250 60 32MB
German Pages 100 [114] Year 1981
-·
. ,,_.
'
_,,,'
r
~-,;
J
suhrkamp taschenbuch 66 3
f)
.u i
1/
r·,
Moshe Feldenkrais, geboren r 904 im Slawuta (Rußland), gestorben 1984 in Tel Aviv, wanderte als Fünfzehn jähriger nach dem damaligen Palästina aus. (1930). Studierte Physik Erste Buchpublikation: Autosuggestion in Paris. Gemeinsam mit Juliot-Curie erste Kernspaltung in Frankreich ( 19 3 8). 1940 setzte Feldenkrais seine Forschungen und Versuche in Neuro- und Verhaltensphysiologie und Neuropsychologie in England fort. Seine Vorträge aus dem Jahr 1943 wurden 1 949 in dem grundlegenden Buch Body and Mature Behaviour ( 1 949) veröffentlicht. Feldenkrais war Leiter des wissenschafl:lichen Forschungsinstituts der Wehrmacht in Israel und hielt Vorlesungen an der Universität Tel Aviv. Heute unterrichtet Feldenkrais an den Hochschulen Nordamerikas, an der Sorbonne, in Israel und England. Zu seinen bekanntesten Schülern gehören neben Ben Gurion, Igor Markevitch, Moshe Dayan, Yehudi Menuhin, Peter Brooke, Narciso Yepes, Franz Wurm, der in Zürich das Feldenkrais-Institut leitet, u. a. Doris, Geschäftsfrau, Anfang sechzig, wacht eines Morgens mit schweren Störungen ihres Sprech-, Lese- und Schreibvermögens auf. Ebenso ist ihr räumliches Orientierungsvermögen beeinträchtigt. Alles deutet darauf hin, daß ein kleiner, aber wesentlicher Teil des Gehirns lädiert worden ist. In diesem Buch beschreibt Feldenkrais, auf welche Weise es ihm gelang, die beschädigten Funktionen neu herzustellen. Anhand der Gedankengänge, die er sich - wie ein Detektiv - beim überlegen des Falles machen mußte, führt er den Leser in seine Denk- und Arbeitsweise ein, bucht seine Irrtümer, Rückschläge und Erfolge und stellt dem konventionell beschränkten Begriff bloßer »Heilung« einen neurophysiologisch fundierten Begriff des Lernens gegenüber, durch das nicht nur »geheilt« oder »vorgebeugt« werden, durch das vielmehr jeder Mensch überhaupt erst zur vollen Entfaltung seiner angeborenen Möglichkeiten gelangen kann.
Moshe Feldenkrais Abenteuer im Dschungeldes Gehirns Der Fall Doris Deutsche Übertragung von Franz Wurm
Suhrkamp
Titel der amerikanischen Originalausgabe: The Case of Nora Harper & Row, New York, 1977
suhrkamp Laschcnbuch 663 Erst< Auflage 198, © 1977 by Dr. M. Feldcnkrais, Tel Aviv © der deutschsprJ.chigen Aushabe beim Insel Verlag Frankfurt am Main 1977
Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmi~ung des am Main Insel Verlags, Fr:111kfun Suhrkamp Taschenbuch Verlag Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung
durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Druck: Ebncr Ulm Printed in Gcrmany Umschlab nach Entwürfen von
Willy Fleck haus und Rolf Staudt 6 7 8 9 -
91 90 89 88
Inhalt Vorwort 7 Einführung 9 I. Kapitel Doris. Wer sie ist rr II. Kapitel Ein Ausweg aus dem Labyrinth III. Kapitel Fehler gehören zum Lernen 39 IV. Kapitel Verbessern contra Heilen 53 V. Kapitel Gespräche ohne Worte 61 VI. Kapitel Spüren, um zu verstehen 77 Das Wesen der Realitäten 8 5 Fragen und keine erschöpfenden Antworten darauf 95
2
r
Vorwort Der Fall Doris ist die erste einer Reihe von Geschichten aus meiner Praxis. Jede dieser Geschichten beschreibt einen Teil meiner Arbeit mit Menschen. Das ist faßlicher so, als wenn ich nur erklären würde, wie diese Arbeit funktioniert. Ich gebrauche zweierlei Techniken. Die eine bezeichne ich als »Funktionale Integration«. Sie geht wortlos vor sich, ist nonverbale Manipulation am einzelnen Menschen, ist wörtlich Be-Hand-lung. Die andere ist verbal und wird auch an gemischten Gruppen aller Altersstufen angewandt. Ich nenne sie »Bewußtheit durch Bewegung«. Beide Techniken erweitern die Selbstbewußtheit des einzelnen Menschen und führen dadurch zu einer besseren Lebensmöglichkeit. Methodisch lehren sie Wege, unsere Fähigkeiten zu gebrauchen, auf die viele von uns sonst bestenfalls zufällig stoßen oder stolpern. Daß wir sie gebrauchen und wie wir sie gebrauchen, macht unsere individuelle Persönlichkeit aus. Die Geschichte dieses Falls wurde vor Zuhörern erzählt. Sie ist eine wahre Geschichte. Die Arbeitshypothese, die darin steckt, liegt irgendwo zwischen Intuition und der Glaubenslehre einer kommenden Wissenschaft.
Einleitung Es gibt viele Arten des Lernens. Manche Analphabeten haben mehr und besser gelernt als Sie und ich. Man kann eine Fertigkeit lernen. Man kann lernen, um mehr zu wissen über etwas, das man schon kennt. Man kann lernen, um etwas zu verstehen; oder um etwas, das man schon mehr oder weniger versteht, gründlicher zu verstehen. Aber die wichtigste Art des Lernens geht Hand in Hand mit unserem Wachstum. Ich meine jenes Lernen, bei dem die Quantität wächst und zu einer neuen Qualität wird, und nicht die bloße Anhäufung von Wissen, so nützlich sie auch sein mag. Oft merkt man gar nicht, daß man auf diese Art lernt. Denn diese Art Lernen geht über mehr oder weniger lange Zeitspannen scheinbar ziellos vor sich, und auf einmal ist dann eine neue Handlungsweise da, als wäre sie vom Himmel gefallen. Die meisten Dinge, die für uns wirklich wichtig sind, haben wir auf diese Weise gelernt. So nämlich haben wir gehen gelernt, sprechen, zählen. Diese Art des Lernens hatte keine Methode, kein System, es gab da keine Prüfungen, keinen Termin, bis zu dem wir mit dem Lernen hätten fertig sein müssen. Und es war dabei auch kein vorbestimmtes, klar abgestecktes Ziel zu erreichen. Das also sind die Bedingungen für die wichtigste aller Lernweisen. Unter normal beschaffenen Menschen gibt es bei dieser anscheinend planlosen Methode so gut wie keine Versager. Und unter diesen Bedingungen werden wir zu erwachsenen Menschen, egal ob wir Schulen durchmachen oder Analphabeten bleiben. Der planmäßige Unterricht hingegen, von unserer Kindheit bis zum Erwachsensein, scheint 9
die Tatsache zu übersehen, daß es Lernweisen gibt, die Wachstum fördern und zur Reife führen, bei denen kaum einer durchfällt oder versagt. Er befaßt sich mehr mit dem, was gelehrt wird, als mit der Art, wie; seine Mißerfolge sind häufig. Natürlich gibt es auch Lehrer, ohne die es auf der Welt noch weniger lustig wäre als ohnehin. Der Haken ist, daß es ihrer so wenige gibt. Man hat mehr Chancen, das große Los zu gewinnen, als einen von ihnen als Lehrer zu bekommen. Der Fall, den ich hier erzählen will, führt eine Methode vor, bei der nicht das Lehren, sondern Lernen und Entwicklung des Schülers die Hauptsache sind. Nehmen wir einmal an, ich wollte Ihnen einen Lehrsatz der Geometrie beibringen. Ich lege ihn also dar, versuche mit Ihnen darüber zu räsonnieren, wiederhole dabei mehrmals meine Ausführungen - bis Sie sie ebenso hersagen können wie ich. Diese Art Unterricht geht jeweils so lange, bis Sie den Stoff so vortragen und vielleicht sogar so verstehen können wie ich. Aber wo es um Lernen und Entwicklung geht, halte ich diese Art Unterricht für vollkommen sinnlos. Um bei Ihnen ein echtes Lernen in Gang zu setzen, muß ich mir eine Methode ausdenken, die Sie dahin bringt, den Lehrsatz ebenso durchzudenken wie der Mann, der ihn gefunden hat. Ich kann dabei als Lehrer Ihr Lernen beschleunigen, indem ich Ihnen diese Erfahrung unter den gleichen Bedingungen beibringe, unter denen das menschliche Gehirn ursprünglich gelernt hat. Zu dieser Art Unterricht braucht es etwas mehr als bloß die Fähigkeit, Lehrsätze an der Tafel zu erläutern. Die Geschichte, die ich Ihnen erzählen werde, wird die Situation darstellen, die zum Lernen geführt hat; und erst dann werde ich den Lehrsatz daraus entwickeln. Eigentlich hoffe ich, daß Sie ihn selber entdecken werden, noch bevor ich dazu komme, ihn zu erklären.
I.
Kapitel
Doris. Wer sie ist Hier also die Geschichte, die ich Ihnen versprochen habe. Es mag sein, daß sie Ihnen wie eine Detektivgeschichte vorkommen wird; aber sie stammt, wie gesagt, aus der Praxis. In der Wirklichkeit steckt mehr Phantastisches als in erfundenen Geschichten - wenn man die Wirklichkeit zu lesen versteht. Vor ein paar Jahren war ich in der Schweiz zu Besuch. Ich war dort durch Rundfunksendungen ziemlich bekannt geworden, viele Leute hatten mir geschrieben, darunter eine Frau, die mich bat, ihre Schwester anzuschaun, eine gebildete und intelligente Frau in den Sechzigern, die einen wichtigen Posten innehatte und einige Sprachen sprach. Diese Schwester war eines Morgens aufgewacht und hatte plötzlich Schwierigkeiten gehabt, aus dem Bett aufzustehen; sie fühlte sich etwas steif, ihr Sprechen war auf einmal langsam und ein wenig undeutlich. Sie mußte im Bett bleiben. Man rief den Arzt. Er vermutete, sie habe eine innere Blutung erlitten oder irgendwo ein Blutgerinnsel. Als Doris sich nach ein paar Tagen etwas besser fühlte, stand sie auf, fand aber, daß ihre Sprachfähigkeit beträchtlich gehemmt war: sie konnte zwar klar sprechen, aber nur ziemlich langsam. Eine Weile später wollte sie die Zeitung lesen, aber da wurde alles plötzlich trüb und verwischt, und sie mußte begreifen, daß sie weder lesen noch schreiben konnte. Verständlich, daß sie in Panik geriet. Man brachte sie nach Zürich in eine Nervenklinik. Dort stellte man einen SchaII
den in der linken Gehirnhälfte fest. Da es sich um einen Kreislaufschaden handelte, hoffte man, daß er sich von selbst geben würde. Sie war nicht gelähmt und nur leicht spastisch, auf der einen Seite mehr als auf der anderen. Mit der Zeit wurde ihr Sprechen besser, aber nicht ihr Lesen und Schreiben. Sie konnte nicht mehr ihren eigenen Namen schreiben, ihn auch nicht lesen, weder geschrieben noch gedruckt. Einen Bleistift hielt sie eher wie ein Werkzeug; und auch wenn sie ihn einmal richtig hielt, so konnte sie damit nur kritzeln. Als nach Ablauf eines Jahres keine Besserung in Lesen und Schreiben eingetreten war, brachte man sie wieder heim. Aber nun hatte sie in ihrer eigenen Wohnung Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden: sie konnte die Türen nicht recht finden und stieß oft an Möbel an. Trotz alledem war ihre Intelligenz kaum beeinträchtigt. Sprach man mit ihr, so war ein Ausdruck in ihrem Blick, als ob es ihr schwerfalle zu verstehen, aber in Wirklichkeit verstand sie alles, und ihre Antworten waren zur Sache und klar. Wenn sie auf einem Stuhl saß und sich mit jemandem unterhielt, so waren Rede und Antwort beinah normal, und einem Fremden wäre an ihr nichts aufgefallen. Aber sie litt an schweren Depressionen, und manchmal sagte und tat sie stundenlang nichts. Ihr Schlaf war gut, und auch tagsüber schlief sie öfters ein. Man gab ihr Medikamente, um die Gerinnfähigkeit des Blutes herabzusetzen und weitere solche Unfälle zu verhüten. Da ihr schien, daß die Mittel ihr nicht sonderlich halfen, weigerte sie sich zuweilen, sie zu nehmen; aber ihre Schwester bestand darauf, und so blieb ihr keine Wahl: sie nahm sie weiterhin, mit dem Ergebnis, daß sie bald ständig deprimiert war und kaum mehr einen eigenen Willen hatte. Man mußte sich Tag und Nacht um sie kümmern. 12
Als ich Doris zum erstenmal sah, hatte ich wenig Hoffnung für sie. Aber da man mich für ihre letzte Hoffnung hielt, war ich bereit, sie zu untersuchen, und begann ihre Kopfbewegungen zu prüfen. Ist Ihnen schon aufgefallen, daß der Kopf, auch ungeachtet seines sonstigen Inhalts, an sich etwas sehr Wichtiges ist? Alle Sinnesorgane, die uns mit der Umwelt verbinden, sind dort paarweise angeordnet: die Augen, die Ohren, die Nasenlöcher; und sie bestimmen, wie weit wir den Kopf jeweils drehen. Die Sprache hat nur ein einziges Organ: den Mund. Obwohl auch der Mund sein Verhältnis zum Raum hat, verbindet er weniger den Menschen mit dem Raum im allgemeinen als die Menschen untereinander. Wenn wir uns drehen, um etwas zu sehen oder um etwas zu riechen oder um mit jemandem zu sprechen, müssen wir auch den Kopf drehen. Der Kopf trägt alle »Fernempfänger«, die Telezeptoren; und die Art, wie wir Handlungen ausführen, die mit unseren Sinnen verbunden sind, wirkt sich daher auf die Art unserer Kopfbewegungen aus. Das kann man spüren, wenn man jemandes Kopf mit den Händen zu bewegen versucht. Die Kopfbewegungen können dann rl!ckartig oder einfach ungleichmäßig sein, statt gleitend und fließend von einem Ende zum anderen. Sie können aber auch glatt und dann steif und dann wieder glatt sein. Man wird vielleicht einen Kopf, indem man ihn mit beiden Händen gehoben hält, nur um zehn Grad drehen können und nicht weiter; und wenn man ihn dann ein paarmal in die Mittelstellung und wieder zurückdreht, so wird er sich um einige Grad weiterdrehen. Das bedeutet, daß die Drehbewegung des Kopfes bei aufrechter Haltung und bei Blick auf Augenhöhe ebenfalls ungleichmäßig, steif oder so ist, als würde der Kopf immer wieder irgendwo hängenbleiben, - oder im Bewegungsumfang beschränkt. Die Augen bewegen sich mit dem Kopf, können 13
sich aber auch relativ zum Kopf bewegen, und fehlerhafte Kopfbewegung kann daher auch auf die Augen zurückzuführen sein. Prüft man die Kopfbewegungen, so bekommt man also ein recht gutes Bild von der Art und Weise, wie einer von sich selbst Gebrauch macht, von seinem Zustand also und von dem Bewußtheitsgrad seines Körpers. Zugleich dient diese Untersuchung dazu, die Kopfbewegungen zu verbessern oder ihn daran zu erinnern, daß sie zu verbessern seien; Untersuchung und Behandlung sind praktisch ein und dasselbe. Indem ich Doris' Kopf untersuchte, berührte und bewegte ich ihn immer leichter, um feinere Unterschiede spüren zu können; das wirkte sich auf ihre Halsmuskeln aus, und ihr Kopf ließ sich zunehmend leichter und gleitender hin und her bewegen. Die Patientin reagierte merklich gut: ihr Gesicht belebte sich, ihre Augen hellten sich auf, und die Depression wich nach und nach. Während ich Beine, Arme, Becken, Brust prüfte - und zwar nicht auf das Ausmaß ihrer Beweglichkeit hin, sondern zuallererst auf die Qualität ihrer Bewegungen, also darauf hin, wie leicht sie sich bewegen ließen -, lockerte sie sich noch mehr. Ich drückte gegen eine ihrer Fußsohlen und beobachtete dabei, ob sich der Druck von den Beinen aus durch Becken und Wirbelsäule dem Kopf mitteilen ließ. Das ist nur dann möglich, wenn Muskeln und Skelett in Ordnung sind. Wenn die Muskeln sich lockern und ihren normalen Tonus haben - nicht zu wenig, nicht zuviel -, dann neigt sich der Kopf auf eine Art, an der man ablesen kann, ob das Skelett den Druck gegen die Fußsohle richtig weiterleitet. Was richtig sei und was nicht, werde ich später erklären. Nachdem ich ungefähr eine Dreiviertelstunde lang die Hauptbewegungen ihres Körpers überprüft hatte, war sie recht vergnügt geworden und sah auch viel besser aus.
