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German Pages 314 Year 2020
300 Jahre deutsch-türkische Freundschaft
Erol Esen / Fahri Türk / Franziska Trepke (Hrsg.)
300 Jahre deutsch-türkische Freundschaft Stand und Perspektiven
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Diese Publikation wurde vom DAAD aus Mitteln des Auswärtigen Amtes (AA) gefördert.
Gedruckt auf alterungsbeständigem, säurefreiem Papier. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ISBN 978-3-631-78175-3 (Print) E-ISBN 978-3-631-80766-8 (E-PDF) E-ISBN 978-3-631-80767-5 (EPUB) E-ISBN 978-3-631-80768-2 (MOBI) DOI 10.3726/b16381 © Peter Lang GmbH Internationaler Verlag der Wissenschaften Berlin 2020 Alle Rechte vorbehalten. Peter Lang – Berlin · Bern · Bruxelles · New York · Oxford · Warszawa · Wien Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Diese Publikation wurde begutachtet. www.peterlang.com
GLIEDERUNG Vorwort .................................................................................................................... 9 Markus J.T. SCHRIJER Zusammenfassender Bericht vom Symposium „300 Jahre deutschtürkische Freundschaft: Stand und Perspektiven“ ............................................. 13 Kapitel I Der geschichtliche Hintergrund deutsch-türkischer Beziehungen ......................................................................................... 27 Fahri TÜRK Die deutsch-türkischen Beziehungen im militärischen Bereich unter besonderer Berücksichtigung des Waffenhandels zwischen 1860 und 1945 . 29 Mutlu ER und Max Florian HERTSCH Die Bagdadbahn: Eine Reise durch die unbekannte Türkei Lodemanns Dokumentarfilm über die teleologische Kooperation zwischen dem Deutschen und Osmanischen Reich .................................................................... 39 Fahri TÜRK und Sevda ŞANDA Deutsche Zivilberater*innen in der frührepublikanischen Türkei von 1924 bis 1936 ........................................................................................................... 49 Mehmet ÖCAL Deutsch-Türkische Beziehungen im militärischen Bereich (1945–2018) ...... 67 Kapitel II Politik, Wirtschaft und Verwaltung .............................................. 83 Murat ÖNSOY Eine Bewertung der deutsch-türkischen Beziehungen der letzten Jahre ........ 85 Elif KOCAGÖZ und Orhan KOCAGÖZ Eine Bewertung der türkisch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen aus der Country Branding- Perspektive ..................................................................... 99 Meral AVCI Die Rolle der deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen in der türkischen Kultur ................................................................................................... 119
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GLIEDERUNG
Uğur SADİOĞLU Reformen im Bereich der Kommunalverwaltungen in Deutschland und der Türkei Eine vergleichende Analyse ....................................................... 133 Kapitel III Deutsch-türkische Zusammenarbeit in Bildung und Hochschule ........................................................................................ 151 İbrahim S. Canbolat Überwindung der geschichtlichen Vorurteile zwischen Deutschland und der Türkei anhand der Zusammenarbeit im Bildungsbereich ................. 153 Seldağ GÜNEŞ PESCHKE Ein Blick auf den Beitrag deutscher Wissenschaftler*innen in der türkischen Hochschulbildung zwischen 1933–1946 ......................................... 165 Nilgün YÜCE Deutsch-Türkische Hochschulkooperationen in Vergangenheit und Gegenwart ............................................................................................................... 177 Erol ESEN Mehrsprachige Bildung und Erziehung: Ein neues Kooperationsfeld der deutsch-türkischen Freundschaft .................................................................. 187 Kapitel IV Deutschland und Die Türkei in Europa ...................................... 203 M. Nail ALKAN Perspektiven eines EU-Beitritts der Türkei unter der Fragestellung „Gehört die Türkei zu Europa?“ ........................................................................... 205 İsmail ERMAĞAN Die Positionen der deutschen Parteien hinsichtlich der Vollmitgliedschaft der Türkei zur Europäischen Union ................................... 217 Ebru TURHAN Das deutsch-französische Tandem in der Europäischen Union und die Türkei-Politik: Gemeinsamkeiten und Unterschiede ........................................ 233
GLIEDERUNG
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Kapitel V Deutsch-türkische Beziehungen im Blickfeld von Migration und Integration .................................................................................. 249 Birgül DEMİRTAŞ Konstruktionen von Innen- und Außen-Identitäten während der Krise der syrischen Flüchtlinge: Die Fälle der Türkei und Deutschlands ................. 251 Filiz KEKÜLLÜOĞLU Transnationalität als Türöffner für Bildungskarrieren deutschtürkischer Akademiker*innen .............................................................................. 263 Burak GÜMÜŞ Über Steinmeiers Symbolpolitik im Integrationsbereich .................................. 279 Dirk TRÖNDLE Heimat oder Haymatloz – Wertedebatten in Zeiten multipler Identitäten .... 293 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren .......................................................... 307
Vorwort Die langjährigen deutsch-türkischen Beziehungen lassen sich auf das Schreiben des Osmanischen Sultans an den Preußischen König Friedrich Wilhelm I. von 1718 zurückführen. Mit anderen Worten: 2018 stand für den 300. Jahrestag der deutsch-türkischen Beziehungen. Der Grundstein für die freundschaftlichen türkisch-deutschen Beziehungen wurde damit bereits in der Zeit des Osmanischen Reiches gelegt, die später in ein Bündnis beider Länder im Ersten Weltkrieg mündeten. Die Bundesrepublik Deutschland spielte nach dem Zweiten Weltkrieg bei der Industrialisierung sowie der wirtschaftlichen Entwicklung der Türkei eine wichtige Rolle. Insbesondere ab 1961, dem Jahr des Anwerbevertrages für die türkischen Gastarbeiter*innen, erhalten die türkisch-deutschen Beziehungen ein neues Prädikat: Um es mit den Worten des ehemaligen Botschafters von Deutschland in Ankara, Eckart Cuntz, auszudrücken, gilt das deutsch-türkische Verhältnis als „menschenintensivste“ bilaterale Beziehung der Nachkriegszeit. Trotz der in den letzten Jahren entstandenen Probleme sind die Türkei und Deutschland