgen wir Tietzes Dilemma in seinen eigenen Worten: „‚Was ist das‘ frug Seine Majestät. Als er bemerkte, wie ich mit meiner Antwort zögerte, fuhr er fort: ‚Diesen Stein habe ich am Abhang des Demavend selbst gefunden.‘ ‚Ein Stein‘, erwiderte ich, ‚den Eure Majestät gefunden haben, kann nur ein kostbarer Stein sein‘. ‚Ist es also ein Diamant‘, fragte der König.“ Genau diese Frage hatte Tietze erwartet, doch, obwohl er im Dienst des Hofes stand, blieb er standhaft, es siegte der Wissenschaftler in ihm. Er sagte: „Nein“. Als ihm der König dann einen anderen, deutlich kleineren Stein reichte, bestätigte er, dass es sich hierbei um einen echten Diamanten handelte. Der König insistierte und wollte von dem einen Stein auf den anderen schließen. Tietze hatte sich mit seiner vorigen Aussage, dass der Quarz nur „ein kostbarer Stein sein“ könnte, auf Glatteis begeben. Was konnte das also für ein Stein sein, „kostbar“, aber kein Diamant? Hier erwies sich der Geologe als Diplomat, er ging ähnlich vor wie viele Paläontologen, wenn sie Fossilien finden, die sie nicht kennen. Sie machen daraus eine neue Art: „,Wie ich gegenüber Eurer Majestät bereits angedeutet habe‘, sagte ich, ‚habe ich Steine von der Art, wie die vorliegende, noch nicht zu untersuchen Gelegenheit gehabt und ich bin deshalb der Meinung, dass man es hier mit einer bisher noch unbekannten Mineralspecies zu thun hat.‘“ Der König gab sich zufrieden, Tietze konnte sich mit dieser wissenschaftlichen Notlüge offenbar in den Spiegel schauen und selbst der Großwesir lächelte ihm beim Verlassen des Saales beifällig zu.
Wer ist Ali Hamedani? Eine Kurzbiografie in seiner Iran: mit Ali Hamedani im Dissertation aus dem Jahr 1973 verrät wenige Details. militärischen Sperrgebiet Hamedani, Jahrgang 1941, Sohn eines Finanzbeamten, hatte im Iran die Schule besucht, 1959 maturiert (= Abitur gemacht) und war 1961 nach Wien gekommen. Nachdem er einen Sprachkurs absolviert hatte, begann er im
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Sommersemester 1962 mit dem Geologiestudium. Unter der Betreuung von Alexander Tollmann (1928–2007) schloss er es am Institut für Geologie der Universität Wien mit der Dissertation über Das Göstlinger Grenzblattsystem und seine Mechanik in den niederösterreichischen Kalkvoralpen im April 1973 ab. Nach seiner Rückkehr in den Iran arbeitete Hamedani als Geologe an der Universität Isfahan. Aufgrund seiner guten Deutschkenntnisse war er über viele Jahre ein gefragter Kontaktmann für österreichische und deutsche Geologen und Paläontologen bei deren wissenschaftlichen Feldarbeiten in Persien. Werner E. Piller, Paläontologe und Emeritus am Institut für Erdwissenschaften der Universität Graz, weiß mehr: „Der Ali spricht perfekt Wienerisch, hat schon alle möglichen Berufe ausgeübt und war immer unser Ansprechpartner im Iran.“ Als 1997 das Projekt Palaeogeographic and palaeobiogeographic development of the Eastern Mediterranean to Western Indo-Pacific in the Late Oligocene to Early Miocene vom Österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) genehmigt worden war, kontaktierte Piller natürlich Hamedani. Bei dem Forschungsprojekt ging es darum, die Geschichte und Entwicklung der einstigen Meeresverbindung zwischen dem Mittelmeer und dem Indo-Pazifischen Ozean zu klären. Mit fossilen Muscheln, Korallen, Schnecken und Einzellern sollte die vor mehr als zwanzig Millionen Jahren bestehende Meeresverbindung zwischen diesen beiden Meeren im Detail rekonstruiert werden. „Und so sind wir mit dem Ali, der uns in Teheran am Flughafen abgeholt hat, über Täbris nach Maku, nahe der türkischen Grenze, gefahren“, erinnert sich Piller, der damalige Projektleiter. Die Stadt Maku befindet sich nur 22 Kilometer von der türkischen Grenze entfernt im Nordwesten des Iran. „Wir“, das war neben Piller eine kleine Gruppe österreichischer und deutscher Erdwissenschaftler, darunter auch Mathias Harzhauser und Andreas Kroh vom Naturhistorischen Museum in Wien sowie Ulrike Wielandt aus Tübingen als einzige Frau. Die Gesteinsformationen rund um Maku waren seit Jahren ganz oben auf der Wunschliste der Österreicher. Hamedani hatte stets gesagt, dass man dort nicht hindürfe. Aber diesmal, im Sommer 1997, schien alles anders. „Ali sagte, das ist diesmal kein Problem. Also fuhren wir Richtung Nordwesten“, erzählt Piller, der im guten Glauben war, dass alles geregelt sei. Doch dem war nicht so. Als sie bei Maku ein Tal befuhren, stand am Wegrand eine große Tafel. Als sich Piller bei Hamedani erkundigte, was denn da draufsteht, antwortete dieser: „Das ist militärisches Sperrgebiet, aber wir dürfen ja!“ Im Vertrauen, dass alles in Ordnung sei und die Behörden informiert seien, fuhren sie weiter. Es sollte nicht lange dauern, da kamen ihnen zwei Militärfahrzeuge entgegen. Die Soldaten erklärten, dass hier Fahrverbot sei, denn jenseits der Grenze, in der Türkei, würden NATO-Manöver abgehalten. Trotzdem fuhren die Wissenschaftler, auf Hamedani vertrauend, weiter. Sie kamen zu der gewünschten Stelle, machten Fotos, sahen aber in der unmittelbaren Umgebung Radarstationen und andere militärische Einrichtungen. Auf türkischer Seite erhob sich der markante
Iran: mit Ali Hamedani im militärischen Sperrgebiet
Der weithin sichtbare Gipfel des Ararat, des höchsten Berges (5.137 m) der Türkei, prägt das Grenzgebiet des nördlichen Iran und Armeniens.
Berggipfel des Ararat (5.137 Meter). Das ist jener Berg, wo nach der Überlieferung des Alten Testaments die Arche Noah gestrandet sein soll. Als sie dann zurückfuhren, wurden sie von mehreren Militärfahrzeugen erwartet, die sie in die nächste Kaserne eskortierten. Hier wurde zunächst Ali Hamedani interviewt, dann ging’s nach Maku. Im dortigen Militärquartier wurde Hamedani mit einer Augenbinde abgeführt. „Als Ali, unser Kontaktmann, der Persisch sprach, mit einer Augenbinde abgeführt wurde, war mir schon mulmig zumute“, erinnert sich Piller an die damaligen Schreckensmomente. Dann wurden alle Expeditionsteilnehmer in tadellosem Englisch befragt, lediglich Ulrike Wielandt als Frau durfte im Auto sitzen bleiben. Anschließend galt es, das in Farsi verfasste Vernehmungsprotokoll zu unterschreiben. Piller im Rückblick: „Ich sagte dem Soldaten, dass ich nichts unterschreiben kann, was ich nicht lesen und verstehen kann. Doch der gab mir zu verstehen, es wäre zu unserem Vorteil, wenn wir das unterschreiben.“ Also unterschrieben er und auch alle anderen. Schließlich wurde Ali Hamedani zurückgebracht, diesmal ohne Augenbinde. Dieser Anblick war eine sichtliche Erleichterung für die Kollegen. „Nachdem wir in Maku noch einmal übernachtet hatten, durften wir am nächsten Tag nach Täbris fahren. Dort jedoch holten uns die Militärs wieder ein. Sie hatten vergessen, uns die Filme abzunehmen.“ Lediglich Ulrike Wielandts Kamera griffen sie nicht an, somit sind ihre Aufnahmen die einzigen Belege des damaligen Abenteuers.
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Nicht nur nahe der türkischen Grenze, auch in der Türkei selbst sind Begegnungen mit Einheimischen nicht immer ganz friktionsfrei. Noch dazu gilt dort ein strenges Ausfuhrverbot von Fossilien und Gesteinen, daher sind auch hier türkische Kooperationspartner wichtige Garanten für erfolgreiche Forschungsprojekte.
Anatolien: doch kein „Plastiksprengstoff“ Im Sommer 1998 befand sich eine Exkursion des Institutes für Paläontologie (Universität Wien) im Taurus-Gebirge der Südtürkei auf einer Forschungsreise zu Trias-Gesteinen nahe Antalya. Unter der Leitung von Leopold Krystyn war ich damals noch als Tutor gemeinsam mit anderen Studierenden im Hinterland der bergigen Region um Antalya unterwegs. Auf der Reise war auch Philipp Strauss (heute Senior Geologist bei der OMV, einem österreichischen Konzern im Bereich Erdöl und Erdgas) dabei. Auf unwegsamen und schwierigsten Pisten kämpfte sich das Expeditionsteam in die Berge vor. Dabei mussten wir sogar teilweise mit Schaufel und Pickel neue Straßenabschnitte freigraben, um in das Zielgebiet zu gelangen. Der Weg war gerade breit genug für das ohnehin desolate Mietfahrzeug, ich nahm das Steuer in meine Hände und sprang über die freigegrabene Stelle, die Seitenspiegel klappten zwar ans Auto – die Stelle war also doch nicht breit genug –, aber es war geschafft. Die Rückreise sollte uns erst später beschäftigen. Nach langwieriger nervenaufreibender Anreise konnten wir dann unsere Profilaufnahmen in triassischen Gesteinsabfolgen beginnen. Auf dem Programm standen auch Untersuchungen an Ammoniten-Faunen der späten Triaszeit. Dabei konnten exzellente Exemplare gefunden werden, auch wenn an den Südseiten unter jedem Stein ein Skorpion saß und einem der Schreck jedes Mal in die Knochen fuhr. Es gab natürlich auch ernüchternde Funde, meist handelte es sich dabei um die Negative von Ammoniten oder Teile davon. Wir waren aber für solche Problemfälle bestens gerüstet. Dazu bedienten wir uns eines sogenannten Zweikomponenten-Silikons, ein Teil in Weiß, der andere in Blau. Diese sind abzumischen und in die Hohlform zu kneten. Nach circa zehn Minuten kann man das elastische Ergebnis, also jetzt das Positiv aus hellblauem Silikon, herausziehen. Man gewinnt so einen perfekten Beleg der vorkommenden Fossilien, ohne den halben Berg abtragen zu müssen. Und genau das sollte dann das Problem werden. Plötzlich stand dort wild gestikulierend mit einem Gewehr auf uns zeigend ein DorfZweikomponenten-Silikon zur Herstellung von Fossilabdrücken.
polizist. Er schrie minutenlang auf uns ein und wurde immer hysterischer. Niemand wusste,
Peinliche Verwechslung: Jagd auf einen Wilderer
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was sein Problem war, bis wir nach langem Hin und Her verstanden, dass er meinte, wir würden mit unserem „Plastiksprengstoff“ den Berg auf ein nahe gelegenes Bergbauerndorf sprengen. Er begriff nicht sofort, dass wir lediglich Wissenschaftler waren und Interesse an der Erdgeschichte hatten. Am Ende ließ sich der gute Mann durch die Gabe von Naturalien besänftigen und zog seines Weges – er ward fortan nie wieder gesehen. Alexander Lukeneder, Kurator, Naturhistorisches Museum Wien
In der humoristischen Zeitung Neuer Freier Figaro, als Peinliche Verwechslung: Geologisches Bierblatt in den Jahren 1865 und 1866 von Jagd auf einen Wilderer Geologen der k. k. geologischen Reichsanstalt mit der Auflage von nur einem handgezeichneten Exemplar herausgegeben, wurde der Alltag und das Umfeld der Geologen der 1849 gegründeten Anstalt in launigen Worten und treffenden Bildern skizziert. So findet sich unter dem Titel Die angenehmsten Aussichten des oesterreichischen Reichsgeologen in der Ausgabe vom 6. Februar 1866 eine ganzseitige Serie von Zeichnungen. Sie zeigen ausgehend von Ungarn über Kroatien, Böhmen, Steiermark, Tirol bis Wien Situationen, wie sie sich einst zutrugen, beziehungsweise zugetragen haben könnten. Wobei hier landläufige Klischees großzügig bedient werden. Das letzte Bild zeigt einen verwahrlosten Invaliden, der mit einem Hut um Almosen bettelt. Demnach dürfte der Staatsdienst damals wohl auch nicht das A und O bei der Altersversorgung gewesen sein. Der satirische Satz am Beginn ist dem Vielvölkerstaat der Monarchie geschuldet. „Niemandem ist soviel Gelegenheit geboten ‚Land und Leute‘ in so interessanter und wechselvoller Mannigfaltigkeit kennen zu lernen als dem oesterreichen [sic!] Geologen auf seinen Sommercampagnen in den verschiedenen Ländern seines buntcolorirten Vaterlandes, welches ihm eine ebenso freundliche Aussicht in die Zukunft gewährt, als die einzelnen Kronländer für die angenehmsten der Gegenwart sorgen.“ Dass die mit Bleistift und Feder gezeichneten Bilder durchaus der damaligen Realität nahekamen, belegen die Aufzeichnungen Ami Boués. Doch auch in unseren Tagen wissen Feldgeologen, jene Kollegen, die mit der Herstellung geologischer Karten befasst sind, von allerlei Begegnungen zu berichten. Reinhard Roetzel arbeitet seit fast vierzig Jahren als „Kartierer“ – so der Fachjargon für die Feldgeologen. Seit 1982 ist er an der Geologischen Bundesanstalt. Schon als Student an der Universität Wien hatte er prägende Erlebnisse. „Ich kannte in der Nähe des Stiftes Göttweig, das südlich von Krems in Niederösterreich liegt, einen kleinen Graben, wo versteckt im Wald Fossilien zu finden waren. Das habe ich meinem Lehrer, Fritz Steininger vom Institut für Paläontologie erzählt“, beginnt er sich an seine Studentenzeit zu erinnern. Fritz Steininger, der von 1995 bis 2005 Direktor des Senckenberg-Museums in Frankfurt
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Zwischen Orient und Okzident
Abenteuerliche Erlebnisse von Geologen in den 1860er-Jahren in den Kronländern der Monarchie aus der Sicht des Karikaturisten.
Peinliche Verwechslung: Jagd auf einen Wilderer
Unter der schützenden Plane suchten Paläontologen Fossilien; Gendarmen vermuteten einen Wilderer.
am Main werden sollte, war damals an diesen Fossilien interessiert. Er hatte in seiner Dissertation ähnliche, nur geologisch etwas jüngere, Muscheln bearbeitet und sah hier eine Chance, Details über deren zeitliche Verbreitung und Evolution zu erforschen. Der Geologe Rudolf Grill (1910–1987) hatte diese Gesteine bereits 1956 erwähnt und kurz beschrieben: „Im Graben nordwestlich Krustetten östlich von Göttweig ist wieder die Überlagerung des Melker Sandes durch älteren Schlier zu beobachten.“ Grill glückte auch der Fund einiger Fossilien, insbesondere von Muscheln, die in harten Tonsteinkonkretionen vorkamen. In Steiningers Feldtagebuch finden sich die Daten zur Grabung: Montag, 3. bis Donnerstag, 6. Juli 1978 Tiefenfucha bei Krustetten, bei Krems, Niederösterreich. Er machte sich mit dem Chefpräparator des Instituts, Friedrich Sattler, und Reinhard Roetzel im weißen Institutsbus, einem Ford-Transit, auf. „Der Graben war mitten im Wald, den Bus hatten wir am Waldrand bei den Weingärten abgestellt. In der Früh sind wir mit leeren Holzkisten in den Wald gegangen, am Abend haben wir sie mit unseren Funden wieder zurückgebracht“, berichtet Roetzel im Gespräch über den damaligen Tagesablauf. Da es immer wieder regnete, breiteten die Männer eine Plane über den schmalen Graben, der kaum mehr als drei Meter breit war. So konnten sie ungestört die Steinkonkretionen mit ihren Hämmern aufschlagen.
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An einem der darauffolgenden Tage hörten sie, vertieft in die Arbeit, laute Rufe von oben: „Halt, Gendarmerie! Alle rauskommen!“ Als sie zwischen der Oberkante des Grabens und der Plane nach oben lugten, sahen sie rund um die Grabungsstelle fünf Gendarmen. Mit Waffe im Anschlag standen sie da, lange, mausgraue Mäntel, am Kopf einen Stahlhelm. „Zuerst hat der Sattler lauthals gelacht, dann ist die Situation gekippt und alle haben wir zu lachen begonnen“, erinnert sich Reinhard Roetzel. Die Gendarmen schauten einigermaßen verdutzt und wussten nicht, was sie tun sollten. „Der Fritz ist dann empört aus dem Graben hinaufgestiegen und hat sie ziemlich forsch gefragt, was sie denn wollten. Er hatte vorher beim Ortsvorsteher und dem Gendarmerieposten gemeldet, dass er hier eine wissenschaftliche Grabung machen werde“, erzählt Roetzel mit Schmunzeln mehr als vierzig Jahre später seine frühen Erlebnisse geologischer Feldarbeit. Die sichtlich zerknirschten Gendarmen nahmen die Helme ab und erklärten, dass in der Gegend ein Wilderer unterwegs sei. Sie dachten ihn gefunden zu haben und meinten, in dem Graben würde er das erlegte Wild tranchieren und in Kisten ins Auto tragen. Offenbar waren die Forscher beim Aus- und Einräumen des Ford-Transits von Einheimischen beobachtet worden. Diese Beobachtungen passten zum Bild des gesuchten Wilderers und somit sahen die Gendarmen allen Grund, hier auszurücken, um den Wilddieb festzunehmen.
Wildschwein oder Schafherde: unerwünschte Begegnungen
Grabende Erdwespen sind besonders für Geologen eine Gefahr beim Probennehmen.
„Als Kartierer bin ich ja immer allein unterwegs. Man muss mit allem rechnen, vor allem wenn man neugierig ist“, plaudert Roetzel aus dem Nähkästchen. Auch wenn seine Arbeitsgebiete im niederösterreichischen Wald- und Weinviertel nicht unbedingt zu den gefährlichsten Regionen der Erde gehören, so passieren auch hier manchmal Dinge, mit denen man nicht rechnet und die man sich nicht wünscht. „Wenn ich Hochstände [auch Hochsitz, Jagd- oder Jägersitz] sehe, schaue ich immer hinein“, erzählt mir Reinhard und fährt fort: „Ich habe wieder einmal, das war in der Nähe von Buchberg im Kamptal, wie ich es immer mache, die Tür aufgemacht. Aber in diesem Hochstand war ein Hornissennest. Die haben sich sofort auf mich gestürzt. Ich habe zwar schnell wieder zugemacht. Doch einige haben mich erwischt.“ Das Resultat war ein zerstochener und dann dicker, rot geschwollener Arm. Zum Glück ist Roetzel nicht allergisch, denn sonst hätte das tödlich ausgehen können.
Wildschwein oder Schafherde: unerwünschte Begegnungen
„Ein anderes Mal, das war in den weiten Ebenen des Waldviertels bei Geras, wo man auf den Äckern keine Spur von Geologie sieht, habe ich mitten auf einem Feld ein großes Loch gefunden. Hurra, ein Aufschluss, dachte ich mir“, so Roetzel. Als er hineingriff in der Hoffnung, unter der Ackererde verwittertes Gestein zu finden, wurde er von einem Schwarm Erdwespen angegriffen. „Vor lauter Schreck ist mir auch noch mein Geologenhammer in das Erdloch gefallen“, so Roetzel. Ein Geologe ohne Hammer ist wie ein Arzt ohne Stethoskop. Also setzte er alles daran, ihn wiederzubekommen: „Ich habe meine dicke Jacke angezogen, um mich zu schützen. Dann hab’ Reinhard Roetzel mit seinem Geologenhammer, den er ich mir aus dem Auto Handschuhe notfalls auch gegen Wildschweine einsetzt. und Haube geholt und eine Gesichtsmaske aus Probensackerln [Österreichisch für Tüten] gebastelt. Wenn mich da jemand gesehen hätte, der hätte mich für verrückt halten müssen.“ Derart gerüstet lief er langsam zum Loch, langte während des Laufens tief hinein, zog mit einem Griff den Hammer heraus und rannte weiter. Ein paar Erdwespen folgten ihm noch, erreichten ihn aber nicht mehr. Frei nach dem Motto, „Hammer in Händen, alles gut!“, nahm dieses tierische Intermezzo ein glückliches Ende. Wer meint, Roetzel wäre bei seiner Arbeit im Gelände nur von Insekten angegriffen worden, irrt. Auch einem Wildschwein stand er Aug’ in Aug’ gegenüber. Der Ort dieser Begegnung war ein tiefer schmaler Graben im Löss in den Revieren der Schönbornschen Gutsverwaltung bei Weyerburg im westlichen Weinviertel (Niederösterreich). Der Untergrund besteht dort aus dicken Schotterschichten der einstigen Urdonau, die hier vor 10 Millionen Jahren floss. Stellenweise liegen mehrere Meter dicke Lössschichten (eiszeitliche Staubablagerungen) darüber. „Ich ging in einem der schmalen Lössgräben, um zu schauen, ob es eventuell Fossilien oder Reste fossiler Bodenbildungen gibt“, so Roetzel, der dann fortfährt: „Plötzlich kam mir ein ausgewachsenes Wildschwein entgegen. Ich hatte schon öfter Begegnungen mit Wildschweinen und die laufen normalerweise weg.“ Doch dieses arme Schwein konnte nicht so einfach weglaufen, der Graben bot kaum Platz und es lief auf ihn zu. „Ich habe der Wildsau meinen Hammer entgegengeworfen und mich mit schlotternden Knien hinter
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einem Baum versteckt. Das hat das Tier derart erschreckt, dass es auf der Stelle umdrehte und das Weite suchte.“ Mit einem Wort: Wieder einmal Glück gehabt, oder: Warum Geologen unbedingt einen Hammer benötigen. Doch was macht man, wenn einem nicht ein einzelnes, sondern viele Tiere begegnen. Die Rede ist jetzt nicht von gefährlichen Tieren wie Wildschweinen, Löwen oder Tigern, sondern von ganz harmlosen Schafen oder Ziegen. So nützlich und unentbehrlich sie auch sind, wenn sie in Herden auftreten, dann kann das schon nervig werden. Wie störend und zeitverzögernd das sein kann, wusste der alpinerfahrene Geograf und Geologe Der junge Carl Diener, Geograf und Carl Diener (1862–1928) im Jahr 1895 von seiGeologe. ner Himalayaexkursion aus dem Jahr 1892 in der Zeitschrift des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins zu berichten. Der Titel des Artikels führt uns ins Expeditionsgebiet: Mittheilungen über eine Reise im Central-Himalaya von Kumaon, Gurhwal und den angrenzenden Theilen von Tibet. Diener war wie viele seiner Kollegen nicht nur ein guter Wissenschaftler, sondern auch ein genauer Beobachter von Land und Leuten. Er wusste, dass seine Reiseberichte das Interesse der Leserschaft weckten. Dementsprechend bunt war die Palette seiner Beobachtungen, die er schriftlich festhielt. Doch seine Berichte enthalten auch Passagen, wenn es etwa um die Beschreibung der lokalen weiblichen Bevölkerung geht, die im 21. Jahrhundert nicht wiedergegeben werden können. Weniger problematisch sind seine tierischen Schilderungen, die zunächst mit einem Dorf nahe der tibetischen Grenze beginnen: „Es [das Dorf Munshiari] hat unter allen Dörfern in Kumaon die stattlichsten Häuser, einstöckige, steinerne Gebäude, die jedem Tiroler Dorfe zur Zierde gereichen würden. Der tibetanische Grenzhandel ist die Quelle dieses Wohlstandes der Bewohner. Nach der Zahl der Schaf- und Ziegenherden zu urtheilen, die wir auf dem Wege nach Milam und weiter hinauf zu den Grenzpässen antrafen, muss dieser Handel ein ganz bedeutender sein. Jedes der Thiere trägt eine Last von zehn bis zwanzig Pfund in einer Art Satteltaschen, die zu beiden Seiten des Rückens aufgepackt werden.“ Diener wusste Details zu erzählen, die offenbar auf eigenen Erfahrungen beruhten. „Für den Himalaya-Reisenden gehören die häufigen Begegnungen mit den Schafherden und den dieselben begleitenden prächtigen Hunden von tibetanischer Abkunft nicht gerade zu den Annehmlichkeiten, besonders, wenn man mit einem solchen Zuge, der sich oft über einen Kilometer ausdehnt, in gleicher Richtung marschiert. Auf den schmalen, durch die darüber hinziehenden Herden ganz schlüpfrig geworde-
Wildschwein oder Schafherde: unerwünschte Begegnungen
nen Pfaden drängen sich die Thiere alsdann zu einem compacten Knäuel zusammen, der ein Ausweichen schwierig macht, und halten trotz aller Stockhiebe und Fußtritte eigensinnig die Bergseite fest. Wenn auf diese Weise die drei- und vierfache Zeit als sonst zur Zurücklegung einer Strecke nöthig wird, so bleibt nichts übrig, als sich mit jener Geduld zu wappnen, die jeder Besucher des Orients erlernen muss, besonders, wenn eine solche Begegnung während eines niederprasselnden Monsunregens stattfindet und die Feuchtigkeit von den nassen Fellen der herandrängenden Schafe schließlich auch durch den besten Wettermantel hindurchgeht.“ So trivial die Begegnung mit einer Schafherde auch klingen mag, wenn es an Platz fehlt, es regnet und man obendrein noch hungrig und müde ist, dann würde man sich sicher andere Begegnungen und Erlebnisse wünschen.
Begegnungen mit Schafherden auf schmalen Gebirgswegen gehören zu den unangenehmen Erlebnissen.
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„Herrgott, ein Erdbeben denke ich nur mehr“
Wildschwein oder Schafherde: unerwünschte Begegnungen
„Herrgott, ein Erdbeben denke ich nur mehr“ Überrascht und erschlagen bei der geologischen Arbeit
Ganz hinten in der Bibliothek der Geologischen Bundesanstalt gibt es bei den riesigen Schränken mit Karten einen langen, dunklen Gang. Hier stehen links und rechts Stahlschränke, es ist gerade genug Platz zum Durchgehen. In den Stahlschränken zur Linken werden handkolorierte geologische Karten aus der Donaumonarchie aufbewahrt, alle auf Leinen aufgezogen, alle Unikate. Auf der rechten Seite gegenüber sind in den Schränken grüne Kartons mit Tagebüchern verstaut, viele davon schwer leserliche Beschreibungen, Aufzeichnungen und Messungen der Geologen von ihrer Arbeit im Gelände, ebenfalls alles Unikate. Manche enthalten Skizzen und Zeichnungen, vereinzelt finden sich persönliche Eintragungen, ein paar Informationen über das Wetter, selten liest man hier Bemerkungen über die Unterkunft. Diese Primärquellen der Wissenschaftler sind von besonderem Wert. Doch was die Geologen während ihrer oft wochenlangen Arbeiten in den Bergen und Tälern erlebten, davon ist kaum etwas überliefert. Wie auch? Wer den ganzen Tag allein unterwegs ist, über Steine und Wurzelstöcke klettert, sich durch Dickichte kämpft, ist am Abend zu müde, um lange Erlebnisberichte zu verfassen. Die Freude über ein kühles Bier ist größer als das Bedürfnis, über Land und Leute zu schreiben. Ganz selten kommt es vor, dass ein Geologe seine Frau zur Arbeit im Gelände mitnimmt. Meist sind die Frauen zuhause, kümmern sich um Haushalt und Kind(er). Doch wir haben zumindest die Kopie eines Tagebuches einer mitgereisten Geologengattin. Allein die Geschichte, wie wir dazu kamen, ist es wert, erzählt zu werden. Meiner schon vor vielen Jahren pensionierten Kollegin Barbara Vecer, gebürtige Polin – sie ist bekannt für ihre Hartnäckigkeit –, verdanken wir diesen archivarischen Jackpot. In ihrer Pension begann sie sich für ihren Landsmann Gejza Bukowski von Stolzenburg (1858–1937) zu interessieren. 2007 wurde sie fündig und erzählte voll Stolz: „Ich habe sämtliche Unterlagen betreffend Familie Bukowski im Museum in Bochnia kopiert Das Erdbeben am 28. Dezember 1908 von Messina (Italien) war die schwerste Naturkatastrophe Europas im 20. Jahrhundert.
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„Herrgott, ein Erdbeben denke ich nur mehr“
und dabei waren auch die Tagebücher von Katharina Bukowski.“ Mein Vorgänger, Bibliotheksdirektor Tillfried Cernajsek, inventarisierte die Kopien des Tagebuches, die wir nun mit der Signatur A 17122-TB im Bestand haben. Wer war jene Frau? Da ihr Mann, ein Pole, Bukowski hieß, wurde sie, geborene Wehrmann aus Wien, in der weiblichen Form als Bukowska bezeichnet. Was schrieb sie in ihre Tagebücher? Zum Glück hat Cernajsek, der den Wert der Tagebuchkopien erkannt hatte, sie nicht bloß archiviert, sondern auch editiert. Nun interessieren mich die näheren Details zu den Hintergründen und so kontaktiere ich Tillfried Cernajsek am 4. September 2019 per E-Mail. „Mein Gott, ist das schon lange her“, beginnt er seine Antwort und erklärt mir dann, dass nicht er, sondern einer unserer pensionierten Kollegen die Transkription hätte machen sollen. Doch der Auserkorene resignierte bereits nach vier Seiten. Tillfried, der gewohnt ist, Dinge zu Ende zu führen, wurde daher selbst initiativ. „Ich habe mich auf den Arsch gesetzt und viele Tage daran gearbeitet. Daraus sind zwei Arbeiten geworden und ein Vortrag oder mehrere.“ Dafür wurde er auch mit Dank belohnt: „Ich habe sogar einen Dankbrief vom Museum in Bochnia erhalten. Der war in Polnisch und eine Dame der Polnischen Akademie in Wien hat mir diesen Brief übersetzt.“
Cernajsek hat 2013 die Aufzeichnungen, die von Katharina Bukowska in deutscher Sprache in Kurrentschrift verfasst sind, transkribiert und veröffentlicht (Berichte der Geologischen Bundesanstalt, Nr. 98). Der Titel ist etwas sperrig, aber er enthält eine Reihe von Informationen: Meine Reisen in Süddalmatien (1904–1907). Die Tagebücher der Frau des Geologen Gejza von Bukowski (1858–1937) von Stolzenburg, Katharina von Bukowska von Stolzenburg. Den einzigartigen Wert des Inhalts bringt Cernajsek in einem Satz auf den Punkt: „Katharina von Bukowska schreibt nicht nur über ihre persönlichen Erlebnisse über Land und Leute, sondern berichtet über die fast unmenschlichen Anstrengungen ihres Mannes, der seine Geländeaufnahmen in einem sehr gebirgigen [Land] und unter unglaublich wechselhaften Wetterunbilden dieses Landstriches zu bewältigen hatte.“ Neugierig beginne ich Katharina von Bukowskas Aufzeichnungen zu lesen und bald steht fest: Urlaub war das keiner, weder für ihren Mann, der bei oft widrigen Umständen seine Arbeit als Geologe machen musste, noch für sie als Begleiterin, die tagsüber stets allein war. Doch auch die gemeinsame Zeit beider war geprägt von Entbehrungen, sie betrafen vor allem das Essen. Ab dem Datum vom 13. Juni 1906 entnehme ich ihren Aufzeichnungen das wahre Ausmaß ihres Frusts fernab der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, wo beide in der Hansalgasse in Wien Landstraße wohnten: „Ein wahrhaft trauriges Dasein für einen Kulturmenschen. Für diesmal habe ich den ganzen
„Süddalmatien sieht mich niemals wieder“
„Süddalmatien sieht mich niemals wieder“
Tillfried Cernajsek, langjähriger Bibliothekar der Geologischen Bundesanstalt, in deren Kartensammlung.
Zauber an der Naturschönheit verloren, und ich schwöre hiermit, Süddalmatien sieht mich niemals wieder.“ Die Erfahrungen von Frau Bukowska waren kein Ausnahmefall, sondern die Regel. In den südlichen Teilen der Monarchie war am Beginn des 20. Jahrhunderts regional starker Entwicklungsbedarf. Wien war weit weg. Man verstand es nicht, die Region entsprechend zu fördern. Als der angesehene Wiener Schriftsteller Hermann Bahr (1863–1934) in dieser Region weilte, um „ein ‚Büchel‘ [zu] schreiben, um Stimmung für Dalmatien zu machen“, das 1909 erschien, ging es ihm ähnlich wie der Geologengattin. Wie schon 1906 in seinem Werk Wien, das verboten wurde, weil es zu kritisch war, hielt er sich bei der Dalmatinischen Reise mit seiner persönlichen Sichtweise nicht zurück. Seine Kritik richtete sich weniger an die Einheimischen, die er zu den „höchst willigen Leuten“ zählte, sondern an die Politiker, „unsere Staatskünstler“, wie er sie nannte. Als Problemlösung forderte er: „Um Berliner wird gebeten!“ Hier sprach er die deutsche Gründlichkeit an, die er als notwendig für die Erschließung der Region erachtete.
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Katharina Bukowska von Stolzenburg und Gejza Bukowski von Stolzenburg.
Freilich kamen bei Bukowska nicht nur die Unannehmlichkeiten des Jahres 1906 zum Ausdruck, sondern auch Erinnerungen an 1905, als sie mit ihrem Gatten Gejza zum zweiten Mal nach Süddalmatien aufgebrochen war. Doch zunächst ein paar Sätze über ihren Gatten, den Geologen Gejza. Er wurde 1858 in Bochnia im damaligen Galizien als einziger Sohn ungarisch-polnischer Eltern geboren. Nach der Matura [Abitur] in Teschen, dem heutigen Cieszyn, studierte er an der Universität in Wien. Seine Lehrer waren unter anderen der Geologe Eduard Suess (1831–1914) und der Paläontologe Melchior Neumayr (1845–1890). Von 1885 bis 1888 war er Assistent bei Neumayer und wechselte dann an die k. k. geologische Reichsanstalt. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs ging er zurück in seine Heimat, nach Bochnia. Ehe er sich mit geologischer Kartierung in Süddalmatien beschäftigte, hatte er 1887 und 1888 auf der griechischen Insel Rhodos gearbeitet und 1889 die Geologische Übersichtskarte der Insel Rhodus [sic!] im Maßstab 1 : 120.000 veröffentlicht. Er war auch schon in Süddalmatien tätig gewesen: Von 11. bis 14. September 1903 hatte er eine Exkursion von Geologen, die am IX. Internationalen Geologenkongress in Wien teilnahmen, geführt. Ab 1904 nahm er seine Frau Katharina (1866– 1936) als Begleiterin mit in den mediterranen Süden.
„Mein Mann kann schlafen ganz ungestört bis 8 Uhr“
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In Cattaro, dem heutigen Kotor in Montenegro, lag einer der Hauptherde des Bebens von 1905.
Sie hielt alles penibel fest: „27. März 1905. Abfahrt ½ 8 Uhr. Südbahnhof. Das Wetter ist rauh, fast herbstlich, unfreundlich, tief winterlich gekleidet, verlassen wir die nebliche [sic!] Stadt und steuern nun abermals dem sonnigen Süden zu. Das Ziel unserer Reise ist diesmal über Ragusa, Cattaro, Spizza in Süddalmatien […].“ Hier sollte es nicht lange dauern, bis der Geologe und seine Frau überrascht wurden und die tektonischen Kräfte der Erde am eigenen Leib zu spüren bekamen.
„Einmal eines Abends, es war am 31. Mai 1905 bespra„Mein Mann kann schlafen chen wir die häufigen Erdbeben dieses Küstenstriches ganz ungestört bis 8 Uhr“ in Gegenwart eines dortigen Zollbeamten lebhaft und ich bedauerte diese Leute von ganzem Herzen, da sie so nicht Gutes haben, und wir empfahlen uns darnach ruhig, und gingen zuhause. Mein Mann war müde, anderen Tag darauf war Feiertag (Christi Himmelfahrt). Die Sonne stand schon am Himmel, drausen [sic!] höre ich die Leute ruhig in die Kirche gehen, ich sehe auf die Uhr, es ist ¾ 6 vorüber. Ich denke das ist gut heute ist Feiertag, mein Mann kann schlafen ganz ungestört bis 8 Uhr.“ Auch sie lehnte sich entspannt zurück, um noch ein wenig auszuruhen, doch die Ruhe sollte nicht lange dauern. „Ein Stoß von unten, ein schwanken und rütteln meines schweren eisernen Bettes, ein Krachen in den Wänden, ein Klirren und Knattern der Türen und Fenster, das Wasser im Krug schaukelte, die Kerze und
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Blumen fällt zu Boden, Bilder schaukeln immer stärker, Herrgott ein Erdbeben denke ich nur mehr, und schon fühlte ich fast die Sinne schwinden als ich sehe, die Stücke lösen sich vom Plafond und stürzen polternd vor meines Mannes Bett, im Schutt Mauerstücke von beträchtlicher Größe bedeckten den Fußboden, gelähmt vor Schreck, meiner Sinne nicht mehr mächtig starre ich hinaus auf das Bett meines Mannes, da plötzlich steht er vor mir geisterbleich entstellt, seh ich recht oder bin ich blind, dies ist mein Mann bei Leben mit schlotternden Gliedern, aus dem besten Schlaf gerissen in Anbetracht dieser großen Gefahr, im schlecht gebauten Haus, welches schon mehrmals gelitten durch Erdbeben.“ Was jeder Leser, jede Leserin als authentischen Bericht liest, enthält für Seismologen wissenschaftlich höchst wertvolle Informationen. Von derartigen makroseismischen Beobachtungen, so die Fachsprache, lässt sich die Intensität von Beben rekonstruieren. Als Gradmesser wird die Europäische Makroseismische Skala (EMS-98) von Gottfried Grünthal verwendet, die 12 Stärkegrade besitzt. Die Wahrnehmungen Bukowskas fallen in die Kategorie 7: „Die meisten Personen in Gebäuden erschrecken und flüchten ins Freie. Gegenstände fallen in großen Mengen aus den Regalen. An vielen Häusern solider Bauart treten mäßige Schäden auf. Vornehmlich Gebäude in schlechtem Zu-
Die Geologische Detailkarte von Süd-Dalmatien, Blatt Spizza (1 : 25.000), stammt von Bukowski, der im Zuge seiner Arbeit das Erdbeben von Shkodra (Albanien) erlebte.
„Mein Mann kann schlafen ganz ungestört bis 8 Uhr“
stand zeigen größere Mauerrisse und Einsturz von Zwischenwänden.“ (Quelle: Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik, ZAMG, basierend auf der EMS-98). Zur Erklärung: Während die 12-teilige Europäische Makroseismische Skala (EMS-98) – oder die Mercalli-Sieberg-Skala – darauf beruhen, dass Schäden beschreibend erfasst werden, wird bei der Richter-Skala die Magnitude, sprich die Stärke (Energie) des Bebens, mit modernen Seismometern gemessen. Derart aufgeschreckt, suchte das Ehepaar sein Heil in der Flucht nach draußen. Weiter bei Frau Bukowska im Originalwortlaut: „Er riß mich aus den Bett, und angethan, soviel wie gar nichts an, als bloße Nachttoulette [sic!] stürzten wir ins Freie hinunter über die Treppe, die mit Dachziegel übersät war. Unten stand entsetzt die Tochter des Hauses zitternt [sic!] und weinend in Nachttoulette [sic!] und drausen [sic!] stehn die Leute schaarenweise [sic!] und zeigen auf den rückwärts abgestürzten Berg, der unser Haus hätte nur zu leicht begraben können.“ Sie wartete im Freien, ihr Mann eilte rasch ins Haus und holte Kleider. Auf der Straße standen aufgeschreckte und verängstigte Leute. „Soldaten und Finanzer sind vom Fenster auf die Straße gesprungen, wo sich mehrere ganz erheblich verletzten. Wir fanden in unserer Wohnung nur mehr ein wüstes Chaos alles lag voll Schutt und umgefallenen. Die Wände zeigten unheimlich klaffende Risse und bröckelten stets ab. Wir hielten Ausschau sammt [sic!] meiner Freundin und ihren Lieben, die alle eben so entsetzt waren und wir sehen den Schaden in den Gewölben wo alles flüssige und nicht flüssige am Boden lag. Wir konnten kein Frühstück haben und gingen daher mit unserem Diener zum nahen Olivenwäldchen und dort kochten wir uns einen Thee [sic!] zwischen Steinen. Wir besahen uns weiter dies Unglück und sehen, dass manche Häuser ganz unbewohnbar geworden sind.“ Bei der Betrachtung der Schäden von außen ergibt sich ein drastischeres Bild der Zerstörung, hier spricht alles für Intensität 8 der EMS-98; deren Definition lautet: „Viele Personen verlieren das Gleichgewicht. An vielen Gebäuden einfacher Bausubstanz treten schwere Schäden auf, d. h. Giebelteile und Dachgesimse stürzen ein. Einige Gebäude sehr einfacher Bauart stürzen ein.“ Im Tagebuch der Geologengattin sind weitere Details festgehalten, an Genauigkeit und Vielschichtigkeit sind ihre Beobachtungen kaum zu übertreffen. „Ein Hausherr hat seine ganze Habe verloren, und musste sofort delogieren. Ein Glück, es war zur vorgerückten Morgenstunde, die Leute dort sind alle Frühaufsteher. Eine Frau wurde stark verletzt, aber in benachbarten Ortschaften war das Unglück durch ihre schlecht gebauten Hütten noch viel größer. Wir gingen auch hin, dies zu besichtigen, eine Kirche war ganz zerstört. Und von der Stunde an, waren wir ohne Obdach, wir konnten die lieb gewordene Wohnung nicht mehr benützen.“ Die Lage war wenig erquicklich; solange sich die Erde nicht beruhigte, galt es, im Freien zu verharren, auch in den Nächten. „Nachdem sämmtliche [sic!] Einwohner sammt [sic!] uns die nächste und zweite Nacht im Freien kampirten [sic!], trug uns der dortige Hauptmann ein Zelt an.
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Shkodra zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Beim Erdbeben am 1. Juni 1905 gab es erhebliche Schäden in der Stadt.
Wir hätten selbes auch für Weiteres benützt, doch stellte sich nach dieser Katastrophe noch starker Regen ein, und wir blieben zwei Nächte beim Loydagent [sic!] und die übrigen paar Nächte in einer Schenke übernacht, wobei wir noch jede Nacht durch schwächere Erdbeben aufgerüttelt wurden. Die Koffer standen gepackt in der Wohnung, der Abreise harrend, doch davon konnte keine Rede sein.“ So weit der authentische Bericht der im wahrsten Sinn des Wortes aufgeschreckten Katharina von Bukowska. Tillfried Cernajsek, der als Herausgeber jedes Wort der Tagebücher kennt, schreibt im Vorwort, „eine sensationelle Rarität“. Dem kann ich nur beipflichten. Nun die Sicht der Presse. Das Deutsche Volksblatt schrieb am Freitag, den 2. Juni unter dem Titel Erdbeben, dass die Hauptherde Bocche di Cattaro, Montenegro, und das Gebiet von Skutari waren, und lieferte Details zur Uhrzeit: „Heute [1. Juni] um 5 Uhr 44 Min. früh wurde hier ein heftiges, etwa 10 bis 12 Sekunden andauerndes Erdbeben wahrgenommen.“ Dann folgten Details, die hilfreich sind für die Bestimmung des Intensitätsgrades auf der makroseismischen Skala: „Bei einzelnen Häusern weisen die Mauern Sprünge auf, ebenso die Rivakaimauern. Beim Garnisonsgarten ist die Rivamauer eingestürzt. Das Erdbeben wurde im ganzen Bezirke verspürt, besonders
Erdbeben von Skutari: tektonischer Natur
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stark in der Gemeinde Spizza, wo um 3 Uhr 50 Minuten nachmittags ein zweiter leichter Stoß erfolgte. In Spizza sind viele Häuser unbewohnbar; die Schulen und Kirchen haben stark gelitten. In der Ortschaft Gijngijnovich ist ein kleines Bauernhaus eingestürzt, wobei eine Frau erheblich verletzt wurde. Die Ortschaft Breka soll ganz in eine Rauchwolke gehüllt gewesen sein. Die Bewohner kampieren vielfach im Freien.“ In Cetinje, einer montenegrinischen Stadt zwischen Podgorica und Budva, waren laut Bericht der Agramer Zeitung vom 3. Juni 102 Tote und 250 Verwundete zu beklagen: „Viele Gebäude sind eingestürzt. Das muhammedanische [sic!] Viertel Balcelik ist vollkommen zerstört.“ In den nächsten Tagen war in allen Zeitungen übereinstimmend zu lesen, dass die Stadt Skutari, das heutige Shkodra (auch: Shkodër), im Norden Albaniens nahe der Grenze zu Montenegro beinahe dem Erdboden gleichgemacht wurde.
Auch im fernen Wien reagierte man. Die Akademie Erdbeben von Skutari: der Wissenschaften schickte den jungen Geologen tektonischer Natur Hermann Vetters (1880–1941) nach Albanien mit dem Auftrag, dort die Schäden des Erdbebens zu studieren. Warum gerade Vetters? Die Antwort lag auf der Hand, Vetters war 1905 im Auftrag der Universität Wien, wo er am Institut für Geologie Assistent war, im Grenzgebirge von Dalmatien und Montenegro zwischen Cattaro und Cetinje unterwegs gewesen. Damit war der junge Vetters der Mann der Stunde, als es darum ging, Details zum Erdbeben zu erforschen. In der Frühzeit der Erdbebenforschung war die Akademie der Wissenschaften federführend. Dort hatte man unter dem Eindruck des verheerenden Bebens von Laibach (14. April 1895), dem heutigen Ljubljana in Slowenien, eine „ErdbebenCommission“ eingerichtet. Ziel war zum einen die Herstellung eines Katalogs mit einer möglichst vollständigen und zuverlässigen Zusammenstellung aller historischen Erdbeben im Bereich des österreichischen Staatsgebietes und zum anderen die Organisation eines Erdbebendienstes in den österreichischen Ländern. Nachdem die Akademie der Wissenschaften das ehrgeizige Projekt begonnen hatte und die Grundlagen dazu gelegt hatte, wurde mit Erlass vom 23. Februar 1904 Hermann Vetters auf einem Bild aus 1916. der k. k. Zentralanstalt für Meteorologie und
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Erdmagnetismus der gesamte seismische Dienst für Österreich übertragen. Dies führte zur Umbenennung der Anstalt in k. k. Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik, mit dem Ende des Ersten Weltkrieges verschwand das „k. k.“, geblieben ist die ZAMG. Vetters, er wurde vom Geologen Heinrich Beck (1880– 1979) als „schlanker, sehniger nordischer Typ mit blondem Haar und hellen Augen, mit hoher Stirn und schmalem Eingang in die Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik Langschädel über einem feinge(ZAMG) auf der Hohen Warte in Wien Döbling, wo sich der Österreichische Erdbebendienst befindet. schnittenen hübschen Gesicht“ beschrieben, nutzte die Chance vor Ort. Er machte nicht nur Schadensaufnahmen, sondern auch geologische Beobachtungen, „über welche demnächst eine kleinere Veröffentlichung erscheinen soll“. Er hielt gleich fest: „Das Becken des Skutarisees und die westalbanesische Küstenebene war im Jungtertiär vom Meere überflutet.“ In seinem Erdbebenbericht schilderte er Details über die großen Schäden in Skutari; der Grund lag in der schwachen Bausubstanz: „Die Mauern sind aus kopfgroßen, abgerundeten Steinen zweiteilig aufgeführt, schlecht verbunden, während die Ziegeldächer ziemlich großes Gewicht besitzen. Hohe, freistehende, dabei gut zusammengefügte Objekte, wie die Kirchentürme (Kathedrale, Franziskaner) und besonders die schlanken Minarets [sic!] führten deutlich sichtbare, große Schwingungen aus, um dann fast unversehrt in die Ruhelage zurückzukehren.“ Insgesamt sollen etwa 170 Personen getötet worden sein, erhob Vetters. Freilich, im Vergleich zum Beben von Messina (Italien) drei Jahre später war die Zahl der Opfer gering. Am 28. Dezember 1908 waren allein in der Stadt Messina durch ein Seebeben rund 80.000 der 130.000 Einwohner verstorben; es war die größte Naturkatastrophe des 20. Jahrhunderts in Europa. Für das Beben von Shkodra hatte der damals 25-jährige Vetters eine geologische Erklärung; er schrieb: „Daß das Erdbeben von Skutari tektonischer Natur sei, wurde von Anfange an mit Recht geglaubt, und man brachte es mit der Scharung der dinarischen und albanischen Ketten in Zusammenhang.“ Auch das Beben von Messina hatte seine geologische Ursache in der Tektonik. Der Auslöser lag in der Subduktion (Unterschiebung) der Ionischen Platte unter die Tyrrhenische.
Erdbeben vom 1. Juli 1905: Epizentrum in 11 km Tiefe
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Bei der Frage nach einer modernen Interpretation des Erdbeben vom 1. Juli 1905: damaligen Bebens wende ich mich an die ZAMG. Hier Epizentrum in 11 km Tiefe ist die Historikerin Christa Hammerl, Expertin für historische Erdbeben, meine Ansprechpartnerin. Prompt kommt ihre Antwort, sie liefert mir ein Literaturzitat mit den Worten: „Lieber Thomas, ich denke der Artikel könnte für dich interessant sein, ich habe aber keinen Zugriff [auf die digitale Version]. LG, Christa.“ Sie hat recht, hinter der angegebenen Internetadresse steht der Fachartikel The earthquake of June 1, 1905, Shkodra, Albania; Intensity distribution and macroseismic epicentre der beiden Seismologen Siasis Koçiaj und Eduard Sulstarova. Publiziert wurde er in Tectonophysics. Ich habe auch keinen Online-Zugriff, aber wir haben diese Zeitschrift vom Gründungsjahr 1964 bis zum Jahr 2000 geschlossen im Bestand. Ein paar Schritte ins Magazin und ich halte Band 66 und 67 von 1980 mit der Signatur P.S. 1835,80 in Händen. Das Epizentrum lag südlich von Shkodra bei der Ortschaft Trush (42° 02’ N, 19° 30’ E) in 11 Kilometern Tiefe, die Intensität war bei IX nach der MSK-Skala; so weit die Berechnungen der beiden Seismologen von der Albanischen Akademie der Wissenschaften. Zur Erklärung: MSK steht für die 12-teilige Intensitätsskala, genannt Medwedew-Sponheuer-Karnik. Sie entspricht der Europäischen Makroseismischen Skala (EMS-98), mit der heute Erdbebenauswirkungen an der Erdoberfläche klassifiziert werden. Für Stärke IX sprechen folgende Beobachtungen: „Allgemeine Panik unter den Betroffenen. Sogar gut gebaute gewöhnliche Bauten zeigen sehr schwere Schäden und teilweisen Einsturz tragender Bauteile. Viele schwächere Bauten stürzen ein.“ Rückblickend gesehen hatten die Bukowskis 1905 Glück im Unglück. Obwohl sie bei dem großen Beben auf der Balkanhalbinsel nahe am Epizentrum waren, überlebten beide und kehrten nach Wien zurück. Dank der Initiative der nimmermüden Barbara Vecer Die 2008 enthüllte Gedenktafel in der Hansalgasse 3 es mehr als hundert Jahre später gibt in Wien Landstraße, der einstigen Wohnadresse der am damaligen Wiener Wohnhaus der Bukowskis.
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Bukowskis auch eine Gedenktafel. Freilich hat die Tafel nichts mit dem Erdbeben zu tun. Vielmehr wurde sie aus Anlass der 150. Wiederkehr des Geburtstags von Gejza Bukowski von Stolzenburg am 14. April 2008 in der Hansalgasse 3 enthüllt. Auch in seinem Geburtsort, im polnischen Bochnia, wusste man ihn zu ehren: Dort trägt eine Straße seinen Namen.
Das Beben von Shkodra war schon damals fernab der Wiener Wahrnehmungen und heute ist es längst vergessen, nur mehr Seismologen interessieren sich dafür. Andere Beben sind im Bewusstsein der Bevölkerung tief eingeprägt. Manche Leute können sich noch erinnern, haben es vielleicht selbst gespürt: Das Erdbeben von Friaul im Jahr 1976. Eigentlich waren es zwei Bebenserien, doch dazu später. Von den nahezu tausend Toten will ich drei, davon zwei Geologen, die bei ihrer Feldarbeit überrascht wurden, herausgreifen. Es sind dies der 41-jährige Riccardo Assereto, Professor in Mailand, Experte für den Zeitabschnitt der Trias (251,9–201,3 Millionen Jahre) im Erdmittelalter, sein Sohn Andrea und Giulio Pisa, der 40-jährige Geologieprofessor aus Bologna, ebenfalls Spezialist im selben Fachgebiet. Die beiden Experten auf dem Gebiet der geologischen Zeitrechnung (= Stratigrafie) und der elfjährige Andrea Assereto verstarben am 15. September 1976 bei Geländeaufnahmen am Monte Bivera. Der Grund: Steinschlag. Der Auslöser: Ein Beben der zweiten Serie von Friaul, das – wie auch die Erdstöße der ersten Serie – in weiten Teilen von Zentraleuropa und Südeuropa zu spüren war. Bei der Suche nach Kollegen, die beide noch gekannt haben, finde ich mit Rainer Brandner, Geologe an der Universität Innsbruck, einen, der sich nach mehr als vierzig Jahren an die Wissenschaftler erinnert. „Beide Kollegen habe ich bei unserem Trias-Symposium 1972 kennengelernt. […] Assereto habe ich beim Symposium als sehr kompetenten Fachmann der Trias-Stratigrafie und vor allem Das Seismogramm des Bebens von Friaul am 15. September Biostratigrafie kennengelernt, hat1976, aufgezeichnet mit dem Conrad-Seismografen an der te dann aber keinen persönlichen ZAMG in Wien.
Friaul, 15. September 1976: zwei Geologen erschlagen
Friaul, 15. September 1976: zwei Geologen erschlagen
Kontakt mehr. Mit Pisa hatte ich intensiveren Kontakt, auch deshalb, weil wir damals den italienischen Kollegen mit unserer Arbeit über das Anis [247,2–242 Millionen Jahre; Zeitabschnitt innerhalb der Trias] der Olanger und Pragser Dolomiten voraus waren.“ Brandner, der 1971 promoviert hatte, spricht von einer gemeinsamen Exkursion in den Karnischen Alpen. Damals waren neben Pisa auch der Innsbrucker Geologe Helfried Mostler (1934–2017), der deutsche Geologe Thilo Bechstädt, der 1972 in Innsbruck promoviert hatte, und der Italiener Giovanni Viel (1944–2009) dabei. Das Treffen hatte fachliches Konfliktpotenzial Rainer Brandner, Dolomiten- und ersten Ranges, es ging um die Priorität wissenKalkalpenexperte. schaftlicher Fachtermini. In den Naturwissenschaften gilt, dass die Erstbenennung eines Tieres, einer Pflanze, eines Fossils oder Gesteins für diese Spezies, dieses Fossil, dieses Gestein weltweit gültig und anzuwenden ist. Wer später einen neuen Namen in Unkenntnis der Erstbenennung vergibt, muss diesen – in Hinblick auf die Prioritätsregel – revidieren. So etwa heißt der Dachsteinkalk, den 1847 der Geograf Friedrich Simony (1813–1896) ausgehend von den Gesteinsabfolgen am Dachstein prägte, auch in anderen Ländern bis China eben Dachsteinkalk. Brandner nennt in seinem E-Mail vom 9. September 2019 die Details des Disputs und erklärt zunächst die Ausgangssituation: „Giovanni Viel, wie Giulio Pisa ebenfalls von Bologna (neben Ferrara und Mailand eine Hochburg der Dolomiten-Geologie, die ungern ausländische Geologen in den Dolomiten duldete), hat sich damals in der Triasstratigrafie mit der Italianisierung altösterreichischer Formationsbegriffe unter dem Vorwand der Formalisierung profilieren wollen: statt Buchensteiner Schichten: Formazione di Livinallongo oder Wengener Schichten: Formazione di La Valle, usw. Erst viel später hat Maurizio Gaetani (1940–2017) von Mailand auf die Priorität der alten Begriffe verwiesen und einiges wieder zurechtgerückt.“ Brandner berichtet von einer spannenden Exkursion, zumal die Österreicher Vergleiche mit den Pragser Dolomiten in Südtirol machen konnten. Natürlich wollten sie möglichst viel sehen, sprich gezeigt bekommen, so auch geologische Aufschlüsse am Clapsavon (2.462 Meter) und am Monte Bivera (2.474 Meter). Doch Giulio Pisa wollte ihnen nicht alles zeigen; als dann Mostler Gesteinsproben nehmen wollte, war Pisa erzürnt, erinnert sich Brandner: „Das war ihm dann gar nicht mehr recht. Er sagte: ‚No, no, facio io‘ (nein, nein, das mache ich), ‚ich arbeite hier!‘“ Voll Unver-
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ständnis fuhren sie dann heim, so viel Nationalismus überraschte selbst die stolzen Tiroler. Trotzdem riss die Verbindung zwischen den Italienern und den Tirolern nicht ab. „Ich hatte dann noch einige Zeit Kontakt mit Giulio, insbesondere auch deshalb, weil er später mit dem auch mir gut bekannten Kalkalgenspezialisten Ernst Ott zusammenarbeitete“, so Brandner im Rückblick.
Vierzig Jahre nach dem Erdbeben gedachte man in Italien der beiden Geologen Assereto und Pisa. Maria Rose Petrizzo und Davide Zanoni organisierten an der Universität in Mailand vom 8. bis 10. Februar 2016 ein wissenschaftliches Symposium, Giornate Assereto. Am 17. und 18. September 2016 gab es vor Ort, ausgehend von Sauris in Friaul Julisch-Venetien eine Gedächtnisveranstaltung mit Exkursion im Gedenken an die Verunglückten unter dem Motto, „Per queste aspre montagne – Omaggio a Giulio Pisa e Riccardo Assereto“, auf Deutsch: „Für diese schroffen Berge – Hommage für Giulio Pisa und Riccardo Assereto“. Bei der genauen Betrachtung des Friauler Bebens zeigt sich ein differenziertes Bild, denn es gab mehrere „Friauler“ Beben. Die erste Serie war im Mai 1976, im September folgte die zweite. Auf der Website der ZAMG ist vierzig Jahre später, am 6. Mai 2016, zu lesen: „Das Erdbeben der Magnitude 6,5 war die folgenreichste Naturkatastrophe Italiens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das Epizentrum (46,25° N, 13,22° O) lag südöstlich von Gemona, die Herdtiefe betrug 15 km.“ Was die Intensität betrifft, so lag sie zwischen IX und X auf der 12-stufigen EMS-98. Das Mai-Beben von Friaul war also stärker als jenes von Shkodra. Die Seismologen der ZAMG haben folgende Erklärung: „Die tektonische Gedenkfeier für Riccardo Assereto (links) und Ursache des Erdbebens ist auf eine Verschie- Giulio Pisa (rechts).
Per queste aspre montagne – Für diese schroffen Berge
Per queste aspre montagne – Für diese schroffen Berge
Die Karte der Friauler Beben vom 15. September 1976, die in ganz Österreich wahrgenommen wurden, zeigt die stärksten Intensitäten in Kärnten, die nach Norden hin kontinuierlich abnehmen.
bung der Adriatischen Mikroplatte in Richtung Europäischer Kontinentalplatte mit einer Geschwindigkeit von bis zu 2 mm pro Jahr zurückzuführen. Das europäische Krustenmaterial mitsamt den überlagerten tektonischen Decken wird dabei auf die Adriatische Platte überschoben. Der diesem Beben zugrunde liegende Herdmechanismus bestätigt den Kompressionsvorgang.“ Abseits dieser Newsmeldung zeigte eine 1979 von Julius Drimmel und Co-Autoren (alle ZAMG) verfasste Detailstudie, dass der tödliche Erdstoß keineswegs der einzige war. Allein der Titel der Monografie sagt es: Die Auswirkung der Friauler Beben […]. Das erste große Beben in dieser von Erdbeben regelmäßig heimgesuchten Region war am 6. Mai 1976. Um 20:59:07 Uhr wurde ein Beben mit der Intensität von 6,5° nach MSK registriert. Nicht einmal eine Minute später, um 21:00:15 Uhr folgte ein weiteres Beben, viel stärker, viel heftiger und zerstörerischer: 9,0° nach MSK. Die Bilanz war verheerend. „Fast 1.000 Menschen verloren ihr Leben und etwa 2.300 wurden verletzt, die Zahl der Obdachlosen wurde auf 150.000 geschätzt. Zweifellos hätte es noch mehr Opfer unter der Bevölkerung gegeben, wenn nicht das starke Vorbeben viele Menschen zur Flucht aus ihren Häusern veranlaßt hätte.“ Innerhalb der darauffolgenden
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24 Stunden folgten nicht weniger als 31 Nachbeben, 9 hatten im Epizentrum eine Intensität von mindestens 6° nach MSK. Die nächste Serie war im September. Es begann am 11. September 1976 mit zwei Beben um halb sechs am Abend; im Abstand von vier Minuten wurden Intensitäten von 6° nach MSK gemessen. Die Bilanz vom 11. September: 5 Tote. Am 12. September und 13. September wurden ebenfalls Starkbeben registriert, ehe am 15. September erneut eine Bebenserie einsetzte. Es folgen nun im Telegrammstil Uhrzeit und Intensität der größten Beben vom 15. September: 04:15:22 Uhr: 8,5° nach MSK; 10:21:20 Uhr: 9,0° nach MSK; 12:11:13 Uhr: 7,5° nach MSK. Die Beben vom 15. September wurden nicht nur im Süden Österreichs in Kärnten, sondern bis nach Gmünd im Norden Niederösterreichs wahrgenommen. Warum Assereto und Pisa nach dem starken Beben, das sie wohl aus dem Schlaf gerissen hatte, noch am selben Tag in die Berge gingen, wissen wir nicht. Dachten sie, dass das Beben vom 15. im Morgengrauen nach der Bebenserie vom 11., 12. und 13. September das letzte war, dass sich die Erde nun beruhigt hatte? Sie können es uns nicht mehr erzählen. Als ich Christa Hammerl um das Seismogramm der ZAMG mit dem Beben vom 15. September um 10:21:20 bitte, schickt mir ihre Kollegin, die Seismologin Rita Meurers einen Link zur jüngsten Arbeit über Friaul: „Seit Kurzem gibt es eine neue, länderübergreifende makroseismische Karte.“ Zum Glück ist die Arbeit Open Access. Im Jahr 2018 begann Andrea Tertulliani vom Istituto Nazionale di Geofisica e Vulcanologia (INGV) in Rom mit elf Co-Autorinnen von Wien (Rita Meurers) über Budapest bis Warschau und Brüssel, die makroseismischen Wahrnehmungen des Bebens vom 6. Mai 1976, das in dreizehn europäischen Ländern gespürt worden war, erneut zu evaluieren. Dabei wurden quer über den Kontinent Fragebögen mit Wahrnehmungen der Bevölkerung erneut ausgewertet. Das Ziel war, ein Gesamtbild des Bebens unter Anwendung der neuen Europäischen Makroseismischen Skala (EMS-98) zu erstellen. Das Fazit der Forscher am Ende der Arbeit ist ein Bekenntnis zur länderübergreifenden Kooperation: „The study shows, that it is possible to establish excellent international cooperation in macroseismology.“ Beruhigend ist, dass wissenschaftliche Kooperationen quer über Landesgrenzen existieren. Um Berliner wird gebeten! „Warum kommen keine Fremden? Warum kommen die Berliner nicht? In zwei Tagen kann man von Berlin in Triest, in vierundzwanzig Stunden von Triest in Ragusa sein. Warum kommen die Berliner nicht? So hat man mich überall gefragt. […] Ich habe den Dalmatinern auf ihre Fragen gesagt, daß wahrscheinlich deswegen kein Berliner nach Dalmatien kommt, weil noch kein Berliner nach Dalmatien gekommen ist. Ich meine damit nicht bloß, daß der Berliner wenig Neigung hat, einen Ort aufzusuchen, wenn er
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nicht sicher ist, dort schon einen anderen Berliner vorzufinden. Er geht dorthin, wohin ‚man‘ geht. Er gehört nicht zu den Entdeckern im Reisen. Dies überläßt er den Engländern, deren Stolz es ist, die ersten zu sein und ein Land sozusagen zu deflorieren. […] Denn wenn der Berliner auch kein Entdecker im Reisen ist, so gleicht er doch dem Engländer darin, daß er als Reisender produktiv ist, indem er seine Gewohnheiten, Sitten und Ansprüche in das Land mitnimmt und hier unterbringt. Dies aber ist es, was wir hier brauchen, um Dalmatien erst für Europäer wohnlich zu machen; und die Kraft dazu fehlt den Ungarn und den Wienern ganz, den einzigen Gästen, die Dalmatien bisher hat. Nachdem man der österreichischen Regierung zwanzig Jahre lang vorgesagt hat, es könne doch auf die Dauer nicht genügen, dieses Land immer noch bloß militärisch besetzt zu halten, sondern sie müsse nun doch auch einmal mit einer Art Verwaltung beginnen, es müsse für das Land irgend etwas einem Regieren Ähnliches geschehen, und das Nächste sei, Fremde herzubringen, fängt sie jetzt langsam mit Erstaunen an, dies einzusehen, glaubt nun aber alles getan, wenn sie den Lloyd verhält, diese beiden neuen schönen großen Dampfer auszurüsten, den ‚Baron Gautsch‘ und den ‚Prinzen Hohenlohe‘ […], und wundert sich baß, daß diese behaglichen Schiffe mit ihren liebenswürdigen Kapitänen dreimal wöchentlich leer sind. Achthundert hätten Platz, meistens sinds keine Zwanzig: ein paar Offiziere, nach Cattaro versetzt, ein paar Offiziersfrauen, die ihre Männer auf vierzehn Tage besuchen, und die paar Ungarn und Wiener, die eine Woche im Hotel Imperial in Ragusa verbringen wollen, um einen Schnupfen loszuwerden. Läßt sich ein solcher einmal verlocken, auch nach einer anderen Stadt oder gar nach einer der Inseln zu gehen, so kommt er eilends zurück, entsetzt, zerstochen und halb verhungert. Er ändert aber nichts. Denn Ungarn und Wiener sind als Reisende ganz unproduktiv. Der Engländer, der ein produktiver Reisender ist, sagt: Nein, das ist kein Bett, das ist kein Essen, das ist kein Waschtisch, sondern das Bett muß so sein, das Essen so, der Waschtisch so, vorwärts! und außerdem will ich noch folgendes! Der Engländer weiß genau, was er will, zeigt es und läßt nicht ab, bis er es durchgesetzt hat. Der Ungar schimpft, reist ab und schließt daraus, daß Dalmatien ungarisch werden müsse. Der Wiener verdirbt sich den Magen, aber gern, weil ihm das wieder einmal beweist, daß es nur eine Kaiserstadt gibt. Und so zeigt niemand diesen höchst willigen Leuten hier, was der Fremde braucht. Sie sind bereit, man muß es ihnen nur sagen, denn sie wissen es nicht, man muß sie nur erziehen. Weshalb ich wiederhole: Um Berliner wird gebeten! Denn der Berliner nimmt seine Sitten, seinen Geschmack, seine Gewohnheiten auf Reisen mit und weiß sie überall mit Entschiedenheit zu installieren. Beliebt macht er sich dadurch wenig, was ja wohl auch kaum sein eigentlicher Ehrgeiz ist. Aber man weiß: wo Berliner einmal einige Zeit waren, da kann man getrost hin. Es gibt unter den Deutschen keinen anderen Stamm, der so sehr die Kraft hat, zu kolonisieren.“ Aus: Hermann Bahr: Dalmatinische Reise (1909)
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Durchs wilde Nurestan
Durchs wilde Nurestan Mit dem VW-Bus in den Hindukusch
Der Titel erinnert an den Abenteuerroman Durchs wilde Kurdistan von Karl May (1842–1912). Dieser erschien Anfang der 1880er-Jahre. In diesem Beitrag aber geht es um eine wissenschaftliche Expedition Anfang der 1970er-Jahre. Die Geologen Gerhard Fuchs, Alois Matura und Otmar Schermann, alle von der Geologischen Bundesanstalt (GBA) in Wien, waren mit VW-Bus unterwegs in ihr Arbeitsgebiet, das war allerdings im Nordosten Afghanistans, mitten in den hohen Bergen des Hindukusch in Nurestan. Die Geschichte begann vor einigen Jahren, als mir Alois Matura seine persönlichen Aufzeichnungen für das Archiv gab. Ich übernahm damals zwei orange spiralgebundene Hefte mit der Aufschrift Tagebuch Afghanistan-Expedition 1972. Ich warf einen flüchtigen Blick hinein, legte sie samt einigen geologischen Manuskriptkarten, die ebenfalls dabei waren, zur Seite. Erst später wollte ich sie inventarisieren lassen. Die Aufzeichnungen waren in lesbarer Handschrift. Ich schnappte Sätze auf wie: „Der heißeste Tag meines Lebens, Lufttemp. >45°C. – Wegen zusätzlicher Durchfallschwächung ziemlich groggy. – Trotzdem ein überwältigendes Erlebnis mit dem Wechsel von Öde und Oase. – Faszinierend die malerische Kleidung der Nomaden.“ Spontan nahm ich mir vor: Daraus mache ich später einmal etwas. Es sollte bis zum Sommer 2019 dauern, dass dieses Vorhaben spruchreif wurde. Die Tagebücher blieben bis zum Herbst 2019 im Regal liegen – als Erinnerung – als unerledigtes To-do. Da nicht nur die beiden Tagebücher vorhanden waren, sondern sich auch die drei Expeditionsteilnehmer betagt, aber in voller Frische am Leben erfreuen, beschloss ich, zunächst Alois Matura – er war Ende 1998 als beamteter Hofrat und Abteilungsleiter in Pension gegangen – per Mail zu kontaktieren. Mit Freude las ich seine spontane Antwort: „Ich bin gerne bereit, Dir bei dem neuen Buch zu helfen. Eine Box etwa mit 100 Dias von Afghanistan steht zur Verfügung. Ich verreise nächste Woche in den fernen Westen Niederösterreichs und werde mich danach wieder melden. Bis dahin in Vorfreude. Alois“ Die Reise nach Afghanistan führte die drei Wiener Geologen Fuchs, Matura und Schermann 1972 über die Balkanroute in die Türkei, wo sie in Kappadokien kurz haltmachten.
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Anfang November 2019 traf ich ihn, die angekündigten Scans von Dias mit Impressionen vom Leben in der wilden Bergwelt des Hindukusch brachte er mit.