Doris' Schwester und andere Verwandte, die im Zimmer anwesend waren, bemerkten, daß ihr Gesichtsausdruck, ihre Augen und die Beweglichkeit ihres Gesichts inzwischen beinah normal geworden waren. Dann setzte ich sie an einen Tisch, gab ihr einen Bleistift in die Hand und, ihre Hand mit der meinen führend, schrieb ich die Ziffern 3, 4, 5, 7 und 9. Nachdem sie geschrieben waren, konnte sie sie lesen. Wieder führte ich ihre Hand, schrieb die gleichen Zahlen und fragte sie, was sie da schreibe. Sie sagte: »Vierunddreißig«. Ihre Verwandten blickten drein, als trauten sie ihren Augen nicht. Es schien ihnen unglaubhaft, daß ihr Zustand sich durch eine einzige Lektion so gebessert haben sollte, daß sie wieder Ziffern schreiben und sie erkennen konnte. Alle früheren Behandlungen, sagten sie, hätten nichts auch nur annähernd Vergleichbares erreicht. Ich freilich wußte, daß solche Patienten Zahlen häufig viel leichter lesen können als Buchstaben. Das hängt davon ab, an welcher Stelle des Gehirns der Schaden oder die Verletzung liegt. Zu diesem Ergebnis kam zunächst Professor Paul Broca, der als einer der ersten Kriegsverwundete mit Kopfverletzungen untersuchte. Er war auch bahnbrechend auf dem Gebiet der neurologischen Forschungen, die zu einem erweiterten und besseren Verständnis unseres Gehirns und seiner Art zu funktionieren geführt haben. Prof. Broca also stellte fest, daß manche kopfverletzten Soldaten etwa »den 27. Juli« zwar lesen, aber nicht verstehen konnten, hingegen die Zahlen »27. 7.« ohne jede Schwierigkeit verstanden. Mir war dieser Unterschied zwischen Buchstaben- und Zahlenlesen geläufig, und ich hatte es auf gut Glück probiert. Für diesmal ließ ich es bei den Zahlen bewenden und gab ihr nichts anderes zu lesen, um sie nicht einem Mißlingen auszusetzen, das sie entmutigt hätte. Nach einer Ruhepause begann ich von neuem. Diesmal
setzte ich Doris auf einen Stuhl und versuchte, ihre Augenund Kopfbewegungen zu prüfen und zu verbessern. Ich wollte sehen, ob ich durch ganz leichtes Lenken ihres Kopfes sie in einer glatten, kontinuierlichen Bewegung aus dem Stuhl ins Stehen bringen könnte. Zuerst war sie steif, vor allem auf der rechten Körperseite, und wie bei Spastikern konnte ich ihren Ellbogen, ihre Hand, ihr Bein nicht beugen: die Glieder fühlten sich starr an und gaben, wie bei Spastikern, so wenig nach wie ein Besenstiel. Ich begann, behutsam und sacht an den Gelenken zu arbeiten. Sie ging bald sehr schön mit: der Kopf ließ sich nun leicht und weich bewegen, die Schultern wurden locker, aber noch immer bei weitem nicht normal. Immerhin war die Besserung, verglichen mit dem Ausgangszustand, so groß, daß sie den Unterschied deutlich spüren konnte. Zuerst hatte ich ihren Kopf mit meinen Händen so bewegt, daß ihre Augen ein wenig abwärts gerichtet waren, und ihn dann sanft in Richtung der Schädelwirbel gezogen: das ist die normale Kopf- und Augenbewegung beim Aufstehen. Wenn man ihm den Kopf auf solche Weise manipuliert, steht ein Mensch, der gesund ist, von selbst auf: ohne daß man es ihm sagte, spürt er gleichsam das Stichwort und handelt danach. Zuerst hatte sie sich meinen Händen schwer angefühlt und starr wie eine Säule. Sie verstand den Wink nicht, den meine Hände ihrem Kopf gaben. Ich versuchte es ein Mal übers andere, machte meinen Griff und die Bewegung immer leichter, und nach und nach gelang es, sie mit relativ wenig Kraft ins Stehen zu heben und sie dann wieder hinzusetzen. Sie lernte auch bald, die Bewegung, die ihrem Kopf mitgeteilt wurde, als ein Zeichen zu erkennen, aufzustehen und sich dann wieder zu setzen. Die Zuschauer waren recht ergriffen, und jemand meinte: wenn das so weiterginge, werde sie im Handumdrehen ge16
heilt sein. Ich für meinen Teil glaubte, mit einer Lektion pro Tag würde ich dazu ein Jahr brauchen oder sogar noch länger. Ich vermutete, daß es gelingen würde, aber sicher war ich nicht. Und so sagte ich ihnen, daß ich zwar glaubte, sie werde nach einer Behandlung wieder lesen können und vielleicht auch schreiben, aber daß es wohl kaum dafürstünde, sie zu mir nach Israel zu schicken. Schon die Flugreise würde eine beträchtliche Ausgabe bedeuten; überdies würde jemand sie begleiten und dort bei ihr bleiben müssen; und was würde sie in einem fremden Land, dessen Sprache sie nicht kannte, mit sich anfangen? Ich könnte ihr, wie ich das zu tun pflege, täglich eine halbe Stunde Unterricht geben, aber während der ganzen übrigen Zeit würde sich jemand um sie kümmern müssen, bis sie soweit fortgeschritten wäre, daß sie allein auskommen könnte. Außerdem blieb die Frage, ob eine Heilung gelingen würde. Am andern Morgen riefen ihre Verwandten an. Sie hatten herausgefunden, daß die Pflegekosten für Doris, wenn man sie nach Israel schickte, nicht wesentlich höher würden. Zu Hause brauchte sie zwei Menschen, die sich um sie kümmerten, einen bei Tag und einen bei Nacht, und auch das war schon kostspielig. Man konnte sie hicht allein lassen. Wenn sie in der Nacht aufstand, fand sie oft die Tür nicht, schlug sich den Kopf an, geriet in Panik, wenn sie den Weg zurück ins Bett nicht finden konnte. Tagsüber versuchte sie auszugehen, fand dann den Heimweg nicht oder wußte nicht einmal, wohin sie hatte gehen wollen. Da sie einige Ersparnisse und ihre Rente hatte, war beschlossen worden, daß sie nach Israel gehen und ihre Schwestern sich mit darein teilen sollten. Zu Hause war sie ja eine ständige Sorge für alle. Immer in Angst, es könnte ihr etwas passieren, riefen sie sie immer wieder an und erkundigten sich, wie es ihr gehe. Zudem
waren sie überzeugt, daß Doris' Zustand sich zu Hause nur verschlechtern könnte und daß darunter auch ihr Gemüt täglich mehr leiden würde. Lieber wollten sie ihr diese Chance geben, als sie zu einem langsamen Verlöschen zu verurteilen. Da sie so entschieden hatten, beschloß ich, meine Untersuchung fortzusetzen, bevor ich die Verantwortung übernehmen würde. Ich mußte ihnen klarmachen, daß mei,ne Bereitschaft, es zu versuchen, kein Versprechen einer Heilung bedeutete. Ohne die Überzeugung jedoch, daß das Unternehmen am Ende sich lohnen werde, würde ich sie überhaupt nicht als Patientin annehmen. Um meine Untersuchung fortzusetzen, bat ich Doris, sich auf eine Couch zu legen. Das bereitete ihr beträchtliche Schwierigkeiten. Sie tappte und drehte und wandte sich und konnte sich nicht entschließen. Ich hatte sie gebeten, sich auf den Rücken zu legen, den Kopf zu mir; und so wiederholte ich diese Bitte Wort für Wort. Sie hatte mich offensichtlich gehört; aber entweder verstand sie mich nicht, oder sie konnte die nötigen Bewegungen nicht nach Belieben ausführen. Ich fragte ihre Schwestern, ob sie von dieser Schwierigkeit wüßten, und bekam zur Antwort, daß sie gewöhnlich ohne fremde Hilfe ins Bett gehe. Offenbar hatte ich den Fall eines Traumas vor mir, bei dem das der beiden Gehirnhälften asymmetrische funktionieren zu tage trat. Ich sehe, Sie haben jetzt Schwierigkeiten, mir zu folgen. Das wird Ihnen wieder leichterfallen, wenn ich Ihnen einiges aus der Geschichte der Gehirnforschung verständlich mache. Als 1870 Professor Broca, dessen Namen ich vorhin schon erwähnt habe, kopfverletzte Soldaten behandelte, bemerkte er, daß eine Kugel oder ein Schrapnell in der rechten Seite des Kopfes (rechte Gehirnhemisphäre) Lähmungen in
der linken Körperseite verursacht. Eine ähnliche Verletzung der linken Hemisphäre führt zum Verlust einer weiteren Funktion, nämlich der Sprache. In der Folge bemerkte er bald, daß bei Rechtshändern die Sprache von der linken Hemisphäre regiert wird und daß daher Verletzungen in der linken Kopfhälfte nicht nur Lähmungen des rechten Arms und des rechten Beins bewirken, sondern auch zu Aphasie, d. h. zum Verlust der Sprache führen. Da die Anzahl echter Linkshänder äußerst gering ist, kommt es nur selten vor, daß eine Verletzung der rechten Hemisphäre zu Sprachverlust führt. Jene Soldaten, die nach Entfernung einer Kugel oder eines Schrapnells aus der rechten Kopfseite (rechte Hemisphäre) Lähmungen und Sprachverlust aufwiesen, waren echte Linkshänder. Sie sehen also, daß die beiden Hemisphären nicht äquivalent, geschweige denn identisch sind. Diese Asymmetrie war schon von vielen geahnt worden. Der russische Physiologe Ivan Pavlov glaubte, daß ein Mensch im Grunde entweder Denker oder Künstler sei. Der Dirigent Igor Markevitch sagte mir einmal, er sei fest überzeugt, daß man Melodien eher mit dem linken Ohr höre, während das rechte analytischer sei und eher die musikalischen Strukturen wahrnehme und die Noten voneinander unterscheide. Auf Grund der zahlreichen Untersuchungen von Wilfred Penfield und Roger Sperry's Forschungen an Epileptikern ist man heute allgemein der Ansicht, daß die rechte Hemisphäre die umfassenderen Funktionen beherrscht - so z.B. das bildhafte, non-verbale Gedächtnis, die Einbildungskraft und das konkrete Denken -, während in der linken der Sitz der Sprache, des Schreibens und des abstrakten Denkens ist. Ich werde dieses Thema wieder aufgreifen, wenn wir zur eigentlichen Behandlung von Doris kommen. Sie werden
die Schönheit des Verfahrens dann besser einschätzen können, wenn Sie die Wechselbeziehung zwischen Funktion und Struktur in der Arbeit des Gehirns etwas genauer verstehen. Für jetzt genügt es zu wissen, daß Doris' Schwierigkeit im Grunde von diesem Wechselspiel herrührte und daß ich schließlich, zur großen Erleichterung ihrer Verwandten, einwilligte, sie in Behandlung zu nehmen.
II.
Kapitel
Ein Ausweg aus dem Labyrinth Ich kehrte nach Israel zurück. Während ich Doris' Ankunft abwartete, dachte ich viel nach, wie ich das bei jedem Schüler oder Patienten zu tun pflege. Ich habe keine stereotype Technik, die man fix und fertig an jedem Beliebigen anwendet: das liefe den Grundsätzen meiner Theorie zuwider. Gewöhnlich suche ich nach einer hervorstechenden Hauptschwierigkeit, die sich bei jeder Sitzung bemerken läßt und die, wenn man an ihr arbeitet, sich verringert und zum Teil verschwindet. Dabei bringe ich jedesmal, wenn er zu mir kommt, den Patienten in eine andere Lage. Sie haben vielleicht schon meinen Voruntersuchungen an Doris angemerkt, daß ich nicht einfach und mechanisch die Manipulationen des Vortags wiederhole, sondern langsam und Schritt für Schritt alle Funktionen des Körpers durchnehme. Struktur und Funktion sind oft so eng miteinander verquickt, daß sie sich nicht leicht trennen lassen und daß man die eine nicht anpacken kann, ohne die andere mitzutreffen. Auf Grund meiner bisherigen Erfahrungen mit der Patientin arbeitete ich mein Programm in Umrissen aus. Natürlich blieb ich bereit, mein Konzept jeweils zu ändern, wenn sich bei weiteren Untersuchungen eine veränderte Einschätzung des Falles ergeben würde. Ich erwartete von vornherein, daß ich mehr Defekte finden würde als nur die, welche ich bei den Voruntersuchungen entdeckt hatte. Zwar zeigen niemals zwei Patienten das genau gleiche Krankheitsbild. Es kommt jedoch sehr selten vor, daß ein 21
Patient körperlich scheinbar nur leicht geschädigt und in seiner Intelligenz anscheinend normal und doch so schwer betroffen ist im Lesen und Schreiben. Daß sie an Möbel anstieß, nachts den Weg zurück ins Bett nicht finden konnte, ließ mich vermuten, daß sich auch andere Grundfunktionen als gestört erweisen würden. Daher ging ich, als Doris in Begleitung ihrer Schwester zu mir kam, daran, durch sorgfältige Untersuchungen herauszufinden, welche ihrer anderen Fähigkeiten ebenfalls behindert seien. Da sie es vorzog, Deutsch - ihre Muttersprache - zu sprechen, sprach ich, obwohl mein Deutsch nicht sehr gut ist, meinerseits Deutsch mit ihr. Ich bat sie, sich auf die Couch auf den Rücken zu legen, und wieder begann sie die gleiche Folge von hilflosen Bewegungsversuchen, die ich an ihr bei der gleichen Gelegenheit schon in der Schweiz beobachtet hatte. Ich bildete damals gerade eine Gruppe von Assistenten aus. Jeden Fall, der ihnen Einblick in meine Denkweise gewähren konnte, führte ich ihnen in allen Einzelheiten vor, und so fand die Behandlung von Doris, die einige Monate dauern sollte, oft in Anwesenheit meiner SeminarGruppe statt. In der Regel bleibe ich mit meinen Patienten - oder, wie ich sie lieber nenne: mit meinen Schülern allein. Ohne seine ausdrückliche Einwilligung behandle ich einen Schüler nie vor Drittpersonen, auch nicht vor Professoren, die manchmal als Besucher zuschauen kommen. Meiner Seminar-Gruppe führte ich Schüler vor, die mit der Anwesenheit von Zuschauern einverstanden waren und denen dafür die Kosten der Behandlung erlassen wurden. Aber selbst solche Schüler bekamen von Zeit zu Zeit Privatstunden, in denen ein Patient oft, wenn er von Angst und Muskelspannungen befreit ist, Dinge über sich erinnert und ausspricht, die er vor anderen nie sagen würde. Darum erscheint mir eine Anzahl Privatstunden auch 22
dann unerläßlich, wenn von seiten des Patienten gegen Besucher und Zuschauer kein Einwand besteht. Ich bat Doris, sich hinzulegen, und meine Studenten beobachteten, wie sie sich vergebens bemühte. Sie versuchte, mit den Knien voran auf die Couch zu gelangen, und da sie mehr nicht tun konnte, fragte sie schließlich, ob es so recht sei. Die Studenten meinten, ihr Zuschaun mache Doris befangen und daher schüchtern und ungeschickt; denn Schüchternheit kann es einem erschweren, eine verbale Vorstellung zu realisieren. Zudem wußten sie bereits, daß Doris keinerlei Schwierigkeit hatte, ohne fremde Hilfe ins Bett zu gehen. Nachdem ich ihr die Schuhe ausgezogen hatte, half ich ihr schließlich, sich auf den Rücken zu legen. Während ich ihr die Schuhe auszog, wurde mir klar, daß ich meinen Studenten würde zeigen müssen, daß es sich hier nicht um Schüchternheit, sondern um Krankheit handelte. Auch meine Assistenten schienen nämlich der Ansicht zu sein, daß ich mit dem Theoretisieren zu weit ginge. Am Ende der Sitzung half ich Doris, sich zu setzen. Ich helfe Schülern oft aus der Lage, in der wir gearbeitet haben, in die aufrechte Stellung. Auf diese Weise werden Schüler mit beträchtlichen Skelettfehlern oder Muskelschäden ins Stehen gebracht und können dabei völlig passiv bleiben. Erst durch den Druck an ihren Füßen wird der Reflex des Stehens ausgelöst. Einer der Gründe dafür ist, daß die Änderungen in der Organisation und im Muskeltonus, die durch die Behandlung herbeigeführt worden sind, durch die erste Anstrengung des Schülers, auf die ihm gewohnte Weise aufzustehen, zunichte gemacht würden. War die Lektion erfolgreich, so kann er manchmal sogar Schmerzen verspüren, wenn er bei der inzwischen veränderten körperlichen Verfassung in der ihm sonst gewohnten Weise handelt. Außerdem liegt mir daran, daß der Schüler, wenn er dann steht, den oft frappanten Unterschied in seinem Selbstemp23
finden spüre, der durch die Behandlung entstanden ist. Da dieser Unterschied während der Behandlung in kleinen Schritten herbeigeführt wird, entgeht er nämlich oft dem Bewußtsein des Schülers. Erst in der Summe der so kleinen Schritte fühlt sich der Patient dann, als sei er größer geworden, aufrechter, schwebend leicht u.ä. m. Sie werden daher begreifen, warum ich Doris half, sich aufzusetzen. Ich legte ihr dazu meinen Vorderarm hinten an den Nacken und unterstützte sie mit der Hand am Schulterblatt; dann beugte ich ihre Knie, schob meinen anderen Arm ihr über die Knie und dann darunter so, daß nun diese Hand nah bei mir war. Auf diese Weise ist es spielend leicht, jemanden gleichsam auf der Kuppe einer Gesäßhälfte herumzudrehen. Da Oberkörper und Beine in der Luft sind und der Rumpf gebeugt, ist das wie wenn man ein Rad um seine Achse dreht. Auch meine Assistentinnen haben gelernt, selbst die schwersten Patienten so ins Sitzen zu heben, mit Leichtigkeit und ohne den Atem anzuhalten. Ich bat Doris, ihre Schuhe anzuziehn, und schob sie ihr näher an die Füße heran. Ohne meine Absicht zu verraten, hatte ich die Schuhe verkehrt hingestellt, mit den Schuhspitzen gegen ihre Füße hin. Sie warf mir einen fragenden Blick zu und probierte dann die Füße in die Schuhe, so wie sie da standen, hineinzuschieben, was ihr natürlich nicht gelang. Sie war völlig außerstande, richtig in die Schuhe hineinzuschlüpfen, den linken Fuß in den linken, den rechten Fuß in den rechten zu tun: sie war unfähig herauszufinden, welcher Schuh auf welche Weise auf welchen Fuß anzuziehen sei. Nachdem sie fünf oder sechs Minuten lang vergeblich herumprobiert hatte, half ich ihr. Ihre Verunsicherung und Angst hatten keinerlei therapeutischen Wert, und ich wünschte nicht, sie vor meinen Studenten noch mehr in Verlegenheit zu bringen. Da stand sie
nun, eine ansehnliche Frau, voll guten Willens, mit sichtlich intelligentem Blick, und wußte nicht, wie sie ihre Schuhe anziehen sollte. Hätten Sie Doris dabei zugesehen, Sie wären wohl erstaunt gewesen, auf wie viele Arten man das falsch machen kann. Es lohnt, die rund fünfzehn verschiedenen - und alle gleichermaßen unmöglichen - Stellungen zweier Schuhe einmal auszuprobieren, um zu begreifen, wie schwierig es ist, mit den Füßen nur zufällig richtig hineinzukommen. Orientierung in Raum und Zeit verleiht allem, was wir tun, Richtung, Geschicklichkeit, Zweckmäßigkeit; und es steht dafür, die Bedeutung absichtlicher Orientierung einmal an sich zu erfahren, um sie dem zufälligen Gelingen oder dem Probieren auf gut Glück gegenüberstellen zu können. Erst später begriff ich das ganze Ausmaß der Zerrüttung in ihrem Körperbewußtsein und ihrer Körperorientierung. Ihre Verwandten daheim hatten den Grad des Traumas nicht realisieren können. Sie, wie die Pflegerinnen, halfen ihr ja beim Anziehn der Schuhe, da sie selbst es zu schwierig fand. Und schließlich war sie ja krank und brauchte Hilfe. An diesem Punkt nun mußte ich mein ganzes Programm umdenken. Ich merkte jetzt, daß auch das bloße Sich-Hinsetzen auf einen Stuhl für Doris keine Handlung war, die sie unmittelbar und ohne Vorbedacht ausführen konnte. Statt dessen versuchte sie dem Stuhl nicht etwa geradewegs und von vorne aufzusitzen, sondern so, als wollte sie sich schräg hineinpassen in der Hoffnung, daß, wenn Sitz und Gesäß einander nur erst einmal nah genug kämen, ihr Gesäß sich in den Sitz gleichsam hineinpassen würde. Alle diese Einzelheiten - wie Doris dieses und jenes tat zähle ich nur darum auf, weil Sie aus ihnen ersehen können, wie wunderbar und komplex unsere normale Funktionsweise ist; wieviel wir dem Lernen verdanken, und wie schön und nützlich, wie ungemein verwickelt und