zwei wichtige Akteure in Europa. Insbesondere Deutschland ist der wichtigste Außenhandelspartner der Türkei. Beispielsweise beträgt das Außenhandelsvolumen heute zwischen den beiden Ländern etwa 40 Milliarden US-Dollar. Andererseits leben in Deutschland rund 1,5 Millionen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund, die nur die deutsche bzw. die Staatsbürgerschaft beider Länder besitzen. Derzeit wirken 11 Abgeordnete mit türkischem Migrationshintergrund in verschiedenen Fraktionen des Bundestages mit. Weiterhin sind viele türkischstämmige Migrant*innen Mitglied verschiedener Landesparlamente sowie der Gemeindeversammlungen auf lokaler Ebene. In diesem Zusammenhang kann man betonen, dass die türkisch-deutschen Beziehungen eine lange Tradition aufweisen, die sich bisher von konjunkturellen politischen Konflikten wenig beeindrucken ließen. Weiterhin befindet sich eine Vielzahl an Akademikerinnen und Akademikern an türkischen Universitäten, die nach ihrem Studium in Deutschland in die Türkei ausgewandert sind und nun an zahlreichen Hochschulen in Lehre und Forschung tätig sind. Gegenüber den 3,5 Millionen in Deutschland lebenden türkischstämmigen Migrant*innen leben über 70.000 deutschstämmige Migrant*innen in der Türkei. Schließlich geben die in beiden Ländern befindlichen zahlreichen Kapitalanlagen und die über 5000 in der Türkei operierenden deutschen Unternehmen
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Vorwort
Anlass genug, die deutsch-türkischen Beziehungen zum 300. Jahrestag im Rahmen eines Symposiums zur Diskussion zu stellen, um die weiter vorhandenen Potentiale der deutsch-türkischen freundschaftlichen Beziehungen wachzurufen bzw. zu vertiefen und auszubauen. Dieser Sammelband umfasst die Ergebnisse eines gemeinsamen Symposiums von deutschen und türkischen Institutionen am 18.–20. Oktober 2018 in Antalya unter dem Titel “300 Jahre deutsch-türkische Freundschaft: Stand und Perspektiven”. Das von der Akdeniz Universität in Antalya und der Trakya Universität in Edirne entwickelte Konzept des deutsch-türkischen Symposiums wurde in Zusammenarbeit mit dem Informationszentrum des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) in Ankara und der Auslandsvertretung der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) Türkei durchgeführt. An der Veranstaltung nahmen mehrheitlich Wissenschaftler*innen und Expert*innen teil, die überwiegend in Deutschland studiert oder dort in Lehre und Forschung praktiziert bzw. gelebt haben, darunter eine Vielzahl von DAAD- und KASAlumni. Eine breite Palette von Themen beschäftigte etwa 80 eingeladene Teilnehmer*innen aus Deutschland und der Türkei auf der dreitägigen Tagung in Antalya. Ausgangspunkt war der geschichtliche Hintergrund der deutsch-türkischen Beziehungen, die sich in den letzten 300 Jahren von der militärischen und wirtschaftlichen sowie der Entwicklungszusammenarbeit bis hin zum Hochschulbereich erstrecken. Davon ausgehend berücksichtigten die Diskussionen auch die Themen der Nachkriegszeit wie die Migration und die europäische Integration, zwei Bereiche, die sich für eine Partnerschaft mit Kontinuität besonders eignen. Bezogen auf die Migration und Integration ist eine Zusammenarbeit sogar dringend notwendig, die in ihrer aktuellen Qualität eine neue Herausforderung für die zukünftigen freundschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei darstellt. Wir danken allen Institutionen und deren Vertreter*innen, die zur Durchführung dieser Veranstaltung sowie zur Publikation ihrer Ergebnisse beigetragen haben. Insbesondere gilt unser Dank dem Auslandsbüro der Konrad Adenauer Stiftung (KAS) in Ankara unter der damaligen Leitung von Herrn Sven Irmer und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), dass sie sowohl die Tagung als auch die vorliegende Publikation möglich machten. Gefördert wurde diese Publikation vom DAAD aus Mitteln des Auswärtigen Amtes (AA). Außerdem möchten wir uns bei allen Autor*innen bedanken, die uns ihre wertvollen Beiträge anvertraut und so diese Publikation ermöglicht haben. Des
Vorwort
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Weiteren danken wir den Mitarbeiter*innen der KAS und des DAAD-Informationszentrums in Ankara, die für eine reibungslose Organisation der Veranstaltung sorgten. Außerdem danken wir Markus J. T. Schrijer, da ohne seine Mühe, die Beiträge durchzulesen und zu korrigieren, die Fertigstellung der Publikation kaum möglich gewesen wäre. Erol Esen Fahri Türk Franziska Trepke
Markus J.T. SCHRIJER*
Zusammenfassender Bericht vom Symposium „300 Jahre deutsch-türkische Freundschaft: Stand und Perspektiven“ Nach einigen schwierigen Jahren für die deutsch-türkischen Beziehungen widmete sich ein von der Akdeniz Universität (Antalya, Prof. Dr. Erol Esen) und der Trakya Universität (Edirne, Prof. Dr. Fahri Türk) konzipiertes und von der Konrad Adenauer Stiftung (Auslandsbüro Türkei) und dem DAAD getragenes und organisiertes deutsch-türkisches Symposium dem Thema „300 Jahre Deutsch-Türkische Freundschaft: Stand und Perspektiven“. Es fand vom 18–20. Oktober 2018 in Antalya statt. Im Fokus standen die jüngere Geschichte und die Gegenwart der deutsch-türkischen Beziehungen, um aktuelle Probleme und Herausforderungen adressieren und diskutieren zu können. Hierfür waren vorwiegend Vertreter*innen aus Bildungs- und Hochschuleinrichtungen aus Deutschland und aus der Türkei anwesend, darunter eine Vielzahl an DAADund KAS-Alumni. Die angestrebte Bestandsaufnahme der Beziehungen sollte es ermöglichen, die Ausrichtung zukünftiger Maßnahmen auszuloten: besonders dringende Problemfelder sollten identifiziert und eine Arbeitsgrundlage für zukünftige Veranstaltungen geschaffen werden, um diese lösungsorientiert konzipieren zu können. Der folgende Bericht erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr sollen die einzelnen thematisch aufgeteilten Panels mit ihren Beiträgen kurz vorgestellt und danach in wenigen Worten auf die zugehörigen Diskussionsrunden eingegangen werden, um einen Überblick über die Veranstaltung zu verschaffen. Der Verfasser wird die Positionen aus den Beiträgen auf der Basis seines mitgeführten Protokolls und nach bestem Wissen wiedergeben, ohne die korrekte Darstellung in jedem Detail garantieren zu können. Einzelne Begriffe und Wendungen, die wegen ihrer Prägnanz als besonders aussagekräftig in den jeweiligen Ausführungen erschienen, werden jedoch in Anführungsstrichen als wörtliche Übernahmen kenntlich gemacht.