Zunächst eine kurze Vorstellungsrunde. Gerhard Fuchs, Jahrgang 1934, war schon 1957 als Geologe bei der Österreichischen Grönland-Expedition dabei. Dann folgten 1963, 1965, 1967 und 1969 geologische Arbeiten im Himalaya. Mit dieser Expertise wurde er vom damaligen Direktor der GBA, Anton Ruttner (1911– 2006), als Exkursionsleiter mit der Mission beauftragt. Fuchs ist in Geologenkreisen ein relativ häufiger Name. Um Gerhard mit den Gleichnamigen unter seinesgleichen: Alfred (Ingenieurgeologe in Tirol), Florian (Geophysiker, Universität Wien), Reinhard (Mikropaläontologe bei der OMV – eine österreichische Erdöl- und Erdgasfirma), Theodor (1842–1925, Paläontologe am k. k. naturhistorischen Hof-Museum, heute: Naturhistorisches Museum) und Werner (1937–1985, Geologe an der GBA) nicht zu verwechseln, wird er in Geologenkreisen „Himalaya-Fuchs“ genannt. Das kommt nicht von ungefähr, denn nach der Afghanistanexpedition kamen noch weitere fünfzehn (!) Expeditionen, zuletzt im Jahr 2004, zum Himalaya hinzu. Somit ist der Name „Himalaya-Fuchs“ nicht nur mehr als berechtigt, sondern nahezu eine Nobilitierung. Als Geologe im Himalaya zu arbeiten ist ungefähr so, wie als Fußballer in der Championsleague zu spielen. Fuchs’ wissenschaftliche Forschungsergebnisse, vorwiegend geologische Karten aus dem In- und Ausland, sind in der Fachliteratur veröffentlicht, seine damit verbundenen Erlebnisse würden wohl ein dickes Buch füllen. Otmar Schermann, ebenfalls Jahrgang 1934, liebevoll „Scheri“ genannt, ist Lagerstättengeologe. Im Jahr 1970 nahm er an einer Prospektions-Expedition in Grönland teil. Er war 1978 in Haiti bei Prospektions- und Explorationsarbeiten auf Zementrohstoffe, 1981/82 dann in Ecuador (Geochemische Erzprospektion auf Gold und Blei-Zink im Rahmen der Entwicklungshilfe). 1986 folgten lagerstättenkundliche Arbeiten (Gold, Bauxit) in Ghana. Er arbeitete auch in Syrien. „Scheri“ ist vor allem mit dem Geochemischen Atlas der Republik Österreich, einem mehrjährigen Projekt in den 1980er-Jahren, als Mitautor verbunden. Alois Matura, der Jüngste der drei (Jahrgang 1938), war zeit seines aktiven Berufslebens als Feldgeologe für kristalline Gesteine im niederösterreichischen Waldviertel und in den Ostalpen tätig. Später war er als Redakteur für die Herausgabe geologischer Karten zuständig. Als Fuchs entschied, die Anreise mit dem Auto zu machen, um die Ausrüstungsgegenstände, darunter drei Zweimannzelte, mitzunehmen, war das keineswegs eine absurde Idee. Erstens hatten die Männer immer ihr Gepäck im Blick und zweitens wusste Fuchs in Sachen Autofahrt, wovon er sprach. Schon 1965 war er zusammen mit zwei
Die Eckdaten der Expedition
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Kollegen im Pkw bis zum Himalaya (im wahrsten Sinn des Wortes, um den Liedtitel Bis zum Himalaya der österreichischen Rockband „Tom Pettings Hertzattacken“ von 1983 zu strapazieren) nach Indien gefahren. Auch Wien–Kabul ist wahrlich kein Katzensprung, laut Routenplaner sind es 6.288,94 Kilometer auf der kürzesten Route. Doch ist die kürzeste auch die beste und geeignete Route? Antworten auf diese und noch andere Fragen lieferten die drei rüstigen Achtziger in persönlichen Gesprächen. Vorab finde ich erste Anhaltspunkte in ihrem Vorbericht über geologische und lagerstättenkundliche Untersuchungen in Nurestan, Afghanistan aus dem Jahr 1974. Die drei hatten das Gebiet von Nilaw in Nurestan, in dem vorher schon russische Geologen Beryllium und Lithium führende Gesteine entdeckt hatten, geologisch und lagerstättenkundlich im Detail zu untersuchen. Am Programm stand also geologische Grundlagenforschung: Herstellen einer geologischen Karte im Maßstab 1 : 50.000 von Der Expeditionsleiter Gerhard Fuchs war nicht nur erfahren, einem Gebiet in der Größe von rund 700 sondern zum Glück auch trittsicher und schwindelfrei, was sich Quadratkilometern. Und dann sollten noch als notwendig erwies. Proben für geochemische Analysen in Wien genommen werden. Zum Vergleich: Die Fläche Wiens beträgt 415 Quadratkilometer. Der Zweck der Grundlagenforschung war klar: Es sollten Grundlagen für die angewandte Forschung, für die zielgerichtete Rohstoffsuche nach Beryllium und Lithium erstellt werden. Beide Elemente sind Erdalkalimetalle, Letzteres ist ein wichtiger Rohstoff für Akkus. Geologisch relevant dafür sind Pegmatite. Das sind grobkörnige Gesteine, die als dezimeter- bis mehrere Meter breite Gänge, die reich an Mineralien sind, in kristallinen Gesteinen auftreten. Erfassung der Pegmatitgänge mit Lithium- und Berylliummineralien war das eigentliche Ziel der Expedition. Die Forschungen wurden im Rahmen eines bilateralen Entwicklungshilfeabkommens zwischen dem Königreich Afghanistan und der Republik Österreich durchgeführt. Die Arbeiten im Gelände, wie die Feldarbeit im Geologenjargon genannt wird, hatten
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Ziel der Afghanistanexpedition war die Erstellung einer geologischen Karte 1 : 50.000, um die Vorkommen von Pegmatiten (Ganggesteinen) darzustellen. In dem Ausschnitt der Geländekarte von Gerhard Fuchs sind die Vorkommen bzw. der Verlauf der Pegmatite mit rotem Farbstift eingetragen.
zwischen Juni und Dezember 1972 zu erfolgen. Die Durchführung lag in Händen des Instituts für Internationale Zusammenarbeit als Projektbetreuer. Dieses beauftragte mit Vertrag vom 30. Mai 1972 den Projektträger, die Geologische Bundesanstalt. Diese wiederum entsandte Geologen oder Experten, um in der Sprache der Juristen zu bleiben.
Da wie dort Vorbereitungen
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Ein weiterer Vertrag wurde zwischen dem Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung in Österreich und dem Ministry of Mines and Industry in Afghanistan geschlossen. Allein diese wenigen Sätze zeigen, welche Vorbereitungen auf höchster Ebene notwendig waren. Es war nicht damit getan, sich einfach ins Auto zu setzen, um Richtung Morgenland aufzubrechen.
Gerhard Fuchs begann, sich im Frühjahr 1972 um die Da wie dort Vorbereitungen Ausrüstung zu kümmern. Er orderte zunächst bei der Fa. Haberkorn in Freistadt (Oberösterreich) einmal fünfzig Meter Seil und einmal dreißig Meter Seil. Am 23. März schrieb er an die Firma Karl Margutsch, Rucksackfabrikation in Graz, dass seitens der GBA Arbeiten im südlichen Hindukusch geplant seien. „Wie auf meinen früheren Himalaya-Expeditionen möchte ich auch auf dieser Forschungsfahrt unbedingt Ihre erprobten Hochtourenrucksäcke (Modell 17) verwenden. Da unser Budget durch Kürzungen sehr angespannt ist, bitte ich Sie, uns auch diesmal 5 Rucksäcke Ihres Modells 17 (grün, Segel) zu einem Sonderpreis zukommen zu lassen.“ Wem der Name Karl Margutsch nichts sagt, der kennt vielleicht das Kürzel Kamarg und das Logo, den Grazer Uhrturm. Vielleicht haben oder hatten Sie, geschätzte Leserin, geneigter Leser, ja selbst einen Kamarg-Rucksack in Ihrem Besitz. Der ist, so wissen wir jetzt, sogar himalayatauglich. Das Erfolgsrezept laut Firmenwebsite: „Hochwertige Materialien. Für die Ewigkeit gemacht.“ Am 18. April signalisierte der Direktor der GBA, Anton Ruttner, der bereits 1937, dann 1956 und von 1960 bis 1963 regelmäßig im Iran für geologische Kartierungsarbeiten gewesen war, dem Präsidenten des Bergbauministeriums in Kabul (Ministry of Mines and Industry), S.H. Mirzad, grünes Licht. Von österreichischer Seite war das Kooperationsprojekt unter Dach und Fach. Der nächste Schritt war auf diplomatischer Ebene die Unterzeichnung eines offiziellen Abkommens. Für die zweite Junihälfte kündigte Ruttner das „Field Team“ an. Als Vorhut flog am 3. Juni Herwig Holzer (1927–1997), leitender Lagerstättengeologe an der GBA, nach Teheran. Um 21:30 Uhr wurde er dort abgeholt und blieb bis zu seinem Weiterflug nach Kabul am 7. Juni im österreichischen Kulturinstitut. In Teheran erledigte er Amtswege. Hier kamen ihm „seine zweijährigen persischen Erfahrungen im Umgang mit orientalischen Behörden sehr zugute“, wie Ruttner in seinen Memoiren festhielt. Am 6. Juni berichtete der positiv gestimmte Holzer an Ruttner: „Lieber Toni! Hier – in aller Eile – ein kurzer Vorbericht: Flug glatt, wurde von
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Dr. Slaby abgeholt u. wohne im Institut. […] Visaform. f. Team liegen bereit.“ Sachlicher indes ein Schreiben mit Briefkopf „Der Österreichische Botschafter“ vom 6. Juni 1972 an Direktor Ruttner („Sehr geehrter Herr Hofrat“). Der Botschafter, der nicht nur für den Iran, sondern auch für Afghanistan akkreditiert war, freute sich über das Projekt. Als Landeskundiger hielt er fest, dass das Arbeitsgebiet in der entlegenen Provinz Nurestan an der Grenze zu Pakistan liegt. Er wies auf mögliche Schwierigkeiten bei der Ernährung, die mit Jeep und Lasttieren gebracht werden müsste, hin. EinkaufsHerwig Holzer, Rohstoffgeologe. möglichkeiten zur Versorgung sah er in der nächsten Provinzstadt oder in Kabul, der Hauptstadt. Weiter im Text: „Die österreichische Gruppe wird sich sohin etwas außergewöhnlichen Bedingungen und wohl auch einer Verteuerung der Lebenshaltungskosten gegenübersehen.“ Ruttner bedankte sich und übte sich in Zweckoptimismus: „Es ist im Interesse unseres Landes zu hoffen, daß der Unternehmung ein voller Erfolg beschieden sein wird.“ In Kabul angekommen konnte Holzer nicht nur in der Botschaft wohnen, er durfte sogar das Botschaftsauto benutzen. Zunächst ging er in das afghanische Bergbauministerium, wo alles glatt lief („Im Ministry bin ich gut weitergekommen.“ [10.6.]). Beim Expeditionspersonal wurde dem Wunsch von Fuchs entsprochen: Man einigte sich auf „1 driver, 1 cook, 2 afgh. Geologen und 4 lokale Helfer, die stets bei unseren Leuten bleiben sollen“. Diese Personen hatten die Afghanen zu stellen. Außerdem wurde Holzer der afghanische Geologe Mirwali Shah als Helfer vorgestellt. Parallel dazu trieb Holzer die Vorbereitungen weiter voran, zwei Schreiben vom 10. und vom 12. Juni 1972 an Direktor Ruttner berichten davon. Die afghanischen Visa für die Geologen lagen bereits in der Botschaft in Teheran. Doch diese Zeilen vom 10. Juli mussten Ruttner stutzig machen: „Zum Gebiet: ganz Nurestan wurde kürzlich von den Russen 1:500.000 kartiert, für die geol. Karte v. Afghanistan. Russen haben neuen Mission Chef, den ich morgen treffen werde. […] Nach diesem Meeting soll eine neue Gebietsabgrenzung für unsere Leute ausgemacht werden. Mich freut’s natürlich nicht, daß die schon 1:500.000 kartiert haben, aber 1:50.00 läßt sich sicher viel Neues herausholen. Soll die Karte morgen sehen. Anschließend wird die Frage topo[grafische] Karten u. Luftbilder in Angriff genommen. – So das wär’s fürs erste. – Mir wär’s recht, wenn Polegeg [Siegfried Polegeg (1935–2014) war der vierte Mann im Bunde. Der studierte Montanist kam aus Leoben in der Steiermark.] so früh als möglich hierher kommen könnte, würde besseren Eindruck machen, u. ich bräuchte nicht unnötig herumsitzen u. auf ihn warten.“
Der Schreckensmoment: die Arbeit bereits erledigt?
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Dann folgte am 12. Juni der nächste Brief. „Hier Der Schreckensmoment: also Bericht 2: Hatte heute Besprechung mit russ. die Arbeit bereits erledigt? Team, die ohne unser Wissen im Vorjahr bereits weite Teile Nuristans 1:500.000 kartiert haben für die neue afghan. Übersichtskarte. Sie haben ihre Pamir-Leute eingesetzt. Außerdem haben sie bei Nilau einen Fleck 1:40.000 aufgenommen, eine grobe erste Kartenskizze. Schöne Überraschung, gelt? Ich sprach Mirzahd darauf an, er sagte, er hätte das bei unserem Besuch auch nicht gewußt, außerdem wäre das eine erste informelle Aufnahme, u. unser Team soll ja die Pegmatite näher bearbeiten. Abblasen kann ich natürlich nicht, da unsere Leute ja schon am Weg hierher sind, u. die Verträge unterfertigt usw. – Wir, d. h. Mirzahd, die Russen u. ich sind nun übereingekommen, daß unser Team von Nilau ausgehend, die pegmatithöffige Zone samt Rand im Detail 1:50.000 aufnimmt, soweit sie eben kommen, u. zwar in Stoßrichtung NE […]. Im engeren Nilau haben die Russen große Beryll- u. Li-Vork. gesehen u. an einzelnen Stellen auch bemustert (Röschen [= Aufgrabungen]), was ich beim Studium ihrer Kartenskizze sah. Ich bin natürlich über diese Entwicklung nicht sehr glücklich. – Ich hoffe, auch in Deinem Sinn gehandelt zu haben, denn wenn unsere Leute einen größeren Fleck sauber kartieren, vielleicht 1–2 Hoch-Profile dazu, und zu einer ersten Substanzschätzung kommen, dann ist dem Land hier geholfen, u. wir haben einen Beitrag zur Geologie des Hindukush geliefert.“ Ganz so schlimm war die Sache offenbar doch nicht. Holzer sollte sich als guter Stratege erweisen, er schaffte es, mit dem russischen Team zu kooperieren. „Habe bereits sehr guten Kontakt mit den Russen (Mission-Chiefs), und auch mit ihren Pegmatitspezialisten.“ Er schrieb Ruttner, dass die russischen Geologen für ihr Flammenfotometer – ein Messgerät, mit dem Elementkonzentrationen gemessen werden – Filter für die Elemente Lithium, Rubidium und Cäsium benötigten. Diese waren in der damaligen Sowjetunion offenbar nicht zu bekommen. Im Gegenzug boten sie an, Analysen zu machen. Es sollte auch nicht lange dauern, bis er ihre Kartenunterlagen zu sehen bekam.
Der Countdown läuft: Am 10. Mai 1972 hatte Fuchs einen Brief an Helmut Slaby (Kulturinstitut in Teheran) geschrieben. Darin das Tagebuch der Anreise umriss er seinen ehrgeizigen Zeitplan: 9. Juni Abfahrt der „3-Mann-Gruppe“ von Wien mit dem Auto. Er rechnete am 15. oder 16. Juni (abends) in Teheran einzutreffen und ersuchte Slaby, gleich am 17. Juni „unseren VW Bus bei einer großen VW Werkstätte zum Service vormerken zu lassen“. Mit Heft 1 vom Tagebuch Afghanistan-Expedition 1972 mache ich den Vergleich zwischen dem Plan und der Realität. Gerhard Fuchs erwies sich als exakter Planer, der Termin bei der VW-Werkstätte in Teheran sollte halten.
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Die drei brachen am Freitag, den 9. Juni um 7 Uhr bei Sonnenschein auf. Der Tachometer beim VW-Bus zeigte einen Kilometerstand von 1.455. Es ging zügig dahin. Sie wechselten einander beim Fahren ab und durchquerten auf der legendären Autoput Serbien. Ich kenne die Straße noch von meiner Maturareise in die Türkei 1982, die Autoput war eine echte Rumpelpiste. Seit vielen Jahren steuern wir unser sommerliches Familienferienziel, Gabrovo in Bulgarien im Norden des Balkangebirges, via Balkanroute an. Die Autoput ist Geschichte, heute gibt es bis Niš im südlichen Serbien eine durchgehende Autobahn. Das Tempo der drei im VW-Bus war zügig, freilich war damals wohl noch weniger Verkehr und Radarkontrollen gab es auch noch nicht. Also stand einem raschen Vorwärtskommen nichts im Wege. Sie erreichten Sofia (Samstag: 13:20 Uhr, Kilometer 2.480), hielten sich südlich des Balkangebirges und steuerten via Plovdiv die türkische Grenze an. Via Edirne kamen sie am Sonntag kurz vor Mittag in Konstantinopel beziehungsweise Istanbul (Kilometer 3.030) an. Weiter ging es durch den asiatischen Teil der Türkei, über Anatolien zur persischen Grenze, die sie am Mittwoch, den 14. Juni um 13:30 Uhr erreichten.
Heute noch schwärmt Alois Matura von den vielfältigen Eindrücken des Orients, von den bunten Kleidern der Bevölkerung, von den Einkäufen im Basar. Kannten Fuchs und Schermann schon von anderen Expeditionen die Vielfalt ferner Länder, stand Matura ganz im Bann der für ihn neuen Eindrücke, die er in seinen akribisch geführten Tagebüchern festhielt.
Persische Grenze: erste orientalische Begegnungen
„Donnerstag, 15. Juni 1972 7:30 Start Km 4.849, Wetter: Bedeckt kühl. Die ersten Kamele mit Frauen in malerischer Tracht. 10h Täbris. Bummel durch die Basare, ein Erlebnis, der Kauf eines „Belutsch“ [= Teppich] durch Schermann. 17h Werden wieder durch eine Mure an der Weiterfahrt gehindert. Km 5.264 Feierabend.“ „Freitag, 16. Juni 1972 8:30 Abfahrt Km 5.264. 10h Picknick, Wagenwäsche. 14h Weiterfahrt bis vor Teheran.“ Am 17. Juni kamen sie in der persischen Hauptstadt an. Dort brachten sie das Auto wie vorgesehen in der Früh zum Service. Daraufhin begaben sie sich zur Botschaft, machten allerlei Besorgungen und waren am Abend bei Dr. Slaby, der im
Persische Grenze: erste orientalische Begegnungen
Gastgeschenk für die Afghanen: eine Kuckucksuhr (Symbolbild).
Am Markt von Kabul kaufte der Koch der Expedition lokale Lebensmittel für Geologen und Träger, um daraus köstliche Speisen zuzubereiten.
Vorfeld viel für die Expedition getan hatte, eingeladen – „sehr unterhaltsam bis 1h nachts.“ Am Sonntag, den 19. Juni um 10 Uhr verließen sie Teheran und machten sich Richtung Elburs-Gebirge auf. Zwei Tage später erreichten sie die afghanische Grenze. „Dienstag, 20. Juni 1972 6:20 Abfahrt Km 6.689. Grenzstelle: Iran/Afghanistan. Erstaunlicher Kontrast zu Iran: Schmutzige, aber recht freundliche Grenzbeamte. Am originellsten die Begegnung mit dem Grenzarzt: Visite liegend im Bett. Mittagsrast unter einer Straßenbrücke. 15:30 7.100 Km Herat. 7.200 Km. Wüstenlandschaft.“ „Mittwoch, 21. Juni 1972 6h Km 7.253 Abfahrt. Der heißeste Tag meines Lebens, Lufttemp. >45°C. Wegen zusätzlicher Durchfallschwächung ziemlich groggy. Trotzdem ein überwältigendes
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Erlebnis mit dem Wechsel von Öde und Oase. Faszinierend die malerische Kleidung der Nomaden. Nachm. kehren wir bei einem typisch orientalischen Teppichhändler ein. Treuherzig, bekenntnishaft Vertrauen heischend liebt er es, über den Bart zu streichen und ‚me Muslim‘ zu sprechen (nach K. May: ‚Beim Barte d. Propheten‘).“ Am 23. Juni, einem Freitag, erreichten sie Kabul. Am nächsten Tag fuhren sie zum Ministry of Mines and Industry, wo die „Übergabe der Kuckucksuhr an Chasi Khani“, den zuständigen Sektionschef im Ministerium, stattfand. Diese Geste der Österreicher sollte sich als wichtiger Türöffner erweisen. Die nächsten Tage in Kabul waren mit Einkäufen im Basar zur Versorgung der Expeditionsmannschaft ausgefüllt. Hier war die letzte Gelegenheit, einen Arzt aufzusuchen, denn in der Bergwelt Afghanistans sollten sie völlig auf sich gestellt sein. „Donnerstag, 29. Juni 1972 9h Mi. [ministry] of Mines: Gespräch mit Schimirov dem Leiter des Russischen Geologenteams. Russen wurden von unserem Einsatz nicht verständigt. Zur Zusammenarbeit bereit. 10h Mit Counterpart [= offizieller Begleitbeamter] + Koch in den Bazar 12h Mittagessen in Botschaft 14:15 Zahnarzt Dr. Jan Vanderpat. Er reißt mir den letzten Stockzahn oben rechts vollkommen schmerzlos. Literaturstudium 20h → 1h morgens Gartenparty bei Fam. Ing. Reinthaler.“ Am nächsten Tag stieß abends Polegeg zu den dreien. Die Notiz von Alois Matura am 1. Juli, „Wodka von Schimirov“, ist eindeutig zu verstehen: Alle Probleme waren vorerst ausgeräumt, mit den russischen Geologen wurde ein Konsens erzielt. Es konnte losgehen, auf ins Arbeitsgebiet!
So glatt, wie sich die Männer den Start in die afghanische Bergwelt vorgestellt hatten, ging es dann nicht. Eine Reihe größerer und kleinerer Probleme, interne und externe, sorgten für einen holprigen Start der Expedition. Zunächst die internen Probleme, die man in dieser Form nicht erwartet hatte, waren die drei von der GBA doch ein eingespieltes Team. Doch der vierte Mann im Bunde, der in Kabul dazugestoßene Montanist Siegfried Polegeg, tat sich schwer. Hatten sich die drei schon während der Fahrt über die Balkanroute an Klima und Kost des Orients gewöhnt, stand Polegeg diese Akklimatisierungsphase nicht zur Verfügung. Der Flug Wien–Teheran–Kabul brachte ihn binnen weniger Stunden von der gewohn-
Holpriger Start und Probleme
Holpriger Start und Probleme
Kurz vor dem Ziel im Kartierungsgebiet Nurestans. Am Horizont sind die südlichen Ausläufer des Hindukusch zu erkennen, rechts im Bild eine Telefonleitung.
ten Welt des Abendlandes in die neue Welt des Morgenlandes, voll anderer Sitten, Gebräuche und Essensgewohnheiten. Freilich, Polegeg war schon sieben Jahre vorher für die Dauer von sechs Monaten in Afghanistan gewesen und somit war dieses Land für ihn keine Terra incognita mehr. Polegeg, der mit dem Team und den Trägern ins Arbeitsgebiet unterwegs war, schrieb in einem Bericht vom 10. August, dass er am 10. Juli „ernstliche Funktionsstörungen des Magen- und Darmtraktes“ hatte und nichts mehr essen konnte. Zwar trank er viel Tee und Wasser, doch fehlten ihm die nötigen Elektrolyte („Salzverlust“). Selbst während Ruhezeiten konnte er sich nicht mehr erholen. Vitamintabletten und kreislaufstärkende Mittel hielten ihn einigermaßen aufrecht: Es nützte nichts, er musste zurück. Am 14. Juli erreichte er die Botschaft in Kabul. Hier fand er Aufnahme und begab sich in ärztliche Behandlung. Die Personenwaage zeigte ein erschreckendes Bild, der Gewichtsverlust war enorm, „in 11 Tagen 12 kg“. Für die nächsten Tage war Rekreation angesagt. Ziel war ein einigermaßen gesundeter Zustand für den Heimflug. Ein Arzt attestierte ihm „Aklimatisationsbeschwerden“ [sic!]. Er führte die Höhenlage (1.800 Meter) als möglichen Auslöser an. Am 1. August hob Polegeg Richtung Wien ab. Neben den Akklimatisationsproblemen kamen noch Probleme mit der Nahrung dazu. Setzte Gerhard Fuchs auf lokale Kost, hätte Polegeg lieber mitgebrachte Nahrung aus Dosen (Österreichisch für Büchsen) gehabt. Polegegs kulinarische Erwartungshaltung blieb in Afghanistan unerfüllt, mit dem Dargebotenen kam er – im
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Gegensatz zu den anderen – nur sehr schwer zurecht. Auch Scherman war in dieser Anfangsphase gesundheitlich angeschlagen; Magenprobleme quälten ihn immer wieder, doch „Scheri“ konnte schlussendlich bleiben. Die externen Probleme betrafen die Afghanen. Die Geologen brannten darauf, nach wochenlanger Anreise endlich mit der Arbeit beginnen zu können, doch es ging nichts weiter. Vor Ort waren die Vorbereitungen nicht so, wie man es sich gewünscht hätte: die Träger machten Probleme. Was tun? Die Geologen berichteten ihrem Chef, Direktor Ruttner. Damals ging das per Brief, heuOtmar Schermann, liebevoll „Scheri“ genannt. te hätten sie ihn angerufen. Schermann berichtete am 24. Juli an den Direktor und teilte ihm die Probleme von und mit Polegeg mit, inklusive seiner eigenen. „Ich bin von Nilau aus zu einer Untersuchung des Magens. Nach den Symptomen hätte es ein Geschwür sein können und Fuchs meinte, sofort zum Arzt. Der hat das aber nicht weiter ernst genommen und mir eine Handvoll Pillen verschrieben, so kann ich wieder nach Nilau zurück.“ Schermann berief sich auf Fuchs und resümierte: „Er [Fuchs] meint, und hier stimme ich voll zu, das Projekt sollte nicht mehr weitergeführt werden (dies schreib ich in seinem Auftrag!).“ Ebenfalls einen authentischen Einblick in die Lage und auch in die Gefühlswelt der Forscher gibt ein Brief von Gerhard Fuchs an Direktor Ruttner:
Kabul, 8.7.72 „Sehr geehrter Herr Direktor! Am Tag von Holzers Abfahrt (3.7.) verließen auch wir Kabul. In Laghman, am Taleingang in das Alingartal mußten wir beim Wali (Gouverneur) vorsprechen. Einige Stunden mußten wir warten, während die ‚Officials‘ versuchten, uns klar zu machen, daß wir es in Nurestan einige Monate lang nicht aushalten würden. Besonders unsere Sicherheit sei wegen der ‚Hidden mines‘ nicht gewährleistet. Als wir am 4.7. zur letzten Ortschaft an der Straße kamen, waren wir bereits telephonisch von Laghman aus angemeldet. Die Träger steigerten bis zum folgenden Tag den Lohn bis zu 6 x Normalpreis. Da kommen wir drauf, daß man vom Ministerium aus dem Counterpart, mit dem die Verständi-
„Man warnt uns vor den bösen Bergvölkern“
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gung etwas schwer ist, bloß 10.000 Afs [Af: Afghan; 1 EUR = 86,1 Af] mitgegeben worden sind. Matura und Polegeg blieben beim Gepäck – Schermann und ich fuhren mit dem Counterpart nach Kabul zurück. Nun hat man angeblich unserem Begleiter genug Geld gegeben, hat den Polizeichef von Afghanistan kontakIn einem Brief vom 8. Juli 1972 an Direktor Anton Ruttner in Wien äußert sich Gerhard Fuchs über
tiert und Mr. Gazi Khani wird uns bis zum Ende der Straße begleiten. Man
anfängliche Probleme und beklagt sich „noch keinen
will uns Soldaten oder Polizisten bis
Strich Geologie gemacht zu haben“.
zum Ende der Arbeit mitgeben und Leute aus Nilau sollen zusätzlich
angeworben werden. Der Widerstand der örtlichen Behörden und Bevölkerung wird also auch in Kabul ernst genommen. Wir hoffen, daß es nun doch am 10.7. gelingt, ins Arbeitsgebiet aufzubrechen. Hoffentlich bekommen wir Träger zu dem von der Regierung erzwungenen Normallohn! Sie werden verstehen, wie sehr es uns wurmt, 1 Monat nach unserer Abfahrt von Wien noch keinen Strich Geologie gemacht zu haben. Bitte grüßen Sie besonders Dr. Holzer, der hier in Kabul phantastische Vorarbeit geleistet hat. Grüßen Sie weiters alle Mitglieder der G.B.A, von denen viele in den Tagen vor unserer Abfahrt wesentlich bei den Vorbereitungen mitgeholfen haben. Dank der Zusagen von Seiten des Ministeriums gewinnen wir wieder Hoffnung, daß wir bald an die Arbeit herankommen und das zermürbende Warten zu Ende geht. Mit den besten Wünschen grüßt Sie Ihr G. Fuchs“
„[…] und sichert uns jede Hilfe zu.“ So lautet das Ende „Man warnt uns vor den eines Satzes, den Alois Matura am Montag, den 3. Juli bösen Bergvölkern“ 1972 um 17:00 Uhr in sein Tagebuch schrieb. Das klingt nach steter Gefahr und nach Hinterhalt. Jetzt lese ich beide Tagebücher Zeile für Zeile. Freilich, so viel sei hier vorweggenommen, ein richtig böser Vorfall passierte nur einmal, als Fuchs und Matura mit Steinen beworfen wurden. Das hätte allerdings tödlich ausgehen können. Doch dazu später. Wie „böse“ waren die Bergvölker wirklich? Gleich am 5. Juli gab es erste Schwierigkeiten; die Träger verlangten überzogene Preise und der Counterpart hatte zu wenig Geld mit. Also ging nichts weiter. Details beschrieb Fuchs in seinem Brief: Am 2. August verließen zwei Träger die Österreicher;
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Nachdem die befahrbare Straße zu Ende war, musste die gesamte Ausrüstung auf Träger verteilt und auf diese Weise weitertransportiert werden. Dies sorgte allerdings für heiße Diskussionen.
die Strapazen des vorigen Tages waren ihnen zu viel geworden. Also wurde im nächsten Dorf Ersatz gesucht. Bald waren sie wieder komplett und brachen als Zehn-MannGruppe auf. Am 3. August wurde das Lager bei einer unbewohnten Almhütte auf 3.250 Metern Seehöhe aufgeschlagen. Am nächsten Tag stand Wäschewaschen am Programm, allerdings verschwanden eine Turnhose und zwei Paar Socken von Alois: „Angeblich hat ein Kind sie weggetragen.“ Waren die Geologen zunächst der Meinung gewesen, dass sie „eher weitab“ von einer Siedlung und damit sicher vor „Belästigungen der Bevölkerung“ waren, notierte Matura in seinem Tagebuch: „Irrtum!“ Am 17. August – übrigens der Geburtstag von Otmar Schermann – erlebten sie eine bedrohliche Situation. Sie wurden mit Steinen beworfen. Bereits bei unserem ersten Treffen hatte mir Alois von dieser unvergesslichen Begegnung mit zwei Einheimischen erzählt; dieses Abenteuer war auch im Gespräch mit Gerhard Fuchs im Dezember 2019 ein Thema. Er erzählte, dass zwei Einheimische durch seinen Feldstecher schauen wollten. Dieser Wunsch wurde ihnen auch gewährt, schließlich bietet sich im hintersten Nurestan nicht täglich diese Chance. Doch offenbar wollten sie noch länger schauen oder gar das Fernglas haben. Jedenfalls waren sie ungehalten, als Gerhard sein Fernglas zurückverlangte. Als sie sich getrennt hatten, merkten Gerhard und Alois,
„Man warnt uns vor den bösen Bergvölkern“
dass von oben Steine kamen. Kein „normaler“ Steinschlag, der im Gebirge ja durchaus vorkommen kann, sondern gezielt losgetretene große Blöcke kamen von oben. „Wir werden dort von Hirten angepöbelt und dann beim Abstieg gegen N[orden] mit Steinen beworfen. Eine gefährliche Situation“, steht hierzu im Tagebuch. Der Tag war also kein guter, denn schon „in der Früh und vormittags gab es wegen des Benehmens der afghanischen Begleiter einen größeren Krach, der aber noch im Laufe des Anstieges zur Paßhöhe beigelegt wurde“. Und nach der Versöhnung kam dann die oben erwähnte Begegnung. Die Afghanis wussten offenbar, wovon sie sprachen, und hatten so mit Recht das Expeditionsteam vor den „bösen Bergvölker[n]“ gewarnt. Am 12. September gab es wieder Träger-Troubles. Es ging wie fast immer ums Geld („Besoldungsfragen“). Sie „stellen zuerst den Weitermarsch in Frage“. Dann gab es doch eine Einigung, aber der Abmarsch verzögerte sich: Es ging nur langsam weiter und wieder wurden viele Pausen gemacht. Auch in den nächsten Tagen änderte sich nichts an der „hoffnungslos dahintrödelnden Trägerschar“ (14. September). Und in dem Stil ging es weiter. „Die erwarteten Schwierigkeiten mit Trägern. Wir müssen umdisponieren“, beginnt Matura seinen Eintrag vom 17. September. Das sieht nach passivem Widerstand aus. Drei Tage später gelangten sie im Tal zu einer kleinen Siedlung; „unfreundliche Aufnahme.“ Der 26. September brachte eine tierische Begegnung: ein „großer, bissiger Schäferhund, der den Träger und mich attackiert hat“.
Blick in das Hauptlager im Posal-Tal mit Alois Matura vor seinem Zelt mit einem einheimischen Träger.
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Rückblickend, sieht man von den Steine werfenden Hirten ab, waren die Trägerprobleme für diesen Kulturkreis „normal“. Auch Wolfgang Pillewizer (1911–1999), Leiter der DÖHKE (Deutsch-Österreichische Himalaya-Karakorum-Expedition), hatte 1954 im Karakorum mit derartigen Problemen zu kämpfen. Im Grunde ist das Verhalten der Einheimischen nachvollziehbar, wenn auch nicht akzeptabel. Zum einen treffen hier verschiedene Mentalitäten, zwei Kulturkreise, um nicht zu sagen zwei verschiedene Welten, aufeinander. Und zum anderen stellen Trägerdienste bei Expeditionen seltene Einnahmequellen dar. Klar, dass die Träger bei jeder Expedition versuchen das Optimum herauszuholen.
Ich möchte nicht an Ruttners Stelle gewesen sein. Am 4. August traf er in Leoben den zurückgekehrten Polegeg. Der Heimkehrer hatte auf sieben Seiten einen tagebuchartigen Bericht verfasst. Dieser begann mit seinem Abflug in Wien am 28. Juni, ging über Ankunft und Beginn der Expedition mit allen anfänglichen Malaisen, über die Genesung Schermanns, der am 26. Juli „wieder einigermaßen fit“ auf die beiden verbliebenen Kollegen stieß, bis zu seinem Heimflug am 1. August. Und dann hielt Ruttner noch die oben bereits zitierten Briefe von Schermann und Fuchs in Händen; rundum Schwierigkeiten. Was sollte er tun? Als Direktor der GBA hatte er die volle Verantwortung. Ein Abbruch, ein Scheitern kam keineswegs infrage. Ruttner machte in der Situation dasselbe wie seine Mitarbeiter. Hatten diese ihre Sorgen, ihren Ärger und Frust nach oben, sprich ihrem Direktor, mitgeteilt, schrieb Ruttner am 8. August ganz formell „An das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung“, sachlich betreffend „Entwicklungshilfe-Projekt Nr. 500 Afghanistan“. Ohne Umschweife schrieb er bereits im ersten Satz, dass eine Reihe von Schwierigkeiten aufgetreten waren. So wurde am 3. Juli den Geologen die Fahrt ins Projektgebiet vom Gouverneur der Provinz verwehrt, weil man dachte, die Österreicher würden hier illegal nach Halbedelsteinen suchen. Auch die Magenkrämpfe und Kreislaufstörungen Polegegs, der nach Kabul zurückkehren musste, wurden angesprochen. Er berichtete, dass er als Ersatz für Polegeg Herbert Grohmann, Jahrgang 1944, einen Geotechniker, der schon in Australien, Afrika und Brasilien gearbeitet hatte, gefunden hat. Auch die Enttäuschung der Österreicher, dass bereits vor ihnen russische Geologen das Gebiet bearbeitet hatten, thematisierte er. Kurzum, Ruttner sah eine Besprechung vor Ort als unabdingbar und so ersuchte er das Ministerium um Einverständnis, nach Kabul reisen zu dürfen, „um mit dem Geologenteam, der österreichischen Botschaft und den zuständigen afghanischen Behörden die derzeitige Situation zu besprechen und die nötigen Weisungen für die Fortführung des Projektes zu geben“.
Unsicherheit: Was tun? Ruttner als Krisenmanager
Unsicherheit: Was tun? Ruttner als Krisenmanager
Bei seinem Besuch der Geologen erwies sich Direktor Anton Ruttner als Diplomat; nicht nur bei afghanischen Kindern, die mit kleinen Geschenken leicht zu begeistern waren.
Ruttner bekam grünes Licht. Am 10. August teilte er den drei Geologen mit, dass er sie während der afghanischen Unabhängigkeitsfeiertage zwischen 21. und 26. August zur Halbzeit des Projektes mit dem Ersatzmann Grohmann in Kabul besuchen werde.
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Gegen Ende der geologischen Arbeiten im Herbst 1972 fiel bereits der erste Schnee in den Bergen. Um sich zu wärmen, machten die Träger ein Feuer.
Und so trafen sie am 23. August in Kabul auf Fuchs, Matura und Schermann. „Äußerst herzliche Begegnung in unserem Hotel“, so Matura in seinem Tagebuch. Ruttner hatte aber noch ein besonderes Mitbringsel dabei: einen Kuchen der Sekretärin an der GBA, Hedwig Horvath (1922–2009), „Bischofsbrot“, wie sich Gerhard Fuchs erinnert. Zwei Tage später brachen sie gemeinsam zu einer Rundfahrt zu Sehenswürdigkeiten Afghanistans auf. Abends schlugen sie ihre Zelte vor jener weltberühmten Wand mit den zwei riesigen Buddha-Statuen bei Bamiyan auf. Das Bild auf der Rückseite dieses Buches zeigt sie mit einem Esel im Vordergrund. Diese Aufnahme hat historische Bedeutung, denn im März 2001 wurden die beiden rund 1.500 Jahre alten Steinfiguren aus vorislamischer Zeit von Mitgliedern des Taliban-Regimes zerstört. Die Tage mit Ruttner während der Rundfahrt wie auch in Kabul, wo Kisten mit Proben für Wien aufgegeben wurden, verliefen in Harmonie. Am 6. September brachen die österreichischen Geologen, nunmehr wieder zu viert, zur Feldarbeit in die afghanische Bergwelt auf. Ruttner flog beruhigt, dass beim Geologenteam alles im Lot war, zurück nach Wien. Den Beweis für den guten Fortschritt der Arbeit fand Ruttner in einem Brief von Fuchs vom 30. September. Fuchs im Originalwortlaut: „Unsere Trägergruppen waren sehr faul und langsam, was den Vorteil hat, daß Herr Grohmann den Anmarsch ohne jegliche Schwierigkeiten bewältigt hat.“ Das war freilich nichts Neues und überraschte wohl auch Ruttner nicht, vielmehr musste ihn der nächste Satz beruhigen: „Wir befinden uns alle recht wohl und sind
Unsicherheit: Was tun? Ruttner als Krisenmanager
noch immer nicht zerstritten (nicht einmal wegen des Essens!). Auch in der letzten Phase der Exp. konnten wir verschiedene Interessen der einzelnen Teilnehmer in guten Einklang bringen.“ Ihren Aufenthalt in Kabul hatten alle, so auch Ruttner, genutzt, um im Basar einzukaufen. Teppiche und allerlei andere Souvenirs für die Daheimgebliebenen standen ganz oben auf den Einkaufslisten. Ruttner kaufte ein Jäckchen für seinen kleinen Enkelsohn. Doch es passte nicht, wie sich dann in Wien herausstellen sollte, es war zu klein. Zum Glück waren die Geologen noch vor Ort. Per Brief wandte er sich am 30. Oktober 1972 an Fuchs: „Zum Schluß hätte ich noch eine persönliche Bitte. Sie werden sich wahrscheinlich erinnern können, daß ich für meinen Enkel ein ärmelloses Pelzjäckchen gekauft habe. Es hat sich nun herausgestellt, daß dieses Jäckchen viel zu klein ist. Darf ich Sie, bzw. einen der in Kabul verbleibenden Herren bitten, mir ein schönes und gut ausgeführtes ärmelloses Pelzjäckchen zu besorgen und mitzubringen? Es sollte eine Rückenlänge von 52 cm und einen Umfang von mindestens 85 cm haben. Wenn möglich, sollte vor allem vorne am Besatz ein kurzes, gekräuseltes Fell sein. Bezüglich der Stickerei hat mir am besten ein Olivgrün auf braunem Grund gefallen. Sie könnte aber auch etwas bunter sein.“ Neben den genauen Anweisungen teilte er auch mit, wo Fuchs fündig werden würde. „Die sehr hübsche, aber nur zu kleine Jacke habe ich in dem großen Geschäft neben unserer Teppichhandlung Poost Doozie M. Hossein in der Shar-e-now gekauft. Dort gibt es eine sehr große Auswahl speziell von Kinderjacken. Ich hoffe, daß ich Ihnen mit diesem Ansinnen keine zu große Mühe bereite.“ Auch dieses Problem konnte gelöst werden. „Das Jäckchen werde ich oder einer meiner Kameraden besorgen. An das Geschäft kann ich mich noch erinnern“, konnte Fuchs seinen Direktor per Schreiben vom 15. November beruhigen. In einem Postskriptum hielt Fuchs noch fest, dass auch ihr Geschenk seinen fixen Platz gefunden hatte: „Die Kuckucksuhr hängt an exponierter Stelle unter dem Bildnis des Königs.“ Tagebuch Nr. 2 von Alois Matura endet am Samstag, den 9. Dezember 1972 mit dem Eintrag: „Um 950 startet die AUA [= Flugzeug der Austrian Airlines]. Heimatliche Atmosphäre, Zeitungen. usw.“ Neben internen Berichten, die schon während der Expedition erstellt worden waren, erschien 1976 unter dem Titel The Geology of the Nilaw Area in Central Nurestan (Afghanistan) ein wissenschaftlicher Bericht von Gerhard Fuchs und Alois Matura im Jahrbuch der Geologischen Bundesanstalt (Band 119). Auf der beiliegenden Karte im Maßstab 1 : 50.000 wurden die Pegmatite – „The most remarkable rocks in the mapped area are the pegmatites“ – mit einer eigenen Signatur gekennzeichnet. Gehäuft wurden sie um das Nilau-/Nilawtal gefunden. Damit war die Mission erfüllt.
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„Wiener“ Polarhelden
Unsicherheit: Was tun? Ruttner als Krisenmanager
„Wiener“ Polarhelden Vom Kampf gegen die Kälte
Eisige Kälte, Temperaturen bis minus zwanzig Grad, das kenne ich gut. Ich blende zurück in den Winter 1982/83, als ich meinen Militärdienst bei der 2. Kompanie des Gardebataillons in Wien absolvierte. Im Jänner 1983 hatten wir eine Winterübung in den Seetaler Alpen in der Steiermark. Es war schon tagelang bitterkalt gewesen, in den Nächten noch kälter. Am 15. Februar hatten wir draußen zu übernachten. Wir sollten einen schützenden Iglu aus Schnee bauen, um darin die Nacht zu verbringen. Doch der Plan ging nicht auf: es gab nicht genug Schnee. Wir waren durchnässt, unterkühlt und nur mit einer dünnen Felddecke ausgestattet. Auf derartige Verhältnisse waren wir einfach nicht vorbereitet. Das Ergebnis war ernüchternd: Erfrierungen zweiten Grades an den Zehen bei fünf Wehrmännern – einer davon war ich. An die schwarzen nekrotischen Stellen, die Verbände aus dünner Alufolie und die zartrosafarbene Haut, die allmählich nachwuchs, erinnere ich mich noch gut. Schmerzen hatte ich keine, eher Gefühllosigkeit. Wir fünf Wehrmänner lagen im Wiener Heeresspital in Stammersdorf in Wien Floridsdorf. All die Tage und immer wieder hörten wir im Radio das Lied 99 Luftballons. Der Hit der deutschen Sängerin Nena gefiel uns. Der Text war einprägsam, er lud zum Mitsingen ein. Einige Zeilen passten – Stichwort: militärische Fehleinschätzung – irgendwie zu unserer Situation: „[…] 99 Luftballons, auf ihrem Weg zum Horizont, hielt man für UFOs aus dem All, darum schickte ein General, ’ne Fliegerstaffel hinterher […].“ Nena, die Newcomerin, die nur ein paar Jahre älter war als wir, rangierte ganz oben in den Charts; wir bewunderten sie. Für die Sonntagsausgabe der Tageszeitung Kurier vom 6. März 1983 lieferten wir sogar eine Schlagzeile: Bundesheer-Übung bei -20° 5 Soldaten mit Erfrierungen im Spital. Das Mitgefühl der Nation war auf unserer Seite, die vorgesetzten Offiziere waren die Buhmänner. Für den Rest der Wehrzeit, die am 29. Mai 1983 zu Ende ging, genügte es, zu sagen: „Mir ist kalt!“, und schon hatten wir alle nur möglichen Goodies, denn weitere Pressemeldungen waren nicht erwünscht. Robert F. Scott, der auf dem Rückweg vom Südpol im März 1912 auf dem Ross-Schelfeis in der Antarktis starb, wurde posthum als Held gefeiert.
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„Wiener“ Polarhelden
Wenn ich mehr als dreißig Jahre später die Tagebücher des in der Antarktis verstorbenen Briten Robert F. Scott, das Buch von Sir Ernest Shackletons Antarktisexpedition 1914–1917 oder die Aufzeichnungen der Österreichisch-Ungarischen Nordpol-Expedition der Jahre 1872 bis 1874 lese, denke ich mir, wie gut hatten wir es doch damals im Winter 1983! Uns wurde, nachdem Erfrierungen diagnostiziert worden waren, mit allen nur erdenklichen Mitteln geholfen. Doch was hatten die Männer im 19. Jahrhundert im hohen Norden zu erleiden, die monatelang im ewigen Eis gefangen waren! Durch die selbst erlittenen Kältekalamitäten weiß ich: Scott, Amundsen, Payer, Weyprecht, wie sie auch alle und ihre kaum gewürdigten Begleiter heißen, das sind Helden! Polarhelden, Eishelden, um es zu präzisieren. Passend dazu finde ich eine historische Ansichtskarte im Internet. Der Berliner Ansichtskartenhändler beschreibt sie folgendermaßen: „Antarktis-Expedition, Engel schwebt über dem Grab von Captain Scott.“ Dazu die Aufschrift: „Heroes of the South Pole“. Das passt; ich zögere nicht lange und kaufe sie. Zur Information: Robert F. Scott (1868–1912) hatte den Wettlauf mit Roald Amundsen um die Erreichung des Südpols 1912 knapp verloren. Scott erreichte den Pol und musste feststellen, dass Amundsen schon vor ihm da gewesen war. Auf dem Rückweg vom Pol verstarb er zusammen mit seinen Begleitern. Das bietet Stoff für Heldenepen. Beim Thema Held gibt es für mich nur eine Expertin: die Schriftstellerin Barbara Neuwirth. Im Jänner 2019 erschien Helden, Heldin, Superhelden. Ein Buch, das ich gegen meine sonstigen Gewohnheiten in einem Zug gelesen und genossen habe. Ich gestehe, dass ich Belletristik kaum lese; ich komme einfach nicht dazu. Aber bei Barbara Neuwirths Helden habe ich eine Ausnahme gemacht und es nicht bereut. Jetzt ist es Zeit, wieder zu ihren Helden zu greifen. Sie stellt dem Buch die Worte „Lasst Helden um mich sein“ voran. Ich muss gar nicht lange lesen und schon finde ich im ersten Kapitel, Meine Geschöpfe, eine Reihe von Figuren, die sie anführt. Die Palette reicht von Kasperl über Rübezahl, Arzt und Polarforscher bis hin zu Halbgott und Gott. Genau, auch Polarforscher listet sie. Da bin ich richtig, das passt gut! Willkommen bei der Revue der Wiener Polarhelden, den Bezwingern der Kälte. Ich will jene, die einen wie auch immer gearteten Bezug zu Wien haben, vorstellen. Überraschungen und unerwartete Begegnungen sind vorprogrammiert.
Julius Payer – Kartograf und Polarheld
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Die aus österreichischer Sicht wohl bekanntesten Polarforscher waren Julius Payer (1842–1915) und Carl Weyprecht (1838–1881), beide waren allerdings keine gebürtigen Wiener. Payer erblickte in Böhmen das Licht der Welt. Doch seine letzte Ruhe fand er am Wiener Zentralfriedhof in einem Ehrengrab (Gruppe 32A, Grabnummer 37). Damit wurde er „eingewienert“, wie Beppo Beyerl, mit dem ich einige Bücher gemeinsam verfasst habe, schreiben würde. Weyprecht war gebürtiger Deutscher (Darmstadt) und wohnte bevorzugt in Triest. Die von ihnen geleitete Österreichisch-Ungarische Nordpol-Expedition der Jahre 1872 bis 1874 wird oft auch als Payer-Weyprecht-Expedition bezeichnet und gilt als erster Höhepunkt der heimischen Polarforschung, sie fand international große Beachtung.
Der 1842 im böhmischen Teplitz-Schönau geborene Julius Payer – Payer durchlief eine militärische Karriere. Nachdem er Kartograf und Polarheld 1859 in Wiener Neustadt (Niederösterreich) die Militärakademie als Unterleutnant 2. Klasse verlassen hatte, wurde er beim 36. Infanterieregiment in Venetien stationiert. Seine Urlaube benutzte er für alpinistische Bergtouren in der Ortler-, Adamello- und Glocknergruppe, wobei er auch – auf eigene Kosten – kartografische Aufnahmen machte. In General Kuhn (1817–1896), der ab 1868 Kriegsminister war, fand er einen Mentor. Jahre später erinnerte sich Payer an seinen ersten Förderer: „Er rief mich vom Regimente fort, gab mir 3 Tirolerjäger, 1000 Gulden und einen Theodolit. Ich ging nach dem Ortler und nach dem Adamello zurück und machte eine neue Karte, eine bessere als früher. Mit dem Theodolit habe ich nachher ON-[Nordost-]GrönJulius Payer, Polarforscher. land aufgenommen und das Franz Josefs-Land. Er blieb auf dem Tegetthoff zurück und versank mit dem Schiff.“ Kuhn unterstützte seine Arbeiten, stellte ihn vom Militär frei und ermöglichte ihm die Teilnahme an der Zweiten Deutschen Nordpolarexpedition (1869–1870). Das hehre Ziel der Deutschen war die Entdeckung des Nordpols. Das Hauptschiff dieser Expedition, die Germania, ein Schraubendampfer, verließ am 15. Juni 1869 Bremerhaven; mit an Bord war Julius Payer. An Bord des zweiten Schiffes, der Hansa, ein Segelschiff, die gemeinsam mit der Germania auslief, war der Geologe Gustav Laube (1839–1923), ebenfalls ein gebürtiger Teplitz-Schönauer, ein Freund von Payer.
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Nach rund einem Monat, am 20. Juli 1869, verloren beide Schiffe den Kontakt. Somit waren sie völlig auf sich selbst gestellt. Während die Germania Ostgrönland erreichte, wo Payer und der Expeditionsleiter Carl Koldewey (1837–1908) im April 1870 eine mehrwöchige Schlittenexpedition unternahmen, ehe sie mit der Germania am 11. September 1870 in Bremerhaven einliefen, lief es auf der Hansa nicht so gut. Das Schiff blieb im Packeis stecken, fror fest und wurde vom Druck der Eisschollen am 19. Oktober zerstört: „[…] da drang ein schriller Knall durch den Raum – die Decksnähte, die mit Pech fest verkitteten Fugen der Deckplanken waren unter dem Drucke des Gustav Laube, Geologe. Eises geborsten!“, berichtete Laube in der Neuen Freien Presse vom 31. Jänner 1871. In der Nacht zum 23. Oktober sank die Hansa. Zuvor hatten die wackeren Männer noch alles, was zu retten war, auf eine riesige Eisscholle geschafft, wo sie den Polarwinter verbrachten. Dazu Laube in einem Vortrag, den er am 23. November 1870 im Gebäude der Handelsakademie in Wien hielt: „Die eigentliche dunkle Zeit dauerte ungefähr von Mitte November bis Jänner. War schönes Wetter, so wurden weitere Exkursionen unternommen, zu denen wir auf der Scholle, die sieben Seemeilen im Umfange hatte, hinreichendes Territorium hatten; war schlechtes Wetter, so unterhielten wir uns, so gut es gehen wollte, zu Hause. Für die Leute gab es Segel zu nähen und andere Verrichtungen, auch hatten wir genug gute Lectüre und davon für alle hinreichend uns geistig zu beschäftigen. Ausserdem verkürzten Spiele und sogar Musik die Zeit. Meine Spieldose hörten wir Tag für Tag mit grossem Behagen an. Den Wienern wird es interessant sein zu vernehmen, dass eine Musikdose wohl viele hundertmal An der schönen blauen Donau im fernen Eismeere spielte.“ Die Besatzung der Hansa erreichte schließlich in drei Booten die Südspitze Grönlands und kehrte von hier mit dem dänischen Segelschiff Constance zurück. Als sie wieder daheim waren, schrieb man den 1. September 1870. Auch wenn die Expedition nicht den Nordpol erreicht hatte, so war sie, was die Germania betrifft, dennoch ein Erfolg. Dazu Laube im O-Ton: „Oberlieutenant Payer ist bis zum 77. Grad nördl. Breite vorgedrungen, eine Breite, welche an der Ostküste von Grönland noch nicht erreicht worden war, Höhenmessungen, geographische Bestimmungen wurden vorgenommen und im Laufe dieses Jahres auf dem 73. Grade der wichtige, vielleicht ganz Grönland durchziehende ‚Franz Josephs-Fjord‘ von ihm entdeckt.“ So wurden Payer nicht nur erste Heldenehren zuteil, er bestand damit sozusagen auch die Feuertaufe für die große Expedition, die er später mit Carl Weyprecht machen sollte.
Hans Graf Wilczek – der generöse Mäzen
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Noch war es nicht so weit, es bedurfte nicht nur großer Vorbereitungen, sondern auch größerer Geldmittel. Was den letzten Punkt betrifft, so wird hier an erster Stelle stets Hans Graf Wilczek (1837–1922) genannt. Die meisten machen mit diesem noblen Namen ihre erste Bekanntschaft im Zuge eines Ausflugs auf die Burg Kreuzenstein nördlich von Wien, unweit von Korneuburg.
Ich erinnere mich noch gut daran, als ich vor rund 25 Hans Graf Wilczek – Jahren das erste Mal die Burg Kreuzenstein in Niederder generöse Mäzen österreich besuchte. Der Führer berichtete vom Reichtum des einstigen Burgherrn, Hans Graf Wilczek. Der Graf hatte nicht nur die romantische Ritterburg vor den Toren Wiens errichtet, er war auch ein bedeutender Mäzen. Kohle hatte er genug, im wahrsten Sinn des Wortes. Wilczek besaß in Schlesien ausgedehnte Kohlengruben, so war es ihm ein Leichtes, einen großen Teil der Kosten der Polarexpedition von Payer und Weyprecht der Jahre 1872–1874 zu übernehmen. Wilczek, ein Grandseigneur im imperialen Wien, war omnipräsent, beliebt und selbst am Kaiserhof geschätzt. Doch nicht nur das, er war auch ein Mann, der selbst alles tat, um persönlich an vorderster Front dabei zu sein. Mit anderen Worten, er war kein Mäzen, der „nur“ Geld aus der warmen Stube überwies. Den Beleg dafür fand ich in seiner posthum erschienenen Autobiografie Hans Wilczek Erzählt Seinen Enkeln Erinnerungen Aus Seinem Leben, die ich mir von der Universitätsbibliothek Wien ausgeliehen hatte. Hier verrät er sein Faible für den hohen Norden: „Seit meiner frühen Jugend hatte ich die meisten Bücher und Erzählungen über Polarexpeditionen gelesen und war von unwiderstehlicher Sehnsucht erfüllt, zu sehen, ob es wirklich so ist, wie es die anderen erzählen.“ Mit anderen Worten: Wilczek wollte es wissen. Die Frage, ob er dafür auch die physischen Voraussetzungen mitbrachte, ist mit „ja“ zu beantworten. Wollte ihn seine Mutter als Kind noch verweichlichen, hatte der junge Graf andere Ambitionen. „Ich hingegen hatte mir angewöhnt, mich bei jedem Wetter, auch im strengsten Winter, leicht zu kleiden, und machte große Fußtouren und Ruderpartien.“ Auch seine Nahrung war nicht ohne, man könnte sagen, er stürzte sich schon am Morgen in medias res: „Zum ersten Frühstück aß ich täglich ein Beefsteak und trank dazu eine Flasche Rotwein.“ Auch seine Schlafstatt – wen wundert’s? – war spartanisch. Statt Strohsack und Matratzen bevorzugte er ein hartes Brett, „auf das ich wegen der Kälte einen Kotzen und ein Leintuch legte. Ein solches primitives Bett konnte ich überall finden“. Als Krönung der körperlichen Ertüchtigungen – selbstverständlich war er auch gänzlich schwindelfrei – liebte er es, nicht weite, sondern hohe Sprünge zu machen. „Alle gewöhnlichen Sprünge schienen mir zu unbedeutend, und ich zog es vor, so oft als möglich den Weg vom ersten Stock auf die Straße durch das Fenster zu nehmen. Das tat ich
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gar oft in Seebarn oder auch in Wien im Hause in der Herrengasse oder bei Besuchen in anderen Häusern ohne jeden Schaden.“ Das sind schon wichtige Zutaten für einen Helden; wer würde wagen zu sagen, dass Wilczek kein Held ist? Leser seiner Erinnerungen finden auf den Seiten 197 bis 257 alles über seine beiden Polarexpeditionen, darunter auch eine ganzseitige Fotografie, dazu die Beschreibung: „Mit dem erlegten Eisbären (1872)“. Sie zeigt Wilczek im Fotostudio auf dem Fell eines Eisbären stehend. Sein Blick ist in die Ferne gerichtet, als würde er nach dem nächsten Bären Ausschau halten. Volle 67 Seiten beschäftigt er sich mit seinen Jagderlebnissen. Hier finden sich alle Details vom Erlegen des Eisbären in Nowaja Semlja am 21. August 1872 bis zur Aufbewahrung des Fells an der Decke der Sala terrena in Schloss Seebarn bei Korneuburg (Niederösterreich). Heroischer geht es kaum. Doch zurück zur Wissenschaft. Die PoHans Graf Wilczek, generöser Mäzen und heldenhafter larexpedition von Payer und Weyprecht, Polarforscher in Siegerpose. korrekterweise, die Österreichisch-Ungarische Nordpolarexpedition, wird wie die Weltumsegelung der Fregatte SMS Novara der Jahre 1857–1859 als eine der großen Expeditionen wahrgenommen. Wilczek hatte Payer im Zuge eines Empfanges im Wiener Augarten-Palais kennengelernt. Er lauschte seinen Erzählungen und bald war ihm klar, dass er mit einem Mann wie Payer seine polaren Kindheitsträume erfüllen könnte. Was lag näher, als sich mit ihm und Weyprecht, den Payer in Wien kennengelernt hatte, zusammenzutun? Die drei hatten einen Plan: die Durchführung einer großen Polarexpedition, das nötige Geld hatte Wilczek.
„Recognoscierungsfahrt“ und Spendenkampagne
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Als Wilczek Payer und Weyprecht kennenlernte, erwies „Recognoscierungsfahrt“ er sich als professioneller Macher, Gönner und Ermögund Spendenkampagne licher. Zunächst machten Payer und Weyprecht eine Erkundungsexpedition – Pilotprojekt würde man heute sagen. Ideengeber und auch Förderer war der renommierte Geograf August Petermann (1822–1878), der diese Fahrt mit einem „sehr ansehnlichen Beitrag“ unterstützte. Auch die Akademie der Wissenschaften und der Kaiser („100 Stück Ducaten“) förderten diese „Recognoscierungsfahrt“, wie man damals sagte. Im Juni 1871 fuhren sie vom norwegischen Tromsø mit dem Segelkutter Isbjørn (= Eisbär) nach Spitzbergen und Nowaja Semlja und kehrten im Oktober 1871 „reich beladen mit Erfahrungen“, wie Wilczek in seinen Erinnerungen ausführte, wieder zurück. Dann ging’s ans Eingemachte. Weyprecht, der schon unter Admiral Wilhelm von Tegetthoff (1827–1871) auf hoher See gedient hatte und an der legendären Seeschlacht von Lissa am 20. Juli 1866 teilgenommen hatte, entwarf ein Schiff. Er war der Kommandant zur See; Payer sollte für die Landgänge verantwortlich sein. Bei der Sammlung der erforderlichen Geldmittel war Wilczek mit 30.000 Gulden in Vorlage getreten. Anfang Jänner 1872 waren bereits 50.000 Gulden beisammen. Die Liste der Spender war lang; 5.000 Gulden spendierte das Haus Rothschild, 3.000 kamen von der Gemeinde Wien, 1.000 kamen von Fürst Nikolaus Esterházy. Weniger „fürstlich“ zeigten sich die Beiträge der Erzherzöge Karl Ludwig und Ludwig Viktor, die je 300 Gulden beisteuerten. Am 14. Februar 1871 wurde in den Räumen der Akademie der Wissenschaften ein Verein zur Förderung der Nordpolexpedition gegründet, Zweck war die Aufbringung von Geldmitteln. Präsident des Fördervereins wurde Bernhard Freiherr von Wüllerstorf-Urbair (1816–1883), der erfolgreiche Kommandant der Weltumsegelung der Fregatte SMS Novara (1857–1859). Am 8. März waren mehr als 105.000 Gulden gesammelt worden. Es gab aber auch nicht zu unterschätzende Sachspenden. Die Weinhändler Vincenz Liebl und Sohn, so schreibt die Neue Freie Presse am 20. März 1872, spendeten „100 Flaschen weißen Ein Prachtwerk, Payers Buch über die NordpolRetzer Wein“. Expedition von 1876.
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Mit diesem Geld ließ sich ein ordentliches Schiff bauen, Auftragnehmer war Tecklenborgs Werft in Bremerhaven, die nach Plänen Weyprechts die Admiral Tegetthoff baute. Diese war nach dem damals besten Stand des Wissens gefertigt worden, „fast ganz von Eichenholz, mit doppelter Außenhaut“. Das Schiff wurde um fünfzig Prozent stärker, fester und robuster gebaut als ein normales Schiff. Insbesondere verfügte sie über Verstärkungen gegen den gefürchteten Druck des Eises. An Bord gab es auch ein Bibliothekszimmer und einen Salon. Im Kursalon des Stadtparks in Wien Innere Stadt gab’s eine gut besuchte Ausstellung mit Objekten der Nordpolexpedition, man sah allerlei wärmende Kleidung und Der Monumentalbrunnen Die Macht zur See am Michaelerspendete bereitwillig für die Polarplatz in Wien. forscher, „[…] welche die interessante, gefahrvolle Fahrt unternehmen zur Ehre Oesterreichs, aber nicht minder zu ihrer eigenen Ehre und zu ihrem höchsten Verdienste!“ (Wiener Salonblatt, 5. Mai 1872). So beschreibt man designierte Helden. Am 24. April 1872 verkündete Ferdinand von Hochstetter (1829–1884) im Kreis der k. k. Geographischen Gesellschaft, dass nicht nur die Finanzierung gesichert, sondern – dank der Spenden aus den Kronländern – sogar schon ein Überschuss vorhanden sei. Ein Beweis, dass das Unternehmen zum nationalen Anliegen, zum Prestigeprojekt geworden war. Kein Wunder, denn der Zeitpunkt 1872 war günstig. 1873 war Wien Austragungsort der Weltausstellung, die Expedition als maritimes Vorzeigeprojekt kam also gerade zu einer Zeit, wo man nicht nur die Macht zu Lande, sondern auch zur See eindrucksvoll vor der Weltöffentlichkeit demonstrieren konnte. Die Erwähnung von Macht kommt nicht von ungefähr. Die Macht zu Lande wie auch die Macht zur See sind zwei monumentale Wandbrunnen am Michaelerplatz in Wien Innere Stadt, die aber erst 1897 beziehungsweise 1895 enthüllt wurden. Am 13. Juni 1872 verließen die wackeren Männer auf der Tegetthoff Bremerhaven Richtung Norden, die Rückkehr war für Spätsommer/Herbst 1874 vorgesehen.
Der Maschinist Otto Krisch – das persönliche Tagebuch
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Neben der Tegetthoff mit den Polarforschern an Bord stach als Begleitung die Isbjørn am 20. Juni vom norwegischen Tromsø mit Wilczek an Bord in See. Dazu der Graf in seinen Erinnerungen: „Mich begleiteten mein Freund Vizeadmiral Max Sterneck, der Held von Lissa, Prof. Hans Höfer als Geologe, Wilhelm Burger als Photograph, Georg Bäuerle (gewöhnlich Paierl genannt) aus Heiligenblut, Großglocknerführer, und mein Wildalpener Jäger Ferdinand Mühlbacher.“ Geplant war, dass die beiden Schiffe einander begegnen sollten. Dies geschah auch tatsächlich, wie der Maschinist Otto Krisch (1845–1874) in seinen Aufzeichnungen an Bord der Tegetthoff festhielt.
Erst am 16. Juni, als sie bereits Helgoland hinter sich Der Maschinist Otto Krisch – gelassen hatten, fand Krisch Zeit, die Mannschaft nadas persönliche Tagebuch mentlich anzuführen. Weyprecht und Payer waren die Leiter, Brosch, Orel, Dr. Kepes, der Schiffsarzt, und er selbst waren Offiziere, neben Matrosen und einem Tischler waren noch Orasch als Koch sowie Haller und Klotz als Jäger an Bord. Nicht zu vergessen sieben Hunde, die da hießen: Jubinal, Gillis, Matiuschkin, Bob, Sumbu, Novaja und Semlia. Sowie zwei namenlose Katzen. Die erste Landstation war in Norwegen, wo sie am 4. Juli in Tromsø, 344 Kilometer nördlich des Polarkreises, ankerten. Am 13. Juli notierte er: „Früh wurde für uns in der katholischen Kirche eine Messe gelesen, nach deren Beendigung bei dem freundlichen Herrn Pfarrer ein Imbiß servirt wurde. Sodann kaufte ich mir für mein ganzes Geld, was ich noch besaß, ½ Eimer Wein und 40 Flaschen Bier und ging nun, des letzten Schillings baar, an Bord. Im Eismeere werden wir kein Geld, wohl aber hin und wieder einen guten Schluck Wein brauchen können.“ Freilich wurde nicht nur getrunken, sondern auch geraucht: die Ration, 150 Zigaretten pro Mann und Monat, wurde am 20. Juli verteilt. Umgerechnet sind das fünf Zigaretten pro Tag. Am 27. Juli 1872 um die Mittagszeit wurde der erste Seehund gesichtet. Der Ahnungslose schlief auf Die idealisierte Darstellung einer Seehundjagd basierend einer Eisscholle. Er hätte sich lieber auf einer Zeichnung Payers erschien, als die Männer bereits nicht blicken lassen sollen. Für die unterwegs waren.
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Das Treffen der Schiffe Isbjørn und Tegetthoff im Polarmeer, wie es am 17. September 1874 im Illustrierten Wiener Extrablatt abgebildet war.
Männer war die Sache schnell erledigt: Boot aussetzen, „ein Schuß aus einem WerndlKarabiner“, Harpune, Schlepptau, an Bord Haut abgezogen und fertig. Das Resultat: für volle drei Tage frischer und wohlschmeckender Braten. Am 12. August trafen sie die Isbjørn. An Bord war der große Gönner und Förderer der Expedition, Graf Wilczek. Er wusste, was sich für einen großherzigen Mäzen gehört: Als er die Tegetthoff betrat, hielt er „eine Flasche Champagner in den Lüften schwingend“. Das Aufeinandertreffen wurde gebührend gefeiert. Weiter ging’s nunmehr mit zwei Schiffen nach Norden. Am 15. August erwies sich der mit Wilczek mitgereiste Geologe Hans Höfer (1843–1924) als veritabler Jäger: er erlegte einen Eisbären. Der Koch wusste, was zu tun war: Bärensteaks von der Keule. Am 18. August wusste damals jeder in der Monarchie, was auf der To-do-Liste stand: den Geburtstag des Kaisers zu feiern. Wilczek steuerte den Champagner bei. Der Maschinist notierte die Speisenfolge in seinem Tagebuch: „Schildkrötensuppe, Krammetsvögel mit Mixed-Picles, Rennthierbraten mit Erdäpfel-Pierré, Hühner-Ragout mit Schnittbohnen-Salat, Mehlschmarn mit Pflaumen-Compot und HimbeerMarmelade“. Dann gab’s Käse, Butter, Kaffee und „für besondere Feste aufbewahrte Cigarren“. Persönlich glaube ich ja, dass der „Mehlschmarn“ nichts anderes war als ein Kaiserschmarrn, nur hieß der wohl damals noch nicht so. Das wäre jetzt ein Fall für kulinarische Forensiker und Spurensucher.