einfach es ist. Auch das Vergnügen an Krimis rührt ja nicht von der Story her - die vergessen wir meist bald -, sondern von unserer bewußten oder unbewußten Neugier auf die Lösung: wer hat es getan und wie. Der Fall Doris ist eine solche Detektivgeschichte, und darum sind die Einzelheiten unerläßlich, wenn man die Lösung finden soll. Da ich unterrichtete, wollte ich meinen Studenten klar vor Augen führen, wie wesentlich es ist, ein Trauma richtig einzuschätzen. Zu welcher Altersstufe, in welches Entwicklungsstadium waren die Funktionen, die wir da untersuchten, zurückgefallen? Um die Mittel und Wege für die Wiederherstellung eines traumatisierten Patienten planen zu können, muß man zunächst das Alter richtig einstufen, in das er regrediert ist. Man kann auf ganz gewöhnliche Weise zeigen, daß das zutrifft, - eine Wahrheit übrigens, von der Ihr Leben und meines abhängen kann. Wachstum bedeutet Ordnung, Reihenfolge. Diese Reihenfolge kann nicht umgekehrt, nicht verändert, nicht einmal vernachlässigt werden. Ein Kind kann nicht eislaufen lernen, bevor es gehen kann: die Reihenfolge ist vorgegeben, und wir haben uns zu fügen. Tun wir es nicht, so geht's schief. Oft und auf vielen Gebieten merken wir nicht, wie wichtig diese Tatsache ist. Gewisse Phänomene sind uns durch Gewöhnung so vertraut, daß die Reihenfolge, in der sie entstanden sind, uns selbstverständlich scheint und wir gar nicht bedenken, daß die zeitliche Anordnung der Entwicklungsstufen ihren Sinn und ihre Notwendigkeit hat. Wir wissen jetzt, daß Doris sich im Raum nicht richtig orientieren konnte. Aber wie behebt man einen solchen Defekt? Wo fängt man an, und wie? Nachdem also Doris wieder in ihren Schuhen stand, sagte ich ihr, sie könne jetzt gehen, für heute sei's genug. Das Zimmer hatte drei Türen: eine war immer verriegelt mit einer Querstange, die man durch die Glasscheibe sehen 26
konnte; eine zweite führte in ein Nebenzimmer; durch die dritte war Doris aus dem Vorzimmer hereingekommen. Diese Tür hatte eine Scheibe aus Mattglas, fast so groß wie die ganze Tür, und das Licht im Vorzimmer schimmerte hindurch. Dennoch ging Doris zu der Tür, die in das Nebenzimmer führte. Als sie dort einen ihr fremden Raum fand, probierte sie die richtige Ausgangstür. Mit ihrer rechten Hand tappte sie an der Seite herum, wo kein Türgriff war. Dann fand sie den Griff auf der linken Seite, öffnete die Tür mit ihrer linken Hand und schlug sich die Tür gegen den Kopf. Verwirrt und errötend schloß sie sie wieder und rief: »Ich kann nicht!« Sie schämte sich. Ich habe schon gesagt, daß sie intelligent war und ein Gespräch keinen Zweifel an ihren geistigen Fähigkeiten ließ. Die Schwierigkeit hier lag wieder bei der Orientierung im Raum, der plötzlich in Beziehung geraten war zu ihrem Gefühl von rechts und links. Orientierung im Raum ist ein abstrakter Begriff, und einen abstrakten Begriff kann man nicht behandeln. Ich weiß nicht, wie man den Ausdruck »Orientierung im Raum« oder selbst die Funktion, die so heißt, verbessern könnte; aber ich weiß, wie man jemandem helfen kann, zwischen links und rechts zu unterscheiden, sich geschickter und genauer zu drehen, und zwar so, daß, wenn er Bewegungen funktionsgerecht und genau ausführt, er seine Orientierung im Raum bereits verbessert hat. Vielleicht denken Sie sich jetzt, daß »Orientierung im Raum« um nichts abstrakter sei als »Körperbewußtheit« und das eine so unscharf wie das andere. Aber der Begriff der Körperbewußtheit ist viel konkreter: er hat mit dem kinästhetischen Körpergefühl zu tun, d. h. mit dem Gefühl von Bewegung. Unser Muskelgefühl entsteht durch Bewegung der Muskeln; und schon eine kleine Anderung im Spannungsgrad, im Tonus eines Muskels ist Bewegung und
wird als solche empfunden. Das bedeutet, daß unser Raumund Zeitgefühl auf unserem Muskelgefühl basiert und daß Orientierung darin enthalten ist. Orientierung in Zeit und Raum macht den weitaus überwiegenden Teil unseres Bewußtseins überhaupt aus. Man könnte also sagen, daß unser Muskel- und Bewegungssinn, eben der kinästhetische Sinn, unser sechster Sinn sei. Der Bedeutung nach, die ihm zukommt, sogar der erste. Der Bewegungssinn ist ein wichtiges Hilfsmittel bei jeder Bewegung. Bewegung hilft einem gesunden Körper überleben. Der Körper eines Menschen und sein Ich - oder sein » Wesen< - sind untrennbar. Der Körper - der stoffliche Träger des Ich - ist nicht die ganze Geschichte. Bewußtheit wird erlernt. Wir müssen erst lernen, daß es rechts und links gibt, eine Raumorientierung, die wir dann mit uns herumtragen. Doris' Körperbewußtheit hatte sie im Stich gelassen, und sie war auf einen früheren Zustand regrediert. Haben Sie sich jemals gefragt, wieso ein zweijähriges Kind seine Schuhe nicht selber anziehen kann? Von welchem Alter an sollte es das tun können? Sollte das Alter hier nichts anderes bedeuten, als daß die meisten Kinder in einem gewissen Alter es tun können und kaum eines früher? Was ist denn während der vorangegangenen Jahre geschehen, das es uns ermöglicht hat, von diesem Zeitpunkt an unsere Schuhe ohne fremde Hilfe anzuziehen? Will man jemandem helfen, eine Funktion wiederzuerlangen, die ihm verlorengegangen ist, so muß man diese Fragen sehr ernst nehmen und sie auch richtig beantworten. Jean Piaget hat dadurch Weltruhm erlangt, daß er unter anderem feststellte, von ungefähr welchem Alter an wir gewisse Dinge tun können. In welchem Alter kann ein Kind mehrmals nacheinander auf einem Fuß hüpfen? In welchem Alter begreift ein Kind, was es heißt, eine Viertel-
stunde zu früh oder zu spät zu sein? Piaget füllte zum Beispiel ein Glas mit Wasser und goß es dann in eine hohe, schlanke Flasche um; dann füllte er das gleiche Glas und goß es in eine kurze, bauchige Flasche. Er stellte fest, daß Kinder Länge oder Ausdehnung früher einschätzen können als Volumen und daher ausnahmslos sagen, in der höheren Flasche sei mehr Wasser. Erst später werden sie die Größe des Glases mit dem Volumen der Flaschen in Verbindung bringen. Das bedeutet, daß sowohl Lernen als auch Wachstum stattfinden müssen, bevor wir zwischen Gestalt und Volumen unterscheiden können; sonst wird Gestalt, je nach Länge oder Größe, unser Begreifen bestimmen. Für ein Lebewesen bedeutet Bewegung: Ortsveränderung im Raum außerhalb des Körpers. Aber bevor eine solche Bewegung ausgeführt wird, geht ihr eine unglaubliche Menge Nerven- und Muskeltätigkeit im Inneren voraus. Sie wissen vielleicht, daß an der Gehirnrinde die Flächen für einfache oder primitive Bewegungen, wenn man sie miteinander verbindet, ein kleines, schematisches Abbild eines Menschen ergeben, das man den Homunculus nennt. Daß diese kleine Figur einen Menschen darstellt, sieht man ihr nicht ohne weiteres an, denn die Größe ihrer einzelnen Teile hängt davon ab, wie wichtig die Funktion des von dieser Gehirnregion regierten Körperteils ist. So ist z.B. die Nervenfläche, bzw. die Stelle, die im Homunculus den Daumen darstellt, viel größer als die für den Oberschenkel; denn der Daumen ist ja an fast allem beteiligt, was wir mit der Hand machen (und was machen wir nicht alles mit der Hand!), während der Oberschenkel nur selten etwas anderes tut als das Knie vorwärts zu bewegen, es zu beugen oder zu strecken. Ebenso ist die Fläche, die zu Mund und Lippen gehört, sehr groß, da wir mit dem Mund prüfen, schmecken, kauen, sprechen, lachen, pfeifen, sin-
gen, küssen, usw. Verallgemeinernd läßt sich sagen, daß die Größen der einzelnen Flächen proportional zu der Anzahl der Tätigkeiten sind, die von der motorischen Region der Gehirnrinde regiert werden, und nicht zur Größe der Körperteile, welche dabei in Aktion gesetzt werden. Wußten Sie, daß bei Rechtshändern alle erlernten Funktionen ihren Sitz nur in der linken Gehirnhälfte haben? Oder daß Funktionen, die kaum oder gar nicht erlernt zu werden brauchen, solche also, für die bloßes Wachstum und Reifen genügen, in beiden Gehirnhälften symmetrisch lokalisiert sind? Funktionen, für die ein langes und vielfältiges Lernen unerläßlich ist, sind bei Rechtshändern ausschließlich in der linken Hemisphäre lokalisiert. Sie erinnern sich: das Broca'sche Sprachzentrum ist bei Rechtshändern links und nur bei den wenigen echten Linkshändern auf der anderen Seite. Wenn ich es mit einer gestörten Funktion zu tun habe, gebe ich mir Mühe, nicht in Wörtern zu denken. Ich versuche dann, nicht logisch und nicht in richtig gebildeten Sätzen zu denken, sondern ich habe mir angewöhnt, mir die betreffenden Nervenstrukturen gleichsam mit meinem inneren Auge vorzustellen. Ich stelle mir einen Teil vor, der eine Strömung erzeugt - wie das Fließen einer Flüssigkeit. Eine Strecke lang fließt sie elektrisch, dann chemisch, dann wieder elektrisch. Nach vielen solchen Umwandlungen endet die Strömung in einer Muskelkontraktion, und das Muskelspiel führt zu einer Handlung, die von außen sichtbar ist und die den Körper oder Teile des Körpers in Aktion setzt und seine unmittelbare Umgebung betrifft oder verändert. Manchmal bleibe ich dabei an einer Stelle stecken, wo ich mir das Schema eines solchen Fließens nicht weiter vorstellen kann und auch nicht die möglichen Hindernisse in seiner Bahn. Ist das Hindernis eine Streuung? eine 30
Dämpfung? eine Abzweigung? ein Verlust an Antriebskraft? eine Unterbrechung der Kontinuität? oder ist hier eine jener Umwandlungen verunmöglicht worden? Diese Art, mir das vorzustellen, habe ich so ergiebig gefunden, daß ich ohne sie nicht mehr auskäme. Oft zeigt sie mir, wo mein Wissen ungenügend ist, so daß ich dann genau weiß, was ich suche, und somit auch bei wem oder in welchen Büchern ich die nötige Information finden kann. Ich mache mir dann eine Arbeitshypothese, die ich im Lichte weiterer, neuer Beobachtungen ändere. Dadurch erkenne ich, welche Daten mir noch fehlen und was für Beobachtungen ich noch anstellen muß, um meine Hypothese vervollständigen und anwenden zu können. Diese Art des Denkens führt zu Erfolgen oft in Fällen, wo Spezialisten, die mehr wissen als ich, versagt haben. Niemand ist wissend genug, um sich mechanisches Denken erlauben zu können. Ich beginne jeden neuen Fall so, als wäre er mein erster, und stelle mir vielleicht mehr Fragen, als dies meine Assistenten oder Kritiker jemals tun. Doris' Schwester, die diese erste Behandlungsstunde mitangesehen hatte, begriff jetzt zum erstenmal, wie es um Doris stand. Während der drei Jahre von Doris' Krankheit hatte sie geglaubt, es hapere bei ihr bloß mit Lesen und Schreiben, sonst aber sei sie völlig in Ordnung. Doris selbst war ob ihres Unvermögens sehr verlegen und lächelte, als wollte sie sich dafür entschuldigen. Sie empfand sich ja ihrerseits als normal, wußte, daß sie die kleinen Aufgaben sollte lösen können, und bat um Nachsicht dafür, daß es ihr nicht gelang. Im Laufe dieser ersten Sitzungen war allen Anwesenden klar geworden, daß in diesem Fall nicht die geringste Aussicht bestand, durch Oben, d. h. durch bloßes, fortgesetztes Wiederholen der gewünschten Handlung, zu irgendwelchem Erfolg zu kommen. Sollte die Patientin die verlore3I
nen Funktionen wiedererlangen, so bedurfte es eines besseren und gründlicheren Verständnisses der Altersstufe ihrer Regression - und des menschlichen Lernprozesses überhaupt. Da ich mir nach dem Zwischenfall mit den Türen im klaren war, daß die Körperbewußtheit meiner Patientin defekt war, fiel mir wieder Brocas Entdeckung ein, daß Sprache ihren Sitz in der einen Gehirnhälfte hat. Ich versuchte zu erraten, wo die Körperbewußtheit ihren Sitz haben mochte. Sollten Lesen und Schreiben ihren Ort in beiden Hemisphären haben oder nur in einer? Und wenn nur in einer, würden sie sich dann in der gleichen befinden wie das Sprachzentrum, bei Rechtshändern also in der linken? oder auf der anderen? Ich brauchte jetzt eine Arbeitshypothese, aus der abzuleiten wäre, welche Erfahrung oder welches Detail ich als nächstes suchen müßte. Aber wie kommt man zu einer Arbeitshypothese? Nehmen Sie einmal die Frage, die ich da gestellt habe: Wo könnten die Funktionen des Lesens und des Schreibens lokalisiert sein?, und versuchen Sie die Antwort zu erraten. Sie könnten zunächst einmal sagen, das Lesen sei in der Hirnrinde genau dort, wo der liebe Gott es hingetan hat, und das Schreibzentrum irgendanderswo. Damit sind Sie so klug als wie zuvor und ebenso ratlos, und als nächstes werden Sie sich auf die Suche machen nach jemandem, der weiß, wo sich das Lesezentrum befindet. Und wenn Sie einmal wissen, wo es ist, dann können Sie auch sagen, daß Sie wissen, wo es ist. - In den Anfängen meiner Arbeit machte ich tatsächlich solche Denkproben aufs Exempel, und ihr Ergebnis prüfte ich daran, ob sie zu bestimmten Handlungen führten, die zu erproben waren, oder nicht. Sie könnten es zum Beispiel mit der Theorie der Evolution versuchen. Mit ihrer Hilfe kann man sehr gut sich täuschen und den lieben Gott umgehen. Die Evolutionslehre befaßt 32
sich nur mit Gesetzen, die irgendwie einmal zustande gekommen sind, sich entwickelt und zum überleben geführt haben. Warum gerade überleben? Einfach, weil ohne es nichts überleben würde. Im Ernst - denn man kann jede verbale Aussage mit Leichtigkeit ins Lächerliche ziehen-: die Evolutionslehre ist ein ausgezeichneter Leitfaden zur Entwicklungsgeschichte, aber ein sehr schlechter für Voraussagen. Niemand kann mit Sicherheit behaupten, daß der Stärkere den Schwächeren, das Größere das Kleinere überdauern werde, und niemand kann das Ziel oder auch nur die Richtung der Evolution voraussehen. Es sieht zwar ganz danach aus, als tendiere sie zu immer komplexeren Gebilden, aber andererseits schneidet sie sich nie den Rückzug zu schon ein•mal erprobten Organisationsformen ab. Die eigentliche Schwierigkeit, aus der Evolutionslehre brauchbare, anwendbare Arbeitshypothesen herauszuholen, liegt darin, daß so ungeheuer viel Zeit verstreichen muß, bevor man auch nur die allereinfachste Voraussage machen kann. Schließlich wissen wir nie, wer oder was überleben wird, bevor er oder es überlebt hat. Soviel zur Evolutionslehre und zu ihrem Wert für Voraussagen. Ich probierte noch etliche andere Wege, eine Arbeitshypothese aufzustellen, und kam dabei auf einen Gedanken, der sich als nützlich erwies. Ich stellte mein Denken auf die Funktion ein, die ich gerade untersuchte, sagen wir: den Gang eines gelähmten Beins. Ich stelle mir dabei die gesamte Funktion des Gehens vor, sowohl vom Standpunkt des Einzelnen aus als auch von dem der Gattung. Ich beschränke mich dabei auf diese eine Funktion. Da ich im Laufe meiner Praxis mit allen möglichen Funktionsstörungen zu tun hatte, lernte ich mit der Zeit viel über die historische wie auch über die individuelle Entwicklung des Nervensystems, vergleichende Anatomie und andere, verwandte Fächer. Die Theorie der Strukturen, Kybernetik, 33
theoretische Mechanik usw. waren mir zum Glück von den dreißig Jahren her, die ich als Physiker gearbeitet hatte, vertraut. Ich hatte auch zwanzig Jahre lang Judo unterrichtet, und auch das kam mir zugute. Ich konnte mir daher vorstellen, ich hätte die theoretische Aufgabe, einen Roboter zu konstruieren, der wie ein idealer Mensch funktionieren würde, und mir einbilden, daß ich dieser Aufgabe gewachsen sei. Aber schon das wenige, das ich auf diese Weise entwerfen konnte, zwang mich dazu, so Grundsätzliches wie Struktur und Funktion, Sprache und Denken, Haltung und Bewegung von Grund auf neu zu überprüfen und schließlich mein gesamtes Wissen vollkommen zu revidieren. Wäre ich dabei nicht zu konstruktiven Ergebnissen gekommen, man hätte mich, wo nicht für verrückt, so doch mindestens für nicht ganz bei Troste gehalten. Oft genug kam ich mir selbst so vor, und manche meiner früheren Kollegen von der Universität wichen mir jahrelang aus, während ich meine Laufbahn als Physiker, der noch immer in verschiedenen Ländern Forschungsprojekte leitete, nach und nach aufgab, um allmählich und mit viel Mühe auf ein Forschungsgebiet umzusatteln, das, wie ich bald merkte, von der Wissenschaft noch nie ganzheitlich angegangen worden war. Man könnte es in der Frage zusammenfassen: 1st es dem Menschen möglich, seinem Organismus gemäßer mit sich umzugehen, sich selbst besser zu leiten? und wenn ja, wie könnte man ihn das lehren? Indem ich meine Aufmerksamkeit auf nur eine Funktion einschränkte - z.B. das Lesen -, stellte ich mir die Information vor, die der Umgebung und den Mechanismen, die sie beeinflussen, zu entnehmen ist; dann die Struktur des Körpers, in dem die Absicht, sich zu bewegen, wohnt; und schließlich die Werkzeuge, welche diese Absicht verwirklichen können. Am Ende war dann noch zu bedenken, 34
wie sich diese von außen abgelesenen Daten mit den unaufhörlichen Lageveränderu'ngen der Körperstrukturen integrieren lassen. Ich trachtete, mir über den Begriff der Körperbewußtheit klar zu werden. Für jeden von uns ist der Mund das erste Organ, das wir im Leben gebrauchen. Durch ihn kommen wir zum erstenmal in sinnvollen Kontakt mit der Außenwelt, nämlich mit den Brustwarzen der Mutter. Es ist also wahrscheinlich, daß der Mund auch mit unseren Gefühlen verbunden ist. Warum sonst fände ich meine Freundin »süß« und »zum fressen«? Übrigens verwenden hier andere Kulturen, statt aus der frühen, oralen, Wörter aus der späteren, der Analphase, so z.B. sagen Franzosen zu einem Kind oder zu einem Mädchen »ma petite crotte«. Beobachten Sie einmal, wie ein Kleinkind, mit fremder und mit eigener Hilfe, sich seiner Nase, seiner Augen und alles übrigen an sich bewußt wird. Versuchen Sie nachzuempfinden, was eine Lageänderung für seine Orientierung bedeutet. Ich selbst neige zu der Ansicht, daß ein Säugling, der auf den Armen seiner Mutter liegt, um gestillt zu werden, nichts anderes als Veränderungen in seinem Sinnesempfinden wahrnimmt. Aber diese Veränderungen prägen sich in sein Nervensystem ein, werden integriert, können erinnert werden und bestimmen seine Fähigkeit, später zu handeln. Sie bilden seine Bewußtheit. Ein weiterer bedeutsamer Schritt in der Entwicklung der Bewußtheit ist das Unterscheiden zwischen links und rechts. Dieser Unterschied ist sehr schwer zu lernen. Bei vielen Erwachsenen ist das Unterscheidungsvermögen für links und rechts schwach ausgebildet, und sie bedienen sich der verschiedensten Eselsbrücken, um die beiden Seiten zu bestimmen. Feldwebel schreien sich heiser, wenn sie Rechtsum! befehlen und eine oft beträchtliche Anzahl Rekruten sich prompt nach links dreht. Bei manchen ge35
schiebt das so oft, daß es unmöglich bloße Unaufmerksamkeit oder Vergeßlichkeit sein kann. Vielleicht finden Sie es lächerlich, daß ich auf der Bedeutung von Orientierungsfehlern hier so herumreite, und meinen, ich baue da eine ganze Theorie auf einem gelegentlichen und zufälligen Ausrutscher auf. Aber prüfen Sie's einmal, und zwar an sich: Legen Sie sich auf den Rücken und heben Sie Ihre Arme über den Kopf. Lesen Sie jetzt nicht weiter, sondern gehen Sie und versuchen Sie's, jetzt.