* M.A. – Doktorand an der Humboldt Universität zu Berlin – Öğretim Görevlisi am Akdeniz Uygarlıkları Araştırma Enstitüsü, Akdeniz Universität, Antalya, E-Mail: [email protected]
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Grußworte Mittwochs (17.10.2018) und donnerstags (18.10.2018) trafen die meisten Gäste am Veranstaltungsort ein. Zu Beginn des Programms, Donnerstagmittag, waren nahezu alle Teilnehmer*innen zusammengekommen und blieben das auch mehrheitlich bis zum Ende des Programms am Samstagnachmittag. Nach den Grußworten enthielt das über die drei Tage verteilte Programm insgesamt sieben Panels (mit je 3–5 Expert*innen) und wurde mit einer Abschlussdiskussion abgeschlossen. Eröffnet wurde die Veranstaltung von Franziska Trepke (Leiterin des DAAD-Informationszentrums in Ankara), die daran erinnerte, dass das Motto des DAAD (Wandel durch Austausch) mit Leben gefüllt werden müsse – „auch, oder gerade trotz schwieriger Zeiten“. Damit wurde der Grundton der Veranstaltung bereits angestimmt. Auch Sven-Joachim Irmer (Leiter des Auslandsbüros Türkei der Konrad Adenauer Stiftung, Ankara) knüpfte seine kritische Gegenwartsdiagnose an den Appell, dass die deutsch-türkische Freundschaft fortan konstruktiv gestaltet werden könne – schließlich mache auch Streit eine Freundschaft aus. Er wünschte sich, dass Veranstaltungen dieser Art in die Politik wirkten und begrüßte, dass auch Abgeordnete des türkischen Parlaments anwesend waren. Besondere Hoffnung schöpfte er aus der Anwesenheit der zahlreichenden Studierenden, die den Austausch schließlich zukünftig gestalten würden. Nachfolgend ging der deutsche Konsul in Antalya, Wolfgang Wessel, auf den „besonderen Charakter“ der deutsch-türkischen Freundschaft ein, als deren Motto er „miteinander reden und voneinander lernen“ festlegte. Das Motto ergebe sich aus dem „Dialog zwischen Orient und Okzident“, der seit Jahrhunderten stattfinde. Als Zeichen der engen Verbundenheit der beiden Länder deutete er türkische Migrant*innen in Deutschland, die „in beiden Kulturen zu Hause sind: in ihrer und in unserer“. Zudem äußerte Herr Konsul Wessel seinen Wunsch nach einer friedlichen und partnerschaftlichen Übereinkunft der beiden Länder in der Zukunft. Die Initiatoren schlossen die Runde der Grußworte ab. Prof. Dr. Fahri Türk (Trakya Universität, Edirne) dankte dem DAAD und der KAS, die die komplette Veranstaltung organisierten und finanzierten. Seine Einführung war eine Erinnerung daran, dass Deutschland und die Türkei für sich genommen zwei wichtige Akteure in Europa darstellen und alleine deshalb schon ein weiterer Ausbau der historisch tief verwurzelten deutsch-türkischen Beziehungen wünschenswert sei. Prof. Dr. Erol Esen (Akdeniz Universität, Antalya) schloss sich mit dem Hinweis auf den „menschenintensiven“ Charakter der Beziehung an und ergänzte, dass mit Blick auf die zahllosen persönlichen Verbindungen auch
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in schweren Zeiten der Dialog zwischen den beiden Ländern fortgeführt werden müsse. Er erinnerte daran, dass die Veranstaltung eigentlich bereits 2017 anberaumt gewesen sei und als Fortsetzung des deutsch-türkischen Wissenschaftsjahres 2014 verstanden werden könne, seit dem der Dialog bezeichnenderweise ausgesetzt worden war. Das Symposium leiste nun einen wichtigen Beitrag, weil es diesen akademischen Dialog wiederaufnehme; zudem aber auch, indem es den Fokus der Zusammenarbeit wieder auf andere Themen als das in den letzten Jahren vorherrschende der „Migration und Flucht“ lenke.
Der geschichtliche Hintergrund der deutsch-türkischen Beziehungen Das erste Panel wurde von Dr. Lutz Peschke (Bilkent Universität, Ankara) moderiert und nahm eine historische Perspektive auf die deutsch-türkischen Beziehungen ein – wobei der erste Beitrag als zeitgeschichtliche Studie betrachtet werden kann, in der gleich mehrere geläufige Streitpunkte zur Sprache kamen. Assoc. Prof. Dr. Murat Önsoy (Hacettepe Universität, Ankara) analysierte die politischen Beziehungen seit 2002, die ihn pessimistisch stimmten. Er ging sehr kritisch auf eine im Allgemeinen von CDU/CSU geprägte deutsche Haltung gegenüber der Türkei ein, die lediglich von der „goldenen Ära“ Schröder/Fischer unterbrochen gewesen sei, in der alleine eine Beziehung zwischen gleichgestellten Ländern angestrebt worden sei. Abgesehen von dieser Ausnahme sah er die Beziehungen in einer Asymmetrie gefangen, in der sich Deutschland als „Vorgesetzter“ der Türkei darstellen wolle und die das gestiegene Selbstwertgefühl der Türkei seit den 1990er Jahren ignoriere. Die Kanzlerschaft Merkels sei für die Beziehungen durchweg eine schwierige Herausforderung gewesen, da ihr Vorschlag der „Privilegierten Partnerschaft“ von vielen als Hemmnis wahrgenommen werde. Abschließend teilte Dr. Önsoy seine Beobachtung, wonach von den konservativen Parteien in Deutschland gerade vor Wahlen Stimmung gegen die Türkei geschürt werde, worunter das Verhältnis der Bevölkerungen in der jüngsten Vergangenheit stark gelitten habe. Etwas weiter zurück in die Geschichte ging Assoc. Prof. Dr. Florian Hertsch (Hacettepe Universität, Ankara), der bei der Besprechung der Bagdad-Bahn betonte, dass sich diese berühmte historische Zusammenarbeit eben nicht als Beispiel für die Freundschaft der beiden Länder eigne, sondern neutral als Kooperation bezeichnet werden müsse. Schließlich habe das Osmanische Reich aus der Perspektive des Deutschen Reiches lediglich ein „imperiales Interessengebiet“ dargestellt, letztlich „ein Ort, den es zu durchqueren galt.“ Das deutsche Engagement, etwa der Bau von Bahnhofsgebäuden entlang der Trasse, könne