Der Maschinist Otto Krisch – das persönliche Tagebuch
Am 21. August 1872 trennten sich die beiden Schiffe, die Tegetthoff fuhr weiter nach Norden, die Isbjørn steuerte heimatliche Gefilde an. Gleich am nächsten Tag gab es an Bord der Tegetthoff den ersten Todesfall, eine der beiden Katzen starb an „Gedärmverschlingung“. Die zweite Katze wurde am 3. Oktober von einem Hund, es war Gillis, zu Tode gebissen. Am 6. Oktober wurde abermals ein sehr hungriger Eisbär geschossen, dessen Magen leer war und die Gedärme schlaff. Da die Expeditionsteilnehmer schon lange kein Fleisch gegessen hatten, war klar, was man tat: „Zertheilung des Fleisches behufs Gewinnung der so delikaten Bärensteaks“. Am 7. Oktober 1872 hatten die Männer die Gewissheit, nachdem das Schiff im Eis festsaß und dem steten Druck der Eismassen ausgesetzt war, hier überwintern zu müssen. Im Gegensatz zu den offiziellen Berichten geben die Aufzeichnungen von Krisch, die wohl nicht für die breitere Öffentlichkeit bestimmt waren, intime Einblicke in das Leben der Forscher im hohen Norden. Voll Freude schrieb er am 1. Mai 1873, dass die Hündin Semlia vier Junge bekommen hatte. Um das junge Hundeglück perfekt zu machen, errichteten die Männer ein warmes Zelt auf den Eisschollen. Die Hundemutter mit ihren Welpen nahm es bereitwillig an; leider überlebten nur zwei der vier Hündchen. Auch ihn, den erfahrenen Maschinisten, sollte es erwischen. Nach getaner Arbeit – den notwendigen Wartungsarbeiten – erkrankte er. Zur Genesung gab es stärkende Kost. Das waren täglich drei Eisbärensteaks mit Pflaumen, Letztere stammten noch aus heimischen Gefilden. So ungewohnt diese Therapie heute auch klingen mag, die Männer hatten in diesen Breiten keine andere Wahl und zudem half es auch – Krisch gesundete. Bald konnte er sich wieder den Dingen des Alltags widmen. Dazu gehörte auch die Seifenproduktion Otto Krisch, der Maschinist, der nicht aus tierischen Fetten, die dank zahlreicher erlegter mehr heimkehrte. Eisbären und Robben zur Genüge zur Verfügung standen. Voll Stolz hielt Krisch am 4. Juni 1873 fest, wie gut ihm die „gekochte Seife“ gelungen war. Er hatte auch Humor und meinte, dass er wohl noch „Hoflieferant in diesem Artikel“ werden könnte. Dazu zwei kleine Anmerkungen: Wenn er vom Seifenkochen schreibt, dann ist davon der Begriff „Seifensieder“ als Berufsbezeichnung abzuleiten – ein im Wienerischen („Safnsiada“) wenig wertschätzender Begriff. Klarheit bringt hier Peter Wehles Klassiker Sprechen Sie Wienerisch? (1980). Der Doyen der Wiener Mundart führt aus: „Seifen- und Kerzenhersteller; meist Schimpfwort für einen öligen Speichellecker.“ Im Gegensatz dazu steht der „Hoflieferant“, damit ist der „k. k. Hoflieferant“ gemeint. Das waren jene erlesenen Firmen, die ihre Waren an den
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Wiener Kaiserhof liefern durften. Manche von ihnen, wie die renommierte Konditorei Demel am Kohlmarkt in Wien Innere Stadt, tragen heute noch im Impressum ihrer Website (www.demel.com) den Titel „K. u. K. Hofzuckerbäcker Ch. Demel’s Söhne GmbH“, obwohl die Monarchie seit 1918 Geschichte ist. Der Alltag der Männer im Eis war wenig abwechslungsreich. Dass sie über die Abschüsse der erlegten Eisbären Buch führten, ist wenig verwunderlich. Übrigens, am 16. August 1873 war es Eisbär Nr. 24. Doch zwei Wochen später, am 30. August, kam – völlig überraschend – der nicht geplante Höhepunkt der Expedition, mit der die Männer Geschichte schreiben sollten. Ich zitiere Krisch im Original: „Plötzlich um 2½ Nachmittags entdeckten wir in nordöstlicher Richtung auf eine Entfernung von etwa 30 Meilen ein neues Land, welchem wir sofort den Namen Franz-Josefs-Land, mit dem Becher in der Hand unter dreimaligem, begeistertem Hurrahrufe beilegten. […] Oh! Welch’ unaussprechlich seliges und erhabenes Gefühl ist es nicht, nach 11 Monaten, die in ihrem Schoße so fürchterliche Ereignisse und Erfahrungen bergen, endlich wieder einmal, wenn auch unbewohntes Land schauen und begrüßen zu können.“
Nach der glücklichen Rückkehr der Polarforscher im September 1874 wurden in Band 17 der Mittheilungen der kaiserlich-königlichen Geographischen Gesellschaft die offiziellen Berichte der Führer der Expedition, der Herren Weyprecht und Payer an das Comite der österr.-ungarischen Nordpol-Expedition veröffentlicht. Selbst die wenigen hier wiedergegebenen Auszüge des insgesamt 28-seitigen Berichtes zeugen von den kaum vorstellbaren Strapazen. Die waren nicht nur physischer, sondern auch psychischer Natur. Das heißt, sie schlugen sich aufs Gemüt, wie man in Wien zu sagen pflegt. 1876 erschien dann der große Expeditionsbericht, ein Buch mit 696 Seiten von Julius Payer. Es war wohl einigermaßen ernüchternd für die Mannschaft, dass sie schon im August 1872 im Treibeis festgefroren waren. So weit das Auge reichte, nichts als Eis, kein Wasser in Sicht. Diese Worte klingen ungewohnt, würde man doch erwarten, „kein Land in Sicht“. Doch für die Männer wäre Wasser wichtiger gewesen: im Wasser hätten sie frei navigieren können, so waren sie Gefangene des Eises, eingeschlossen auf der Tegetthoff. Das Schiff trieb „mit den leichten Briesen bald östlich, bald westlich; das Thermometer fiel in den Nächten bis 15°C“. Doch damit nicht genug, das Eis war keineswegs ruhig, es bewegte sich in alle Richtungen, es drückte und presste und drohte das Schiff zu zerdrücken. Zum Glück war dem nicht so, es wurde nur gehoben und legte sich „nach Backbord“ auf die Seite. Rundum krachten und ächzten die sich auftürmenden Eisschollen. Am Heck hatte sich eine „Eismauer von über 30 Fuß Höhe“ gebildet, umgerechnet sind das knapp zehn Meter. Die Männer mussten mit dem Schlimmsten rechnen, mit dem Sinken des Schiffes. Sie hatten nicht nur Vorkehrun-
Alltag auf der Tegetthoff
Alltag auf der Tegetthoff
gen für ihre eigene Rettung zu treffen, sondern auch für die Sicherung ihrer Vorräte. Sie schufen Kohlen und Proviant für zehn Monate, Baumaterial für eine Wohnhütte und manch anderes an Deck. Vieles, darunter auch zwei Boote, lagerten sie auf dem Eis. Sollte das Schiff untergehen, mussten sie das alles nicht mehr von Bord schaffen. Gleichzeitig taten sie alles, um das Schiff zu erhalten; sie schützten die Tegetthoff durch dicke Schneewände, die immer wieder von Neuem aufgebaut werden mussten. Die Besatzung war den Umständen entsprechend während des Polarwinters in guter Verfassung, selbst die arktischen Temperaturen von bis zu minus 46 Grad Celsius ertrugen die Männer tapfer. Erste Anzeichen der gefürchteten Seemannskrankheit Skorbut konnten mit „Limoniensaft“ erfolgreich behandelt werden. Payer, der Kommandant, verriet sein Erfolgsrezept: „Die Mannschaft ließ ich regelmäßige BeweWährend immer wiederkehrender Eispressungen fürchteten gung machen und sorgte durch Unter- die Männer auf der Tegetthoff um ihr Schiff, das aber den richt und Vorlesen für geistige Beschäf- starken Naturkräften standhielt. tigung.“ Am 16. Februar 1873 war das Dunkel des Polarwinters zu Ende: die Forscher sahen zum ersten Male wieder die Sonne! Welch ein Lichtblick – im wahrsten Sinn des Wortes! Im April 1873 begannen sie das Schiff von Eis und Schnee zu befreien und hofften, es wieder flottzubekommen. Doch mitnichten, das von der schweren Last befreite Schiff wurde leichter und „immer mehr gehoben“. Die Tegetthoff blieb eine Gefangene des Eises. Das sollte die Männer aber nicht daran hindern, ihrer Arbeit nachzugehen und sich mit Nahrungsvorräten einzudecken. „Wir schossen viele Bären, deren Fleisch so beliebt wurde, dass bedeutende Quantitäten Schiffsproviant gespart werden konnten. Hierzu kam im Herbste noch das Ergebnis der mit großem Eifer betriebenen Seehundsjagd.“ Der Höhepunkt des Sommers 1873, das Jahr der Wiener Weltausstellung, waren weder Eisbären noch Seehunde, sondern die Entdeckung von Franz-Joseph-Land.
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Diese liest sich in der offiziellen Darstellung wesentlich sachlicher als bei Krisch und enthält auch exakte topografische Angaben: „Am 30. August auf 79° 43’ N und 60° 23’ O. Gr. entdeckten wir unbekanntes Land; es erstreckte sich von W bis N und war augenscheinlich von bedeutender Ausdehnung. Wir legten ihm den Namen Sr. Majestät Kaiser Franz Josef-Land bei, den ersten gesichteten Punct, ein hohes, sehr markiertes Cap tauften wir C. Tegetthoff. Im September und October trieben wir längs dieser Küste umher und überschritten Anfang October den 80. Breitengrad.“ Ungeachtet dieser freudigen Entdeckung im Sommer 1873 war klar, dass eine weitere Überwinterung im hohen Norden im Polareis bevorstand. Mittlerweile wussten die Forscher, was auf sie zukam und was zu tun war. Sie bauten zwei Schneehütten, eine für Instrumente, die andere für Messungen. In einer Dritten feierten sie das zweite Weihnachtsfest. Wissenschaftlich gesehen sollte 1874 durchaus positiv verlaufen, sie machten magnetische Messungen, die durch intensive Nordlichter gestört wurden: Dieser Zusammenhang war von hohem wissenschaftlichem Interesse. Natürlich führten sie auch ihre meteorologischen und astronomischen Beobachtungsreihen fort. Im Frühjahr 1874 gab es zwei einschneidende Momente: Da man zur einstimmigen (!) Ansicht gekommen war, dass das Schiff einen weiteren Winter im Polareis nicht überstehen würde, entschloss man sich, solange die Mannschaft noch einigermaßen bei Kräften war, die Tegetthoff zu verlassen. Mit anderen Worten: das Schiff wurde aufgegeben, ein Entschluss, der jeden Kapitän im Herzen treffen musste. Und dann der Verlust eines Kameraden, des Maschinisten Krisch, der durch seine Tagebuchaufzeichnungen kein Unbekannter mehr ist. „Am 16. März, 4 Uhr nachmittags, starb nach schwerem Todeskampfe der Maschinist Krisch an Tuberkulose, zu der in den letzten Wochen noch Skorbut getreten war. Am 19. begruben wir ihn am Lande und errichteten später über seinem Grabe ein solides Kreuz mit einer messingenen Gedächtnistafel.“ Im Wiener Heeresgeschichtlichen Museum befinden sich zahlreiche Ölbilder von Julius Payer, der in späteren Lebensjahren eine beachtliche Karriere als Künstler machte. Ein kleines Bild zeigt das Grab von Krisch auf der Wilczek-Insel im Süden von Franz-Joseph-Land.
Am 25. September 1874 war es so weit. Das Expeditionsteam kam am Wiener Nordbahnhof an. Die vorhergegangenen sechs Monate waren keineswegs leicht gewesen. Am 20. Mai 1874 hatten sie das gesamte Expeditionsgut zusammengepackt, das Schiff verlassen und den Rückweg mit Schlitten und Booten angetreten. Am 24. August gingen sie an Bord des russischen Schiffes Nicolaj, das sie am 3. September nach Vardø im Norden Norwegens brachte. Der Rest der Reise gestaltete sich als Triumphzug, wie
Die Heimkehr der Helden
Die Heimkehr der Helden
Payer schrieb: „Unsere Reise längs der norwegischen Küste herab war eine Wanderung unter Tausenden von Freunden, alle Städte waren beflaggt, die Einwohner waren an den Quais geschaart und unendlicher Jubel begrüßte uns.“ Der Empfang in Wien hätte kaum triumphaler sein können. Die Titelseite des Illustrirten Wiener Extrablattes vom 25. September 1874 zeigte Die Führer der Nordpol-Expedition und kündigte ihre Ankunft für „heute Nachmittags um 5 Uhr 55 Minuten“ an. Am Cover war Pathos pur: „Uns Oesterreicher erfüllt die Heimkehr der Helden mit doppeltem Stolze. Sie sind die Unsrigen; sie haben dem Ehrenkreuze des Vaterlandes ein neues, unvergängliches Lorberreis eingefügt und darum tönt Die beiden Führer der Polarexpedition, Julius Payer und in die Freude des Wiedersehens, in den Carl Weyprecht, wurden bei ihrer Rückkehr als Helden Empfangsjubel der Residenz der herzgefeiert. innige Gruß Aller, die diesem Reiche in Liebe und Treue angehören, das herzliche ‚Willkommen!‘ Aller, die ein warmes Gefühl für die höheren Interessen der Menschheit haben.“ Am nächsten Tag zierte Hans Graf v. Wilczek, sozusagen der Heldenmacher, die Titelseite. Am übernächsten Tag, dem 27. September 1874, sah man an dieser Stelle eine Zeichnung mit der Menschenmenge vor dem Nordbahnhof. Dazu seien nur zwei Sätze zitiert: „Wien hat gestern die Kolumbusse des neunzehnten Jahrhunderts nicht weniger glänzend empfangen, als seiner Zeit die Spanier den Entdecker eines neuen Welttheils. […] Die Helden vom Nordpol vergassen da wohl all die überstandene Gefahr und sie denken wohl auch an das Dichterwort, das einen solchen Moment als nicht zu theuer mit dem Tod erkauft erklärt.“ Dass sie mit Einladungen und Ehrungen überschüttet wurden, soll jetzt nicht näher beschrieben werden, vielmehr gilt es, auch die Verdienste anderer Polarforscher zu würdigen, zumal auch sie in Wien mit Pomp und Trara empfangen wurden.
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Der Große Festsaal des Wiener Rathauses gehört zu den größten Sälen Wiens.
In Wien war die k. k. Geographische Gesellschaft seit ihrer Gründung 1856 bemüht Wissenschaftler zu fördern und auch namhafte Wissenschaftler zu Vorträgen einzuladen. Damit verbunden waren stets Ehrungen. Im Falle des norwegischen Polarforschers Fridtjof Nansen (1861–1930), der 1888 Grönland als Erster durchquert und im Zuge der Fram-Expedition (1893–1896) Franz-Joseph-Land betreten hatte, den angestrebten Nordpol nicht erreicht, aber trotzdem neue Erkenntnisse gesammelt hatte, wollten die Wiener Geografen nicht warten. Sie schickten ihm im November 1896 die Urkunde, mit der er zum Ehrenmitglied ernannt wurde, nach Norwegen. Doch am 5. Mai 1898 war es dann so weit: Nansen entstieg am Wiener Nordbahnhof zusammen mit seiner Frau Eva einem aus Moskau kommenden Zug. Namens der Gesellschaft begrüßte Hans Graf Wilczek den Ankömmling: „Nansen! Ich habe die Ehre, Sie im Namen der Wiener Geographischen Gesellschaft zu begrüßen und Ihnen ihren Dank dafür zu bringen, daß Sie uns besuchen kommen. Sie werden hier offene Herzen finden und warme Begeisterung für Ihre unendlich große Leistung. Ich schätze mich glücklich, Ihnen die Hand drücken zu können, Ihnen, dem Manne, der in das Herz jener gewaltigen mythischen Regionen der Erde eingedrungen ist, die ich einst, wenn auch an ihren Grenzen, zu erblicken das Glück hatte. Nansen, seien Sie uns willkommen!“ Der Wiener Bürgermeister Karl Lueger (1844–1910), der ebenfalls im Empfangskomitee war, zeigte sich von der herzlichen
Nansen im Wiener Rathaus
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Seite: „Küss’ die Hand, gnädige Frau; ich wünsche, daß es Ihnen in unserer Vaterstadt wohl gefallen möge.“ Dann überreichte er Frau Nansen einen Strauß Rosen. Dann trafen Payer, der ebenfalls gekommen war, und Nansen aufeinander. „‚Ich bin Payer‘, sagte unser Landsmann in seiner einfachen Art. – ‚Wie freue ich mich, Sie zu sehen‘ erwiderte Nansen, streckte ihm die Rechte entgegen und schüttelte sie kräftig. Die beiden Forscher sahen einander eine Zeit lang prüfend an und wechselten dann einige freundliche Worte. Der Lakonismus in dieser Begrüßung der beiden berühmten Forschungsreisenden erinnerte einigermaßen an die berühmte Scene, wie Stanley im afrikanischen Urwalde den lang gesuchten Livingstone fand.“ (Neue Freie Presse, 6. Mai 1898). Kaiser Franz Joseph tat es der Geographischen Gesellschaft gleich, er ließ Nansen vorab in seinem Hotelzimmer den Franz-Joseph-Orden überbringen; die persönliche Audienz beim Monarchen stand dann am 6. Mai um 13 Uhr auf der Agenda. Überbringer des Ordens war der Präsident der k. k. Geographischen Gesellschaft, Christian Ritter von Steeb (1848–1921). Nansen sprach am Freitag, den 6. Mai im Festsaal des Wiener Rathauses. Details schrieb am darauffolgenden Tag die Neue Freie Presse: „Einen solchen Abend wie den heutigen hat man in dem herrlichen Festsaale des Rathhauses noch nicht gesehen.“ Natürlich hatte es hier schon rauschende Feste gegeben; dass die feinsten und nobelsten Leute Wiens – „die Damen in Soirée-Toiletten, die Herren im Frack“ – wegen eines einzigen Mannes, Nansen, gekommen waren, war ein Novum. Das Festbankett mit 130 Personen fand im heute nicht mehr existierenden Hotel Continental (Praterstraße 7, Wien Leopoldstadt) statt. Nansen bekam – dies mag weniger bekannt sein – 1922 den Friedensnobelpreis für seine Verdienste um die internationale Flüchtlingshilfe.
Den ersten Hinweis, dass Amundsen in Wien war, verAmundsens und Shackletons danke ich Erwin Barta, dem Archivar des Wiener KonWiener Vortragsabende zerthauses. Für einen Artikel über Albert Einstein in Wien schickte er mir im Jahr 2016 den Scan einer Eintrittskarte zum Vortrag Einsteins am 13. Jänner 1921 im Wiener Konzerthaus, unter Insidern als KH bekannt. Diesmal wollte ich eine Eintrittskarte von einem der Piccard-Vorträge, doch Erwin Barta hatte dazu nichts im Archiv. Beim Plaudern über Veranstaltungen, die nicht in die Kategorie Konzert oder Musik fallen, nannte er neben Vorträgen auch Boxkämpfe und dergleichen. Bei der Suche in seiner umfangreichen Datenbank tauchte bald der Name Amundsen auf, er war am 5. Februar und am 13. März 1914 im KH gewesen. Ich war begeistert und beschloss Amundsens Wien-Aufenthalte weiterzuverfolgen. Doch warum taucht immer wieder das KH auf, wo man doch primär Musikdarbietungen erwarten würde? Die Antwort ist logisch und einfach: Bis zur Eröffnung der
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Der 1870 eröffnete Musikverein, ein Bau von Theophil Hansen, hat mit dem Großen („Goldenen“) Saal einen Konzertsaal von Weltrang.
Wiener Stadthalle im Jahr 1958, die Platz für mehr als 16.000 Personen bietet, war der Große Saal mit rund 1.800 Plätzen des 1913 eröffneten Konzerthauses der größte Veranstaltungsort in Wien. Ähnliche Dimensionen erreicht neben dem KH nur der Große Saal („Goldene Saal“) des Wiener Musikvereins (MV), der über 1.744 Sitzplätze und rund 300 Stehplätze verfügt, und der war schon am 6. Jänner 1870 eröffnet worden. Um gleich im Musikverein zu bleiben, ein Blick in das Jahr 1910: Damals kam Sir Ernest Shackleton (1874–1922), der gescheiterte, aber als Held gefeierte Antarktisforscher am Sonntag, den 9. Jänner aus Berlin kommend in Wien an. Er stieg mit seiner Frau und seiner Schwägerin im Hotel Meißl & Schadn auf der Kärntnerstraße 16 (Wien Innere Stadt) ab. Sein Vortrag über seine Südpolexpedition im Goldenen Saal des Musikvereins am Montag, den 10. Jänner 1910 um 19:30 Uhr war in Deutsch angekündigt. Noch am Sonntag sprach er, allerdings in Englisch, im Rahmen einer außerordentlichen Versammlung vor Mitgliedern der k. k. Geographischen Gesellschaft in Wien und wurde zu deren Ehrenmitglied ernannt. Auch ein Redakteur des Neuen Wiener Tagblattes traf den „mittelgroßen, glattrasierten Mann, mit dem schwarzen, in der Mitte gescheitelten Haar und den freundlich dreinblickenden lichten Augen“ zum Interview, wobei Shackleton selbst fragte: „Wird es möglich sein, daß ich meinen Vortrag in englischer oder vielleicht in französischer Sprache halte?“ Über den Gedanken, dass er Deutsch sprechen sollte, war er „not amused“, um eine Redewendung der Queen zu benutzen. Doch einen Mann, der am 6. August 1907 England mit der Nimrod-Expedition verlassen hatte und dann am 9. Jänner 1909 auf einer geografischen Breite von 88° 23’ nur 24 Meilen vom Südpol entfernt umkehren musste, kann auch das
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nicht erschüttern. War er gewöhnt gegen Eis, Schnee, Kälte und Hunger zu kämpfen, so nahm er nun ein Jahr später die Herausforderung der deutschen Sprache tapfer an. „Das Bewußtsein, eine förmliche Prüfung über seine Kenntnisse im Deutschen ablegen zu sollen, ließ ihm die Worte weit langsamer von den Lippen kommen, als im Privatgespräche. Er fühlte sich seiner Sache nicht ganz sicher, zumal englische Freunde – wie Sir Ernest nach dem Vortrage unserem Referenten sagte – ihn geradezu gewarnt hatten, sich des Deutschen zu bedienen. Sie meinten, er spreche es schlecht, daß ihn niemand verstehen würde. Dies ist nun absolut nicht der Fall gewesen. Jedes Wort in die einzelnen Silben gliedernd, mühte sich Sir Ernest, möglichst deutlich zu werden, wiederholte ein oder den anderen seiner Zunge gar zu ungewohnten Ausdruck, er führte einen Kampf mit unserer Sprache, anglisierte manchen Vokal – blieb aber schließlich Sieger.“ (Neue Freie Presse, 11. Jänner 1910). Shackleton wurde im Musikverein vom Who is Who der Wiener Gesellschaft bejubelt. Unter den Anwesenden waren Erzherzog Friedrich (1856–1936), der „den kühnen Forscher“ persönlich beglückwünschte, mit seiner Gemahlin Erzherzogin Isabella (1856–1931), Vertreter der englischen Botschaft, die Präsidenten der k. k. Geographischen Gesellschaft Eugen Oberhummer (1859–1944) und der Akademie der Wissenschaften Eduard Suess (1831–1914), der Chirurg Anton Freiherr von Eiselsberg (1860–1939) und viele andere. Unter den Lichtbildern, die zu sehen waren, gab es auch eines mit drolligen Pinguinen vor einem Grammophon. Shackletons Expedition war keineswegs „nur“ eine Abenteuerfahrt, sie war wissenschaftlich sehr ergiebig, wie er in der Neuen Freien Presse vom 11. Jänner 1910 zitiert wurde: „Wir entdeckten 100 Berge, fanden Kohle, versteinerte Nadelhölzer, fanden unbekannte Mikroben im Eise. Der gleichzeitig nach anderer Richtung ausgegangenen Expedition, die 122 Tage unterwegs war, gelang die Auffindung des südmagnetischen Pols. Wir landeten in Neuseeland 449 Tage nach unserer Abreise und kamen ohne Verlust eines einzigen Menschenlebens zurück.“ Shackleton, der den Pol wahrscheinlich erreichen hätte können, aber sicher nicht mehr zurückgekommen wäre, weil die Lebensmittelvorräte und auch die Kräfte der Männer am Ende waren, wusste, wo das Limit war und wann der Zeitpunkt zum Umkehren gekommen war. Damit nicht genug: Shackleton sollte dann auch mit der EnduranceExpedition (1914–1917) mit dem Ziel, die Antarktis zu durchqueren, scheitern. Dafür wurde und wird er als Held gefeiert. Peter Baumgartner, Vortragsredner, Unternehmensberater und Coach führt in seinem Buch Geniale Grenzgänge: Limits in der Wirtschaft und am Ende der Welt (2012) diese Expedition als Vorbild für modernes Leadership an: „Der Hin- und Rückweg bedeutet beinahe 1.400 Meilen Fußmarsch: Die Rückreise geriet zu einem verzweifelten Rennen gegen den Tod. Die erschöpften Männer schafften das Unmögliche, und Shackleton kehrte als Held des Empire nach England zurück.“
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Ernest Shackleton spielte den antarktischen Pinguinen Musik aus dem Grammophon vor.
Die Frage, wann Roald Amundsen (1872–1928) in Wien war, ist keineswegs mit seinen zwei Vorträgen von 1914 im Konzerthaus beantwortet. Zuvor war er schon 1907 und 1912 in Wien gewesen und 1925 kam er wieder. Natürlich wurde er von der Wiener Geographischen Gesellschaft geehrt und hofiert. 1912 hatte er die höchste Auszeichnung, die Franz-von-Hauer-Medaille, für die „Erweiterung und Förderung des geographischen Wissens“ bekommen. Auch Payer (1904), Wilczek (1907) und Scott (1914) erhielten als Polarforscher diese Auszeichnung. Exemplarisch sei hier nur auf den Blitzbesuch Amundsens von 1925 eingegangen. Amundsen erreichte am 14. Dezember 1911 als Erster und damit vor dem Briten Robert F. Scott den Südpol, der diesen Punkt einen Monat später am 18. Jänner 1912 betrat. Doch auch im hohen Norden schrieb Amundsen Forschungsgeschichte, er passierte in den Jahren 1903 bis 1906 als Erster die Nordwestpassage, jenen Seeweg, der im Norden des amerikanischen Kontinents den Atlantik mit dem Pazifik verbindet. In späteren Jahren wollte Amundsen den Nordpol auf dem Luftweg überqueren. Am 21. Mai 1925 war er mit zwei Flugbooten der Type Dornier Wal, N24 und N25, aufgebrochen, um die Arktis zu queren. Doch dieser Versuch scheiterte. Trotzdem glaubte er an die Querung der Arktis in der Luft, wie er nicht zuletzt bei seinem Wiener Vortrag am Sonntag, den 20. September 1925, betonte. An diesem Tag kam er am Nachmittag in Wien an, hielt abends seinen nur mäßig besuchten Vortrag und fuhr mit dem Züricher Schnellzug um 23 Uhr gleich wieder weiter gegen Westen. Amundsen
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hatte eine Vision: „So romantisch es auch klingen mag, ich bin fest davon überzeugt, daß es nur mehr fünf oder sechs Jahre dauern wird, bis man die Erkenntnis, daß der günstigste Weg vom europäischen Kontinent und vom nördlichen Amerika nach Ostasien über die Arktis führt, praktisch auswerten wird. Wenn die Luftschiffahrt, auf deren Entwicklung es ankommt, entsprechende Fortschritte macht – und daran zweifle ich nicht – werden wir eine direkte Route über die Nordpolregionen schaffen können, wir werden dort eine Luftschiffstation errichten und so ein Abenteuer, das heute vielen noch gefährlich zu sein scheint, zur Alltäglichkeit machen.“ (Der Tag, 21. September 1925). In seinem Buch Die Jagd nach dem Nordpol (1925) schilderte er die gescheiterten Versuche der Arktisquerung. Tatsächlich sollte der Überflug der Arktis Amundsen ein Jahr später im Mai 1926 mit dem Luftschiff Norge gelingen. Tragischerweise kam er, ebenfalls bei einem Flug über die Arktis, im Juni 1928 ums Leben. Damals war Amundsen aufgebrochen, um den Luftschiffer Umberto Nobile (1885–1978) zu retten, der am 25. Mai 1928 über der Arktis abgestürzt war. Doch Amundsen kehrte nie wieder.
Meine Geschöpfe Held ist kein Wort, das wir als Kleinkinder lernen. Im ersten Benennen unserer sozialen Welt geht es um die verwandtschaftlichen Begriffe – Mama, Papa, Oma, Tante. Im nächsten gibt es Berufsbezeichnungen für Menschen. Da ist einer Bäcker, ein anderer Rauchfangkehrer, eine Lehrerin, eine andere Friseurin, eine Krankenschwester. Durch Volkskultur und Kunst öffnen sich nach und nach weitere Fächer von potenziellen Identitäten unserer Gegenüber: Kasperl, Rübezahl und Zwerg, Biene und Wildgans, Gouvernante und Fürst. Teufel und Baumeister, Indianer und Cowboy, Seefahrer und Pirat, U-Boot-Kapitän und Polarforscher, Arzt, Richter, Astronaut, Landvermesser, Höhlenforscher, Krieger, Halbgott, Gott. Und plötzlich ist er auch da, der Begriff Held, aber er ist schwammig, weil er nicht nur für eine Figur steht, die mit einer Heldentat reüssiert, sondern für jede Hauptfigur einer Geschichte. Aus: Barbara Neuwirth: Helden, Heldin, Superhelden (2019)
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„Dumpf schlägt die Gondel auf“
Amundsens und Shackletons Wiener Vortragsabende
„Dumpf schlägt die Gondel auf“ Wie Piccard Obergurgl 1931 weltweit bekannt machte
Seit einigen Jahren habe ich eine Lieblingslektüre: alte Zeitungen. Nein, es ist nicht die Rede von den dicken Zeitungsausgaben, wie sie uns Wochenenden bescheren, für deren Lektüre man mehrere Tage benötigt. Ich rede von ganz alten Zeitungen, mindestens siebzig Jahre müssen sie alt sein. Damit haben sie ihr Copyright und alle Rechte, im wahrsten Sinn des Wortes, verloren. Fündig werde ich im virtuellen Lesesaal der Österreichischen Nationalbibliothek. Unter dem Akronym ANNO (AustriaN News papers Online) stehen mehr als 21 Millionen digitalisierter Seiten zur Verfügung. Hier suche und finde ich neben Klatsch und Tratsch, Mord und Totschlag auch feine Feuilletons und packende Neuigkeiten aus allen Bereichen, Wissenschaft inklusive. Im Jahr 2015 machte ich bei der Arbeit am Buch Wo die Wiener Mammuts grasten (zusammen mit Mathias Harzhauser) für eine Geschichte über Einsteins Wienbesuche einen Zufallsfund. Glückstreffer möchte ich heute sagen. Bei der Recherche stieß ich auf einen Artikel über die Begegnung Auguste Piccards (1884–1962) mit Albert Einstein (1879–1955) im Oktober 1931 bei dem Physiker Felix Ehrenhaft (1879–1952) in der Grinzinger Straße 70 in Wien Döbling. 2015 war Piccard kein Thema, ich wollte alles über Einstein in Wien wissen. Vier Jahre später interessiert mich nun Piccard. Ich folge den Spuren des kühnen Ballonfahrers, der am 27. Mai 1931 in Obergurgl (Tirol) mit seinem Stratosphärenballon am Gletscher gelandet war. Nicht nur Piccards Weltrekord war damals in aller Munde, auch der kleine Gebirgsort Obergurgl wurde über Nacht weltberühmt. Vorher war Obergurgl ein kleines Tiroler Bergbauerndorf. Höchstens als Tirols höchstes Kirchdorf auf 1.927 Metern Seehöhe war es am Beginn der 1930er-Jahre einigen Insidern und Bergsteigern bekannt. Die damaligen Medien, allen voran die Neue Augsburger Zeitung, die nach dem rasanten Aufstieg des Ballons im Morgengrauen des 27. Mai 1931 in Augsburg den kleinen schwarzen Punkt am Himmel nicht aus den Augen ließen, mussten mit Einbruch der Dunkelheit kapitulieren. Piccard und sein Assistent schienen verschwunden, die wüstesten Theorien tauchten auf. Und selbst nach der geglückten Landung im Dunkel Die Gondel Piccards landete am 27. Mai 1931 am Obergurgler Gletscher in den Ötztaler Alpen (Tirol).
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der Nacht dauerte es noch bis zum übernächsten Tag, ehe die Weltöffentlichkeit davon erfuhr. Aber dann war es so weit. Die Blätter überboten einander mit Jubelmeldungen, Piccard war am Titelblatt. Der Zeichner der Illustrierten Kronen Zeitung vom 29. Mai 1931 vereinte in seinem Bild alles: den Ballon, dessen Route, den Gebirgskamm der Alpen und die Porträts des Forschers und seines Assistenten Ing. Kipfer. Dazu passend die Bildunterschrift: „Professor Piccards Flug in den Himmel geglückt.“
Wer war jener tollkühne Auguste Piccard? Und wie kam es zu dem legendären Flug? Ein paar Eckdaten zum Verständnis sind unabdingbar. Auguste wurde zusammen mit seinem Zwillingsbruder Jean-Felix am 28. Jänner 1884 in Basel geboren. Die wichtigsten Stationen seiner Karriere im Telegrammstil: 1910 Diplom als Maschinenbauingenieur am Polytechnikum in Zürich (heute als ETH – Eidgenössische Technische Hochschule – bekannt). Hier war er Assistent bei Professor Pierre Weiss (1865–1940), dem Inhaber des Lehrstuhls für Experimentalphysik. 1913 Promotion, 1915 Habilitation als Privatdozent, 1917 Titularprofessor für Mechanik, 1920 Professur für Physik an der ETH und Nachfolger von Pierre Weiss. 1922 Berufung an die Universität in Brüssel. 1954 Emeritierung in Brüssel. Mit einem Wort: eine klassische Universitätskarriere wie im Bilderbuch. Piccard vereinte den reinen Forscher und den experimentierfreudigen Ingenieur in einer Person. Seine Forschungen waren denkbar breit ausgerichtet, von Magnetismus über Radioaktivität bis zur Konstruktion eines zwanzig Tonnen schweren Seismografen. Er verkehrte mit Physikern wie Albert Einstein, Nils Bohr (1885–1962), Ernest Rutherford (1871–1937) oder Paul Langevin (1872–1946). Piccard war kein Theoretiker, er war ein Praktiker. Seine Erfindungen testete und benutzte er selbst. Er ließ es sich nicht nehmen, den Planeten Erde persönlich zu erforschen. Neue Welten waren kein Hindernis, sondern eine Herausforderung. Mit dem Stratosphärenballon stieg er in einer kugelrunden Druckkabine sechzehn Kilometer in die Höhe, mit dem von ihm konstruierten Tauchboot, dem Bathyskaph, tauchte er in ozeanische Tiefen ab. Der Ballon wurde in Augsburg gefertigt, samt Gondel und Besatzung wog er 2.150 Kilogramm, die Hülle wurde nur zu einem Sechstel mit Wasserstoff gefüllt, war also schlaff, als sie emporstieg. Erst mit zunehmender Höhe sollte sich in rund 14.000 Metern (errechnete) Höhe durch den sich ausdehnenden Wasserstoff ein kugelrunder Ballon mit dreißig Metern Durchmesser formen. So weit der Plan des Forschers. Derart gerüstet machte sich Piccard mit seinem Assistenten Ing. Paul Kipfer (1905– 1980) am Sonntag, den 14. September 1930 auf, um von Augsburg in die Stratosphäre zu starten. Alle und alles waren bereit. Das Medieninteresse war enorm. Doch der aufkommende und zunehmend stärker werdende Wind machte dem ehrgeizigen
Piccards holpriger Start in die Stratosphäre
Piccards holpriger Start in die Stratosphäre
Der Stratosphärenballon Piccards war im Verhältnis zur Gondel riesig, nahm aber erst mit zunehmender Höhe durch die Ausdehnung des Gases in seinem Inneren die runde Gestalt an.
Projekt einen Strich durch die Rechnung. Man war gezwungen den Start abzublasen. So war daraus eine Generalprobe geworden. Dieser Tag war in Deutschland Wahltag, er brachte massive Veränderungen. Das vorläufige amtliche Ergebnis signalisierte den Beginn einer neuen Epoche. „Unerwartet großer Erfolg des Hakenkreuzes“, so die
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Neue Freie Presse am Montag, den 15. September 1930; sie schrieb von einem „Sieg des Radikalismus“. Wie schlimm in Deutschland und Österreich noch alles werden würde, ahnte damals freilich keiner. Erst auf Seite 5 lesen wir von dem missglückten Start Piccards. „Der Ballon ließ den nötigen Auftrieb vermissen. Der Wind schaukelte ihn hin und her, die Gondel neigte sich auf der hölzernen Unterlage so stark zur Seite, daß nicht nur der hölzerne Unterbau brach, sondern verschiedene Meßgeräte in der Gondel leicht beschädigt wurden.“ Damit war klar, zurück an den Start! Wir schreiben nun das Jahr 1931 und folgen den Ereignissen in Augsburg zu Pfingsten: Am 24. Mai war Pfingstsonntag, der ebenso wie der Pfingstmontag Feiertag war. An diesen Tagen war es nicht möglich, die siebzig Mann für die Füllung des Ballons zu mobilisieren. Erst am Nachmittag des 26. beginnen die Arbeiten und am 27., einem Donnerstag, sollte es dann im Morgengrauen losgehen. Der Start erfolgte um 3:56 Uhr, die Landung – so viel sei an dieser Stelle schon vorweggenommen – dann siebzehn Stunden und vier Minuten später, als die Aluminiumkugel mit den beiden Forschern auf Eis des Gurgler Gletschers aufsetzte. Doch erst zwei Tage danach waren die Zeitungen voll mit Meldungen. Damals dauerte es eben seine Zeit, bis die Neuigkeiten in den Redaktionen waren. Onlineausgaben, die „Breaking News“ in Echtzeit verkünden, gab es noch nicht. Die Nachrichten gingen via Draht um die Welt, man telegrafierte. Zunächst die realen Fakten der Landung. Sie stammen aus dem Buch Professor Piccards Forschungsflug in die Stratosphäre, das rund sechs Wochen später, Mitte Juli 1931, erschien. Herausgegeben wurde es von der Neuen Augsburger Zeitung. Das Exemplar, das ich in Händen halte, stammt aus der Bibliothek der ZAMG (Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik) in Wien. In aller Eile waren damals Berichte verschiedener Autoren, darunter auch von Piccard, zu einem lesenswerten Büchlein zusammengestellt worden. Liest man seine Beiträge, wirkt jene Schilderung der Landung, die er nicht unmittelbar, sondern wohl ein paar Wochen später niederschrieb, nahezu romantisch. „Die Mannlöcher wurden geöffnet, die Nacht war hereingebrochen. Unter uns im Mondschein unbekanntes Hochgebirge. Wir streben direkt einer Gletschermulde zu. Es ist also ganz überflüssig, durch Ballastausgabe die Landung zu verschieben, ganz abgesehen davon, daß es recht gefährlich gewesen wäre, größere Mengen Ballast zu geben, da wir doch das Ventil nicht mehr bedienen konnten. Die Landung erfolgt nicht gerade sanft, aber doch ganz glücklich zwischen zwei Eisbrüchen auf dem schneebedeckten Gletscher. Wir waren jedenfalls in unserer Kabine gegen eine böse Landung viel besser geschützt als in einem offenen Ballonkorb. In Teile des Ballons eingehüllt, verbrachten wir eine sehr schöne Nacht.“ Sachlich, authentisch, weil in Echtzeit verfasst, sind seine Einträge indes im Bordbuch. Die letzten Zeilen vom 27. Mai dokumentieren im Telegrammstil den Höhenverlust vor der Landung, den Luftdruck und das Öffnen der Ausstiegsluke:
Piccards holpriger Start in die Stratosphäre
„20.51 Uhr: Außen 4500. In einer Minute zirka 300 m, innen 4500. 20.52 Uhr: Mannloch offen.“ In einem Nachtrag des Bordbuches, der am nächsten Morgen um 5:50 Uhr geschrieben wurde, lässt uns Piccard an den letzten Minuten teilhaben: „Nach Öffnen der Mannlöcher sank der Ballon sehr rasch gegen Hochgebirge, zwei oder drei Sack voll geworfen, setzte sanft auf ohne Wind, so daß ich vorzog nicht zu reißen; dann stieg er wieder und setzte hart auf. Dabei ließ ich Kipfer reißen, mehrere Sprünge und glückliche Landung. Gondel um 120° gerollt. Ballon leert sich sehr langsam, weil er nach vorn herunter zu liegen Die autorisierte Biografie Piccards. kam. Schönes unbekanntes Hochgebirge.“ Neben der oben zitierten authentischen Schilderung Piccards fand 25 Jahre später Erich Tilgenkamp (1898–1966) in Band 1 Aufstieg in die Stratosphäre der zweibändigen Piccard-Biografie Reisen in ungewöhnliche Räume über das Aufsetzen der Gondel am Gletschereis geradezu poetische Worte. „Noch ein paar Meter! Oben klatschen Falten. Dumpf schlägt die Gondel auf, springt wie ein schwerverwundetes Tier wieder ein paar Meter hoch wild auf. Reißbahn! Kipfer zieht mit aller Kraft. Nach einem Sprung von etwa 100 Meter schlägt die Gondel zum zweitenmal auf, springt nochmals hoch, ‚stempelte‘ ein drittes Mal und rollt dann schicksalsergeben holpernd über den Firn.“ Mehr als siebzig Jahre später greift der 1961 in Mils bei Imst (Tirol) geborene Literat Norbert Gstrein in der Novelle O2 (1993) unter dem Titel In der Luft den Piccardschen Flug auf literarisch hohem Niveau wieder auf. Am Samstag, den 9. November 2019 bin ich auf der BUCH WIEN; beim Stand des Böhlau Verlages darf ich meinen Mantel deponieren. Ein Arbeitskollege, dem ich mit seiner Frau begegne, sagt mir, dass er gerade eben bei der Lesung von Gstrein war. „Ich muss ihn treffen!“, schießt es mir durch den Kopf. Noch ist die Schlange der Wartenden zu lange. Vom Stand des Löcker-Verlages hole ich mir mein neuestes Buch Altwiener Küchengeschichten. Als ich endlich dran bin, stelle ich mich kurz vor, „Bibliothekar und Sachbuchautor“, gebe ihm meine kulinarische Anthologie (mit Widmung) und bitte ihn, sich bei mir zu melden. Ich möchte von ihm wissen, warum er gerade Piccards Stratosphärenflug aufgegriffen hat, um diese Novelle zu schreiben. „Kein Stress, in zwei, drei Wochen ist es auch okay“, meine Kontaktdaten findet er auf meiner Website, hoffentlich denkt er
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„Dumpf schlägt die Gondel auf“
Seltene Ansichtskarte mit der Landungsstelle der Ballonfahrer und Autogramm von Paul Kipfer.
dran! Doch Norbert Gstrein hat sich auch im Frühjahr 2020 nicht gemeldet; schade! Immerhin steht seine Novelle dem interessierten Publikum zur Verfügung. Hätten Piccard und Kipfer gewusst, dass sie in den Ötztaler Alpen landen würden, hätten sie vielleicht das handliche Büchlein Führer durch die Ötztaler Alpen (1925) des Alpinisten Ludwig Obersteiner (1899–1946) im Gepäck gehabt. Dieser meinte im Vorwort, daß „die Ötztaler Alpen genügend mit Schutzhütten und angelegten Wegen versehen sind. Es gibt wohl noch kleinere Gebiete, die solche entbehren, jedoch besteht kein allgemeines bergsteigerisches Bedürfnis, auch in diesen Gegenden durch Hütten- und Wegbau großzügige Bergbesteigungen zu Morgenspaziergängen herabzudrücken“. Die nächstgelegene Hütte wäre die Karlsruher Hütte (auch Langtalereckhütte) auf 2.883 Meter gewesen. Obersteiner beschreibt sie als „nicht bewirtschaftet, ohne Holz und Decken“. Und so kam auch kein Hüttenwirt, der Jagatee (Österreichisch für Tee mit Rum) serviert hätte. Das war kein Problem für die beiden Aeronauten, sie hüllten sich in die Ballonhülle und verbrachten die Nacht im Freien. Doch was wäre gewesen, wenn sie der Wind ein wenig weiter gen Süden verweht hätte? Es wäre für die touristische Vermarktung Obergurgls ein Drama gewesen. Die beiden Ballonfahrer wären vielleicht nicht in Nord-, sondern in Südtirol gelandet. Hart an der Grenze vielleicht, wo man am 19. September 1991 die legendäre Gletschermumie Ötzi fand, die aus dem Eis ausgeapert war und dann ebenfalls weltweit für Schlagzeilen sorgte. 1991 und auch noch später gab es Diskussionen zwischen Öster-
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reich und Italien, wem nun Ötzi gehörte. Die Frage, ob Italiener oder Österreicher, fand eine Antwort: Ötzi war Tiroler. Doch Piccards Landepunkt war eindeutig auf österreichischem Gebiet, die Obergurgler Touristiker sollten damit allen Grund zur Freude haben.
Beim Aufsetzen in der Finsternis des Obergurgler GletPiccard in den Zeitungen – schers um 21 Uhr schrieb man Mittwoch, den 27. Mai eine Nachlese 1931. Was war in der damaligen Presse zu lesen? Was wusste die Welt von Piccards Aufstieg und Landung? Um Piccards Reise heute nachzuvollziehen, begebe ich mich wieder in den virtuellen Lesesaal der Österreichischen Nationalbibliothek, zu ANNO. Doch zunächst ein Blick auf die damalige Großwetterlage in Europa. „Wetter war wunderschön und warm“, so schreibt mir mein Kollege Rainer Stowasser, Bibliothekar der ZAMG, und schickt mir die handgezeichnete Wetterkarte vom 27. Mai 1931. Über dem Golf von Biskaya ein Tief, östlich von Grönland ein Hoch, dazwischen stabile Verhältnisse. Die Meteorologen vom Mittwoch, 27. Mai 1931 im Originalwortlaut: „Heute morgens waren bei heiterem Himmel die Temperaturunterschiede je nach der örtlichen Lage sehr gros. [sic!] […] Es wehen zwar noch vorwiegend örtliche Winde, die warme, trockene Luft zuführen, aber der Druck ist über dem Kontinent schon einige Millimeter gefallen, die Druckunterschiede sind gering, sodass mit weiterem Abbau der Hochdruckwetterlage und örtlicher Gewitterbildung zu rechnen ist.“ Die Prognose für den nächsten Tag, Donnerstag, den 28. Mai, war eine günstige: „Warmes Wetter, zeitweise wolkig, örtliche Gewitter ziemlich wahrscheinlich.“ Nehmen wir zunächst die Abendausgabe der Neuen Freien Presse vom 27. Mai 1931 zur Hand. Auf der Titelseite eine kurze Notiz unter dem Titel Der erste Flug in die Stratosphäre. Die kompakte Nachricht, die nach Redaktionsschluss noch eilig gedruckt worden war, enthielt alles, was man zu diesem Zeitpunkt wusste: Start gegen halb 4 Uhr früh in Augsburg bei klarem Wetter. Der Ballon war dreieinhalb Stunden mit freiem Auge sichtbar, ehe er die Zirruswolken durchflog. Und am Schluss die erste Prognose: „Die Landung soll in den ersten Nachmittagsstunden erfolgen.“ Ähnlich die ebenfalls in Wien erscheinende Zeitung Der Abend, die Piccard die ganze Titelseite sogar mit zwei Bildern widmete; auch hier keine wesentlichen Neuigkeiten, lediglich ein Satz enthielt weitere Informationen über den Brüsseler Professor: „Man schätzte um 7.30 Uhr die Entfernung vom Startplatz auf etwa 100 Kilometer und die Höhe auf 7000 bis 8000 Meter.“ Weiter mit dem Morgenblatt der Neuen Freien Presse vom 28. Mai. Der Titel der Kurzmeldung brachte es auf den Punkt: Ungewißheit über das Schicksal der Stratosphärenflieger. Der Untertitel schilderte die Faktenlage, wie sie den Journalisten damals
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„Dumpf schlägt die Gondel auf“
Die europäische Wetterkarte vom 27. Mai 1931 zeigt über dem Golf von Biskaya ein Tief, östlich von Grönland ein Hoch, dazwischen sind stabile und günstige Verhältnisse für Piccards Stratosphärenflug.
Piccard in den Zeitungen – eine Nachlese
bekannt war: Noch nicht gelandet. Auf Seite 6 – Der Stratosphärenflieger Piccard zwischen Himmel und Erde – fanden sich wie in einem Puzzle alle Meldungen, die von den Korrespondenten in Bayern und Tirol in die Wiener Redaktion geschickt worden waren. Fakt war, dass bis Mitternacht keine Meldung einer Landung eingetroffen war, das gab Stoff für Mutmaßungen, für vorschnelle Aussagen und unbestätigte Theorien. Wobei sich selbst Qualitätsmedien wie die Neue Freie Presse nicht scheuten diese zu drucken: „Jedenfalls hat es sich bereits herausgestellt, daß die Höhenschätzungen, die von 15.000 und sogar von 16.000 Meter zu berichten wußten, unzutreffend waren. Der Ballon ist sehr langsam gestiegen und hat jedenNeue Freie Presse, 28. Mai 1931 – keine Neuigkeiten. falls am Vormittag nie und nirgends eine Höhe von 8.000 Meter überschritten. Auch am Nachmittag war er in Bayern, wo er in Garmisch-Partenkirchen und in Oberammergau gesichtet wurde, in Tirol desgleichen, wo er über das Oetztal flog, überall mit freiem Auge wahrgenommen, so daß er keine größere Höhe als 8.000 Meter gewonnen haben kann.“ Bleiben wir bei den Tatsachen, bei einer Chronologie der Sichtungen. Von 17 Uhr bis 18:50 Uhr sah man ihn in Seefeld in Tirol. Um 20:15 Uhr kam die Meldung, dass der Ballon vom oberen Inntal gegen Innsbruck zutrieb. Der Innsbrucker Flughafen gab Signale und man glaubte gesehen zu haben, dass sie von Piccard erwidert wurden. Auf jeden Fall war Piccard über den Gipfeln der Tiroler Berge unterwegs. Die Eckdaten der Sichtungen belegten dies: 19:15 Uhr über Landeck, zehn Minuten später über Imst. Um 20:15 Uhr, so der Gendarmerieposten in Imst, zwischen Ötz- und Pitztal. Um 20:37 Uhr wurde er über den Stubaier Alpen zum letzten Mal gesehen. Der Innsbrucker Korrespondent telegrafierte nach Wien: „Er treibt gegen Süden und dürfte zur Stunde über die österreichische Grenze hinaus sein.“ Dann kam noch eine Meldung aus Augsburg, jenem Ort, wo der Ballon tags zuvor, am 27. Mai 1931, aufgestiegen war. Ein Schweizer Fliegerklub meldete, dass der Ballon um 22:22 Uhr über Bozen gesichtet worden war. In Rom gaben Regierung und Luftfahrministerium Anweisungen, den Ballon nicht aus den Augen zu lassen und ihm Hilfe zu leisten, sofern eben erforderlich. Die allgemeine Meinung jener, die das Unternehmen mitverfolgt hatten, war
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zu diesem Zeitpunkt: Piccards Ballon war nie in der Stratosphäre, er war maximal in zehn Kilometer Höhe, denn er konnte fast mit freiem Auge, wenngleich auch nur in Stecknadelkopfgröße, gesehen werden. Sorgen machten sich breit, denn Piccard hatte nur für sechzehn bis zwanzig Stunden Sauerstoff an Bord. Greifen wir zum Abend. Diese Zeitung glaubte, es am 28. Mai besser zu wissen. Piccards Ballon abgestürzt? So titelte die Gazette in großen Lettern auf der ersten Seite, darunter die allerletzten Schlussmeldungen von den Italienern: Laut Carabinierikommando in Meran war der Ballon im Schnalsertal niedergegangen. Das Postamt in Kartaus (Südtirol) wusste nichts von einer Landung; eine andere Version wollte von einem Absturz am Jausenpass bei Sterzing wissen. Und jetzt wird’s wirklich chaoDer Stratosphärenflug Piccards war Ende Mai 1931 das beherrschende tisch. Wir folgen den Ausführungen Thema in den Tageszeitungen. im Abend. Die Meldung stammt aus Berlin, dem Fernsprechdienst des Abend, und wir lesen, dass kaum noch Hoffnung besteht, dass die beiden Forscher am Leben sind. Zuletzt wurden sie über Meran gesichtet und „dann schwebt er vermutlich in gewaltiger Höhe über den Dolomiten oder noch weiter südlich, vielleicht bereits über der oberitalienischen Ebene oder dem Meere“. Dass die oben erwähnten Lichtsignale des Innsbrucker Flughafens eventuell beantwortet wurden, wird an dieser Stelle nun „ausdrücklich dementiert“. Entgegen vorigen Meldungen sollen sie bereits am Tag zuvor, also am 27. Mai, „die Höhe von 16.000 Meter erreicht haben, wie man durch Beobachtung und Berechnung festgestellt haben wollte“. Am Ende blieben zwei Thesen: Entweder ist ein „dramatisches Ereignis“ passiert oder sie sind ohnehin schon gelandet. „Wenn bis zur Stunde Nachrichten darüber fehlen, so könnte es daran liegen, daß der Ballon in einer abgeschiedenen Gegend niedergegangen ist.“ Dass die zweite Variante eingetreten ist, wissen wir heute. Damals,
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als die beiden Forscher am Obergurgler Gletscher hart, aber wohlbehalten gelandet waren, sollte es noch dauern, bis es die Medien erfuhren. Doch der Allgemeine Tiroler Anzeiger mutmaßte an diesem 28. Mai in seinem Artikel Tragödie in der Stratosphäre? ganz am Schluss schon recht richtig: „Wie uns knapp vor Redaktionsschluß mitgeteilt wird, ist die amtliche Meldung, daß der Ballon Piccards gestern 22.30 Uhr bei Bozen gesichtet worden sei, falsch. Es besteht die Vermutung, daß der Ballon in den Stubaier oder Oetztaler Bergen niedergegangen ist.“ Interessant ist auch die Darstellung der Illustrierten Kronenzeitung vom 28. Mai. Ließ die Schlagzeile am Titelblatt, Professor Piccards Flug ins Ungewisse, noch vieles offen, war auf Seite 7 alles klar: Professor Piccard fliegt in den Himmel. Das klingt fast nach einer Apotheose, so, als wäre er verstorben und würde bei Petrus an die Himmelspforte klopfen. Doch am Abend ist es gewiss: Meldung über eine Landung Piccards schreibt das Abendblatt der Neuen Freien Presse auf der Titelseite und liefert damit die „Breaking News“ des ausklingenden Tages. „Soeben ist hier die Gendarmeriemeldung eingelaufen, daß der Ballon Piccards am Gurgler Ferner niedergegangen ist.“ Auch in Deutschland wird die geglückte Landung schnell bekannt. Das Berliner Tageblatt vom 28. Mai 1931 notiert in aller Kürze: „Wien, 28. Mai (12 Uhr 40 Minuten) (Telegramm unseres Korrespondenten). Aus Innsbruck wird gemeldet, dass der Ballon Piccards auf dem Gurgler Ferner niedergegangen ist. Der Ort Gurgl liegt im Schnalser Tal in den Oetztaler Alpen, längs der österreichisch-italienischen Grenze.“ Jetzt gibt es kein Halten mehr, im Ötztal ist die Hölle los. Die beiden Aeronauten sind gefeierte Helden; Journalisten und Politiker geben sich die Klinke in die Hand. Alle, vom Bundespräsidenten abwärts, senden Glückwünsche. Obergurgl, bislang ein unbekannter Gebirgsort, ist mit einem Schlag in aller Welt bekannt.
Die letzte Seite in Professor Piccards Forschungsflug in die Obergurgl „ein Weltname“ Stratosphäre zeigt ein ganzseitiges Schwarz-Weiß-Bild und die Gondelodyssee des Gebirgsortes mit folgender Bildunterschrift: „Das malerisch gelegene Obergurgl im Ötztal, das durch die Landung Piccards einen Weltnamen bekam.“ Touristiker, was wollt ihr mehr? Bis zum heutigen Tag wissen sie, was für ein Glücksfall, im wahrsten Sinn des Wortes, das damals war. Es war nicht für alle so; als besagtes Büchlein erschien, war der Rezensent in den Innsbrucker Nachrichten vom 24. Juli 1931 nur beschränkt euphorisch; der Grund: gekränkte Eitelkeit. „Wenn schon für jedes biographische Detail aus dem Leben Piccards und Kipfers Raum war, so hätte auch wohl ein Wort über die Rolle, die Tirol bei der Aufnahme der beiden Forscher und bei der Bergung des Ballons und seines Inhaltes gespielt hat, den Rahmen des Buches kaum gesprengt.“ Die Abbildung und dann auch namentliche N ennung
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Zu Beginn der 1930er-Jahre war Obergurgl ein idyllisches Bergbauerndorf, das kaum jemand kannte.
der Tiroler Gebirgstruppen bei der Bergung des Ballons wie auch Panoramabild und „Weltname“ am Schluss waren ihm offenbar zu wenig. Wie erwähnt, die 800 Kilogramm schwere Ballonhülle wurde am nächsten Tag von herbeigeeilten Tirolern zusammengerollt und auf den Schultern in den Ort getragen. Das Bild, das aussieht, als würden die Mannen einen riesigen Apfelstrudel auf dem Weg zum Eintrag ins Buch der Rekorde tragen, ging als Lindwurm von Obergurgl in die Geschichte ein. Die runde Gondel blieb noch am Gletscher liegen, sie sollte erst später geholt werden. Im Sommer und Herbst 1931 wurde sie zu dem Ausflugsziel. Man ging Piccard-Gondel schauen, schrieb seinen Namen auf die Aluminiumkugel. Souvenirjäger montierten, sofern noch vorhanden, etwas ab. Postkarten mit dem Bild der einsamen Piccard-Gondel am Gletscher wurden gedruckt und in alle Welt verschickt; heute würde man Selfies machen. Die Piccard-Gondel war zu einem Wahrzeichen Obergurgls geworden. Kein Wunder, dass die Obergurgler sie nicht gerne hergeben wollten, als sich im Dezember 1931 Piccard anschickte sie zu holen. „Die Bevölkerung weigert sich nicht, die Gondel herauszugeben. Die Bergführer von Gurgl werden beim Abtransport der Gondel ebenso behilflich sein wie bei der Rettungsexpedition. Allerdings sehen wir die Gondel nicht gerne scheiden.“ (Der Tag, 24. Dezember 1931). Dem Obmann des Skiklubs Gurgl, Hans Falkner, spendete Piccard als Dank für die Bergung einen Pokal als Preis für ein Skirennen, das am 12. Jänner 1932 ausgetragen werden sollte. Der groß gewachsene Forscher hatte sich freilich den Tirolern gegenüber vorher schon dankbar und großzügig erwiesen. Laut Grazer Tagblatt vom 17. November 1931 bedankte er sich schriftlich bei Landeshauptmann Dr. Franz Stumpf (1876–1935).
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Der Forscher hatte damals auch „als Zeichen seines Dankes eine größere Summe überwiesen, die für wohltätige Zwecke im Lande Tirol verwendet werden soll“. Im Jänner 1932 gab es einen weiteren Bergungsversuch. Paul Kipfer, der mit Piccard in der Gondel gewesen war, kam angereist. Für die Gondel hatte sich das Deutsche Museum in München interessiert; Piccard hielt hingegen fest, dass die Gondel in Belgien bleiben müsse, da sie von dort finanziert worden war. Der Münchener Museumsdirektor Oskar von Miller (1855–1934) schlug vor, die Gondel zu zerschneiden, da hätten beide die Hälfte und die Besucher könnten auch gleich das Innenleben sehen. Ein salomonischer Vorschlag, der nicht umgesetzt wurde. Erst am 7. April 1932 begann man mit dem Abtransport der Gondel. Zunächst schaffte man sie zur Karlsruher Hütte. Hier rutschte sie über Nacht ab, blieb aber unversehrt. Weiter ging’s dann auf einem Schlitten nach Obergurgl und von dort mit Lkw nach Der Abtransport der Gondel Piccards am Obergurgler GletInnsbruck. Am 13. April war sie sogar wieder scher erfolgte im April 1932 durch heimische Bergführer. auf dem Titelbild des Neuigkeits-Welt Blattes zu sehen, mit all den Unterschriften, die der heutigen Graffitiszene alle Ehre gemacht hätten. Der wichtigste Schriftzug stammte von Piccard selbst: „Der Ballon ist Eigentum des Fonds national de Recherche Scientifique 11 Rue d’Egmont Brüssel, Piccard.“ In Innsbruck angekommen, wurde die Gondel im Landhaus zur Schau gestellt. Allein am 13. April kamen 3.800 Neugierige zum Gondel-Schauen. Der Eintritt von zwanzig Groschen kam einem in Bau befindlichen Blindenheim zugute. Nur zur Orientierung: Die Zeitung der Tiroler Anzeiger kostete damals dreißig Groschen. Nach ein paar Tagen ging’s dann mit der Bahn nach Feldkirch, wo die Gondel am 19. April eintraf. Der weitere Weg wurde mit Lkw über Liechtenstein in die Schweiz zurückgelegt. Zwischenzeitlich hatten die Obergurgler Pläne geschmiedet, was man tun könnte, um wenigstens den Landungsort als Gedenkstätte auszubauen. Vieles wurde realisiert, am prominentesten ist das 1989 errichtete Piccard-Denkmal, bestehend aus der Nachbildung der Gondel und einer Bronzebüste des Forschers in Obergurgl. Abseits des Ortes
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wurde im Sommer 2017 die 142 Meter lange Piccard-Brücke, eine Stahlhängebrücke, hundert Meter über dem Gurgler Ferner eröffnet. Selbstverständlich gibt es im Ort einen Piccardweg und auch einen PiccardSaal, der zu einem Kongresszentrum mit 500 (!) Plätzen ausgebaut werden soll. Spätestens 2031 wird den Obergurglern wieder etwas einfallen, wenn sich die Landung Piccards Die Gondel des Stratosphärenballons war im Sommer zum hundertsten Mal jährt. Lukas 1931 das Ziel zahlreicher Schaulustiger, die sich mit ihrem Scheiber vom Ötztal-Tourismus hat Namen verewigten. schon recht: „Die Piccard-Landung war der Startschuss für den internationalen Tourismus im hinteren Ötztal. Unser Ort erlangte durch unzählige Presseberichte viel Aufmerksamkeit. Anfang der 1930er-Jahre ging es dann richtig los mit dem Wintertourismus!“
Auguste Piccard begab sich nach der Landung auf Vortragsreise. Am 12. Oktober 1931 sprach in Innsbruck „die hohe hagere Gestalt des Stratosphärenfliegers mit dem schmalen, lockenumrahmten Kopf“ (Innsbrucker Nachrichten, 13. Oktober 1931) im Großen Stadtsaal in Anwesenheit von Landeshauptmann und Bürgermeister über seinen Flug. Praktische Anwendungen sah Piccard im Flugverkehr, der sich damals in geringeren Höhen abspielte. Für ein Flugzeug in der Stratosphäre prognostizierte er eine Geschwindigkeit von 600 Stundenkilometern. Heute fliegen große Verkehrsflugzeuge von Boeing oder Airbus in 12.000 bis 13.000 Metern Höhe mit Geschwindigkeiten von 800 bis 900 Stundenkilometern – Piccard hat es vorausgesehen. Und als Erster den wichtigen Schritt in die Stratosphäre getan, ein zweiter Flug sollte übrigens 1932 folgen. Nach dem Vortrag tafelte die erlesene Runde im Gasthof Maria Theresia. Die nächste Station war Wien. Am 14. Oktober kam Piccard mit dem Mittagsschnellzug von Innsbruck an. Er logierte im noblen Hotel Imperial an der Ringstraße in Wien Innere Stadt. Ich finde die folgende Notiz bei Tagesneuigkeiten unter der Rubrik Aus der Gesellschaft – heute würden sämtliche Society-Sendungen im Fernsehen darüber berichten. Noch am selben Tag empfing ihn Bundespräsident Wilhelm Miklas (1872–1956). Als Piccard erfuhr, dass Einstein ebenfalls in Wien bei seinem Physikerkollegen und Freund Felix Ehrenhaft weilte, machte er sich flugs zu dessen Haus in der Grinzingerstraße 70 in Wien Döbling auf und war mitten in der Runde der Gelehrten. Das Besondere
Stationen der Vortragsreise quer durch Europa
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Piccard und Einstein als Karikatur auf einer Titelseite – ein seltenes Bild zweier Wissenschaftler.
an diesem Abend? Er kam just in jenem Moment, als Einstein eben zur Violine gegriffen hatte, um bei Mozarts Streichquintett mitzuspielen. Nachzulesen ist die Anekdote Piccards und Einsteins Freundschaft von Heinrich York-Steiner (1859– 1934) in der Beilage der Neuen Freien Presse vom 20. August 1932. Zurück ins Jahr 1931. In der Illustrierten Kronen Zeitung befand sich am 15. Oktober auf der Titelseite eine Karikatur der beiden Gelehrten beim Wiener Heurigen unter dem Titel Rendezvous der höchsten Geister. Im Inneren des Blattes steuerte Theodor Horn unter selbigem Titel einige Verse in Wiener Wein- und Heurigenseligkeit bei, die bei Einheimischen wie auch Besuchern in gleicher Weise beliebt ist.
„Herrlich!“ sprach Professor Einstein, „Ist der Wein und seine Art; Dieser Trank birgt keinen Weinstein. Auf dein Wohl, mein Freund Piccard!
Einstein hat sein Glas getrunken, Weiß kaum selbst, wie dies geschah; Und nun relatief versunken In Gedanken sitzt er da.
Doch ich kann vielleicht auch irren!“ Halb erschrocken Einstein rief, „Meine Sinne sich verwirren. Alles ist nur relativ.“
„Prosit Einstein! Sei doch munter, Trink vom Weine mild und zart; Merk’: In Wien geht man nicht unter!“ Wer so sprach, das war Piccard.
Niemand darf das Urteil wagen: „Dies ist schlecht und dies ist gut“, Denn nichts ist in unsern Tagen Positiv und absolut.
„Mich verdrießt das Weltgetümmel Und ich denk’: Verkaufts mei’ G’wand, Denn ich fahr’ glei’ ’nauf in Himmel, Wo ich mich schon fast befand.
[…]
[…]
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Seinen Vortrag am 15. Oktober um 19:30 Uhr im Großen Saal des Wiener Konzerthauses begann er mit den Worten: „Zum Flug in die Stratosphäre gehört nicht viel Mut, wenn man Vertrauen zu seinen Berechnungen besitzt.“ Damit brach er das Eis, der Kontakt zum Publikum war rasch hergestellt. „Professor Piccard, wie man ihn ja schon von unzähligen Bildern her kennt, hat so gar nichts Gemachtes, Affektiertes an sich. Fast linkisch mutet es an, wie dieser überlange Mensch das Podium betritt, Piccard hatte in den 1950er-Jahren Höhen und Tiefen der Erde erkundet. der mit seinen Gliedern nichts Rechtes anzufangen weiß. Doch wie er beginnt, ist jedes Wort schlicht und sachlich. Und sein Schwyzer Dütsch stellte gleich den richtigen Kontakt zwischen ihm und dem Publikum her.“ (Wiener Zeitung, 17. Oktober 1931). Manche Medien alterierten sich über seinen viel zu großen Hemdkragen, der mit der schier endlos langen Gestalt und den wallenden Gelehrtenhaaren offenbar vielen ins Auge stach. Aber dennoch hingen sie an seinen Lippen und vergaßen bald alle Äußerlichkeiten. Natürlich waren auch Einstein und Felix Ehrenhaft im Publikum und applaudierten. Wien sollte Piccard noch öfter beehren, er kam – so schrieb mir Erwin Barta vom Wiener Konzerthaus – noch zwei weitere Male. Am 9. November 1937 war er wieder im Konzerthaus (Mozart-Saal). Damals sprach er vor allem über die Zukunft des Flugverkehrs, dem sich in der Stratosphäre völlig neue Wege eröffnen würden. Piccard meinte, dass es nicht unrealistisch sei, unter Einbeziehung der Zeitverschiebung in Wien zu frühstücken und in New York mittagzuessen. Er sollte recht behalten, die Nettoflugzeit beträgt heute weniger als zehn Stunden, die Zeitverschiebung sechs Stunden, bleiben also vier Stunden zwischen zwei Mahlzeiten. Zwanzig Jahre später, Piccard war mittlerweile zum Pionier für Tiefseetauchgänge geworden, hatten die Wienerinnen und Wiener wieder Gelegenheit, ihn live zu erleben. Man schrieb Montag, den 8. April 1957 und sah den Lichtbildervortrag des 73-jährigen Forschers mit dem Titel Aus der Stratosphäre in die Tiefsee. Er begann im Großen Saal des Wiener Konzerthauses mit den Worten: „Man hat oft meinen Mut bewundert – aber das stimmt nicht: Ein Ingenieur darf nicht mutig sein.“ Ich folge dem Artikel Über den Wolken und unter den Wellen in der AZ, der ArbeiterZeitung, vom übernächsten Tag. Hier sind interessante Details zu finden, die Piccard offenbar in Wien erzählte. Demnach hatte er 1931 anfangs mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Da keine Firma sich bereit erklärt hatte die Druckkabine (Gondel) zu bauen,
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ging er zu einer Fabrik, die Bierfässer aus Leichtmetall herstellte, und bestellte hier ein rundes Fass mit dreißig Hektolitern Inhalt samt Mannloch und Beobachtungsluke. Nach seinem Wiener Vortrag im Oktober 1931 setzte er seine Reise Richtung Graz, Pressburg (Bratislava) und Prag, wo ihn Präsident Edvard Beneš (1884–1948) empfing, fort.
Nach der Gurgler Landung war nicht nur das bislang Mit einem Mal berühmt: kaum bekannte Dorf, sondern natürlich Auguste Pic- zwei Anekdoten und ein Witz card in aller Munde. Die Medien waren am Menschen, an der Persönlichkeit des großwüchsigen, hageren Forschers interessiert. Sie beobachteten ihn genau, griffen jedes Detail auf und berichteten über Dinge, die sonst wohl nie von Interesse gewesen wären. Sein Biograf, Erich Tilgenkamp, schreibt 1956 über die Zeit unmittelbar nach der Landung: „Der Gelehrte hatte aufgehört eine eigene Persönlichkeit zu sein. Die Öffentlichkeit glaubte ein absolutes Recht auf den Mann zu haben, um den sie eine Nacht gebangt hatte.“ Piccard war in diesen Stunden unglaublich tolerant. Nicht nur, dass er alles ertrug, er schien es auch ein wenig zu genießen. Doch man sprach nicht nur ehrfurchtsvoll, sondern witzelte über den mutigen Gelehrten. Klarerweise ging es bei diesem Witz um seinen Höhenflug: „Professor Piccard kommt in den Himmel. Petrus begrüßt ihn, zwinkert ihn an: ‚Ja, woher kenn’ ich Sie denn nur, lieber Herr Piccard? … Ich weiß schon, ich hab’ Sie unlängst da vorüberfliegen sehen!‘“ Wer den Witz erfunden hat, wissen wir heute nicht, vielleicht wurde er an mehreren Orten gleichzeitig erfunden. Die nachfolgenden Anekdoten geben Einblick in die Familie und das Wesen des Höhenfliegers. Auguste und sein Zwillingsbruder Jean-Felix – sie sahen einander zum Verwechseln ähnlich – waren beide leidenschaftliche Ballonfahrer. Die beiden großwüchsigen Männer wussten vor allem in ihrer Jugend mit dieser Ähnlichkeit immer wieder ihre Umwelt zu verwirren. Die erste Geschichte fand ich in der Zeitschrift Frisierkunst der Mode (Septemberausgabe 1931) und selbst nach mehr als achtzig Jahren ist sie erfrischend zu lesen: „Vom Stratosphärenschiffer Piccard berichtet man eine hübsche Geschichte: Er hat einen Bruder Johann (er selbst heißt August), der ihm zum Verwechseln ähnlich sieht. Während die beiden vor Jahren in München studierten, benützten sie diese Ähnlichkeit zu mancher ‚Komödie der Irrungen‘. Eines Tages betrat August, der sich 14 Tage lang nicht rasiert hatte, einen Friseursalon und sprach die geflügelten Worte: ‚Rasieren Sie mich bitte sehr sorgfältig, denn mein Bart wächst furchtbar schnell nach.‘ – ‚Seien Sie unbesorgt‘, entgegnete der Figaro, ‚Sie werden schon zufrieden sein. Wenn nicht, so verpflichte ich mich, Sie das nächste Mal gratis zu rasieren.‘
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Auguste Piccard (im Trapez rechts) und sein Zwillingsbruder Jean (links) nutzten ihre Ähnlichkeit für allerlei Späße.
Und so geschah es. Nach einer Viertelstunde verließ der Kunde mit Wangen, die sich wie Seide anfühlten, den Salon. Eine Stunde später öffnete sich die Türe und der Kunde erschien wieder mit einem fürchterlich struppigen Gesicht. Der Friseur starrte ihn an wie Macbeth Bancos Geist und fürchtete einen Augenblick lang, um seinen Verstand zu kommen. Dass es der gleiche Kunde sei, daran zweifelte der gute Barbier
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keinen Augenblick und so ließ er sich denn herbei, ein zweites Mal gratis zu rasieren, was für Johann Piccard eine angenehme Ersparnis bedeutete.“ Die zweite Anekdote bezieht sich auf den weltberühmten Auguste, der nach seiner Landung in Obergurgl auf Vortragsreise ging. Neben Innsbruck, Wien, Graz, Salzburg, Prag besuchte er offenbar auch Hamburg, trug vor und ließ sich feiern. Wieder ist es ein Zufallsfund in ANNO. Hier finde ich unter den 69 Ergebnissen der Suchabfrage „Piccard Vortrag~10“ eine Glosse des deutschen Schriftstellers Walter Anatole Persich (1904–1955) mit dem Titel Hamburg im Nebel. In Wikipedia lese ich über Persich, dass sich seine Geschichten auf „tatsächliche historische Begebenheiten oder das Leben bekannter Personen“ beziehen. Also wollen wir den Zeilen im Neuen Wiener Journal vom 20. Dezember 1931 glauben. Was war passiert? Bei seinem Hamburger Lichtbildervortrag brannten, als das Licht schon abgedreht worden war, noch zwei helle Glühlampen. „Licht aus!“, rief Piccard. Aus dem Publikum ertönte eine Stimme, dass dies eine Notbeleuchtung sei, die polizeilich vorgeschrieben sei. „So“, sagte Piccard, „möchte die Polizei sehen, die mir ins Handwerk pfuscht!“ Daraufhin zerschlug er mit dem Zeigestab die beiden Glühlampen und setzte den Vortrag fort, ohne dass die Polizei gekommen wäre. Das fällt wohl in den Bereich „übersteigertes Selbstbewusstsein“. Doch an anderer Stelle sollte er dann doch noch eine polizeiliche Begegnung haben. Und zwar traf Piccard auf just jenen Polizeileutnant, der für die Sicherheit im Saal zuständig war und die Sicherheitsvorkehrungen vorher überprüft hatte. Wir folgen nun den Ausführungen Persichs im Original: „Der uniformierte Ordnungshalter prüfte im Alkazar an der Reeperbahn die Sicherungsmethoden und wollte eben das Ballhaus verlassen, als Piccard eintrat. Höflich grüßend trat er zur Seite. ‚Ah, lieber Freund‘, lachte Piccard, ‚mir ist gerade der Unterschied zwischen uns beiden aufgefallen!‘ – ‚Nanu, Herr Professor!‘ – ‚Ich muß mich beruflich in dünne Luft begeben‘, schmunzelt Piccard, ‚Sie in das Gegenteil‘. Sie drückten sich die Hand und hatten sich verstanden.“ Das „Alkazar“ war 1926 von Arthur Wittkowski als Varieté eröffnet worden. Das programmatische Motto Wittkowskis, „Jede Viertelstunde eine Sensation und in den Pausen keine Pausen“, sorgte nicht nur für volle Kassen, sondern begeisterte auch Piccard. Damals lief hier die Show Weltrekord der Technik des Vergnügens. Piccard, der von dem Etablissement schon gehört hatte, sah sich die Show an „und fand“, wie er erklärte, die „heiterste Seite des Lebens“ behaglicher als die Stratosphärenbombe in ihren besten Momenten – „und nicht weniger überraschungsreich“. Das „Alkazar“ in Hamburg bot ein Programm, das Piccard gefiel.