Hatten Sie Ihre Arme über den Kopf gehoben oder gegen die Zimmerdecke gerichtet? Im letzteren Fall würden im Stehen Ihre Arme waagrecht sein und nicht über dem Kopf; und das würde bedeuten, daß »über dem Kopf« für Sie jedesmal, je nach der Stellung oder Lage Ihres Kopf es und Ihres Körpers, etwas anderes heißen kann; im Stehen etwas anderes als im Liegen, in der Rückenlage etwas anderes als in der Seitenlage. Mit anderen Worten: Sie würden dann, was »oben« sei, nicht danach bestimmen, was an Ihrem Körper »oben« ist, sondern nach dem Raum um Sie. Bei »links« und »rechts« hingegen macht es keinen Unterschied, ob Sie liegen oder stehen: diese Orientierungen sind immer relativ zum Körper, und Ihre linke Hand bleibt die linke Hand, auch wenn Sie sich umdrehen oder auf den Kopf stellen. Das Erlernen dieses Unterschiedes ist eine der zwischen Körperbewußtheit ersten Differenzierungen und darum ein wesentlicher und Körperorientierung Schritt in unserer Entwicklung. Während Änderungen aus der liegenden Stellung des Kopfes in die aufrechte (und umgekehrt) zu unseren frühesten Erfahrungen zählen, sind »links« und »rechts« anfangs sehr unklar. Erst später, wenn wir schon gehen können, belehrt man uns, daß wir eme rechte und eine linke Seite haben, und noch später,
uns nach links und nach rechts zu drehen. Sie wissen ja auch, wie schwierig es sein kann, Angaben zu behalten wie »Gehen Sie erst links, dann rechts und dann noch einmal links, usw.« Heben Sie - diesmal im Sitzen oder im Stehen - die Arme wieder über den Kopf. Erinnern Sie sich nun an die Bewegung, die Sie vorhin gemacht haben, und stellen Sie fest, ob Sie jetzt spontan etwas anderes gemacht haben oder nicht. Ist die Stellung Ihrer Arme relativ zum Körper jetzt die gleiche wie als Sie auf dem Rücken lagen? Hat Ihnen eine Erfahrung genügt? Damit Ihnen mein weiteres Unternehmen mit Doris verständlich werde: bedenken Sie einmal, daß man Kinder nicht schreiben lehrt, bevor sie nicht richtig gehen können. Wie würden Sie einem einjährigen Kind beibringen b und d zu schreiben oder M und W? Dazu muß es bereits links von rechts unterscheiden können, oben von unten, auf von ab, muß also schon andere und feinere Differenzierungen in der Orientierung relativ zu seiner Person erlernt haben, bevor es ans Schreiben gehen kann. Können Sie sich irgendeinen Weg ausdenken, auf dem man einem Fünfjährigen beibringen könnte, daß dies: ________ eme Waagrechte ist? Um schreiben zu können, muß man seine feineren Bewegungen spüren und sie zu einem Gegenstand außerhalb der eigenen Person in Beziehung setzen können. Die Lokalisierung der Schreibfähigkeit ist mit der Körperbewußtheit organisch verwoben, und wenn sie sich von der Bewußtheit überhaupt trennen läßt, so ist sie doch mit ihr mindestens aufs engste verbunden. Lange bevor es schreiben kann, kritzelt ein Kleinkind mit Stiften auf Papier und anderem herum; aber est, wenn das Gekritzelte als Zeichen gemeint ist, können wir von Schreiben reden. Indem ich mir das hin und her überlegte, kam ich zu der An.37
nahme, daß das Lesezentrum in der Hirnrinde nicht weit entfernt sein könne von den Regionen der Körperbewußtheit (Körperfühlsphäre) und des Schreibens. Vielleicht probieren Sie einmal, so als theoretisches Rätsel, sich vorzustellen, wo auf der Hirnrinde der Homunculus liegt, und dann zu erraten, wo das Schreib- und das Lesezentrum liegen müßten. Ist das Schreibzentrum ober- oder unterhalb der Körperbewußtheit? Und wo, relativ zu den beiden andern, müßte dann das Lesezentrum sein? Wenn Sie in einem Atlas des Gehirns nachschlagen, so werden Sie sehen, daß Lesen und Schreiben ganz dicht um die Körperbewußtheit herum gelagert sind. Und hier ist noch ein kleiner Wink, um Ihnen auf die Fährte zu helfen: wenn wir lesen lernen, helfen wir uns gewöhnlich mit dem Zeigefinger, den Blick auf das zu Lesende scharfzustellen. Zum Lesen heiliger Schriften bediente man sich einer Hand aus Silber, deren Zeigefinger man von einem Wort zum nächsten gleiten ließ. Die Stelle, die Sie suchen, liegt also zwischen dem Rindenzentrum für das Sehen und dem für den Zeigefinger. Könnten Sie sie vielleicht noch genauer bestimmen? Wenn ich einmal zu einem Schluß gekommen bin, wo eine Funktion am wahrscheinlichsten lokalisiert sei, prüfe ich mein Ergebnis stets an den Arbeiten eines Spezialisten nach. Ist meine Folgerung falsch, so weiß ich dann nicht nur, daß ich mich geirrt habe, sondern auch, was mir an Wissen gefehlt und mein Denken verwirrt hat. Kenntnisse, welche ich auf diesem Weg erworben habe, bleiben mir unvergeßlich haften. Außerdem sind sie dann nicht bloß weitere Nummern in der Kartei toten Wissens, sondern eine dynamische Korrektur des Denkprozesses. Es ist ein Wissen, das unmittelbar und sofort die Art meines Tuns verändert: solche Kenntnisse bewirken bei mir ein direkteres und sachgemäßeres Vorgehen.
III.
Kapitel
Fehler gehören zum Lernen Vor einigen Jahren las Dr. Abe Kirshner von der Sir George William Universität gastweise an der Universität Jerusalem über die Erziehung zurückgebliebener Kinder. Er hatte mein Buch »Body and Mature Behaviour« gelesen und wünschte sich mit mir zu unterhalten. Er erzählte mir, wie überrascht er seinerzeit gewesen sei, als er zuerst bemerkte, daß Kinder, die in einer Klasse gleichaltriger Mitschüler nicht schreiben lernen konnten, es auch schwieriger als ihre Mitschüler fanden, auf einem am Boden gezogenen geraden Strich zu gehen. Diese und ähnliche Beobachtungen Dr. Kirshners haben viele Kinder davor bewahrt, in Schulen oder Heime für Behinderte eingewiesen zu werden. Kinder, welche nicht lesen oder schreiben lernen können, bleiben hinter Altersgenossen, die sich lernend weiterentwickeln, jedes Jahr ein bißchen mehr zurück. Einige Jahre vergehen, bevor ein Kind seine Finger wirklich kennt, sich der unterschiedlichen Anstrengungen in den einzelnen Fingern bewußt wird und, bevor sein Körpergefühl die Finger leiten kann, dem zu folgen, was seine Augen sehen. Es muß lernen, seine Handlungen zu programmieren, um eine sinnvolle Bewegung anzufangen, auszuführen und aufzuhören. Kein Wunder daher, daß eine dieser Fähigkeiten weniger entwickelt sein mag als andere, verwandte. Lernen findet entweder statt oder es findet nicht statt. Für gewöhnlich fällt weder Eltern noch Lehrern etwas Bes39
seres ein, als Beispiele zu geben bzw. vorzumachen und zu verlangen, daß das Kind bzw. der Schüler sie nachahme. Eigentlich ist es erstaunlich, daß diese Lernmethode nicht mehr Versager zeitigt; allerdings ist ihre Zahl auch sehr viel größer als man gemeinhin merkt. So manche Mutter kennt die Qualen der Endeckung, daß irgend etwas mit ihrem Kind nicht stimmt und daß die Methoden, die bei anderen Kindern anschlagen, bei ihrem Kind ohne Ergebnis bleiben. Sie mag annehmen, daß es dem Kind an Willen fehle oder an Interesse, oder gibt sich mit einer ähnlichen Halbwahrheit zufrieden. Halbwahrheiten sind Redensarten, die man irrtümlich für Tatsachen hält. Vielleicht fehlt es ihrem Kind an Neugier; denn im Menschen wie im Tier ist Neugier ein Merkmal der Gesundheit. Ein solches Kind mag faul sein; aber in den meisten Fällen ist es von seiner unmittelbaren Umgebung gemütskrank gemacht worden. Hilft man einem solchen Kind, seine Augen mit seinen Fingern zu koordinieren, so wird dadurch häufig die Lernbegierde geweckt und das Kind davor bewahrt, als zurückgeblieben eingestuft zu werden. Mangel an Koordination ist nicht immer angeboren und ererbt. Ich möchte Ihnen damit verständlich machen, daß die Lösung nicht einfach im Üben, in irgendeinem Training liegt. Wiederholen, Herausfordern, Ermahnungen, Belohnungen, Strafen nützen in derlei Fällen ebensowenig wie im Falle Doris'. Ich legte Doris auf den Rücken auf einen Liegetisch, der von allen Seiten her zugänglich war. In den Nacken legte ich ihr eine hölzerne Rolle, die, damit sie nicht hart drücke, mit Schaumgummi überzogen war. Der Durchmesser dieser Rolle war so, daß sie den Kopf relativ zum Körper ein wenig vorschob, so daß er im Verhältnis zum Rumpf genau dort war, wo er bei aufrechtem Stehen sein würde. Eine weitere Rolle legte ich ihr in die Kniekehlen und be-
wegte dann einzeln jedes Bein, bis beide etwas geöffnet dalagen, d.h. mit den Fersen etwas näher beisammen als mit den Zehen. Ich wollte es ihr bequem und angenehm machen und den Tonus in ihrem Körper soweit reduzieren, daß sie sehr feine, zarte Bewegungen würde wahrnehmen können. In dieser Lage ist der Körper soweit als möglich getragen und gestützt und infolgedessen befreit von dem gewohnten Zwang, auf den Zug der Schwerkraft zu reagieren. Das Nervensystem hört allmählich auf, die Muskeln in dem Spannungsgrad zu halten, von dem aus sie beim leisesten Anlaß in Bewegung kommen können. Gewöhnlich sagen wir dann einfach, die Person sei entspannt. Um Doris noch mehr zu entspannen, legte ich ihr meine rechte Hand ganz leicht an die Stirn und drehte ihren Kopf kaum merklich nach links und womöglich noch leichter zurück nach rechts. Um das zu tun, pflege ich dicht an der Couch auf einem Schemel zu sitzen, damit mir der Kopf auf die leichteste Weise zugänglich sei. Ich fuhr mit dieser Bewegung fort, ließ meine Hand mehrmals die Richtung wechseln und machte die Bewegung immer kleiner und leichter, bis sie kaum mehr wahrnehmbar war. Da Doris keinerlei Zwang noch sonst irgendwelchen Grund zu Widerstand empfand, löste sich ihr Körper noch mehr. Die Nackenmuskeln wurden weich, und meiner Hand nachgebend bewegte ihr Kopf sich so fließend, daß ein Zuschauer nicht hätte sagen können, ob ich ihre Stirn bewegte oder ob sie ihren Kopf drehte und dadurch meine Hand hin und her verschob. In diesem Zustand, bei tief entspanntem Körper, begannen Unterleib und Brust sich allmählich so gleichmäßig zu heben, wie das bei einem gesunden Kleinkind durch die Atmung geschieht. Bei meiner ersten Handbewegung war Doris noch gespannt gewesen. Bald aber, da sie keinerlei zwingendes 41
Ziehen oder Stoßen spürte, gab auch diese leichte Spannung nach, verschwand, ihr Körper wurde wärmer, ihre Augen gingen weiter auf und eine ruhigere Atmung mit gelegentlichen tiefen Atemzügen setzte ein. Allmählich und unauffällig ging ich von der Links-Rechts-Bewegung Druck auf des Kopfes über zu kaum wahrnehmbarem Längsrichtung die in geht Druck Dieser die Schädeldecke. der Wirbelsäule, und es braucht beträchtliche Erfahrung, um dabei nirgends im Rückgrat scherende Spannungen zu erzeugen. Diese Kompression führt zu weiterer Entspannung, indem die automatischen Teile des Nervensystems in den einzelnen Körperteilen immer weniger Gewicht finden, auf das sie reagieren müßten. Wenn das richtig ausgeführt wird, so fühlt sich der Patient völlig schwerelos und geborgen und empfindet eine Art Nirwana oder Gelassenheit und Heiterkeit. Hilft man ihm anschließend so aufzustehen, daß er dabei keine ruckartigen Bewegungen oder sonstigen Anstrengungen macht, so kann dieses Gefühl der Schwerelosigkeit, begleitet von einem deutlichen Gefühl, daß man größer sei als sonst, stunden- und mit der Zeit sogar tagelang anhalten. Doris machte derartige Fortschritte, daß ich mich davon beinahe hätte verleiten lassen, meiner Sache sicher zu sein. Jeden Tag änderte ich meine Technik ein wenig ab, fing jedesmal bei einem anderen Teil ihres Rumpfes oder ihrer behandelt hatte. Glieder an, bis ich alle Körperpartien Am Ende jeder Sitzung berührte ich irgendeinen Teil, sagen wir: ein Ohr und sagte dazu: »Das ist das rechte Ohr«, dann eine Schulter und sagte: »Das ist die rechte Schulter«, und ging auf diese Weise die ganze rechte Körperseite durch. Einige Tage lang war beim Berühren nur von der rechten Seite die Rede. Das Wort »links« vermied ich absichtlich auch dann, wenn ich sie etwa gebeten hatte, den rechten Arm zu heben und sie daraufhin den linken 42
hob; dann sagte ich: »Nein, das ist die andere Seite, heben Sie den rechten.« Es wird Sie vielleicht überraschen, daß, als ich sie nach einer Woche solchen Lernens bat, sich auf den Bauch zu legen, wir ganz von vorne anfangen mußten. Für Doris war »rechts« nicht von ihrem Körper aus bestimmt, sondern wurde von ihr projiziert, mit der Couch und der Wand verbunden. Von ihr aus gesehen blieb in der neuen, der Bauchlage »rechts« an ihrem Körper nicht dort, wo es in der Rückenlage gewesen war; und dementsprechend waren auch die andern Teile des Zimmers für sie nicht mehr am gleichen Ort und ebensowenig ich selbst. Wir mußten also wieder mit dem bisherigen Vorgehen in der Rückenlage beginnen und sie erst später wieder auf den Bauch umdrehn. Wir merken gar nicht, wie viel Lernen wir in früher Kindheit leisten, bevor wir, ohne auch nur das geringste von Bezugssystemen zu wissen, ein festes Bezugssystem mit unserem Körper herumtragen. Wir tun dies durch kinästhetisches Erinnern und durch unsere Vorstellungskraft. Als ich zum Beispiel Doris' rechtes Bein über ihr linkes schlug, bezeichnete sie das linke Bein als das rechte, da es, ihrem Denken nach, auf der gleichen Seite war wie ihr rechtes Ohr, ihre rechte Hand, ihre rechte Hüfte - ähnlich urteilte sie in Bezug auf Orientierungspunkte an der Couch. Kurz, erst nach zwei Monaten täglicher Arbeit konnte sie in allen Lagen rechts und links richtig bestimmen: mit den Armen auf die eine Weise gekreuzt und den Beinen auf die andre, in der Bauchlage_, mit den Armen auf dem Rücken, in der Seitenlage, usw. Haben Sie sich inzwischen wohl schon gefragt, warum diese Art Lernen den Weg über Spannungsverminderung und Entspannung einschlagen muß? Wir denken kaum je darüber nach, wie wir gelernt haben, uns auf unseren Kör43