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als ein „Beispiel imperialen Größenwahns“ angeführt werden. Hierbei von Freundschaft zu sprechen sei demnach unpassend und die Kooperation lediglich zustande gekommen, weil Interessen sich überlappten. In einem in den 1980er vom SWR produzierten Dokumentarfilm über das Projekt werde zudem deutlich, dass die Beziehungen damals wie heute von gegenseitigen Vorurteilen geprägt seien. Im folgenden Beitrag schlug Dr. Ömer Faruk Demirel in dieselbe Kerbe ein, als er in Bezug auf die freundschaftlichen Beziehungen feststellte, dass diese erst durch das Waffenbündnis ausgeweitet wurden und eigentlich auf eine imperiale Initiative zurückgingen, die die Erweiterung des deutschen Einflussbereichs und der deutschen Sprache zum Ziel hatte. In diesem Licht müsse die Epoche um den Ersten Weltkrieg gesehen werden, wovon etwa eine Denkschrift aus der Türkei an das Auswärtige Amt in Berlin zeuge, in der türkische Professor*innen die arrogante Haltung ihrer deutschen Kolleg*innen beklagten. Eine Änderung der akademischen Beziehungen stellte sich laut Dr. Demirel erst durch die Entwicklungen im Deutschen Reich, besonders im Jahr 1933, ein. Das Panel abschließend wandte sich Prof. Dr. Seldağ Güneş Peschke (Yıldırım Beyazıt Universität, Ankara) den 1930er und 40er Jahren und damit deutschen Akademiker*innen im Exil zu, die einen großen Einfluss auf das junge türkische Hochschulwesen ausübten. Sie betonte die Bedeutung der Schweiz in diesem Zusammenhang, die zum Sammelpunkt für viele Exilant*innen und so zum Ausgangspunkt zur Überreise in die Türkei wurde. Diese Entwicklung gründete auf dem Bericht des Schweizer Wissenschaftlers Albert Malché (in Zusammenarbeit mit Phillip Schwarz), der 1932 die neu entstehende universitäre Forschungslandschaft in der jungen Türkischen Republik untersuchte. Etwa 300 jüdische und auch nichtjüdische, im Deutschen Reich verfolgte Wissenschaftler*innen fanden laut Prof. Güneş Peschke daraufhin Zuflucht in der Türkei, in der sie mit günstigen Arbeitsverträgen (mit Krankenversicherung und einem hohen Gehalt – bei gleicher Anstellung bis zum siebenfachen ihrer türkischen Kolleg*innen) empfangen wurden. In der Diskussionsrunde wurde kritisiert, dass die historischen Beiträge weitgehend in der Luft hingen: es wurde moniert, dass sie zu stark an Herrschenden orientiert gewesen seien und dass ihre Anbindung an die Gegenwart gefehlt habe. Auch seien aus der langen Liste an Kritik (z.B. an der deutschen Haltung zur türkischen Vollmitgliedschaft seit 2005) keine Schlüsse gezogen worden, keine Bewertung, wohin diese historischen Entwicklungen im Einzelnen geführt hätten. Zudem wurde den Beiträgen eine relativ einseitige Konzeption ohne historische Perspektive auf Deutschland vorgehalten. Einigkeit herrschte hingegen darüber, dass die Beiträge ein wichtiger Teil der weiterhin erforderlichen
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historischen Aufarbeitung der Beziehungen waren: durch solche Arbeit könne eine dringend notwendige, gemeinsame Sprache für die zukünftige Kommunikation gefunden werden. Teils wurde auch in beschwichtigendem Ton darauf hingewiesen, dass die deutsch-türkische Geschichte einem ständigen Auf und Ab gleiche und dies nun einmal der Dynamik einer Freundschaft entspringe. Die Verantwortung liege nun bei Entscheidungsträger*innen in der Politik, daraus zu lernen und mäßigend zu wirken, da solche Hochs und Tiefs immer individuelle menschliche Schicksale beträfen. Die Runde war sich einig, dass zumindest im wissenschaftlichen Bereich eine gemeinsame, sehr breite Grundlage vorhanden sei, die auch über ihren eigenen Bereich hinaus wirken könne – und solle.
Die deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen Das zweite Panel, erneut moderiert von Dr. Peschke, nahm deutsch-türkische Wirtschaftsbeziehungen in den Blick. Dr. Adem Akkaya (Leiter des Büros von NRW Invest in Istanbul) stellte die Wirtschaftsförderungsgesellschaft NRW Invest vor, die auf den wirtschaftlichen Wandel der Türkei seit den 1990er Jahren aufbauend versucht, das Potenzial an wirtschaftlicher Zusammenarbeit weiter zu stärken. Hierzu zählte er vor allem die bürokratische Unterstützung und Vermittlung von türkischen Firmen in NRW. Die Attraktivität dieses Standorts ergab sich für Dr. Akkaya aus dem Zusammenkommen von Innovation, Wissen und Technologie bei einem gleichzeitig hohen Anteil türkischer Staatsbürger*innen unter der Bevölkerung. Assist. Prof. Dr. Elif Kocagöz (Sütçü Imam Universität, Kahramanmaraş) lenkte den Fokus wieder auf die gegenseitige Wahrnehmung, indem sie die wirtschaftlichen Beziehungen aus der Country-branding Perspektive analysierte. Sie stellte fest, dass die Marke Türkei durch die politischen und wahrnehmungsstrategischen Debatten der letzten Jahre nicht wirklich negativ beeinflusst worden sei. Dabei stimmte sie zunächst Dr. Önsoy zu, der die Prägung von bestimmten Türkei-Bildern im öffentlichen Diskurs in Deutschland kritisiert hatte, ging ihre Analyse hernach aber in einem zuversichtlicheren Grundton an. Denn wiewohl es durchaus von Bedeutung sei, ob die Türkei als dem Mittleren Osten oder dem Mittelmeer zugehörig dargestellt werde, so könne doch festgestellt werden, dass die „brand strength“ der Türkei unter den politischen Problemen der letzten 5 Jahre nicht gelitten habe. Ludwig Schulz (DOI Berlin, LMU München) hingegen bewertete die Situation abschließend skeptischer. Er betonte, dass die engen Verbindungen nicht zwangsläufig weiterbestehen werden, es folglich gerade in der heutigen Situation Initiative für Vertiefungen und weitere Verflechtung der Beziehungen erfordere.