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Mit Sack und Pack unterwegs Vom Fortbewegen und Mitnehmen
Eine Reise ist kein Spaziergang und eine Expedition schon gar nicht, da bedarf es weitreichender Vorbereitungen. Ja, selbst eintägige Wandertage – ich erinnere mich an meine Gymnasialzeit – verlangen nach Vorbereitungen, sprich Hirschtalg. Das ist eine Creme, die ähnlich wie Vaseline vor dem Wundwerden schützt. Dieser wohlgemeinte Tipp unseres Klassenvorstands sorgte jedes Mal für Schmunzeln. Doch wer es probiert hat, wird bestätigen, dass es die Füße danken. Wann immer ich es damals bei den Schulausflügen, die meist in den Wienerwald führten, anwendete, bekam ich keine Blasen an den Füßen. Dieser Rat fällt in den Bereich jener Hausmittel, die von Generation zu Generation mündlich tradiert werden. Zufällig fand ich einen ähnlichen Tipp in einer der frühen Schriften der Alpinliteratur, den Mittheilungen des Österreichischen Alpen-Vereines. Ich entdeckte ihn auf Seite 361, am Schluss in Heft 1 von 1863 unter dem poetischen Titel Zur Equipirung auf Alpenreisen. Hier im Originalwortlaut: „Das Wundwerden der Füsse durch vieles, namentlich abwärts Gehen, wird am besten dadurch hintangehalten, dass man den blossen Fuss mit feinen Leinwandsocken, wie sie die Firma ‚Betti Schmidt‘ in Wien liefert, bekleidet, und darüber Baum- oder Schafwollsocken anzieht. Die Schafwollsocken sind ihrer schweissaufsaugenden Eigenschaft wegen vorzuziehen. In Ermanglung von Leinwandsocken schützt man den Fuss am besten durch Einseifen der inneren Sockenseite mit der ganz gewöhnlichen Waschseife. Die Seife ist jedem der angerühmten Fette, wie Hirschtalg, Unschlitt [veraltet für Talg] vorzuziehen.“ (Auch die damalige Firma Betti Schmidt konnte ich in historischen Zeitungen finden, eine wohl eingeführte Manufaktur mit Stammsitz in der Stiftgasse in Wien Neubau). Bleiben wir bei den Füßen, wenden wir uns dem Schuhwerk zu, das auch hier seine Erwähnung fand, wenngleich damals die heimischen Schuster nicht gut wegkamen. „Eine passende Beschuhung sich zu verschaffen, ist das A & O aller Vorbereitungen zu einer Alpenreise. Man hat vielfach behauptet, ordnungsmässige Bergschuhe könnten nur von den Fussbekleidungskünstlern im Gebirge selbst angefertigt werden. Abgesehen von der Unbequemlichkeit, welche, zumal wenn die Zeit drängt, Gerhard Fuchs legte auch in den Bergen Afghanistans Wert auf gepflegte Ausrüstung.
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damit v erbunden wäre, müssen wir geradezu behaupten, daß man in den Alpenorten allerdings ganz vortreffliche Bergschuhe für Holzknechte und Jäger, aber nun und nimmermehr für den zartere Bekleidung heischenden Fuss von Städtern und Flachländern verfertigen kann. Die feineren Sorten der in den Alpenorten verfertigten Schuhe sind in der Regel aus Mangel an geeignetem Rohmateriale unbrauchbar. Die schweren ‚grob abgenähten‘ rächen sich oft furchtbar an Ungewohnten, die par force mit dem eingebornen Alpensohne sich gleichzustellen versuchen. Die Bundschuhe, welche von Londoner Schuhmachern Inserat im Fremden-Blatt, 31. März 1863. für die Mitglieder des Alpine Clubs geliefert werden, sind das eleganteste und dabei solideste Fabrikat, was in diesem Genre noch geliefert worden ist.“ Ein Tipp für die Oberbekleidung aus selbigem Artikel: „Schafwoll-(Flanell-)Hemden müssen wir allen Reisenden als prophylaktisches Mittel gegen Verkühlungen empfehlen.“ Der deutsche Forscher Ferdinand Freiherr von Richthofen (1833–1905), der sich durch eine zwölfjährige Reise nach China (1860–1872) einen Namen unter den Geografen gemacht hatte, verfasste 1886 ein dickes Buch, den Führer für Forschungsreisende. Natürlich ging’s hier auch um die Ausrüstung, betreffend Schuhwerk setzte er auf Militärstiefel. „Unübertroffen für den Reisegebrauch sind niedrige und hohe Stiefel aus braunem Rindsleder, welche von der britischen Militärverwaltung für Polizeisoldaten der Kolonien geliefert werden.“ Zusätzlich empfahl er das Tragen dünner Baumwollstrümpfe und darüber solcher aus gröberer Wolle. Auch ich kann den Zweistrumpf-Tipp Richthofens nur empfehlen; als ich 1982/83 beim Bundesheer war, trug ich unter den groben militärgrünen Bundesheersocken stets dünne Baumwollsocken.
Schuhe für eisige Kälte von Arktis und Antarktis
Weder Wienerwaldwanderungen noch Alpen- oder Chinareisen kommen an die Herausforderungen arktischer oder antarktischer Breiten heran. Was ist hier an Beinkleidung geboten? Nach kurzer Recherche stößt man immer wieder auf einen Namen, auf das 1857 gegründete Bergschuhgeschäft Mörtz in der Windmühlgasse 28 in Wien Mariahilf. Sieht man sich in der Alpinliteratur um, findet man immer wieder Inserate und Mitteilungen höchst zufriedener Kunden. So verfasste Oberstleutnant Karl Milius-Rasticevo (1879–1962), Obervermessungsrat, folgendes Schreiben:
Schuhe für eisige Kälte von Arktis und Antarktis
„ Am 15. Mai v. J. begab ich mich mit einem Paar neuer Bergschuhe der Firma Mörtz, Beschlag ‚Silvretta‘, zu fünfwöchiger Vermessungsarbeit auf die Hintere Raxalpe und anschließend mappierte ich durch vier Monate das ganze Ankogel- und Hochalmspitzgebiet. Es gab über 120 Ausrückungen, die oft 12 bis 15 und 16 Stunden dauerten, mit viel Fels, Eis, Schnee, Moränen und Geröll. Trotzdem haben die Schuhe tadellos gehalten; sie sind noch immer fast wie neu und werden auch den nächsten Sommer im Steinernen Meer sicher durchhalten.“ (Der Gebirgsfreund, Juli 1936). Ab den frühen 1930er-Jahren inserierte die in der Bergsteiger-Community höchst angesehene Firma Mörtz mit dem Hinweis, die österreichische Polarexpedition ausgerüstet zu haben. Dem will ich auf den Grund gehen. Ziel besagter Expedition war nicht der Nordpol, wie man annehmen könnte, sondern „nur“ die Insel Jan Mayen, die zwischen Grönland und Norwegen auf 71° nördlicher Breite liegt. Dort war es nicht minder kalt und ungastlich, eine echte Herausforderung für die drei Forscher Hanns Tollner (1903–1986), den Expeditionsleiter, Rudolf Kanitscheider (1906–1971) und Fritz Kopf (1909–1977) und das Material. Neben zahlreichen wissenschaftlichen Fachpublikationen existiert mit dem Buch 14 Monate in der Arktis (1934) auch eine populäre Darstellung. Am Ende des Buches rühmen die drei, ganz im Stil von ProductPlacement, ihre Ausrüster: die Firmen Mörtz, Maggi (Suppenwürze) und Bensdorp (Schokolade). Die Mörtz’schen Bergschuhe hatten an der Sohle den Tricouni-Beschlag. Das sind Metallwinkel, die auf die Sohle geschraubt werden und auf der Unterseite gezähnt sind. Damit ist vor allem auf Eis optimaler Halt gewährleistet. Das Loblied der drei im Original: „Diesen Schuhen würde man es nicht ansehen, daß sie nahezu 14 Monate scharfes vulkanisches Gestein, polares Eis und polare Kälte hinter sich haben.“ Dazu finden sich zwei Bilder (vorher und nachher) und der Vermerk, dass die Zähne zwar abgeschliffen sind, aber kein einziger Für die italienischen Gebirgsjäger („Alpini“) war bestes Schuhwerk wichtiger Teil ihrer Ausrüstung. Nagel abbrach oder verloren ging.
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Mit derartigen Referenzen musste sich kein Firmenchef genieren, da darf man auch im 21. Jahrhundert noch stolz sein. Als ich im März 2020 im Geschäft vorstellig werde, frage ich nach alten Bergschuhen mit dem Tricouni-Beschlag, leider haben sie keine mehr. Das Herzeigeobjekt der Firma ist – auf einem Regal über der Theke – ein Bergschuh von Herbert Tichy (1912–1987), der am 19. Oktober 1954 den Cho Oyu (8.188 Meter) erstmals bestieg. Doch der Schuh von Tichy hat nur eine Gummisohle. Wer wissen will, womit die Mörtz’schen Bergschuhe auf Jan Mayen gepflegt wurden, findet ein Inserat am Ende des Buches Cho Oyu. Gnade der Götter (1955): „Gutra Lederfett und Lederöl, Marke Seehund schützen das Leder.“ Wie wichtig geeignete Schuhe sind, predigen nicht nur Orthopäden, sondern auch erfahrene Forscher, bei deren Expeditionen den Schuhen eine entscheidende Rolle zukommt. Eine besondere Herausforderung bei Schuhen ist der Schutz gegen Kälte. Roald Amundsen (1872–1928) wusste dies zur Genüge. In seinem Buch Die Eroberung des Südpols (1912) widmete er sich ausführlich der Ausrüstung. „Die Fußbekleidung ist doch das wichtigste von allem. Die Füße sind ja der Kälte am meisten ausgesetzt und am schwersten zu schützen.“ Er schildert ausführlich die Gefahren des Erfrierens, geht auf die Durchblutung der Füße ein, beschreibt „das unbehaglich kribbelnde Gefühl“, das mit Erfrierungen einhergeht, und resümiert, dass „weiches Schuhzeug“ besser ist als hartes. In weichen Schuhen, so folgerte Amundsen, können sich die Füße eher bewegen, sind besser durchblutet und können dadurch besser warm bleiben als in harten. Freilich, bei Schneeschuhen ist fester Halt und eine steife Sohle notwendig. „Ich kenne nichts, was mehr ermüdet als eine schlechte Bindung, in der der Fuß hin und her rutscht. Ich will, daß die Schneeschuhe sozusagen ein Teil von mir selbst sind, so daß ich vollständig Herr über sie bin“, so Amundsen über seine Erfahrungen in Polarregionen. Bei Schneestiefeln setzte er auf eigene Entwicklungen: steife Sohle und weicher Schaft aus einer Kombination von Leder und Segeltuch. An Amundsens Fuß, „der gerade kein Kinderfuß [war]“, wurde Maß genommen. Nach diesem Vorbild wurden dann zehn Paar Stiefel gefertigt.
Freilich waren im 19. Jahrhundert nicht allein die nahen Alpen eine Terra incognita, vielmehr waren ferne Länder Anziehungspunkte für Naturforscher und Reisende. Da wie dort galt es, Wind und Wetter zu trotzen und sich mit Hilfe Einheimischer zum Ziel durchzuschlagen. Jeder Reisende machte seine Erfahrungen, manche gaben sie als wohlgemeinte Tipps der breiten Öffentlichkeit preis, die den Naturforschern im Speziellen und der Natur im Allgemeinen eine heute kaum mehr vorstellbare Aufmerksamkeit schenkte und alle Neuigkeiten begierig aufsog. Allein der Name des „Vereins zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in Wien“, der 1861
„Ein Doppelgewehr, ein Paar Sattelpistolen“
„Ein Doppelgewehr, ein Paar Sattelpistolen“
gegründet wurde und heute noch existiert, unterstreicht dies. Mangels Fernsehen, Kino und Internet besuchten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts große Teile der Bevölkerung öffentliche Vorträge von Naturwissenschaftlern. So hielt Theodor Kotschy (1813–1866) am 22. März 1863 in der Akademie der Wissenschaften einen Vortrag über Reisen und Sammlungen des Naturforschers in der asiatischen Türkei, in Persien und den Nilländern. Der Botaniker Kotschy wusste, wovon er sprach, er war schon in den 1830ern in Ägypten und im Sudan gewesen, hatte in den 1840ern Persien besucht, war in den 1850ern in Kleinasien gewesen und gilt als Begründer der österreichischen Orientforschung. Aufgrund seiner zahlreichen Reisen sind seine Ratschläge von 1863 als empirische Empfehlungen für Orientreisende von höchstem Wert. „Man wird Theodor Kotschy, überdies sehr wohl thun, eine Kiste mit Blechgeschirr weit gereister Botaniker. für den Küchengebrauch hier zweckmässig zusammenzurichten. Eine zweite Kiste soll die notwendigsten Medicamente, Schreibmaterialien, Wäsche von fester Leinwand, leichtes Schuhwerk und zwei Paar Bergschuhe enthalten. Leichte Sommerkleider sammt zwei Blousen, ein Tuchanzug, eine Mütze sammt weissem Sommerhut und andere Kleinigkeiten müssen noch hinzugefügt werden.“ Überraschen mag sein Tipp, sich auch gut zu bewaffnen. Doch die Waffen der Forscher wurden fast ausschließlich zur Verteidigung und zur Jagd nach essbarem Wild eingesetzt, was – selbst aus heutiger Sicht – legitim war. „Da es im Orient Landessitte ist, Waffen zu tragen und überdies die persönliche Sicherheit in mehreren Gegenden gefährdet wird, so muss man ein Doppelgewehr, ein Paar Sattelpistolen, einen Revolver sammt Schiessbedarf und einen guten Hirschfänger mitnehmen. Schon das Waffentragen an sich gewährt dem Reisenden eine gewisse Sicherheit und gibt ihm ein allgemeines Ansehen.“ Nicht nur im Orient wurde das Tragen von Waffen empfohlen, auch bei Weltreisen tat man gut daran, nicht unbewaffnet zu sein. Den Beweis liefert das idyllische Bild des Expeditionsmalers Joseph Selleny (1824–1875), das Ferdinand von Hochstetter (1829–1884) im Jahr 1857 in seiner Kajüte auf der SMS Novara zeigt. An der Decke sehen wir hier neben drei Geologenhämmern ein Gewehr mit langem Lauf; für alle Fälle, man kann ja nie wissen! Auf dem Bild Sellenys, das die Kajüte Ferdinand von Hochstetters auf der Novara zeigt, sind neben Geologenhämmern auch Waffen zu erkennen.
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Schuhe für eisige Kälte von Arktis und Antarktis
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Neben der persönlichen Ausrüstung, sprich der Kleidung, kommt bei Expeditionen der Nahrung und dem Transport der Ausrüstungsgegenstände wie auch der Art der Fortbewegung im Lande eine große Bedeutung zu. Dass dann noch teure Messgeräte, Kameraausrüstungen und Sonstiges im Gepäck sind, versteht sich von selbst. All das will und muss ins Land und auch wieder aus dem Land gebracht werden; und das natürlich unversehrt; und dann kommen noch Hunderte Kisten mit wissenschaftlichen Proben. Die Palette der Objekte reicht von Tonnen schwerer Gesteine bis zu Tausenden von zarten Pflanzen und unzähligen Insekten, die unbeschädigt nach Hause transportiert werden müssen. Dazu kommen Verpackungsmaterialien wie Papiere für Pflanzen, wie sie der Botaniker benötigt, oder Spiritus für den Zoologen, der Tiere vor Ort konservieren muss. Dazu Kotschy: „Die in das weisse Druckpapier eingelegten Pflanzen, welche nach der täglichen Ausbeute beisammen liegen bleiben, legt man in das steifere dünne Löschpapier sammt der Nummer ein und bindet das Ergebniss einiger Ausflüge in ein fusshohes Packet zusammen.“ Dass es dabei zu unzähligen Berührungen mit der heimischen Bevölkerung kommt, dass hier Träger, Pferde und Kamele notwendig sind, um Sack und Pack zu transportieren, dass die alle auch selbst wieder verpflegt werden müssen, würde Stoff bieten für mehrere Bücher.
Wer im unwegsamen Gelände weiterkommen wollte, tat gut daran, Grundkenntnisse im Reiten zu haben. Pferde waren im 19. und auch in den frühen Dezennien des 20. Jahrhunderts das Fortbewegungsmittel erster Wahl. Wer meint – vielleicht inspiriert durch Filme oder die Lektüre von Karl Mays Reiseerzählungen –, eine Forschungsreise mit Pferd hätte etwas Romantisches oder gar Heroisches, irrt in den meisten Fällen. Natürlich wäre es fein, mit Pferdewagen zu fahren, doch die wahren Abenteuer, das Neue, das zu Entdeckende findet sich nur selten an eingefahrenen Wegen. Also muss ein Pferd her! Nein, es müssen zwei Pferde her, ein Reitpferd und ein Packpferd. Franz Toula (1845–1920), ab 1880 außerordentlicher und ab 1884 ordentlicher Professor für Geologie und Mineralogie an der Technischen Hochschule in Wien, der heutigen TU, war einer der Pioniere der Erforschung der Balkanhalbinsel und blickte auf einen reichen Erfahrungsschatz bei Forschungsreisen zurück. Toula behielt seine Erfahrungen und Eindrücke keineswegs für sich, er trug sie öffentlich vor, publizierte sie in Zeitungen oder so wie Kotschy in den Schriften des Vereines zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in Wien. Seine Erfahrungen mit Pferden speziell in Bulgarien beruhten auf vier Reisen; Toula hatte beides probiert: reisen mit Pferdewagen und reisen ohne Wagen, nur mit Pferden.
Auf dem Rücken der Pferde
Auf dem Rücken der Pferde
„Das Reisen zu Pferd hat vieles für sich, wenngleich es auch eine Menge von Scherereien bietet. Der Geologe hat ja stets an der Mutter Erde herumzukrabbeln, und da geht es herab und hinauf unzähligemale, und immer muss jemand zur Hand sein, den Klepper zu fassen, damit es nicht gehe, wie es mir auch einmal gegangen, wo mir mein ungetreues Reitthier durchgieng und schier eine Stunde weit zurücktrabte ins Nachtquartier.“ Er entwickelte mehrere Strategien: Entweder man kauft bei den Einheimischen Pferde, die man am Ende der Forschungsreise wieder verkauft, oder man mietet sie nur, vorzugsweise gleich mit einem Pferdeknecht, der die Tiere und womöglich auch noch das Franz Toula, Geologe und Balkankenner. zu erkundende Land kennt und sich zusätzlich mit den Leuten als Übersetzer verständigen kann. Dragoman nannte man diese Personen. Eines war laut Toula, und wahrscheinlich würde dies jeder andere auch bestätigen, ganz wichtig: „Auf jeden Fall empfiehlt es sich, einen englischen Sattel mitzunehmen, denn gewisse Touren sind ja doch auf jeden Fall nur zu Pferde zu machen, und die landesüblichen Sättel sind in der Regel nur Holzgestelle: Packsättel.“ Aber auch Packpferde mit Packsätteln waren für jeden Forschungsreisenden unentbehrlich, sie hatten große Lasten zu tragen, wobei zu achten war, dass die Last links und rechts gleichmäßig verteilt war. „Alles dies trägt ein Packpferd ganz leicht. Es werden demselben, um das Ganze ins Gleichgewicht zu bringen, schwere Steinblöcke beigebunden und auch der Pferdeknecht setzt sich schließlich streckenweise noch oben darauf. Die Ausdauer und Leistungsfähigkeit der Thiere ist staunenswert.“ Ehe Toula die universitäre Laufbahn einschlug, war er seit 1872 Professor für Naturgeschichte und Geografie an der Gumpendorfer Realschule in Wien Mariahilf gewesen. Er war also Beamter, als solcher brachte er es bis zum Hofrat. Für seine Reiserechnungen hatte er amtliche Vorgaben, die in ihren Grundlagen auch heute noch gelten; so entspricht das damalige „Meilengeld“ dem heutigen „Kilometergeld“. Bei Unklarheiten konnte er ab 1886 auf ein 428-seitiges Buch von Cyrill Fuchs, Rechnungsrevident der k. k. niederösterreichischen Finanzlandesdirektion, zurückgreifen: Die Zusammenstellung der auf die Diäten und Reisekosten der k. k. österreichischen Staatsbeamten und Diener Bezug nehmenden Vorschriften – so der sperrige Titel – erfasste alle
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Wichtig für korrekte Reiserechnungen: Die genauen Vorspannvergütungen für Pferde aus dem Jahr 1886.
Eventualitäten und beschrieb selbst kleinste Details. Anzumerken ist, dass der Rang des Beamten ausschlaggebend war für die Höhe der Reiseremuneration. Beamte hatten im Pferdewagen zusammenzurücken, wie dieser Satz zeigt: „Auch § 7 der Ministerial-Verordnung vom 3. Juli 1854, RG. Bl. Nr. 169 bestimmt, daß bei gemeinschaftlich vorzunehmenden Reisen der Raum eines zweispännigen Wagens für drei Personen zu rechnen ist.“ Beamte hatten auch das Recht, Vorspannpferde [zusätzliche Zugtiere] einzusetzen. Natürlich waren im Beamtenstaat der Monarchie die Vorspannvergütungen tabellarisch angeführt. Salzburg erwies sich diesbezüglich als teures Pflaster (10 Neukreuzer pro Pferd und Kilometer), deutlich billiger waren Reisen im Osten der Monarchie, hier verrechnete man nur den Betrag von 2½ Neukreuzer. Nicht nur Toula, auch der aus Hamburg stammende Ami Boué (1794–1881) – er hatte sich 1835 in Wien niedergelassen und gilt als Begründer der Geologie der Balkanhalbinsel – berichtete in seiner Autobiografie von allerlei Erlebnissen mit Pferden. So fiel er in der Türkei zweimal vom Pferd, wobei sein Barometer zerbrach, das er an
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einem Schulterriemen trug. Mit Pferdekutschen, die umfielen, hatte Boué drei Erlebnisse: „Nämlich einmal in der Eilpost in England, als Blitze den Kutscher blendeten und die Kutsche auf einem Feld umschlug; ein andermal vor Saarbrücken, wo der Graben einer großen und breiten Straße den Wagen auffangen musste, weil der Kutscher betrunken war; schließlich in Oberbayern, als wir in einem leichten, hoch gebauten Bankwagen durch die Gatter verschiedener abgegrenzter Weidegründe fuhren.“ Ob Vorspannpferd, Reitpferd oder Packpferd, sie alle können durchgehen. Heute liest man dann und wann von Fiakerpferden, die scheuen und nicht mehr zu halten sind. Auch im Karakorum war es nicht anders. Wolfgang Pillewizer (1911–1999), Expeditionsleiter der DÖHKE (Deutsch-Österreichische Himalaya-Karakorum-Expedition) von 1954, berichtet in seinem Buch Zwischen Wüste und Gletschereis von einem Pferd, das nicht nur durch-, sondern sogar baden ging im wahrsten Sinn des Wortes. Das Ganze hätte schlimm ausgehen können. Es handelte sich um ein Packpferd, das zwei Filmkameras und auch belichtete Filme trug. Beim Anblick des Hochgebirgssees von Malungin ging das Tier ins Wasser. Trotz Rufens, Gestikulierens und sonstiger Versuche des Kameramannes und des Pferdhalters, es zurück oder zumindest herauszubringen, „spazierte der Gaul, der wohl gemerkt hatte, daß hier ein ausnahmsweise warmer Badesee ist, immer tiefer ins Wasser, bis er den Grund verlor und
Bei der Deutsch-Österreichischen Himalaya-Karakorum-Expedition (DÖHKE) 1954 waren auch Packpferde im Einsatz.
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zu schwimmen begann. Er schwamm einen großen Kreis im See herum, die Packsäcke wurden dabei natürlich untergetaucht.“ Es ist der Albtraum jedes Forschers und Kameramannes, dass frisch gesammeltes, einzigartiges und unwiederbringliches Material nicht nach Hause gebracht werden kann. Doch die Deutschen hatten vorgesorgt: „Zum Glück waren Kameras und Filme in wasserdichten Gummisäcken verpackt, so daß sie das Bad ohne Schaden überstanden.“
Gegebenenfalls auch mit Yaks unterwegs
Yaks waren im gebirgigen Gelände bewährte Tragund Reittiere bei der DÖHKE – Wolfgang Pillewizer hatte seine Freude.
Freilich waren Pferde erste Wahl bei Reisen in fremden Ländern, doch wenn es keine Pferde gab, galt es – ähnlich wie bei der Nahrung – das zu nehmen, was das Land bot. In afrikanischen Ländern sind es Dromedare, in der Arktis Schlittenhunde und in asiatischen Gebirgsregionen eben Yaks; dass da und dort noch Esel und Maultiere als Packtiere verwendet werden, sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Yaks kennt man, werden sie doch bei jeder alphabetischen Listung, vornehmlich von Tieren, beim Buchstaben Ypsilon genannt. Assoziieren wir bei „A“ den Affen, den Aal, die Antilope oder den Aasgeier, ist das Yak souveräner und alleiniger Platzhalter für das „Y“. Diese domestizierten Rinder (Bos mutus) Zentralasiens sind genügsam und dank ihres zotteligen Fells einigermaßen unempfindlich gegen Kälte; sie liefern nicht nur Fleisch, Milch, Leder und die Haare ihres Fells, sondern sind auch geduldige Tragtiere. Im Tagebuch von Pillewizer, dem Expeditionsleiter der DÖHKE, gibt es am 4. Juli 1954 einen Hinweis auf Yaks. Er orderte zehn Yaks, um die Expeditionsausrüstung zum Baturagletscher schaffen zu lassen. Drei Tage später waren sie wie vereinbart da. Pillewizer fand sichtlich Gefallen und beschrieb sie als „nette, gedrungene Tiere mit Stricken durch die Nase“. In der Landessprache Burushaski werden die Yaks Pepul genannt; dass sie von den Österreichern „Pepperl“ genannt wurden, wundert mich gar nicht: „Pepp“ oder „Sepp“ beziehungsweise „Pepperl“ oder „Sepperl“ als Verkleinerungsform wird in Österreich in der Umgangssprache gerne für den Vornamen Josef benutzt.
Wüstenschiffe in der Sahara
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Dann wurde das Gepäck aufgeladen, pro Tier sechzig Kilo. Sie sind trittsicher wie Gämsen und Steinböcke, was man von den gewichtigen Tieren kaum annehmen würde. „Es sind gutmütige, starke Tiere, die auch das unwegsamste Gelände, wie solch ein[en] Gletscher mit Lasten begehen können. Sie gehen immer dicht gedrängt oder eng hintereinander und mit ihren eisenlosen Hufen können sie auch über steile Felsplatten und im Eis gehen, wo wir schon fast Stufen schlagen müssen.“ Als „Jeeps des Hunzalandes“ hatte der Mir von Hunza die Tiere bezeichnet. Abgesehen davon, dass die Yaks einmal auch durchgingen und ihnen die Forscher eine halbe Stunde nachlaufen mussten, boten sie noch andere Yak-Erfahrungen, ästhetischer wie auch kulinarischer Natur, wie Pillewizer am 9. Juli festhält: „Hier [= auf der Alm Put Mahal] bleiben wir über Nacht und freuen uns an den Sprüngen von 4 Yakkälbern, die ungemein possierlich aussehen. Hier bekommen wir auch zum ersten Mal Yakmilch – Pepulmammú – zu trinken.“ Am 11. Juli mittags erreichten die Yaks samt ihren Treibern das vereinbarte Ziel, die letzte Alm des Baturatales. Die Lasten der Yaks wurden abgeladen und die Träger ausbezahlt. Obwohl die Tour nur dreieinhalb Tage gedauert hatte, wollten sie Lohn für fünf Tage, auch für den Rückweg wollten sie abermals fünf Tage in Rechnung stellen. Insgesamt erhielten sie schließlich für den Hin- und den noch ausständigen Rückweg 300 Rupien ausbezahlt. Um eine Vorstellung zu bekommen, was der Preis bedeutet, bieten sich Steinböcke als Umrechnungsfaktor an. Für die Versorgung der Mannschaft mit frischem Fleisch erwarb Pillewizer ein paar Tage später zwei Steinböcke und bezahlte fünfzehn Rupien je Tier. Am 20. Juli wurde die Rückreise angetreten, natürlich wieder mit den Yaks, dazu Pillewizer: „Abbruch des Lagers, die ‚Pepperln‘ waren schon am Vorabend eingetroffen, gerade wie ich ein Bad in unserem Lagersee genommen hatte und nackt am Ufer stand.“ Es waren nur mehr fünf Yaks, die den Rückweg antraten; da es nun abwärts ging, „werden die Pepperln jetzt schwerer beladen als beim Aufstieg“. Das dürften die Tiere durchaus gut vertragen haben und dabei noch gute Figur gemacht haben, wie Pillewizer bemerkt: „Mangels eines Filmmannes knipse ich die Pepperle beim Überqueren des blanken Eises, wobei sie sich recht geschickt benehmen. Es ist schade, daß das nicht gefilmt werden konnte!“
Wer sich indes in niedrigen Breiten bewegt, wird nicht Wüstenschiffe in der Sahara immer Pferde, und Yaks schon gar nicht, zur Verfügung haben. Hier sind Kamele, für die sich auch der Name „Wüstenschiffe“ eingebürgert hat, oder gar Elefanten ein Mittel beziehungsweise das einzige Mittel zur Fortbewegung. Ist ein Kamelritt für Touristen eine Attraktion, ein Muss, waren lange Ritte auf Kamelen für Forschungsreisende früherer Epochen keineswegs leicht und lustig.
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In der Sahara sind Kamele bevorzugte Reittiere. Der Umgang mit ihnen ist für Europäer gewöhnungsbedürftig.
Dazu finde ich in Richthofens Führer für Forschungsreisende von 1886 prinzipielle Überlegungen, die – wenn man sie liest – in die Kategorie „eh klar!“ fallen. Dennoch seien sie zitiert: „Das Reiten auf Kamelen ist in einigen Gegenden, die Beförderung auf Elefanten in anderen Ländern nicht zu vermeiden. Wo auf weite Strecken ein Wechsel nicht eintritt, wie in Steppen und Wüsten, oder wo endlose Vegetation jede Möglichkeit eines Aufschlusses verschliesst, sind beide Methoden als Transportmittel zweckdienlich. Wenn aber das Auge einen der Beobachtung werten Gegenstand erspäht, verlässt man den hohen Sitz auf dem Tiere mit ungleich grösserem Widerstreben, bedeutenderer Schwierigkeit und längerem Aufenthalte, als wenn man sich des Pferdes oder Maultieres bedient.“ Und so rät Richthofen, „selbst in den Ländern des Kameels und des Elephanten, so viel als möglich [zu] wandern“. Zu den Männern, die reichlich Erfahrungen mit Kamelen hatten, gehörten Afrikaforscher. Unter ihnen sei der aus Leipzig stammende Oskar Lenz (1848–1925) genannt. Lenz, der 1872 in Wien an der k. k. geologischen Reichsanstalt einen Posten samt Staatsbürgerschaft bekommen hatte, durchquerte die Sahara, war im Kongo und gehört zu den bekannten Afrikaforschern. Aus seinen zahlreichen Publikationen habe ich Wanderungen in Afrika (1895) herausgegriffen. Hier beschreibt er seine vielfältigen Erfahrungen auf dem Schwarzen Kontinent. So berichtet er über eine Durchquerung der Sahara: „An Stelle der Pferde, Maulthiere und Esel traten die Kameele, die beiderseits bepackt waren, sodaß mit Hilfe eines Polsters oder Teppichs eine Art Sitz hergestellt wurde, auf welchem man nun zu balanciren das mehr als zweifelhafte Vergnügen
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hatte, denn Zügel, Steigbügel und dergl. gab es nicht. Nicht die Gangart des Kameels war es, welche mir unangenehm war, sondern jenes Freisitzen in bedeutender Höhe ohne jeglichen Halt; daran habe ich mich nie recht gewöhnen können.“ Ein anderer Afrikareisender, der in München geborene Erwin von Bary (1846– 1877), hatte sich am 29. August 1876 um 6 Uhr abends von Tripolis in Libyen Richtung Süden aufgemacht. Auch er wusste ein Lied von der Sahara, den Kamelen, deren Besitzern und den Kameltreibern zu singen: „1. September. Lange geschlafen. Mein Kameel wird als untüchtig erkannt, Sammit [= ein Diener] will mir ein anderes kaufen. Ich blieb den ganzen Tag im Zelt. […] 2. September. Heute früh nahm Sammit eine genaue Besichtigung allen Gepäcks und aller Kameele vor. Nach einem unangenehmen Streit mit meinen Kameeltreibern, deren Scheich, trotzdem ich ihm Medicin gegeben hatte, sich unverschämt benahm, musste ich noch ein Kameel miethen und dafür zwei Thaler bezahlen. […] 3. September. Um ½8 Uhr brachen wir auf, ich reitend auf meinem schlechten Kameel, welches wenige Schritt vom Lager schon wieder sich niederliess; mit vieler Mühe ging es weiter, bis endlich das Thier ganz ordentlich marschirte. […] In der Karawane befanden sich zwei Weiber Mustapha Sammit’s, die eine weiss wie eine Italienerin, die andere pechschwarz; beide stürzten mit ihren Kameelen zum Gelächter der Sklaven. […] Mein Kameel marschirte den ganzen Tag zu allgemeinem Erstaunen, frass auch Abends etwas Gerste. […] 4. September. Heute Rasttag zwei Stunden westlich von unserem gestrigen Lagerplatz. Sammit füllte unsere 5 Schläuche mit sehr gutem Wasser. Sammit ist noch nicht entschieden, ob er mein Kameel zurückschicken soll oder nicht. […] 5. September. […] In der Frühe kaufte mir Hadsch Mustapha ein Kameel um den hohen Preis von 85 Thalern = 100 Mabub. Da sich mein altes Kameel bisher sehr gut conservirt, schickte er es nicht zurück, ich hätte sonst noch ein Kameel kaufen müssen. […]“ Beim Futter waren die Kamele keineswegs wählerisch, sie fraßen dem Herrn Bary sogar aus der Hand. Kein Wunder: Er fütterte sie mit Datteln!
Bei der Nahrungsversorgung gibt es zwei Ansätze: entEssen: alles mitnehmen oder weder möglichst viel vom Heimatland mitnehmen oder regionale Küche? eben möglichst wenig und so viel wie möglich aus dem Arbeitsgebiet beziehen. Zunächst der Ansatz, möglichst viel mitzunehmen: Die Vorteile liegen auf der Hand, man hat die gewohnte Nahrung, man weiß, was man isst, und muss sich nicht
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mit einer neuen unbekannten Küche auseinandersetzen. Noch dazu kann man ja nie sicher sein, wie die Versorgungslage vor Ort aussieht. Doch kein Vorteil ohne Nachteil. Wer all das mitschleppt, muss neben der Expeditionsausrüstung noch jede Menge Essensvorräte mittragen. Genauer gesagt, mittragen lassen. Dazu finde ich bei Günter Dyhrenfurth (1886–1975), dem Geologen, Bergsteiger, Himalayaforscher und Leiter der Internationalen Himalaya-Expedition (I.H.E.) 1930, genauere Angaben. Sein Team bestand aus zehn, zeitweise elf Teilnehmern, mit dabei war auch Dyhrenfurths Frau Hettie (1892–1972). Sie war Sekretärin, Expeditionshausfrau und „Etappenkommandant“. Damit hatte sie eine der schwersten Aufgaben: Hettie Dyhrenfurth war zuständig für den gesamten Nachschub in den Hochlagern. Das Team reiste Ende Februar / Anfang März mit sechs (!) Tonnen Expeditionsmaterial via Venedig nach Bombay [heute: Mumbai] an. Zum Glück verlangten die indischen Zöllner keine Gebühren. Ende März war das ganze Team dann in Darjeeling, einem beliebten Sommerfrischeort in Westbengalen, versammelt. Die Stadt ist vor allem durch den berühmten Tee, der in dieser Region gedeiht, bekannt. Im Everest-Hotel, dem eigentlichen Startpunkt der Expedition, hatte Frau Dyhrenfurth alle Hände voll zu tun: Sie musste 350 Traglasten für 350 Träger zu je 27 Kilogramm packen. Freilich hatte sie helfende Hände, doch sie musste den Überblick behalten. Obendrein waren Anbiederungen einheimischer Männer abzuwehren, wie sie in ihrem Buch Memsahb im Himalaya (1931) schreibt: „Ein junger Mann verehrte mich glühend, stellte sich immer dicht neben mich und sah mich bewundernd an.“ Doch damit nicht genug: „Der stank aber gerade am allermeisten, es war einfach nicht auszuhalten.“ Als Gegenmaßnahme schickte sie ihn mit diversen Aufträgen immer weg, doch das sollte nichts helfen: „[…] aber in Windeseile kam er zurück und stank weiter.“ Das nächste Ziel war, diese 350 Traglasten in das Basislager zu befördern, der Weg dorthin führte über fünf Pässe und war für achtzehn Tage anberaumt. Natürlich hatte auch jeder Träger Hunger und Durst und musste versorgt werden. Günter Dyhrenfurth dazu ganz lapiBei der Internationalen Himalaya-Expedition dar: „Ein Kuli [oft auch abwertender Begriff für war Hettie Dyhrenfurth für die Versorgung Helfer, Träger] ißt täglich 1 Kilogramm. Man des Teams zuständig.
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kann sich also ungefähr ausrechnen, auf welch beängstigende Mengen und Gewichte an Trägerproviant wir kommen mußten.“ Und zwar: 350 Kilogramm mal 18 Tage ergibt 6.300 Kilogramm. Dividiert man dies durch das Gewicht einer Traglast, 27 Kilogramm, kommen 233 (!) Traglasten zusammen. Doch wer schon beim Anmarsch aufgibt, kommt nicht weiter. Dyhrenfurth äußerte sich zur Trägerverproviantierung, die viel Kopfzerbrechen bereitete, positiv: „So ließen wir uns dadurch nicht unterkriegen.“ Er scheute auch angesichts der schier unbewältigbaren Probleme nicht den Blick nach vorne. Das Ziel war die Erforschung des Gebietes um den Kangchendzönga (8.586 Meter), den dritthöchsten Berg der Welt. Auch dessen Besteigung war vorgesehen. Diese sollte den Männern der I.H.E. nicht gelingen, doch immerhin bezwangen sie neun bis dahin unbestie- Carl Ludolph Griesbach, Direktor des Geological Survey of India. gene Gipfel des Himalaya: vier Siebentausender, vier Sechstausender und einen Fünftausender. Was das Gewicht der Trägerlasten betrifft, so hatten es die Träger im 19. Jahrhundert offenbar leichter, im wahrsten Sinn des Wortes. Bei der Himalaya-Expedition, die der Geograf, Geologe und alpinistisch erfahrene Carl Diener (1862–1928) im Jahr 1892 gemeinsam mit Carl Ludolph Griesbach (1847–1907) unternahm, hatten die Träger gerade vierzig Pfund (circa achtzehn Kilogramm) zu tragen. Bei der Expedition hatten Diener und Griesbach auch Konserven mit, doch keineswegs solche aus Wien, sondern aus Indien, wie Carl Diener in einem Expeditionsbericht 1895 schreibt: „Wir bezogen unsere gesammten Conserven, mit denen wir übrigens mit Rücksicht auf die lange Dauer des Aufenthaltes in den abgelegenen Theilen des Gebirges reichlich versehen waren, von der Great Eastern Hotel Company in Calcutta.“ Carl Diener, der eine bedeutende Karriere machen sollte, findet sich auch in dem Buch Umstrittene Wiener Straßennamen – Ein kritisches Lesebuch (2014). Diener unterstützte als Rektor (1922/23) der Universität Wien die von der Deutschen Studentenschaft geforderte Einführung eines zehnprozentigen Numerus clausus für jüdische Studierende und Lehrende. Diese Tour in den Himalaya, bei der Diener nicht nur umfangreiche Fossilaufsammlungen machte, sondern auch eine geologische Karte herstellte, war der Wendepunkt in seiner Karriere. Diener, der sich zunächst als Geograf an der Universität Wien
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habilitiert hatte, war durch diese Expedition „erst zum Geologen und Paläontologen geworden“. So strebte er nach seiner Rückkehr die Erweiterung seiner Lehrbefugnis (Venia Legendi) 1893 auf Geologie an, wie der Paläontologe Gustav Arthaber (1864–1943) in seinem Nachruf feststellte. Pointiert formuliert könnte man sagen: Der Himalaya macht Geologen! Ein Beispiel für den Wandel von „alles mitnehmen“ zu „möglichst wenig mitnehmen“ sind die Mongolische Jurten mit heimischem Equipment und mongoliExpeditionen von Gudrun Daxscher Unterstützung. ner-Höck, einer mittlerweile pensionierten Wirbeltierpaläontologin vom Naturhistorischen Museum in Wien. Zwischen 1993 und 2013 organisierte sie zahlreiche große Expeditionen in die Mongolei, die meist sechs bis acht Wochen dauerten. Ziel der Forschungen war die Rekonstruktion der fossilen Tier- und Pflanzenwelt vor 32 bis 8 Millionen Jahren. Darüber hinaus konnten die Migrationen der damaligen Tiere, die mit Veränderungen des damaligen Klimas gut korrelierbar waren, rekonstruiert werden. Dafür benötigte die Paläontologin keineswegs ganze Tiere, sondern lediglich deren Zähne, die sehr widerstandsfähig sind und selbst Jahrmillionen unversehrt überdauern. Vor allem mit Backenzähnen lassen sich die Arten der Tiere sehr gut bestimmen. Diese müssen freilich zunächst aus dem Sediment gewonnen werden. „Am Beginn haben wir alles mitgenommen, Zelte, Geologenhämmer, Werkzeug, eine zerlegbare Waschanlage mit Siebsätzen, Generator, Wasserpumpen bis hin zu den Feldmikroskopen. Wir haben eigens Transportkisten für mehrere Tonnen Ausrüstung anfertigen lassen und sie mit dem Flugzeug über Peking nach Ulan Bator und von dort mit Kleinlastern ins Arbeitsgebiet im ‚Tal der Gobiseen‘ gebracht“, erinnert sich Gudrun Daxner-Höck. Die ersten Jahre standen noch ganz im Zeichen der eben erst (1992) zu Ende gegangenen Herrschaft der Sowjets. Damals fuhr das Forscherteam noch mit alten sowjetischen Fahrzeugen (GAZ 66) rund 600 Kilometer ins TaatsiinTal, wo das Basislager aufgeschlagen wurde. „Bei den letzten Exkursionen haben wir nur mehr Salami, Schinkenspeck und Dörrobst aus Österreich mitgenommen“, zeichnet die Forscherin den Wandel bei ihren Expeditionen nach. Was den Speiseplan betrifft, so bestand er in erster Linie aus mongolischem Schafund Ziegenfleisch. Freilich erstand man die Tiere nicht im Supermarkt in Ulan Bator,
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sondern von den Nomaden vor Ort. In einer zweimonatigen Saison kamen zwanzig Schafe und ein paar Ziegen für eine Mannschaft, die aus zwölf bis manchmal auch zwanzig Personen bestand, zusammen. Doch dazu muss man die Gepflogenheiten der Mongolen kennen, über die mich Gudrun Daxner-Höck aufklärte: „Du kannst Dir vorstellen, dass unsere Nomadenfamilien nicht glücklich über dieses ‚Geschäft‘ mit uns waren. Tiere sind ihr Kapital, die werden nur im Notfall verkauft. Wir hatten Mühe, in der nahen und weiteren Umgebung genügend Fleisch für unsere gefräßige Mannschaft zu bekommen. Die lokalen Nomaden essen im Sommer vorwiegend Joghurt und andere Milchprodukte und Teigtaschen in der Suppe oder im Milchtee gekocht. Fleisch gibt es vorwiegend im Winter!“ All das hätte nie funktioniert, wenn Daxner-Höck und ihr Team mit ihren Arbeiten nicht von Anfang an auf höchste Akzeptanz in der Mongolei gestoßen wären. Ausgehend von wissenschaftlichen Arbeiten russischer Forscher gab es von Beginn an persönliche Kontakte, die sich als wertvoll erweisen sollten. Die dort geknüpften Freundschaften dauern bis heute an. Die Mongolen opferten nicht nur ihre wertvollen Schafe, sie halfen auch bei den wissenschaftlichen Arbeiten, die in einer eigens dafür aufgestellten Jurte durchgeführt wurden, tatkräftig mit. Was war zu tun? Das gesuchte Material waren Knochen und vor allem Zähne fossiler Säugetiere, wie sie in den Sedimenten (Feinsande, Tone und Kalkmergel) vorkommen. Die Gewinnung ist dem Goldwaschen ähnlich. Sprich, für einige Hundert kleine Zähnchen müssen Tonnen von Material geschlämmt [= mit Wasser gesiebt] werden. Aus den feinen Rückständen in den Sieben mussten unter den Feldmikroskopen, die aus Österreich mitkamen, die fossilen Zähnchen ausgelesen werden. Diese Vorbereitungen waren notwendig, um das wissenschaftlich interessante Material zu gewinnen. Mit einem Wort: Kulinarische Versorgung und wissenschaftliche Hilfsdienste wären ohne die Hilfe der mongolischen Nomaden nicht möglich gewesen. Gerne erinnert sich Daxner-Höck an diese Zeiten fernab der Heimat: „Kulinarisch wurden wir von weiblichen Mitgliedern zweier Nomadenfamilien versorgt. Die Männer besorgten die Tiere, schlachteten selbst, halfen uns bei der Suche und Transport von Trinkwasser (aus Brunnen oder Quellen), auch beim Sammeln und Transport von Sedimentproben und beim Waschen am Schlämmplatz gemeinsam mit ein paar Mongolen-Mädchen, sogenannte ‚Help Worker‘ (lokale Jugendliche oder auch Studentinnen aus Ulan Bator). Wer gerade Zeit hatte, half auch beim Auslesen der Schlämmrückstände (unter meiner Anleitung). Die Nomadenkinder waren schon von ganz klein auf mit uns im Gelände Fossilien suchen. Wurden sie müde, liefen sie allein zum Jeep und schliefen eine Runde.“ Das alles war echte Harmonie; ganz im Sinne von „leben und leben lassen“ – so macht Wissenschaft Freude.
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„Das Eierholen war aber keineswegs eine bequeme Sache“
Schuhe für eisige Kälte von Arktis und Antarktis
„Das Eierholen war aber keineswegs eine bequeme Sache“ Kulinarik zwischen Völlerei und Hungerleiden
„Richtig da steht Lindström in vollem Glanz vor dem Herd und schwingt sein Wappenzeichen – die Backschaufel! Und auf dem Herd sind drei goldbraune ‚hot cakes‘ oder Pfannkuchen zu sehen, die in der frischen Hitze zittern und beben vor Wonne. Gott, wie sich bei diesem Anblick plötzlich der Hunger fühlbar macht.“ Bei Roald Amundsens (1872–1928) Südpolexpedition, die er in den Jahren 1910 bis 1912 mit der Fram unternahm, spielte der Koch Adolf Heinrich Lindström (1866–1939) eine wichtige Rolle. In Amundsens Buch Die Eroberung des Südpols (1912) tritt er uns mit einem ganzseitigen Foto in Heldenpose inklusive Backschaufel entgegen. „Das ist ein Kerl! Er schüttelt die Pfannkuchen nur so aus dem Ärmel. Das Backen geht so rasch und regelmäßig vor sich, daß man unwillkürlich an einen Taschenspieler denken muß, der seine Kugeln tanzen läßt. Mit geradezu fabelhafter Fertigkeit handhabt er die Backschaufel. Mit der Kelle in der einen Hand gießt er neuen Teig in die Pfanne und mit der Backschaufel in der anderen entfernt er zugleich die fertiggebackenen Kuchen. Für einen Mann scheint das beinahe zu viel.“ Ich gestehe, bei dem Anblick des Stapels von Palatschinken (Österreichisch für Pfannkuchen) bekomme ich Appetit. Am liebsten möchte ich sofort hingreifen. Ob mit Marmelade, Schoko-Nuss oder ohne Füllung, ich liebe diese süße Nachspeise der Wiener Küche. Als Kind habe ich Palatschinken und alle anderen Süßspeisen, ob Kaiserschmarren, Reisauflauf oder Grießschmarren, gehasst und verweigert. Mit zunehmendem Alter lernte ich sie alle zu schätzen. So hat das Älterwerden auch seine süßen Seiten. Bei der hier geschilderten Frühstücksszene im Eis der antarktischen Landstation, die von den Männern Framheim getauft wurde, fehlt nur noch eines: Kaffee. Den gab Adolf Heinrich Lindström bekochte die Südpolexpedition Roald Amundsens mit frischen „hot cakes“ (Pfannkuchen/Palatschinken).
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es zum Glück auch; er war in Norwegen derart gut verpackt worden, dass er selbst noch am anderen Ende der Welt kräftig duftete. So verfehlte er keineswegs seine erhoffte Wirkung: Die zunächst noch schlaftrunkenen Männer „tauten“ förmlich auf, zündeten sich eine Pfeife an und besprachen die Arbeit des noch jungen Tages. Übrigens: Die Pfannkuchen wurden mit Butter bestrichen, dann wurde „Eingemachtes daraufgehäuft“ – es gab also Marmeladepalatschinken! Freilich konnte der hier geschilderte hohe kulinarische Standard keineswegs auf allen Expeditionen aufrechterhalten werden. Vielfach waren Entbehrungen und Rationierungen an der Tagesordnung, ja selbst Hunger quälte viele Teilnehmer. Trotz guter Vorbereitungen musste vielfach mit den Essensvorräten gespart werden. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln aus der Region war und ist ein wichtiges Standbein. Wenn sie nicht funktionierte, mussten die mitgebrachten Rationen verkleinert werden. Wenn die Lebensmittel auch noch verdorben waren, sah es schlecht aus.
Fram-Expedition 1910–1912: „nie so gute Tage gehabt“
Doch nicht nur die Speisen sind ein Thema, auch die Getränke sind von Interesse. Dass die Männer im Framheim nicht nur Kaffee getrunken haben, darf man vermuten. Da Amundsen dem Thema breiten Raum widmete, sind zahlreiche Details bekannt. „Auch mit Weinen und Spirituosen waren wir, dank den großen Weinlagern in Christiana, wohl versehen.“ Er persönlich hielt als Polarforscher „Alkohol, mit Maß genossen“ nahezu für eine Arznei. Doch er schränkte dies auf den Aufenthalt im Winterlager ein. Auf Schlittenreisen „muß der Alkohol verbannt werden, das wissen wir alle aus eigener Erfahrung“. Interessant ist das Argument. Ich persönlich hätte an die Versuchung des übermäßigen Konsums mit all den Folgen der Trunkenheit gedacht, doch Amundsen fand, „aus Rücksicht auf das Gewicht“ und aufgrund von Platzproblemen sei Schnaps kein Thema. Nach einem schweren Tag, wo man durchgefroren nach Hause kommt, wusste Amundsen, was zählt: Da „tut ein Schnaps oft unheimlich gut“. Dem Argument, dass in solchen Fällen ein warmer Kaffee auch helfen könnte, setzte er entgegen, dass übermäßiger Kaffeekonsum wohl schädlicher sei als ein „kleines Gläschen Lysholmer Kornbranntwein“. Schlussendlich brach er eine Lanze für die soziale Wirkung von Grog oder einem Glas Wein. Er meinte, dass bei Meinungsverschiedenheiten Versöhnungen bei „frischem Rumduft“ wesentlich schneller stattfinden als ohne. Freilich fand er den Umstand, dass gute Laune scheinbar mit Alkoholkonsum korreliert, bedenklich, aber „wenn es wirklich so ist, müssen wir uns eben nach unserer Überzeugung einrichten“. Er selbst hatte seinen persönlichen Weg gefunden: „Ich trinke sehr gerne einen Grog; wer aber lieber Kuchen isst und Kaffee trinkt, der mag es tun; Herzklopfen und andere Übel sind sehr oft die Folge dieses Genusses. Ein kleines Glas Grog aber schadet gewiß niemandem.“
Fram-Expedition 1910–1912: „nie so gute Tage gehabt“
Gemütliches Zusammensein im Framheim auf Amundsens Antarktisexpedition 1910–1912.
Auf der Expeditionsreise der Fram war natürlich Ordnung und Disziplin oberstes Gebot und so gut wie alles war geregelt; was den Alkoholkonsum im Framheim betraf, so gab es „ein Gläschen Schnaps Mittwochs und Sonntags zum Mittagessen, am Samstagabend einen Grog, sowie an jedem Festtag eine besondere Aufwartung“. Hätte man bei der Lektüre obiger Zeilen exzessiven Alkoholkonsum vermutet, so war dem wohl nicht so. Das galt im Übrigen auch für den Tabakkonsum. Zigarren gab es Samstag abends und am Sonntag nach dem Mittagessen. Ein Ausdruck der perfekten Vorbereitung der Expedition war auch der Menüplan. Einblick gewährt Amundsens Tagebucheintrag vom 25. März 1911, einem Tag, an dem herrliches „mildes Wetter bei -14°C“ herrschte. Tagsüber hatte man drei Seehunde gejagt, um einen Fleischvorrat für die Mannschaft und die Schlittenhunde anzulegen, seit dem 11. März hatte man insgesamt 62 Tiere erlegt. „Die Seehundschnitzel schmecken uns mit jedem Tag besser, und keiner hätte etwas dagegen, wenn man sie uns jeden Tag vorsetzte.“ Zum Frühstück gab es die erwähnten Palatschinken von Lindström. „In keinem amerikanischen Haus könnten sie besser sein.“ Zum Nachtisch aßen sie mittags entweder kalifornische Früchte aus Dosen (wie man in Österreich zu Büchsen zu sagen pflegt) – wohl Ananas – oder Pudding. Abends gab es als Beilage zu den Seehundschnitzeln Preiselbeeren, Käse, Brot, Butter und Kaffee. Gehungert haben die Männer im Framheim sicher nicht; kein Wunder, dass Amundsen guter Dinge war. „Ich muß offen gestehen, daß ich noch nie so gute Tage gehabt habe. Es geht auch alles
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ausgezeichnet, und ich habe den bestimmten Eindruck, daß unser Unternehmen von Erfolg gekrönt sein wird.“ Er sollte recht behalten: Am 20. Oktober brach Amundsen mit vier Mann, vier Schlitten und je dreizehn Hunden auf, am 12. Dezember 1911 war er als Erster am Südpol. Als der Brite Robert F. Scott (1868–1912) am 17. Jänner 1912 diesen Punkt erreichte, wehte dort bereits die norwegische Fahne. Scott und seine Männer verstarben am Rückweg – in ihrer Heimat wurden sie als Helden gefeiert.
Und wie sieht es im hohen Norden aus? Vorschnell könnte man meinen: Ähnlich, denn kalt ist es in arktischen Gefilden ebenso wie in antarktischen. Die Unterschiede in der Tierwelt zeigen sich auch am Speisezettel, Stichwort Eisbären. Diese gibt es nur im hohen Norden und natürlich werden sie auch dort von den Polarforschern gejagt und verspeist, nachzulesen in den Aufzeichnungen der Payer-Weyprecht-Expedition (1872–1874). Doch was arktische Kulinarik betrifft, so fand ich interessante Details bei der Österreichischen Polarexpedition 1932–1933. Diese führte zwar „nur“ zur Insel Jan Mayen. Dort, so viel sei vorweggenommen, waren weniger Eisbären als vor allem Vögel und Polarfüchse zu Hause. Jan Mayen liegt nördlich des Polarkreises, etwa in der Mitte zwischen Norwegen und Grönland. Bereits während des Ersten Internationalen Polarjahres, das vom Sommer 1882 bis zum Sommer 1883 dauerte und auf die Initiative Carl Weyprechts (1838–1881) zurückging, betrieben vierzehn Österreicher auf der Insel eine Forschungsstation, wo sie meteorologische, magnetische und astronomische Beobachtungen machten. Anlässlich des Zweiten Internationalen Polarjahres waren die Österreicher wieder auf Jan Mayen. Hanns Tollner (1903–1986) als Expeditionsleiter, Rudolf Kanitscheider (1906–1971) und Fritz Kopf (1909–1977) bildeten das Dreierteam. Hatte noch Hans Graf Wilczek (1837–1922) die erste Expedition finanziert, wurde die zweite durch die Unterstützung der Akademie der Wissenschaften und des Unterrichtsministeriums möglich. Im Spätherbst 1931 begannen an der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) in Wien die Vorbereitungen und das Zusammenstellen des Expeditionsmaterials, das schlussendlich rund 25 Tonnen ausmachen sollte. Am 17. Juni 1932 startete vom norwegischen Tromsø aus die Überfahrt. Nach 120 Stunden waren die Männer am Ziel. Sie setzten den Fuß auf jene Insel, auf der sie die nächsten 14 Monate in der Arktis – so auch der gleichnamige Buchtitel (1934) – bleiben sollten. Bei der Ernährungsplanung hatten sich die drei etwas verschätzt, wie ich im Anhang des Büchleins lese. Zusammen mit drei Norwegern überwinterten sie auf der Insel. Gerade die Versorgung mit Fleisch war weder üppig noch abwechslungsreich. Sie hat-
Auf Jan Mayen 1932–1933: „geringes Quantum Fleisch“
Auf Jan Mayen 1932–1933: „geringes Quantum Fleisch“
Hanns Tollner (1903–1986)
Rudolf Kanitscheider (1906–1971)
Fritz Kopf (1909–1977)
ten zwar Gulaschkonserven, „wenige“ Salamistangen und in Wachs eingegossene Speckstücke mitgenommen, hatten sich aber trotzdem verkalkuliert. Es war zu wenig. „Wir lebten aber damals noch in dem bestimmten Glauben, Seehunde und Eisbären zu schießen, so daß die geringe Fleischmenge vorerst noch nicht verdroß.“ Beim Kochen wechselten sich die drei wöchentlich ab, als Ration standen – pro Woche – folgende Lebensmittel zur Verfügung, mit denen es galt, „drei allzeit hungrige Mägen [zu] befriedigen“: 11 Dosen ungezuckerte Kondensmilch, 2 Dosen Sardinen, 3 Dosen Obstkonserven, 1 Dose Gemüsekonserve, 9 Dosen Gulaschkonserven, 1 Glas Honig, 2 Flaschen Himbeer- oder Zitronensaft, 9 Stück Kalkeier, 35 dkg Salami, 65 dkg rohes fettes Selchfleisch. Die prekäre Lage beschönigte auch der Expeditionsleiter Tollner in einem Interview bei der Heimkehr im Österreichischen Abendblatt (31. August 1933) keineswegs: „Unsere Lebensmittel waren rationalisiert und bestand[en] aus Fleischkonserven, Linsen, Bohnen, Kraut und dergleichen. Frisches Fleisch hatten wir nur, wenn wir Vögel geschossen haben. Die Arbeitseinteilung war derart, daß einer Küchendienst, einer Arbeitsdienst und einer wissenschaftlichen Dienst machen mußte. Jede Woche wurde abgewechselt.“ Freilich mangelte es nicht nur an Fleisch; auch bei Kartoffeln und bei
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Zitronen, die sehr wichtig gewesen wären, um dem Skorbut vorzubeugen, hatten sie Pech. „Die Kartoffeln stammten von der Ernte 1931 und hätten uns über vieles hinweghelfen sollen. Bei der Landung schneite und regnete es; sie wurden durchnäßt und verdarben vollständig im Oktober. Auch die wichtigen Zitronen, unsere Vitaminträger gingen nach einigen Wochen überraschenderweise zugrunde, während die Orangen zwar einschrumpften, aber viel länger heil blieben.“ Wen wundert es, dass sie schon Ende Jänner 1933 auf Jagd gingen; der Wunsch nach Frischfleisch war „unbezähmbar geworden“. Tollner und Kopf brachen zu einer Jagdexpedition in den Südteil der Insel auf, in der Hoffnung, dort Seehunde und Eisbären zu finden und auch erlegen zu können. Doch daraus wurde nichts. „Fehlspekulation“, wie die Männer zugeben mussten. Selbst die auf der Insel häufigen Polarfüchse entzogen sich den hungrigen Österreichern. Erst Ende Mai 1933 gab es Alken als Lebensretter: „Ohne diese Vögel und deren Eier von Alken und Abwechslung, Eier wäre die österreichische Polarexpedition fraglich auch Alken selbst, die ebenfalls vergeworden.“ zehrt wurden. Das sind drossel- bis entengroße Meerestauchvögel, die durch ihre aufrechte Sitzhaltung ein wenig an kleine Pinguine erinnern. Freilich, geschenkt wurde den Österreichern nichts, denn die Vögel wählten exponierte Stellen in den steilen Felsen für ihre Eiablage. „Das Eierholen war aber keineswegs eine bequeme Sache. Es war ziemlich zeitraubend und erforderte tüchtige Kletterkenntnisse in den senkrechten oder sogar überhängenden Basaltabstürzen der Küste. Überdies mußte man eine gewisse Abhärtung gegen die rosaroten bis dunkelroten mehr oder weniger flüssigen Verdauungsrückstände dieser Vögel aufbringen.“ Doch in der Not wird der Mensch nicht nur erfinderisch, sondern auch verwegener und mutiger. Der Norweger Pedersen entwickelte sich zum Eierspezialisten: An einem Seil hängend räumte er die Nester der Alken systematisch aus: Stolze 1.200 Stück erbeutete er. Damit brachten die drei Österreicher und die drei Norweger Abwechslung in ihren Speiseplan. „Das Ei der Alke ist mehr als doppelt so groß wie ein normales Hühnerei. 10 Stück wogen 1120 Gramm. Sie sind grünlich mit braunen bis schwärzlichen Tupfen und Flecken. Im Geschmack ähneln sie einem Hühnerei. Das Eiweiß eines gekochten Alkeneies hat einen etwas bläulichen Stich.“
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Nicht minder schwierig war das Erlegen der Vögel: „Der Mensch oder die Tiere!“ Schoss man sie, fielen sie meist ins Meer. Doch auch hier fanden sie einen Trick: „Die meisten wurden darum mit einer langen Bambusstange, an der ein Netz befestigt war, gefangen. Die Mutterliebe wurde ihnen in diesem Fall zum Verhängnis.“ Freilich war es den Männern bewusst, dass diese Art des Jagens wenig weidmännisch war, doch die Not war zu groß. „Im Grunde taten uns die Tiere leid. Die Dreizehenmöwe klagte und weinte wie ein Kind um ihr geraubtes Ei. Auch die Alke war schwer erschüttert. Es mußten aber alle Bedenken zurückgestellt werden, weil sich diese Frage um das Kernproblem zuspitzte: der Mensch oder die Tiere!“ Im Endeffekt, so dramatisch es klingen mag, sicherten die Vögel den Erfolg der Expedition. Dazu wieder eine Passage im Originalwortlaut: „Ohne diese Vögel und deren Eier wäre die österreichische Polarexpedition fraglich geworden.“ Zur Abwechslung, auch das sei erwähnt, gab es auch einmal drei Krähen. Sie hatten sich offenbar von Grönland nach Jan Mayen verirrt. Das Fleisch wurde in einer Suppe gekocht, weich wurde es nicht. „Trotzdem schmeckten Fleisch und Suppe überaus köstlich.“ Zwei Dinge, die angesichts der Fleischnot vielleicht nebensächlich klingen mögen, will ich noch erwähnen: Bensdorp-Schokolade und Maggis Würze. Für die Männer war beides, süß und würzig, sehr wichtig und wurde im Bildteil des Buches 14 Monate in der Arktis entsprechend gewürdigt. Hier ließ sich Kanitscheider eine kleine Tafel Bensdorp-Schokolade essend fotografieren. Wer das Bild sieht und den Text liest: „Kanitscheider ißt Bensdorp-Schokolade“, wird bestätigen: klassisches Product-Placement. Auch das Sujet eines Schlittens mit einer großen Kiste, auf der „Maggi“ steht, fällt in diese Kategorie. Dazu wieder der Bildtext: „Der kostbarste Saft auf Jan Mayen war für uns nicht Alkohol, sondern Maggis Würze.“ Dazu kamen noch Maggis-Rindsuppe-Würfel als Grundlage für Rindsuppe. Natürlich war Maggis Würze als „unvergleichliches Verbesserungsmittel“ rationiert; dazu kam aber ein Problem, das die Form der Maggi-Flasche mit sich brachte: „Das Fläschchen verschmälert sich nämlich gegen den Boden zu, so daß der Flüssigkeitsspiegel nicht Woche für Woche im gleichen Ausmaß gesenkt werden durfte. Der Lebensmittelverwalter nahm daher Maßstab und Bleistift, berechnete die Masse des Fläschchens und fand so immer, zum Leidwesen des den Kochdienst übernehmenden
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Mannes, die genaue wöchentlich zu verbrauchende Menge. Diese Prozedur wurde jedesmal von allen, weil darin keiner Spaß verstand, mit mißtrauischen Augen überwacht.“ Derartige Probleme aber hatten nur jene, die Maggi-Flaschen mitführten, und das war bei Weitem nicht bei allen Expeditionen der Fall.
Dass bei großen Expeditionen die Expeditionsleitung andere kulinarische Präferenzen zeigt als ihre einheimischen Begleiter, ist wenig verwunderlich. Naturgemäß führt dies zu zwei Menüplänen. Doch nicht nur in fernen Ländern, auch in heimischen Haushalten des 19. und auch frühen 20. Jahrhunderts aß die Dienerschaft andere Speisen als die Herrschaft. Exemplarisch sei ein Beispiel aus dem 19. Jahrhundert herausgegriffen, als Afrika, der Schwarze Kontinent, im Fokus zahlreicher Forschungsreisen stand. Der in Leipzig geborene Oskar Lenz (1848–1925), der 1870 in den Fächern Mineralogie und Geologie promoviert hatte, kam 1872 als Volontär an die k. k. geologische Reichsanstalt. Hier erhielt er noch im selben Jahr die österreichische Staatsbürgerschaft. Nach ersten geologischen Arbeiten in den Kronländern brach er im April 1874 zur ersten seiner insgesamt drei großen Afrikareisen auf; diese sollte drei Jahre dauern. Seine alte Heimat hatte ihn sozusagen eingeholt: Er stand in Diensten der Afrikanischen Gesellschaft in Deutschland, deren Expeditionsziel Westafrika war. Hier erforschten die Männer Gabun und den Ogowe. Dieser rund 1.200 Kilometer lange Fluss, auch Ogooué oder Ogoué genannt, fließt vom Kongo kommend durch Gabun, wo er in den Atlantik mündet. Neben wissenschaftlichen Artikeln veröffentlichte er seine Erlebnisse in dem Buch Skizzen aus West-Afrika (1878). Hier schilderte Lenz Details seiner zweiten Reise ins Okandeland, die er im Juli 1875 unternahm. Dieser Landstrich liegt knapp südlich des Äquators längs des Ogowe. Die Männer lagerten mitten im Wald, zündeten große Feuer an und bereiteten ihr Nachtmahl. „Bananen und Maniok [Pflanze aus der Familie der Wolfsmilchgewächse mit essOskar Lenz, legendärer Afrikaforscher. baren Knollen], sowie getrocknetes Fleisch (von
Afrikanischer Speiseplan
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Wildschweinen, Stachelschweinen, großen Waldratten, Affen aller Art ec) war das gewöhnliche Essen meiner Leute, während ich mich mit einem ziemlichen Vorrath von Hühnern, sowie einigen Ziegen versehen hatte.“ Damit aß jeder das, was ihm vertraut war. Wie die Weißen die Nahrung der Einheimischen zu schätzen lernten, so machten sich im Gegenzug viele Einheimische mit den europäischen Ess- und Trinkgewohnheiten vertraut. Auch diesmal lohnt Zitat von Plinius dem Älteren, notiert von Oskar es, Lenz’sche Aufzeichnungen zu lesen. Im Lenz nach seiner zweiten Afrikareise. Kapitel Liberia und die Kruküste beschreibt er seine Begegnungen mit den „Krunegern“, wie die Schwarzafrikaner damals wenig wertschätzend genannt wurden. Sie lebten an der Küste südlich der liberianischen Hauptstadt Monrovia und waren geschätzte Arbeitskräfte. Der Kapitän des Schiffes, auf dem sich Lenz befand, hatte den Auftrag, „croo-boys“ für Gabun an Bord zu nehmen, wo sie in „Factoreien“ arbeiten sollten. Dabei machte Lenz die Bekanntschaft von König Grando, einem Kru-Häuptling. „König Grando spricht leidlich Englisch, d. h. jenes Negerenglisch, das auch Engländer erst lernen müssen, wenn sie an die Westküste kommen, und weiß sich auch sonst recht gut zu benehmen, besonders bei Tisch aß er mit allem Anstand und wußte sehr wohl zur großen Genugthuung der anwesenden Engländer die Gabel mit der linken Hand und das Messer mit der rechten zu handhaben! Jede Speise teilte er mit seinem Bruder, einem baumlangen, starken Burschen, der ihm nicht von der Seite wich, sich aber nicht mit zu Tisch setzte, sondern an der Erde aß. Grando trank sehr gern Bier; Rum war natürlich auch seine schwache Seite und beim Anblick des großen Fasses Branntwein, das ihm als Geschenk verehrt wurde, konnte er seine Freude kaum verbergen, obgleich das nil admirari [Latein: sich durch nichts erstaunen lassen] bei den Negerfürsten außerordentlich im Gebrauch ist. Ehe er übrigens das Faß Rum annahm, mußte es geöffnet werden und sowohl einige KruLeute als auch die Matrosen unseres Schiffes mußten vor seinen Augen den Rum kosten, da er fürchtete vergiftet zu werden!“ Oskar Lenz war nicht der erste Forscher, der in das äquatoriale Afrika vordrang. Vor ihm hatte sich der Franzose Paul Belloni Du Chaillu (1835–1903) auf Erkundungen begeben. Im Gegensatz zu Lenz hatte Du Chaillu einen Heimvorteil: Als Pariser Kaufmannssohn fand er durch seinen Vater, der in Westafrika Handel betrieb, schon früh Zugang zu Land und Leuten. So war ihm auch die Sprache nicht mehr fremd.
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Das noch kaum bekannte Äquatorialafrika war im 19. Jahrhundert Ziel zahlreicher Expeditionen.
Der Forschungsreisende Paul Belloni Du Chaillu begegnete riesigen Gorillas im Dschungel Afrikas.
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Als er 1855 nach Nordamerika ging, hatte er schon 1851 Reisen ins Innere Afrikas gemacht. In den Vereinigten Staaten beauftragte ihn die Academy of Natural Sciences in Philadelphia mit naturwissenschaftlichen Forschungen. Die Ergebnisse der ersten Forschungsreise erschienen 1861 mit dem Titel: Explorations and adventures in Equatorial Africa. Gleich im zweiten Satz des Vorwortes schreibt er, dass dort Gorillas lebten. Ein Jahr später war die deutsche Version, Reisen in Centralafrika, am Markt. Mich beschäftigt das Thema Nahrung. Ich wäre davon ausgegangen, dass in den dichten Regenwäldern mit ihrer artenreichen Flora und Fauna niemand Hunger hätte leiden müssen. Doch dem war anscheinend nicht so. Die kritische Analyse der Treffer zu meiner Internet-Recherche zeugt nicht nur vom hungrigen Du Chaillu, sondern auch von hungrigen Leoparden oder vom Aushungern als Foltermethode. Du Chaillu war in einem dichtbewalDorfoberster mit Familie aus dem Gebiet des oberen deten Gebiet unterwegs und hatte offen- Ogowe in Gabun. bar schon längere Zeit nichts gegessen. „Obgleich ich einen Widerwillen vor Affenbraten habe, das einem gebratenen Kinde so ähnlich sieht, so war ich doch so ausgehungert, daß mir ein solcher ein zarter Bissen gewesen wäre.“ Doch Affe ließ sich keiner blicken, stattdessen zischte aus den Zweigen eines Baumes eine Schlange hervor. Mit einem gezielten Schuss erlegt er sie. Der Rest war klar: „Das Thier hatte eine Länge von mehr als 30 Fuß. Die herbeigeeilten Gefährten machten sich gleich darüber her, es in Stücken zu zerschneiden und es auf der Stelle zu rösten.“ Freilich ließen sich die Einheimischen das Tier munden, doch Du Chaillu sah hungernd zu und brachte keinen Bissen, „nach einem Mahl schmachtend, aber unfähig dieses zu verdauen“, hinunter.