per zu beziehen oder auf die Wände und andere Gegenstände um uns, und wir merken oft nicht, daß unsere Orientierung bei weitem nicht vollkommen ist. Wir haben gesehen, daß viele von uns noch als Erwachsene kein eindeutiges Bezugssystem haben, daß wir uns nicht immer im klaren sind, was »die Arme über den Kopf heben« heißt: manchen bedeutet das im liegen etwas anderes als im Stehen. Auf ganz ähnliche Weise wissen wir meistens nicht, was Kindheit wirklich bedeutet. Man ist ein Kind nicht nur, weil man kleiner und leichter ist, sondern vor allem durch seine kindliche Einstellung. Um so schwierige Dinge lernen zu können wie die LinksRechts-Orientierung, bedarf es des kindlichen Geisteszustandes: der Fähigkeit, beim Lernen zu spielen und spielend zu lernen; der Fähigkeit, aufmerksam zu sein ohne die Absicht, zu lernen. Und es braucht auch noch anderes: Unterschiede spüren zu können, und das heißt: zwischen einander ähnlichen Empfindungen unterscheiden zu können. Das Kind übt nicht in dem Sinn, in dem das ein Erwachsener tut, der eine Handlung wiederholt, um sie sich einzuprägen oder um sie zu verbessern. Die Aufmerksamkeit des Kindes wird gesteuert von seiner Neugier, die allen Lebewesen angeboren ist. Kleine Kinder wiederholen vielmehr um des Vergnügens willen, das eine Handlung ihnen bereitet, und um ihrer Neuheit willen, tun also um des Tuns willen und nicht, um es zu verbessern oder gar auf sonst ein Ziel hin: - Aufmerksamkeit ohne Absicht. Dieser Zustand wird als äußerst befriedigend bzw. als Zufriedenheit empfunden; Erregungen und Wünsche, welche Geist und Körper spannen, schließt er aus. Solche einfache Stimmung, Haltung und Bewegung sind Bedingungen für das Lernen, das auch Wachstum ist. Was offensichtlich ist, ist nicht immer leicht zu verstehen. Anstrengung vermindert Empfindlichkeit. Kinder können 44
ihre Muskeln nicht so anspannen wie Erwachsene; daher sind Kinder empfindlicher und lernen besser. Ein Beispiel: ein Mann trägt eine vierzig Pfund schwere Last. Wieviel Gewicht kann man hinzufügen, ohne daß der Mann es merkt? Mit anderen Worten: wo ist seine Empfindlichkeitsschwelle? Wenn eine Fliege sich auf der Last niederläßt und dann wieder wegfliegt, so wird es der Mann sicher nicht merken. Wird er zwei Fliegen merken? Unser Sinnesempfinden funktioniert so, daß mindestens ein Vierzigste! des Gewichts der Last hinzugefügt oder weggenommen werden muß, wenn uns bewußt werden soll, daß sich in unserem Kraftaufwand etwas geändert hat. Da ein Kind weniger Kraft aufwenden kann, werden ihm schon viel kleinere Änderungen bewußt. Indem es sich an kleinere Änderungen gewöhnt, wächst es heran, wird stärker und weniger empfindlich. Sie begreifen nun, warum der Muskeltonus, d. i. der Spannungsgrad der Muskeln, verringert werden muß, wenn jemand feinere Unterschiede wieder spüren können soll, und daß dadurch Schärfe und Empfindlichkeit seiner Sinnesfunktionen erhöht werden. Wenn wir kleine Unterschiede nicht empfinden können, machen wir zu große Schritte und sind bald, nach nur wenigen, großen Änderungen, an den Grenzen menschlichen Vermögens angelangt: dann krampfen wir die Finger um ein Buch als wärs ein Fisch, der uns entschlüpfen möchte, werfen die Autotüre zu, als gelte es eine athletische Leistung zu vollbringen oder drücken das Messer mit Gewalt ins Brot, statt zu schneiden ... Ein Kranker verträgt keine großen Veränderungen, und mit groben Mitteln ist ihm nicht zu helfen. Ein Kind lernt viele Jahre lang. Das Wiederlernen dauert bei einem schwer traumatisierten Erwachsenen viele Monate. Ungefähr zwei Monate vergingen, bevor Doris alles wußte, 45
was man in unserer Kultur von »links« und »rechts« unseres Körpers wissen muß. Es gab Tage, da meinte ich, wir seien schon glücklich am Ende unseres Lehrgangs, nur um am nächsten Tag zu finden, daß wir von vorne anfangen mußten. Aber die Rückfälle wurden kleiner und seltener, bis ich zum nächsten Schritt übergehen konnte. Ich für mein Teil würde es nicht aushalten, etwas endlos zu wiederholen, wenn ich nicht gelernt hätte, dabei winzige Änderungen wahrzunehmen, so daß es eigentlich gar kein Wiederholen ist. Meinen Assistenten bringe ich bei, auch während Rückfällen Fortschritte zu erkennen. Meine Arbeit verlang von mir, daß ich mir Geläufiges wieder zu Bewußtsein bringe und es so ansehe, als hätte ich es nie gekannt. Das hilft mir, in schwierigen Momenten den Gleichmut zu bewahren, und öffnet mir Einsichten in den jeweiligen Fall. Es vergißt sich leicht, wie viele Jahre lang wir uns im Schreiben üben müssen, bevor wir eine fließende Handschrift haben. Will man allwöchentlich Fortschritte sehen, so muß man auch nebensächliche Einzelheiten wahrnehmen können. Man kann im Alltag immer wieder beobachten, daß hochentwickelte Funktionen Seite an Seite mit ungenügend entwickelten existieren können. Ich kenne einen weltberühmten Musiker, der unfähig ist, einen Schraubenzieher zu handhaben oder eine Sicherung zu reparieren. Und Doris konnte im Gespräch als eine intelligente Frau gelten: sie sprach klug und in wohlgebauten Sätzen. Manchmal fragen wir uns, was an einem Freund nicht ganz stimme, und können es doch nicht genau bezeichnen. Später stellt sich, was bloße Ahnung war, als begründet heraus. Es fasziniert meine Assistenten, wenn ich sie auf etwas in der Haltung oder im Verhalten eines Patienten aufmerksam mache, das sie zwar gespürt, aber nicht hatten erkennen können. Solche vagen Ahnungen, die sich als ein Teil des
Problems erweisen, das vor uns liegt, lernen sie mit der Zeit sofort zu identifizieren, und es ist ein beschwingendes Erlebnis, wenn man eine solche Entdeckung zum erstenmal in Worte fassen kann. Anfangs mag ein Assistent zwischen Neid und Bewunderung für die Blick- und Geistesschärfe seines Lehrers schwanken. Ist er diese Gefühle einmal los, so kann es der Assistent so gut wie der Lehrer; und mit der Zeit wird diese Fähigkeit zur Denkgewohnheit, zur zweiten Natur. Der Lehrer verweilt unmittelbar beim Problem und läßt sich durch zwischenmenschliche Gefühle nicht ablenken; er wechselt zwischen Beobachten und Nachdenken hin und her, und eines unterstützt das andere. Immer wieder kommt es vor, daß ein Schüler mich auf etwas hinweist, das mir entgangen war, und ich habe aus den Fragen meiner Schüler und durch die Frische ihrer Beobachtungen oft zugelernt. Es war jetzt an der Zeit, sich ans Lesen und Schreiben zu machen. Es gibt mehr Grund, mit dem Lesen anzufangen, als nur weil wir es immer zuerst nennen, eben »Lesen und Schreiben« sagen und nicht umgekehrt. Das Schreiben ist nämlich so gut wie undenkbar, wenn man Wörter nicht zuerst sieht. Ich bat Doris, auf einem bequemen Stuhl Platz zu nehmen. Obwohl sie durchaus an die Anwesenheit meiner Assistenten gewöhnt war, war ich diesmal mit ihr allein. Ich wußte, daß sie sich diesmal mit ihren Unzulänglichkeiten exponieren würde. Die Anwesenheit von Schülern hätte sie nervös gemacht und meine Einschätzung ihrer Leistung verfälschen können. Ich hatte alle Hoffnung, daß sie nach einer Zeit des Zauderns und Zögerns, im Lesen Fortschritte machen würde. Jedes bißchen Lesen ist mehr als überhaupt keines. Sie trug eine Brille, und ich mußte damit rechnen, daß ihre Augen nachgelassen hatten, was eine zusätzliche Schwierigkeit bedeutet hätte. Ich hielt ihr die Brille hin 47
und mußte sie ihr dann förmlich aufsetzen. Ich legte ihr einen sehr groß gedruckten Text vor, den auch jemand mit schlechten Augen hätte ohne Brille lesen können. Sie strengte ihre Augen an und rief dann aus: »Ich kann überhaupt nichts sehen. Sehen Sie denn nicht, daß ich nichts sehen kann?« Sie war sehr erregt und starr, nahm zitternd ihre Brille ab und weinte beinah. Ich beruhigte sie und dachte mir dabei, daß sie ihren Blick nicht scharf einstellen konnte und ihre Augen nicht auf einen Punkt hin konvergierten. Und vielleicht hatte ihr Gehirn auch noch anderen Schaden genommen und konnte die Information, die es von der Netzhaut her erreichte, nicht deuten. Es konnten auch Veränderungen im Glaskörper des Augapfels oder in der Linse stattgefunden haben, wie etwa bei Starerkrankungen. Ich besprach meine Probleme mit einer Augenärztin. Sie untersuchte Doris gründlich und fand meine Befürchtungen unbegründet. Sie versicherte mir, daß die Augen der Patientin Gegenstände korrekt abbildeten. Mir blieben zwei Rätsel zu lösen. Da Doris nicht lesen konnte, war es schwer, die Scharfstellung ihrer Augen beim Lesen zu kontrollieren. Außerdem weiß man, daß Kinder und Eingeborene z.B. in Dschungelgegenden, die noch nie ein Bild gesehen haben, aus einer zweidimensionalen Fotografie nicht ersehen können, was darauf abgebildet ist: sie drehen das Bild nach allen Richtungen und erkennen nichts auf dem Blatt, und wenn es auch das Bild ihrer eigenen Mutter ist. Denn um in einem Bild das Abgebildete zu erkennen, bedarf es der Erfahrung während der Kindheit: es braucht Zeit um zu lernen, in einem zweidimensionalen Bild die dritte Dimension zu sehen. Als Doris und ich das nächstemal zusammenkamen, bekam ich einen neuen Schreck. Das letztemal, als ich ihr Lesen prüfte, hatte ich ihr die Brille selbst aufgesetzt. 48
Diesmal hatte sie sie in ihrer Handtasche. Sie nahm sie heraus und versuchte ungefähr zehn Minuten lang, sie in den unvorstellbarsten Positionen aufzusetzen; keine davon führte dazu, daß sie schließlich die Bügel auf den Ohren gehabt hätte. Mir war bisher nie aufgefallen, daß vier verschiedene Stellungen einer Brille im Raum möglich sind, von denen nur eine es erlaubt, sie aufzusetzen. Wenn Sie diese eine nicht als die erkennen, die Sie suchen, werden Sie herumfummeln und schließlich in Verzweiflung aufgeben - wie das Doris tat. Ich ärgerte mich über mich, daß ich nicht bedacht hatte, daß die Übertragung der Körperbewußtheit auch auf äußere Gegenstände geschult werden muß und daß die Fähigkeit, Gegenstände mit Bezug auf uns zu orientieren, nicht einfach aus dem Nichts kommt. Ich sah jetzt viel deutlicher, daß ich mir ein noch viel langsameres Unterrichtstempo auferlegen mußte als das bisherige, das mir schon reichlich langsam vorgekommen war. Doris also bewegte die Brille auf ihr Gesicht zu mit gefalteten Bügeln oder mit den Bügeln zwar geöffnet, aber von ihrem Gesicht weggerichtet, wartete dann eine halbe Minute lang oder länger, lächelte schließlich, wenn sie merkte, daß die Stellung falsch war. Reichte man ihr hingegen die Brille, in welcher Stellung auch immer, so änderte sie an dieser Stellung nichts. Am Ende reichte ich sie ihr in der richtigen Stellung, und sie setzte sie sich auf. Später mußten wir über dieser Bewegung noch einige Zeit zubringen. Lag jedoch die Brille richtig, d. h. mit den geöffneten Bügeln auf sie zu, auf dem Tisch, so hatte Doris keinerlei Schwierigkeit, sie aufzusetzen. Ein Kleinkind, das mit einer Brille spielte, würde die gleichen Erfahrungen machen; bis es sie eines Tages in eben der Lage fände, in der sie am leichtesten und einfachsten aufzusetzen ist. Wir neigen dann dazu, anzunehmen, das Klein49
kind habe die zweckmäßige Lage unter den falschen gewählt; aber wenn ein Kind in diesem Sinne wählt, ist es kein Baby mehr, sondern ein kluges Kind. Mit der Brille nun richtig auf der Nase, bekam Doris wieder ein Buch vorgelegt; aber diesmal forderte ich sie nicht auf zu lesen. Ich bat sie, sich einfach die beiden Seiten anzuschaun, die aufgeschlagen vor ihr lagen. Nachdem sie das Buch ein Weilchen angestarrt hatte, bat ich sie, die Augen zu schließen und das erstbeste Wort zu sagen, das ihr in den Sinn kam. Ich notierte mir die Seitenzahlen und die Wörter, die sie, oft erst nach langem Schweigen, sagte. Mit der Zeit hatte ich etwa fünfzig sinnvolle Wörter beisammen, also Haupt-, Zeit-, Eigenschaftswörter und nicht bloß Pronomina oder Artikel. Später brachte ich Stunden darüber zu, die einzelnen Wörter auf den betreffenden Seiten zu lokalisieren. Am Ende konnte ich feststellen, daß alle Wörter auf der linken Buchseite waren, und zwar jeweils etwa um ein Drittel der Seitenlänge von unten entfernt und rund drei Wörter vom Ende der betreffenden Zeilen. Freude überkam mich. Doris konnte Wörter lesen; aber sie wußte nicht, wo sie sie las. Sie richtete ihren Blick auf eine Stelle, sah aber offensichtlich eine andere Stelle, die anzuschaun sie gar nicht beabsichtigte. Ich kann nicht beschreiben, was ich bei dieser Entdeckung empfand. Ich hatte also richtig geraten und den Test verständig ausgedacht. Ich staune immer wieder, daß Kinder lesen lernen können. Es ist viel schwieriger, als man meint. Das wichtige daran ist: es zeigt einem, wie jeder Unterricht anzulegen und zu geben sei, und warum es vorkommt, daß einer das Lesen nicht erlernt. Das Erstaunliche ist; daß es den meisten gelingt! Ich versuchte, mich mit meiner Patientin zu identifizieren. Wenn sie lesen wollte, was tat sie tatsächlich? Wo wollte
oder erwartete sie zu lesen? War es ihre Absicht, das erste Wort auf einer Seite zu lesen, und gelang es ihr dann nicht, die Augen dorthin ein- oder sie scharfzustellen? Oder mißlang es ihr, weil sie einfach ängstlich wurde und die Augen in die Feme blicken ließ- wie wenn man sie auf Unendlich einstellt -, so daß die beiden Augen überhaupt nicht auf einen Punkt hin konvergierten? Die Wörter, die sie sagte: sah sie sie nur mit dem besseren Auge, oder mit beiden? Und wie in aller Welt würde ich das herausfinden? Im folgenden werde ich Ihnen erzählen, wie ich es herausfand, und Sie werden sich mit mir über Doris' Fortschritte freuen können. Mir liegt sehr viel daran, unsere Funktionsweisen zu verstehen, damit wir lernen können, unser Leben leichter zu machen und es mehr zu genießen. Aus dem, was ich Ihnen bisher erzählt habe, ersehen Sie, daß jeder von uns seine Orientierung und seine Körperbewußtheit verbessern kann. Es ist nicht leicht, Unvollkommenheiten im eigenen Funktionieren an sich selbst zu erkennen, ohne sich mit anderen zu vergleichen. Es ist leicht zu merken, daß jemand schneller läuft oder schwimmt, und es gibt vielerlei Tätigkeiten, die andere besser können als Sie oder ich. Aber wenn ich meine Orientierung und Körperbewußtheit an der Basis verbessern kann, so bewirke ich dadurch eine grundlegende Veränderung, die alle Tätigkeiten, aus denen mein Leben besteht, entscheidend verbessert. Vielleicht haben Sie Lust, an sich selbst einen kleinen Versuch zu machen. Prüfen Sie einmal im Stehen oder langsamen Gehen, wohin Sie schauen und wie. Schauen Sie überwiegend vorwärts und beachten nicht, was links und rechts von Ihnen ist? Horchen Sie auf den Raum hinter sich? Spüren Sie gewöhnlich, was über Ihnen ist, auch wenn nicht gerade etwas herunterfällt? Gut organisierte Menschen schauen nicht ununterbrochen zu Boden, bzw.
auf den Weg, den sie gehen, sondern nur von Zeit zu Zeit. Die meiste Zeit über ist ihr Sehen diffus und nimmt von links bis rechts fast alles wahr. Ihre Ohren horchen auf· das, was hinter ihnen vorgeht. Ein Tier oder ein Mensch im Dschungel würde keinen Tag lang überleben, wenn er nicht den Raum um sich in seinem ganzen Umfang bewußt wahrnehmen würde. Die Tatsache daß in unserer Gesellschaft unsere persönliche Sicherheit kollektiv und durch jeden Einzelnen gewährleistet ist, bedeutet nicht, daß unsere Sinne nicht richtig zu funktionieren brauchen. Die Qualität des Lebens, das wir leben, hängt noch immer und zuallererst vom Zustand unserer eigenen Ausrüstung ab.
IV.