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Hierbei wirkten insbesondere die strukturelle Asymmetrie beim Handel (zugunsten Deutschlands) und die ausstehende Umsetzung einer dringend notwendigen türkischen Reformagenda (v.a. in den Bereichen Ausbildung, Forschung und Innovation) hinderlich. Außerdem sah Schulz im Währungsverfall der türkischen Lira nachhaltig eine große Gefahr für die türkische Wirtschaft; deutschen Banken bescheinigte er hierbei, indirekt weniger betroffen zu sein als spanische und italienische, die durch Kreditvergaben enger an die türkischen gebunden seien. Abschließend plädierte er dafür, in Zukunft (etwa beim Thema Sustainability) gemeinsame Investitionen anzustreben, und das vorhandene Potenzial (v.a. in den Bereichen Rüstung und Tourismus) aufzugreifen. In der Diskussionsrunde wurde ergänzt, dass die Türkei bei den Themen Hightech und Innovation wegen fehlender Grundlagen und Mittel im internationalen Vergleich hinterherhinke. Außerdem wurde darauf hingewiesen, dass Hightech generell ein schwieriges Feld für Zusammenarbeit sei, da es aus Angst, Knowhow zu verlieren, zumeist restriktiv gehandhabt und national abgegrenzt werde. Auf die Nachfrage zur möglichen positiven Umgestaltung der Bilder voneinander wurde erneut die Prägung einer gemeinsamen Sprache in zentralen Anliegen eingefordert. Beim Rückblick auf die Regierungszeit Merkels wurde eingestanden, dass die Kanzlerin sicherlich „keine Vorkämpferin“ für die deutsch-türkischen Beziehungen sei, sich aber immerhin verlässlich auf der Grundlage ihrer Ankündigungen aus dem Jahr 2005 bewege, worauf sich eine Intensivierung aufbauen ließe. In Hinsicht auf erstarkende Protektionismus-Tendenzen und ihre Auswirkungen auf die deutsch-türkische wirtschaftliche Zusammenarbeit wurde bedauert, dass hier auf beiden Seiten eine klare und transparente Strategie fehle – wenn auch positiv zu bewerten sei, dass die Wirtschaft weiterhin über von der Politik unabhängige Foren verfüge, die ein relativ reibungsloses Verfahren in der alltäglichen Zusammenarbeit erlaubten. In dem Zuge wurde dennoch auch eine lautstärkere Rolle der öffentlichen Diplomatie – etwa aus dem akademischem Bereich heraus – eingefordert. Ziel müsse es etwa sein, nach der Aufhebung des Ausnahmezustandes wieder ein „Vertrauensklima“ zu schaffen. Als konkreter Schritt in diese Richtung wurden übereinstimmend Visa-Liberalisierungen für Geschäftsleute, möglicherweise auch für Startups, Akademiker*innen und Studierende genannt.
Lesung von Dr. Saliha Scheinhardt Am Abend folgte eine Lesung der deutsch-türkischen Schriftstellerin Dr. Saliha Scheinhardt aus ihrem Buch Wahnliebe, in deren Anschluss ihre Meinung zur deutsch-türkischen Freundschaft „aus der Perspektive einer Kulturschaffenden“
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gefragt war. Dr. Scheinhardt warb hierauf für eine strikte Trennung von politischen und menschlichen Ebenen und bekannte, dass sie von der Politik beiderseits zutiefst enttäuscht sei, da diese sich zu wenig für ein menschliches und friedliches Miteinander einsetze.
Deutsch-türkische Beziehungen im politisch-diplomatischmilitärischen Bereich Am Freitagmorgen befasste sich das dritte Panel, wiederum von Dr. Peschke moderiert, mit den Beziehungen im politisch-diplomatisch-militärischen Bereich. Zunächst benannte Prof. Dr. Fahri Türk drei Phasen des Waffenhandels (1860–1914; 1914–1918; 1923–1945). Ihm war es wichtig zu zeigen, dass der Waffenhandel in beiderseitigem Interesse vorangetrieben worden war: während im Osmanischen Reich die Ausrüstung des Militärs modernisiert werden konnte, erfuhr etwa die Stadt Oberndorf am Neckar eine wirtschaftliche Belebung durch einen Vertrag zwischen dem Sultan Abdülhamid II. und der Firma Mauser (1887). Auch Krupp, vom Sultan mit einer Medaille dekoriert, habe stark von den türkischen Aufträgen profitiert. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs kann man den Waffenhandel, so Prof. Türk, als „die eigentliche Triebkraft der Handelsbeziehungen“ bezeichnen. Prof. Dr. Mehmet Öcal (Erciyes Universität, Kayseri) betrachtete anschließend die folgenden Jahrzehnte bis zur Gegenwart. Er wies darauf hin, dass die Ära Adenauer, während der die deutsch-türkischen Beziehungen vorrangig im militärischen Bereich fortgesetzt wurden, zu einer „Hochrüstungsperiode“ in den 1970ern hingeführt habe. Allerdings sei der Waffenhandel fortdauernd, auch noch in den 1980ern, mit politischen Klauseln (z.B. erlaubter Waffeneinsatz nur unter Art. 5 des NATO-Vertrags) versehen gewesen. Diese fielen erst in den 2000ern weitgehend weg, politische Streitthemen (etwa um die Basis in İncirlik) blieben jedoch weiterhin ständige Begleiterscheinungen des Waffenhandels. Insgesamt jedoch bewertete er die militärische Kooperation als „auf solidem Grund“ stehend und forderte ihre Institutionalisierung, die schließlich förderlich für die Sicherheit Europas sein könne. In einem dritten Beitrag verglich Assoc. Prof. Dr. Uğur Sadioğlu (Hacettepe Universität, Ankara) Reformprozesse im Kommunalbereich, der in beiden Ländern unterschiedlich gegliedert sei. Während es in Deutschland eine weitgehende lokale Autonomie gebe, erschienen in der Türkei solche Entwicklungen aufgrund des politischen Charakters der Verwaltung als nicht realisierbar. Außerdem schreite in der Türkei eine rasche Urbanisierung voran, die in Deutschland nicht in der gleichen Form stattfinde und die die Türkei auf Jahrzehnte hinaus
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in ihrer Kommunalverwaltung prägen werde. Daran zeigte sich für Dr. Sadioğlu, dass die beiden Länder nicht vom System her verglichen werden können, sondern dass die realen Gegebenheiten zur Grundlage der Beurteilung genommen werden müssen, ob bestimmte Systeme anwendbar seien oder nicht. In der Diskussionsrunde wurde auf den Hinweis auf die Auswirkungen der Globalisierung hin bekräftigt, dass eben vor diesem Hintergrund Kommunalverwaltungen eigentlich gestärkt werden könnten, eine solche Entwicklung allerdings in der Türkei nicht stattfinde, da Kommunalverwaltungen nicht als politische Akteure sondern als reine Umsetzungsinstrumente konzipiert seien. Somit wurde vermutet, dass nach der lokalen Agenda 21 mit ihren Dezentralisierungen nun wieder eine Zentralisierungstendenz beobachtet werden könne – auch wenn eigentlich gerade die autonome Dynamisierung ein „gutes Investitionsklima“ erzeugt hätte. Daneben wurde herausgestellt, dass bezogen auf die Kommunalverwaltungen die urbane Transformation, also die Einteilung der Türkei in 30 administrative Ballungsräume, die größte Herausforderung des Landes darstelle, da eine klare Strukturierung dieser Großstadt-Räume noch ausstehe. Zudem sei die Angst vor separatistischem Terrorismus ein lähmender Faktor: Föderalismus stehe prinzipiell im Verdacht, segregierende Bemühungen zu unterstützen, er werde hingegen nicht im Rahmen des europäischen Prinzips der Subsidiarität verstanden. In der Debatte um den Waffenhandel wurde auf Nachfrage eines Sabah-Reporters in der deutschen Öffentlichkeit seit 2013 eine antitürkische Stimmung diagnostiziert. Auch kam die Frage auf, ob es je ein Äquivalent zur Waffenbrüderschaft, etwa eine Friedensbrüderschaft, gegeben habe. Eine solche konnte jedoch nicht gefunden werden; vielmehr wurde erneut betont, dass es sich immer um eine „Zweckgemeinschaft“ gehandelt habe, die zwar ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis geschaffen, aber kaum zu Friedensbeziehungen geführt habe. Schon die ursprüngliche Motivation des Deutschen Reiches sei letztlich die „friedliche Durchdringung“ des Osmanischen Reiches gewesen. Auf die Frage hin, wie sich das gegenwärtige Verständnis Deutschlands als Friedensmacht mit dem zugleich enormen Ausmaß des deutschen Waffenhandels vertrage, wurden die Diskussionen in die Kaffeepause verlagert.