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Doch zu einem späteren Zeitpunkt sollte er doch noch Affenfleisch verkosten. Die hungrigen Männer waren ausgezogen, eine Gazelle zu schießen, da ihnen aber keine vor die Flinte kam, zielten sie auf das nächstbeste Tier, das vorbeikam, das war ein kleiner niedlicher Affe. Zum Glück war er ziemlich fett und da Du Chaillus Hunger offenbar schon groß war, überwand er seinen Ekel. Er „genoß wenigstens eine Suppe davon“. Damit standen Affen auf derselben Stufe der Leibspeisen wie Krokodile: „Aber Krokodilfleisch, obgleich wirklich sehr weiß und zart, kann mich nur großer Hunger zu essen zwingen, da ich meinen Abscheu gegen dasselbe nie zu bezwingen vermochte, – jedoch Noth kennt kein Gebot.“ Beim Versuch, die Nkumu-Nabuali-Berge zu besteigen, litten sie in den endlosen dichten Wäldern erneut großen Hunger. Tagelang hatten sie nicht gegessen. Endlich sahen sie ein Bienennest. Welch süßer Happen! Am Nachmittag kam dann die ersehnte Abwechslung, man könnte auch Hauptspeise sagen: Sie schossen einen Leoparden, dessen Fleisch sie als „köstliches Mahl“ verzehrten und das den größten Hunger „für einige Stunden stillte“. Das Frühstück des nächsten Tages bestand aus einigen Beeren und einem Schluck Branntwein. Ein ganz besonderes Erlebnis sollte Du Chaillu am Ufer des Rembo Apingi haben. Vom dortigen Häuptling Remandji, der noch nie einen Weißen gesehen hatte, wurde er förmlich als Gott betrachtet und auch als solcher empfangen. Als Zeichen der Anerkennung übergab Remandji ihm einen gefesselten Sklaven mit den Worten: „Du kannst ihn dir zum Abendbrot schlachten, er ist zart und fett, und du wirst hungrig sein.“ Du Chaillu war entsetzt und verweigerte dieses Geschenk. Er sagte, dass er alle, die Menschenfleisch essen, verabscheue. Doch Remandji, der Häuptling, hatte es gut mit ihm gemeint. Er glaubte, dass Weiße Sklaven kaufen und zu sich nehmen würden, um sie „zu mästen und zu verzehren“. Dass sie „nur“ als Arbeiter eingesetzt wurden, dem wollte er keinen Glauben schenken. Das war für ihn nicht verständlich. In Europa waren Menschenfresser – jene Völker, die die Anthropophagie, so der Fachausdruck, pflegen – im 19. Jahrhundert ein Mythos. Dazu eine Ein Kannibale der Fidji-Inseln, wie er kleine Notiz von Siegfried Reissek (1819–1871), den Klischees zur Zeit der Kolonialzeit einem Botaniker. Unter dem Titel Die österreichientsprach.
„Noth kennt kein Gebot“
„Noth kennt kein Gebot“
schen naturforschenden Reisenden dieses Jahrhunderts in fremden Erdteilen würdigte er den Mut der Forschungsreisenden Ida Pfeiffer (1797–1858). „Als man ihren Muth, die Kannibalen von Borneo zu besuchen, bewunderte, und sie fragte, wie sie es denn wagen konnte, zu einem so wilden Stamme sich zu begeben, sagte sie anspruchslos: ‚Ich dachte mir, ich sei zu alt und zu hässlich, als dass sie Gelüste nach mir tragen sollten!‘ Es liegt in diesen Worten, die sich nicht leicht wieder einem Weibermunde entringen werden, eine Grösse, die man bewundern muss!“
Der interviewte Menschenfresser Ein Kannibale von den Fidji-Inseln gab vor kurzem – im Laufe einer Unterredung, die er einem amerikanischen Journalisten gewährte – einige sehr wertvolle Angaben über die „Geschmacksrichtung“ der Menschenfresser zum Besten. Vor allem muß mitgeteilt werden, daß die Kannibalen das Fleisch der Eingeborenen der ozeanischen Inseln dem des Weißen bei weitem vorziehen. Das Fleisch des Weißen hat einen sehr salzigen Geschmack; das des Polynesiers ist viel zarter und schmackhafter. Unter den Weißen schmeckt aber keiner so schlecht wie der alte Seemann. Der alte Seemann also schmeckt abscheulich: lebt er doch den größten Teil seines Lebens von Alkohol und von Tabak, und der Geschmack dieser „Nahrungsmittel“ geht ihm in Fleisch und Blut über. Dazu kommt noch, daß er ganz versalzen ist, was bei einem Menschen, der ewig Seewasser schluckt, nicht Wunder nehmen kann. Kurz, der alte Seemann ist nicht genießbar. (Während er solches sagte, befühlte der würdige Menschenfressergreis den Arm und die Rippen des Journalisten in einer sehr teilnahmsvollen Weise.) „Sie fragen mich, welche die besten Stücke sind?“ fuhr der Kannibalenveteran fort. „Zunächst der Kopf; die Augen und das Gehirn zuerst, dann die Wangen. Die Wangen junger Leute sind geradezu ein Leckerbissen. Der Oberarm, die Wade, der Schenkel gehen noch an, aber der Rest ist nichts wert; das ist für die Katz’!“ Einige Stunden später kam der Wilde, mit einer Flinte bewaffnet, noch einmal zu dem Journalisten und erbot sich, ihn nach einem nahegelegenen Orte zu führen, wo es „viele Papageivögel“ gebe. Obwohl der Journalist annehmen durfte, daß er als salzig schmeckender Weißer für den Wilden keinen Leckerbissen abgeben würde, zog er es doch vor, der Papageienjagd fernzubleiben. Und der gute, offenbar mit sehr üppiger Phantasie begabte Mann hatte Recht. Am Ende hätte er der staunenden Mitwelt das interessante Interview gar nicht mehr mitteilen können. Kremser Volksblatt, 9. August 1902
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Vollgesogene Blutegel: „zwischen den Zehen bis hinter die Ohren“
Ich erinnere mich an ein Gespräch, das ich mit meinem Kollegen, dem Geologen Harry Lobitzer, über Bücher des Afrikaforschers Emil Holub (1847–1902) führte: „Harry, du warst doch mehrmals in Afrika? Wie hast du dich da versorgt, was habt ihr gegessen?“ Und schon beginnt Harry, er gehört zur Spezies der mitteilsamen und redseligen Leute, zu sprudeln: „Ich war von 1976 bis 1983 wiederholt mehrere Monate als Geologe für die Firma Austroplan in Afrika unterwegs. In Nigeria ging es in erster Linie um Rohstoffe für die Zementindustrie, in Tansania um Kaolin.“ Auf die Frage, ob er österreichische Nahrungsmittel mithatte oder sich in Afrika eindeckte, kommt die Antwort spontan: „Ich habe mich ausschließlich vor Ort mit Nahrungsmitteln versorgt – als privilegierter Weißer habe ich mir, wenn möglich, auch einen Koch Harry Lobitzer als junger Geologe. geleistet – und habe außer einem Kieselgur-Wasserfilter als einzigen Luxus aus Österreich nur Klopapier mitgebracht!“ Bei seinen Rohstoff-Prospektions-Arbeiten für die Calabar Cement Company im nigerianischen Regenwald wurde er von einer kleinen Gruppe Einheimischer geführt. Sie kannten jene Stellen, die der Geologe sehen wollte: anstehendes Gestein, sprich Felsrippen, Felsböschungen etc. Sie hatten mit ihren Macheten nicht nur einen Weg durch den dichten Regenwald zu bahnen, sondern waren, mit Pfeil und Bogen oder Schrotflinten ausgerüstet, auch für die Versorgung mit Frischfleisch zuständig. „Und was habt ihr da gegessen?“, frage ich neugierig. „Alles, was die erlegt haben. Da mussten neben kleinen Gazellen (wunderbares Fleisch!) auch ein kleines Krokodil, ein Affe, rattenähnliche Tiere und eine Python dran glauben. Die Schlange haben sie mit einer Schrotflinte geschossen und dann gehäutet. Das Fleisch haben sie wie größere Wurststücke geschnitten und über dem Feuer gegrillt. Es war fein und zart wie auch das Krokodilfleisch, gar nicht flachsig, wie ich vermutet hätte“, kommt Harry förmlich ins Schwärmen. „Das kleine Krokodil wurde zerteilt und mitsamt dem Panzer über dem Lagerfeuer gegart, dann der Panzer zerhackt und das Fleisch mit dem Messer herausgeschält. Nur bei dem traurig dreinschauenden Affen habe ich mich wirklich überwinden müssen, da denkst du, das ist ein Mensch.“ Von dieser Fleischvielfalt im nigerianischen Regenwald konnten Hanns Tollner und seine Begleiter 1932–1933 auf Jan Mayen nur träumen. Die Nahrung bestand aber nicht nur aus Fleisch, sondern es wurden Kochbananen sowie Yams- und Cassava-(Maniok-)Wurzeln mitgetragen, gekocht und zu Fufu, der köstlichen püreeartigen dortigen Nationalspeise zerstampft.
Vollgesogene Blutegel: „zwischen den Zehen bis hinter die Ohren“
Die einheimischen Begleiter haben Harry nicht nur authentischen Einblick in die kulinarische Vielfalt der reichen Fauna des nigerianischen Regenwaldes gegeben, sondern auch Ausrüstung und Gesteinsproben getragen. Hier hat ihnen Harry mehr zugemutet, als für die Zementindustrie notwendig gewesen wäre. Er jubelte ihnen auch Proben und Fossilien für die wissenschaftliche Grundlagenforschung unter. Noch heute gibt es unzählige Kisten im Keller der Geologischen Bundesanstalt mit der Aufschrift „Lobitzer/Nigeria“. Die Kisten enthalten wertvolles Material für die Grundlagenforschung. So veröffentlichte Lobitzer 1982 gemeinsam mit Alain F. Poignant von der Université P. & M. Curie in Paris die Arbeit über fossile Algen (Les Algues de l’Albien supérieur du Nigéria) und 2004 mit mehreren Co-Autoren eine über Muscheln (Lower Maastrichtian inoceramids from Nigeria) der späten Kreidezeit. 2019 folgten zwei Arbeiten gemeinsam mit William J. Kennedy (University of Oxford) über Ammoniten, das sind fossile Tintenfische. Damit konnten die beiden neue Daten zum Auseinanderdriften – Stichwort Plattentektonik – von Afrika und Südamerika, das bekanntlich in der Kreidezeit begann, beisteuern. Über seine schwarzafrikanischen Begleiter weiß Harry Lobitzer zu guter Letzt nur Gutes zu berichten: „Sehr dankbar bin ich meinen stets gut gelaunten und gastfreundlichen Führern; die von mir dafür gut bezahlt und beschenkt wurden, dass sie mich heil zurückbringen. Bei der Rückkehr in ihr Dorf wurden von ihren Frauen Hühner und einmal sogar eine Kamerunziege geschlachtet. Die haben wir mit reichlich Palmwein verschlungen.“ Während der Zubereitung des Essens waren sie mit Körperpflege beschäftigt, erklärt er mir. Aus meiner bescheidenen Sichtweise als verwöhnter Mitteleuropäer denke ich an Händewaschen oder dergleichen. Doch im Busch gelten andere Gesetze: Dort waren die Männer damit beschäftigt, vollgesogene Blutegel von allen möglichen Körperstellen – „zwischen den Zehen bis hinter die Ohren“ – zu entfernen und die Wunden mit Desinfektionssalbe oder Jodtinktur zu versorgen. Nein, das wäre nichts für mich! Der tropische Regenwald bietet zahlreiche jagd- und auch essbare Tiere, die – richtig zubereitet – durchaus köstlich sind.
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„Das Eierholen war aber keineswegs eine bequeme Sache“
Bei der österreichischen Afghanistanexpedition 1972 der Geologischen Bundesanstalt setzte Gerhard Fuchs, der erfahrene Himalaya-Experte, in gewohnter Weise auf lokale Verpflegung. Als ich ihn im Dezember 2019 im niederösterreichischen Waldviertel besuchte, sprach ich ihn natürlich auch darauf an. Und Gerhard begann aus seinem reichen Erfahrungsschatz zu erzählen: „Es ist so, dass ich die Erfahrung gemacht habe, dass die Leute mit den eigenen Lebensmitteln – so wie sie sich eben verpflegen in der Gegend, mit Reis oder Fladenbrot und so weiter –, dass sie mit dem am besten umgehen können und nicht mit unseren Konserven. Schon das Abschätzen der Mengen, das geht einfacher. Und für dieses Klima ist es oft besser, als wenn man da zum Beispiel Rindfleisch isst in der Hitze. Es ist günstiger, die Ernährung, mit der die Leute dort leben, auch zu benützen. Das war meine Taktik bei den ganzen Expeditionen, möglichst einheimische Lebensmittel zu verwenden – und auch keine allzu großen Mengen davon.“ Bei der 1972er-Expedition wurden die Forscher von einer Gruppe afghanischer Träger inklusive einem Koch, der sich um das leibliche Wohl der österreichischen Geologen kümmerte, begleitet. Im Tagebuch von Alois Matura finden sich einschlägige Eintragungen, die sich zunächst auf Kabul beziehen: „Mittwoch 28. Juni 1972, 14:30: Mit Koch und Fahrer zum Bazar Küchengeschirr für Feldküche besorgen. – Samstag 1. Juli 1972: Einkaufen im Basar mit dem Koch alleine.“ Die Frage, was in Kabul im Basar gekauft wurde, beantwortet eine vorläufige Einkaufsliste vom 1. Dezember 1971. Darunter waren: 8 Moskitonetze, Küchenmesser, Töpfe, Pfannen, Teekannen, Teelöffel, Teesiebe, Waschmittel für Wäsche, Topflappen, Geschirrtücher, 400 Probesäcke (Leinen). Trockenverpflegung: Reis, Mehl, Bohnen, Linsen; Zwiebel, Zucker etc., Obstkonserven, Juice. Als sie ins Arbeitsgebiet aufbrachen, begann der Expeditionsalltag. „Die Träger backen auf originelle Weise Brot, Gerhard geht dem Fischfang (erfolglos) nach.“ [10. Juli 1972]. Nach einigen Tagen zeigten sich erste körperliche Beschwerden, Übelkeit, Kopfweh. Die Medikamente taten nicht wirklich gut. Ruhe war angesagt, Besserung kam mit dem Essen. „Die Kopfschmerzen nehmen allmählich ab. Mittags esse ich ein wenig Reissuppe, abends ebenfalls, sogar ein kleiner Bissen von jenen Fischen, die Gerhard tagsüber gefischt hatte, tat mir schon gut.“ [27. Juli 1972]. Zum Glück wurde es in den nächsten Tagen immer besser. Bei aufziehendem Gewitter erreichten sie auf 3.000 Meter eine Almhütte. „Die Stimmung ist zuerst apathisch. Erst als es uns gelingt, trotz feuchten Holzes ein Feuer anzumachen, wird es gemütlich, romantisch und die Stimmung in der Mannschaft gehobener. Dem Koch gelingt es sogar, sein bisher bestes Erdäpfel-Gericht zuzubereiten. Ich bin recht glücklich über meine Form und scheine die Krankheit überwunden zu haben.“ [27. Juli 1972]. Der nächste Morgen
Selbstversorger im Hindukusch oder Dosen im Karakorum
Selbstversorger im Hindukusch oder Dosen im Karakorum
beginnt mit Brotbacken für die Mannschaft, um den Tagesbedarf zu decken. Das Fischen war ganz wichtig, um alle zu versorgen. Heute noch schwärmt Alois von Gerhard Fuchs’ frischen Fischen in Afghanistan. Bei unserem Gespräch im Waldviertel tauchen die Erinnerungen wieder auf: „Ich habe ein Fischzeug von meinem Vater noch gehabt. Dort kannst du fischen oder jagen wie du willst, ich habe nicht gejagt, aber gefischt. Ich bin oft als Erster nach Hause gekommen und, während die gekocht haben, bin ich zu einer Klippe, hab die Angel hineingeworfen. Das war ganz interessant: die ersten zwei, drei Fische – überhaupt kein Problem. Dann ‚spricht‘ es sich herum. Da wirfst du den Köder rein, und du siehst, wie sie ausweichen.“ Als ich ihn nach dem Köder frage, weiß er, was Fische mögen: „In Afghanistan habe ich dazu Maulbeeren genommen. Wenn sie ganz getrocknet waren, dann hat man sie nicht gut befestigen können. Die Fische hat dann der Koch weiterDer afghanische Koch verwöhnte die Expeditionsteilnehmer stets mit frisch gebehandelt, gebacken hat er sie meistens.“ Wer auf frische Fische setzt, muss sich nicht backenem Fladenbrot. mit Dosen herumschlagen. Dass es dabei, vor allem im Hochgebirge, zu Problemen kommen kann, diese Erfahrung musste Wolfgang Pillewizer (1911–1999) machen, Leiter der DÖHKE (Deutsch-Österreichische Himalaya-Karakorum-Expedition), deren Ziel Gletschermessungen waren. Am 20. August 1954 notierte er in seinem Tagebuch: „Wir haben viel zu viel zum Essen mit. Eine große herzförmige Schinkenbüchse, die bombiert war, habe ich angestochen, wonach der Schinken in halbflüssiger Form stinkend in 2 m hohem Bogen heraussauste. Wir sind eben 4000 m hoch.“ Überraschungspotenzial hatten Dosen somit allemal, sei es, dass man auch nur die Falsche öffnete, auch das kam im Karakorum vor: „Schneider hat eine große Portion Nudeln mit Speck auf dem Benzinkocher gekocht und konnte natürlich nicht gleichzeitig Tee machen. Paffen ißt von den Nudeln kaum, bemängelt, daß kein Tee fertig ist und als wir dann noch eine Büchse Obst öffnen und es Preiselbeeren sind, da ist es ganz aus, denn die ißt ‚der Herr Forschungsreisende Paffen‘, wie ihn Schneider nennt, ja nicht! Ja, wenn man auf Expedition geht, muß man manches ertragen können, auch Nudeln und Preiselbeeren!“ [28. Juni 1954]. Als Nudelkoch profilierte sich hier der Geologe Hans-Jochen Schneider (1923–2006); Karl-Heinz Paffen (1914–1983) – mit
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„Das Eierholen war aber keineswegs eine bequeme Sache“
den ziemlich genauen Menüvorstellungen – arbeitete über Pflanzengeografie, Bodenkunde und Geomorphologie. Anders als Fuchs hatte Pillewizer doch einen großen Anteil der Verpflegung in Form von Dosen aus Deutschland mitgenommen. Selbst die einheimischen Träger wurden damit versorgt. „Die Träger erhalten jeder eine Schüssel voll ‚Ata‘ – Gerstenmehl, je 3 eine Rindfleischbüchse, Öl und Salz. Als Bakschisch abends 1 Zigarette. Für mich sind einige Büchsen mitgekommen, ich esse mit Genuß Huhn mit Reis und schlafe dann sehr gut.“ [5. Juni 1954]. Bescheidenheit war den Einheimischen offenbar gänzlich fremd. Nicht nur, dass es aufgrund der überzogenen Forderungen immer wieder Probleme mit deren Bezahlung gab, sie waren auch beim Essen fordernd. „Am Abend noch Ärger mit unseren 2 Trägern, die partout Fleischbüchsen haben wollen, und mit Fisch, wie wir ihn essen (gebraten vor allem!) nicht zufrieden sind. Wir wissen genau, daß sie die Büchsen nur auf dem Basar verkaufen wollen, deshalb bekommen sie keine.“ [13. August 1954].
Dass die hohen Berge des Karakorum für Erdwissenschaftler interessant sind, steht wohl außer Zweifel. Doch auch in der Mongolei mit ihren weiten Ebenen lassen sich viele Forschungsfragen beantworten. Gerade die Verbreitung der Säugetiere vor dem Hintergrund globaler Klimaänderungen in der geologischen Vergangenheit ist hier in den Gesteinsschichten gut dokumentiert. Bei diesem Thema ist die Paläontologin Gudrun Daxner-Höck zweifelsfrei die Mongolei-Expertin. Als ich Mathias Harzhauser vom Naturhistorischen Museum in Wien, kongenialer Co-Autor mehrerer meiner Bücher, nach Bildern zum Thema Essen frage, schickt er mir, während wir noch telefonieren, ein Foto aus der Mongolei: Das Innere einer Jurte, im Hintergrund ein gehäutetes Lamm, das an den Hinterbeinen aufgehängt ist, davor strahlt die Expeditionsleiterin Gudrun Daxner-Höck. Als ich sie per Mail frage, ob ich das Bild auch verwenden darf, gibt sie gerne ihre Zustimmung: „Es zeigt ja eine alltägliche Situation bei meiner Geländearbeit (über zehn Sommer in der Mongolei).“ In diesen mongolischen Sommern ging es um die Erforschung der Veränderungen der einstigen Säugetierfauna über einen Zeitraum von rund 24 Millionen Jahren, beginnend vor 32 Millionen Jahren (im Oligozän) und endend im jüngeren Miozän vor rund 8 Millionen Jahren. Insgesamt wurden unglaubliche 18.608 Zahn- und Knochenreste von 175 fossilen Tierarten bestimmt. Das Ergebnis ist beeindruckend. In Zeiten optimalen Klimas gab es eine reiche Fauna mit Riesen-Nashörnern, Rüsseltieren, Ur-Raubtieren, Antilopen, Igeln, Hamstern und Hüpfmäusen, wie man sie heute aus der Serengeti in Afrika kennt. Globale Klimaänderungen wie eine Eiszeit vor
Ein Blick in die Mongolei
Ein Blick in die Mongolei
28 Millionen Jahren spiegelten sich auch in der Fauna wider; die großen Tiere verschwanden. Das Foto stammt aus dem Sommer 2011. Sowohl Mathias Harzhauser als auch Werner E. Piller (Institut für Erdwissenschaften der Universität Graz), der ebenfalls bei dieser Expedition dabei war, schwärmen noch heute von der guten Organisation. Daxner-Höck hatte alles perfekt vorbereitet. Sie war schon Wochen früher gekommen, hatte von Ulan Bator aus zusammen mit ihrem mongolischen Forscherteam alles bestens organisiert. Drei Jurten und acht Einpersonen-Zelte waren aufgebaut, als die Forscher via Moskau von Europa anreisten. „Gudrun hat sich bemüht uns doch Gudrun Daxner-Höck versorgte in der Mongolei das eine halbwegs europäische Küche zu bie- Expeditionsteam mit lokalem Lammfleisch. ten, wir hatten sogar Bier“, erinnert sich Mathias Harzhauser. Besagtes Bild und die damit verbundene Erinnerung an Lammbeziehungsweise Hammelfleisch wecken bei ihm keine kulinarischen Hochgefühle. Freilich muss man wissen, dass die einheimischen Mitglieder der Expedition schon in der Früh gekochtes Hammelfleisch aßen. Neben dem Anblick kam in der Mannschaftsjurte, wo gegessen wurde, noch der olfaktorische Aspekt dazu. Auch ich, der ich in diesen Dingen nicht allzu wählerisch bin, brauche in der Früh nicht unbedingt den Duft von gekochtem Hammelfleisch. Piller hingegen war für derartige Eventualitäten schon gerüstet. „Ich habe wie immer bei meinen Forschungsreisen eine Flasche Schnaps mit. Diesmal habe ich in Moskau am Flughafen einen Wodka gekauft. Ich habe aber übersehen, dass er 65 % hatte. In der Früh nehme ich immer einen kräftigen Schluck zur Desinfektion: Der 65 %ige, das war schon einigermaßen heftig!“ Aber es hat gewirkt. Keiner der Expeditionsteilnehmer wurde krank. Da nicht alle auf russischen Wodka setzten, lag es wohl an der wohlorganisierten Küche von Gudrun Daxner-Höck. Wie eine gute Mutter verstand sie es, vorausschauend zu sorgen, dass alle möglichst zufrieden sind; der Kompromiss war europäische Küche mit zentralasiatischen Zutaten, zubereitet von mongolischen Helferinnen – unter ihrer Aufsicht.
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Insel, Halbinsel und Bohrinsel
Ein Blick in die Mongolei
Insel, Halbinsel und Bohrinsel Forscher fern der Heimat
Die Zeiten, als zu Österreichs Hoheitsgebiet Inseln gehörten, sind seit mehr als hundert Jahren vorbei. Damals befanden sich die Inseln längs der dalmatinischen Küste unter der Ägide der Habsburger. Mit dem Ende der Monarchie wurde Österreich zum Binnenstaat. Dass der einstige Bundeskanzler Bruno Kreisky (1911–1990) die Alpenrepublik in den 1970er-Jahren als „Insel der Seligen“ bezeichnete, wurde seinerzeit belächelt. Da man über keine Insel mehr verfügte, „machte“ man sich eben eine, doch das war keineswegs in der Form geplant. Unter diesem Aspekt könnte man die Geschichte der Wiener Donauinsel sehen. Dieses 21 Kilometer lange Eiland entstand in den 1970er- und 1980er-Jahren in Wien. Als man im Überschwemmungsgebiet der Donau ein breites Bett für große Hochwässer aushob, hatte man bald einen Namen parat: Neue Donau. Den Aushub schüttete man zwischen dem Lauf der Donau und dem Bett der Neuen Donau zur Donauinsel auf. Wusste man zunächst nicht, was man mit der derart entstandenen Landfläche machen sollte, etablierte sich hier bald eine neue Freizeitkultur. Das mehrtägige Donauinselfest, das seit 1984 jährlich im Juni veranstaltet wird, lockt seit vielen Jahren ein Millionenpublikum auf die „Insel“, wie man in Wien nun zu sagen pflegt. Bei Europas größtem Freiluftevent traten Stars wie Udo Jürgens (1934–2014) oder Falco (1957–1998) auf. Das bekannte Lied des österreichischen Liedermachers Peter Cornelius Reif für die Insel (1981) passt nicht nur für die Donauinsel, sondern etablierte sich als Metapher für Urlaubsträume in den Herzen der Menschen. Dass die Donauinsel samt ihrem Fest derart gut angenommen wurde, „passierte“ wie so vieles und etablierte sich ganz so, als wäre es immer da gewesen. Typisch Wien! Ein Blick zurück ins 19. Jahrhundert, als Österreich noch eine Seemacht war, lädt indes zum Inselhüpfen im großen Stil. Damals waren die Schiffe der österreichischen Kriegsmarine auf den Weltmeeren unterwegs, zeigten Flagge, knüpften Handelsbeziehungen und ließen Forscher forschen. Freilich waren deren Erlebnisse auf wissenschaftlichem Neuland nicht ohne Gefahren. Die mexikanische Insel Socorro im Pazifik war das Ziel österreichischer Geophysiker, die hier Wasser suchten.
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Insel, Halbinsel und Bohrinsel
Meine persönlichen Inselerlebnisse beschränken sich auf griechische Inseln. Nein, kein Urlaub, alles dienstlich. Das war zunächst im Jahr 1988 zu Studentenzeiten eine Auslandsexkursion nach Zakynthos und Kreta. Später folgten dann zwei Tagungen auf Lesbos, hier ging es um geologische Naturdenkmale. An das Essen des Jahres 1988 erinnere ich mich noch sehr gut: Es gab jeden Tag greek salad, also Tomaten und Gurken in große Stücke geschnitten mit Olivenöl, das alternierte mit Gurken und Tomaten in großen Stücken mit Olivenöl, also wiederum nur greek salad. Diese kulinarische Monotonie zog sich wie ein roter Faden durch die Exkursion. Seit meinen Reisen nach Bulgarien, wo stets Serbien gequert wird, weiß ich: Die Beilagenküche der Balkanhalbinsel besteht aus Tomaten und Gurken, begleitet wird sie von Paprika. Wie wählerisch bin ich doch! Hätten nur alle Forscher bei ihren Arbeiten auf den Inseln rund um den Globus genügend zu essen gehabt!
Die Weltumseglung der Fregatte SMS Novara, die am 30. April 1857 in Triest begann und am 26. August 1859 ebendort endete, ist bis heute der Stolz der Nation. Die Männer des Kriegsschiffes, das im Dienst internationaler Beziehungspflege und der Wissenschaft stand, waren bei ihrer Rückkehr gefeierte Helden. Das dreibändige Werk, Reise der Oesterreichischen Fregatte Novara um die Erde, in den Jahren 1857,
Schlechte PR im Pazifik: die Novara in üblem Licht
Das idyllische Leben der Einwohner auf der Koralleninsel Sikaiana, wie sie die Besatzung der Novara im Oktober 1858 sah und uns im Novarawerk Karl von Scherzers überliefert ist.
Schlechte PR im Pazifik: die Novara in üblem Licht
1858, 1859, unter den Befehlen des Commodore B. von Wüllerstorf-Urbair, das Karl von Scherzer (1821–1903) herausgab (1861 bis 1862), wurde zum Bestseller. Die Expedition hatte nur gute Stimmen in der Presse. Als im März 1860 die Zeitungen von Australien auf dem Seeweg in Wien eintrafen, kamen schlechte Nachrichten mit. Eine australische Zeitung, der Sydney Morning Herald, hatte am 6. Jänner 1860 geschrieben, dass sich bei der Landung der Novara Mitte Oktober 1858 die Österreicher bei den Einwohnern der Stewart Inseln mit Nahrungsmitteln eingedeckt hätten, ohne diese in angemessener Weise zu bezahlen. Unter dem Titel A Visit to Stewart Islands, or Sikayána. – Strange Doings of an Austrian Vessel of War war auf Seite 5 zu lesen, dass ein Schiff, das als die Novara im Dienst der österreichischen Regierung auf wissenschaftlicher Mission identifiziert wurde, hier gelandet war. Gleich im nächsten Satz stand, dass vor etwa zwanzig Monaten rund hundert Bewaffnete auf der Insel gewesen wären, die sich selbst an Kokosnüssen bedienten und Hühner und Schweine schossen. Hier die Stelle im Original: „It appears that about twenty months ago, a man of war called at these islands, and landed about one hundred men with muskets, who began to help themselves to cocoanuts, and shoot pigs and fowls right and left.“ Als Quelle des Artikels wird „[Communicated]“ und kein namentlich genannter Redakteur angegeben. Wer nachrechnet, erkennt, dass hier etwas nicht stimmt. Vom Jänner 1860, dem Veröffentlichungsdatum, zwanzig Monate zurück ergibt ein Datum im Mai 1858, tatsächlich gingen die Österreicher erst im Oktober 1858 dort an Land. Am 17. März 1860 nahm Scherzer in der Wiener Zeitung unter dem Titel Die angeblichen „Gewaltthätigkeiten“ der Novara-Expedition ausführlich dazu Stellung. Zum einen sah er hier schlampige Recherche, zum andern aber auch eine Verleumdungskampagne – einen „feindseligen Ausfall“ – der ausländischen Presse gegenüber Österreich. Tatsächlich dürfte hier eine Verwechslung mit einem „aus Livorno kommenden Schiff, das man seltsamerweise mit der ‚Novara‘ identifizirt[e]“, vorgelegen haben, wie Scherzer vermutete. Michael Organ, Archivar der Universität Wollongong (New South Wales, Australien), hat sich vor einigen Jahren mit der Novara-Expedition (The Austrian Frigate SMS Novara) und dem Vorfall (Incident at Sikayana) intensiv auseinandergesetzt und folgerte nach ausführlicher Analyse, dass hier wohl über das Ziel geschossen worden war: „[…] this assessment was perhaps unwarranted.“ Jedenfalls fielen diese unangenehmen Nachrichten in jene Phase, als Scherzer an seinem dreibändigen Novara-Werk schrieb. In Band 2 ist das letzte Kapitel der Koralleninsel Sikaiana [auch: Sikayana] gewidmet. Diese Insel, streng genommen ein Atoll, ist auch als Stewart Island bekannt und gehört zu den Salomonen, einer Inselgruppe südöstlich von Neuguinea im Pazifik.
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Mit einfachen Einbäumen betrieben die Einwohner Sikaianas Fischfang und sicherten so ihre Ernährung.
Da die Männer schon seit 66 Tagen – von China kommend – auf ihrer Reise nach Sydney auf See gewesen waren und einzelne Fälle von Skorbut aufgetreten waren, lag es nahe, Land aufzusuchen, um frische Nahrungsmittel zu besorgen. Auffallend ist die positive Berichterstattung und wohlüberlegte Wortwahl Scherzers in diesem Kapitel. Die Annäherung der Eingeborenen erfolgte in „zwei schöne[n], große[n] Canoes“. Die fünfzehn nackten Menschen, die nur einen Lendengürtel trugen, sprachen gebrochenes Englisch und hatten englische Namen. Er ist voll der Bewunderung: „Wir sahen niemals unter halb wilden Völkern einen so schön gestalteten, wohlproportionierten, gesundheitsstrotzenden Menschenschlag wie die Bewohner des Korallenriffs von Sikayana.“ Die Männer beherrschten sogar das Dame-Spiel, das ihnen ein Engländer, der hier fünf Monate lang Station gemacht hatte, beigebracht hatte. Auf die Frage, was sie der Mannschaft der Novara anbieten konnten, führten sie Kokosnüsse, Bananen, Schweine und Hühner an. Genau das wollte die Besatzung, im Gegenzug wünschten sich die Bewohner von Sikaiana Fischangeln, Kautabak, Schießpulver, Munition, Zwieback, Spielkarten und Schmuck für ihre Frauen. Am 17. Oktober 1858 legten von der Novara drei Boote mit Offizieren und den Naturforschern an Bord ab. Auf der Insel angelangt widmeten sie sich ihren wissenschaftlichen Aufgaben. Dem Geologen Ferdinand von Hochstetter (1829–1884) fielen die zahlreichen Bimssteingerölle auf, die auf den hellen Korallenfelsen herumlagen. Sie waren auch an der Ostküste Australiens zu finden, ein Hinweis auf ein vulkanisches Ereignis, wie Hochstetter folgerte. Auch im Sommer 2019 las man von einem Bims-
Foullons Nickelexploration: ein amtlicher Auftrag
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steinteppich von der Größe Manhattans, der im westlichen Pazifik trieb. Also durchaus kein ungewöhnliches Ereignis. Doch der eigentliche Zweck des Inselbesuches war der Erwerb von Lebensmitteln. Interessant ist der damalige Umrechnungsfaktor der Naturalien: Für ein Schwein gaben die Männer 5 Pfund (circa 2,3 Kilogramm) Kautabak oder 20 Fischangeln aus Stahl oder 5 Pakete mit Nadeln und Zwirn. Für 5 Fischangeln gab es entweder 10 Eier oder 2 Hühner. Ein Paket alter [sic!] Spielkarten brachte 4 Hühner. Die Zucht von Schweinen und Hühnern geschieht, so lässt Scherzer die Leserschaft wissen, in erster Linie für den Tauschhandel mit fremden Schiffen, die aber höchst selten kommen. Als Beweis dafür führt Scherzer an, dass die Einwohner keinen Alkohol kannten. Wurden die Männer der Novara bislang auf allen Inseln nach „Brandy“ gefragt, kannten die Männer auf Sikaiana weder das Wort noch das Getränk. Auch Missionare waren offenbar zum damaligen Zeitpunkt noch nicht dort gelandet, „es betrübte uns beinahe, daß diesen braven Leuten die Segnungen des Christenthums vorenthalten bleiben sollten.“ Doch eine Plage der Zivilisation war auch hier schon gelandet: Die Pocken, wie sie an den Narben einer Frau feststellten, deren Körper ganz entstellt war. Nachdem sie in nur vier Stunden den Tauschhandel und die wissenschaftlichen Erforschungen abgeschlossen hatten, kehrten die Männer wieder zurück auf die Novara. Die Begegnung, so Scherzer, gehörte „zu den eigenthümlichsten und wohltuendsten Erinnerungen unserer Seefahrt“.
Die Inselgruppe der Salomonen war im 19. JahrhunFoullons Nickelexploration: dert kein guter Boden für Österreich. Hatten die Mänein amtlicher Auftrag ner der Novara „nur“ mit übler Nachrede zu kämpfen, wurde am 10. August 1896 der in Gaaden (Niederösterreich) geborene Geologe Heinrich Foullon von Norbeeck (1850–1896) von Einheimischen erschlagen. Diese Meldung ging – entsprechend zeitversetzt – um die ganze Welt. Nach gut einem Monat, am 16. September, brachte Die Presse in Wien eine erste kurze Notiz, wonach in der Bergwelt der großen Insel Guadalcanar (heute Guadalcanal) eine Gruppe von Personen des Schiffes Albatros, die mit wissenschaftlichen Forschungen beschäftigt waren, von Eingeborenen überfallen worden waren. Selbst die New York Times schrieb am 23. Oktober 1896 darüber unter dem Titel Attacked by the Bushmen. Doch es war nicht „nur“ eine Attacke, es war Mord! „[…] wobei der die Expedition begleitende Geologe Heinrich Freiherr von Foullon, der Seecadet Armand de Beaufort und zwei Matrosen getödtet, vier Mann schwer und zwei Mann leicht verwundet wurden.“ Weitere Nachrichten wurden mit der Post, die man Ende Oktober erwartete, angekündigt. Am 24. September wurde in der Kirche St. Othmar in Wien Landstraße eine Seelenmesse
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gelesen; die Witwe Adele Freiin von Foullon und die drei Kinder Foullons, Heinrich, Karl und Claudine, waren anwesend. Einen Monat später, ab dem 24. Oktober, berichteten die Medien ausführlicher, basierend auf einem aus Sydney via Brindisi (Italien) eingegangenen ausführlichen Bericht. Die erste Meldung dürfte der Neuen Freien Presse mitgeteilt worden sein, zumal sich andere Medien auf diese Zeitung beriefen. Was war passiert? Folgt man dem Artikel Der Ueberfall auf die Expedition des „Albatros“, so war das Kanonenboot Albatros im Bereich der Salomoneninseln unterwegs „zum Zweck der Erwerbung wissenschaftlicher Objecte“. Dieser hehre Heinrich Foullon von Norbeeck Zweck hatte aber ein klares ökonomisches Ziel: Foullon, ein anerkannter Lagerstättengeologe, hatte den Auftrag, Nickelvorkommen zu erkunden. Auftraggeber war der Industrielle Arthur Krupp (1856–1938), Besitzer der Berndorfer Metallwarenfabrik in Niederösterreich. Dieser Betrieb hatte sich auf die Herstellung von Bestecken spezialisiert. Bevorzugtes Material war Alpaka, auch als Neusilber bekannt, eine Kupfer-Nickel-ZinkLegierung. Da aber Mangel an Nickel herrschte, nahm Foullon den Auftrag Krupps an und ging unter dem Vorwand wissenschaftlicher Forschungen gezielt auf Nickelprospektion. Natürlich bedarf es dafür spezieller geowissenschaftlicher Kenntnisse, doch darf man diese gezielt ausgerichtete Expedition nicht mit jener der SMS Novara vergleichen, die einen breiten Ansatz im Bereich der Grundlagenforschung hatte. Ein Blick auf die Laufbahn Foullons zeigt, dass für diese Mission nur er infrage kommen konnte. Foullon hatte in den Jahren 1867 bis 1870 an den Bergakademien in Schemnitz (Banská Štiavnica, heute Slowakei) und Příbram (Freiberg in Böhmen) studiert, war anschließend im Bergbau tätig, ehe er 1878 als Volontär in das chemische Laboratorium der k. k. geologischen Reichsanstalt eintrat. Hier spezialisierte er sich auf die Untersuchung von Gesteinen, die von den Geologen aus allen Teilen der Monarchie gebracht wurden. Berufsbegleitend besuchte er Vorlesungen in Geologie, Mineralogie, Kristallografie und Chemie an der Universität Wien. 1881 wurde er – nach fundierter Ausbildung – Assistent am chemischen Laboratorium der Reichsanstalt. Ab Mitte der 1880er-Jahre setzte seine intensive Reisetätigkeit ein: Sie führte ihn zunächst in die Türkei, nach Griechenland und Kleinasien. 1889 untersuchte er Nickelvorkommen im Ural, 1890 bereiste er Nordamerika und Kanada, ebenfalls zur Nickelprospektion. Es sollten 1891 noch Studien an Nickelerzvorkommen in Böhmen
Foullons Nickelexploration: ein amtlicher Auftrag
und Serbien folgen, ehe er Montansekretär für Bosnien und Herzegowina wurde und die k. k. geologische Reichsanstalt verließ. 1893 ging er nach Australien, studierte dort einige Bergbaue, war auch in Neuseeland und das erste Mal auf den Salomonen auf der Insel Guadalcanar, wo er Erzproben sammelte. Dort dürfte er erkannt haben, dass dieses Terrain fernab der Heimat nicht ganz gefahrlos ist; als vorsorgender Familienmensch schloss er für seine zweite Expedition im Jahr 1896 auf die Salomoneninseln eine Lebensversicherung ab. Der Schriftverkehr zwischen der Versicherung, der k. k. geologischen Reichsanstalt und dem Ministerium gibt Einblick in das Umfeld der Expedition. Zunächst schrieb mit Datum 2. März 1896 die General-Direction der Ersten Oesterreichischen Allgemeinen Unfall-Versicherungs-Gesellschaft an die Löbliche Direction der k. k. geologischen Reichsanstalt. Gleich der erste Satz war brisant: „Herr Freiherr Foullon von Norbeeck schloss anläßlich des Antrittes seiner über Auftrag der löbl[ichen] geologischen Reichsanstalt unternommenen Reise bei unserer Gesellschaft eine Versicherung gegen körperliche Unfälle [ab].“ Es ging um den hier erwähnten „Auftrag der löbl. geologischen Reichsanstalt“, dieser lag nämlich zum damaligen Zeitpunkt (noch) nicht vor. Unter Verweis auf die Rückversicherung ersuchte die Erste
Die auf Guadalcanar gesammelten Nickelerzproben wurden später in Österreich analysiert.
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Oesterreichische Allgemeine Unfall-Versicherungs-Gesellschaft den Zweck der Reise schriftlich zu bestätigen. Es lag zwar eine mündliche Auskunft des Vizedirektors Edmund von Mojsisovics (1839–1907) vor, wonach „im Wesentlichen bereits bekanntes Terrain“ aufgesucht werden sollte, doch mit diesem Schreiben wünschte sich die Versicherung ausdrücklich eine „schriftliche Bestätigung dieser Information“. Dieser Brief ließ den damaligen Direktor Guido Stache (1833–1921) nicht kalt, er schrieb am 6. März an das hohe k. k. Ministerium, dass dem nicht so sei. Zunächst hielt er fest, dass Chefgeologe Foullon sich bereits auf Urlaubsreise befand. Weiter im Original: „Die gefertigte Direction ist eben nicht in der Lage eine bestätigende Aussage über die der bezeichneten Unfall-Versicherungs-Gesellschaft bisher zu Theil gewordenen Informationspunkte abzugeben, weil dieselben mit den ihr selbst bekannt gewordenen Umständen und Verhältnissen nicht übereinstimmen und weil andererseits die unterzeichnete Direction sich selbst als bisher nicht ausreichend unterrichtet fühlt, um zu entscheiden, in wie weit sich dieselbe äussern darf, ohne sich einerseits der Gefahr auszusetzen, vielleicht unbewusst die Bewahrung eines Amtsgeheimnisses zu gefährden oder andererseits sich von der Wahrheit zu entfernen.“ Der Hintergrund wird schnell klar: Der Kaiser („Allerhöchst Seine Majestät“) hatte in einem Schreiben vom 3. Februar mit dem kryptischen Vermerk „Specialmission“ die Urlaubsbewilligung „huldvollst“ erteilt. Demnach, so folgerte Direktor Stache, läge in keiner Weise ein „Auftrag der geologischen Reichsanstalt“ vor. So ging man davon aus, dass Foullons Reise entweder im Auftrag des k. k. Reichskriegsministeriums oder gar des Kaisers erfolgen würde. Stache hatte unter Hinweis auf höchste Diskretion erfahren, dass der Zweck „die Einrichtung eines Bergbau-Betriebes auf Nickel-Erze“ war und nicht geologische Untersuchungen im Generellen. Stache schloss mit der Bitte, dass das Ministerium der „Direction gnädigst die für diesen Fall nothwendige Aufklärung und Weisung“ erteilen möge. Noch lieber wäre es Stache wohl gewesen, hätten die Versicherer ihre Auskunft direkt vom Ministerium bezogen, auch diese Möglichkeit sprach er in dem Brief an. Mit 11. April ist die Antwort des Ministeriums für Cultus und Unterricht an dessen nachgeordnete Dienststelle, die k. k. Geologische Reichsanstalt, datiert, wo sie den Eingangsvermerk vom 25. April trägt. Die Nachricht war kurz und unmissverständlich: Die Direktion möge der Versicherung mitteilen, dass die „bezeichneten Touren im amtlichen Auftrage auszuführen“ sind. Damit war klar, es war eine Dienstreise, um geologische Forschungen durchzuführen. Dafür hatte der Kaiser Urlaub bewilligt, in der Hoffnung, dass Foullon fernab der Heimat einen Nickelbergbau eröffnen würde. Das enthält alle Elemente eines James-Bond-Filmes im ausgehenden 19. Jahrhundert. Mit diesem Einblick in die ministerielle Korrespondenz bleibt die Frage offen: Was geschah dann wirklich auf Guadalcanar? Auf einer weißen Marmortafel, die heute im
Foullon und seine Mannen: von „Cannibalen getödtet“
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Geo-Zentrum der Universität Wien in Wien Alsergrund hängt, ist Foullons Todesursache, „von Cannibalen getödtet“, im wahrsten Sinn des Wortes in Stein gemeißelt.
Für einen Zeitungsartikel in der Wiener Zeitung hat IloFoullon und seine Mannen: na Gälzer 2016 an der Geologischen Bundesanstalt zu von „Cannibalen getödtet“ Foullons letzter Reise ausführlich recherchiert: „Unter dem Kommando des Korvettenkapitäns Josef Mauler von Elisenau [1852–1916] verließ das S.M. Kanonenboot ‚Albatros‘ mit 114 Mann an Bord 1895 den Kriegshafen Pola [= Pula]. Foullon ging ein halbes Jahr später in Sydney als wissenschaftlicher Leiter an Bord.“ Am Schiff herrschte strengste Geheimhaltung, lediglich der Kapitän und Foullon wussten über den eigentlichen Grund der Mission Bescheid. Eine Fülle an Details enthält der über neun Seiten lange amtliche Bericht im Nachruf Foullons, den sein ehemaliger Vorgesetzter an der k. k. geologischen Reichsanstalt, der Chemiker Conrad von John (1852–1918), verfasste. Demnach war die Albatros am 5. August bei Gora (auf Guadalcanar) vor Anker gegangen. Am 6. August brach eine kleine Gruppe unter der Führung von Foullon zusammen mit vier eingeborenen Führern, die vor Ort angeworben waren, von der Küste nach Süden auf. Ziel war der Mount Tatuve (1.503 Meter), der in dem Bericht als 5.500 Fuß hoher Lionshead [auch: Tatube] beschrieben wird. Foullon und seine Männer waren mit Gewehren und Revolvern bewaffnet, hatten Zelte, Lebensmittel für acht Tage und – für die Eingeborenen – Tabak und Messer als Tauschartikel dabei. Ehe sie die Höhen des Berges mit seinen Nickelerzgängen erreichten, hatten sie dichten tropischen Regenwald zu queren. Am 9. August – sie hatten bisher „annähernd 7 deutsche Meilen [mehr als 52 Kilometer]“ zurückgelegt – errichteten sie gegen Mittag ca. 950 Meter über dem Meer ihr Basislager für die eigentlichen Forschungsarbeiten. Auf ihrem Weg hörten sie Rufe, die Foullon, der ja nicht das erste Mal in derartigen Regionen unterwegs war, als Verständigungsrufe der Eingeborenen deutete. Diese „Avisorufe“ hatten den Zweck, dass „die Weiber der Eingeborenen vor den Weissen in Sicherheit gebracht werden“. Es sollte nicht lange dauern, tauchten einzelne Eingeborene („Bushmen, wie die Bewohner der BerEine Marmortafel im Geozentrum der Universität ge genannt werden“) im Dickicht auf, Wien erinnert an das Massaker auf Guadalcanar, bei die sich aber rasch wieder scheu zurück dem Foullon getötet wurde.
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Die Albatros brachte Foullon auf die Salomoneninseln zur Suche nach dem begehrten Nickelerz.
zogen. Zunächst wollten die angeheuerten Führer aus der Küstenregion auf die Eingeborenen schießen, doch das wurde ihnen von Foullon strikt verwehrt. Durch Gesten gaben die Bushmen zu verstehen, dass sie Kontakt suchten. Foullon war dem nicht abgeneigt, man bot ihnen Tabak als Geschenk an und schließlich kam man überein, drei von ihnen als Führer am nächsten Tag anzuwerben. Somit schien alles in Ordnung. „Alle diese Wahrnehmungen schienen die Ansicht des Freiherrn von Foullon zu bekräftigen, nach welcher man es mit ‚armen Teufeln‘ zu thun hätte, von denen eine ernstliche Behelligung nicht zu befürchten stand.“ Der Aufstieg zum Berg war für den Morgen des 10. August angesetzt. Die drei Bushmen kamen, wie vereinbart, bei Sonnenaufgang bloß mit Bergstöcken ausgerüstet. Insgesamt machten sich neun gut bewaffnete Männer („fünf Mannlichergewehre mit je 40 Patronen“ und ein Revolver, 11-mm-Kaliber) und die drei Bushmen auf, um den Berg zu besteigen. Lediglich Proviant für das Mittagessen hatten sie mit, da sie noch am selben Tag ins Basislager zurückkehren wollten. Sie gingen im Gänsemarsch, vorne ein Bushman, dann die Expeditionsteilnehmer und hinten wieder zwei Bushmen. Doch dabei sollte es nicht bleiben, zunehmend kamen „einzelne seitlich auftauchende Bushmen hinzu und schlossen sich der Expedition von rückwärts an“. Als man nach einer Dreiviertelstunde rastete, waren es schon zwanzig Eingeborene, darunter viele Ältere mit Tomahawks bewaffnet. Einer von ihnen zeigte Interesse am Revolver von Fähnrich Budik: Er wollte die Waffe nicht nur sehen, er wollte sie auch für die Keule, die er bei sich trug, eintauschen. Klar, dass Budik („ohne jede Provocation“) ablehnte, nicht nur, weil dies ein schlechter Tausch gewesen wäre. Plötzlich fielen aus
Foullon und seine Mannen: von „Cannibalen getödtet“
der Richtung des Lagers zwei Schüsse. Und damit begann das Unheil. Ein reich geschmückter Bushman kam auf die Männer zu. Aus den Gebüschen sprangen mehrere Eingeborene hervor und griffen die Expeditionsgruppe an. Einem Keulenschlag, der Budik treffen sollte, konnte dieser gerade noch ausweichen. Der Angreifer erlag einem Schuss Budiks. Auch Foullon, ein Unteroffizier und ein Matrose wurden von hinten angegriffen. Budik eilte auf Foullon zu, der verwundet am Boden lag und von einem Bushman bedroht wurde, den Budik dann erschoss. Im Forscherteam gab es neben Foullon mehrere Verletzte. „Die Verluste auf feindlicher Seite betrugen mindestens 20 Todte.“ Nachdem Budik die Verletzten eilig versorgt hatte, quälten sich die Männer mit letzter Kraft ins Lager, in dem mittlerweile ein schreckliches Gemetzel stattgefunden hatte. Die Bilanz war verheerend: „Der Lagercommandant und zwei Matrosen todt, drei Unterofficiere und ein Matrose schwer verwundet; mithin verblieben von der Besatzungsmannschaft blos zwei Mann unverletzt.“ Und dann, rund eineinhalb Stunden nach seiner Verwundung, starb Foullon in den Armen Budiks. Sein Leichnam wurde in eine Decke gehüllt und unter dem Stabszelt bestattet. Auch die übrigen Leichen musste man zurücklassen, da sich die wenigen noch verfügbaren Leute um den Transport der Verletzten Richtung Küste kümmern mussten. Den ebenfalls verwundeten Führer Johny, einen Einheimischen, schickte man voraus, um der Mannschaft auf der Albatros Meldung zu erstatten. Diese wiederum brach nach erfolgter Meldung sofort auf, um die Überfallenen sicher an die Küste zu geleiten. Die später in der nationalen wie internationalen Presse kursierenden Meldungen – als Beispiel sei das New York Journal vom 8. November 1896 genannt mit dem Titel Baron von Norbeeck, the Explorer, Killed and Eaten by Cannibals – dürften, so ist dem amtlichen Bericht im Nachruf Foullons zu entnehmen, überzogen gewesen sein. Vielmehr wurden hier Klischeevorstellungen bedient, die damals eine breite Leserschaft fanden. Wahrscheinlich wurden die Leichen verbrannt, zumindest wurden Rauchsäulen, die man fünf Tage nach dem Überfall von der Küste aus sah, so interpretiert. Ein Kreuz erinnert an der Wenn Ilona Gälzer in ihrem Artikel jenes Kreuz anLandungsstelle der Albatros spricht, das an der Landungsstelle der Albatros fünf Jahre an Foullon und seine Mannen, nach den tragischen Ereignissen errichtet wurde, und redie 1896 von Einheimischen sümiert, dass es „selbst die heftigen Kämpfe während des erschlagen wurden.
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Zweiten Weltkriegs überstanden hat und noch heute stehen dürfte“, so lieferte Kollege Manfred Linner mit seiner Frau Christine Jawecki den Beweis. Beide waren im März 2018 vor Ort und fotografierten das Kreuz samt den Namen der fünf getöteten Männer und folgender Inschrift: „Dem Andenken der im Dienste der Wissenschaft beim Kampf am Fusse des Berges Tatuba heldenmüthig gefallenen Mitglieder der Expedition S.M. Schiffes ‚Albatros‘ von der k. u. k. Kriegs-Marine 1896.“
Wer sich mit Feldforschungen beschäftigt und im Ausland Vergleichsstudien macht, kommt in der weiten Welt herum. Geologen, Geografen und Geodäten sind ebenso wenig Schreibtischtäter wie Archäologen und Ur- und Frühgeschichtler. Internationale Kooperationen und großzügige Förderer machen es möglich, dass immer wieder auch Lehrgrabungen im Zuge des Studiums fernab der Heimat stattfinden können. Beispielhaft führe ich eine mehrjährige Grabungskampagne des Instituts für Ur- und Frühgeschichte (heute Institut für Urgeschichte und Historische Archäologie) der Universität Wien an. 1983 war der damalige Institutsvorstand Herwig Friesinger mit einem Team von vierzehn Studenten und Wissenschaftlern auf Einladung der St. Lucia Archaeological and Historical Society erstmals auf St. Lucia, West Indies, einer Insel der Kleinen Antillen im westlichen Atlantik. In den nächsten Jahren folgten weitere Grabungskampagnen. 1985 und 1986 war auch der Paläontologe Fritz F. Steininger (Universität Wien) dabei. „Zunächst haben wir in einem großen Hotel gewohnt. Der Besitzer bat uns, den Hintereingang zu benutzen, weil wir so verdreckt von den Feldforschungen kamen. Das andere Mal waren wir in einem aufgelassenen Kloster“, erzählt Steininger von seinen beiden Karibikaufenthalten. Seine Aufgabe war es, die Muschel- und Schneckenreste (= Weichtiere), die bei den Grabungen am Point de Caille, einer Landzunge im Südosten der Insel, gefunden worden waren, zu analysieren. Seine Forschungsfrage lautete: Was aßen die Menschen auf St. Lucia vor 1.150 ± 50 Jahren? Dieses Alter wurde durch die Radiokarbonmethode (14C) aus Holzkohlenresten ermittelt. Wenig verwunderlich, war die Nahrung der ersten Bewohner von St. Lucia ausgesprochen maritim geprägt. „Frutti di Mare“ würde man sie heute nennen. Neben Weichtieren aßen sie auch Krustentiere, also Garnelen, Krabben und Seeigel, wobei Letztere zur Gruppe der Stachelhäuter gehören. So weit so gut, könnte man resümieren, doch Steininger und seine Co-Autorin Elfriede Mauser gingen in ihrer Arbeit über die Ernährungsgewohnheiten (2002) ins Detail und stellten umfassende Überlegungen an. Diese Arbeit fiel in jene Zeit (1995–2005), als Fritz F. Steininger Direktor des Forschungsinstitutes Senckenberg in Frankfurt am Main war. Hier nahm er sich selbst als oberster Chef neben Führungsund Verwaltungsaufgaben Zeit, wissenschaftlich zu arbeiten.
Karibische Kulinarik – Erinnerungen an die 1980er
Karibische Kulinarik – Erinnerungen an die 1980er
Fritz F. Steininger untersucht auf St. Lucia die Vorkommen der Mangrovenauster (Crassostrea rhizophora), die auch von den prähistorischen Einwohnern verzehrt wurde.
Zurück zur Interpretation des Fundmaterials aus St. Lucia. Muscheln und Schnecken haben hochwertiges tierisches Eiweiß, kommen in tropischen Breiten im seichten Wasser in ausreichender Menge vor, müssen aber relativ aufwendig zubereitet, das heißt, aus den Schalen gelöst werden. Somit sind Weichtiere selbst in diesen Breiten mit Luft- und Wassertemperaturen im Jahresmittel zwischen 25 °C und 28 °C nicht das Hauptnahrungsmittel, sondern nur eine beliebte Ergänzung zum Speiseplan. Untersuchungen von anderen Inseln zeigten, dass sie in der Regel nur fünfzehn bis zwanzig Prozent des Fleischkonsums ausmachen. Interessant ist auch die Verteilung der Arten innerhalb der verspeisten Weichtiere: 44 Schneckenarten stehen 12 Muschelarten gegenüber. Sehr häufig waren die Kreiselschnecke (Cittarium pica), die heute noch als Eintopf genossen wird und eine aphrodisierende Wirkung haben soll, und die Große Fechter- oder Riesenflügelschnecke (Strombus gigas). Letztere kann bis über zwanzig Zentimeter groß werden, ihre Schale wurde auch für die Herstellung von Werkzeugen verwendet. Bleibt noch die Frage offen: Was aßen die österreichischen Wissenschaftler bei ihren Grabungen? „Wir hatten die ersten Jahre eine einheimische Köchin, die uns täglich bekocht hat“, erinnert sich Steininger, „danach haben auch Kolleginnen vom Ur geschichteinstitut oder Friesinger höchstpersönlich für uns gekocht“. Steininger hatte nicht nur fossile Muschel- und Schneckenschalen studiert, sondern auch die rezente Fauna unter die Lupe genommen. „Da gab es riesige Krabben, die auch an Land
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g egangen sind. Am Friedhof in der Hauptstadt Castries habe ich unter den Grabsteinen Löcher gesehen. Da sind die Krabben hinein, da kannst du dir vorstellen, wovon sich die ernährt haben. Wir haben die Krabben nicht gegessen, aber bei den Einheimischen waren sie sehr beliebt“, erinnert er sich bei unserem Gespräch. Die Frage, was und wie die Österreicher kochten, kann Johannes M. Tuzar, der damals als Student bei allen Grabungskampagnen dabei war, beantworten. Heute ist er Direktor des Krahuletz-Museums in Eggenburg (Niederösterreich) und erinnert sich gerne an die karibischen Zeiten. Noch dazu hat er einige kulinarische Reminiszenzen bereit. Tuzar, der gerne kocht, lernte von Joseph, einem drahtigen Mittzwanziger der Insel, die Zubereitung von Seeigeln. „Joseph sammelte etwa drei Dutzend Seeigel und brach geschickt die Stacheln ab. Danach öffnete er sie vorsichtig auf der Unterseite. Den gallertigen Inhalt gab er in eine Blechschüssel, vermengte ihn mit Farina (ein Mehl aus Maniok und Weizen), Salz und Hot Pepper Sauce.“ Auf St. Lucia werden für deren Herstellung Habanero-Chilis, die zu den schärfsten unter den Chilis gehören, klein geschnitten, mit Essig und Kokosöl und einer Prise Salz abgemischt und dann in kleine Fläschchen gefüllt. „Dann“, so fährt er fort, „wird diese fast teigartige Substanz kräftig durchgerührt und in Seeigelschalen gefüllt. Diese legt man in die Glut eines Holzfeuers. Etwa zehn Minuten dauert der Röstvorgang. Joseph und ich brachen die noch warmen Seeigelschalen auf und verzehrten mit einem Löffel den köstlich scharfen Inhalt“. Wer es nachkochen will, dem seien die Mengenangaben verraten: Mit drei Dutzend Seeigeln kann man drei bis vier Portionen zubereiten.
„Große Teile der Halbinsel Yucatán“, beginnt Robert Supper, seit Februar 2019 Vizedirektor der Geologischen Bundesanstalt (GBA), „bestehen aus intensiv verkarsteten Kalken der Erdneuzeit. Wir haben hier seit 2006 Forschungen laufen, um die unterirdischen Wege des Grundwassers im Karst zu erkunden“. Zur Ausgangslage: Als die Stadt Tulum im Südosten Yucatáns nahe der Küste des Karibischen Ozeans daranging, die touristische Infrastruktur im großen Stil ähnlich wie in der nahe liegenden Stadt Playa del Carmen auszubauen, wurden die lokalen Umweltschützer hellhörig. Das Gebiet in der weiteren Umgebung Tulums liegt im Sian Ka’an Biosphärenreservat und ist übersät mit Wasserlöchern, den Cenoten, wie sie lokal genannt werden. In unserem Sprachgebrauch würde man von Dolinen sprechen. Diese sind im Untergrund miteinander durch Höhlensysteme verbunden. Nachdem man bereits nach zehn bis fünfzehn Metern im Untergrund auf diese unterirdischen, mit Wasser gefüllten Hohlräume trifft, wäre ein Ausbau mit riesigen Hotelburgen eine massive Bedrohung des unterirdischen Karstwassers. Bei den unterirdischen Wässern ist zwischen einem Süßwasserstockwerk (oben) und einem aus Salzwasser (unten) zu unterscheiden. Eine Ein-
Vom Karst Yucatáns zur Vulkaninsel Socorro
Vom Karst Yucatáns zur Vulkaninsel Socorro
leitung von Abwässern würde hier nachhaltige Schäden in dem Ökosystem verursachen. Das heißt, eine genaue Kenntnis des Untergrundes samt den mit Grundwasser gefüllten Hohlräumen war gefordert. „Unsere Aufgabe war dort, ein Grundwassermodell zu erstellen. Auftraggeber waren im ersten Jahr die Amigos de Sian Ka’an aus Cancún, eine NGO. Was fehlte, war ein Bild des Untergrundes, das die Verbreitung der Karsthohlräume und somit auch die Wege des Wassers zeigt“, so Supper. Unterstützt wurden dann die weiteren Untersuchungen unter anderem durch Mittel aus dem UNESCO-Programm „Man and the Biosphere“ Robert Supper, Geophysiker. (MAB) sowie durch Projekte des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF). Die Lösung der Aufgabe konnte auf Basis aeroelektromagnetischer Messungen erfolgen. Dafür waren neuartige Verfahren zur flächigen Bestimmung von Untergrundparametern, die direkt in ein Grundwassermodell einfließen, zu entwickeln. Nach einer ersten Phase punktueller geoelektrischer Messungen und von Bohrlochuntersuchungen am Boden begann 2007 die erste Vermessungskampagne mit dem Hubschrauber. Das Verfahren, sprich die Aerogeophysik, lässt sich relativ rasch auf größeren Flächen anwenden. In einer fünf Meter langen zigarrenförmigen Sonde – „Bird“, so der Fachausdruck –, die an einem dreißig Meter langen Seil am Hubschrauber hängt, werden auf induktivem Weg elektrische Wirbelstromsysteme im zu vermessenden Untergrund erzeugt. Diese wiederum korrelieren mit der elektrischen Leitfähigkeit des Untergrundes. So kann man über die elektrische Leitfähigkeit der Gesteine auf den Untergrund schließen und „Einblick“ in Tiefen bis etwa achtzig Meter erhalten. Auf diese Weise wurde in mehreren Jahren ein rund 300 Quadratkilometer großes Gebiet – das entspricht etwa der Fläche von Leipzig in Deutschland – in dicht (circa 250 Meter) nebeneinanderliegenden Linien beflogen. Dadurch war es möglich, die verkarsteten Kalke und die mit Wasser gefüllten Höhlensysteme unter der Erdoberfläche im großflächigen Stil zu erfassen. Doch dazu gehörte nicht nur ein „Bird“, der kam aus Wien mittels Luftfracht, sondern vor allem auch ein Hubschrauber, um diese Linien zu befliegen. „In Mexiko gibt es ganz andere Zeitbegriffe als bei uns. Wir mussten immer wieder Verzögerungen hinnehmen, die nicht geplant waren; zum Glück hatten wir bei unseren Expeditionen über all die Jahre ausreichende Zeitpuffer vorgesehen; die haben wir auch jedes Mal gebraucht“, resümiert Supper. 2007, bei der ersten aerogeophysikalischen Messkampagne, engagierten die Wiener Geophysiker einen lokalen Unternehmer, der den Hubschrauber zur Verfügung stellte. An diese Zeit erinnert sich der nunmehrige Vizedirektor der GBA mit Schaudern. „Nachdem der ‚Bird‘ nach fünf Tagen
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Der mexikanische Militärhubschrauber mit
Mit vollgepacktem Hubschrauber, in dem die physikalischen Messgeräte
dem gelben „Bird“, der Messgeräte für geo-
verstaut waren, ging es zurück von der Insel Socorro auf das mexikanische
physikalische Untersuchungen trägt.
Festland.
endlich durch den Zoll durch war, haben wir zwei Tage auf den Hubschrauberpiloten gewartet. Als er endlich kam und den ‚Bird‘ sah, sagte er: ‚Mit dem flieg ich nicht!‘“ Also musste von Mexico City ein neuer Pilot kommen. Der kam und flog auch. Doch damit war wieder ein Tag verstrichen. Ab 2008 war alles anders: Die Amigos de Sian Ka’an hatten es geschafft, das Militär für das Anliegen zu gewinnen. So flogen die Geophysiker der GBA samt ihrem gelben „Bird“ mit einem Militärhubschrauber. „Wir zahlten lediglich die Treibstoffkosten“, so Supper. Der Hubschrauber war ein russisches Modell der Type Mil Mi-17, ein Transporthubschrauber, der rund 7,5 Tonnen wog. Mit dem Militär funktionierte es deutlich besser. Diese positive Erfahrung mit dem Militär kannten die Geophysiker auch aus Österreich. Seit der ersten Stunde der Hubschraubergeophysik in Österreich im Jahr 1982 stellte das Bundesheer einen Hubschrauber zur Verfügung. Für die Piloten waren es notwendige Flugstunden, quasi Übungsflüge, für die Geophysiker war es Grundlagenforschung. Die derart gewonnenen Daten liefern bei Fragen der Rohstoffsuche, bei Grundwasserthemen, aber auch bei Rutschungen wichtige Hinweise und geben Einblicke aus einer völlig anderen Perspektive im wahrsten Sinn des Wortes. Die Kooperation zwischen dem Verteidigungsministerium und dem Wissenschaftsministerium war so gesehen das Musterbeispiel einer Amtshilfe. Zurück nach Mexiko, wir schreiben das Jahr 2009. Damals kam es zu einem Deal zwischen den mexikanischen Militärs und den Österreichern, die in Tulum ihre Mess-
Vom Karst Yucatáns zur Vulkaninsel Socorro
kampagnen fortsetzten. Auf der Insel Socorro rund 700 Kilometer von der Westküste Mexikos entfernt im Pazifik, wo das Militär einen ständig besetzten Stützpunkt hat, wollte man eine eigene Wasserversorgung schaffen. Also wurden die Wiener Geophysiker gefragt, ob sie Befliegungen machen könnten, um einen Bohrpunkt für einen Brunnen zu eruieren. Die Militärs übernahmen die Kosten. Die Geophysiker starteten, teils aus Tulum, teils aus Wien kommend wie Robert Supper und David Ottowitz, zur Pazifikinsel. Diese Inseln beflogen sie im Jänner/Februar, als dort die Vegetation in üppigem Grün war. Doch ganz so ohne waren diese Messkampagnen auch nicht. „Zuerst hatte es geheißen, dass erst das Material und der ‚Bird‘ hinübergeflogen werden und dann wir“, so Supper im Rückblick. Doch dann kam alles anders, die Mexikaner packten das ganze Material, die Ausrüstung und die Wissenschaftler an Bord. Freilich hatte man noch alle Reservetanks vollgefüllt, um so mit nur einem Flug die 700 Kilometer über das Meer zu schaffen. Diese Distanz ging schon an das Limit der Reichweite des Hubschraubers, der mit großer Last mehr Treibstoff verbrauchte als normal. Ähnlich riskant war auch der Rückflug. „Wir waren wieder alle an Bord und hatten obendrein noch einige Gesteinsproben von der Vulkaninsel mit. Der Hubschrauber war so schwer, dass er nicht abheben konnte, also musste Treibstoff abgelassen werden – wir hatten schon ein mulmiges Gefühl.“ Gott sei Dank ist damals alles gut gegangen. Ein Helicopter Underwater Escape Training (HUET), wie es heute für all jene üblich ist, die mit einem Hubschrauber über das Meer fliegen müssen, um etwa auf Bohrinseln oder Forschungsschiffe zu kommen, gab es beim mexikanischen Militär nicht. Trotz der unangenehmen Erfahrungen bei Hin- und Rückflug überwiegt heute im Gespräch mit Robert Supper – retrospektiv betrachtet – das Positive. Socorro war einzigartig; es gab zwar TV und Internet, aber keinen Alkohol. „Einmal hatten wir dort Stromausfall. Da war es vor Ort stockdunkel, aber der Sternenhimmel, der durch keinerlei künstliches Licht gestört wurde, war einfach überwältigend – das vergisst man nicht!“ Dazu kommt, dass die gesamte Insel ein Biosphärenreservat mit einzigartiger Flora und Fauna ist. Durch die Forschungen in Tulum, die in den weiteren Jahren durch Projekte des FWF unter der Leitung von Robert Supper beziehungsweise Arnulf Schiller (GBA) gefördert wurden, wobei das Letzte im Herbst 2019 zu Ende ging, konnten die Geophysiker ein Umdenken der lokalen Behörden feststellen. Statt des zunächst geplanten Ausbaus der Stadt mit riesigen Hotelburgen wurde und wird das Gebiet nun sehr kleinflächig unter Rücksichtnahme auf die Natur erschlossen. Das von den Österreichern erstellte Grundwassermodell war mit eine Entscheidungshilfe. Dass die Geophysiker aus der Luft erkannten, dass es zwischen den zwei größten Karstsystemen eine Verbindung im Untergrund geben müsste, die dann auch tatsächlich gefunden wurde und somit nun eines der weltgrößten Karstwasserhöhlensysteme bildet, erfüllt sie mit Stolz; und das zu Recht!
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Auf der Halbinsel Yucatán: Chicxulub als Dinokiller
Die Spontanassoziationen bei der Halbinsel Yucatán sind individuell unterschiedlich, meist werden sie wohl im Zusammenhang mit Mexiko oder/und Urlaub sein. Bei Erdwissenschaftlern sollte jedenfalls noch ein weiterer Begriff dazukommen: der Einschlagkrater jenes Asteroiden, der das Dinosauriersterben vor 66 Millionen Jahren auslöste. Diese riesige Delle in der Erde, 180 Kilometer im Durchmesser, hat einen Namen: Chicxulub-Krater. Der österreichische Experte Christian Köberl hat sich damit eingehend befasst. Der promovierte Geochemiker von der Universität Wien, langjähriger Generaldirektor des Naturhistorischen Museums und Meteoritenforscher, ist bei jenem Krater, der die weitreichendsten Folgen für das Leben auf der Erde hatte, in seinem Element: „Es war ja erst 1980, Christian Köberl, Geochemiker. als der Physiker Luis Walter Alvarez (1911–1988) und sein Sohn, der Geologe Walter Alvarez, bei Gubbio in Umbrien (Italien) eine wenige Zentimeter dicke, gelbliche Tonschicht mit auffallend hohen Iridiumwerten finden konnten“, beginnt er seine Ausführungen. „Damit war die Grenze zwischen dem Mesozoikum (Erdmittelalter) und dem Känozoikum (Erdneuzeit) eindeutig definiert. Die Frage war: Wo kommt das viele Iridium her? Kosmischer oder vulkanischer Ursprung, das waren die divergierenden Theorien.“ Als Bruce F. Bohor (USA) im Jahr 1984 in dieser Grenzschicht, die dann an vielen Stellen der Welt, auch in Österreich (Gams bei Hieflau, Steiermark und Elendgraben bei Gosau, Oberösterreich) gefunden wurde, sogenannte geschockte Quarzkörnchen feststellte, war das ein klarer Hinweis auf einen Meteoriteneinschlag (= Impakt). Geschockte Quarze entstehen unter extrem hohem Druck, wie er auf der Erde nur bei Meteoriteneinschlägen vorkommt. Dabei wird das Kristallgitter der Quarzkörner deformiert, was nur im Mikroskop sichtbar ist. Die Tatsache, dass ein riesiger Asteroid auf die Erde gestürzt war, der das Aussterben von 76 Prozent aller damals lebenden Tier- und Pflanzenarten – darunter die Dinosaurier – zur Folge hatte, führte dazu, dass dieses Thema unter den Geowissenschaftlern zu einer der wichtigsten Forschungsfragen der letzten Dekaden wurde. Hinzu kommt, dass durch das Massensterben auch die Grenze zwischen zwei großen geologischen Zeiteinheiten, dem Erdmittelalter (Mesozoikum) und der Erdneuzeit (Känozoikum), definiert wird. Jetzt war die nächste Frage: Wo ist der Einschlagkrater? Die Beantwortung erwies sich als spannender Krimi mit Irrwegen. Da der Einschlag vor 66 Millionen Jahren stattgefunden hatte, musste man damit rechnen, dass der Krater über viele Millionen
Auf der Halbinsel Yucatán: Chicxulub als Dinokiller
Christian Köberl fotografiert den Geologen Walter Alvarez an der Kreide/Tertiär-Grenze in Gubbio (Italien), die sich als schmaler Spalt zeigt.