Kapitel
Verbessern contra Heilen Mir wurde klar, daß Doris die Absicht hatte, mit dem Lesen einer Seite bei den ersten Wörtern links oben zu beginnen: denn so fangen wir an, wenn wir lesen lernen, und so hatte auch sie es gelernt. Dieser Teil ihrer Lesefähigkeit war nicht betroffen; aber sie schätzte das, was sie tat, falsch ein. Gewöhnlich führt das, was von unserer Umgebung als Rückmeldung unser Nervensystem erreicht, zu einem allmählichen Abnehmen der Fehler in unserer Reaktion: vom ersten Schuß ins Blaue bis zum Volltreffer ins Schwarze. Wenn wir uns heute gängiger Begriffe bedienten, könnten wir hier also von Doris sagen, daß das Feedback von der Umwelt nicht asymptotisch zu der Korrektur führte, die nötig war. Ich bin jedoch nicht sicher, daß Sie meinen Gedanken folgen können, wenn ich mich solcher Begriffe bediene. Mir ist aber klar, daß ich nichts erreichen würde, wenn ich mich auf Erklärungen allein verließe. Lassen Sie mich also weitererzählen, was ich tat, und es Ihnen überlassen, daraus die Folgerungen zu ziehen. Nehmen Sie einmal einen Strohhalm, stecken Sie sich das eine Ende in den Mund, stützen Sie ihn in Mundnähe mit den Spitzen von Daumen und Zeigefinger. Richten Sie ihren Blick auf die Fingerspitzen, nicht auf den Halm. Bewegen Sie die Finger langsam von den Lippen weg zur Strohhalmmitte und dann wieder zu den Lippen zurück. Lassen Sie sich einige Sekunden Zeit, um bis zur Mitte zu gelangen, und ebensoviel Zeit, um die Finger zum Mund 53
zurückzuführen. Wenn Sie das ein paar Minuten lang machen und wenn Ihre Augen in Ordnung sind, so werden Sie vor Ihren Fingern auf einmal zwei Strohhalme sehen, deren Gabelungswinkel davon abhängt, wie weit Ihre Finger vom Mund entfernt sind. Der Strohhalm muß dabei möglichst reglos und relativ zum Gesicht geradeaus vorwärtsgerichtet sein. Haben Sie erst einmal eine solche Gabelung gesehen, so werden Sie sie immer deutlicher wahrnehmen. Sie werden dann zwei separate Strohhalme sehen, deren einer von dem wirklichen Strohhalm nach links abgeht, der andere nach rechts. Wenn die Finger nah beim Mund sind, hat man den Eindruck, die beiden Strohhalme seien gleich lang wie der wirkliche. Wenn die Finger dann in der Halmmitte sind, so haben die beiden sich gabelnden Halme die Hälfte ihrer ursprünglichen Länge, und der Winkel zwischen ihnen hat sich geändert. Wenn Sie jetzt das rechte Auge schließen, so werden Sie nur das Bild des »linken« Strohhalms sehen; schließen Sie dann nur das linke Auge, so sehen Sie nur den »rechten« Halm. Wenn die Finger nah am Mund sind, konvergiert der Blick beider Augen ganz ähnlich, wie wenn Sie sich auf die Nasenspitze schauen. Jedes Auge sieht den Strohhalm dann als Verlängerung der Geraden (bzw. des Lichtstrahls) zwischen Auge und Fingerspitze; daher das Kreuzen oder die Gabelung der beiden Strohhalmbilder in den beiden Augen. Wenn Sie das mit Ihrem Strohhalm etwas mehr geübt und die Stützfinger nach und nach immer weiter vom Mund weg- und wieder zurückgerückt haben, werden Sie sehen, daß die gegabelten Bilder des Strohhalms um so kleiner werden, je weiter die Finger vom Mund entfernt sind. Wenn schließlich die Finger bis ans Ende des Strohhalms gelangen, erscheinen zwei völlig neue Bilder: eines geht vom Ende des Halms zur rechten und das andre zur linken Seite des Mundes. 54
Jetzt verstehen Sie, daß ich dank diesem Test sehen konnte, wie Doris' Augen konvergierten und divergierten, während sich die Fingerspitzen ihrem Mund näherten und von ihm wieder entfernten. Als sie sagte, daß sie zwei Strohhalme sehe, konnte ich, indem ich die Position der Finger am Halm beobachtete, auch feststellen, ob die beiden Augen gleichermaßen kon- oder divergierten. Stellung und Bewegung der Augen sagten mir, ob das, was sie über die Gabelung sagte, zutreffend war oder nicht; sie gaben mir auch Aufschluß über die Art der auftretenden Fehler. Der Strohhalm ist also ein Detektor dafür, wie die Augen sich einstellen. Ich konnte daher abschätzen, ob ihre Augäpfel sich normal bewegten. Aus eigenen Versuchen wußte ich, daß sich die oben beschriebenen Wahrnehmungen auch bei guten Augen erst nach einigen Versuchen einstellen; und so setzte ich diese Versuche mit Doris fort. Nachdem dieses Hilfsmittel einmal erprobt war, benutzte ich es, um die Konvergenz und damit die Einstellung der beiden Augen meiner Patientin zu verbessern. Bessert sich die Konvergenz fürs Sehen in der Nähe, so wird die Divergenz für die Fernsicht ebenfalls verbessert. Indem man die Fingerspitzen näher an den Mund und weiter von ihm wegrückt, hilft man dem Blick, sich auf Nähe und Feme einzustellen. Für die Nahsicht bewegen sich die Augen einwärts, d. h. aufeinander zu: sie konvergieren; für die Fernsicht bewegen sie sich auseinander: sie divergieren. Falls Sie dieses Mittel an sich selbst ausprobieren, so werden Sie sehen, daß Sie allmählich mehr und besser sehen. Später, wenn Ihre Finger ans Ende des Halms gelangen, werden die verlängerten Bilder kürzer werden und verschwinden. Sie werden dann zwei Bilder des Strohhalmes sehen, die vom Halmende her auf die beiden Seiten ihres Gesichts zukommen. Diese Bilder waren von Anfang an 55
da, aber so schwach, daß sie kaum zu erkennen waren. Erst wenn die Augen sich nach und nach wirksamer, schneller, leichter und genauer einstellen, wird es Ihnen möglich, diese Bilder fast ·ebenso klar und deutlich zu sehen wie vorher die gegabelten. Mit diesem fabelhaften Spielzeug nunmehr in meinem Arsenal, konnte ich meine Patientin gründlich prüfen und daraufhin auch schulen. Als sie die beiden Halmbilder sehen konnte, die vom Ende des Halms her auf die beiden Seiten ihres Gesichts zukamen, wußte ich, daß ihre Augen genau auf das Ende des Halms eingestellt waren und daß, wenn ich dieses Ende nun an ein Wort auf einer Buchseite legte, ihre Augen genau eingestellt sein würden, um das Wort zu sehen. Wenn sie es dann nicht lesen könnte, würde es nicht an den Augen liegen, sondern an einer Schwierigkeit viel »weiter oben« im Gehirn. Die Länge des Strohhalms entsprach der normalen Entfernung zwischen Auge und Buch (ca. 25 cm). Ich bat Doris, auf das Ende des Halms zu schauen, legte es an ein Wort auf der aufgeschlagenen Seite und fragte sie, ob ihr irgendein Wort in den Sinn komme. Zu meiner Freude nannte sie das Wort, auf das der Halm zeigte. Sie las! Nach etwa zwanzig solchen Versuchen zeigte ich ihr, daß sie jedesmal richtig »geraten« hatte. Ich wollte, daß sie mit ihren eigenen Worten sagte, was sie dabei empfand oder davon begriff, und enthielt mich daher solcher Ausdrücke wie »Sie haben gelesen« oder »Sie können sehen«. Ihre ersten und auch noch die nächsten Erfolge ließen sie völlig unberührt. Ich merkte wieder einmal, daß wir Tatsachen gewöhnlich verzerren, um sie unseren Überzeugungen und vorgefaßten Meinungen anzupassen. Tatsachen sind selten unabhängig von ihrem Beobachter. Hätte ich, nach jahrelangem Unvermögen, auf einmal wieder lesen können, ich hätte einen Freudentanz aufgeführt. Doris sprach die Wör-
ter aus, auf die der Halm zeigte, empfand dies aber offenbar nicht - oder begriff nicht - das Ausmaß und die Tragweite dessen, was sie da vollbracht hatte. Sie sagte nichts. Erst später, nach vielen Erfolgen und nachdem ich ihr erklärt hatte, daß das nicht nur glückliche Zufälle waren, schien sie bereit zuzugeben, daß wir etwas erreicht hatten. Seit jeher erlebe ich immer wieder, daß auch gelähmte oder in anderer Weise schwer behinderte Menschen, denen ich geholfen habe, zunächst davon unberührt blieben, wenn sie zum erstenmal wieder etwas tun konnten, das zu tun sie die Fähigkeit verloren hatten. Als dächten sie in meiner Gegenwart: »Er hat es getan,« »Nicht ich kann es tun: er hat es mit mir gemacht«. Erst wenn sie das gleiche allein und von sich aus, etwa zu Hause tun können, geben sie die Besserung schließlich zu. Manchmal hatte ich geglaubt, sie seien undankbar; als ob sie nicht zugeben wollten, daß sie es durch meine Hilfe und mein Können erreicht hatten. Später begriff ich: solange sie die wiederhergestellte Funktion nicht anwenden können, ohne daran zu denken, haben sie nicht das Gefühl, »geheilt« zu sein. Sie verlangen für sich nicht mehr, als dies oder das tun zu wollen und es tun zu können, ohne zu wissen, wie sie es anstellen. Kurz, den Menschen ist es so unbewußt, wie sie etwas tun lernen, daß sie Bewußtheit für einen abnormalen Zustand halten. Für die meisten ist Leben etwas, das automatisch funktioniert, und wenn es das nicht tut, müssen sie »geheilt« werden. Noch etwas anderes kommt hinzu. Wer von uns erinnert sich denn an die Zeit, da er noch nicht lesen oder springen oder rechnen konnte? Nur die Dinge, die wir bereits bewußt erlernt haben, bedeuten einen neuen Abschnitt in unserer Erinnerung. So mag es kommen, daß etwa jemand, der in einem Rollstuhl zu mir kommt und nach einiger Zeit auf Krücken und wieder etwas später am Stock und 57
schließlich ohne Stock gehen kann, das Gefühl hat, er mache überhaupt keine Fortschritte, und daran erinnert werden muß, in welchem Zustand er sich noch vor wenigen Wochen befand. Die bloße Wiederherstellung ist eben eine Wieder-Herstellung: man kann wieder, was man schon immer gekonnt hat, und kann es wieder automatisch. Bei Rückfällen allerdings sowie dann, wenn eine Weiterentwicklung einsetzt über den früheren Zustand hinaus, wird der Unterschied bewußt. Vielleicht interessiert Sie in diesem Zusammenhang ein Brief, den mir einer der Studenten aus meinem vierjährigen Seminar in San Francisco geschrieben hat: ,Nachdem ich Ihr Buch zum viertenmal und Selye's Buch über Stress wiedergelesen habe, fange ich an zu begreifen, was für unabsehbare Möglichkeiten Ihre Arbeit für das gesamte Gebiet der Medizin eröffnet. Ich kann vor Aufregung kaum stillsitzen! Was mich am Ende darauf gebracht hat, war die Bedeutung, die Sie dem Begriff der »Funktion« beimessen. Ich hatte immer die Vorstellung gehabt, das Leben sei ein »Ding«, das manipuliert werden müsse; aber dem ist nicht so. Leben ist ein Prozeß, ein Vorgang, eine Funktion, etwas, das immer in Bewegung ist; und es anhalten, es definieren, es wie einen unverrückbaren Gegenstand »heilen« zu wollen, ist vollkommen absurd. Der Prozeß ist zu korrigieren, zu reorganisieren und dann, falls irgendein Defekt oder Fehler in der Struktur da ist, wird der neue Prozeß sie umstrukturieren, um sie der Funktion besser anzupassen. So sehe ich das jetzt, und die Möglichkeiten sind enorm!, Aus diesen Beobachtungen können Sie ersehen, warum man kaum erwarten kann, daß ein Behinderter von den
ersten Erfolgen an, die er gemeinsam mit seinem Lehrer erreicht, realisiere, daß er sich geändert hat und besser funktioniert. Er ist nicht »geheilt«. Was er erwartet und wünscht, ist: genau so zu sein wie vor seinem Trauma. Geheilt werden, heißt also: zu seinen früheren Funktionsweisen zurückkehren. Aber das Leben ist ein Prozeß, ein Vorgang, und ein unumkehrbarer Prozeß obendrein. Daran bin ich immer wieder erinnert worden, so auch durch das, was in Doris vorging als sie, ohne mit der Wimper zu zucken, las: Lesen bedeutete für sie nicht die Heilung von »Nicht-Lesen«. Sie wollte oder erwartete Heilung, nicht Fortschritte. Fortschritt ist ein allmähliches Verbessern, dem keine Grenzen gesetzt sind. »Heilung« ist bloße Rückkehr zum früheren Zustand, der nicht einmal besonders gut oder auch nur genügend gewesen zu sein braucht, den man aber gewöhnt war. Das Gewohnte und Vertraute stellen wir nicht in Frage; Fortschritte stufen wir ein. Das Gewohnte bildet den automatischen Hintergrund unseres Systems; Fortschritt ist der Vordergrund unserer Bewußtheit. Das sind zwei grundverschiedene Dimensionen. Das eine ist eine atavistische Empfindung; das andere ein erlerntes Wissen, das es uns erst ermöglicht, frei zu wählen. Und das ist das vornehmliche Merkmal des homo sapiens.
v. Kapitel
Gespräche ohne Wörter Sicher habe ich aus unserer gemeinsamen Erfahrung mehr gelernt als Doris. Nach fast vierzig Jahren Erfahrung kann ich aus den Bewegungen eines Patienten so viel ersehen, daß es meinen Studenten oft die Sprache verschlägt oder daß sie mich fragen, wer mir das alles gesagt habe. Die Leute glauben eben lieber an Wunder - wie z.B. an Führung durch den Geist eines verstorbenen Arztes oder an sonst eine an den Haaren herbeigezogene Erklärung -, als daß sie lernten sich ihrer Empfindungen bewußt zu werden und sie in Worte zu fassen. Als Doris das Wort am Ende des Strohhalms zum erstenmal sah, ließ sie den Halm aus dem Mund fallen. Ihre Lippen öffneten sich. Ihre spontane Regung war, den Strohhalm aufzufangen, und nicht etwa, das Wort, das sie gesehen hatte, auszusprechen. Ich wußte, daß sie das Wort gesehen hatte und es ausgesprochen hätte, wäre ihr Mund frei gewesen. Blitzartig begriff ich, daß sie das Wort sah, es aber nicht las. Jetzt fiel mir ein, daß sie nie gesagt hatte »ich kann nicht lesen«, sondern immer »ich kann nicht sehen«. Da mir der Unterschied nicht aufgefallen war, hatte ich mich auf das Problem des Lesens konzentriert, während es an erster Stelle ums Sehen und erst dann ums Lesen ging. Ihre Schwierigkeit war, die Buchstaben, die sie sah, in Wörter zu verwandeln, und nicht: Wörter auszusprechen oder die Buchstaben zu sehen. Wie unser Denken arbeitet, ist ein Wunder ohne Ende. Die Entdeckung, die ich soeben geschildert habe, lag schon 61
ursprünglich dem Gedanken zugrunde, Doris den Strohhalm in den Mund zu legen. Als ich diese Technik Dr. Kirshner zeigte, fragte er »Warum in den Mund«. Ich antwortete: »Lesen wir den nicht mit dem Mund?«. Anders als meine Studenten, verstand er den Großteil meiner Gedankengänge; und ich habe ja schon gesagt, wie verworren mein eigenes Denken hinsichtlich »Lesen« und »Sehen« war. Doris und ich hatten unser Aha-Erlebnis, unser »Satori«, im selben Augenblick. Ich möchte versuchen, in das, was geschehen war, hier etwas Licht zu bringen. Zuerst lernen wir sprechen, und erst wenn wir schon recht gut sprechen können, lernen wir lesen. Dabei müssen wir einen fließenden Übergang herstellen zwischen dem, was wir sehen, und dem, was wir verstehen. Man bringt uns lange bei, das, was wir sehen, auszusprechen, und wir tun es auch lange. Viele Menschen bewegen ihr ganzes Leben lang beim Lesen die Lippen. Manche haben nie schneller lesen können als sie das, was sie sehen, auch aussprechen konnten. Man kann nie erlernen, tausend Wörter in der Minute laut zu lesen, einfach weil man so schnell nicht sprechen kann. Und doch finden wir, ohne zu wissen was wir da tun, einen Weg, das Sehen der Schrift vom Sprechen zu lösen, und so lernen wir, schneller zu lesen. Das Sehen richtet sich auf die Begriffsbildung oder aufs Verstehen und umgeht dabei das Sprechen ganz und gar. Das ist gar nicht so leicht, und nur wenigen gelingt es ohne Hilfe vollkommen. Man findet unter Lesern alle Abstufungen: Nonnen z.B., die beim Beten die Lippen lautlos bewegen; Leute, die nicht einmal diesen Grad der Differenzierung erreicht haben und sogar ihre Zeitung laut lesen, - hinsichtlich des Lesens entspricht das der Altersstufe eines Kindes, das schon zwei oder drei Jahre lang lesen kann. Und wenn Sie glauben, daß ich übertreibe, dann prüfen Sie einmal sich 62
selbst, auch wenn Sie Unterricht im Schnell-Lesen genommen haben. Können Sie z.B. Geld sehr schnell zählen, ohne dabei irgendeine Sprechbewegung zu machen? es also unmittelbar mit Ihrem Verstand zählen? Das haben Sie nicht gelernt, und vielleicht zählen Sie noch immer wie einer, der nie die Muße gehabt hat, direkt mit seinen Augen zu lesen. Als ich etwa zehn Jahre alt war, sah ich einmal, wie der Vater eines meiner Mitschüler sein Portemonnaie auf den Tisch leerte, die Münzen auf dem Tisch ausbreitete und sie gleich wieder ins Portemonnaie zurückfegte. Dann trug er in sein Kassabuch ein: so und so viele Münzen im Wert von x, so und so viele im Wert von y, und so weiter, und setzte den Gesamtbetrag darunter. Mir blieb der Mund offen: ich konnte nicht glauben, was ich gesehen hatte. Ich fragte meinen Freund, ob ich das etwa nur geträumt hätte. Er sagte, sein Vater könne jede Menge Münzen zählen, die auf einem Tisch ausgebreitet lägen, indem er sie nur ein paar Sekunden lang ansehe. Später lernte ich eine Sekte jüdischer Mystiker, die Kabbalisten, kennen, die ihr Leben den Sphären höheren Wissens weihen. Um die Allmacht Gottes und seine Weisheit zu begreifen, braucht ein Mensch - so lehren sie - alle Zeit, die er erübrigen kann. Darum lernen sie, alle alltäglichen Notwendigkeiten schnell zu bewältigen, damit ihnen mehr Zeit bleibe, ihre Daseinsebene zu erhöhen. Der Vater meines Mitschülers war in einer solchen Schule, einer Jeschiwa, aufgewachsen. Wenn Sie betrachten, was Sie lesen, werden Sie merken, daß Wörter nicht Gedanken sind, sondern Stichwörter zu Gedanken; und das selbe Wort wird auch im selben Menschen verschiedene Gedanken hervorrufen: wie erst in verschiedenen Menschen. Kommunikation ist kein Gedanken-Austausch, allenfalls ein hoffnungsfroher Versuch in 63
dieser Richtung. Ich habe noch niemanden überzeugen können, gegen seine eigenen Denkgewohnheiten zu denken, wie auch immer ich meine Versuche formulieren mochte. Schafft man aber eine Atmosphäre des Verständnisses, so wird es möglich, den Inhalt der Wörter im Geiste eines Freundes oder eines geliebten oder liebenden Menschen wiederzuerschaffen. Obwohl Wörter das einzige allgemeine Kommunikationsmittel sind, haben sie keine genaue Bedeutung, weil sie ihrer zu viele haben und weil man sie unendlich verschieden gebrauchen kann. Sie werden vielleicht schon gemerkt haben: vieles von dem, was ich während der Lektionen tue - ich spreche lieber von Lektionen als von Behandlung, denn im Effekt wird ja tatsächlich ein Lernprozeß ausgelöst -, geschieht wortlos; trotzdem spreche ich dabei die meiste Zeit. Es könnte sonst den Patienten mißtrauisch und daher unruhig machen, wenn ich den Mund hielte, als ob wir miteinander nicht reden würden. Ich fordere ihn, den ich, wie gesagt, eher als Schüler denn als Patienten betrachte, auf, eine bequeme Stellung einzunehmen, sich etwa auf den Rücken zu legen oder auf den Bauch oder sich auf eine weiche Unterlage hinzuknien. Im Laufe einer Reihe von Lektionen mit einem Schüler, der etwa Geiger sein mag und trotz eifrigen Übens in seinem Spiel keine Fortschritte macht, oder ein Schauspieler, der an chronischen Rückenschmerzen leidet, scheint die Anzahl der verschiedenen Stellungen geradezu unbegrenzt. In den fast vierzig Jahren, die ich mein System Funktionaler Integration anwende, bekommt eine Person im Durchschnitt nur selten mehr Lektionen als sie Jahre alt ist. Ein Dreißigjähriger zum Beispiel wird in dreißig Lektionen genügend lernen, um die Schwierigkeiten oder Schmerzen los zu sein, die ihn zu mir geführt haben. Selbst in diesem Stadium werden sie noch nicht die Grenze ihrer Möglichkeiten, sondern einen Zustand er-
reicht haben, von dem aus sie sich weiterentwickeln, weitere Fortschritte machen werden, aus eigenem oder durch meine andere Technik, einen Unterricht, der an Gruppen wie auch an einzelne gewendet werden kann und der als »Bewußtheit durch Bewegung« und als »Der aufrechte Gang« bekannt geworden ist.,:Manche haben Schwierigkeiten zu verstehen, wie die gleiche Theorie, oder das gleiche System, einmal non-verbal sein kann - wenn ich einen allein unterrichte - und einmal verbal - wenn ich mit Gruppen arbeite (oder auch mit einzelnen), wo Sprechen dann notwendig das einzig mögliche Kommunikationsmittel ist. Beim non-verbalen Unterricht gebrauche ich meine Hände, dabei handelt es sich also um eine unmittelbare Sinneserfahrung. Bei Gruppen wird das gleiche Ergebnis durch Sprache bewirkt, wenn auch nicht auf die übliche Art, bei der man Leute auffordert, Anweisungen zu befolgen. Es wird hier von ihnen nicht erwartet, daß sie ein Ziel erreichen oder irgendeine Leistung vollbringen: sie achten auf ihre Sinnesempfindungen, während sie Bewegungen ausprobieren. Beide Techniken leiten also hauptsächlich zur Sinnes-, zur Selbsterfahrung durch die Sinne an. Es ist eine betrübliche Tatsache, daß Kommunikation durch die Sprache immer nur ein Ansatz zur Kommunikation sein kann. Man kann sich ein Resultat, ein Ziel nicht durch Wörter aneignen. Gegenstand der Kommunikation muß ein Gedanke sein, den man sich vorgestellt, gefühlt oder empfunden, den man erdacht oder begriffen hat. Wir teilen uns mit, indem wir über alles mögliche sprechen, das wir gehört oder gelesen oder gefühlt oder gesehen oder geträumt oder gedacht, kurz: das wir erlebt - oder auch nicht erlebt haben. Sprechen teilt nur das mit, was schon vor dem Sprechen entstanden ist, auch wenn es nur einen ··· Feldenkrais: Bewußtheit durch Bewegung. suhrkamp taschenbuch 429.