Deutsch-türkische Kulturbeziehungen Die von Ali Aslan moderierten deutsch-türkischen Kulturbeziehungen bildeten das vierte Panel und wurden von Prof. Dr. Murat Erdoğan (Türkisch-Deutsche Universität, Istanbul) mit einem Beitrag zur Debatte um den Rücktritt von Mesut Özil aus der Fußball-Nationalmannschaft Deutschlands eingeleitet. Die
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Debatte muss ihm zufolge eingebettet werden in die vielen anderen „Traumas“ (Ausländerfeindlichkeit, Solingen 1993, Leitkultur-Debatte, NSU), die die türkisch-stämmige Bevölkerung in Deutschland bereits durchlebt habe. Zudem hätten in der deutschen Öffentlichkeit verbreitete „Klischee-Bilder als Brandbeschleuniger“ gewirkt, die stattdessen dekonstruiert werden sollten. So müsse etwa die Reduzierung der Türkei auf Präsident Erdoğan hinterfragt werden, da sie nicht annährend der vielfältigen Stimmungslage in der türkischen Bevölkerung gerecht werde. Als Lehre aus der Debatte ist laut Prof. Erdoğan zu ziehen, dass die Beziehungen der beiden Länder unabhängig von politischen Meinungsbildungsstrategien konstruktiv fortgeführt werden müssten. Nachfolgend präsentierte Assoc. Prof. Dr. Mehmethan Ergüven (Kırklareli Universität, Kırklareli) seine Analyse zur Situation des Tourismus in Alanya, in der er zum Ergebnis kam, dass Alanya nicht mit den großen Hotelanlagen um Belek wettbewerbsfähig sei und deshalb ein eigenes, davon unterscheidbares Profil ausarbeiten müsse. Prof. Dr. Erol Esen wandte sich abschließend in wenig verbliebener Zeit der mehrsprachigen Bildung und Erziehung als mögliches Kooperationsfeld deutsch-türkischer Freundschaft zu und stellte fest, dass überhaupt ein Studiengang fehle, der bilinguale Erzieher*innen ausbilden könne. In der Diskussionsrunde wurde in Bezug auf die Etablierung multipler Identitäten in Deutschland geurteilt, dass dies aufgrund einer „verbreiteten Türkeiphobie“ in Deutschland schwierig erscheine.
Deutsch-türkische Zusammenarbeit in Wissenschaft und Hochschule Das von Dr. Peschke moderierte fünfte Panel widmete sich der Zusammenarbeit in Wissenschaft und Hochschule. Im ersten Beitrag holte Prof. Dr. İbrahim S. Canbolat (Uludağ Universität, Bursa) weit aus, als er von den Kreuzzügen als „funktionales Kennenlernen“ über Georg von Ungarn und dessen einflussreiches aber negatives Türkei-Bild in der Gegenwart ankam und dort alle Hoffnung in die akademische Beseitigung von Vorurteilen und generell auf die Universität als Medium des Dialogs setzte. Mit der Rolle von Hochschulen, bezogen v.a. auf die universitäre Ausbildung für den Arbeitsmarkt, setzte sich Joseph Sattler (Fenike Consultant, Berlin) auseinander. Seiner Meinung nach gab es in den letzten zehn Jahren nachhaltige Veränderungen zu beobachten, die sich v.a. auf Technologie-Entwicklung und Digitalisierung beziehen. Die Türkei habe in dieser Hinsicht gegenüber Deutschland den Vorteil, später eingestiegen zu sein, und dafür dynamischer zu agieren
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(zu sehen etwa am Beispiel Online Banking). Allgemein sei aber Deutschland aufgrund der Möglichkeiten in Forschung und Lehre ein attraktiveres Ziel für Migrant*innen auch aus der Türkei. Ein vorsichtig positives Fazit in Bezug auf die Hochschulkooperation zog abschließend Dr. Nilgün Yüce (DAAD-Lektorin, Akdeniz Universität, Antalya), als sie vortrug, dass die Partnerschaften in dem Bereich von 400 (2010) auf 1465 (Stand 2018 – davon übrigens 80% durch Erasmus) angestiegen seien. In der Diskussionsrunde wurde zunächst nachgefragt, welche bürokratischen Hürden es beim Phänomen „brain circulation“ zu überwinden gelte und wie oder ob sich Abwanderungswellen generell verhindern ließen. Daraufhin wurde eine Forderung wiederholt, die auch an anderer Stelle bereits erhoben wurde, nämlich den Visa-Prozess zu vereinfachen. Abgesehen davon liege es an den Staaten, den Übergang ins Arbeitsleben so reibungslos wie möglich zu gestalten und Bedingungen für genügend Arbeitsplätze zu schaffen. Außerdem wurde auf die Ergänzung hin, wonach eine pulsierende Innovationslandschaft notwendig sei, darauf hingewiesen, dass Investitionen nicht dem privaten Sektor (in der Türkei zumeist unternehmenseigene Förderungsprogramme der großen Holdings) überlassen werden dürften, sondern auch auf staatliche Initiative hin getätigt werden müssten. Als hemmende Faktoren für die türkische Bildungslandschaft wurden insbesondere politisch bedingte Entlassungen und die Entwertung der türkischen Währung benannt.