Jahre, im Extremfall 66 Millionen Jahre, von Gesteinsschichten überlagert wurde. Und wenn der Meteorit überhaupt in einem Ozean gelandet war, wie sollte man ihn finden? Dass er eine derart klare, auch für Laien leicht zu erkennende Struktur wie etwa das Nördlinger Ries in Bayern hätte, das wäre ein zu schöner Traum gewesen. Freilich, das Nördlinger Ries mit einem Durchmesser von 24 Kilometern ist geologisch gesehen jung; es entstand „erst“ vor 15 Millionen Jahren. Bevan M. French von der Smithsonian Institution in Washington D. C. (USA) entdeckte nicht nur geschockte Quarze im östlichen Montana (USA), er meinte auch einen möglichen Einschlagkrater gefunden zu haben: den Manson-Krater in Iowa (USA). Seine These – Impact Event at the Cretaceous-Tertiary Boundary: A Possible Site – publizierte er am 19. Oktober 1984 in Science, dem renommierten Wissenschaftsmagazin. French empfahl, den Ort dieses Impaktereignisses an der Grenze zwischen Kreide- und Tertiärzeit (Erdmittelalter versus Erdneuzeit), den Manson-Krater, eingehender zu erforschen: „Should be studied in more detail“. Und so kam es auch. Alle Details über den Manson-Krater, mit dessen Untersuchung sich auch Jack B. Hartung (1937–2015) aus Iowa (USA) beschäftigte, finden sich in einem Band (Special Paper, 302) der Geological Society of America, den Köberl 1996 zusammen mit Raymond R. Anderson (Iowa, USA) herausgab. Doch zu diesem Zeitpunkt (1996) war bereits klar, dass der gesuchte Einschlagkrater nicht der Manson-, sondern der Chicxulub-Krater an der Nordwestküste Yucatáns war. „Und zweitens war dann auch noch
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der Kara-Krater in Russland ein Target“, so Köberl, der lange Zeit in Amerika lebte, mit der amerikanischen Künstlerin Dona Jalufka verheiratet ist und daher immer wieder ins Englische verfällt. Diese doppelte Impaktstruktur im Norden Russlands, hart an der Küste des nördlichen Polarmeeres gelegen, wurde – obwohl sie mit einem Alter von 70 Millionen Jahren datiert wurde und somit um vier Millionen Jahre zu alt war – auch im Zusammenhang mit dem Massensterben an der Kreide/Tertiär-Grenze diskutiert. Wer mehr wissen will, findet darüber eine Arbeit von Köberl und Co-Autoren aus dem Jahr 1990 in der Zeitschrift Geology. Die Entdeckung des Chicxulub-Kraters gleicht einem Zick-Zack-Kurs, einer Spurensuche nicht minder spannend als ein Krimi in den Geowissenschaften. Kein Wunder, dass hier Wissenschaftshistoriker mit dem Schwerpunkt des ausgehenden 20. Jahrhunderts Interesse zeigen. James Lawrence Powell hat 1998 in seinem Buch über das Aussterben der Dinosaurier (Night comes to the Cretaceous: dinosaur extinction and the transformation of modern geology) ausführlich darüber berichtet. Den Hinweis auf dieses Buch verdanke ich Köberl, der mir nach unserem Gespräch mit dem Hinweis „hier einige Quellen“ unter anderem eine Buchrezension von Ursula B. Marvin aus der Zeitschrift Meteoritics and Planetary Science geschickt hat. Schon allein die Rezension gibt einen Einblick. Ich will das Buch und überlege, es zu kaufen, da ich es nicht in unserer Bibliothek vermute. Trotzdem schaue ich in unserem Katalog nach. Es ist mir doch tatsächlich schon passiert, dass ich Bücher zweimal gekauft habe. Doch welche Überraschung! Wir hatten es am 8. Oktober 1998 erworben. Ich bewundere meinen Vorgänger für die damalige Weitsicht. Offensichtlich dachte er, dass man dieses Buch lesen müsste, um das Aussterben der Dinos zu verstehen. Wie oft es entlehnt wurde, kann ich nicht rekonstruieren, doch jetzt brauche ich es und bin froh es in Händen zu halten. Und damit geht es in medias res der Erforschungsgeschichte. Bereits in den 1970ern hatten Glen T. Penfield und Antonio Camargo-Zanoguera, zwei Geophysiker des staatlichen mexikanischen Mineralölkonzerns PEMEX (Petróleos Mexicanos), mit geophysikalischen Methoden im Golf von Mexiko im Meer vor und auf dem Festland von Yucatán diese auffällige Struktur im Untergrund gefunden. Sie hatten sogar in Erwägung gezogen, dass sie von einem Meteoriteneinschlag stammen könnte. Doch erst, als sie die Arbeit über das extraterrestrische Ereignis (Extraterrestrial cause for the Cretaceous–Tertiary extinction) von Alvarez Vater und Sohn und Co-Autoren in Science (1980) gelesen hatten, gingen sie 1981 bei der Tagung in Tulsa (Oklahoma, USA) an die Fachöffentlichkeit. Doch leider waren bei der dortigen Tagung keine Impaktforscher vor Ort. Ihr Beitrag über eine große Zone (200 Kilometer Durchmesser) magmatischer Gesteine (von einer Gesteinsschmelze) im Bereich von Yucatán fand erst viel später Resonanz. „Die Erdölleute hatten in den 1970er-Jahren sogar mehrere bis zu 1,6 Kilometer tiefe Bohrungen im Krater oder in der Nähe gemacht“, so Köberl. Doch nachdem es keine Öl- oder Gasfunde gab, wurde dieses
Drei Bohrkampagnen im Chicxulub-Krater
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Projekt fallen gelassen. Es gab auch nur wenige Bohrproben, die für Untersuchungen zur Verfügung standen. „Und die waren kaum zu bekommen“, blickt er zurück. In dieser frühen Phase kommt der Wissenschaftsjournalist Carlos Byars (1936– 2016) ins Spiel. Er kannte die Arbeit von Glen T. Penfield und Antonio Camargo-Zanoguera und veröffentlichte zunächst im Houston Chronicle im Dezember 1981 einen Artikel mit dem reißerischen Titel Mexican Site May be Link to Dinosaur’s Disappear ance, einen Zweiten schrieb er 1982 in der Märznummer von Sky & Telescope. Auch dieser Titel, Possible Yucatan Impact Basin, hätte auffallen müssen. „Doch an den richtigen Experten, den Impaktforschern, ging die Botschaft vorbei“, so Köberl. Es bedurfte eines Doktoranden der Universität von Arizona, Alan Hildebrand, der einen entscheidenden Schritt weiterkam. Inzwischen schrieb man das Jahr 1990 und acht Jahre waren vergangen. Hildebrand tat sich mit Penfield und Camargo-Zanoguera zusammen. Gemeinsam veröffentlichten sie 1991 ihre Ansicht, dass der Krater auf der Halbinsel Yucatán liegen müsste, in der Zeitschrift Geology (Nummer 19). Dass es ein Einschlagkrater war, dies belegten geschockte Quarze, die sie in den wenigen noch vorhandenen Proben alter Bohrungen fanden. Schlussendlich meinten sie, dass dieser Impakt wohl das Massensterben an der K/T-Grenze verursacht haben müsste. „This impact may have caused the K-T extinctions.“ Wobei „K“ für Kreide (jüngster Zeitabschnitt des Erdmittelalters) und „T“ für Tertiär (ältester Zeitabschnitt der Erdneuzeit) steht.
Jetzt waren wissenschaftliche Bohrungen gefragt. Hier Drei Bohrkampagnen im wurde zunächst die Universität von Mexiko (UNAM, Chicxulub-Krater Universidad Nacional Autónoma de México) aktiv. Im Frühjahr 1995 wurden in einer ersten Kampagne zwei 700 Meter tiefe Bohrungen gemacht, die Brekzien (Trümmergesteine) zu Tage brachten, wie sie typisch für einen Einschlag sind. „Doch diese Proben waren nicht wirklich für die wissenschaftliche Fachöffentlichkeit zugänglich, die Mexikaner hatten die Hände drauf, aber sie hatten nicht die Möglichkeiten, die man sich gewünscht hätte für die moderne Erforschung“, führt Köberl aus. Dann folgte 2001/2002 eine zweite BohrMikroskopische Dünnschliffaufnahme eines geschockkampagne mit tieferen Bohrungen. ten Quarzes in grobkörnigem Granit bei polarisiertem Das war eine Kooperation zwischen Licht. Die Probe stammt aus der Bohrung (2016) im Chicden Mexikanern (UNAM) und interxulub-Krater (Mexiko) aus 1.159,7 m Tiefe.
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nationalen Experten vom ICDP, dem 1996 gegründeten International Continental Scientific Drilling Program. Damals drang man 1.511 Meter tief in den Untergrund ein, die beiden damaligen Bohrungen lagen am südlichen Rand des Kraters, am Festland der Halbinsel. „Was wir wissen wollten, war: Wie sieht es im Zentrum des Kraters aus, der durch seine Ringstrukturen einzigartig auf der Welt ist“, so Köberl, der dann beim dritten Bohrprogramm gleich zweimal involviert war. Diese dritte Kampagne war eine Kooperation der zwei weltweit großen wissenschaftlichen Bohrprogramme, dem ICDP, zuständig für Bohrungen an Land, und dem IODP (Integrated Ocean Discovery Program) für Bohrungen auf den Weltmeeren. Forscher aus dem Naturhistorischen Museum, so ist einer Presseaussendung vom 8. April 2016 zu entnehmen, beteiligten sich „an einer internationalen Expedition und Offshore-Bohrung am Chicxulub-Krater in Mexiko“. Köberl, der neben seiner Tätigkeit als Generaldirektor des NHM (Naturhistorisches Museum) stets wissenschaftlich sehr aktiv war und ist und in der internationalen Forschergemeinschaft stark vernetzt ist, war hier gleich zweimal maßgeblich bei dieser Bohrung vertreten. Beim ICDP, das den größten Teil des rund 15 Millionen US Dollar teuren Projektes trug, war er als „Principal Investigator“ federführender Antragsteller, aber auch beim IODP war er „Co-Investigator“. Die Bohrung lief unter dem Namen: Expedition 364, Chicxulub K-Pg Impact Crater und wurde von 5. April bis 31. Mai 2016 niedergebracht. Gebohrt wurde im seichten Wasser (zwanzig Meter) von einer Bohrplattform aus bis zu einer Endtiefe von 1.334,69 Metern (unter dem Meeresgrund). Das Kürzel „Pg“ steht für Paläogen (ältester Zeitabschnitt der Erdneuzeit) und ersetzt das vormalige „T“ für Tertiär (ehemaliger Begriff für den ältesten Zeitabschnitt der Erdneuzeit). Die Bohrung wurde am sogenannten „peak ring“, einer erhabenen Struktur des Kraters, angesetzt. Dort waren die Untergrundgesteine durch den Einschlag hoch genug gehoben und daher für die vorhandenen technischen und finanziellen Mittel „seicht“ genug, um sie zu erbohren. Die Bohrproben von 2016 befinden sich nicht in Mexiko, sondern in Bremen (Deutschland). Bei der wissenschaftlichen Beschreibung der Gesteine der Bohrung im September 2016 war mit Ludovic Ferrière ein Meteoritenund Impaktforscher des Naturhistorischen Museums dabei. „Ich selbst hätte mich als Generaldirektor nicht für einen Monat nach Bremen begeben können“, entschuldigt sich Köberl förmlich. Auch wenn eine Reihe von wissenschaftlichen Publikationen dieser 2016er-Bohrung aus dem Kreis der Meteoritenforscher vorliegen, zu Ende ist die Forschung am drittgrößten Meteoritenkrater der Erde noch lange nicht. Erste
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Ergebnisse, die auch von der Mehrheit der Experten getragen werden, berichten von einem Ereignis der Sonderklasse. Allein der Durchmesser des Himmelskörpers (Asteroiden) war enorm, er lag wohl bei rund 10 Kilometern. Köberl zitiert den Himalaya als Größenvergleich. In Wiener Dimensionen wäre das etwa die Luftlinie von Schloss Schönbrunn in Wien Hietzing bis zum Donauturm in Wien Donaustadt. Bei der Frage, was dann passierte, lohnt es sich, das Buch Achtung Steinschlag – Asteroiden & Meteoriten, tödliche Gefahr und Wiege des Lebens von Christan Köberl und dem Wissenschaftsjournalisten Alwin Schönberger (2018) zu lesen. Im Kapitel Der Weltenbrand wird nicht nur der Moment des Einschlags, sondern auch die erste Zeit danach im Detail geschildert. So viel vorweg: Die Erdneuzeit fing denkbar schlecht an. Doch nun zu Details, soweit sie sich aus der Analyse der Gesteine ableiten lassen: Mit einer Geschwindigkeit von 140.000 Stundenkilometern soll der Asteroid aufgeprallt sein. Bereits eine Sekunde nach dem Aufprall war der Brocken nahezu verschwunden; er war verdampft. Es blieb ein rund 40 Kilometer tiefes Loch in der Erdkruste. Die unmittelbare Folge war der Krater mit seinem Zentralberg, der später in sich zusammensackte, und den typischen Ringstrukturen, die ihn so einzigartig machen. Im populärwissenschaftlichen Sprachgebrauch wird der Meteorit gerne als „Dinokiller“ bezeichnet. „Man darf sich nicht vorstellen, dass herumfliegende Gesteinstrümmer die Dinosaurier erschlagen hätten“, erklärt Köberl die Forschungsergebnisse. Vielmehr war der Einschlag Auslöser für weltweite Veränderungen des Klimas. Man könnte sagen: ein schlagartiger Klimawandel, eine Verschlechterung sondergleichen. Folgendes Szenario gilt als weitgehend abgesichert: Die unmittelbare Folge des Einschlags waren riesige Erdbeben. Diese wiederum lösten gewaltige Tsunamis aus, größer, als wir sie vom 26. Dezember 2004 aus dem Indischen Ozean vor Sumatra kennen; damals starben mehr als 200.000 Menschen. Weiter bei Köberl und Schönberger im O-Ton: „Der Feuerball des Impakts schoss glühendes Gestein in die Höhe, das noch in Zehntausenden Kilometern Entfernung herabfiel und Wälder in Brand setzte.“ Die Folge waren riesige Wolken- und Aschenansammlungen in der Atmosphäre, der Himmel verdunkelte sich. Achtzig Prozent der wärmenden Sonnenstrahlen wurden reflektiert: Es begann der Impaktwinter. Um fünfzehn Grad, so die Berechnungen der Forscher, soll es kälter geworden sein. Ein Klimawandel, wie er schneller nicht hätte kommen können. Doch das war noch lange nicht alles. Durch den Ruß in den oberen Atmosphärenschichten kam es dort zu einem massiven Temperaturanstieg von bis zu
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Die Künstlerin Dona Jalufka hält den Aufprall des Asteroiden fest, der den Chicxulub-Krater verursachte.
200 Grad. Das führte dazu, dass die Ozonschicht „für geschätzte sieben Jahre erheblich ramponiert wurde“. Schädliches UV-Licht drang ein. „Es wurde immer heißer. Denn das Kohlendioxid, das der Impakt in die Luft geblasen hatte, sammelte sich in der Atmosphäre. Kaum hatte sich der Staubvorhang gelichtet, verursachte das CO2 einen starken Treibhauseffekt, der für Tausende Jahre anhielt und eine wesentlich massivere globale Erwärmung auslöste als heute“, so die beiden. Dass all das für die Lebewesen auf der Erde nicht verträglich war, muss jetzt wohl kaum mehr erläutert werden. Das Massensterben, der Faunen- und Florenschnitt, führte zum großen Artensterben. Die Dinosaurier, eine Reptiliengruppe, die während des gesamten Mesozoikums, des Erdmittelalters, das Land dominiert hatte, waren schlagartig verschwunden. Doch die damals noch unterrepräsentierten und kleinen Säugetiere nutzten die freigewordenen Lebensräume und wurden zu den neuen Beherrschern des Känozoikums, der Erdneuzeit. So wurde Chicxulub mit seinem Krater, der in der Tiefe verborgen ist und nur durch Bohrungen „sichtbar“ wurde, in gewisser Weise zur Wiege neuen Lebens.
Einmalige Erfolgsgeschichten: Schöllnberger, Schollnberger und Schlumberger
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Neben natürlichen Inseln, zu denen auch Halbinseln Einmalige Erfolgsgeschichten gehören, gibt es auch künstliche Inseln. Als Geologe Schöllnberger, Schollnberger denke ich an Bohrinseln, an jene Stahlkonstruktiound Schlumberger nen, die auf Stelzen stehend oder verankert am Meeresboden nach Erdöl und Erdgas bohren. Auf diesen hoch technisierten und komplexen Gebilden herrschen strenge Sicherheitsvorkehrungen, gearbeitet wird im Schichtbetrieb rund um die Uhr, sieben Tage die Woche. Die Verbindung zum Land erfolgt fast ausschließlich mit dem Hubschrauber. Die dortige Arbeit von Bohrarbeitern und Geologen könnte – um ein Bild vom Festland zu strapazieren – mit der auf einer Intensivstation in einem Krankenhaus verglichen werden. Wie viel Platz hat hier noch die menschliche Komponente? Mit persönlichen Erfahrungen kann ich nicht dienen, ich muss einen Kollegen fragen, der sich hier auskennt. Und der ist rasch gefunden. Aufmerksame Leser der Wiener Zeitung werden ihn Wolfgang Schollnberger, als Analysten der Erdöl- und Erdgasbranche kennen: Wolfgang Erdölgeologe. Schollnberger. „Wolfgang Schollnberger hat mehrere Jahrzehnte für Shell, Amoco (American Oil Company) und BP (damals British Petrol) in mehr als fünfzig Ländern gearbeitet. Der gebürtige Österreicher war auch Vorsitzender der International Association of Oil and Gas Producers (IOGP) in London sowie Honorarprofessor an der Montanuniversität in Leoben [Steiermark]. Er lebt in den USA.“ So sein Kurzbiogramm, das die Wiener Zeitung zu jedem seiner Artikel samt Bild abdruckt. Mir als Bibliothekar ist er als Schöllnberger bekannt, er hat im Wintersemester 1964/65 an der Universität Wien begonnen Geologie zu studieren. Seine Dissertation am Südrand des Toten Gebirges im Salzkammergut ist 1971 vollendet und 1973 publiziert worden. Betreut wurde er damals von Wolfgang Schlager, der 1972 zu Shell, der renommierten Erdölfirma nach Den Haag in Holland ging. Schöllnberger folgte ihm oder, wie es sein Studienkollege Wolfgang Vetters (1944–2017) damals formulierte: „Der Schöll geht zur Shell“. Und hier liegt auch der Schlüssel zur Namensänderung, die er mir – via E-Mail – erklärt: „Zum Namen: Bin seit 1992 (500 Jahre nach Christoph Columbus) US-amerikanischer Staatsbürger, nicht mehr Österreicher. Bei der Einbürgerung kann sich jeder den Namen geben, den er/sie will. Da Oe-Punkte im Englischen schwierig sind und meine Frau als Holländerin ‚oe‘ wie ‚u‘ aussprechen würde, was phonetisch wenig passend wäre, haben wir einfach aus ‚Schöllnberger‘ ‚Schollnberger‘ gemacht. Das ist seither der einzige und offizielle Name.“ Und darauf legt er großen Wert: „Bitte niemals ‚Schöllenberger‘ oder ‚Schollenberger‘ schreiben! Ich habe die Schreibung ‚Schollnberger‘ aber schon seit 1972 öfters verwendet. Mein
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Rufname im Gymnasium in Linz [Matura/Abitur: 1963] war ‚Schölli‘, auf der Uni Wien variabel ‚Schöll‘ oder ‚Schö‘.“ Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten sollte Schollnberger eine Bilderbuchkarriere machen. Wenn auch nicht vom Tellerwäscher zum Präsidenten, so vom profund ausgebildeten Geologen mit Tätigkeiten im Gelände und auf Bohrinseln bis hin in die Vorstandsetage. Er war Vizepräsident für die amerikanische Firma Amoco, eines der weltweit größten Unternehmen der Erdöl- und Erdgasbranche, das später mit der britischen Firma BP fusionierte. Dass er die amerikanische Staatsbürgerschaft annahm, geht auf die 1960er-Jahre zurück. Damals arbeitete er im US-Bundesstaat Montana als Lagerstättengeologe bei der Suche nach Erzen. Im Rückblick hat er damals gute Erfahrungen gemacht: „Das Land, seine Leute und seine demokratische Verfassung und die relative Unkompliziertheit des hiesigen Lebens faszinierten mich einfach.“ Ob er heute, unter Präsident Donald Trump, ebenfalls amerikanischer Staatsbürger werden wollte, frage ich mich. Dass Schollnberger Geologie studieren würde, war ihm schon im Gymnasium klar geworden; zum einen hörte er gerne den Erzählungen seiner Mutter zu, deren familiäre Wurzeln im deutschen Bergbau, und zwar im Mansfelder Kupferschiefer waren. Sie berichtete gerne vom Bergbau „als Quelle von Wohlstand, aber auch als Ursache und Ort von Grubenunglücken und wilden, gewalttätigen Streiks“, was den jungen Wolfgang faszinierte. Als er dann im Dezember 1959 als Vierzehnjähriger die Geologische Karte Linz und Umgebung im Maßstab 1 : 75.000 von seinen Eltern als Weihnachtsgeschenk bekam, wurden die Weichen seiner beruflichen Zukunft gestellt. Oder wie er es selbst formuliert: „Es war mir schon als Gymnasiast klar, dass während meiner Lebzeit zuerst Erze, dann Öl und Gas und später Wasser eine große wirtschaftliche Rolle spielen werden. Immer der angewandten Geologie zugetan, bin ich dann in die Petroleum-Geologie eingestiegen; ‚the rest is history.‘“ Als er dann anfing bei Shell zu arbeiten, führte ihn sein Weg bald ins westliche Mittelmeer, dort stand kein Badeurlaub auf der Agenda, sondern geologische Arbeit auf einer Ölplattform vor der spanischen Küste. Hier erinnert er sich an eine Begebenheit, die mit seinem Namen zusammenhängt. „Wenn du auf die Bohrinsel musst, ist das entweder per Schiff oder in einem Helikopter. Am Schiff giltst du nicht mehr als ein Gepäckstück, sie bringen dich mit dem Bohrgestänge, mit all dem Nachschubmaterial, dem Zement für das Bohrloch, den Lebensmitteln usw. auf die Insel. Ich war in der glücklichen Lage, dass ich immer mit dem Heli fliegen konnte. Und da musst du wie bei einem echten Flughafen an Land einchecken“, erläutert Schollnberger die Routine der Leute auf Bohrinseln. „Einmal, ich erinnere mich noch genau“, fährt er fort, „wurde ich wie üblich gefragt beim Check-in meinen Namen, mein Gewicht und das Gewicht meines Gepäcks in die Passagierliste einzutragen. Also trug ich meinen Namen ein. Der Mann, der mir die Liste gab, war ganz entrüstet, ‚Ihren Namen und
Einmalige Erfolgsgeschichten: Schöllnberger, Schollnberger und Schlumberger
Die Bohrinsel Medusa im Mittelmeer, auf der Wolfgang Schollnberger 1976 als Geologe tätig war.
nicht den der Firma‘, fuhr er mich an. Er hatte ‚Schlumberger‘ statt Schollnberger gelesen“. Dazu muss man wissen, dass die Firma Schlumberger mit mehr als 100.000 Beschäftigten im Bereich der Erdölindustrie das weltweit größte Unternehmen ist, das sich auf Bohrlochmessungen und andere geophysikalische Untersuchungen spezialisiert hat. Als Schollnberger auf die Liste deutete und sagte, dass das sehr wohl sein Name sei, hieß er ihn willkommen und wünschte ihm einen guten Flug: „Wel come, Mr. Schlumberger, to our humble facility, we hope you have an excellent flight!“ Schollnberger wurde bei diesem Flug wie ein VIP-Gast behandelt. Auf Bohrplattformen ist der Bohrmeister („Tool Pusher“) die oberste Autorität. Das sind erfahrene Männer, die sich über Jahre hochgearbeitet haben. Viele haben Gesichter, die von Wind und Wetter gegerbt und zerfurcht sind, meist sind sie vom üppigen Essen auf der Bohrinsel etwas dicklich. Auch wenn sie schrullig sind, gehören sie doch zu den gutmütigen Menschen, die reich an Lebenserfahrung sind. „Wann immer ich auf eine Bohrinsel kam, war mein erster Weg zum Bohrmeister, wo ich mich als Geologe der Ölfirma vorstellte“, so Schollnberger. „Fast jedes Mal hat mich der von oben bis unten angeschaut und gesagt: ‚der Bart muss weg!‘ Das war ja auch verständlich, denn wenn es zu einer Gaseruption auf der Bohrinsel mit giftigem Schwefelwasserstoff
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(H2S) kommt, dann heißt es, Gasmasken aufsetzen“, erklärt der Geologe den Hintergrund der Bohrmeisteranordnungen. Bärte verhindern, dass der Gummi der Gasmaske dicht am Gesicht sitzt, somit wäre kein Schutz gegeben. Doch eine Rasur war für Schollnberger keine Option. „Den Bart, den ich seit meinen beiden Forschungsexpeditionen in Grönland 1970 und 1972 trage, als ich damals Metalle aus der Gruppe der Seltenen Erden [Scandium, Lanthan, Cer, Yttrium, …] suchte, wollte ich um keinen Preis abrasieren. Doch mit ein wenig Stutzen und Rasieren im Halsbereich konnte ich noch jeden Bohrmeister überzeugen“, schmunzelt Schollnberger, der bis zum heutigen Tage seinen Bart trägt. Eine andere Begebenheit erzählt er ebenfalls nicht ohne Grinsen. „Eines Tages kam ich auf eine Bohrplattform, dort bezog ich wie gewohnt meine Koje. Da lagen geologische Unterlagen, Bohrprofile, Pläne und dergleichen, die von einem Bohrloch in der Nähe stammten. Dies hatte der Geologe einer anderen Ölfirma, die vorher diese Bohrplattform genutzt hatte, sichtlich vergessen“, wundert sich Schollnberger noch heute. Doch er tat, was sich gehörte, er steckte alle Unterlagen in ein Kuvert und schickte sie an die besagte Firma, die natürlich in Konkurrenz mit seiner Firma (Shell) stand. Doch die Geschichte wäre nicht komplett ohne diesen Nachsatz: „But not before I had made copies of every single piece.“ Durch die Vergesslichkeit des Kollegen hatte er einen entscheidenden Informationsgewinn vom Konkurrenten erhalten – das passiert nicht alle Tage! Nach seiner Karriere als Geologe auf Bohrplattformen ging Schollnberger im Jahr 1979 von Shell zur Amoco. Hier war er federführend bei der Entdeckung von Öl- und Gasfeldern in deren Konzessionsgebieten beteiligt. Seine große Zeit kam nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Im Jahr 1989, erzählt er im Rückblick und fällt wieder ins Englische, damals war ihm die Ehre zuteilgeworden, für Amoco neue Regionen für die Exploration zu erkunden. „I was handed the privilege to lead Amoco to new areas. Just as the Iron Curtain was coming down.“ Sein Arbeitsplatz war nicht mehr die Bohrinsel, sein Schreibtisch stand nunmehr in der Chefetage. Zunächst war er als „VP Worldwide New Ventures“, später als „Senior Vice President Technology“ zuständig für den Einsatz modernster Technologien nicht nur im Explorations- und Produktionsbereich, sondern auch in den Raffinerien und chemischen Fabriken der Amoco. Mit seinem Expertenwissen wurde er zum reisenden Verhandler, er unterzeichnete Verträge und traf hohe Regierungsvertreter zahlreicher Länder rund um den Globus. So verwirklichte er auf höchster Ebene sein Verständnis für Geologie: Probleme zu lösen und Rohstoffe zu finden. Wer ihn je traf oder bei einem seiner Vorträge hörte, wird dies bestätigen: Das Wissen, der Weitblick und das Charisma des Bartträgers sind mitreißend. Wahrscheinlich ging es Nelson Mandela (1918–2013) am 7. Dezember 1991 ebenso. Damals trafen einander die beiden Männer in Houston im US-Bundesstaat Texas, um über zukünftige Geschäftsbeziehungen zu beraten. Auch Schollnberger hat
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Nelson Mandela am 7. Dezember 1991 in Houston: „Mr. Schollnberger, hope to see you next time in South Africa; we like you to invest together with us in our abundant natural resources after the regime has changed - and I promise you: change will come!“
den Handschlag mit dem großen Humanisten Mandela, der am 11. Februar 1990 aus der Haft entlassen worden war, Präsident des Afrikanischen Nationalkongresses (1991–1997) war und 1993 den Friedensnobelpreis erhielt, in bleibender Erinnerung behalten. Solche Momente gibt es nicht oft. Wer meint, der Austroamerikaner Schollnberger wäre angesichts derart prominenter Begegnungen überheblich geworden oder hätte gar seine Heimat vergessen, irrt. Als er erfuhr, dass das Grab von Alexander Tollmann (1928–2007), einem renommierten Universitätsprofessor für Geologie, der ihn wie auch mich die Geologie Österreichs und der Alpen lehrte, in Gefahr war, aufgelassen zu werden, handelte er prompt. Er überwies einen namhaften Betrag, sicherte damit nicht nur den Weiterbestand des Grabes am Gersthofer Friedhof in Wien Währing, sondern auch noch den dazugehörigen Blumenschmuck.
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Auf dem Weg zum Ziel
Drei Bohrkampagnen im Chicxulub-Krater
Auf dem Weg zum Ziel Zeitvertreib, Zeremonien und Zwischenfälle
Wie ich den Nachlass Wolfgang Pillewizers (1911–1999) sichte, fallen mir zwei große schwarze Fotoalben im Querformat auf. „Karakorum-Expedition 1954 gewidmet meiner lieben Frau, die tapfer ausharrte“, schrieb er auf die erste Seite. Die Alben sind voll mit Erinnerungen an die DÖHKE, die Deutsch-Österreichische Himalaya-Karakorum-Expedition des Alpenvereins. Ethnologen würden sich über die Vielfalt der Bilder aus dem Karakorum freuen. Hier Mohammed Jamal Khan, der stolze Mir von Hunza, da die Szenen eines wilden Polospiels, dann die Musikkapelle der Gilgit-Scouts, vor denen ein kleiner Steinbock posiert, zottelige Yaks, schwankende Hängebrücken dreißig Meter über dem Hunza River und schließlich ein Kreuz aus Birkenholz, das an Karl Heckler erinnert, der am 26. Juli 1954 tödlich verunglückte. Die Bilder der ersten fünf Seiten zeigen die Verabschiedung in München, das Einschiffen der elfköpfigen Truppe von Forschern und Bergsteigern im italienischen Genua. Dann folgen Aufnahmen an Bord. Forscher wie Bergsteiger, egal ob im Querformat oder Hochformat, sind stets gut gekleidet, lachen voller Vorfreude, mal stellt sich der Kapitän zu ihnen und lässt sich mit ihnen ablichten. Erinnerungsbilder wie aus dem Familienalbum. Doch irgendwie bleiben meine Gedanken just an den Bildern der ersten Seiten hängen. Mir kommen sie keineswegs belanglos vor. Ein scheinbar völlig nebensächlicher Aspekt beginnt mich zu beschäftigen. Was haben die Herren die ganze Zeit an Bord gemacht, sieht man von ein paar Landausflügen ab? Sie hatten ja immerhin rund zwei Wochen Zeit, ehe sie in Pakistan an Land gingen, und selbst dann waren sie noch nicht am Ziel ihrer Reise, dem Hunzatal im Karakorum. Generell frage ich mich: Was machten einst Forscher auf oft wochenlangen Anreisen auf dem Weg zum Ziel? Heute stellt sich diese Frage kaum, denn im 21. Jahrhundert wird geflogen. Ein Flug von München nach Karatschi mit einem Zwischenstopp dauert knappe zehn Stunden, wobei hier drei Stunden Zeitverschiebung einzuberechnen sind. Da bleibt Die Novara legte von 1857 bis 1859 auf ihrer Reise um die Welt 51.686 Seemeilen zurück.
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Auf dem Weg zum Ziel
Von Triest brach am 30. April 1857 die Novara unter dem Kommando des Kommodore Bernhard von Wüllerstorf und Urbair zu ihrer Weltumsegelung auf, hier lief sie am 26. August 1859 wieder ein.
Großer Abschiedstrubel am Münchener Hauptbahnhof
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höchstens Zeit für ein paar Selfies und SMS. Im Jahr 1954 wählte das Expeditionsteam der DÖHKE Bahn und Schiff. Die Hinfahrt begann am 28. April 1954 am Münchener Hauptbahnhof und endete zunächst am 12. Mai um 10 Uhr in Karatschi, wo alle Blumenkränze umgehängt bekamen. Gängige Urlaubsklischees oder doch mehr? Ich spinne den Gedanken der Anreise weiter. Was macht man, wenn man fast nur unterwegs ist? Wenn die Anreise länger dauert als der angestrebte Aufenthalt vor Ort. Ich denke an die Weltumsegelung der Fregatte Novara, jenes Prestigeprojekt der späten 1850er-Jahre, das selbst im 21. Jahrhundert noch Fragen für Forscher offenlässt. Der stolze Dreimaster stand unter dem Kommando des Kommodore Bernhard von Wüllerstorf und Urbair (1816–1883), ihm waren unmittelbar sieben Offiziere unterstellt. Ebenso waren an Bord: ein Schiffsverwalter und Kassier, vier Ärzte, ein Schiffskaplan, ein Mechaniker und vierzehn Marinekorps-Kadetten. Die eigentliche Mannschaft bestand aus 317 Mann. „234 Mann Bootsleute, Matrosen und Schiffsjungen, 33 Mann Infanterie, 14 Mann Artillerie, 16 Handwerker, 2 Köche, 2 Speisemeister, 9 Privatdiener und 7 Mann Musik.“ Nachzulesen im dreibändigen Novara-Werk von Karl von Scherzer (1821–1903), das in den frühen 1860er-Jahren erschien. Unter den mitreisenden Naturforschern befand sich der Geologe Ferdinand von Hochstetter (1829–1884), just an seinem 28. Geburtstag am 30. April 1857 verließ die Fregatte Novara den Hafen in Triest. Neben seinen geologischen Forschungen war er auch ein eifriger Chronist auf hoher See. Nach einem Jahr resümiert er: „Wenn ich den Seeweg, der hinter uns liegt, von Mittagspunkt unserer Fahrt zu Mittagspunkt zusammenrechne, so ergibt sich die nicht geringe Anzahl von 20.773 Seemeilen, und wenn ich die Tage zusammenzähle, die wir zur See zugebracht, so sind es 238 Tage, 2/3 des Jahres, 127 Tage bleiben für die Aufenthalte am Land, für 9 verschiedene Stationen, deren Bilder in der Erinnerung vorüberziehen, fast wie Traumbilder. Die Küsten schon von drei Welttheilen hat Oesterreichs Flagge begrüßt.“
Zurück nach München, an den Hauptbahnhof. Am Großer Abschiedstrubel am 28. April 1954 wimmelte es nur so von Menschen. PilMünchener Hauptbahnhof lewizer, der Expeditionsleiter, notierte in seinem Tagebuch: „Abschiedstrubel am Münchner Hauptbahnhof. In der Menschenmenge gehen diejenigen verloren, von denen man sich gerne verabschiedet hätte. Hias [Mathias (Hias) Rebitsch, 1911–1990] kämpft gegen Mikrophone und Kameras, aber das große Aufgebot von Münchner Bergsteigern, die zum Abschied gekommen sind, ist doch rührend.“ Wie nicht anders in Bayern zu erwarten, floss viel Bier, man meinte es gut mit den Forschern, stellte ihnen noch einige Kartons mit Bierflaschen ins Abteil, Maßkrüge inklusive. „Wie sollen wir das bis zur Grenze leer bringen?“ Es waren dann die Zöllner in Kiefersfelden und Kufstein, die sich über geschenkte Maßkrüge freuten.
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Auf dem Weg zum Ziel
Frohen Mutes besteigen Wissenschaftler und Bergsteiger der DÖHKE am 30. April 1954 in Genua die Victoria.
Beim Stopp in Innsbruck gab er der Tiroler Tageszeitung ein Interview. Die Weiterfahrt erfolgte über den Brenner, um Mitternacht wurde die Lok gewechselt, über Verona und Mailand ging’s nach Genua (Ankunft 9 Uhr). Von Expeditionsstress war hier noch keine Spur. Nach einer Stadtrundfahrt genoss man mediterrane Küche. „Am Endpunkt setzen wir uns in ein Lokal am Hafen zwischen aufgebockten Segelbooten, trinken Wein und essen Frutta di Mare, gebackene Tintenfischarme, Krebse und Muscheln.“ Am 30. April erfolgte die Einschiffung auf der Victoria, „ein ganz neues 11000 Tonnen Schiff des Lloyd Triestino“. Folgen wir den Forschern und begleiten wir sie nach Karatschi. Der Expeditionsleiter Wolfgang Pillewizer hielt, wie auch die anderen Expeditionsteilnehmer, persönliche Eindrücke in Tagebüchern fest: „[30. April]: Dann gehts hinaus ins tyrrhenische Meer, der Abend kommt und unsere erste Nacht an Bord bricht an. Nach dem Abendessen noch etwas Tanz mit Anita und 2 deutschen Frauen, von denen die eine mit ihrem Buben nach Singapore zu ihrem Mann und die andere nach Kabul zur Verheiratung fährt.“ Am 1. Mai, einem Samstag, legten sie morgens in Neapel an und gingen erstmals an Land. Auch hier wurde der Tag der Arbeit gefeiert. „Aber keine roten Fahnen; die Maifeiern haben auch, wie auf den Plakaten zu lesen ist, mit Messen in den Kirchen begonnen, die Menschen tanzen auf den Straßen zu den Klängen der Musikkapellen, alles ist fröhlich und kein Fanatismus ist zu spüren. Leider sind alle Geschäfte und Banken geschlossen, so daß ich kein Geld einwechseln kann.“ Abends legte die Victoria
„Frißt wie ein Bergsteiger!“
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ab, am Kai winkten Eugenie („Generl“) und Hermann Buhl (1924–1957). Hermann Buhl hatte am 3. Juli 1953 mit der Erstbesteigung des Nanga Parbat (8.125 Meter) Alpingeschichte geschrieben. Im Herbst 1954 war Buhls Expeditionsbericht als Buch 8000 drüber und drunter herausgekommen; Pillewizer hatte es in seiner Bibliothek. Die Frage, was man den ganzen Tag an Bord macht, beantwortet uns Karl Hecklers Tagebuch. Zunächst fand er für das Schiff lobende Worte: „Sehr gute techn. Einrichtungen. Klimaanlage. Sie liegt sehr ruhig im Wasser. Unsere Kabinen für vier Männer sind gut u. geschmackvoll eingerichtet mit Dusche und Clo. Schöne Gesellschaftsräume und vor allem ausgezeichnetes Essen. Thornton Wilders ‚Frau aus Andros‘ gelesen – Deckgolf – erste Gespräche mit anderen Passagieren. Das Schiff ist nur schwach besetzt.“ Pillewizer hielt Details über Mitreisende fest, die ihm ins Auge stachen. „Sonst sind an Bord noch ein Haufen Klosterschwestern und Geistliche aus ostasiatischen Missionen, dann eine Reihe von Indern, darunter eine rassige Frau mit wunderschönen bunten Saris (den Umschlag- und Wickeltüchern), die über europäischer Kleidung getragen werden. Ihr Mann schaut trotz europäischer Kleidung aus wie der Sohn eines Maharadschas. Andere Inderinnen ebenfalls in bunten Saris tragen als Kastenzeichen einen roten Fleck auf der Stirn.“
Ein angekündigtes Naturschauspiel, das am 2. Mai in „Frißt wie ein Bergsteiger!“ aller Früh Abwechslung geboten hätte – die leuchtenden Eruptionen des Stromboli –, blieb aus. „Um 5 h früh werden wir auf Wunsch geweckt, um den Stromboli sehen zu können. Auf Deck versammelt sich, Mantel über dem Pijama [sic!], die halbe Expedition; aber der Vulkan spuckt nicht, trotz gegenteiliger Versprechungen von Jochen Schneider.“ Der erwähnte Jochen Schneider (1923–2006) war der Expeditionsgeologe; er hatte in Sachen Stromboli zu viel versprochen. Doch immerhin wurde die elfköpfige Expeditionstruppe dem Kapitän vorgestellt, „ein alter Österreicher, unterhält sich lange mit uns und bietet in allem seine Unterstützung an“. Er fand die Truppe sympathisch und wies den Obersteward an, dass die Männer essen könnten, so viel sie wollten. Heute würden wir sagen „all you can eat“. Freilich, die Deutschen und die Österreicher hatten gar nicht erst auf diese Einladung gewartet: „Allerdings hatten wir das vorher schon getan, Heckler prägte den Ausdruck: ‚Frißt wie ein Bergsteiger!‘“ Sie ließen sich das nicht zweimal sagen und genossen die kulinarische Vielfalt, die in großer Menge angeboten wurde. „Zur Erholung von diesen Strapazen spielen wir Tischtennis und Shuffleboard mit großartigen Sprüchen von Heckler“, notierte Pillewizer. Die Frage, was hier gegessen wurde, „beantwortet“ ein Brief von Pillewizer, den er auf der Fahrt durch den Suezkanal am 5. Mai an seine Frau schrieb. Er zeigt sich voll Reue, dass er so viel isst und bekennt: „Heute habe ich mein Essen eingeschränkt,
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Auf dem Weg zum Ziel
An Bord der Victoria wurden Pillewizer (Zweiter von links) und seine Mannen kulinarisch verwöhnt.
denn es geht nicht an daß ich täglich folgende Massen vertilge.“ Zum Frühstück (von 7 bis 9 Uhr) aß man „Porridge, zwei Spiegeleier mit Schinken, Brötchen, Butter, Marmelade, Kaffee, Tee oder Kaokao [sic!]“. Um 12 Uhr folgte das Mittagessen, von dem sicher auch keiner hungrig vom Tisch ging. Es gab: „Vorspeise (kalte, pikante Sachen, Thunfisch etz.), Suppe, Spaghetti (Pasta asciutta), Curry-Reis mit Hammel oder Huhn, Braten oder Schnitzel mit Beilagen, Torte, Eis, Obst, Käse, Kaffee“. Offen bleibt für mich die Frage: Was wurde dazu getrunken? Jedenfalls wären nach dieser üppigen Speisenfolge ein Schnaps und ein Mittagsschläfchen angebracht. Zumindest wäre das mein Wunsch. Relativ „bescheiden“ nahm sich der Tee um ½ 5 Uhr aus. Man reichte: „Tee oder Kaffee, Keks, Toast, Butter, Marmelade“. Doch mit dem Abendessen kam wieder die nächste große, wenngleich auch nicht neue kulinarische Herausforderung auf die Männer zu: Es gab um 7 Uhr abends „ungefähr dasselbe wie zu Mittag“. Was bleibt mir anderes übrig, als meine Empfehlung vom Mittag zu wiederholen? Ich sage nur wieder: Verdauungsschnaps! Abends, als die Musik aufspielte, wurde Pillewizer wehmütig. „Ich habe mir aus der Bordbücherei das Buch vom Annapurna, dem 1. Achttausender geholt und lese es am Nachmittag. Am Abend spielt die Bordkapelle zum Tanz, die Damen sind aber in starker Minderzahl, da fast lauter Klosterschwestern und Inderinnen da sind. Ich sitze lieber am Heck des Schiffs und blicke in den großartigen Sternhimmel, das Bugwasser rauscht geheimnisvoll, ich wollte nur, es wäre meine Frau bei mir.“ Ähnlich erging es
Unterhaltung im Roten Meer: „Deutsche Soldatenlieder“
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auch Heckler. „Oft denke ich daran, mit Maria bald einmal eine Mittelmeerfahrt zu machen.“ Bevor sie in Port Said in Ägypten abermals an Land gingen, gab es vormittags Rettungsübungen an Bord. Alle mussten für den Fall des Falles das Anlegen von Schwimmwesten üben. „Insbesondere gelungen sehen dabei die kleinen Kinder aus.“ Heckler hat seine eigene Sichtweise: „Ein eigenartiges Bild, Inder im grünen Turban oder im farbigen Sarong mit der dunkelroten Schwimmweste.“ Jedenfalls war es bunt und abwechslungsreich und blieb allen in Erinnerung. Zur Belohnung durfte an Bord gebadet werden. „In das Schwimmbecken wird Meerwasser eingepumpt und wir nehmen unser erstes Bad, obwohl das Wasser gar nicht so übertrieben warm ist. Am Nachmittag sitzen alle und schreiben ihre erste Heimatpost, die in Port Said abgehen soll.“ Port Said war kein guter Boden für die Europäer, wie Pillewizer berichtete: „Schließler [1929–2008] hatte aber doch ein unangenehmes Erlebnis; als er einen Araber zeichnete, zerriß ein anderer ihm das Blatt mit der Zeichnung und erst ich konnte klären, weshalb; wahrscheinlich war es ein fanatischer Moslem, der seiner Religion gemäß die Abbildung des Menschen nicht dulden wollte.“
Nachdem sie den Suezkanal passiert hatten, begann am Unterhaltung im Roten Meer: 6. Mai ein neuer Abschnitt, sie waren nun im Roten „Deutsche Soldatenlieder“ Meer. Hatten sie zunächst gefürchtet wegen großer Hitze schmachten zu müssen, kam es anders, wie Pillewizer schrieb: „An Deck klettert zwar das Thermometer nicht über 30°, es ist aber immer ein frischer Fahrtwind da, und im Schiff ist es direkt kühl, so daß ich abends in unserer Kabine sogar den kalten Luftstrom abstelle. Wir baden und machen Bordspiele, ich lese und am Nachmittag gibts heftige Debatten über den Expeditionsvertrag, wir kommen aber zu einer Formulierung, die alle befriedigt. Die indische Gruppe führt Zauberkunststücke vor, doch es sind einfache Tricks, von indischen Zauberern ist nichts zu merken. Die indischen Frauen sehen prächtig aus in ihren bunten Saris, es ist gelungen zu sehen, wie sie so bekleidet Tischtennis spielen.“ Freilich war das Team der DÖHKE keineswegs passiv und beschränkte sich nur aufs Zusehen. Zu vorgerückter Stunde, vielleicht nach ein paar Gläsern, tauten sie förmlich auf, zumindest interpretiere ich die folgenden Zeilen Pillewizers so: „Abends sitzen wir bis gegen Mitternacht auf dem Bug des Schiffes und singen deutsche Lieder zu Ziehharmonika (Zeitter) und Gitarre (Mayer). 2 Stewardessen, die sehr gut deutsch sprechen, setzen sich zu uns und verlangen immer wieder deutsche Soldatenlieder – Westerwald, Erika usw. Darüber wölbt sich ein unwahrscheinlich prächtiger Sternhimmel.“
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Der Kapitän der Victoria, „ein alter Österreicher“, mit der Expeditions-Crew der DÖHKE.
Das Wetter war für die Jahreszeit noch kühl, für die Wahrnehmung der Europäer aber angenehm warm. Heckler kam hier im Roten Meer voll auf seine Rechnung, er war glücklich, wie er glaubhaft vermittelte. Hier – im Tagebuch von Heckler – wie auch in vielen anderen Tagebüchern zeigt sich, dass Beobachtungen und Aufzeichnungen des Wetters so gut wie immer einen Fixplatz hatten: „Gestern hatten wir 31° C im Schatten u. 34° C in der Sonne. Die Klimaanlage ist aber eingeschaltet. In den Kabinen und Gesellschaftsräumen ist es aber angenehm kühl (20° C). Diese Reise ist überhaupt ein unbeschwerter Genuss. Herrgott, was bin ich für ein Glückspilz u. wie schön kann doch das Leben sein! An Bord ist ein amerikanischer Pianist, der nach Ostasien reist. Er übt jeden Morgen 2 Stunden lang u. ich schleiche mich dann herein und geniesse. Es sind meine Lieblinge, Beethoven, Schubert, Chopin, Tschaikowsky – die Verbindung zur Heimat.“ Im Roten Meer waren die elf Mannen aus Deutschland und Österreich die Günstlinge des Kapitäns. „[Er] lädt uns wieder auf die Brücke ein, wo wir die Durchfahrt durch die Meerenge zwischen Arabien und Afrika gut beobachten können. Mitten in der Straße liegt die englische Insel Perim, ein trostloser kahler Fleck Erde mit militärischen Anlagen, Leuchtturm und stolz wehender britischer Flagge. Wer hier stationiert ist, hat nichts zu lachen, auf der ganzen Insel ist kein grüner Fleck zu sehen. Nach der Durchfahrt biegen wir nach Osten um und fahren unter den hohen Gebirgen Jemens durch Richtung Aden.“ Hier gingen sie abermals an Land. Jeder Landgang war mit Wünschen und Hoffnungen verbunden. Einerseits wurden Briefe mit Reiseeindrücken
„Seit Aden sind wir ein ganz indisches Schiff“
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an die Daheimgebliebenen verschickt, andererseits hoffte man auf Briefe von Zuhause, die man in den großen Hafenstädten postlagernd erwartete. Aden erwies sich diesbezüglich als hoffnungslos. „Leider ist keine Post aus Deutschland eingetroffen, so daß ich seit Beginn der Reise nichts mehr von daheim gehört habe. Wahrscheinlich werden wir die Post, die uns in Port Said und Aden nicht erreichte, in etwa 2 Monaten nachgeschickt erhalten.“ (Tagebuch Pillewizer).
In Aden nahm die Victoria neue Passagiere auf und be„Seit Aden sind wir ein ganz gab sich nach Karatschi. Dazu Heckler: „Seit Aden sind indisches Schiff“ wir ein ganz indisches Schiff. Die Touristenklasse ist nun beinahe voll besetzt; wir essen in zwei Schichten. An Deck wuselt es nur so von kleinen braunen Kindern, zierlichen meist ziemlich schmutzigen Gestalten u. in den Gängen ist ein wenig säuerlicher Geruch. Die Männer laufen in den unmöglichsten Aufmachungen herum. Die kleinen, graziösen Frauen tragen heimische Tracht, den bunten Sari, der von den Beinen über die Hüften um eine Schulter und den Kopf geschlungen wird. Diese Saris werden oft 4 bis 5 mal am Tag gewechselt. Sie sind aus zartester Seide, in leuchtenden Farben mit einem einfachen Saummuster, sehr bunt gemustert oder auch einfarbig. Sie sehen einfach entzückend aus in dieser Tracht. An den Füssen tragen sie Sandalen. Viele Armbänder, lange Ohrringe u. manche Frauen haben auf dem linken Nasenflügel einen kleinen Edelstein sitzen. Die verheirateten Frauen erkennt man an einem kleinen kreisrunden Farbfleck auf der Stirn. Die Angehörigen der einzelnen Kasten sollen äusserlich nicht zu erkennen sein. […] – Am Abend Maschinenschaden. Das Schiff liegt 5 Stunden still. Der Kapitän beruhigt die Passagiere in einer sehr launigen Ansprache, in der er u. a. sagte, sicher würden sich die Herren der Deutschen Karakorum-Exped. über den Zwischenfall freuen, da sie dadurch noch eine weitere Mahlzeit an Bord einnehmen könnten.“ Diese Zeilen schrieb er nach seiner Genesung von der Seekrankheit, die ihn am 9. Mai erwischt hatte. Pillewizer blieb sie erspart. „Im Meer sehe ich die ersten Haifische und Scharen von Delphinen, die über die Wellenkämme springen. Gegen Mittag kommt Dünung auf und ausgerechnet heute hat sich der Kapitän an unserem Tisch zum Essen angesagt. Kaum sitzen wir alle und haben die Suppe gegessen, als Karl Heckler ruckartig blaß aufsteht und den Speisesaal verläßt, er ist seekrank. Dolf Meyer sitzt ebenfalls mit gelbem Gesicht da und muß uns verlassen, obwohl das Schaukeln nur schwach ist.“ Somit blieb ihnen die Abendunterhaltung des 9. Mai versagt. Schade, denn das Programm bot Abwechslung. „In der Bar wird getanzt und dann werden von Passagieren sehr nette MarionettenSpiele vorgeführt. Es sind Czechen, die mit den Puppen nach Indien reisen.“ Die letzten drei Tage vor der Ankunft waren – folgen wir Pillewizers Ausführungen – sicherlich nicht die schlechtesten der Reise.
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„10.5. Weiter längs der arabischen Südküste, ein Faulenzertag. Ich lese das Buch „Tragödie eines Kaisers“, die Geschichte Maximilians von Mexiko aus der Schiffsbibliothek. Das Nichtstun und gute Essen schlägt bei mir so an, daß ich zusehends dicker werde, besonders im Gesicht. Hitze gleichbleibend groß, abends schwül. 11.5. Ein heißer, schwüler Tag auf See, unser letzter auf der Victoria. Tagsüber verbringen wir die Zeit mit Nichtstun und etwas Einpacken, die Kühle der Schiffsräume genießend. Dann an Deck hat es 35° bei großer Feuchtigkeit, die sofort alle Linsen unserer Photoapparate anlaufen läßt. Abends ist Abschiedsdinner, der Kapitän erscheint, wir alle im dunklen Anzug, Abschiedsansprache, besonders gute Betreuung durch die Stewards, die reichliches Trinkgeld erhalten haben (40 englische Pfund = 480 DM.). Abschließend Tanzabend mit Luftschlangen und bunten Kappen, aber zu wenig Damen, da die Inderinnen und Stewardessen nicht in Frage kommen. 12.5. Ankunft in Karachi um 11 h. Sehr heiß, aber windig. Klamert ist da mit Herren der Botschaft und vom pakistanisch-deutschen Komitee, die uns begrüßen und die üblichen Blumenkränze umhängen. An Bord wird nochmals gegessen, Kapitän ist ganz gerührt beim Abschied. […]“
Ein Klassiker fürs Fotoalbum, Blumengirlanden für die Ankömmlinge in Karatschi (Pakistan).
Nachrichten in Echtzeit mit dreimonatiger Verzögerung
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Postmäßig war die Ankunft in Karatschi, wo die Männer im Hotel Bristol wohnten, für Pillewizer eine Enttäuschung. Alle, nur er nicht, bekamen Briefe von ihren Lieben, „Heckler sogar 6 Stück, ich aber nur einen Brief von Frau Dr. von Unruh aus München, die sich darüber beschwert, daß Bernett physiologische Untersuchungen an den Hunzas durchführen will, weil sie das scheinbar gepachtet hat. Ich bin voll Unruhe und Besorgnis, was mit Rosmarie sein mag, denn es ist für mich undenkbar, daß sie mir wirklich noch kein einziges mal geschrieben haben soll. Genau so wie im Krieg brauchen wir die ständige Verbindung mit den Lieben daheim, daher habe ja ich auch so oft geschrieben, als es nur irgendwie möglich war.“ Würde man ein Resümee dieser Seereise ziehen, kämen jene zwei Wochen auf der Victoria, auch wenn dann und wann der Müßiggang von Besprechungen über die bevorstehende Expedition unterbrochen wurde, wohl eher einer angenehmen Kreuzfahrt gleich.
Drehen wir das Rad der Zeit rund hundert Jahre zuNachrichten in Echtzeit mit rück, begeben wir uns an Bord der eingangs erwähnten dreimonatiger Verzögerung Novara. Die Tage auf See waren alles andere als eine Spazierfahrt. Allein die Überquerung des Atlantiks dauerte fünfzig Tage. Neben Tagebüchern sind es Berichte, die der eingangs erwähnte Ferdinand von Hochstetter schrieb und von den großen Seehäfen der Welt nach Wien schickte. Denn auch damals waren Daheimgebliebene und Reisende bestrebt miteinander zu kommunizieren. Ist das heute in Echtzeit möglich, so wurden Briefe zu Pillewizers Zeiten in den 1950erJahren als Luftpost befördert. Im 19. Jahrhundert standen diese Mittel noch nicht zur Verfügung. Wer in Rio de Janeiro einen Brief nach Wien aufgab, musste warten, bis das nächste Schiff den Atlantik Richtung Nordosten querte. Die Berichte Hochstetters wurden, sobald sie einlangten, in der Wiener Zeitung abgedruckt. Jene Briefe, die Hochstetter an seinen Vorgesetzten, den Direktor der k. k. geologischen Reichsanstalt, Wilhelm Haidinger (1795–1871), schickte, wurden bei internen Treffen der Gelehrten verlesen. Zwischen Aufgabeort und Ankunft in Wien lagen viele Wochen, ja sogar Monate. So lesen wir die Erlebnisse der Fahrt von Madeira nach Rio, wo die Novara am 5. August 1857 ankam, in der Wiener Zeitung vom 19. September 1857. Die nächsten Nachrichten gingen vom Kap der Guten Hoffnung in Südafrika, wo die Novara am 2. Oktober 1857 ankerte, nach Wien. Hier trafen sie mehr als drei Monate später ein. Sie sind in der Wiener Zeitung vom 7. Jänner 1858 abgedruckt. Die eigentliche Reisebeschreibung, ein dreibändiges Kompendium mit dem sperrigen Titel Reise der Oesterreichischen Fregatte Novara um die Erde, in den Jahren 1857, 1858, 1859, unter den Befehlen des Commodore B. von Wüllerstorf-Urbair verfasst von Karl v. Scherzer, erschien
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in den Jahren 1861 und 1862. So gesehen waren die Briefe, die mit Schiffen um den halben Globus geschickt wurden und nach Monaten in Wien ankamen, nahezu Nachrichten in Echtzeit. Doch Briefe schreiben war bei Gott nicht tagesfüllend und auch keine Tätigkeit, der alle nachgingen, schon gar nicht das Gros der Mannschaft. Die Tage am Schiff waren straff organisiert, mit militärischem Drill wurden Tagesabläufe, ja selbst Unterhaltung, geplant. Die Novara war als Segelschiff gänzlich den Elementen ausgeliefert. Die Fahrzeiten waren nur schwer prognostizierbar, Flauten und Stürme waren jene zwei Konstanten, denen die Seeleute ausgesetzt waren. Unsere Chronisten Hochstetter und Scherzer überlieferten Eindrücke vom Alltag auf See, der manchmal sehr langweilig, aber auch – wie nicht anders zu erwarten – höchst stürmisch (im wahrsten Sinn des Wortes) sein konnte.
Einblick in die Kajüte Hochstetters gewährt uns der Expeditionsmaler Joseph Selleny (1824–1875). Dieses Bild (S. 130 f.) hat eine spannende Geschichte. Es kam 2013 von der Urenkelin Hochstetters, Heidi Kauffmann, als Geschenk an die Geologische Bundesanstalt. Als ich es aus dem dicken Rahmen herauslöse, um es zu scannen, lese ich auf dessen Rückseite: „Copie. Dr. Ferdinand Hochstetter in seiner Cajüte an Bord der Fregatte ‚Novara‘ auf der Weltumseglungs-Reise gemalt von seinem Reisegefährten Maler Selleny am Ocean im Jahre 1857. Dieses Bild Deines theuren Vaters, Hofrath Dr. Ferdinand Ritter von Hochstetter, widme und überreiche ich Dir, unserem lieben Sohne Egbert, am 70sten Geburtstage unseres Unvergesslichen. Den Rahmen zu demselben liess ich aus dem Holze der nun unbrauchbar gewordenen Fregatte, schnitzen, nachdem ich es mir von der Admiralität in Pola zu diesem Behufe erbeten. Möge dieses Geschenk Deiner liebenden Mutter Dir und Deiner Familie stets ein theures Andenken sein und bleiben. Georgiana von Hochstetter geb. Bengough. Wien, Cottage. 30 April 1899.“ Selleny hielt den Forscher umgeben von unzähligen Messinstrumenten, Büchern und dergleichen fest. Obwohl der Raum ziemlich vollgeräumt ist, macht er doch einen eleganten, ja nahezu gemütlichen Eindruck. Das war wichtig, hier wurde viel Zeit verbracht. Zum einen wurden hier die erlebten Beobachtungen dokumentiert und ausgewertet, zum anderen bereitete sich der Forscher auf kommende Landgänge vor. Auch für die sechsköpfige Gruppe der Naturforscher, zu denen neben dem Geologen Hochstetter der Zoologe Georg von Frauenfeld (1807– 1873), der Präparator Johann Zelebor (1819–1869), der Maler Selleny, der Gärtner Anton Jellinek (1820–1897) und der Botaniker Eduard Schwarz (1831–1862) zählten und denen Karl von Scherzer als Leiter vorstand, galten die strengen Regeln an Bord.
„Die Tageseintheilung auf einem Kriegsschiffe“
„Die Tageseintheilung auf einem Kriegsschiffe“
„Schon beim Beginne der Reise wurden den Naturforschern in Form eines Tagesbefehls Weisungen ertheilt, welchen sie an Bord in dienstlichen Beziehungen nachzukommen hatten.“ Die Novara war als Kriegsschiff ausgerüstet, naturgemäß war hier alles militärisch geregelt. Wer sich ein Bild machen will, möge das Naturhistorische Museum in Wien besuchen. Im ersten Stock steht ein rund zwei Meter langes Modell der Novara. Gleich beim ersten Anblick fallen die zahlreichen Kanonen auf. Ohne sie alle zu zählen, weiß man, dass die Novara in erster Linie ein Kriegsund kein wissenschaftliches Expeditionsschiff war. Putzen und Reinigen waren die wichtigsten Eckpunkte des Tages an Bord. Der Zweck war ein zweifacher: Reinlichkeit aus hygienischen Gründen war ebenso wichtig wie die regelmäßige Beschäftigung der Mannschaft. Das Ritual begann nach dem Ferdinand von Hochstetter, Geologe auf Wecken um 5 Uhr Früh. „Dies ist die geder Novara. schäftigste Zeit des Tages und für den Zuschauer zugleich die unbehaglichste. Ueberall wird gescheuert, gefegt und gereinigt, ganze Fluten von Wasser stürzen auf den Boden der Batterie und des Verdecks, und wer noch nicht genug Vertrautheit mit dieser Waschmethode besitzt, um sich schnell nach einem sichern Punkte zu retten, der läuft Gefahr, sobald er sich außerhalb der vier Wände seiner Cabine nur blicken läßt, sogleich auch tüchtig durchnäßt zu werden. […] Um sieben Uhr erhielten die Matrosen das Morgenbrot, um acht Uhr nahm man das Frühstück an der Officierstafel, um neun Uhr an jener des Commodore ein.“ Danach begann die Reinigung der Waffen, der Kanonen und „überhaupt aller zum Gefechtsposten gehörigen Metaltheile“. Dazu, man würde es nicht glauben, spielte die Bordkapelle „heitere Weisen“. Tagsüber trafen sich Offiziere, Kadetten und Naturforscher im sogenannten Kanonenzimmer, wo sich die „eigens für die Zwecke der Reise zusammengestellte reichhaltige Bibliothek“ befand. Hier war Reiseliteratur zu finden. Keine leichte Lektüre wie auf der Victoria, sondern wissenschaftliche Werke über all jene Länder, die die Novara ansteuerte. Scherzer im Detail: „Die Zeit von zehn bis drei Uhr wurde hauptsächlich mit
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Die tägliche Arbeit der Matrosen auf der Novara bestand in erster Linie aus Reinigungsarbeiten.
Das nobel ausgestattete Zimmer des Kommodore auf der Novara glich einem feinen Gesellschaftssalon.
Ein heftiger Taifun zu Kaisers Geburtstag
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Studien und wissenschaftlichen Arbeiten aller Art ausgefüllt, während sich die Mannschaft mit Exerciren u. s. w. beschäftigte; eine solche Thätigkeit ist zugleich die beste Waffe gegen Heimweh und Langeweile und somit auch das beste Bewahrungsmittel gegen gewisse Leiden, welche vielfach nur die Folge eines unthätigen Lebens sind. Wir glauben auch die Ueberzeugung aussprechen zu dürfen, daß sich die Seekrankheit, dieses hartnäckigste aller Uebel, durch jene wohlthätige Zerstreuung, welche eine ernste fortgesetzte Beschäftigung gewährt, nicht nur vermindern, sondern vielleicht sogar gänzlich unterdrücken lasse. Um zwölf Uhr war die Mahlzeit der Matrosen und Cadetten, um drei Uhr Nachmittags wurde täglich am Officierstische das Hauptmahl gehalten, um halb vier Uhr an der Tafel des Commodore.“
Nicht nur in den Ländern der Monarchie, auch auf Ein heftiger Taifun zu hoher See wurde der 28. Geburtstag von Kaiser Franz Kaisers Geburtstag Joseph I. (1830–1916) am 18. August mit gebotenem Zeremoniell gefeiert. Hochstetter hielt fest: „Der 18. August [1858] brach an mit heiterem Sonnenschein – unseres Kaisers und Herrn Geburtstag! Das Jahr zuvor hatten wir den Festtag in der Kaiserstadt Brasiliens gefeiert. Diesmal waren alle Vorbereitungen getroffen, um durch feierlichen Gottesdienst und durch ein festliches Diner, zu welchem der Commodore seine Officiere eingeladen, diesen Tag auch in offener See würdig zu feiern. Aber die Natur hatte andere Scenen vorbereitet, um den Geburtstag Sr. Majestät des Kaisers in den Annalen der Fregatte ‚Novara‘ zu einem der denkwürdigsten Tage zu stempeln.“ Zunächst musste der geplante Gottesdienst an Deck abgesagt werden, doch um 4 Uhr fand man sich im Kanonenzimmer zum Dinner ein. „Das Schiff wurde so gewaltig hin- und hergeworfen, dass Alles, was nicht festgeschraubt oder seefest gestaut war, in chaotischem Durcheinander von einer Seite zur anderen schob, gleichviel, lebendige Wesen oder leblose Dinge. Die geladenen Gäste selbst, von einer fürchterlichen Roulade überrascht, bildeten mit Stühlen und Fauteuils solch einen chaotischen Haufen. Glücklicherweise zeigte sich, als es einen Moment ruhiger geworden war, dass nur Stühle und Fauteuils die Beine gebrochen hatten, dass wir aber alle unbeschädigt waren. Das war der Anfang des Diners. Die Trümmer wurden festgebunden, und die Gesellschaft nahm an der großen festgeschraubten Tafel, auf der natürlich nichts als das leere Tischtuch halten konnte, Platz, jeder seine Position so seefest machend als nur möglich. Sie werden sich schwer vorstellen können, wenn Sie nicht zur See selbst ähnliche Scenen miterlebt, wie es möglich war, bei solcher Situation zu diniren […].“ Wer meint, die geladenen Gäste hätten sich abbringen lassen, von wegen! Die Kaisertreue war größer als die Kräfte der rauen See. „Gewiss aber ist noch nie an so bewegter Tafel das Geburtsfest Sr. Majestät gefeiert worden, und noch
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Die heftigen Wellen des Taifuns am 18. August 1858 hat die robust gebaute Novara gut überstanden.
nie das begeisterte Hurrah auf das Wohl Sr. Majestät des Kaisers in dieser Art vom Brausen schäumender Wogen und vom Sausen des Sturmwindes begleitet gewesen, wie an diesem Tage auf der ‚Novara‘. Es lag eine eigene Begeisterung in diesem Hurrah, die ihren höchsten Grad erreichte, als die Musik ertönte und sicher und klar trotz des Tobens der Elemente die schönen Weisen der Volkshymne spielte.“ Beim Singen von „Gott erhalte, Gott beschütze, Unsern Kaiser, unser Land!“ wurden damals wohl auch so manche leise Hilferufe von hoher See in den Himmel geschickt. Am 19. August war es keinen Deut besser. „Der ganze Vordertheil des Schiffes war unter Wasser, die Wellen stürzten von allen Seiten auf Deck. […] Der Wind hatte eine solche Stärke erreicht, dass an eine Verminderung der Segel nicht mehr zu denken war, ohne die Mannschaft der augenscheinlichen Lebensgefahr auszusetzen. Es musste dem Schicksal überlassen bleiben, ob die Segel aushielten oder weggeblasen würden.“ Am 20. August um sechs Uhr abends war alles überstanden, ganze 48 Stunden hatte der Spuk gedauert.
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Während des Taifuns im August 1858 war die Novara manövrierunfähig den Naturkräften ausgesetzt.
Apropos Spuk. Es war am 7. Oktober 1858, die Novara Allerlei Abwechslungen hatte soeben die Insel Puynipet (= Pohnpei in Mikroauf hoher See nesien) verlassen, als ein glänzender großer Komet „mit hellleuchtendem Kern und immensem Schweif am westlichen Himmel“ erschien. Diese Himmelserscheinung bot den Matrosen Anlass, hier eine Unheil bringende Erscheinung zu sehen. „Es spukte ja ohnedem schon seit einigen Tagen auf der ‚Novara‘, warum sollte nicht auch noch ein Komet Unheil verkünden?“, so Hochstetter. Was war passiert? Just an des Kaisers Namenstag, am 4. Oktober, hörte man aus dem Inneren des Schiffes ein dumpfes, kollerndes Geräusch, als ob Kanonenkugeln hin und herrollen würden. Man ging der Sache nach, fand aber in den Kugeldepots alles in Ordnung. Doch es hörte nicht auf. Also schaute man abermals, diesmal wohl etwas genauer, und fand die Ursache: Nicht weniger als 300 eiserne Kugeln hatten die Wand des Depots durchgedrückt und waren ins Brotdepot gerollt. Somit war die erste Vermutung, die schon in Richtung Kanonenkugeln als Ursache ging, doch die richtige. Der Querschnitt der Novara zeigt neben der Bewaffnung auch die Vorratskammern und Mannschaftsräume.