Bruchteil eines Augenblicks vor dem Wort war. Sie werden daher begreifen, daß auch die Art, wie in der verbalen Technik die Anweisungen zu geben sind, mich einiges Nachdenken gekostet und sich im Lauf der Zeit immer weiter entwickelt hat. Ich erzähle Ihnen das alles, um Ihnen verständlich zu machen, daß in den ersten zwei Monaten mit Doris die sprachliche Seite der Behandlung sich nur aufs Begrüßen und auf die wenigen Worte beschränkte, auf die hin sie eine Stellung einnahm, die ich sie dann durch meine Hände korrigieren machte. Meine Hände sind so geschult, daß sie mir über mein Sinnesempfinden mitteilen, was der Schüler oder Patient fühlt, und gleichzeitig ihm Information zuführen, nach der er sich richten kann, auch wenn er sie nicht versteht. Der Patient reagiert nicht durch sein Verstehen, sondern spontan, indem er meinem Drücken oder Ziehen nachgibt oder Widerstand entgegensetzt oder zurückweicht, wenn eine schmerzhafte Stelle oder Gegend berührt worden ist. Um mit dem Strohhalm zu arbeiten, bedurfte es keiner Worte: ich legte ihr das eine Ende in den Mund und ihren rechten Daumen und Zeigefinger an die Stelle, wo sie den Halm stützen sollten. Während der Lektion wurde weiter nichts gesprochen als die Aufforderung, sie möge auf ihre Fingerspitzen schauen; sie auf den Mund zu oder von ihm weg zu bewegen, besorgte ich mit meinen Händen. Ich fragte nicht: »Was sehen Sie?«, sondern: »Wie viele Halme sehen Sie da oder dort: einen, zwei oder drei?« »Sind sie alle gleich hell? ist einer davon deutlicher, wirklicher?« usw. Mehr war nicht vonnöten. Warum ich das erzähle? Sie sollen wissen, daß ich Schwierigkeiten hatte, als sie las, ohne zu realisieren, daß sie es tat. Während ich zusah, wie ihre Augen den Fingerspitzen folgten, konnte ich, nachdem ich mich einmal daran gewöhnt hatte, ungefähr sehen, was jedes der Augen tat, d. h. 66
wie es sich bewegte. Aber das sagte mir nicht, was sie dabei empfand. Sie konnte ihre Augen besser einstellen, ich konnte die Änderung in der Funktion ihrer Augen zunehmend wahrnehmen, aber ich wußte noch immer nicht, ob sie mit beiden Augen gleichermaßen sah. Dominierte ein Auge und war das andere nur ein Hilfsauge? Das bessere, das dominierende Auge sollte das Abzweigen des virtuellen Bildes von dem wirklichen Halm sehen, wie es sich nach der gegenüberliegenden Seite hin gabelte. Es war kaum wahrscheinlich, daß sie die eine Seite von der anderen unterscheiden oder sich so feiner Unterschiede bewußt werden konnte. Möglich auch, daß das Hilfsauge ein zwar schwächeres virtuelles Bild sah, aber eben doch etwas sah. Um herauszufinden, was da wirklich vor sich ging, bediente ich mich eines Strohhalms von dunklem Rosarot und einer Kunststoffolie von der gleichen Farbe. Wenn ich die Folie auf die Seite legte, wo das Bild der Gabelung schwach und verschwommen war, würde das Bild überhaupt verschwinden, da es sich von dem gleichfarbigen Hintergrund nicht mehr abheben würde. Hielt ich die Folie auf die andere Seite, gegenüber dem dominierenden Auge, so würde das Bild des Halms durch den Kontrast heller oder mindestens ebenso klar erscheinen wie vorher und dadurch für Doris erkennbar sein. Sollte also eines der virtuellen Bilder dabei ganz verschwinden, so müßte das doch eine genügende Veränderung bedeuten, um irgendeine sichtbare Reaktion auszulösen. Außerdem kann ein geübter Beobachter jemandem an den Augen ansehen, ob sie tatsächlich etwas sehen. Wenn man das, was man bei den Fingerspitzen zu sehen erwartet, nicht sieht, gehen die Augen aus der Schärfe und bewegen sich auseinander. Tatsächlich war das eine Auge von Doris viel besser als das andere. Viele Menschen sehen mit dem einen Auge besser als mit dem andern. Das Auge stellt sich in der Regel so ein, 67
daß sich auf dem gelben Fleck seiner Netzhaut das Bild formt. Der gelbe Fleck ist eine kleine Fläche von etwa zwei da er das größte AuflösungsverQuadratmillimetern; mögen hat, ist er die Stelle des schärfsten Sehens und ermöglicht es uns, feinere Details zu sehen, als wir dies mit der übrigen Netzhaut tun können. Brillengläser korrigieren gewöhnlich die Anpassung jedes Auges separat, um das bestmögliche Sehen zu gewährleisten. Um perfekte Sicht zu erzielen, müßte eine der Linsen prismatisch sein, damit das stärker korrigierte Auge auf den gleichen Punkt hin scharfgestellt werden kann wie das bessere, bzw. das weniger stark korrigierte. In der Praxis ist das aber zu teuer und zu schwierig. Brillen gleichen daher nur selten alle Sehfehler aus. Da ich hier mit so vielen Schwierigkeiten gleichzeitig zu tun hatte, versuchte ich zunächst mit den einfacheren fertig zu werden. Mit einem beschädigten Gehirn lesen zu lernen, ist ja an sich schon schwierig genug. Ich hoffte eine objektive Bestätigung zu bekommen, daß Doris' Augen ihr ein klares Bild des gedruckten Textes vermittelten, der vor ihr lag. Daher die Bemühung, jedes mögliche Hindernis aus dem Weg zu räumen. Aber ich möchte Sie nicht mit der ganzen Fülle von Einzelheiten erdrücken. Nach einigen Wochen, also von dem Augenblick an, da das Ende des Strohhalms und die Finger, auf die sie ihre Augen eingestellt hatte, auf der gedruckten Seite ein Wort berührten, - von da an dauerte es nur noch vierzehn Tage, bis Doris laut lesen konnte. Ich machte eine Bandaufnahme von ihr, wie sie in einer halben Stunde vier Druckseiten laut vorlas. Das war gut genug, wenn man bedenkt, daß ja lautes Lesen langsamer ist. Nach und nach konnte sie auch, was sie gelesen hatte, recht gut behalten. Ich empfand das als einen Triumph, da ich ja Schwierig68
keiten überwunden, welche ich nicht erwartet und nicht einmal vermutet hatte. Zum Beispiel: wenn sie die erste Seite durchgelesen hatte, hielt sie inne und wußte offensichtlich nicht, wo sie weiterlesen sollte. Sie führte den Strohhalm zurück zum Anfang der Seite, die sie gerade zu Ende gelesen hatte, und da der Inhalt dort natürlich nicht an die letzte Zeile anschloß, war sie verwirrt und wurde verlegen. Es brauchte viele Versuche und Wiederholungen, bevor sie lernte auf der nächsten Seite oben fortzufahren. Auch das Umblättern der rechten Seite kam nicht von selbst. Ich muß zugeben: ich war überrascht. Daß ein Kind, wenn es lesen lernt, vielleicht wiederholter Belehrung bedarf, bevor es die Seite von selbst umwendet,schien mir begreiflich. Bei Doris, hatte ich gedacht, würde die Nachahmung von sich aus geschehen. Sie hatte ja schon viele Jahre lang gelesen, bevor sie vergaß wie man liest; und so hatte ich es für selbstverständlich gehalten, daß das Seitenwenden keinerlei Schwierigkeiten bereiten würde. Es gab noch andere Überraschungen. Von Anfang an wurde der Halm immer von einem Wort zum nächsten Wort rechts davon bewegt und schließlich zurück nach links an die nächste Zeile, so daß sein Ende bei einem Wort innehielt, bis ich es ausgesprochen hatte. Als ich den Halm ihr überließ (er wurde später durch einen Bleistift ersetzt), damit sie selber die Stelle bezeichne, die zu lesen war, machte es einen bemerkenswerten Unterschied, ob sie den Bleistift in der rechten Hand hielt oder in der linken. Offenbar lernen wir viel mehr als wir wissen oder als gelernt zu haben wir uns erinnern. Es sieht ganz danach aus, als wollte sogar der gesunde Menschenverstand gelernt sein und auch noch alles, was uns von Natur aus kommt, obendrein. Von dem Augenblick an, da Doris das Wort am Ende des 69
Halmes sah, bis zu dem, da sie mir fähig schien, mit einem Bleistift ihr Lesen selbst zu führen, brauchte es einige Tage. Ich möchte Ihnen beschreiben, wie ich in diesen Lektionen vorging. Ich saß auf einem Stuhl links von ihr. Meine rechte Hand legte ich unter ihren linken Arm, das aufgeschlagene Buch in ihre linke Hand, meine Hand um die ihre, um ihr zu helfen das Buch in der richtigen Lage zu halten. Das eine Ende des Strohhalms lag zwischen ihren Lippen, das andere hielt ich mit meiner linken Hand. Auf diese Weise konnte ich mit meinem rechten Arm selbst die geringfügigsten Veränderungen spüren, die in ihr vorgingen, z.B. auch nur das flüchtigste Anhalten des Atems im gleichen Augenblick bemerken, da es geschah. Ich wußte genau, wann ich aufhören mußte, den Halm zu verschieben, bis sie wieder Mut faßte und sich reorganisiert hatte und bereit war weiterzulesen. Es war eine Art Symbiose der beiden Körper, wobei jeder Wechsel in ihrer Stimmung von mir - und meine vorsätzlich gelassene, nirgends zwingende Kraft von ihr gespürt wurde. Ich trieb sie nicht zum Lesen an, sondern las, kaum daß ich sie vor Angst sich spannen oder unsicher werden fühlte, selber laut vor. Mit der Zeit wurde es immer seltener, daß ich las. Zuweilen las sie besser als ich, zum Beispiel wenn wir auf zusammengesetzte Wörter von fünfzehn und mehr Buchstaben stießen: es kam vor, daß sie sie mühelos ablas, während ich verlangsamen und sie mir zusammenklauben mußte. Es kam aber auch vor, daß Wörter wie »und« oder »auf« oder »er« sie stolpern machten. Manche Schwierigkeiten stellten sich nicht ein, obwohl ich sie erwartet hatte. Ich hatte z.B. gedacht, es werde ihr schwerfallen, mit etwas zwischen den Lippen laut zu lesen. Keineswegs. Da fiel mir ein, wie oft ich beim Sprechen eine Zigarette zwischen den Lippen hielt, und ich erinnerte mich an englische Freunde, die mit einer Pfeife im Mund
auf die Welt gekommen waren. Da der Halm von mir gestützt wurde, machte das überhaupt keine Schwierigkeit. Als ich glaubte, den Halm ihrer Hand überlassen zu können, so daß sie auf die Wörter und Zeilen selber deuten würde, glitt sie oft, ohne es zu merken, mitten in der Zeile zur nächsten Zeile hinunter. Offenbar sprach sie bloß aus, was sie sah, ohne den Inhalt wahrzunehmen. Es war beinahe so, als würde sie Chinesisch lesen. Ich nahm ein anderes Buch: Geschichten, mit weniger Beschreibungen. Die Story machte es leichter, den Sinn zu behalten. Ich machte hie und da komische Bemerkungen dazu, und ihr Lachen zeigte mir, daß sie die Beziehung meiner Bemerkung zur Geschichte und also die Geschichte selbst verstanden hatte. Manchmal tat ich so, als hätte ich ein deutschesWort nicht verstanden; dann erklärte sie es mir, und das ermöglichte mir, sowohl ihre Aufmerksamkeit für den Inhalt zu kontrollieren als auch ihr selbst die Überlegenheit des Lehrers zu geben. Dann ging ich daran, sie aus ihrer Abhängigkeit von mir zu lösen und sie mit mir auf die gleiche Ebene zu stellen: zwei Menschen, die sich unterhalten und gemeinsam lesen. Das bereitete ihr echtes Vergnügen, und von da an überließ ich das Lesen ihr. Es war Zeit mit dem Schreiben zu beginnen. Im Rückblick auf alles, was bisher geschehen war, wollte ich den Ablauf des Schreiblehrgangs klar genug vorbereiten, um Fallen und Überraschungen vermeiden zu können. Da verblüfften mich meine Studenten: einige glaubten sich zu erinnern, daß sie Lesen und Schreiben gleichzeitig gelernt hatten. Ich erfuhr gleich zu Beginn, daß es einfach zuviel verlangt ist, das Unbekannte soweit vorauszusehen, daß es keine Überraschungen mehr birgt. Ich hatte gedacht, es könnte zum Schreiben keinen allmählicheren Übergang geben als dadurch, daß ich Doris an Stelle des Strohhalms einen Kugelschreiber in die Hand gab, um diesen beim Lesen zu 71
führen. Ich hatte gehofft, sie würde ihn mit drei Fingern halten wie beim Schreiben; statt dessen hielt sie ihn in der Faust, wie ein Werkzeug. Was das heißt? Ein weiteres Beispiel: ich versuchte, sie dazu zu bringen, ihren Zeigefinger statt des Kugelschreibers zu gebrauchen; aber wenn sie den Zeigefinger strecken und gleichzeitig die übrigen Finger zur Faust schließen wollte, krümmte sich der Zeigef inger zu einem Haken. Ich beschloß, mit dem Lesen noch ein paar Tage fortzufahren. Die ersten zwei Tage gab es nichts Besonderes, wie bisher. Am dritten Tag war Doris' Lesen so gut, daß ich nur zwei oder drei Wörter pro Seite für sie lesen mußte. Plötzlich sah ich unter der Zeile, die sie gerade las, einen Strich entstehen. Sie hielt den Kugelschreiber wie ein Schreibgerät. Ich blickte sie an, und sie begriff, daß sie zwischen den beiden Druckzeilen einen Strich »geschrieben« hatte. »Wann werde ich schreiben lernen?« fragte Doris. Sie sah sehr glücklich aus. Auch ich war froh: daß ich bei meiner Art geblieben war, einen Schüler nie zu einer neuen Handlung zu drängen, bevor er nicht selbst in sie oder in eine sehr ähnliche hineingestolpert ist. Ein neuer Wunsch oder eine neue Handlung ist ein Zeichen zunehmender Gesundung. »Möchten Sie gleich anfangen?« fragte ich sie. Und sie antwortete: »Ich habe Angst.« Ich war sehr bedacht darauf, sie meine gespannte Neugier nicht fühlen zu lassen auf das, wa~ sie als nächstes sagen würde; ich wußte, es würde etwas Wichtiges sein. Bei meiner non-verbalen Arbeit warte ich immer, bis das Körperverhalten oder richtiger: das Verhaltensmuster in der motorischen Region der Gehirnrinde, welches mit Angst verbunden ist, sich aufgelöst hat. Das geschieht, wenn dem Schüler eine Handlungsweise einfällt, die er jahrelang nicht, oder vielleicht überhaupt nie, angewendet hat. Ihr fiel das Schreiben ein, das
sie jahrelang nicht hatte tun können. Offenbar war der Gedanke ans Schreiben jetzt mit weniger oder gar keiner Angst besetzt. »Ich habe immer Angst gehabt«, fuhr sie fort, »mein ganzes Leben lang. Ich erinnere mich, schon mit sechs Jahren hatte ich Angst. Ich hatte Angst, zu spät in die Schule zu kommen, Angst«, wiederholte sie, »zu spät in die Schule zu kommen.« »Waren Sie jemals zu spät?« fragte ich. »Ich kam nie zu spät in die Schule; aber mein Leben lang habe ich davon geträumt, daß ich zu spät komme, und immer wachte ich auf, zitternd vor Angst. Mein ganzes Leben lang bin ich nie zu spät gekommen, aber ich träume noch immer davon, daß ich zu spät für die Schule bin.« »Sie•sind jetzt nicht in der Schule«, sagte ich; »was hat Sie denn auf das gebracht, was Sie mir erzählt haben? Hier ist keine Schule.« »Doch«, sagte sie, »hier ist es wie in der Schule.« Jetzt erst fiel mir ein, daß Doris zu unseren Verabredungen immer eine halbe Stunde zu früh kam; aber es war mir nie eingefallen, daß dies eine Schlüsselspur zu ihrem Leben sein könnte. Ich hielt mich für einen ausgezeichneten Beobachter - ich habe Ihnen ja erzählt, wie ich meine Studenten beobachten lehrte. Während mehr als drei Monaten war Doris täglich eine halbe Stunde zu früh gekommen, und ich hatte das als selbstverständlich hingenommen und nichts gemerkt. Ich halte mich noch immer für einen guten Beobachter, aber sicher nicht mehr, wie früher, für einen Sherlock Holmes. Der Vorfahre, nach dem man mich, jüdischem Brauch gemäß, benannt hat, pflegte zu sagen: »Bescheidenheit heißt, seinen Platz wissen.« Solche Lektionen habe ich in meinem Leben öfters lernen müssen. Als Doris mir so einfach von ihrer Angst erzählte, schien das aus heiterem Himmel zu kommen, schien es aber nur. Denn meme Arbeit bewirk_t _b.nderungen an Hemm_i_i_ng_ 73