Deutsch-türkische Beziehungen im Blickfeld der EU Anschließend moderierte Ali Aslan das sechste Panel, das die deutsch-türkischen Beziehungen im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen thematisierte. Prof. Dr. Hüseyin Bağcı (ODTÜ, Ankara) stellte hierbei die Türkei und Deutschland als kaum vergleichbare Einheiten einander gegenüber, wobei für die Türkei Deutschland stets das Europa-Bild allgemein geprägt habe. Er hielt den vorherigen Beiträgen entgegen, dass Klischeebilder und Mythen nicht nur trennend sondern durchaus auch verbindend wirken könnten. In der Aufnahme von Exilant*innen und politisch verfolgten Intellektuellen (in beide Richtungen) machte er außerdem die zuvor geleugnete Friedensbrüderschaft zwischen beiden Ländern ausfindig. Der EU-Beitritt der Türkei muss seiner Meinung nach entweder komplett abgelehnt oder ganz angenommen werden; Modelle wie die Privilegierte Partnerschaft seien von Anfang an völlig unrealisierbar gewesen. Auf eine pragmatische Herangehensweise bedacht, plädierte Prof. Dr. Mustafa Nail Alkan (Haci Bayram Veli Universität, Ankara) dafür, die Fragen
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„Gehört die Türkei zu Europa?“ und „Soll die Türkei der EU beitreten?“ gesondert zu betrachten. Während die Frage nach der generellen Zugehörigkeit spätestens seit dem 18. Jh. klar mit Ja zu beantworten sei und dies auch von Seiten der EU zugestanden werden solle, erscheine der Beitritt momentan sehr unrealistisch. Klarheit in dieser Frage sei auch für die bilateralen Beziehungen förderlich. Unabhängig von der Beitrittsproblematik forderte er abschließend, dass zumindest die Visa-Freiheit realisiert werden müsse. Assoc. Prof. Dr. İsmail Ermağan (Medeniyet Universität, Istanbul) referierte daran anschließend die jeweiligen Positionen verschiedener Parteien in Deutschland zum EU-Beitritt der Türkei und kam zum Schluss, dass parteiübergreifend Misstrauen gegenüber der Türkei vorherrschend sei. Für die Türkei gelte aus der Sicht aller großen Parteien Deutschlands, so scheine es, dass es „weder mit ihr noch ohne sie“ ginge. Abschließend analysierte Assist. Prof. Dr. Ebru Turhan (Türkisch-Deutsche Universität, Istanbul) die Beitrittsverhandlungen anhand der Parameter Normen und Interessen bzw. anhand von deren Konvergenz und Divergenz. Daran ließe sich ablesen, dass die letzten knapp 20 Jahre einer „Achterbahnfahrt“ oder eher einem „Teufelskreis“ glichen. Nachhaltiger Dialog und konsistente Entwicklung könnten nur erreicht werden, wenn nicht nur die Interessen übereinstimmten (was für sich genommen häufiger der Fall war), sondern wenn zugleich auch die Vorstellungen universaler Normen wie Rechtsstaat und Demokratie (was für sich genommen ebenfalls manchmal der Fall war) dauerhaft auf gleiche Weise verstanden würden. So sei seit kurzer Zeit zwar ersteres wieder gegeben, letzteres allerdings nicht. Erst wenn „Sozialisierungsprozesse“ in Bezug auf Werte und Normen stattfinden, so Dr. Turhan, kann ein erneutes Auseinanderdriften vermieden, eine weitere „Sackgasse“ umfahren werden. Die Diskussionsrunde wurde von der Debatte um Alternativen zur Vollmitgliedschaft dominiert: etwa die Idee, dass die „Privilegierte Partnerschaft“ eventuell nur neu vermarktet werden müsse, und von ihrem Inhalt her eigentlich umsetzbar sei. Daraufhin wurde teilweise zugestanden, dass aus der „Privilegierten Partnerschaft“ eigentlich ein gutes Konzept entwickelt werden könne, es jedoch neben inhaltlichen Angleichungen an die gegenwärtige Situation sicherlich eines neuen Labels bedürfe. Zudem wurde konkretisiert, dass ein ständiger Dialogmechanismus die Grundlage bilden müsse, auf der dann z.B. eine „Externe differenzierte Integration“ stattfinden könne, die themenspezifisch in bestimmten Sektoren arbeiten und in die ein politisches Kontrollinstrument eingebaut werden müsse. Nicht Zypern (der „unlösbare Konflikt“) sei in der Frage des Beitritts übrigens der dringendste Streitpunkt sondern eine allgemeine Normendivergenz. Inwieweit das Modell einer differenzierten
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Integration umsetzbar wäre, sei noch unklar, da die momentane Situation einer „Tabula rasa“ gleiche, in der die „Karten neu gemischt“ würden. Die Diskussion, ob die Türkei überhaupt zu Europa gehöre, sei zudem ein reines Gedankenspiel; sie werde auch gar nicht mehr als „Brücke“ sondern nur noch als „Staudamm gegen Flüchtlingsströme“ betrachtet. Allerdings wurde dem scheinbaren Konsens über notwendige Alternativen zum vollen Beitritt nicht von jeder Seite zugestimmt. Entschiedener Widerspruch wurde mit dem Hinweis darauf formuliert, dass die Verhandlungen schließlich in etlichen Kapiteln bereits erfolgreich geführt worden seien – und dies „nicht alla turca“, sondern den EU-Standards entsprechend.
Deutsch-türkische Beziehungen im Blickfeld von Migration und Integration Am Samstagmorgen moderierte Dr. Peschke das letzte Panel zum Thema Migration und Integration. Im ersten Beitrag ging Prof. Dr. Birgül Demirtaş (TOBB Universität, Ankara) auf den unterschiedlichen Umgang mit geflüchteten Menschen im öffentlichen Diskurs ein. Angela Merkel habe 2015 das Bild Deutschlands als Wirtschaftsmacht gezeichnet, zudem die „Verantwortung“ betont, mit der das Land die „nationale Aufgabe“ meistern könne („Wir schaffen das“). Recep Tayyip Erdoğan hingegen habe ohne klare Strategie erst von „Gästen“, dann von „Brüdern und Schwestern“ gesprochen, die jedenfalls zeitnah zurückkehren würden; später seien daraus unvermittelt „vatandaş olabilirler“ geworden, also mögliche türkische Staatsbürger*innen, die dauerhaft bleiben könnten. Er habe die Migration aus Syrien als eine islamische Aufgabe vorgestellt, die sich aus der Zugehörigkeit der Türkei zur Zivilisation der Güte („iyilik medeniyeti“), also dem Islam, ergebe und die mit Gottes Hilfe gelöst werden könne. Präsident Erdoğan habe so ein Selbstbild von Großzügigkeit gezeichnet und diesem Europa als Gegenbild gegenübergestellt, das sich als Ganzes indifferent und unmenschlich gegenüber Angehörigen der islamischen Religion verhalte. Prof. Dr. Burak Gümüş (Trakya Universität, Edirne) ging daraufhin auf die Rolle des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier und dessen symbolpolitisches Engagement ein. Dieser habe durch die (symbolpolitische) Definition von Heimat als „Ort gemeinsamer Werte und Normen“ real-politische Spielräume entfaltet und abgegrenzt. Filiz Keküllüoğlu (Universität Hildesheim) berichtete über Ergebnisse aus ihrer Forschung zu transnationalen Bildungsbiographien und kam zum Schluss, dass linguistisches Kapital von bilingualen Kindern in Deutschland oftmals ohne Anerkennung bleibe, und dass sich die Schulen in dieser Hinsicht öffnen
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müssten – „weg vom Nationalcontainer-Gedanken“. Außerdem gebe es nicht mehr die Migration in eine Richtung sondern vielfach zirkuläre Migrationsbiographien. Hieran knüpfte Prof. Dr. Helga Rittersberger-Tılıç (ODTÜ, Ankara) an, die den Gedanken der Rückkehr als empirisch kaum noch haltbar verwarf und lieber von „Mobilität“ sprach, bei der mehrere strukturelle Faktoren (wie Rückkehrförderungsprogramme in den 1980ern) und persönliche Motive (wie Familie oder Heimatsehnsucht, die Suche nach einer „fiktiven Heimat“) zu beachten seien. Dirk Tröndle (Iranische Gemeinde Deutschland, Berlin) versuchte, die tendenziell negativen Analysen in Bezug auf die Situation von türkisch-stämmigen Menschen in Deutschland zu relativieren. Er plädierte dafür, dass Debatten nüchterner geführt werden sollten und mahnte an, dass sie sich nicht in Extremen, wie etwa im Falle geflüchteter Menschen (wirtschaftliche Chance vs. nationale Überfremdung), verlieren dürften. In der Diskussionsrunde wurde bekräftigt, dass beim Umgang mit geflüchteten Menschen in der Türkei weiterhin eine klare Strategie fehle und stattdessen eine politische Instrumentalisierung zu beobachten sei.