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Allerlei Abwechslungen auf hoher See
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Eine andere Abwechslung hatte sich schon im Jahr zuvor am 1. August 1857 ereignet. Man hatte Kurs auf Rio de Janeiro in Südamerika genommen, als plötzlich eine unbekannte Insel, die auf keiner Seekarte eingezeichnet war, auftauchte. Scherzer lässt uns teilhaben, wie sich die Männer auf der Novara „[…] vorsichtig dem Gegenstande [näherten] und versuchten durch Fernrohre dessen Natur zu erkennen. Die entgegengesetztesten, sonderbarsten Ansichten wurden laut, und einige meinten sogar, es sei bloß ein riesiger Albatroß, obschon der vermeintliche Fels den Umfang von mehr als hundert Albatrossen hatte. Als wir endlich dem Gegenstande näher gekommen waren, bemerkte man zwar, daß es ein schwimmender Körper sei, konnte aber denselben doch nicht genau erkennen. Ein Boot wurde nun bemannt, und bald waren wir in der Lage durch den Geruchssinn in Erfahrung zu bringen, daß wir es mit einem todten, wahrscheinlich schon abgezogenen und in Fäulniß übergegangenen Walfische zu tun hatten. Wenige große Vögel schwebten über demselben in der Luft, während eine unzählige Menge von Haifischen sich an dem Aase weideten, und so zu sagen mit Anlauf sich in das Innere des todten Körpers hineinbohrten.“ Als es ihnen gar zu viel stank, kehrten sie zur Novara zurück und waren nun eines Besseren belehrt. Damit war klar geworden, dass vielleicht so manche Inseln auf Seekarten „und die Zahl der Fragezeichen und doubtfuls [fragwürdige Einträge] auf den Karten des atlantischen Oceans“ wohl ähnlicher Natur sein könnten. Hätten sich die Leute von der Novara kein Bild vor Ort gemacht, hätten sie wohl ein Fragezeichen in die Seekarte eingezeichnet. Zu den schrecklichsten Momenten auf See gehört der Ruf „Mann über Bord!“ Nach der Abfahrt vom Kap der Guten Hoffnung war es tatsächlich passiert. „Am 4. [Oktober 1858] Nachmittags nämlich hörte ich“, so Hochstetter, „einen Fall und einen Schrei, einen zweiten dumpfen Plumbs, ein Pfeifen und gleich darauf ein Seitenboot in’s Wasser setzen und Ruderschläge. Da musste Jemand über Bord gefallen sein. Wie ich auf Bord komme, siehe da, der Affe Beri mit erbärmlich kläglichem Gesicht, vergeblich sich abmühend, dem Schiffe nachzuschwimmen und unverrückt der Rettungsboje zurudernd, die für ihn losgelassen worden war. Erbärmlich schreiend, wurde er in’s Boot gezogen, war aber gleich wieder getröstet und verzehrte noch tropfnass mit grosser Gemüthsruhe eine Orange, die ihm gereicht wurde. Das war die erste Lebensrettung, welche die ‚Novara‘ ausführte.“
Ebenfalls für Abwechslung sorgte auf der Novara die Querung des Äquators. Auch heute werden Seeleute einem alten Brauch zufolge „getauft“. Als die Novara am 15. Juli 1857 erstmals im Atlantik den Äquator querte, gab es ein Riesenfest, das am Vorabend angekündigt wurde. Wieder berichtet Scherzer: „Schon bei Sonnenuntergang erschien der als Neptun verkleidete Hochbootsmann, um uns allen zu ver-
Die feierliche Zeremonie der Äquatorialtaufe
Die feierliche Zeremonie der Äquatorialtaufe
Schiffstaufen sind auch im 21. Jahrhundert ein fixes Ritual bei Querungen des Äquators.
künden, daß wir demnächst den Aequator durchschneiden würden. Derselbe hatte zu dieser Vorfeier eine Rede einstudirt, die er aber, gleich so vielen nichtneptunischen Rednern, als es zum Sprechen kam, nur zur Hälfte wußte, hierauf stecken blieb und endlich trotz gekrönter Perrücke und bemaltem Gesichte, trotz Thierfell und Harpune zur grossen Belustigung der Anwesenden in die äußerste Verlegenheit gerieth.“ Doch der Herr Hochbootsmann hatte einen Helfer. „Ein ebenfalls travestirter Matrose, der als Meeresgott galt, half seinem Herrn und Gebieter dadurch aus der Noth, daß er ihm einen vom Bordtischler verfertigten riesigen Sextanten und eine Karte nebst einem kolossalen Cirkel überreichte, mit welchen Mitteln Neptun haarklein zu beweisen suchte, daß wir am nächsten Morgen sein Gebiet betreten würden und er daher nach altem Brauche berechtiget sei, an allen Neulingen, welche zum ersten Male die Linie passirten, die sogenannte Taufe vorzunehmen. Ströme von Wasser ergossen sich, als er kam und ging, von den Mastkörben, in allen Ecken und Enden waren Feuerspritzen thätig, bis er endlich am Fallreep unter Blaufeuer wieder verschwand.“ Nicht nur an Bord wurde gefeiert, auch die Fluten des Atlantiks bekamen etwas ab. „Ein angezündetes und ins Wasser geworfenes Theerfaß sollte noch eine Zeit lang seinen Weg beleuchten, und verhielt sich in der That lange wie ein schwimmender Feuerball auf der spiegelglatten Meeresfläche. Musik und Tanz beendeten die Festlichkeit des Vorabendes, und wir überschritten am Morgen des 15. Juli um drei Uhr in 30° 50’ Länge glücklich den Aequator.“
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Und damit ging es erst richtig los, alles Bisherige sollte sich als Vorspiel erweisen: „Nachmittags nach ein Uhr erschien neuerdings Neptun, diesmal aber mit seiner Gattin (einem verkleideten Artilleriefeldwebel) und seinem Knäblein (einem Schiffsjungen) auf einem wunderlich aufgeputzten Wagen thronend, dessen Unterlage eine Kanonenraperte [= Lafette] bildete. Dieses imposante Beförderungsmittel wurde von sechs Tritonen gezogen, welche auf allen Vieren krochen, während die Bandisten [Musiker] in bunten Fracks und Schwimmhosen, einen rothen Fez auf dem Kopfe, lustige Musikstücke spielten. Der Leser mag sich eine Vorstellung von der grossen Räumlichkeit des Deckes machen, wenn wir bemerken, daß Neptun in seinem Triumphwagen bequem darauf herumfahren und sogar ohne die geringste Schwierigkeit mit demselben umkehren konnte. Götter und Göttinnen, Masken und Spaßmacher, welche letztere ähnlich wie Pantalon und Pierrot in der Pantomime, auch bei der Aequatorialtaufe zur Vollendung des ganzen Schauspieles nicht fehlen dürfen, wogten nun auf dem Decke bunt durch einander und konnten sich nur mit Mühe gegen die Angriffe wehren, welche Morrock, ein großer Jagdhund am Bord, immer wieder auf ihre Waden erneuerte.“ Das Ganze war ein wohl inszenierter, lange vorbereiteter Event, wie man heute sagen würde, man hatte keine Mühen und Mittel gescheut, wie uns Hochstetter wissen lässt: „Die Farben, welche den Leuten zur Ausschmückung ihrer äußeren Erscheinung gegeben wurden, hätten zum Bemalen einer ganzen Theaterdecoration ausgereicht, und daher kamen auch Menschenracen zu Tage, wie sie wohl niemals früher gesehen wurden und welche selbst die Tättowirungen der Marquesas-Insulaner bei weitem an Wunderlichkeit noch übertrafen. Nachdem nun der Beherrscher des Meeres an den Commodore und Commandanten eine kurze Ansprache gerichtet hatte, erklärte er, die feierliche Ceremonie der Aequatorialtaufe vornehmen zu wollen.“ Was folgte, war ein Volksfest, das für alle, vom Kapitän bis zum Schiffsjungen, Abwechslung bot; freilich mag es nicht jeder in gleicher Weise lustig und angenehm empfunden haben, doch das haben Initiationsriten nun mal an sich. Wir lesen weiter bei Scherzer. „Und jetzt begann die Hauptbelustigung, der eigentliche Matrosenspaß, jenes Volksfest zur See, wie es die Kirmes auf dem Lande ist. Gleichviel freiwillig oder gezwungen, mußte sich jeder Matrose mit einer häßlichen Mischung von Theer und Fett einseifen und hierauf mit einem kolossalen Rasirmesser aus Blech abschaben lassen, woran derselbe, gleichsam zur Reinigung, am Vorderdeck in ein großes, an den vier Ecken aufgespanntes Segeltuch geworfen und aus Eimern, Pumpen und Schläuchen mit Strömen von Seewasser übergossen wurde, so daß wörtlich kein Faden am ganzen Körper trocken blieb.“ Dass der Spaß eindeutig auf der Seite der Ausführenden war und nicht derer, die sich der „Taufe“ unterziehen mussten, zeigen folgende Zeilen. „Eine Anzahl von Matrosen und Privatdienern, welche sich um dieser, mehr einer Folter als einem Scherzspiele ähnlichen Belustigung zu entgehen, in verschiedenen
Die feierliche Zeremonie der Äquatorialtaufe
Winkeln des Schiffes versteckt hielten, wurden aufgestöbert, vor das Gericht des Meeresgottes geschleppt und sodann um desto ärger zugerichtet. Mit dem Stabe und den Naturforschern ging Neptun allerdings schonungsvoller um, und wenn man auch nicht leicht ausweichen konnte, von einigen halbnackten, bunt bemalten Matrosen, die in ihrer wilden Toilette vielfach an die Indianerstämme des oberen Mississippi erinnerten, vor Neptun geführt zu werden, so war es doch gestattet, sich durch einen beliebigen Tribut von allen sonstigen Ceremonien loszukaufen. Und wer that dies nicht freudig und bereitwillig, schon der braven Leute willen, welche heute einmal, wie nur selten im Leben, nach Herzenslust sich austoben durften!“ Den Abschluss des Zeremoniells bildete eine riesige Wasserschlacht, womit jedes Kind im Sommer seine Freude hätte. „Als der grösste Theil der Mannschaft die Aequatortaufe empfangen hatte, folgte dieser hydropathischen Feierlichkeit noch ein schauderhaftes Wasserbombardement, das von den Mastkörben herab aus allen nur immer aufbringbaren Gefässen auf das Deck gerichtet wurde. Der Uebermuth, die Ausgelassenheit und Aufregung schienen auf den höchsten Punkt gestiegen, als der Wachposten der Batterie, mitten in dieses Getümmel hinein ‚zwei Uhr!‘ rief. Ein Wort des ersten Lieutenants – und alles kehrte wieder in die frühere Ordnung zurück.“ Somit war die Äquatortaufe vorbei; die erstmals Getauften durften sich nun freuen, bei der nächsten Querung des Äquators die noch Ungetauften ihrerseits zu taufen.
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Die feierliche Zeremonie der Äquatorialtaufe
Wissenschaft ahoi Die Macht zur See
Man würde es heute nicht glauben, doch einst – ich spreche von Zeiten der Monarchie – war Österreich eine Seemacht. Freilich nicht zu vergleichen mit Spanien, Großbritannien oder Portugal, aber immerhin ernst zu nehmen und immer wieder Stolz der Nation. Selbstverständlich tat das offizielle Österreich viel, um auch zu Wasser wahrgenommen zu werden. Und selbst heute sind im Wiener Stadtbild noch markante Hinweise und eindrucksvolle Denkmäler zu entdecken. Dieser Stadtspaziergang führt vom Praterstern ins Obere Belvedere und dann auf den Michaelerplatz in das Zentrum Wiens. Zunächst zum obersten Seehelden der Nation, zu Vizeadmiral Wilhelm Tegetthoff (1827–1871), Kommandant der österreichisch-ungarischen Kriegsmarine: Legendär wurde er als Sieger bei der Seeschlacht zu Lissa am 20. Juli 1866 gegen die Italiener. Verherrlicht wurde er unter anderem durch ein riesiges Denkmal (1886) von Carl Kundmann (1838–1919) und Carl von Hasenauer (1833–1894) am Wiener Prater stern in Wien Leopoldstadt. Es zeigt ihn als 3,5 Meter hohe Bronzestatue auf einer elf Meter hohen Säule, umgeben von allerlei maritimem Beiwerk wie Schiffsschnäbeln (Rostren) und kämpfenden Hippokampen – Fabelwesen zwischen Pferd und Fisch. Dieses Denkmal, das erst zwanzig Jahre nach der siegreichen Schlacht am 21. September 1886 enthüllt wurde, macht dem berühmten Denkmal von Lord Nelson am Trafalgar Square in London alle Ehre. Das Londoner Denkmal ist freilich ein wenig größer, nämlich 51 Meter. Zusätzlich zum Tegetthoff-Denkmal huldigt das 1880 vollendete Ölbild Tegetthoff in der Seeschlacht bei Lissa I von Anton Romako (1832–1889) dem Seehelden. Zu sehen ist es im Barockschloss des Prinzen Eugen (1663–1736) im Oberen Belvedere in Wien Wieden. Das 86,5 mal 47,5 Zentimeter große Ölbild, das zu den Highlights des Hauses gehört, wurde 2010 in einer eigenen Ausstellung, Anton Romako – Tegetthoff in der Seeschlacht bei Lissa, gewürdigt. Obwohl es in dem KunstDas am 21. September 1886 enthüllte Tegetthoff-Denkmal am Praterstern in Wien Leopoldstadt erinnert an jene Zeiten, als Österreich noch eine Kriegsflotte besaß.
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Die Wappen der Adriaseehäfen am Gebäude der damaligen Marinesektion des k. u. k. Kriegsministeriums in Wien.
museum um den Maler ging, stand Tegetthoff nicht nur am Cover des Ausstellungskataloges, er war auch Mittelpunkt der Schau. Das Belvedere bemühte sich festzuhalten: „Seine Zeitgenossen hatten kein Verständnis für dieses Gemälde – erst lange nach Romakos Tod erlangte es zunehmende Berühmtheit, heute gehört es zum Kanon der europäischen Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts.“ Und dann wären noch die beiden Monumentalbrunnen auf dem Michaelerplatz in Wien Innere Stadt. Rudolf Weyr (1847–1914) schuf 1895 Die Macht zur See. Sie befindet sich am Beginn der Reitschulgasse. 1897 wurde dann bei der Schauflergasse Die Macht zu Lande von Edmund Hellmer (1850–1935) enthüllt. Weyr stellte in einer Allegorie die Figur der Austria auf einem Schiffsbug stehend dar, umgeben von Neptun, dem Gott der Meere, und einem gefallenen Giganten, alle aus weißem Laaser Marmor. Als letzter Beweis der damaligen Bedeutung zur See sei das Gebäude der Marinesektion des einstigen k. u. k. Kriegsministeriums in der Vorderen Zollamtsstraße Nr. 9 (Ecke Marxergasse in Wien Landstraße) erwähnt. Eindrucksvoll sind die an der Fassade angebrachten bunten Keramikwappen der damaligen Seehäfen. Und was hat das mit Wissenschaft und Forschungsreisen zu tun? Die großartigen Monumente sind als Betätigungsfelder den Kunsthistorikern und bestenfalls den Materialwissenschaftlern – sofern es um Restaurierungen geht – vorbehalten. Naturwissenschaftler können zur Herkunft der Gesteine beitragen. So besteht das Denkmal Die Macht zur See aus reinweißem Laaser Marmor, der ebenso wie der rosa Baveno-Granit (Steinsäule des Tegetthoff-Denkmals) an den Ufern des Lago Maggiore heute noch in Italien abgebaut wird.
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Wenig oder kaum bekannt ist, dass die unzähligen Fahrten der zahlreichen Schiffe der Kriegsmarine – wenngleich in bescheidenem Ausmaß – auch der Wissenschaft dienten. Allein die regelmäßigen meteorologischen Messungen und Beobachtungen, die penibel gemacht und aufgezeichnet wurden, sind heute wichtige Dokumente. Fragen zum Klimawandel, der uns heute beschäftigt, können nur durch den Vergleich weltweiter historischer Messreihen beantwortet werden. Dazu kommen ozeanografische Messungen wie Wassertiefe und Temperatur, die auch heute noch wesentliche Daten für naturwissenschaftliche Forschungen liefern. Zum Glück war die Besatzung der österreichischen Kriegsmarine keineswegs müßig im Beobachten, Messen und Aufzeichnen. Auf den Routinemissionen kamen diese Aufgaben, wie es Günther Schefbeck in seinem Aufsatz Wissenschaftliche Forschungen der k. (u.) k. Kriegsmarine im Jahr 2014 beschrieb, vor allem Schiffsärzten zu.
In der allgemeinen Wahrnehmung, auch ich dachDamals zu Kaisers Zeiten: te stets so, gilt die Weltumseglung der Fregatte SMS die Wissenschaft an Bord Novara von 1857 bis 1859 als wissenschaftliche Forschungsfahrt. Weit gefehlt! Den Beweis, die historische Realität, fand ich in Band 1 des dreibändigen Novara-Werkes (1861 und 1862). Karl von Scherzer (1821–1903) beschrieb hier auf Seite 2 den eigentlichen Zweck der Mission: „Der Hauptzweck der Expedition, welcher vor Allem im Auge behalten werden sollte, bestand darin, den eingeschifften Officieren und Cadetten Gelegenheit zur Erwerbung jener praktischen Kenntnisse im Seewesen zu bieten, um sich den Schiffsdienst aufgrund theoretischer Vorstudien in seiner ganzen Ausdehnung eigen zu machen, und dadurch Kräfte zur tüchtigen Entwicklung der österreichischen Kriegsmarine heranzubilden.“ Zweitwichtigster Punkt war, Flagge, im wahrsten Sinn des Wortes, auf den Weltmeeren zu zeigen. Die dreißig Kanonen, mit denen die SMS Novara bestückt war, unterstrichen sichtlich diese Mission; dazu wieder der Originaltext: „Mit diesem Ausbildungszwecke unserer Marine war zugleich die nicht minder wichtige Absicht verbunden, die österreichische Flagge an verschiedenen, bisher von ihr nicht besucht gewesenen Punkten der Erde zu zeigen, und durch die Anbahnung neuer Abzugswege für unsere heimischen Producte und Manufacte die Interessen der Industrie, des Handels und der Seefahrt des Kaiserstaates zu fördern.“ Zu guter Letzt, quasi im Schlepptau, kam die Wissenschaft auf ihre Rechnung: „Damit aber auch den wissenschaftlichen Forderungen unserer Zeit an ein derartiges Unternehmen gebührend Rechnung getragen werde, bestimmte Se. kais. Hoheit der Herr Marine-Obercommandant nicht nur, daß von Seite der Officiere am Bord für nautische und allgemein geographische Zwecke auf die umfassendste Weise gewirkt werde, sondern ließ zugleich an die kais. Akademie der Wissenschaften die schriftliche Einladung ergehen, zwei Naturforscher zu wählen, welche sich während
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der Reise mit naturwissenschaftlichen Beobachtungen und Sammlungen beschäftigen sollten.“ Die Auserwählten waren Ferdinand von Hochstetter (1829–1884) als Geologe und Georg Ritter von Frauenfeld (1807–1873) als Zoologe und Naturforscher. Ich persönlich habe daraus gelernt, dass kein Weg an der Originalliteratur vorbeiführt; wer allgemeinen Wahrnehmungen folgt, läuft Gefahr, Irrwege zu gehen. Es fällt nicht leicht, der Versuchung zu widerstehen, auf die vielfältigen Sammlungsobjekte und Forschungsergebnisse der Novara-Expedition einzugehen, schon im 19. Jahrhundert gab es eine Dokumentation, die in der Form noch nie da geGeorg Frauenfeld, Zoologe auf der Novara. wesen war: Ein 17-bändiges Werk, dessen Großformate 80 Zentimeter im Bücherregal benötigen und die Ergebnisse der Forschungsreise hinreichend dokumentieren. Auch wenn es zum Thema der Novara-Expedition immer noch Stoff für neue Forschungsfragen gibt, lohnt es, einen Blick in die Reihe Mitteilungen aus dem Gebiete des Seewesens zu werfen. Diese Reihe erschien von 1873 bis 1906 in 34 Bänden. Herausgegeben wurde sie vom k. k. Hydrographischen Amt in Pula/Pola an der heutigen kroatischen Küste. Allein die Titel der Bände wecken Sehnsüchte nach der weiten Welt. Da wäre eine Fahrt nach China, Die Reise S. M. Kanonenboot „Albatros“ im Rothen Meere, in den ostindischen und chinesischen Gewässern in den Jahren 1884–1885, alternativ böte sich Die Reise S. M. Corvette „Aurora“ nach Brasilien und den La Plata-Staaten in den Jahren 1884–1885 an. Diese Berichte enthalten in erster Linie Schilderungen über Land und Leute, über die Möglichkeiten, Handelsbeziehungen zu knüpfen, und sind rare Momentaufnahmen ferner Länder abseits touristischer Intentionen, da hier vor allem der ökonomische Aspekt im Vordergrund stand. So sind letzterem Bericht, der Reise der Aurora nach Südamerika (1884–1885), bei der Schilderung der Stadt Bahia (heute Salvador an der brasilianischen Atlantikküste) interessante Notizen zu entnehmen, die man nicht erwartet hätte: „Was unsere Importartikel anbelangt, so genießt österreichisches und ungarisches Mehl immer noch einen sehr guten Ruf.“ Ehrlich, da kommt nach fast 150 Jahren noch Nationalstolz auf. Um beim heimischen Mehl zu bleiben, dieses hatte damals in Südamerika starke Konkurrenz von billigem und minderwertigem
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Mehl aus Nordamerika. Um aber das nordamerikanische Mehl doch verkaufen zu können, mischte man es mit dem aus Österreich-Ungarn. Was den Export betraf, so war damals Bahia für Tabak bekannt, Zucker und Kaffee folgten an zweiter Stelle. Einen Hoffnungsmarkt sahen die heimischen Seeleute bei der Ananas. Sie empfahlen die „Errichtung einer AnanasConservefabrik“. Ananas und Zucker, die wichtigsten Zutaten, waren in ausreichender Menge und zu günstigen Preisen vorhanden. Die Österreicher wunderten sich, dass bislang noch niemand auf die Idee gekommen war, hier das große Geschäft zu machen, denn „der Artikel ließe sich massenhaft nach Europa versenden“. Ein Ausreißer unter den überaus bunten Darstellungen von Import- und Exportmöglichkeiten findet sich bei den Schilderungen Jerolim Benkos (1843– 1904) von St. Thomas, einer der Jungferninseln im westlichen Atlantik vor Frauen der Jungferninseln mit Geschick bei „fremden Amerika. Benko – seines Zeichens k. k. Sprachen“. Corvettencapitän – fuhr 1885 und 1886 mit der SMS Zrinyi über Malta, Tanger und Teneriffa nach Westindien, wie die Inselgruppen im westlichen Atlantik vor Mittel-und Südamerika damals genannt wurden. Er machte bei dieser Mission neben den üblichen ökonomischen Darstellungen auch seltene sprachwissenschaftliche Beobachtungen. An Beispielen der kreolischen Sprache konnte Benko Einflüsse jener Seeleute, die dort aus verschiedenen europäischen Ländern gelandet waren, nachweisen. So wird der Satz „Bergi mit Bergi no kan tek, ma twee mens sal teck“, mit „Berg kann sich nicht mit Berg begegnen, aber zwei Menschen müssen sich begegnen“, übersetzt. Jerolim Benko fand Gefallen an diesem Thema. Wenn Benko der Sprache der Einheimischen breiteren Raum widmet, spricht er hier von „Negern“, was heute nicht mehr annehmbar ist, doch in den 1880er-Jahren sprach man weniger wertschätzend. Immerhin attestierte er ihnen ein „ziemliches Geschick“ beim Erwerb fremder Sprachen.
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Kreolische Sprachstudien auf St. Thomas (Jungferninseln) Selbst von Negern, die z. B. vergleichsweise fließend englisch sprechen, wird man I is, you am, me be, a teeth u.s.w. zu hören bekommen; ähnlich in anderen Sprachen. Die creolische Mischsprache, von welcher hier die Rede ist, hat demnach auch als von Negern geschaffen, eine beinahe vollständige grammatische Formenlosigkeit aufzuweisen, und entlehnte der dänischen und holländischen Sprache zumeist die verbindenden und zusammenhaltenden Worte, sozusagen den Mörtel der Sprache, während Substantive, Adjective und zum Theile auch Verben mehr den Sprachen mit lateinischer Wurzel entnommen wurden. Oft ist es recht schwierig zu entscheiden, welcher der verschiedenen Quellen ein Wort entstammt. So z. B. Water kok fo fes, fes no weet. (Das Wasser kocht für den Fisch, aber dieser weiß es nicht.) Leichter zu unterscheiden sind die nicht sehr zahlreich vertretenen französischen und spanischen Elemente. Auch kömmt es vor, dass ein und dasselbe Wort verschiedene Bedeutung erlangt, je nach der Sprache aus der es entnommen ist. So heißt loop gehen, kurir aber laufen. Eine ganze Reihe französischer Verben hat die holländische Endsilbe eer erhalten: respekteer, assisteer, mankeer, pardonneer, permitteer, forceer, observeer, murmureer und viele andere. Das Spanische ist in Worten wie pará (bereiten), cabá (vollenden), matá (tödten), cabaj (Pferd), cubrita (Ziege) u.s.w. leicht zu erkennen. Wenige, aber immerhin einige Worte scheinen afrikanischen Ursprungs zu sein; das Gleiche dürfte von der häufig vorkommenden, eine Verstärkung des Ausdrucks bedeutenden Verdopplung von Worten gelten, z.B. war war (sehr wahr, wahrlich) peck peck (Zusammenlesen) gaw gaw (sehr geschwind) fru fru (früh Morgens). Der Mangel an grammatischen Formen bringt eine Vieldeutigkeit beinahe aller Sätze mit sich; so bedeutet z. B. Mi kik ju cabaj, ich sehe (sah) dein (deine, ihr, ihre) Pferd (Pferde). Aus: Jerolim Freiherr von Benko: Reise S.M. Schiffes „Zrinyi“ über Malta, Tanger und Teneriffa nach Westindien in den Jahren 1885 und 1886 (1887)
Im 19. Jahrhundert konnten dank der Unterstützung der k. u. k. Kriegsmarine eine Reihe wichtiger Forschungsergebnisse auf hoher See erzielt werden. Ozeane wurden befahren, marine Lebewesen gesammelt, inventarisiert und studiert. Der Ozeanboden und dessen Oberfläche, soweit mit dem Lot greifbar, wurden kartografisch dokumentiert. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kam es durch die Möglichkeiten, Bohrungen auch im Meeresbereich zu machen, zu einem Quantensprung in der Forschung. Die Meeresgeologie oder Marine Geology, so der internationale Fachterminus, war als
Österreichs Wissenschaftler erfolgreich auf hoher See
Österreichs Wissenschaftler erfolgreich auf hoher See
Die Glomar Challenger, Bohrschiff der ersten Generation, brachte bahnbrechende Ergebnisse.
Forschungsdisziplin erfunden und konnte wesentliche Beiträge zur Geschichte des Planeten Erde, Stichwort Plattentektonik, liefern. Wer hätte je gedacht, dass vor fünf Millionen Jahren das ganze Mittelmeer eine trockene Wüstenlandschaft war? Und wie erforschen heute die Wissenschaftler der Alpenrepublik die hohe See, wo ihnen doch mit dem Jahr 1918 die k. u. k. Kriegsmarine verloren ging? Die Antwort lautet, vereinfacht auf den Punkt gebracht: Es gilt, stets ein wenig besser als andere zu sein, um als Experte oder Expertin von internationalen Forschungsteams zu Hochsee-Expeditionen eingeladen zu werden, und dann auch noch, im richtigen Moment „verfügbar“ zu sein, um auf den Weltmeeren wissenschaftlich zu reüssieren. Es ist beruhigend, dass man nicht unbedingt über eine eigene Flotte verfügen muss. Den Anfang machte Herbert Stradner, ein gebürtige Weinviertler aus Niederösterreich und Mitarbeiter der Geologischen Bundesanstalt in Wien, der bereits 1970 in der ersten Phase der Ozeanbohrungen auf hoher See war. Das damalige Bohrprogramm, das Deep See Drilling Project (DSDP), ging von den Vereinigten Staaten aus und lief zwischen 1968 und 1983. Gebohrt wurde mit dem Bohrschiff Glomar Challenger, das in diesem Zeitraum 96 wissenschaftliche Expeditionen („Legs“) unternahm. In diesem Kontext steht das Wort „Leg“ für Expedition. Das Schiff hatte eine Wasserverdrängung von 11.000 Tonnen und war mit seinem Bohrturm, der sich sechzig Meter über dem Wasserspiegel erhob, wie eine Landmarke schon von Weitem zu sehen. Stradner war 1970 bei Expedition 13 (Mittelmeer), dann 1979 bei Expedition 66 (Mexico – Guatemala) und schließlich 1980 bei Expedition 75 (Südatlantik) an Bord. Herbert Stradner ist Paläontologe und einer der großen Pioniere in der Erforschung von kalkigen
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annofossilien. Das sind Reste mariN ner, einzelliger Algen, die kleiner als 30 µm (Mikrometer) sind. Diese durchlaufen eine rasche Evolution, im Zuge derer sich viele Arten gebildet haben, und sind – für Experten – rasch zu bestimmen. Kleinste Probenmengen reichen zur Identifizierung. Spezialisten zur Bestimmung von Nannofossilien sind gefragte Leute: Sie können in kürzester Zeit mit winzigsten Probenmengen, vorausgesetzt diese enthalten Nannofossilien, das Alter der Gesteine mit hoher Genauigkeit angeben. Herbert Stradner beschrieb in seiner aktiven Zeit als Wissenschaftler an die hundert neue Arten von Nannofossilien; kein Wunder, dass ihm auch die Kollegenschaft entsprechenden Tribut zollte. Davon zeugen die Gattungen Stradneria REINHARDT (1964), Stradnerius HAQ (1968) und Stradnerlithus BLACK (1971) und acht nach ihm beOriginalfototafel mit Nannofossilien aus dem Mittelnannte Arten, darunter Cyclococcolithus meer, erbohrt 1970 durch die Glomar Challenger. stradneri JAFAR (1975). Und so kann man den Worten von William W. Hay (University of Colorado, Boulder, USA) nur zustimmen, der Stradners Pionierarbeit für die zeitliche Einstufung (Stratigrafie) mit kalkigem Nannoplankton würdigte: „In many ways, Herbert Stradner was the father of the stratigraphic use of calcareous nannoplankton.“
Stradner, Jahrgang 1925, erinnert sich heute noch an seine erste Meeresexpedition, die seine erfolgreichste – was die Forschungsergebnisse betraf – werden sollte. In seiner ruhigen Art schildert er die Einschiffung am 13. August 1970 und die ersten Tage an Bord, die ganz und gar nicht nach vereinbartem Plan laufen sollten. „Das Erste, was man am Schiff macht, man geht zum Kapitän und stellt sich vor, damit er weiß, der da gehört auch zur Science-Crew. Der Steward weist einem dann eine Kabine zu.
Herbert Stradner auf See: Mittelmeermission Leg 13
Herbert Stradner auf See: Mittelmeermission Leg 13
Jedes Bett hat eine kleine Reling als Sturmsicherung.“ Ausgehend von Lissabon, wo sie an Bord gingen, fuhr die Glomar Challenger zur GorringeBank, einer Untiefe rund 210 Kilometer westlich von Portugal im Atlantik zwischen den Azoren und der Straße von Gibraltar, wo die erste Bohrung gemacht wurde. Doch die war keineswegs geplant, stand doch die Erforschung des Mittelmeeres auf der Agenda. Wie es dazu kam, schildert Der rote Helm, den Herbert Stradner auf Kenneth J. Hsü in seinem Buch The Mediterranean den Expeditionen der Glomar Challenger trug. Was a Desert – A Voyage of the Glomar Challenger (1983). Der Geologe Hsü, ein gebürtiger Chinese, Professor an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH), und William B.F. Ryan, Maringeologe und Geophysiker an der Columbia University in New York (USA), waren die beiden wissenschaftlichen Leiter der Expedition und hatten das Sagen. Hsüs Buch enthält Details zu dieser Gefälligkeitsbohrung. Am Tag der Abreise rückte Bill Ryan mit einem Wunsch seines französischen Freundes, dem Geologen Xavier Le Pichon heraus: Dieser hatte ihn gebeten eine Bohrung im Atlantik auf der Gorringe-Bank zu machen. Le Pichon wollte geologische Beweise für seine plattentektonischen Konzepte bekommen. Hsü und auch andere Crew-Mitglieder waren davon keineswegs angetan. Schließlich bohrten sie doch; das Ergebnis, ein Bohrkern aus Ophiolith (grünes Ozeanbodengestein) aus 1.711 Metern Meerestiefe, brachte die Bestätigung, dass auch hier Gesteine der Tethys (Ozean des Erdmittelalters) vorliegen, vergleichbar mit jenen, wie sie aus den Alpen bekannt sind. Mit diesem ersten Ergebnis waren auch die anfänglichen Skeptiker überzeugt und verließen – nun mit einem ersten Erfolgsgefühl – frohen Mutes am 17. August diese ungeplante Bohrstelle. „Von hier fuhr das Schiff Richtung Gibraltar. Das Erste, was man bereits fernab vom Land gemerkt hat, war der harzige Duft von Afrika. Man hat also Afrika bereits gerochen, noch bevor man in der Nacht die ersten Leuchtfeuer gesehen hat. Das Schiff fuhr, es war Rechtsverkehr, auf der afrikanischen Seite in das Mittelmeer. Damals (1970) war gerade die Libanonkrise, es war im ersten Morgengrauen, da kam uns ein Geisterfahrer entgegen. Es war ein unbeleuchtetes Kriegsschiff, ein kleiner Kreuzer unbekannter Nationalität. Unser Kapitän hat geflucht, so wie ich es noch nie gehört hatte. Ob seine gepfefferten Funksprüche bei dem Schiffsverkehrssünder drüben ankamen, wissen wir nicht, es kam keine Antwort … Es war also ein echtes Geisterschiff.“ Diese Fahrt der Glomar Challenger, Leg 13, um in der wissenschaftlichen Nomenklatur zu bleiben, erbrachte im Spätsommer 1970 an 14 Standorten („Sites“) zwischen Spanien und Ägypten mehr als 200 Bohrkerne. Entscheidend war Bohrloch 124 südöstlich der Balearen. Hier holte man am 28. August aus rund 3.000 Metern Tiefe
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einen Bohrkern bestehend aus Evaporitablagerungen – chemisch durch Fällung entstandene Gesteine wie Salz, Gips und Anhydrit. Dieser Bohrkern sollte das bisherige Weltbild der Geologen förmlich auf den Kopf stellen. Vor dieser Expedition kannte man durch geophysikalische Untersuchungen vom Untergrund des Mittelmeeres eine Schicht, an der seismische Wellen reflektiert wurden („MReflektor“). Über die Natur dieser Schicht, die dem Relief des Meeresbodens folgte und von weicheren Gesteinen bedeckt war, herrschte Unklarheit. An jenem historischen Tag drang der Bohrmeißel zunächst mit der üblichen Geschwindigkeit von mehreren Metern pro Minute durch die oberen weicheren Sedimentschichten, ehe er auf Widerstand stieß und nur sehr langsam mit einem Meter pro Stunde vordrang. Damit war es für Hsü und Ryan klar, dass sie auf den „M-Reflektor“ Anhydrit, der Beweis für das ausgetrocknete Mittelmeer, am Cover von Nature. gestoßen waren. Als dann der Bohrkern heraufgezogen wurde, erkannten sie sofort Anhydrit und millimeterdünne geschichtete Sedimente (Stromatolithe), wie man sie aus extrem trockenen Küstenbereichen kennt. Dabei handelt es sich um Wechsellagen von Algenmatten und dünnen Sedimentschichten, wie man sie im Gezeitenbereich findet. Stradner bringt es auf den Punkt: „Niemand hätte vor dieser Fahrt geglaubt, dass das Mittelmeer vor 5 Millionen Jahren ausgetrocknet und eine Wüstengegend mit Salzseen war. Dies ist erst durch die Ergebnisse dieser Forschungsfahrt bekannt geworden.“ Die wissenschaftlichen Ergebnisse wurden 1973 unter anderem in der renommierten Zeitschrift Nature unter dem Titel Late Miocene Desiccation of the Mediterranean veröffentlicht. Ob tatsächlich das Mittelmeer zur Gänze ausgetrocknet war, darüber diskutieren Geowissenschaftler heute noch. Doch diese Expedition brachte den Beweis, dass es Bereiche gab, die ganz darauf hindeuten; dies „erzählen“ die Gesteinsablagerungen. Fakt ist, dass seit 1970 keine wissenschaftlichen Bohrungen innerhalb des ozeanischen Bohrprogrammes im Mittelmeer gemacht wurden. „Nach mehr als 50 Jahren würden neue Bohrungen sicher entscheidende Beiträge zur Klärung dieser Frage liefern“, erörtert Werner E. Piller, Professor für Paläontologie an der Grazer KarlFranzens-Universität. Tatsächlich gibt es bereits einige bewilligte Anträge, die Frage ist nur, wann wieder gebohrt wird.
1970: Alltag auf hoher See Wissenschaft und Freizeit
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Bei der Lektüre des Buches von Kenneth Hsü fallen mir 1970: Alltag auf hoher See die kurzen Nächte auf. Ich meine nicht, dass an Bord Wissenschaft und Freizeit der Glomar Challenger dauernd Party gemacht wurde. Vielmehr gab es Tage und Nächte, an denen nonstop Bohrkerne aus der Tiefe des Meeresgrundes gezogen wurden und sofort beprobt werden mussten. Da war natürlich nicht an Schlaf zu denken. Schon bei der Gorringe-Bank begann der Stress, nachdem der erste Bohrkern an Bord war. „Bei vollem Bohrbetrieb kam jede Stunde ein neuer Kern. Es hieß ,core up!‘ und dann haben schlagartig alle Untersuchungen begonnen. […] Jeder Wissenschaftler ist dann auf seinen Arbeitsplatz gegangen und hat die Proben untersucht. Oft war es so, dass wir gleich nach dem Heraufziehen des Bohrkernes das unterste Stück vom ,core catcher‘ oberhalb der Bohrkrone genommen haben, um möglichst rasch zu wissen, wo wir stratigraphisch sind.“ Stradners Arbeitsgerät war ein ZEISS-Lichtmikroskop mit bis zu 1.000-facher Vergrößerung. Damit konnte er die im Sediment befindlichen Nannofossilien bestimmen und das Gesteinsalter der Meeresbodenschichten sehr rasch und genau datieren. „Das größte Problem war an Bord die stabile Lage des Mikroskops. Um überhaupt ein ruhiges Bild zu bekommen, stand das Mikroskop auf einem Luftring-Polsterkissen und war außerdem mit Gummiriemen mit dem Arbeitstisch verzurrt, damit es bei stärkerem Seegang nicht vom Tisch fiel“, erläutert der Paläontologe. Arbeiten am Mikroskop war nur bis Windstärke 5 möglich. „Ab Windstärke 5 ist es nämlich unmöglich, den menschlichen Kopf mit der optischen Achse des Mikroskops zu koordinieren. Man kann sich noch so bemühen, der Kopf mit den beiden Sehorganen schwankt bei starkem Seegang hin und her und wandert ständig am Blickfeld des Mikroskops vorbei.“ Bei stärkeren Stürmen mussten auch die Sessel unter den Schreibtischen mit Seilen fixiert werden, eine Praxis, die auch auf der Weltumseglung der SMS Novara mehr als 120 Jahre vorher üblich gewesen war. Und in Sachen Seekrankheit kramt er eine Erinnerung von damals hervor: „Es gab auf unserem Schiff an den Stahlwänden aufgeklebte Sprüche, einer davon lautete: ‚If you get seasick, don’t worry what to do. You will do it.‘“ Und was macht ein Naturforscher aus einem Binnenland, wenn er auf hoher See ist und nicht gerade forscht? Er beobachtet die Natur, die Tiere, das Meer oder den HimHerbert Stradner an seinem Arbeitsplatz auf der mel. Auch davon weiß er zu berichten: „Wir Glomar Challenger.
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hatten auch allerlei tierische Begegnungen. Erschöpfte Meeresvögel, nicht nur Möwen, auch gelegentlich ein Seeadler, ließen sich auf unserem Schiff trotz des Maschinenlärms nieder. Der Seeadler war so zahm, dass ihn ein Matrose auf seinem Arm sitzen ließ. Das hört sich wohl wie Seemannsgarn an, aber es gibt Fotos davon.“ Delfine und Haie, ja auch Meeresschildkröten und selbst ein Wal wurden gesichtet. Interessanterweise waren es Tausende bunte Quallen, die südlich von Kreta zeitig in der Früh vorbeizogen, an die sich Stradner bis heute erinnert, der schlussendlich beinahe sentimental wird. „Wenn ich nicht gerade im Labor vor dem Mikroskop saß, habe ich draußen an der Reling die Augenblicke des Sonnenaufgangs oder -untergangs genossen. ‚The green spark‘ [eigentlich: ‚green flash‘ oder ‚green ray‘] war, wenn es besonders klar und dunstfrei war, als letzter grüner Funke des Sonnenuntergangs leider nur sehr selten zu sehen. Nirgends außer vielleicht im Hochgebirge erlebt man so intensiv die Größe des Sternenhimmels und die unterschiedlichen Farben der Gestirne wie in einer klaren, mondlosen Nacht auf hoher See.“
Mit der erfolgreichen Ära von Stradner und dem Ende des Glomar-Challenger-Programmes – das Schiff wurde 1983 abgewrackt – war dann aus österreichischer Sicht zunächst einmal lange Zeit Flaute. Doch mit einer neuen Forschungsinitiative, dem IODP (Integrated Ocean Discovery Program), gingen auch wieder neue Leute aus der Alpenrepublik an Bord. Erstmals sollte es 2011/12 so weit sein, freilich hatten sich auch die Rahmenbedingungen geändert. Doch dazwischen lagen mehr als dreißig Jahre. Zunächst liefen die internationalen Ozeanbohrungen bis 2003 unter dem Titel Ocean Drilling Program (ODP) weiter. Dann kam das IODP, das zu Beginn allerdings einen anderen Namen hatte, das „D“ stand in der Frühzeit für „Drilling“. Mit dem Unglück im Golf von Mexiko, bei dem im April 2010 die Bohrplattform Deepwater Horizon in Brand geriet und das ausströmende Rohöl zu einer Umweltkatastrophe führte, war das Wort „Drilling“ selbst für wissenschaftliche Zwecke tabu. So wurde dann 2013 aus dem „D“ für Drilling ein „D“ für Discovery; am Akronym, IODP, änderte sich nichts. In Europa hatte sich 2003 mit dem European Consortium for Ocean Research Drilling (ECORD) eine eigene Gruppe gebildet, der 2004 auch Österreich beitrat. Werner E. Piller, Paläontologe aus Graz. Motor und nimmermüder Mentor all der
Graz als Heimathafen
Graz als Heimathafen
Abendstimmung auf der JOIDES Resolution, eingefangen von José-Abel Flores im östlichen Atlantik.
heimischen wissenschaftlichen Seefahrer und Seefahrerinnen war Werner E. Piller von der Grazer Karl-Franzens-Universität. Er sah hier eine Chance für österreichische Forscher und Forscherinnen, wieder auf hoher See zu forschen. Anders als in der Frühzeit sind nun formale Kriterien wie Mitgliedschaft samt Mitgliedsbeitrag erforderlich, um an einer Ozeanexpedition teilzunehmen. Verbunden mit dem Mitgliedsbeitrag ist natürlich die wissenschaftliche Kompetenz nach wie vor das wichtigste Kriterium. Ein Blick auf die Mitgliedsbeiträge des Jahres 2019 zeigt, wer heute das Sagen hat. Zum Gesamtbudget von ECORD in der Höhe von 16.887.000 $ (US Dollars) trägt Deutschland mit 5,6 Millionen (33 Prozent) den Megaanteil bei, gefolgt von Frankreich mit 3,92 Millionen (23 Prozent) und dem Vereinigten Königreich mit 3,466 Millionen (20,5 Prozent). Österreich trägt 100.000 $ bei und ist Drittletzter in der Reihe der vierzehn Nettozahler. Damit ist klar: Die großen Seemächte Europas auf wissenschaftlichem Gebiet sind Deutschland, Frankreich und das Vereinigte Königreich, sie zahlen 76,5 Prozent des Gesamtbudgets. Piller verstand es als Institutsvorstand, sein Team in Graz seesüchtig und auch gleichzeitig seetauglich zu machen. Seine Leute wuchsen langsam in die wissenschaftliche Community hinein, sie besuchten Workshops und Kurse und bewarben sich für Fahrten auf der JOIDES Resolution, dem Nachfolgeschiff der Glomar Challenger. Betrachtet man die Teilnahme heimischer Seeleute von 2011 bis 2019, so stellt Pillers Institut mit Patrick Grunert, Gerald Auer und Walter Kurz drei Personen, wobei Kurz
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Nichts für schwache Nerven: Arbeiten am Bohrturm der JOIDES Resolution.
Graz als Heimathafen
dreimal an Bord war. Somit wurde Graz zum wissenschaftlichen Hafen für Geowissenschaftler. Doch Österreichs Start in die Weltmeere verlief im 21. Jahrhundert etwas holprig mit einigen Pannen. Gleich dreimal gab es Pech und so fuhren zwei Wissenschaftler und eine Wissenschaftlerin, die alle fix vorgesehen waren, dann doch nicht zum geplanten Termin aus. So war Patrick Grunert, Dissertant von Piller, der erste Österreicher, der am 16. November 2011 an Bord der JOIDES, so der Kurzname des Schiffes, ging. Die Expedition lief unter dem Namen Mediterranean Outflow (Expedition 339) und hatte bis zum 16. Jänner 2012 ihr Arbeitsgebiet westlich der Straße von Gibraltar, am Kontinentalhang von Südspanien und südwestlich von Portugal im östlichen Atlantik. Patrick Grunert, der seit 2017 eine Professur für Mikropaläontologie und Paläoökologie an der Universität Köln innehat, erreichte ich am Telefon; er arbeitet wie alle im Frühjahr 2020 während der Corona-Pandemie im Homeoffice. „Nach meiner Masterarbeit an der Uni Wien ging ich nach Graz, um bei Werner Piller eine Dissertation über fossile Foraminiferen [= einzellige Mikroorganismen mit kalkigem Gehäuse] zu schreiben. Er, der selbst nie auf einem Bohrschiff war, wurde nie müde uns immer wieder von der Möglichkeit, auf einem Bohrschiff als Wissenschaftler mitzuarbeiten, vorzuschwärmen.“ Doch ganz so einfach ist es nicht; Tickets dafür verkauft kein Reisebüro; man muss sich vorher seine wissenschaftlichen Sporen verdienen. „2008 war ich auf der Summer School in Urbino (Italien), hier ging es um Paläoklimatologie. Zwei Jahre später war ich wieder auf einer Summer School, diesmal in Bremen.“ Kein Wunder, dass ihm hier die Idee, auf ein Bohrschiff zu gehen, anfing zu gefallen, werden doch diese Kurse vom IODP unterstützt. So stehen hier auch die Forschungsergebnisse der Bohrprogramme im Mittelpunkt der Übungen. Im Rahmen der Summer School in Bremen gab es eine „virtual ship experience“, man simulierte einen Tag lang die wissenschaftlichen Arbeiten samt Workflow am Schiff. „Nach dem Abschluss meiner Dissertation 2011 stellte sich für mich die Frage: Gehe ich weg oder bleibe ich in Graz? Und wenn ich in Graz bleibe, was für Perspektiven eröffnen sich hier?“ Einmal mehr erwies sich sein Dissertationsbetreuer als Mentor: „Bewirb dich doch bei IODP bei der Expedition 339, Mediterranean Outflow!“ Um es kurz zu machen: Patrick Grunert, damals gerade 28 Jahre alt, bewarb sich und wurde als einer der Jüngsten genommen. Im selben Jahr (2012) ging auch Walter Kurz, Professor an der Universität Graz, erstmals an Bord. Er nahm vom 23. Oktober bis 11. Dezember 2012 an der Expedition 344, Costa Rica Seismogenesis Project, Program A Stage 2 (CRISP-A2) 2012, teil. Kurz war bislang dreimal auf der JOIDES: 2012, 2014 und 2016/17 und gehört mit Stradner zu jenen Österreichern, die am weitesten auf den Weltmeeren herumkamen. „Der Werner [Piller] hat immer wieder E-Mails mit Einladungen zu Summer Schools
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und Aufrufen für Expeditionen von IODP an eine Mailingliste verschickt. Ich habe das auch bekommen und mitverfolgt“, erzählt er mir und fährt fort: „An der Uni in Graz, wo ich studiert habe, hat Professor Wallbrecher (1940–2016) immer wieder vom DSDP erzählt, und dass diese Bohrungen wesentliche Fragen der Plattentektonik klären konnten.“ Der Forschungsschwerpunkt von Walter Kurz, der 2007 als Professor für Geologie die Nachfolge Eckart Wallbrechers angetreten hatte, lag bis dahin fast ausschließlich in den Alpen. Er hatte zunächst mehrere wissenschaftliche Projekte beim Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) eingereicht, doch sie wurden alle nicht bewilligt. Einigermaßen frustriert suchte er neue Perspektiven. „Ich wollte etwas ganz anderes machen, was aber doch in meinen Forschungsbereich, Strukturgeologie und Plattentektonik, fiel“, fährt er fort. Als die Ausschreibung („Call“) für die Expedition 344 lief, bewarb er sich und wurde prompt genommen. Das nächste Mal, 2014, kam er durch einen sogenannten „Urgent Call“ an Bord der JOIDES. „Die Katerina Petronotis, sie war Staff-Scientist auf der 344er-Expedition, schrieb mich an, ob ich nicht jemand für die Expedition 352 (Izu-Bonin-Mariana Fore arc) im Pazifik wüsste.“ Der Hintergrund: Im Zuge der regulären Ausschreibung war niemand gefunden worden. „Ich dachte mir, warum bewerbe ich mich nicht selbst?“ Gesagt, getan: Am 30. Juli legte Kurz mit der JOIDES Resolution in Yokohama (Japan) ab und ging am 29. September 2014 im Hafen von Keelung (Taiwan) wieder an Land. Kurz’ dritte Expedition auf hoher See findet sich beim IODP unter der Nummer 366 (Mariana Convergent Margin & South Chamorro Seamount). Sie ging von Dezember 2016 bis Februar 2017 wieder in den Pazifik. Der dritte Grazer, der an Bord ging, war Gerald Auer, ebenso wie Grunert ein Schüler Pillers. Auer hatte in Graz schon wissenschaftliche Seeluft gerochen. Da er eine Forscherkarriere anstrebte, kam ihm die Expedition 356 (Indonesian Throughflow) im August und September 2015 auf der JOIDES gerade recht. Sein Fachgebiet sind Nannofossilien, damit folgt er fachlich den Arbeiten von Herbert Stradner.
Persönliche Erinnerungen an Das IODP verfügt über zwei Schiffe. Das Ältere, die JOIDES Resolution und Chikyu JOIDES Resolution, lief 1978 unter dem Namen Sedco/ BP 471 vom Stapel und war zunächst für Erdölbohrungen unterwegs. Seit 1985 steht die 143 Meter lange JOIDES Resolution (auch: JR) im Dienst der Wissenschaft. Als Größenvergleich bietet sich der Stephansdom in Wien an: Seine Länge (107,2 Meter) und Breite (34,2 Meter) ergeben in Summe 141,4 Meter und das entspricht ziemlich genau der Länge der JR. Ihr Name erinnert an das Schiff des legendären James Cook (1728–1779). Er unternahm auf der HMS Resolution seine zweite (1772–1775) und dritte (1776–1779) Forschungsreise. Betrieben
Persönliche Erinnerungen an JOIDES Resolution und Chikyu
wird die JR von Amerika (Texas) aus, finanziert wird sie von der US National Science Foundation. Von 2006 bis 2008 wurde sie umgebaut und aufgerüstet. Als maximale Bohrtiefe werden 8.235 Meter angegeben. Die Besatzung von 135 Personen besteht aus 50 Wissenschaftlern und Technikern und 65 Mitgliedern der Mannschaft. Damit ist sie beim IODP-Projekt die kleinere Schwester der größeren und neueren Chikyu. Diese wurde 2003 in Japan gebaut und 2005 mit einem Bohrturm für wissenschaftliche Bohrungen ausgerüstet. Betrieben wird sie von der JAMSTEC (Japan Agency for Marine-Earth Science and Technology) mit Sitz in Yokosuka (Japan). Die Chikyu, ihr japanischer Name bedeutet Erde (Planet), schlägt in ihrem Bereich alle Rekorde. Länge: 210 Meter, Breite 38 Meter, Platz für insgesamt 200 Personen (Wissenschaftler, Techniker und Mannschaft). Selbstverständlich wurde auch bei den Sicherheitsvorkehrungen an alles gedacht. Sie verfügt auf jeder Seite über vier Rettungsboote mit je 75 Plätzen und eines mit 50 Sitzen. Die Japaner sind in Sachen Sicherheit sehr vorsichtig. Sollte bei Seenot das Verlassen des Schiffes nur auf einer Seite möglich sein, so stehen an Backbord wie auch an Steuerbord genügend Plätze für alle in den Rettungsbooten zur Verfügung. Herzstück der Chikyu ist der Bohrturm. Die Gesamthöhe, vom Kiel bis zur Spitze des Bohrturms, beträgt 130 Meter. Zum Vergleich sei wieder der Stephansdom zitiert, dessen Südturm mit 136,4 Metern eine vergleichbare Dimension aufweist. An Bord befinden sich zehn Kilometer Bohrgestänge. Damit sind bei einer maximalen Wassertiefe von 2,5 Kilometern bis zu 7,5 Kilometer tiefe Bohrungen im Ozeanboden möglich. Der bisherige Rekord liegt bei 3.262,5 Metern. Er wurde 2018 mit dem Bohrschiff Chikyu im Rahmen des Projekts IODP 358 (NanTroSEIZE Plate Boundary Deep Riser 4: Nankai Seismogenic/Slow Slip Megathrust) im Nankai-Becken vor der Küste Japans erreicht. Dazu muss man noch wissen: Die Wassertiefe lag bei 1.939 Metern, damit erreichte der Bohrer eine Endtiefe von knapp fünf Kilometern. So gesehen hat die Chikyu noch lange nicht ihr Limit erreicht. Werden Bohrproben genommen, so geht das sehr rasch: pro Stunde können rund 600 Meter Bohrgestänge mit den erbohrten Gesteinen des Ozeanbodens nach oben gezogen werden. Wer meint nach bezahltem Mitgliedsbeitrag und erfolgter Auswahl durch die zwei Co-Chiefs der jeweiligen Expedition an Bord gehen zu können, irrt. Da harren noch eine Reihe von Formalitäten, allen voran ein Gesundheitscheck, der in seiner Ausführlichkeit einer Gesundenuntersuchung gleichkommt. „Insgesamt fünfzehn Seiten umfasst der englischsprachige Fragebogen, der von einem Mediziner ausgefüllt werden muss, ehe er an die Abteilung Human Resources / Insurance Services des IODP in Texas (USA) geschickt wird“, erläutert Grunert das Prozedere im Vorfeld seiner Expedition auf der JOIDES. Der Fragebogen (Medical History Questionnaire) umfasst die üblichen Fragen nach Kinderkrankheiten, Blinddarm, Asthma, Bluthochdruck und dergleichen. Aber auch psychische Belastbarkeit und mögliche Depressionen werden hier thematisiert. Zwei Monate auf hoher See eines Bohrschiffes sind keine Ver
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Verpflichtend für alle: Übung für den Notfall, wenn Rettungsboote benötigt werden sollten.
gnügungskreuzfahrt, ständiger Maschinenlärm der Bohranlage, Abgase, klimatische Extreme (manche Expeditionen sind in tropischen Breiten, andere in Polarregionen), Wind und Wetter bis hin zu den Zweibettkojen sind harte Herausforderungen. Bedenken muss man auch, dass es nur einen Arzt an Bord gibt, der für Zahnschmerzen ebenso zuständig ist wie für Blinddarmentzündungen und alle möglichen Unfälle, die sich ereignen könnten. „Wenn du mit dem Schiff mitten im Pazifik bist, dann kann auch kein Rettungshubschrauber kommen“, erklärt Walter Kurz, der Gott sei Dank nie medizinische Probleme hatte. Dass es an Bord keinen Alkohol im Sinne eines „zero tolerance drug and alcohol program“ gibt, wundert niemanden. Michael Strasser, Professor für Sedimentgeologie an der Universität Innsbruck, der nicht nur an IODP-Expeditionen teilgenommen hat, sondern auch Ausfahrten auf anderen Hochseeforschungsschiffen unternommen hat, präzisiert das Alkoholverbot: „Das gilt nur für Bohrschiffe, die einen permanenten 24-Stundenbetrieb haben. Auf kleineren Forschungsschiffen, da gibt’s schon eine Bar, wo man sich trifft und trinkt.“ Doch das war nicht immer so, bei den frühen Fahrten der Glomar Challenger, ich rede von der legendären Mittelmeerexpedition des Jahres 1970, gönnte man sich schon dann und wann einen Schluck. Den Beweis liefert Hsü höchstpersönlich: „Gegen 18 Uhr 30 ging ich in meine Kabine, duschte mich, nahm einen Schluck Johnny Walker [Whisky] und kletterte in meine Koje.“ Auch gemeinsam wusste man damals zu genießen. „Um dem Tag zu einem guten Abschluß zu ver-
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helfen, stiftete Maria Cita (Mikropaläontologin aus Mailand) eine Flasche Portwein.“ Damit folgen diese Schiffe einer alten Tradition. Auch bei der Weltumsegelung der SMS Novara gab es zum Jahreswechsel 1857/58 Champagner, wie der mitreisende Geologe Ferdinand von Hochstetter (1829–1884) im Abendblatt der Wiener Zeitung vom 30. Oktober 1858 schrieb: „Drei lange und heiße Tage vom 29. Dezember bis 31. Dezember lagen wir zwischen 1° südlich und 0° in eitel Windstille und mußten bei 28–29° C am Sylvesterabend und in der Sylvesternacht tüchtig schwitzen. Trotzdem erklang im munteren Kreise das Champagnerglas hell auf das Wohl der Lieben und der Freunde in der Heimath.“ Das Thema Alkohol ist nur ein Aspekt zum Thema Sicherheit auf hoher See. „Wer bei der Chikyu an Bord geht, muss vorher eine spezielle Sicherheitsschulung, das Helicopter Underwater Escape Training (HUET), absolvieren“, führt Michael Strasser aus. „Das ist dann notwendig, wenn man das Schiff oder die Bohrinsel nur mit einem Helikopter erreichen kann, so wie das bei der Chikyu der Fall ist. Man muss dabei üben, wie man im Fall eines Helikopterabsturzes über dem Meer möglichst schnell rauskommt.“ Diese Situation ist beim IODP noch nie eingetreten, doch wer es vorher geübt hat, wird sich im Notfall leichter tun. „Das heißt, man muss sich abschnallen und durch das Fenster raus. Und das unter Wasser. Geübt wurde auch, wenn sich der Helikopter im Wasser umdreht. Zum Glück habe ich das nie live erlebt, sondern nur im Hallenbad unter Anleitung von Tauchern, die uns geholfen haben“, führt Strasser, ein gebürtiger Schweizer, der seit Oktober 2015 mit seiner Berufung nach Innsbruck unter österreichischer Flagge unterwegs ist, aus. Er hat schon drei derartige Übungen absolviert, weil die dabei ausgestellten Zertifikate nur eine begrenzte Gültigkeit haben.
Doch zurück auf das Forschungsschiff. Hier gehören Tücken der Gruppendynamik die ersten Tage an Bord, vor allem für Neulinge, zu den Alltag in zwei Schichten stressigsten. „Da gab es am Beginn jede Menge Einschulungen und Vorträge über das Leben und Verhalten am Schiff“, weiß Grunert zu erzählen. „Auch der Lagerkoller wurde angesprochen. Man sagte uns, dass die sechste Woche die schwierigste sei“, fährt der nunmehrige Professor in Köln fort. „Und so war es auch, aber trotzdem gab es keine Zwischenfälle. Wir haben alle gemerkt, dass es nicht leicht ist. Mehr als die Hälfte ist schon vorbei, wir waren teils übermüdet vom Schichtbetrieb, Schlafdefizit machte sich breit, aber bis zum Ende sind es immer noch zwei Wochen. Das kann sich bei manchen schon aufs Gemüt schlagen. Unsere Vorgesetzten haben das geschickt moderiert, sodass alles kein Problem war.“ Das Leben der Wissenschaftler an Bord läuft im Schichtbetrieb. Die erste Schicht beginnt um 0 Uhr und endet um 12 Uhr, die zweite beginnt um 12 Uhr und endet um 24 Uhr. Das Ganze geht sieben Tage durch. „Du lebst in einer Zweierkabine, aber
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Einsamer Moment eines Wissenschaftlers an Bord der JOIDES Resolution.
Der Blick ins gut ausgerüstete Forschungslabor der JOIDES Resolution.
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durch den Schichtbetrieb habe ich meinen Mitbewohner fast nie gesehen“, erinnert sich Walter Kurz. Für ihn als „First Timer“ war die Costa-Rica-Expedition (IODP344) ein großer Umstieg – vom stressigen Alltag auf der Uni plötzlich auf ein hoch technisiertes Hochseeschiff. „Am Schiff gibt es nur Science, nichts anderes, keine Sitzungen, keine Administration, keine Studenten, keine Anrufe. Und das ist bei allen so. Alle brennen endlich Wissenschaft zu machen.“ Freilich entwickelt sich auf den Expeditionen – Walter Kurz blickt auf drei IODP-Expeditionen zurück – oft eine ganz spezifische Gruppendynamik, die stark von den jeweils an Bord befindlichen Leuten abhängt. „Auf meiner ersten Expedition war diese Gruppenbildung schon zu spüren, was sich insgesamt eher negativ auf die Stimmung ausgewirkt hat.“ Ganz anders war dann die 352er-Expedition im Pazifik. „Hier war alles harmonisch“, so Kurz, „das hängt in erster Linie von den beiden Co-Chiefs ab. Mit John W. Shervais von Utah (USA), der auf der 352er- und dann auch auf der 366er-Expedition (Mariana Convergent Margin) mit dabei war, hat sich eine tolle Kooperation entwickelt. Ich war mit ihm in Kalifornien auf Exkursion. Er war dann von April bis August 2017 im Rahmen einer Fulbright-Gastprofessur bei uns in Graz“. Im Sinne des bekannten Volksliedes „Eine Seefahrt, die ist lustig, eine Seefahrt, die ist schön […]“ könnte man meinen, was will man mehr? Aber auch die heiß ersehnte wissenschaftliche Forschung kann zu viel werden, wenn etwa die Stimmung an Bord nicht optimal ist. Und so wird bei den FAQs der Chikyu schon vorweg klar darauf hingewiesen: „But you may feel stress building up after being onboard for a long period.“ Was kann man dagegen auf hoher See machen? Vieles, lautet die Antwort. Es gibt eine Bibliothek, einen Fitnessraum, der keine Wünsche offenlässt, ein Kino mit jeder Menge DVDs für cineastische Abwechslung. Und auf der Website der Chikyu sieht man sogar Bilder von einem Tischtennisturnier. „Bei der dritten Expedition, die lief über Weihnachten und Neujahr und Geburtstag hatte ich auch noch“, blickt Kurz zurück, „da gaben sie sich schon Mühe. Da hingen dann Socken mit kleinen Geschenken zu Weihnachten herum. Wenn du Geburtstag hast, bekommst du eine Torte“. Auch Patrick Grunert erlebte Weihnachten 2011 an Bord der JOIDES. „Einer hatte sich als Weihnachtsmann verkleidet; der Jüngste an Bord, ein Student aus Japan, hat sich als Rentier verkleidet und wir hatten kleine Geschenke mit, die wir verteilten.“ Heute noch ist er ganz beeindruckt von den künstlerischen Ambitionen der Küchenmannschaft. „Die haben wunderschöne Gebilde aus Speisen gemacht, einen Schokovulkan gab es – die waren wirklich kreativ“, streut er Rosen. „Zu Silvester, das natürlich auch ohne Sekt gefeiert wurde, durfte der Jüngste der Mannschaft, der japanische Student, die Schiffsglocke läuten. Das war eine besondere Ehre, die mir gar nicht so bewusst war“, so Grunert. Neben den „üblichen“ Festen im Jahreskreis bieten Geburtstage und der sogenannte „hump day“ willkommene Anlässe zur Abwechslung. Am „hump day“ wird die
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Auch an Bord muss Zeit für festliche Momente sein; die Küchen-Crew hat ihr Bestes gegeben.
Halbzeit der Expedition gefeiert. „Bei der Expedition 344 haben die Wissenschaftler der Mannschaft ihre Nationalspeisen für die anderen gekocht. Die Japaner haben Sushi und Sashimi serviert, die Italiener Pasta. Das war alles ganz köstlich“, so Kurz, der selbst nicht gekocht hat, wäre er doch als einziger Österreicher an Bord allein am Herd gestanden, was eine ziemliche Herausforderung gewesen wäre. Als ich ihn frage, „und was hättest du gekocht?“, überlegt er, ehe er antwortet: „sicher nicht Wiener Schnitzel, die kennt eh jeder, wahrscheinlich Backhendel, denn für steirisches Krenfleisch hätten sie wohl den nötigen Kren [Österreichisch für Meerrettich] nicht an Bord gehabt.“ Bei einem Resümee frei nach dem Motto, „Was brachten den einzelnen Forschern die Expeditionen auf den Bohrschiffen?“, folgten durchwegs positive Antworten: Für den Postdoc Grunert sollte die Fahrt auf der JOIDES zum Karriereturbo werden. Nach seiner Rückkehr nach Graz ging er zunächst nach Cambridge (Großbritannien), dann nach Rutgers in New Jersey (USA), ehe er 2017 einem Ruf nach Köln als Professor für Mikropaläontologie und Paläoökologie folgte. Sollte er wieder in See stechen, würde er unter deutscher Flagge fahren. Auch der zweite Postdoc, Gerald Auer, machte eine wissenschaftliche Karriere, die ihn über Japan (JAMSTEC) wieder zurück nach Graz führte. Hier ist er seit April 2020 auf einer sogenannten Laufbahnstelle in der Nachfolge seines Lehrers Werner E. Piller, der im Oktober 2019 emeritierte.
Tücken der Gruppendynamik & Alltag in zwei Schichten
Walter Kurz, der vor den Ausfahrten über abgelehnte Forschungsanträge klagte, ist mittlerweile Leiter dreier Forschungsprojekte des FWF. Alle drei stehen im Zusammenhang mit IODP und alle drei beschäftigen sich mit Fragen der Plattentektonik, einem Thema, das ihn schon während des Studiums interessiert hat. Und Michael Strasser ist bei der Expedition 386 (Japan Trench Paleoseismology), die für Frühjahr 2020 geplant war, aber wegen der Coronakrise, die als Pandemie im Frühjahr 2020 die ganze Welt lahmlegte, auf 2021 verschoben werden musste, zum Co-Chief Scientist aufgestiegen. Co-Chiefs, von denen es immer zwei an Bord gibt, sind die obersten Chefs der wissenschaftlichen Crew. „Die Fahrten auf den Bohrschiffen, das ist so ein bisschen wie eine Sucht. Da gibt es Momente, wo es nicht so klappt, da dachte ich mir: ,Was mache ich da, warum tue ich mir das an?‘ Nach einigen Wochen ist man dann endlich wieder an Land.“ Doch statt Hochgefühlen werden hier sentimentale Erinnerungen wach. „Ich will wieder zurück, das ist wie eine Hassliebe. Du bist hier mit den weltbesten Köpfen der Forschung unterwegs in einem Team, das ist schon etwas ganz Besonderes und Einzigartiges“, verfällt Michael Strasser geradezu ins Schwärmen.
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Aus Expeditionstagebüchern
Tücken der Gruppendynamik Alltag in zwei Schichten
Aus Expeditionstagebüchern Respekt vor Privatem und Persönlichem
Wer wissen will, wie Forscher ticken, muss sie nicht unbedingt persönlich kennenlernen. Es gibt auch andere Wege, die Natur der Forscherpersönlichkeiten zu ergründen: Schreibtische, private Bibliotheken und auch Tagebücher sind wichtige Mosaiksteine im Leben der Wissenschaftler. Sie erlauben Rückschlüsse, geben indirekte Einblicke in die Arbeitsweise und dokumentieren – im Falle von Tagebüchern – auch den persönlichen Alltag, sofern er niedergeschrieben wurde. Frei nach dem Motto, „Zeig mir, wie du arbeitest, und ich sage dir, wer oder wie du bist.“ Ich gestehe: Mein Schreibtisch ist chaotisch, vollgeräumt, meine private Bibliothek ist umfangreich. Aber leider nicht so geordnet, dass ich alles finde, und Tagebuch führe ich keines. Dies aus gutem Grund: Ich will nicht, dass später andere darin lesen. Ob die Forscher wollten, dass das später jemand liest? Haben sie es nicht nur für sich persönlich festgehalten? Diese Gedanken beschäftigen mich und so lese ich ihre Aufzeichnungen mit Respekt. Für dieses Buch habe ich in der umfangreichen Sammlung wissenschaftlicher Tagebücher der Geologischen Bundesanstalt gestöbert. Die Palette reicht von akribisch geführten Aufzeichnungen, die ausschließlich wissenschaftliche Ergebnisse enthalten – diese habe ich wieder beiseitegelegt –, zu solchen, die auch persönliche Eintragungen enthalten. Davon habe ich vier repräsentative Tagebücher ausgewählt. Sie stammen von Wissenschaftlern, die in diesem Buch vorkommen. Allein, dass sie Tagebücher geführt haben, diese erhalten sind und im Archiv deponiert wurden, ist ein Glücksfall. Unklar ist bei den alten Beständen, wie sie zu uns kamen. Gaben sie die Wissenschaftler zu Lebzeiten ins Archiv oder haben wir sie von den Erben erhalten? Vieles lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Sie stehen der Nachwelt zur Verfügung, geben Einblicke in das persönliche Leben und wollen – mit Rücksicht auf die Verfasser – mit Ehrfurcht gelesen werden. Das Tagebuch des Geologen Johann Baptist Anton Karl Cžjžek (1806–1855) enthält die Beobachtungen, die er im Sommer 1850 im Auftrag der k. k. geologischen Reichsanstalt bei seinen Arbeiten im Feld machte.
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Aus Expeditionstagebüchern
Hochstetters Heimreise: Aden geologisch betrachtet
„Sonntag, den 18 Dez. [1859]
Ein herrlicher warmer Tag, Land ausser Sicht, erst gegen Mittag werden die hohen Gebirgsketten an der arabischen Küste schwach sichtbar, u. bald nach 12h steigt der zackige Vulkankegel von Aden aus dem Meer auf. 280 Ml [Meilen] ist unser runn [Englisch: run = Wegstrecke, Reisefortschritt] seit gestern, das ist besser, als wir erwarten konnten, u. viel früher als wir gerechnet kommen wir in Aden an. Um 4 ½ h schon passirten wir Cap Aden, u. lenkten ein in die Bai Bunder Juwe, zwischen den beiden erloschenen Vulkankegeln Tibbel Shuoan 1776’ hoch, d. i. das Vulkangerüste, in dessen altem Krater Aden selbst liegt u. Tibbel Hassan (1237’) an der Westseite der Bai. Aden liegt lat. [Latitude = geografische Breite] 12° 46 N u. long. [Longitude = geografische Länge] 45° 10 O. Um 5 ½ h fiel der Anker. Ein merkwürdiger Anblick dieses Felsnest Aden, ein vulkanisches nicht Gerüste sondern Gerippe, wie ein Haufen von Schlacken, Aschen, u. compakten Lawaströmen mit säulenförmiger Absonderung – ächte Basaltsäulen – in regelmässiger vom höchsten Punkt nach aussen abfallender Schichtung über einander. Der lose Schichtencomplex durchsetzt u. gleichsam zusammengehalten nur von zahllosen die Schichten quer u. steil durchsetzenden Gangmassen. Dunkle braune, schwarze u. rothe Farben, da u. dort an den dunkeln Felsmassen gelbe Sandfelder aufgemacht.“
Das Tagebuch Ferdinand von Hochstetters (1829–1884) stammt aus der Sammlung meines Kollegen Albert Schedl. Er hatte vor Jahren einen kleinen Teil des Hochstetter-Nachlasses erworben und stellt ihn immer wieder für Forschungen zur Verfügung. Die erste Transkription besorgte Sascha Nolden, Hochstetter-Experte an der Alexander Turnbull Library in Neuseeland. Dieses Tagebuch ist das fünfte und letzte seiner Novara-Tagebücher. Es enthält unter anderem Aufzeichnungen über Australien und dokumentiert lückenlos seine Heimreise. Die Ankunft in Aden am 18. Dezember 1859 zeigt einmal mehr seinen geologischen Blick mit der Beschrei-
Hochstetters Heimreise: Aden geologisch betrachtet
bung der Gesteine und die Genauigkeit seiner Aufzeichnungen, insbesondere bei Ortsund Zeitangaben. Hochstetter war als Geologe an Bord der Fregatte SMS Novara bei deren Weltumsegelung (1857–1859). Er schrieb nicht nur fünf Tagebücher – vier sind als Schenkung der Hochstetter-Erben im Besitz des Naturhistorischen Museums in Wien –, sondern sandte von jedem Hafen Briefe mit Reiseeindrücken nach Wien. Diese wurden entsprechend zeitversetzt in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Er blieb von Dezember 1858 bis Oktober 1859 in Neuseeland und kehrte erst im Jänner 1860 heim. Hochstetter gilt als „Vater“ der Geologie Neuseelands. Ausgehend von seinem Neuseelandaufenthalt entwickelte sich ein lebhafter Austausch zwischen heimischen Wissenschaftlern und Julius von Haast (1822–1887), einem in Neuseeland ansässigen deutschstämmigen Geologen, der 1859 eng mit Hochstetter kooperiert hatte.