unq Erregung in der Hirnrinde. Das zeigt sich in der Mu~kulatur als Schlaffheit oder Kontraktion. Dem affektiven I11halt, der mit der gewohnten Haltungs-, der Verhaltens-weise verbunden war, wird so seine physische Stütze entzogen; dadurch wird die Person sich ihres Affekts bewußt und spricht ihn in aller Ruhe aus. Indem sie sich des affek- ~ tiven Inhalts, der mit dem körperlichen Verhaltensschema verbunden ist, durch Verringerung überflüssiger Spannung bewußt wird, empfindet sie Ruhe und Gelassenheit. Erhöhte Bewußtheit eines Wohlgefühls geht mit einher, das meistens einige Zeit anhält. Da nun Doris plötzlich das Gefühl hatte, sie könne mir von ihrer Angst erzählen, und da sie zugleich von sich aus die Feder richtig zum Schreiben hielt, fand ich es an der Zeit, mit der Wiederherstellung ihres Schreibvermögens anzufangen. Aber »Wiederherstellung« ist nicht das richtige Wort; der Teil ihrer Hirnrinde, wo Schreiben organisiert und regiert wird, war ja nicht mehr in seinem ursprünglichen Zustand und daher nicht in der Lage, seine Arbeit wie früher zu tun. Um also das Wort mit meinen Gedankengängen in Übereinstimmung zu bringen, wird es besser sein zu sagen: ein Schreibvermögen neu zu kreieren. Nach wie vor vermied ich es, sie anzuspornen oder Angst zu erzeugen, und erwähnte also das Schreiben mit keinem Wort. Ich hätte nur zu sagen brauchen: »Jetzt wollen wir ans Schreiben gehen«, und ihre Augen hätten den mir schon bekannten leeren Ausdruck angenommen, Spannung wäre in ihren Körper gekommen und sie hätte sich so gut wie sicher verteidigt mit: »Aber ich kann doch nicht!« Ihre Art, »Ich kann nicht« zu sagen, enthielt die Überzeugung, ich könne unmöglich übersehen, daß sie wirklich nicht konnte. Auch ein Staunen klang da mit, dem Sinn nach etwa: »Wie können Sie so etwas sagen, wo Sie doch selber sehen - ?« 74
Ich legte also ein Blatt Papier auf den Tisch, gab Doris den Kugelschreiber, nahm mir einen andern und zog damit drei senkrechte Striche im Abstand von ungefähr einem Zentimeter. Dannschob ich ihrdasBlattzu und batsie das, was sie darauf sah, nachzuzeichnen. Sie berührte das Blatt mit dem Schreiber dreimal und machte drei Häkchen, dem Zeichen ähnlich, das man auf eine Akte oder unter eine Rechnung setzt, die man eingesehen und für richtig befunden hat. Ich fand das gar nicht so schlecht; sie hatte zwar nicht drei parallele Senkrechte wiedergegeben, aber doch den Schreiber ebensoviele Male angesetzt wie ich, hatte drei Zeichen gemacht, nicht zwei oder vier. Als ich dann drei parallele waagrechte Striche zog, wieder im Abstand von ungefähr einem Zentimeter, waren ihre Zeichen den meinen noch etwas ähnlicher: drei waagrechte Zeichen, seitlich gegeneinander etwas verschoben, das zweite unter dem ersten, aber ein wenig nach rechts gerückt, ebenso das dritte; aber sie waren einander und auch meinen Zeichen ähnlicher, als sie es beim senkrechten Versuch gewesen waren. Auf demselben Blatt gab sie auch ein Dreieck wieder: sie machte einfach drei Punkte; und vier Punkte für ein Viereck. Man konnte sogar sehen, daß sie den von mir gezeichneten Winkel nachahmen wollte: wieder nur zwei Berührungen des Papiers mit dem Schreiber, ohne sinnvolle Beziehung zueinander. Ich probierte Auf- und Abwärts-B.ogen ... Alles, was sich sagen läßt, ist, daß sie ihr Schreibzeug beim Nachahmen ebensooft auf dem Papier ansetzte wie ich beim Vorzeichnen. Davon abgesehn, sah es völlig hoffnungslos aus. Aber sie blieb ruhig, und ich zeigte weder Unzufriedenheit noch Beifall. Ich erinnerte mich, daß sie beim Lesen ihren Zeigefinger nicht hatte benützen können, um ihren Blick zu führen, und wieviel Zeit Kinder damit zubringen, Schriftvorlagen nachzuziehen; und mein Mut sank. Ich sah, daß Doris' 75
Körperbewußtheit nur in groben Zügen vorhanden und fürs Schreiben ungenügend war. Beim Schreiben muß das Schreibzeug häufig die Richcung wechseln, vor- und ab- und rückund aufwärtsgehen. Die Dauer der Bewegungen nach den verschiedenen Richtungen muß dabei einigermaßen ausgeglichen sein bzw. es werden. Das alles neu zu kreieren, würde viel Zeit und Erfindung brauchen. Mir war dazu gleich Verschiedenes eingefallen, aber ich wußte noch nicht, mit welchen Mitteln ich es wirksam realisieren sollte. Ich brauchte Zeit, um mein weiteres Vorgehen auszudenken. Ich würde schon zufrieden sein, wenn ich sie wenigstens so weit brächte, daß sie ihre Unterschrift schreiben könnte - stellen Sie sich einmal vor, was für Schwierigkeiten das in unserer Kultur ergibt, wenn man nicht unterschreiben kann. Um diese Zeit mußte ich ins Ausland verreisen, um Vorlesungen und Kurse abzuhalten, die schon vereinbart waren, bevor ich die Arbeit mit Doris begonnen hatte. Ich sagte ihr, daß wir jetzt unterbrechen würden, daß wir sehr weit gekommen seien und daß es für uns beide Zeit sei, ein wenig auszuruhen. Sie war einverstanden und kehrte nach Hause zurück. Wir machten ab, daß sie nach Israel zurückkehren würde, wenn sie von sich aus die Behandlung würde fortsetzen wollen. Am Tag vor ihrer Abreise kam sie sich von meinen Studenten verabschieden. Sie schien voll Selbstvertrauen, sprach leicht und selbstverständlich, ja, beinah mit elegantem Schliff. Sie war durchaus nicht mehr die Patientin, die wir von der ersten Sitzung her in Erinnerung hatten. Alle empfanden, was hier erreicht worden war, und freuten sich darüber, und auf ihren Dank antworteten sie wie einem erwachsenen Freund. Ich empfand Dankbarkeit ihr gegenüber dafür, daß aus der Patientin oder Schülerin, als die sie gekommen, ein Jemand geworden war. Wir brachten sie zum Flugzeug. Sie reiste ohne Begleitung.
VI.
Kapitel
Spüren, um zu verstehen Wenige Monate nach meiner Rückkehr erfuhr ich, daß Doris wiederkommen wollte, um mit mir weiterzuarbeiten. Von ihr zu hören, freute mich aus mehreren Gründen. Offenbar fühlte sie sich so gut, daß sie nun schreiben wollte. Ich meinte auch, sie würde jetzt schneller vorankommen, denn ich hatte mir inzwischen überlegt, wie ich, falls sie wiederkäme, die Aufgabe anpacken würde. Eines Morgens kam sie dann einfach herein. Sie sah gut aus und begrüßte uns wie alte Freunde. Sie sei allein gekommen, sagte sie; und daß sie auf der Reise alle Aufschriften habe· lesen können. Ich fragte sie nicht, ob sie schon zu schreiben versucht habe, sondern bat sie, ihre Schuhe auszuziehen und sich wie sonst auf die Couch zu legen. Dann prüfte ich ihren ganzen Körper, von den Sohlen bis zum Scheitel. Sie wurde gelöster und entspannt und war bei bester Laune, als sie uns verließ. Als sie anderntags wieder auf der Couch lag, begann ich die Spitze meines Zeigefingers auf ihr körperabwärts zu bewegen. Ich sollte vielleicht erwähnen, daß meine Schüler, wenn ich an ihnen arbeite, ihre Straßenkleidung anbehalten; sie brauchen nur die Brille abzunehmen und Jacke und Schuhe auszuziehen. - Ich machte sehr kleine Bewegungen an ihr, jede nur drei, vier Zentimeter lang, bedeckte damit ihr Gesicht, Stirn, Wangen, Kehle, Brust, Unterleib, Beine, Füße, Arme und Hände, später auch den Hinterkopf, den Nacken, den ganzen übrigen Körper, immer wieder, drei Sitzungen lang.Weder sie noch ich sprachen dabei auch nur 77
ein Wort; aber es juckte mich gewaltig, sie zu fragen, was sie denn meinte, das ich da tat. Ich fragte mich, wieso sie offensichtlich daran nichts Befremdliches fand. Jedenfalls war sie ganz still und ließ mich mit meinen kleinen Streichbewegungen fortfahren, die nun selbst mir schon etwas dumm vorkamen. Endlich fragte sie, mit Bezug auf die letzte Bewegung, die ich gerade gemacht hatte: »Ist das ein Strich?« »Ja«, sagte ich, »ein Strich von oben nach unten«. Und ich fuhr mit meinen kleinen Streichbewegungen fort und sagte bei jeder: »Das ist ein Strich von oben nach unten.« Nach ein paar Dutzend solcher Striche sagte ich dann bei jedem: »Das ist auch eine Eins.« Und nach einer Reihe solcher Striche: »Vielleicht ist es auch ein gedrucktes l«, und später, einen Punkt über den Strich setzend: »Es könnte auch ein i sein.« Mir war klar, daß man Sinneswahrnehmungen haben kann, ohne sich ihrer bewußt zu werden. Genauer: eine Sinnesreizung ist noch keine Wahrnehmung, sondern einfach eine Reizung eines Sinnes. Sie bleibt notwendig sinnlos, solange man sich nicht innerlich fragt, was man da empfinde. Wenn man einen Sinn nicht sucht, ist keiner in der Reizung und keiner im Empfinden der Reizung. Ich suchte nach ähnlichen Beispielen. Sind wir alle so, oder war nur Doris so auf Grund ihres Traumas? Mir fiel ein: ich hatte einmal ein Paar Schuhe gehabt, die waren zunächst sehr bequem gewesen; aber gegen Abend hatte ich dann ein Unbehagen an der kleinen Zehe gespürt. Ich hatte den Schuh ausgezogen und war überrascht gewesen, die Zehe bluten zu sehen. Unter dem leichten, aber beständigen Druck hatte sich eine Blase gebildet, die aufgegangen war. Erst die Reibung an der offenen Wunde hatte mir den Schmerz zu Bewußtsein gebracht. Wenn selbst ich einen ganzen Tag lang eine solche Reizung aushielt, ohne weiter
nach ihr zu fragen, warum sollte sich dann Doris anders verhalten, zumal mein Streichen sicher weniger hart war als damals das Reiben an meiner Zehe? Reizungen, die unterhalb der Schmerzschwelle liegen, sind, solange sie nicht bewußt werden, ohne Sinn; Bewußtheit verleiht ihnen Sinn. Oder vielleicht bedeutet »Sinn wahrnehmen« Bewußtheit. Wie steht es denn mit einem Loch im Zahn? Wann ist Ihnen bewußt geworden, daß an dem Zahn etwas nicht in Ordnung ist? Wann haben Sie Schmerzen gespürt? Oder hatte Ihre Zunge ein Loch in der glatten Oberfläche entdeckt? Aber das Entstehen des Schadens kann Wochen oder Monate gedauert haben, bevor Sie etwas merkten. Auch Sie also können gereizt werden, ohne sich darüber zu befragen; genau wie Doris. Und sie brauchte nur wenige Stunden innerhalb von drei Tagen, bis sie fragte, was das Streichen zu bedeuten habe. Wie lange braucht es, bevor man merkt, daß sich ein Gallenstein gebildet hat oder ein Nierenstein? Es braucht Jahre anormaler Reizungen, die sich uns nicht zu Bewußtsein bringen - vorausgesetzt, daß sie nicht zu plötzlich, zu grob oder zu schmerzhaft sind. So war es mit dem Streichen an Doris. Was meinen Entdeckerstolz beträchtlich herabmindert, ist, daß ich eine Methode ausgedacht hatte, in der ich dann etwas fand, was ich nicht hineingelegt hatte. Oder vielleicht hineingelegt hatte, ohne es selber zu merken. Ist Merken Bewußtheit? Eine gewisse Art Merken oder Erkennen ist es gewiß. Genau die Art, von der hier die Rede ist. Nach dem Abwärtsstreichen kehrte ich die Richtung um und sagte zu jedem - später jeweils nach einigen Strichen: »Das ist ein Strich von unten nach oben.« Als Doris endlich fragte: »Warum von unten nach oben?«, sagte ich ihr, daß man die Richtung, in der ein Strich gezogen wurde, nur dann erkennen kann, wenn man sieht, wie er gezogen 79
wird. Hätte ich vor dem Streichen meinen Finger in Farbe getaucht, so wäre an dem einmal gezogenen Strich die Richtung nur noch schwer abzulesen gewesen. Ob aufoder abwärtsgezogen: ein Strich bleibt ein Strich, ein gedrucktes 1, eine Eins, ein i, wenn man den Punkt hinzufügt. Nur während die Bewegung gemacht wird, fällt vor allem ihre Richtung auf. An der Spur, die sie hinterläßt, ist das auffallendste die Form. Doris lachte. Sie fand das sehr komisch. Ich nahm ihre Hand, führte sie auf ihren Körper und machte nun kurze Striche mit ihrem statt mit meinem Finger. Dann nahm ich ihren Zeigefinger und machte Striche mit ihm überall auf ihrem Körper, wohin er reichte. Später schrieb ich mit ihrem Zeigefinger Striche auf die Couch. Ich dachte, ich könnte in ihrer Hirnrinde ein Schreibzentrum schneller neu kreieren, als es sich bei Kindern gewöhnlich bildet. Aber ich hatte mich bereits überzeugt, daß wir darum nicht weniger schrittweise vorgehen mußten, daß die Reihenfolge der Schritte nicht umgekehrt werden kann, keiner von ihnen ausgelassen werden darf, da es sonst sogar noch länger dauern würde als bei einem Kind. Wie das hebräische Sprichwort sagt: »Junge Menschen unterrichten, das ist wie auf Papier schreiben; alte Menschen unterrichten, ist wie Schreiben auf Fließpapier.« Das Streichen fand sein Ende. Das heißt: es hatte begonnen, Doris zu langweilen, und sie hörte auf, es passiv hinzunehmen. Sie benahm sich genau, wie Sie es tun würden, wenn man Ihnen eine solche Tortur zufügen würde. Solange die Prozedur nur ein Reiz war, der ohne Wirkung auf ihre Bewußtheit blieb, konnte sie sie hinnehmen. Jetzt hatte sie einen Sinn, und das ziellose Wiederholen machte sie daher langweilig. Ich fing nun an, zwei Striche zu verbinden wie bei einem ,n,, und dann drei wie bei einem ,m,, bis sie sie unterschei80
den konnte. Es bedurfte einiger Sitzungen, bevor ihr bewußt wurde, daß es reihenweise einmal zwei und einmal drei Striche gab; aber wir erreichten das Stadium der Langeweile und der Ungeduld in der Hälfte der Zeit, die es bei den einzelnen Strichen gebraucht hatte. Wie schon dort, führte ich ihre Hand oder Faust auf ihrem Körper und machte mit ihr die gleiche Bewegung, die ich vorher mit meinem Finger gemacht hatte, und führte schließlich ihren Zeigefinger, um >nm