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Aus Expeditionstagebüchern
Tietzes persisches Tagebuch: doppelt hält besser
„Der Weg von der Abigermquelle nach Melar aufwärts am Abhang des Berges in nordöstlicher Richtung führt oberhalb der auf dem etwas unterhalb befindlichen Plateau stehenden Ruine Gemad (aus der Gebernzeit) vorüber. Vis à vis Schospher, dessen Namen übrigens meinem Führer aus Abigerm unbekannt war, und mehr gegen den Fluss der steile Felsen Nelkemar. Wenn ich schrieb, dass die Liasformation zwischen die Kalke des Schospher eingeklemmt sei, so meinte ich zwischen dem hohen eigentlichen Gipfel des Schospher und dem Nelkemar. Das Dorf Gesenagh liegt auf dem linken Herasufer am Ausgange des langen vom Demavend kommenden Thales Taluh. Etwas oberhalb [nächste Seite:] Gesenagh liegt das Dorf Gasun.“
Emil Tietzes (1845–1931) persische Tagebücher sind sehr klein, exakt 7,8 mal 12,2 Zentimeter. Sie haben in etwa das Format einer dünnen Zigarettenschachtel. Das hat den Vorteil, dass man sie leicht verstauen kann, aber den Nachteil, dass kaum Platz für Eintragungen ist. Dementsprechend schrieb Tietze sehr klein. Dazu kommt, dass der Fluss der Sätze unruhig und die Schrift schwer zu entziffern ist. Möglicherweise tat er sich selbst schwer seine eigene Schrift zu lesen, das wäre eine plausible Erklärung der Transkription durch ihn selbst. Diese ist mit ruhiger Hand geschrieben und für alle leicht lesbar. Die Textstelle oben stammt aus: Dr. Emil Tietze, Tagebuch aus Persien Nr III, – 4) Reise nach dem Demavend Mitte August – 19. Sept. 1874 (Fortsetzung) Abigerm – Tschalusgebiet. Tietze, ein gebürtiger Deutscher (Breslau), kam 1870 über Vermittlung von Guido Stache (1833–1921) als unbezahlter Volontär an die k. k. geologische Reichsanstalt in Wien. Nach ersten Kartierungsarbeiten ging er 1873 in englischem Auftrag nach Persien. Als diese Mission 1874 zu Ende ging, blieb er bis zu seiner Heimkehr im November 1875 in Diensten der persischen Regierung. Tietze, der unter der Direktion (1866–1885) Franz von Hauers (1822–1899) aufgenommen worden war, machte in 48 Jahren eine mustergültige Karriere an dieser Institution. In Anlehnung an den weitverbreiteten Ausdruck „vom Tellerwäscher zum Präsidenten“ durchlief Tietze eine Laufbahn vom Volontär zum Direktor. Dieses Amt sollte er als Nachfolger von Stache sechzehn Jahre lang innehaben. Auch privat fasste er Fuß in Wien: 1879 heiratete er Rosa von Hauer, die Tochter seines Vorgesetzten. Tietze ist somit ein Musterbeispiel gelungener Integration.
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Aus Expeditionstagebüchern
Pillewizers schwerste Stunde: die Todesnachricht Hecklers
[26. Juli 1954]
„[…] zu beantworten. Mitten im Brief werde ich um 16 h zum Telefon gerufen und Jochen teilt mir mit aufgeregter Stimme aus Saret die Hiobsbotschaft mit, daß Karl tot sei! Abgestürzt vom Rafik am Kitchener Monument während des Photographierens der vor ihm gehenden Kolonne und im Hunzafluß ertrunken! Die Leiche ist abgetrieben und noch nicht gefunden. Ich bin wie erschlagen, gehe zurück und sag es den anderen und dann zum Mir [hoher Lokalpolitiker], der weiß es bereits durch Ali Gohar [lokaler Verbindungsmann]; auch er ist erschüttert, denn er konnte Karl besonders gut leiden und hat z.B. für ihn Gehörne verschiedener Wildarten vorbereitet, das ganze Tal wird alarmiert, die Leiche zu suchen, doch es besteht wenig Hoffnung, sie zu finden, da der Fluß zu hoch geht. Ich rufe nochmals in Saret an und frage Eugen und Jochen, sie sollen von der Unglücksstelle Bilder machen, falls dies noch nicht geschehen ist. Dann kommen wir überein mit der Todesmeldung bis morgen zu warten, obwohl die Aussichten Karl zu finden äußerst gering sind.“ Das schwarz gebundene Tagebuch mit Goldprägung Deutsch-Österreichische Himalaya-Karakorum Expedition 1954 des Geodäten, Kartografen und Glaziologen Wolfgang Pillewizer (1911–1999) kam durch Zufall im Sommer 2019 in meine Hände. Peter Pecher, ein Freund Pillewizers, brachte es zusammen mit Büchern und Karten an die Geologische Bundesanstalt in der Hoffnung, dass dies alles der Nachwelt erhalten bliebe. Jene Unterlagen, die die obige Expedition betreffen, gehen an das Archiv des Alpenvereins, der umfangreiche Bestände von dieser Expedition hat. Den Rest erhält die TU Wien, wo Pillewizer zuletzt Ordinarius war; Paulus Ebner, der Archivar, übernimmt den Nachlass, der somit nachhaltig sichergestellt ist. Das Tagebuch wurde von Pillewizer betitelt mit Tagebuch der DÖHKE und beginnt am 28. 4., dem Tag der Abfahrt vom Münchener Hauptbahnhof. Er schrieb zunächst mit Kugelschreiber und nummerierte rechts oben mit fortlaufenden Seitenzahlen. Beschrieben wurde immer nur die rechte Seite. Zwischen den Blättern befand sich jeweils ein Blatt aus dünnerem Papier mit Perforation zum heraustrennen. Unter Verwendung von Blaupapier entstand eine Durchschrift. Diese Kopie wurde herausgetrennt
Pillewizers schwerste Stunde: die Todesnachricht Hecklers
und diente als Sicherung der Aufzeichnung. Einige der Kopien befinden sich lose im Tagebuch. Auf diese Weise wurde zunächst die rechte Seite bis S. 99 (Datum 20. 7.) beschrieben. Bei Seite 100 drehte Pillewizer das Tagebuch um und beschrieb es somit von hinten bis Seite 168 mit Eintrag vom 20. 9. So kommt es, dass bei aufgeschlagener Doppelseite im Tagebuch eine Seite auf dem Kopf steht. Die Deutsch-Österreichische Himalaya-Karakorum-Expedition 1954, kurz DÖHKE, stand unter der wissenschaftlichen Leitung Pillewizers. Das zehnköpfige Team bestand aus Forschern, darunter Hans-Jochen Schneider (1923–2006) als Geologe, und aus Bergsteigern. Die Forscher hatten die Aufgabe, im Hunzatal (Pakistan) glaziologische Messungen durchzuführen. Dabei kam es zum tragischen Unfall Karl Hecklers. Begleitet wurde die Expedition vom Dokumentarfilmer Eugen Schuhmacher (1906–1973). Er drehte den preisgekrönten Film Im Schatten des Karakorum. Im Vorspann wird Hecklers gedacht, der am 26. Juli 1954 in der Hunzaschlucht abstürzte und tödlich verunglückte. Pillewizer veröffentlichte seine Eindrücke in dem Buch Zwischen Wüste und Gletschereis – Deutsche Forscher im Karakorum (1961).
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Aus Expeditionstagebüchern
„Dienstag, 4. Juli 1972
Maturas Weg ins Gelände: Warten auf Lastenträger
Um etwa 10h bringt unser Counterpart [= offizieller Begleitbeamter] die Nachricht vom Distriktswali, daß wir unsere Fahrt fortsetzen dürfen. Bei brütender Hitze brechen wir in Richtung Alingar auf. Um etwa 12h unterbrechen wir die Fahrt in Alingar um unseren Durst mit Tee zu stillen. Zum Staunen meiner Kollegen bestelle ich mir etwas zu essen. Eine besondere Wonne nach Tisch. Ein kurzes Bad im Alingar Fluß, einem klaren kalten rel. großen Gebirgsfluß. Fortsetzung der Fahrt. Knapp vor dem Ende der mit dem Kfz befahrbaren Straße eine Ortschaft, in der wir längere Zeit anhalten müssen, um das Problem des Lastentransportes nach Nilaw zu diskutieren. Wir trennen uns mit dem Ergebnis, daß morgen früh eine genügend große Anzahl von Trägern bereit sein wird. Nach kurzer Fahrt schlagen wir unser Camp auf einer Schotterterrasse auf, die angeblich vor etwa 50 Jahren der Ort eines grausamen Blutbades gewesen sein soll. (Stammesfehde, 1000de Tote). Wir alle sind von der Hitze total erschöpft. Ich kann in der darauffolgende Nacht kaum schlafen. MC 3/ 15 – 21
Laghman Lagerplatz Alingartal Camp am Straßenende“ Dieser Eintrag stammt aus dem ersten von zwei ringgebundenen Heften (A5), Tagebücher, die Alois Matura vor einigen Jahren dem Archiv der GBA (Geologische Bundesanstalt) persönlich übergab. Zusätzlich dabei waren auch einige topografische Karten mit handschriftlichen Eintragungen zur Kartierung der Geologie des Projektgebietes in Nurestan (Afghanistan). Die Hefte enthalten schriftliche Einträge, manchmal auch kleine Skizzen, die während der Afghanistanexpedition der GBA im Jahr 1972 angefertigt wurden. Der erste Blick zeigt, dass der Eintrag von einem strukturiert arbeitenden Forscher stammt. Unterhalb des Textblockes
Maturas Weg ins Gelände: Warten auf Lastenträger
sind Filmnummer und Motive notiert. Nichts bleibt dem Zufall überlassen, alles ist leicht nachvollziehbar. Maturas Aufzeichnungen enthalten neben den wissenschaftlichen Einträgen individuelle Wahrnehmungen und Befindlichkeiten. Im Jahr 1966 begann Matura seine Karriere an der GBA als wissenschaftlicher Assistent, sein Arbeitsschwerpunkt waren kristalline Gesteine. Später übernahm er auch die Redaktion der geologischen Karten. Die Afghanistanexpedition 1972 der GBA stand unter der Leitung von Gerhard Fuchs. Weiters waren Otmar Schermann, ebenfalls Geologe an der Geologische Bundesanstalt, und Alois Matura dabei. Als Grundlage für eine spätere Rohstoffprospektion war eine geologische Karte zu erstellen. Die drei fuhren mit einem VW-Bus von Wien bis in ihr Arbeitsgebiet, sprich ins Gelände, wie es im Geologenjargon heißt. Zahlreiche größere und kleinere Pannen und immer wieder auftauchende Probleme mit Trägern wurden schlussendlich gemeistert.
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„Was wird von meinen Forschungen bleiben?“
Tücken der Gruppendynamik Alltag in zwei Schichten
„Was wird von meinen Forschungen bleiben?“ Endstation ewiger Ruhm
Wollen Forscher zu Lebzeiten stets mit aktueller Fachliteratur versorgt werden, so kommt mit zunehmendem Alter die Frage: „Was wird von meinen Forschungen bleiben?“ Der durchaus nachvollziehbare Wunsch, dass die oft Jahrzehnte währenden Forschungen Anerkennung in der Fachwelt finden, dass die wissenschaftliche Arbeit nicht vergeblich war, zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben der Forscher und ist nur allzu menschlich. Publikationslisten sind damals wie heute wichtige Gradmesser für die Bedeutung von Wissenschaftlern. Heute zählt neben der Anzahl der Veröffentlichungen, der Quantität, vor allem die Qualität. Und die Qualität wird im sogenannten Peer-Review-Verfahren bestimmt. „Die peers, Kolleginnen und Kollegen, sind die einzige kompetente Kontrollinstanz, die Publikationen und Forschungsanträge begutachten kann. Peers entscheiden darüber, welche Wissensbehauptungen Eingang in wissenschaftliche Fachzeitschriften finden. Sie befinden über Forschungsstipendien und die Förderung von Forschungsprojekten und damit nicht selten über die Durchsetzungschance neuer Erkenntnisse und erfolgreiche Wissenschaftlerkarrieren“, schreibt Georg Schütte, Generalsekretär der Alexander von Humboldt-Stiftung, im Jahr 2009. Mich erinnern Publikationslisten an Trophäensammlungen und Abschusslisten von Jägern. Auch hier geht es neben der Anzahl (Quantität) der erlegten Tiere auch um deren Qualität. So ist Hirsch nicht gleich Hirsch, ein Zwölfender zählt mehr als ein Zehnender. Auch der universitäre Lebenslauf, die Zugehörigkeit und Mitarbeit bei international renommierten Forschungsinstitutionen und Fachvereinigungen sind neben anderen Aspekten wesentliche Punkte in Forscherkarrieren. Bereits im Alter von 34 Jahren „bekam“ Eduard Suess ein Denkmal, wenngleich auch nur als Karikatur im Neuen Freien Figaro.
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„Was wird von meinen Forschungen bleiben?“
Mit dem Tod kommt es sozusagen zur Endabrechnung. Verfasser von Nachrufen haben das Leben und die Leistungen des Verstorbenen zu würdigen; die Publikationsliste war und ist einer der wesentlichsten Eckpunkte, auch als es noch kein Peer-Review-Verfahren gab. Wer in der Fachwelt in guter Erinnerung bleiben will, war und ist gut beraten sich schon zu Lebzeiten darum zu „kümmern“.
„Das Verzeichnis meiner Publikationen vollständig“
Der Geologe Emil Tietze (1845–1931) blickte nicht nur auf ein langes Leben, sondern auch auf eine erfolgreiche Karriere zurück. Er war 1901 Vizedirektor und von 16. Juli 1902 bis Ende Dezember 1918 der fünfte Direktor der k. k. geologischen Reichsanstalt. Damit reiht er sich in die Liste der längst gedienten Direktoren dieser Institution ein. Im Jahr 1900 wurde er von der k. k. Geographischen Gesellschaft zu ihrem Präsidenten gewählt. Er hatte dieses Amt sieben Jahre inne und bekam 1915 mit der Franz-von-Hauer-Medaille die höchste Auszeichnung der Geografen verliehen. Forscherherz, was willst du mehr? Natürlich wurde sein Werden und Wirken nach seinem Tode am 4. März 1931 in einem umfangreichen Nachruf mit über vierzig Seiten im Jahrbuch der Geologischen Bundesanstalt gewürdigt. Verfasser war kein Geringerer als der damals amtierende Direktor Wilhelm Wilhelm Hammer, Geologe. Hammer (1875–1942). Nicht weniger als 281 Publikationen listet Hammer im Nekrolog auf. Wichtige Arbeiten und Schaffensperioden werden ausführlich gewürdigt. Freilich könnte man meinen, dass ein langer Nekrolog mit all seinen Publikationen für einen verdienten, langjährigen Direktor ohnehin selbstverständlich sei. Doch Tietze schien sich zu Lebzeiten dieser Sache offenbar nicht ganz sicher und wurde daher selbst initiativ. Den Beleg dafür liefert ein Zufallsfund, den ich im Jänner 2020 in unserem Archiv machte. In seinem letzten Lebensjahr schrieb er am 21. April 1930: „An die geologische Bundesanstalt. Es ist mein Wunsch, dass das Verzeichnis meiner Publikationen vollständig bei dem in den Schriften der geologischen Bundesanstalt eventuell erscheinenden Nekrolog mitgedruckt werde. Die Mehrkosten, die diese vollständige Drucklegung des Verzeichnisses verursacht, sollen meine Erben der geologischen Bundesanstalt ersetzen in einer Form, dass es
„Das Verzeichnis meiner Publikationen vollständig“
Emil Tietze wollte sicherstellen, dass seine Veröffentlichungen mit seinem Nekrolog gedruckt werden.
wirklich dieser zu Gute kommt, ohne dass das betreffende Geld als Einnahme der Bundesanstalt an das Ministerium abgeführt werden müsste.“ Weiters verfasste er einen zwölfseitigen Lebenslauf und eine sechzehnseitige „Promemoria“, in der er seine wesentlichen Publikationen und deren Bedeutung im Detail erläuterte. Freilich bemühte sich Tietze festzuhalten, dass seine schriftlichen Aufzeich-
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„Was wird von meinen Forschungen bleiben?“
nungen „nicht für den direkten Abdruck“ bestimmt seien. Gleichzeitig räumte er ein, dass sie für „denjenigen, der eventuell meinen Nekrolog verfasst, von Interesse sein kann [können]“. Mit einem Wort: Durch Tietzes Wink mit dem Zaunpfahl wusste Hammer, was zu tun war. Die Frage, warum Tietze derart darauf bedacht war, in der wissenschaftlichen Community nach seinem Tod gut dazustehen, mag mit seinem familiären Umfeld zusammenhängen: „Emil Tietze war seit 1879 mit Rosa von Hauer, der Tochter Franz von Hauers (1822–1899), vermählt. Er hinterließ einen Sohn, Geheimrat Professor Dr. Heinrich Tietze in München, und drei Töchter, von denen eine mit dem Professor der Geologie an der Montanistischen Hochschule in Leoben Dr. Wilh. Petrascheck (1876–1967) verheiratet ist“, schreibt Hammer in Tietzes Nachruf. Tietze wiederum verfasste nach dem Tod seines Schwiegervaters, der 1899 verstorben war, eine 148-seitige (!) Würdigung samt Porträtbild und Publikationsverzeichnis: Franz v. Hauer. Sein Lebensgang und seine wissenschaftliche Thätigkeit. Ein Beitrag zur Geschichte der österreichischen Geologie. Hauer war ab 1866 nicht nur der zweite Direktor der k. k. geologischen Reichsanstalt, er war ab 1885 auch Intendant des k. k. naturhistorischen Hofmuseums, dessen Neubau 1889 eröffnet wurde. Er war zweifelsfrei einer der ganz Großen in den Erdwissenschaften. Dass Hauer dementsprechend gewürdigt wurde, entsprach seinen Verdiensten. An Hauer kam, sieht man von Eduard Suess (1831–1914) ab, keiner heran. Tietze wollte seinem Schwiegervater, zumindest im Rahmen der Möglichkeiten, nicht nachstehen. So gleicht sein Nachruf, der ebenfalls Porträtbild und Publikationsverzeichnis enthält, einer verkleinerten Version des Nachrufes auf Hauer. Dass der Nachruf so wurde, hatte Tietze geschickt zu Lebzeiten zu initiieren gewusst.
Tauchen bei Publikationslisten Arbeiten, wie etwa diese Ueber den Hauerit, eine neue Mineralspecies aus der Ordnung der Blenden, auf, sollte man hellhörig werden. Hier geht es um ein neu entdecktes Mineral, dem der Name Hauerit gegeben wurde. Autor dieser 1847 erschienenen wissenschaftlichen Arbeit war der Mineraloge Wilhelm Haidinger (1795–1871), der von 1849 bis 1866 erster Direktor der k. k. geologischen Reichsanstalt war. In Hauerit verbirgt sich der Name Hauer, die Endung „-it“ bedeutet, dass es sich um ein Mineral handelt. Haidinger erklärte die Namensnennung: „[…] während ich doch durch den Namen Hauerit auf den Einfluss meines jungen Freundes [Franz von Hauer, 1822–1899] in dem Hergang der Bestimmung der Spezies erinnern konnte.“ Aber auch dem hochverehrten Vater galt die Erinnerung, „Seiner Excellenz dem k. k. Herrn Hofkammer-Vice-Präsidenten Joseph Ritter von Hauer [1778–1863], dessen Liebe zu den Naturwissenschaften […]“. Haidinger
Nur für Insider: Namenspatenschaften
Nur für Insider: Namenspatenschaften
würdigte mit dem Hauerit, einem Mangansulfid (MnS2), das kubisch kristallisiert und in der Mohs’schen Härteskala die Stufe 4 hat, Vater und Sohn. Damit folgte Haidinger einer wissenschaftlichen Tradition, die bis in unsere Tage gepflegt wird. Geht es um die Benennung neuer Mineralien, Fossilien, Tiere oder Pflanzen, ist es üblich, verdiente Kollegen zu ehren. Auch Mäzene und Förderer wurden und werden derart verewigt. Wird bei Mineralien dem Namen die Endung „-it“ angefügt, bieten Fossilien, Tiere oder Pflanzen mehrere Möglichkeiten: Seit der Einführung der binären Nomenklatur durch den schwedischen Naturforscher Carl von Linné (1707–1778) bestehen wissenschaftliche Namen aus zwei Teilen, dem Art- und dem Gattungsnamen. Im Falle des Menschen, Homo
Franz von Hauer, Doyen der Paläontologie.
Der Ammonit Pinacoceras metternichi, eine wissenschaftliche Referenz an einen großen Politiker und Mäzen.
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sapiens Linné, ist Homo der Gattungs- und sapiens der Artname, dahinter folgt der Name jenes Naturforschers [hier: Linné], der den Namen erstmals vergab. Forscher können entweder im Gattungsnamen (zum Beispiel Oberhauserina oder Oberhauserella) oder im Artnamen (oberhauseri) verewigt werden, wobei der Gattungsname mehr Gewicht hat. Pate eben erwähnter Mikrofossilien ist Rudolf Oberhauser (1926–2008), Geologe, Mikropaläontologe und Herausgeber der Monografie Der Geologische Aufbau Österreichs (1980). Um bei Franz von Hauer zu bleiben: Als er als Bergwerkspraktikant im Jahr 1846 die Arbeit Die Cephalopoden [= Kopffüßer] des Salzkammergutes aus der Sammlung seiner Durchlaucht des Fürsten von Metternich veröffentlichte, verewigte er seinen Förderer Klemens Wenzel von Metternich (1773–1859) in gebührender Weise. Er vergab den Artnamen metternichi für ein bis dato unbekanntes und somit neues Fossil in der Sammlung Seiner Durchlaucht, die er als Ammonites metternichi HAUER bezeichnete. „Unter allen Ammoniten aus der Umgegend von Hallstatt verdient diese Art, ihrer auffallenden Form, ihrer merkwürdigen Lobenzeichnung, so wie auch ihrer ansehnlichen Grösse wegen als die interessanteste hervorgehoben zu werden.“ Heute trägt dieses ausgesprochen schöne Fossil, das bis über einen halben Meter im Durchmesser erreichen kann, den wissenschaftlichen Name Pinacoceras metternichi. Im Zuge wissenschaftlicher Revision wurde das Fossil einer neuen Gattung (Pinacoceras) zugerechnet, doch die Art metternichi bleibt bis zum heutigen Tag bestehen. Gefunden wurde diese Spezies nicht nur im Salzkammergut (Österreich), sondern in ihrem ganzen einstigen Lebensraum, dem Meer der Tethys. Dies belegen Funde des einstigen Kopffüßers von den Alpen und dem Salzkammergut bis hin zum Kaukasus, dem Himalaya und Timor (Indonesien). Selbstverständlich findet sich auch Franz von Hauer als Pate wieder, etwa beim Tirolites haueri, einem Ammoniten. Im Grunde werden all diese Benennungen gegenseitiger Wertschätzung nur innerhalb der eigenen Fachdisziplin wahrgenommen. Auch wenn die breitere Öffentlichkeit davon kaum Kenntnis bekommt, innerhalb der Community sind derartige Würdigungen Balsam für eitle Forscherseelen.
Zur Wertschätzung durch die Kollegenschaft kommt die Wahrnehmung in der breiten Öffentlichkeit. Was verbindet der Mann, die Frau auf der Straße mit dem Wissenschaftler X oder Y? Wenn man davon ausgeht, dass ein Großteil der Bevölkerung weiß, dass Charles Darwin (1809–1882), nach dem in Wien Leopoldstadt die Darwingasse benannt ist, die Evolutionstheorie begründete, so wissen sicher nicht annähernd so viele Menschen, wofür der Wiener Erwin Schrödinger (1887–1961) im Jahr 1933
Für alle sichtbar: öffentliche Wahrnehmungen
Für alle sichtbar: öffentliche Wahrnehmungen
den Nobelpreis bekam. Wohl haben ihn noch manche in Erinnerung, zierte sein Bildnis doch seit 1983 die 1.000-Schilling-Banknote [EUR 72,67]. Besser könnte der Nobelpreisträger kaum positioniert sein. Mit dem höchsten Geldwert der Banknoten war der „Tausender“ eine Maßeinheit für Wünsche des Hilfsarbeiters ebenso wie des mittelständischen Familienvaters. Mit einem „Schrödinger“ Der Franz-Hauer-Platz vor der Geologischen Bundeskonnte man sich schon etwas leisten. anstalt – Ergebnis eines Tauschhandels. Um einmal noch Franz von Hauer zu strapazieren, er gehört wie auch Haidinger und Mohs zu jenen, nach denen in Wien eine Gasse benannt wurde. Dazu eine wahre Wiener Geschichte aus Wien Landstraße: Die kaum zwanzig Meter lange Hauergasse führte von der Erdberger Lände direkt zum Firmentor der Wiener Niederlassung der Firma Henkel, die vor allem für Waschmittel (Persil) bekannt ist. Als der Henkel-Konzern mit dem Wunsch nach einer Fritz-Henkel-Gasse an das Magistrat der Stadt Wien herantrat, war die Lösung bald gefunden: Die Hauergasse wurde nach dem deutschen Firmengründer Fritz Henkel (1848–1930) in Fritz-Henkel-Gasse umbenannt. Im Gegenzug wurde jener namenlose Vorplatz vor dem Neubau der Geologischen Bundesanstalt mit der Adresse Neulinggasse 38 zum Franz-Hauer-Platz (ebenfalls Wien Landstraße). Ein klassischer Namenstausch, so geschehen im Jahr 2006, zur Freude beider Institutionen. Gassenbenennungen sind ebenso öffentlich sichtbar wie Grabstätten. Diesen wird vor allem in Wien ein besonderes Augenmerk geschenkt. In einem Ehrengrab bestattet zu sein, gehört zu den größten postmortalen Ehren in der einstigen Reichshaupt- und Residenzstadt. Denn der Tod und alles, was damit verbunden ist, hat in Wien und bei den Wienern einen ganz besonderen Stellenwert, ganz im Sinne des legendären Sängers und Komponisten Georg Kreisler (1922–2011), der sang: Der Tod, das muss ein Wiener sein. Auf den Schauspieler und Kabarettisten Helmut Qualtinger (1928–1986), der mit Carl Merz (1906–1979) gemeinsam den Herrn Karl, ein Theaterstück, das Einblick in die Wiener Seele der Nachkriegszeit gibt, verfasst hat, geht der Satz zurück: „In Wien mußt’ erst sterben, damit sie dich hochleben lassen. Aber dann lebst’ lang.“ Die im Zusammenhang mit dem Tod immer wieder zitierte „letzte“ oder „ewige Ruhe“ ist relativ. Selbst einmal begraben, heißt das noch lange nicht, dass der oder die Verstorbene die letzte Ruhe genießt, manchmal ist es eben nur die vorletzte. „Schuld“ ist unter anderem des Wieners Freude am Ehrengrab. Wer ein Ehrengrab bekommt, der hat es für Wiener Begriffe „geschafft“. Dazu muss man wissen, dass es Ehrengräber aus-
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schließlich am Wiener Zentralfriedhof in Wien Simmering gibt, der am 1. November 1874 eröffnet wurde. Dieser ist mit seinen rund 300.000 Gräbern und einer Fläche von 2,5 Quadratkilometern der zweitgrößte Friedhof Europas; der größte ist in Ohlsdorf bei Hamburg. Wer sich bei den Ehrengräbern entlang der Friedhofsmauer (Gruppe 0), wo viele Wissenschaftler begraben liegen, umsieht, bemerkt, dass hier viele schon vor (!) 1874 verstarben. Das heißt, sie liegen hier nicht in ihrem ursprünglichen Des Wieners letzter Wunsch: ein Ehrengrab. Grab, sondern in ihrem zweiten Grab; dies betrifft im Übrigen auch Mozart, Schubert und Beethoven. Wurde Mozart am Friedhof in St. Marx in Wien Landstraße bestattet, so fanden Beethoven und Schubert ihr erstes Grab am Währinger Friedhof in Wien Währing; heute liegen die sterblichen Überreste der drei Musiker im Löss des Wiener Zentralfriedhofs. Unter den Ehrengräbern der Gruppe 0 befindet sich auch jenes der Weltreisenden Ida Pfeiffer. Die in Wien am 14. Oktober 1797 geborene und ebenfalls hier am 27. Oktober 1858 verstorbene Pfeiffer traf in Berlin Alexander von Humboldt (1769– 1859) und korrespondierte mit ihm. 1842 machte sie ihre erste Reise nach Palästina und Ägypten. Weitere sollten folgen, darunter zwei Weltreisen in den Jahren 1846 bis 1848 und 1851 bis 1855. Pfeiffer reiste nicht nur, sie publizierte auch zahlreiche Bücher. Bekannt ist unter anderem ihr dreibändiges Opus Eine Frauenfahrt um die Welt (1850). Auch heute noch sind ihre Werke in erschwinglichen Taschenbuchausgaben erhältlich. Begraben wurde sie am Friedhof von St. Marx, wo auch schon Mozart seine erste Ruhestätte gefunden hatte. Nach ihrem Tod geriet sie zunächst in Vergessenheit. Just als ganz Wien im Bann der zwei Polarhelden Julius Payer (1842–1915) und Carl Weyprecht (1838–1881) stand, die im September 1874 mit ihrer Mannschaft von der Österreichisch-Ungarischen Nordpolarexpedition am Wiener Nordbahnhof eintrafen, erinnerte sich ein Journalist des Neuen Wiener Tagblattes am 4. Oktober 1874 an eine Frau, an Ida Pfeiffer. Angesichts dieser Expedition verstanden die Wiener und Wienerinnen – wahrscheinlich zum ersten Mal –, dass große Leistungen nicht unbedingt ausschließlich von siegreichen Feldherren oder großen Künstlern stammen müssen. Der anonyme Schreiber sah darin „ein schönes Zeugniß für den geistigen Fortschritt, den unsere Stadt im letzten Jahrzehent machte. Vordem hätte eine That und eine Errungenschaft, wie wir
Für alle sichtbar: öffentliche Wahrnehmungen
sie jetzt feiern und ehren, die Gemüther in Wien wenig bewegt“. Nachdem er darauf hingewiesen hatte, dass es freilich nicht die erste Forschungsfahrt war – er erwähnte die Weltumsegelung der Fregatte SMS Novara (1857–1859) –, forderte der Autor, dass jenen, denen damals die gebührende Ehre nicht erwiesen wurde, diese wenigstens heute [1874] zu erweisen wäre. Und so wurde er dem Titel seiner Kolumne Von einer Halbvergessenen gerecht: „Die drückendste Schuld in dieser Richtung aber, die wir abzutragen haben, ist die Verewigung des Andenkens der Wienerin Ida Pfeiffer. Diese heroische Frau hat der Wissenschaft Dienste geleistet, die Ehre verdienen.“ Damit nannte er die wahrscheinlich erste Wiener Heldin der Wissenschaft und bemühte sich ihren Namen in Form einer Straßenbezeichnung zu würdigen. War damals im Ida Pfeiffers Ehrengrab am Wiener Zentralfriedhof. Zuge der Stadterweiterung großer Bedarf an neuen Namen, so war einst der Name einer Frau wohl ähnlich schwierig durchzubringen wie heute der Name eines Mannes bei neuen Straßen und Gassen. Heißt es heute beim Vorschlag neuer Straßennamen „Ladies first!“, war es damals wohl umgekehrt. Immerhin gibt es heute den wahrscheinlich nur Insidern bekannten Ida-Pfeiffer-Weg. Er befindet sich zwischen romantischen Hinterhöfen rund um den Sünnhof in Wien Landstraße, aber auch erst seit 2008. Es sollte noch bis in die 1880er-Jahre dauern, ehe es am 1874 eröffneten Zentralfriedhof Ehrengräber gab. Schubert und Beethoven wurden schließlich 1888 hier wiederbestattet, nachdem es schon 1884 eine Freigabe zu deren Exhumierung gegeben hatte. Zunehmend kam in Kreisen rund um die Interessen der Verstorbenen der Ruf nach Ehrengräbern auf. So übernahm etwa der honorige Österreichische Ingenieurund Architektenverein die Kosten für die Wiederbestattung des Architekten Van der Nüll (1812–1868) am Zentralfriedhof. Zurück zu Ida Pfeiffer. Am 5. November 1892 fand am Zentralfriedhof die würdevolle Wiederbestattung statt. Eine Feier, zu der unter anderem der Präsident des Jour-
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nalisten- und Schriftstellervereins Concordia, Professor Wilhelm Friedrich Warhanek (1828–1894), sowie Vertreter des militär-geographischen Institutes, des Vereins für erweiterte Frauenbildung und des Hausfrauenvereins kamen. Musikalisch wurde die Feier vom Schubertbund und von Posaunisten der Hofoper verschönt. Die Initiative für das Ehrengrab war vom Verein für erweiterte Frauenbildung ausgegangen, der eine Petition an den Wiener Gemeinderat gerichtet hatte, die am 17. Mai 1892 thematisiert wurde. Am 8. November 1892 berichtete sogar die Linzer Tages-Post in einer kleinen mit Ehrengrab für eine Frau betitelten Notiz von der Reiseschriftstellerin Ida Pfeiffer.
Der Mineraloge Mohs: dreimal bestattet
Entwurf für das Grabmal von Friedrich Mohs.
Von den Wissenschaftlern sei der Mineraloge Friedrich Mohs (1773–1839) herausgegriffen, der am Zentralfriedhof seine dritte (!) Ruhestätte fand. Mohs, ein gebürtiger Deutscher (Gernrode in Sachsen-Anhalt), kam 1802 nach Wien, ging dann nach Graz, ehe er 1826 Professor der Mineralogie an der Universität Wien wurde. Er begründete die nach ihm benannte zehnstufige Härteskala mit Diamant als härtestem Mineral. 1839 starb er am 29. September an Dysenterie, einer Darminfektion (Ruhr), in Agordo, Venetien. Da Mohs Protestant war, durfte er damals nicht auf dem dortigen katholischen Friedhof begraben werden, sondern wurde außerhalb an der Friedhofsmauer in einem ausgemauerten Grabe beigesetzt. Für seine Schüler war das keine würdige Grabstätte, sie setzten alles daran, ihren Lehrer nach Wien heimzuholen. Nachdem eine erste Initiative gescheitert war, bildete sich 1865 erneut ein Komitee, dem der Geologe und Paläontologe Moriz Hörnes (1815–1868), der Mineraloge und Verfasser des Köchelverzeichnisses Ludwig Ritter von Köchel (1800–1877) und Wilhelm von Haidinger angehörten. Sie hatten sich das Ziel gesetzt, Mohs nach Wien zu holen und
Der Mineraloge Mohs: dreimal bestattet
ihm ein würdevolles Grabmal errichten zu lassen. Platz dafür sahen sie am „protestantischen Friedhofe nächst der Matzleinsdorfer Linie“ (Matzleinsdorfer Friedhof in Wien Favoriten). Am 10. März 1866 erfolgte die „definitive“ Bestattung in der Gruft in Wien, nachdem der Leichnam zuvor mit der Bahn von „Conegliano bis Wien ohne Entgelt“ überführt worden war. Diese Details stammen aus dem ausführlichen Bericht von Hörnes und Köchel: Das Mohs-Grabdenkmal: Bericht über die Ausführung desselben an die Theilnehmer der Subscription (1866). Lesenswert sind hier auch die Beiträge der Spender, die insgesamt 3.622 Gulden zusammentrugen. Mit dem Betrag wurde nicht nur das Grabmal aus blaugrauem Mauthausener Granit samt Inschrift und Fundament (1.560 Gulden) finanziert, sondern auch allerlei Drucksorten wie Partezettel (30 Gulden). Nachdem 1865 in Wien Landstraße die Mohsgasse nach ihm benannt worden war, hätte Die dritte Grabstätte von Mohs, ein Ehrengrab am man meinen können, Mohs hätte seine Wiener Zentralfriedhof. ewige Ruhe gefunden. Doch als sich die Möglichkeit von Ehrengräbern am Wiener Zentralfriedhof bot, wollte man auch Mohs hier bestattet wissen. Einige verdiente Männer, darunter Staatsrat Adolf Freiherr von Braun (1818–1904), der Sekretär des wissenschaftlichen Klubs Felix Karrer (1825–1903) sowie die Wiener Mineralogen Albrecht Schrauf (1837–1897) und Gustav Tschermak (1836–1927) nahmen sich der Sache an. Bei der nunmehr zweiten Exhumierung wurde Mohs’ Leichnam auch wissenschaftlich untersucht. Details sind auch virtuell bei ANNO (AustriaN Newspapers Online) im Neuen Wiener Tagblatt vom 29. November 1888 zu erfahren: „Der Schädel war mit Humus bedeckt und hatte eine braune Farbe angenommen, einzelne Knochenreste lagen im Sarge zerstreut, während der Rock, mit dem die Leiche bekleidet war, keine besonderen Spuren der Verwüstung zeigte.“ Der Anatom Carl Toldt (1840–1920) und der Anthropologe Augustin
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eisbach (1837–1914) – Letzterer schrieb unter anderem Beiträge zur Kenntnis der W Schädelformen österreichischer Völker (1867) – vermaßen für wissenschaftliche Zwecke den Schädel von Mohs, ehe er am Zentralfriedhof nunmehr zum dritten Mal bestattet wurde (Gruppe 32A).
Während die Worte „letzte“ oder „ewige Ruhe“ durch„Ein Universitätsprofessor schießt auf den neuen Rektor“ aus metaphorisch verstanden sein wollen, gelten Fried-
höfe auch als Oasen der Ruhe. Dem ist, was den Wiener Zentralfriedhof betrifft, keineswegs immer so, denn er liegt nur rund zehn Kilometer vom Flughafen in Schwechat entfernt. An manchen Tagen – dies hängt von der herrschenden Windrichtung ab – fliegen die großen Jets nahezu im Minutentakt in einer Höhe von nur rund 300 Metern über den Friedhof. Auch wenn es hier mit der Ruhe nicht weit her ist, lernt man damit umzugehen. Doch was wäre, wenn plötzlich ein Schuss fiele? Damit rechnet niemand, doch auch das gab es. Und zwar am 30. Juni 1932 um ¾ 12 Uhr. Der Ort des Geschehens: Das Ehrengrab (Gruppe 14C/03) des Botanikers Richard Wettstein (1863–1931), dessen Grabstein ein knappes Jahr nach dem Begräbnis feierlich enthüllt wurde. Der Schuss wurde in voller Mordabsicht abgefeuert. Die Zeitungen berichteten am Tag danach in reißerischen Schlagzeilen: Ein Universitätsprofessor schießt auf den neuen Rektor – Bürgermeister Seitz als Lebensretter titelte die Arbeiter-Zeitung. Die Tageszeitung der
Das Attentat am Wiener Zentralfriedhof auf Othenio Abel sorgte für Empörung und Schlagzeilen.
„Ein Universitätsprofessor schießt auf den neuen Rektor“
Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, Das Kleine Blatt, schrieb: Mordversuch auf dem Zentralfriedhof. – „Halt, du Schuft, jetzt rechnen wir ab!“ Der hier genannte Rektor war kein Geringerer als der renommierte Paläontologe und Begründer der Paläobiologie, Prof. Dr. Othenio Abel (1875–1946). Abel war ein international hoch anerkannter Experte auf seinem Gebiet, aber auch bekannt für seine antisemitische Einstellung. Dass dies in voller Breite bekannt wurde, ist dem Journalisten Klaus Taschwer (Der Standard) zu verdanken. Details beschrieb er am 9. Oktober 2012 in dem Artikel Othenio Abel, Kämpfer gegen die „Verjudung“ der Universität. Dazu Taschwer im O-Ton: „Othenio Abel [gründete] deshalb ein geheimes Netzwerk aus insgesamt 18 christlichsozialen und deutschnationalen Professoren, die sich in unipolitischen Fragen koordinierten. Diese Geheimclique operierte unter dem Decknamen ‚Bärenhöhle‘, der sich wiederum von einem Seminarraum am Institut für Paläontologie herleitete, wo sich die Professoren trafen.“ Ziel der Männergruppe war die Verhinderung von Karrieren, was ihnen in einigen Fällen auch „gelang“. Doch nun zum Attentäter. Ich stütze mich auf die Angaben des ÖBL, des Österreichischen Biografischen Lexikons, das von der Akademie der Wissenschaften herausgegeben wird. Karl Camillo Schneider wurde 1867 in Sachsen geboren, studierte Zoologie in Leipzig und München, promovierte 1890 und wurde 1898 von der Universität Wien nostrifiziert. Er arbeitete als Assistent am II. Zoologischen Institut der Universität Wien und war unter anderem in Neapel und an der Universität Gießen tätig. Er habilitierte sich an der Universität Wien und wurde 1911 außerordentlicher Professor. Im Juli 1932 wurde er suspendiert und im September in Ruhe versetzt. Schneider sah in Abel den Grund seiner Suspendierung beziehungsweise den Grund seiner verhinderten Karriere und wollte sich rächen. Schneider war der Behörde gegenüber sehr offen: „Ich gebe offen zu, daß ich den Schuß in der Absicht abgefeuert habe, den gegenwärtigen Professor Dr. Othenio Abel zu ermorden. Ich habe mich mit diesem Entschluß schon lange getragen, habe aber nicht Gelegenheit gehabt, meine Absicht auszuführen, da ich mit Professor Abel selten zusammentraf. Ich wußte, daß ich ihn bei der Einweihung des Wettstein-Denkmals treffen werde, und bin in der besten Absicht hingegangen, ihn durch einen Schuß zu töten. Professor Abel hat, als die Besetzung einer ordentlichen zoologischen Lehrkanzel fällig war, gemeinsam mit dem verstorbenen Professor Wettstein meine Berufung auf diese Lehrkanzel hintertrieben. Ich bin daher zu dem Entschluß gekommen, Professor Abel für dieses Vorgehen zu strafen. Es ist mir aber nicht gelungen.“ (Der Tag, 1. Juli 1932). Die Frage nach dem genauen Tathergang soll noch beantwortet werden. Vor dem Grab hatten sich hochrangige Vertreter aus Wissenschaft und Politik mit den Familienangehörigen und dem Wiener Männergesangsverein versammelt. Abel hatte eben mit seiner Rede begonnen. Schneider drängte sich in die erste Reihe vor und rief: „Halt, du Schuft, jetzt rechnen wir ab!“ Dabei drückte er aus rund einem Meter E ntfernung
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ab. Der Schuss aus der 6-Zentimeter-Steyrpistole traf Abel, verletzte ihn aber nicht. Bürgermeister Karl Seitz (1869–1950) drückte den Arm des Attentäters zu Boden und verhinderte Schlimmeres. Doch ehe Verstorbene in (Ehren-)Gräbern, deren Ausführung Rückschlüsse auf die einstige Bedeutung erlauben, ihre Ruhe finden, werden sie noch feierlich zu Grabe getragen. Auch Begräbnisse sind Gradmesser der Berühmtheit; die sprichwörtliche „schöne Leich’“, wie es auf Wienerisch heißt, ist so etwas, wie ein letztes Mal auf den Putz hauen.
Emil Holub: zu früher Nachruf Wer kennt Emil Holub? Heute wohl nicht einmal jene Menschen, die in der Holubstraße in Wien Leopoldund eine „schöne Leich’“
stadt wohnen. Wohl noch eher jene von Holice in Tschechien, einem Ort in der Nähe der Stadt Pardubice im Norden des Landes. Dort befindet sich eine Statue, die einen aufrecht stehenden Mann mit Tropenhelm zeigt. 1964 wurde hier ein Afrikamuseum als Holub-Gedenkstätte eröffnet (Památník Dr. Emila Holuba – Africké muzeum), das große Teile seiner einst umfangreichen Sammlungen präsentiert. Das kommt nicht von ungefähr, denn in Holice wurde am 7. Oktober 1847 jener Holub geboren, der am 21. Februar 1902 in Wien verstarb. Zwischen diesen beiden Daten steht das abenteuerliche Leben eines bedeutenden Afrikaforschers, dessen Vorbild der große David Livingstone (1813–1873) war. Holub, der 1872 nach Südafrika ging und dort zunächst als Arzt arbeitete, sah fortan in der Erforschung des Schwarzen Kontinents seine Lebensaufgabe. Finanziell und auch gesundheitlich waren seine Jahre nach der Rückkehr nicht gerade die leichtesten. Über seine letzten Tage berichteten die einstigen Zeitungen nahezu in Echtzeit. Statements über gesundheitliche Befindlichkeiten waren bei Vertretern des Kaiserhauses durchaus üblich, bei Wissenschaftlern aber die Ausnahme. Einmal mehr sind sie ein Beweis für Holubs damalige Bekanntheit und Bedeutung. Nachfolgende Originaltexte dokumentieren die Chronologie seines Sterbens. Sie beginnen mit einem zwei Wochen vor seinem Tod in Berlin Emil Holub, umtriebiger Afrikaforscher. voreilig veröffentlichten Nachruf.
Emil Holub: zu früher Nachruf und eine „schöne Leich’“
8. Februar 1902: „Ein voreiliger Nachruf für Dr. Holub. Ein Berliner Blatt brachte kürzlich die Nachricht von dem Tode Emil Holub’s. Der Vorsitzende der Abtheilung Frankfurt der Deutschen Kolonialgesellschaft richtete an die Witwe des angeblich Gestorbenen ein Kondolenzschreiben, auf welches ein Dankschreiben eingelangt ist, in welchem es unter anderem heißt: ‚Für den herzlichen Nachruf, den Sie mir gehalten, sage ich meinen besten Dank und bitte ich, mir auch ferner ein freundliches Angedenken zu bewahren. Todt bin ich noch nicht. Ich bin aber schon sechs Monate bettlägerig. Ich leide an den Folgen der Zambesimalaria.‘ Dr. Holub gibt dann eine Schilderung des Verlaufes der langwierigen Krankheit und schließt: ‚Weiß der Himmel, wann ich wieder das Bett verlassen werde können. Alle bis jetzt angewendeten Mittel schlugen fehl. Mit den herzlichsten Grüßen Ihr getreuer Emil Holub.‘“ (Ostdeutsche Rundschau, 8. Februar 1902). 15. Februar 1902: „Die Besserung im Befinden des kranken Afrikaforschers Dr. Emil Holub wurde neuerdings durch das Hinzutreten eines schweren Nervenleidens wesentlich beeinträchtigt. Der Zustand des Kranken ist daher bedrohlich.“ (Illustrirtes Wiener Extrablatt, 15. Februar 1902). 16. Februar 1902: „Folgendes Bulletin wurde ausgegeben: ‚Bei dem um 7 Uhr Abends stattgefundenen Consilium mit Professor Pahl und Dr. Läufer wurde der Zustand des Kranken als sehr besorgnißerregend gefunden, da sich zu der bestehenden Nierenaffection urämische Erscheinungen einstellten. Kaiserlicher Rath Dr. Kohn.‘ – Wie uns mitgetheilt wird, ist sehr wenig Hoffnung vorhanden, den Schwerkranken am Leben zu erhalten.“ (Neues Wiener Journal, 16. Februar 1902). 20. Februar 1902: „Das Leben des Dr. Emil Holub schwebt in ernster Gefahr. Seine Verwandten sind auf das Schlimmste gefaßt und fürchten jeden Moment den Eintritt der Katastrophe. Heute früh um 9 Uhr wurde folgendes Bulletin ausgegeben: ‚Die urämischen Erscheinungen nehmen zu, das Sensorium ist andauernd getrübt. Kaiserlicher Rath Dr. Kohn.‘“ (Wiener Zeitung, 20. Februar 1902). 21. Februar 1902: „Dr. Emil Holub ringt mit dem Tode. Mit dem letzten Rest ihrer fast unverwüstlichen Kraft kämpft die starke Natur des unglücklichen Forschers gegen den nahenden Tod an. Jahrelanges schleichendes Siechthum hat Holub’s Kräfte völlig aufgezehrt. Heute weilte die ganze Nacht über der behandelnde Arzt kaiserlicher Rath Dr. Kohn beim Krankenbette; unermüdlich waren Holub’s heldenhafte Gattin und der aufopfernde Arzt darauf bedacht, die Schmerzen des Sterbenden zu lindern. Heute Vormittags wurde folgendes Bulletin ausgegeben: ‚Seit gestern vollkommene Bewußtlosigkeit. Während der Nacht häufig auftretende Convulsio-
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nen, Lähmungserscheinungen fortschreitend.‘“ (Neues Wiener Tagblatt, 21. Februar 1902). 22. Februar 1902: „Ein österreichischer Forscher, dessen Name und dessen Wirken bei den Gelehrten, wie beim Volke bekannt und geschätzt war, ist gestern gestorben. Dr. Emil Holub, der gestern nach längerem schweren Leiden aus dem Leben schied, verdankte seinen Ruhm außer der Bedeutung seiner wissenschaftlichen Leistungen wohl auch dem Nimbus der Unerschrockenheit, dem zauberischen Reiz selbsterlebter kühner Abenteuer in meilenfernen fremden Landen, unter der sengenden Sonne Afrikas.“ (Illustrirtes Wiener Extrablatt, 22. Februar 1902). Die erwähnte Malaria hatte sich Holub bei seiner zweiten Afrikareise (1883–1887) geholt. Als er nach Europa zurückkehrte, brachte er die Malaria mit, deren Folgen ihn zunehmend einschränken sollten. Folgt man den Ausführungen im Illustrirten Wiener Extrablatt (22. Februar 1902), so quälten ihn seit damals täglich Fieberfröste. Zwei Jahre vor seinem Tod erkrankte er an einer Lungen- und Rippenfellentzündung. Nach der Genesung kam noch ein Knoten-Erythema, das nach monatelangen Qualen wieder verschwand, ehe sich das oben erwähnte Nierenleiden einstellte.
Holubs Sarg wurde, wie beim Begräbnis Kaiserin Elisabeths, von einem achtspännigen Prunk-Galawagen gezogen.
Topografische Würdigungen rund um den Globus
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Aufgebahrt war Holubs Leiche, wie damals üblich, zu Hause. Da die Holubs in der Rotunde im Prater in Wien Leopoldstadt wohnten, war er dort auch aufgebahrt, freilich nicht im zentralen Bau, sondern in einem Zimmer in den Süd-Arkaden des Gebäudekomplexes, das über eine Holztreppe zu erreichen war. Hier wurden unzählige Kränze und Kondolenzschreiben überbracht. Die Bandbreite der Überbringer reichte vom Kaiser bis zum Verkehrspersonal des Bahnhofs Vorgartenstraße in Wien Leopoldstadt. Holubs Einsegnung erfolgt am 24. Februar in der Kirche St. Nepomuk (Praterstraße, ebenfalls Wien Leopoldstadt). Sein letzter Weg glich in Ansätzen einem Staatsbegräbnis: „Der Sarg wurde hierauf auf den achtspännigen Prunk-Galawagen der ‚Concordia‘ gehoben. Den imposanten Zug eröffneten zwei berittene Sicherheitswachleute, dann kam ein Herold zu Roß und zwei Laternenträger in altspanischer Tracht. Nach ihnen schritt in Achterreihen die Deputation der Tramway-Bediensteten. Ihr folgten vier Blumenwagen, welche mit herrlichen Kränzen hochaufgethürmt waren. Nun kam der achtspännige Leichenwagen. Links und rechts gingen Fackel- und Schildträger mit den Initialen des Todten, ein Trauerwagen mit der Witwe und den Trauergästen folgte dem Sarge, und nun schloß sich ihm eine hundertköpfige Menge an.“ (Neue Freie Presse, 25. Februar 1902). Die Stadt Wien erwies ihre Wertschätzung durch ein Ehrengrab (Gruppe 14A, Nr. 11). Wäre es ein echtes Staatsbegräbnis gewesen, wäre nicht eine „hundertköpfige Menge“ gefolgt, sondern hätten Zehntausende den Weg gesäumt; aber eine „schöne Leich’“ war es allemal.
Neben der weitverbreiteten Benennung von Pflanzen, Topografische Würdigungen Tieren, Fossilien und Mineralien nach verdienten Forrund um den Globus schern und Forscherinnen finden sich die Namen bekannter Naturforscher auch im weiteren geografischen Kontext wieder. Bei Bergen, Gletschern oder gar Ländern tauchen immer wieder die Namen verdienter Wissenschaftler auf. Dafür gibt es weltweit zahlreiche Beispiele. Der Humboldtstrom etwa ist eine kalte Meeresströmung, die sich von der Antarktis entlang der Westküste Südamerikas zieht. Pate war kein Geringerer als der große Alexander von Humboldt. Ähnlich bedeutsam ist das Franz-Josef-Land, eine Inselgruppe im Arktischen Ozean. Bekanntlich wurden diese Inseln im Zuge der Österreichisch-Ungarischen Nordpol-Expedition am 30. August 1873 entdeckt. Die Männer nannten dieses Neuland im wahrsten Sinn des Wortes spontan „Kaiser Franz Josef-Land“. Doch damit war es nicht getan; um den Namen des Hauses Habsburg zu verwenden, bedurfte es der offiziellen Zustimmung. Und diese holten sie gleich nach der Rückkehr am 25. September 1874 ein. Payer und Weyprecht verfassten am 27. September ein formloses Schreiben ganz ohne Briefkopf inklusive Rechtschreib-
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fehler [Flage versus Flagge] an den Kaiser, um seine Zustimmung zur offiziellen Benennung zu erhalten. „Eure Majestät! In unser Vaterland zurückgekehrt, nahen wir Führer der österreichisch-ungarischen Polarexpedition uns mit einer unterthänigen Bitte dem Throne unseres Monarchen. Es ist uns im Laufe der Reise geglückt, hoch im Norden ausgedehnte Länder zu entdecken, um die österreichisch-ungarische Flage [sic!] auf Punkten aufzupflanzen, die vor uns noch kein menschlicher Fuß betreten hatte. Geruhen Eure Majestät uns die Erlaubnis zu ertheilen, diesem Land den Namen ‚Franz-Josef-Land‘ beilegen zu dürfen, zur fortwährenden Erinnerung an die Flagge, unter welcher es entdeckt wurde, und an den Monarchen, unter dessen huldreicher Förderung die Expedition zu Stande kam. Wien am 27. September 1874 Payer Oberleutnant Weyprecht“ Der Kaiser stimmte zu und vermerkte auf dem Schreiben „genehmigt“, versehen mit seinem Kürzel (FJ). Aufbewahrt wird dieses Dokument im Haus-, Hof- und Staatsarchiv. Abgebildet ist es in dem Buch Kaiser Franz Joseph I. (1830–1916) von Michael Göbl und Irmgard Pangerl (2015). Durch die Novara-Expedition, im Rahmen derer der junge Geologe Ferdinand von Hochstetter vom 22. Dezember 1858 bis 2. Oktober 1859 in Neuseeland blieb und gemeinsam mit dem dortigen Geologen Julius Haast (1822–1887) die Geologie Neuseelands in ihren Grundzügen erarbeitete, entstanden enge Beziehungen zwischen Wien und Neuseeland. Unzählige Briefe belegen den wissenschaftlichen Austausch und die Kooperation. Haast war angewiesen auf die Expertise der Forscher aus der Alten Welt. Die heimischen Wissenschaftler waren an der Geologie Neuseelands, aber auch an Fossilen wie den Skeletten der ausgestorbenen Riesenvögel („Moa“), die sogar auf der Wiener Weltausstellung 1873 gezeigt wurden, interessiert. Als Zeichen der Anerkennung ernannte am 20. März 1862 – also bald nach der Rückkehr Hochstetters – der Direktor der k. k. geologischen Reichsanstalt, Wilhelm Haidinger, Julius Haast zum „Correspondenten der k. k. geologischen Reichsanstalt“. Im Gegenzug benannte Haast, um seine Wertschätzung auszudrücken, einen Berg nach Haidinger. Der 3.068 Meter hohe Mount Haidinger befindet sich im Mount-Cook-Nationalpark auf der Südinsel Neuseelands. Hier liegt auch der Franz-Josef-Gletscher, den Haast nach dem Kaiser benannte. Offizielle Schreiben wie das oben erwähnte von Payer und Weyprecht sind nicht bekannt. Doch dem Monarchen dürfte es gefallen haben, sonst hätte er Haast nicht den Orden der Eisernen Krone 3. Klasse verliehen. Haidinger jedenfalls, das ist verbrieft (Schreiben von Haidinger an Haast vom 14. April 1863), war gerührt:
Mehr(t) Forscherdenkmale!
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Wilhelm Haidinger, Begründer der k. k. geologischen Reichsanstalt in Wien, verewigt in Neuseelands Bergwelt.
„Wie sehr bin ich Ihnen nicht, hochverehrter Freund zu Danke verpflichtet für den glorreichen Mt. Haidinger! Wie wenig dachte ich wohl an so etwas, wenn ich als Knabe Cooks Reisen mit meinen Geschwistern vorhatte, und wir uns an den Schilderungen der Entdeckungen ergötzten.“ Freilich agierte hier Hochstetter, der eng mit Haast kooperierte, im Hintergrund. So gab er in einem Schreiben vom 13. März 1860 Haast einen Wink mit dem Zaunpfahl: „Für neue Berge, Flüsse, Thäler u. Höhlen empfehle ich Dir folgende Namen: Haidinger, […].“ Die Reihe topografischer Bezeichnungen nach Forschern ließe sich noch beliebig lange fortsetzen bis hin zum 3.000 Meter hohen Pillewizer, einem Berggipfel in der Venedigergruppe (Salzburg), der nach dem Glaziologen und Geodäten Wolfgang Pillewizer (1911–1999) benannt wurde.
Eine weitere Steigerung der Berühmtheit stellen DenkMehr(t) Forscherdenkmale! mäler dar. Von der Größe und Ausführung bis hin zum Aufstellungsort lassen sich Rückschlüsse auf die Bedeutung der Person ableiten. Doch auch hier gilt: Wenn nicht eine Lobby dahintersteht, jemand der das Projekt aktiv betreibt, sich um Finanzierung, Aufstellungsort etc. küm-
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Die Balustrade des Naturhistorischen Museums zieren Statuen berühmter Wissenschaftler.
mert, geht gar nichts. Wimmelt es in Wien förmlich von imposanten Denkmälern für Künstler, allen voran Musiker, denen Politiker und Strategen folgen, fragt man sich: Wo sind die Wissenschaftler? Lohnend ist ein Rundgang entlang der Wiener Ringstraße in Wien Innere Stadt, wo zahlreiche Denkmäler vereint sind. Schiller und Goethe sind hier ebenso zu finden wie die Feldherren Prinz Eugen, Erzherzog Karl oder Radetzky. Sucht man Wissenschaftler, muss man den Blick nach oben richten: Auf der Balustrade des Naturhistorischen Museums stehen 34 überlebensgroße Statuen berühmter Naturforscher. Die Fassade zieren Porträtköpfe und Medaillons weiterer Forscher. Bemerkenswert ist, dass es sich ausschließlich um damals schon verstorbene Forscher handelt; lediglich Charles Darwin fand noch zu Lebzeiten einen Platz an der Fassade des damals in Bau befindlichen Museums. Ein weiterer Treffpunkt von Berühmtheiten sind die Arkaden der Universität Wien, hier gibt es zahlreiche Büsten und Reliefs von bekannten Forschern und Forscherinnen. Doch am Museum wie an der Universität wirkt es so, als hätte man sie verbannt an die Fassade, die Balustrade oder in den Arkadenhof, möglichst entfernt vom unmittelbaren Sichtbereich der Straße. Freistehende Denkmäler von Wissenschaftlern findet man kaum. Die 1944 aufgestellte übergroße Steinstatue des Chirurgen Theodor Billroth (1829–1894) im Innenhof des Alten AKH (Allgemeines Krankenhaus in Wien Alsergrund) dürfte wohl das
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einzige Denkmal eines Naturforschers im weiteren Sinne sein. Ein weiteres freistehendes Denkmal, wenngleich nur eine Porträtbüste, steht am Schwarzenbergplatz in Wien Landstraße neben dem Hochstrahlbrunnen. Der Geologe und Begründer der Ersten Hochquellenwasserleitung Eduard Suess (1831–1914) hat hier (wieder) eine Bleibe gefunden. Die bald hundertjährige Geschichte dieses Denkmals gleicht einem ZickZack-Kurs mit drei Aufstellungsorten und erinnert darin an Friedrich Mohs, dessen Leichnam dreimal bestattet wurde.
Schon zu Lebzeiten, als bekannt wurde, dass Suess sich Die Suess’schen Denkmäler für die Herbeischaffung von Karstwasser aus dem Raxund Schneeberggebiet in Niederösterreich für die Erste Hochquellenwasserleitung einsetzte, würdigten in den 1860er-Jahren humorvolle Kollegen den damaligen Mittdreißiger durch drei imposante Denkmalentwürfe. Publiziert wurden sie im Neuen Freien Figaro. Herausgegeben wurde dieses geologische Bierblatt von Guido Stache (1833–1921) und Carl Maria Paul (1838–1900), zwei Geologen der k. k. geologischen Reichsanstalt. Der Preis des Neuen Freien Figaro war erschwinglich: „Für Einzelnummern genügt als Bezahlung ein freundliches Grinsen, für Doppelnummern mit Beilagen wird ein lautes und ungekünsteltes Lachen beansprucht.“ Am 21. November 1865 erschien der Entwurf eines Suess Monumentes in heroischer Auffassung und in urweltlichem Renaissance Styl von dem Architekten Stache ausgeführt. Als Vorlage diente das am 18. Oktober 1865 enthüllte Prinz-Eugen-Denkmal von Dominik Fernkorn (1813–1878). Suess, hier „Eduardo Dulci“ genannt, reitet auf einem urzeitlichen Rüsseltier mit nach unten gebogenen Stoßzähnen. Ein Medaillon am Sockel des gigantischen Monuments trägt die Inschrift: „Dem weisen Ratgeber dreier Bürgermeister. Dem Sieger über alle Zeitungs Pascha. Dem Ueberwinder der alten Viper.“ Schon zwei Wochen später folgte der nächste Entwurf, diesmal weniger heroisch mit folgendem Text: „Das Dreiquellen-Männchen als Pendant zum Donauweibchen. Suess-Denkmal in idyllischer Auffassung nach Gasser’schen Motiven in halbantikem Style vom Architekten Stache.“ Der Donauweibchen-Brunnen von Hans Gasser (1817–1868) wurde am 30. September 1865 als erstes Monument im Wiener Stadtpark in Wien Innere Stadt enthüllt. Die drei Quellen sind die Altaquelle in Brunn bei Pitten, die Stixensteinquelle bei Sieding in der Gemeinde Ternitz und der Kaiserbrunnen im Höllental. Der dritte Entwurf in der Ausgabe vom 20. Februar 1866 orientierte sich wieder an einem klassischen Motiv, der Theseusgruppe von Antonio Canova (1757–1822), die heute auf der Prunkstiege des Kunsthistorischen Museums in Wien steht. The Suess besiegt den Mino-lupus. Dritter Entwurf zu einem Suess-Denkmal nach Canova-Paul aus-
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Der Donauweibchenbrunnen im Wiener Stadtpark diente als Vorbild für die Karikatur eines Suess-Denkmals im Neuen Freien Figaro.
geführt vom Architecten Stache. Mit „Mino-lupus“ (zusammengesetzt aus „Minotaurus“ und dem lateinischen Ausdruck für „Wolf“) ist der Geologe Heinrich Wolf (1825– 1882) gemeint, ein Kollege von Stache und Paul an der k. k. geologischen Reichanstalt. Wolf hatte einen Gegenentwurf zur Suess’schen Wasserversorgung vorgelegt und vorgeschlagen Wasser von Quellen in Jedlesee, einem Wiener Vorort am linken Ufer der Donau (heute Wien Floridsdorf ), zu nehmen. Nachdem am 24. Oktober 1873 die Erste Hochquellenwasserleitung feierlich eröffnet worden war und die Zahl der Todesopfer durch schlechtes Trinkwasser nahezu gegen null ging, war nach dem Tod von Suess am 26. April 1914 klar, dass er ein Denkmal erhalten sollte. Ein Ehrengrab, das die Stadt Wien angeboten hatte, wurde seitens der Familie abgelehnt. Er fand Platz in einem schön gepflegten Familiengrab im burgenländischen Marz. Bereits am 27. April 1914 forderte unter dem Titel Ein Denk-
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Im Neuen Freien Figaro vom 5. Dezember 1865 befand sich ein weiteres Denkmal für Eduard Suess: „Das Dreiquellen-Männchen als Pendant zum Donauweibchen.“
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mal für Eduard Sueß ein namentlich nicht genannter „Arbeitsgenosse“ in der Neuen Freien Presse ein Zeichen zu setzen. „Wenn einer es verdient, daß an seiner Grabstätte oder an anderer Stelle ein Wahrzeichen seiner Bürgertugend und Geistesgröße zur beispielgebenden Erinnerung an ihn errichtet werde, so ist es Eduard Sueß!“ Prompt berichtete diese Zeitung am 3. Mai 1914, dass zwei Spenden eingegangen waren; einmal hundert und einmal fünfzig Kronen für ein Suess-Denkmal. Doch dann kam der Erste Weltkrieg und man hatte in Wien andere Sorgen. Nach dem Ende der Monarchie wurde die Erste Republik ausgerufen und wieder war das Suess-Denkmal nicht an oberster Stelle der Wiener To-do-Liste. 1924, zehn Jahre nach seinem Tod – in Wien regierten die Sozialdemokraten („Rotes Wien“) –, erinnerte das Neue Wiener Tagblatt am 16. Mai 1924 erneut an Suess: „Es wäre eine schöne Geste, wenn das sozialdemokratische Rathaus dieser unsterblichen Liebe zur Stadt Wien in einem Denkmale des Bürgers Eduard Sueß ein öffentliches Bild setzte. Kein Wiener kann glauben, daß der Bürgermeister der Stadt und ihr Finanzminister nein sagen, daß sie nicht die ersten sein wollen, wenn um ein Denkmal für Eduard Sueß geworben wird.“ 1925 hatte sich „das geistige Wien“ entschlossen Suess durch ein „künstlerisches Denkmal“ (Neue Freie Presse, 24. Februar 1925) zu würdigen. Dafür war auch ein Denkmalkomitee gebildet worden. Neben dem Unterrichtsminister (Emil Schneider, 1883–1961), dem Bürgermeister der Stadt Wien (Karl Seitz) und dem Rektor der Universität Wien (Hans Sperl, 1861–1959) gehörten viele der damaligen Gelehrtengesellschaft an; unter ihnen war auch Franz Eduard Suess (1867–1941), ein Sohn des Verstorbenen. Freunde und Gönner wurden aufgefordert Beiträge an das Bankhaus Gebrüder Gutmann (Fichtegasse 10, Wien Innere Stadt) zu leisten. Das Neue Wiener Tagblatt (25. Mai 1924) ging einen Schritt weiter und titelte: Wien braucht ein Denkmal. Für Eduard Sueß und zog Vergleiche zu anderen Metropolen Europas: „Berlin hat sein Humboldtmonument, Paris sein Pasteurdenkmal, London sein Darwin monument. Wien hat bis heute kein Denkmal eines Naturforschers.“ 1927 finden wir einen modernen Entwurf von Mario Petrucci (1893–1972): eine vielfarbige Glaspyramide in Kristallstruktur vor dem Hochstrahlbrunnen (Das interessante Blatt, 8. Dezember 1927). Doch die Idee des in Ferrara geborenen Bildhauers erschien den damaligen Entscheidungsträgern offenbar zu innovativ, man entschied sich für eine ganz klassische, um nicht zu sagen, fade, Porträtbüste aus weißem Marmor. Der Entwurf und auch die Ausführung lag in den Händen des Bildhauers Franz Seifert (1866–1951). Er hatte schon zahlreiche ähnliche Aufträge übernommen. So stammen mehrere Büsten im Arkadenhof der Universität Wien und das Strauß-Lanner-Denkmal im Rathauspark von ihm. Da wusste man, was zu erwarten war. 1928 hatte die Deutsche Geologische Gesellschaft beschlossen ihre Jahrestagung in Wien abzuhalten. Damit war klar, was zu tun war, ein Hinauszögern bis zum hun-
Die Suess’schen Denkmäler Erst 1928 erhielt der 1914 verstorbene Geologe Eduard Suess ein Denkmal am Schwarzenbergplatz.
dertsten Geburtstag (1931) ging nicht. Wien „musste“ mit einem Suess-Denkmal vor der deutschen Kollegenschaft reüssieren. Die Eröffnung fand am 19. September 1928 am Schwarzenbergplatz neben dem Hochstrahlbrunnen in Anwesenheit der deutschen Kollegen statt. Es sprach neben Prof. Richard Wettstein (1863–1931), dem Vizepräsidenten der Akademie der Wissenschaften, auch Bürgermeister Seitz. Doch mangels der dafür notwendigen Geldmittel konnte kein großes Denkmal, sondern eben nur eine Büste auf einem Steinsockel verwirklicht werden. Eine treffende Beschreibung lesen wir in der Arbeiter-Zeitung am Tag nach der Eröffnung: „Die Büste des Gelehrten aus Carraramarmor ruht auf einem Sockel aus Salzburger Marmor. In einer Allegorie, die eine Nymphe darstellt, die einem Jüngling einen Trunk Wasser spendet, wird die Wissenschaft als die Schöpferin des großen Wiener Leitungswerkes symbolisiert. Die Inschrift lautet auf der rechten Seite: ‚Dem Schöpfer der Wiener Hochquellwasser
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leitung, dem bahnbrechenden Gelehrten, dem Vorkämpfer für Freiheit und Fortschritt‘, auf der andern Seite heißt es: ‚Errichtet von seinen Schülern, Freunden und Mitbürgern.‘ Die Vorderseite trägt den Namen Eduard Sueß und die Jahreszahlen der Geburt und des Todes. Die Aufstellung ist so gewählt, daß das Antlitz dem Hochstrahlbrunnen zugewendet ist.“ Damit hatte Wien endlich sein Suess-Denkmal, das man am Schwarzenbergplatz bewundern kann. Doch das sollte nicht so bleiben. Das Denkmal wurde 1928 in der Ära des „Roten Wien“ errichtet, überstand den Ständestaat, wurde aber 1938 von den Nationalsozialisten entfernt, da Suess jüdische Vorfahren hatte. Neben dem Suess-Denkmal wurden im Jahr 1938 auch die Büste von Anselm Salomon Rothschild (1803–1874) im Nordbahnhof in Wien Leopoldstadt und das Denkmal von Siegfried Markus (1831–1898) im Resselpark, Wien Wieden, entfernt. Nach dem Ende des NS-Regimes wurde das Suess-Denkmal bei der Geologischen Bundesanstalt in der Rasumofskygasse Nr. 23 in Wien Landstraße erneut aufgestellt, nach heftigen Diskussionen, denn seine Schwiegertochter Olga Suess (1886–1972, Witwe von Franz Eduard Suess) war gegen diesen Standort. Den würdigen Rahmen dafür bildete die Wiederaufbau- und Hundertjahrfeier der 1849 gegründeten Anstalt. Da der Wiederaufbau des zerbombten Palais Rasumofsky (Geologische Bundesanstalt) länger dauerte, konnte die Feier erst zwei Jahre später stattfinden. Am Dienstag, den 12. Juni 1951, also 120 Jahre nach Suess’ Geburt, war es so weit: Um 9:15 Uhr eröffnete der Bundesminister für Unterricht Felix Hurdes (1901–1974) die mehrtägigen Feierlichkeiten. Gleich am ersten Tag wurde um 15:30 Uhr das Suess-Denkmal enthüllt und blieb die nächsten achtzehn Jahre beim Palais Rasumofsky stehen. Seit 1969 befindet es sich wieder am Schwarzenbergplatz; ganz so, als wäre es immer hier gewesen.
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DIE TAGEBÜCHER FRANZ VON HAUERS 1860-1868
Marianne Klemun Wissenschaft als Kommunikation in der Metropole Wien Die Tagebücher Franz von Hauers der Jahre 1860-1868 2020. 460 Seiten, mit 12 s/w Abb., gebunden € 52,00 A | € 50,00 D | ISBN 978-3-205-20968-3 E-Book € 41,20 A | € 39,99 D ISBN 978-3-205-20969-0
Die Erdwissenschaftler der Habsburgermonarchie genossen im 19. Jahrhundert höchste internationale Reputation. Diese beruhte nicht nur auf ihrem außerordentlichen Fachwissen und ihrer Produktivität, sondern auch auf einer gelungenen Kommunikation.
Preisstand 1.1.2020
Ohne Rücksicht auf Status und Hierarchie integrierten die Protagonisten der Geologischen Reichsanstalt alle Repräsentanten der Naturforschung sowohl der Provinz und der wissenschaftlichen Räume Wiens als auch die interessierten Laien in ihr reges interaktiv-offenes Austauschsystem. Die Verbindungen zur politischen Elite, zur Bürokratie sowie auch zu den Medien war eine stetig intensivierte, die bereits im Vormärz ausgebildet worden war, was dem späteren Kampf gegen die Auflösung und Unterordnung der Geologischen Reichsanstalt unter die Akademie der Wissenschaften in Wien zugutekam. Franz von Hauers Tagebuch ist eine außerordentliche Quelle, die uns in die ansonsten verborgene Welt besonders der mündlichen Kommunikation führt.