Abschlussdiskussion Die Abschlussdiskussion wurde von Ali Aslan moderiert. Es herrschte Einigkeit darüber, dass eine Veranstaltung dieser Art mindestens jährlich stattfinden sollte, um aktuelle Herausforderungen adressieren und politikberatend wirken zu können. Teils wurde der Wunsch mit den Forderungen verbunden, Studierende noch stärker einzubinden und außerdem das Forum zu politisieren. Die Anwesenheit von „Stakeholdern und Multiplikator*innen“, auch von deutschen und türkischen Abgeordneten, wurde mit der Begründung erwünscht, dass der akademische Level alleine der Angelegenheit nicht gerecht werden könne. Allen war daran gelegen, dass Diskussionen fortgeführt und eine konstruktive Form des Disputs gefunden werden, vielleicht auch in institutionalisierter Form, um politische Entscheidungsebenen etwa mit policy reports und konkreten Empfehlungen direkt erreichen zu können. Insofern wurde festgehalten, dass die Veranstaltung nicht mehr als ein „erstes Zeichen“ gewesen sei und in Zukunft zielgerichteter, vielleicht auch in verschiedene Felder aufgeteilt, fortgeführt werden könne. Zuletzt bekräftigten auch die Träger der Veranstaltung ihren Willen, aktiv an nachfolgenden Foren teilzuhaben. Ihnen war es wichtig, wieder entschiedener positive Signale für die Beziehungen der beiden Länder zu senden.
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So kann zusammenfassend festgehalten werden, dass etliche dringende Herausforderungen und offene Fragen in den Beziehungen der beiden Länder identifiziert wurden (besonders in den Themenkomplexen Öffentliche Meinungsbildung und Alternativen zum türkischen EU-Beitritt) und dass zugleich die Bereitschaft zu, eher noch das Drängen auf lösungsorientiertes Denken und der Wunsch nach entsprechenden themenspezifischen Veranstaltungen und Foren allgegenwärtig war.
Kapitel I Der geschichtliche Hintergrund deutschtürkischer Beziehungen
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Die deutsch-türkischen Beziehungen im militärischen Bereich unter besonderer Berücksichtigung des Waffenhandels zwischen 1860 und 1945* Einleitung Die deutsch-türkischen Beziehungen haben eine 300-jährige Tradition, die 1718 und damit in der ära des Preußischen Königs Friedrich Wilhelm I. ihren Anfang nahmen. Eine deutliche Vertiefung erfuhren diese Beziehungen in der Phase von 1885–1895 dank der umfangreichen Waffenlieferungen, die durch die Vermittlung des deutschen Missionschefs Colmar Freiherr von der Goltz zustande kamen. Die militärische Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern war ein integraler Bestandteil der deutsch-türkischen Beziehungen vor 1914. Deutschland unterstützte die Türkei ebenfalls während des Ersten Weltkrieges und später auch die Türkische Republik durch Waffenlieferungen sowie den Bau von Waffen- und Munitionsfabriken in der Umgebung von der Hauptstadt Ankara. Die Forschungsfrage dieses Aufsatzes ist folgendermaßen formuliert: Inwieweit übte der Waffen- und Munitionshandel zwischen der Türkei und den deutschen Waffenherstellern einen Einfluss auf die Entwicklung der bilateralen * Diesem Aufsatz liegen die unten aufgelisteten Arbeiten des Autors zugrunde: Türk, Fahri, “Die deutsche Rüstungsindustrie in ihren Türkeigeschäften zwischen 1871 und 1914-Die Firma Krupp, die Waffenfabrik Mauser und die Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken, Ein Beitrag zu deutsch-türkischen Beziehungen, soziologische und politologische Untersuchungen, Peter Lang, Vol. 13, Frankfurt am Main, Bern, Zürich, 2007, Türk, Fahri, Deutsche Waffen- und Kriegsmateriallieferungen an die Türkei während des Dardanellen Krieges, Wolfgang Gieler, Burak Gümüş und Yunus Yoldaş (Hrsg.), Deutsch-Türkische Beziehungen, Historische, sektorale und migrationsspezifische Aspekte, Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main, 2017 und Türk, Fahri, Cumhuriyet Döneminde Türkiye ile Almanya Arasındaki Silah Ticareti 1923–1945 (Der deutsch-türkische Waffenhandel in der frührepublikanischen ära 1923–1945), Belleten, Vol. LXXIX, Nummer 285, Ankara, 2015, S. 761–782. ** Prof. Dr., Trakya Universität, Fakultät für Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften, Fachbereich Politikwissenschaften, E-Mail: [email protected]
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Beziehungen der beiden Länder aus? Der Waffen- und Munitionshandel zwischen Deutschland und der Türkei war nicht nur die Triebkraft der Handelsbeziehungen zwischen Berlin und İstanbul bzw. Ankara, sondern führte auch dazu, dass der deutsch-türkische Dialog in vieler Hinsicht vertieft wurde. Jedoch leisteten die deutschen Militärmissionen im Osmanischen Reich einen unentbehrlichen Beitrag zur Anbahnung der waffenwirtschaftlichen und persönlichen Beziehungen, in dem sie gute Kontakte zur hohen osmanischen Führung pflegten. Das Ziel dieses Beitrages ist es, die deutsch-türkischen Beziehungen zwischen 1860 und 1945 im Hinblick auf die deutsche Waffenhilfe an die Türkei zu beleuchten. In einem ersten Schritt wird ein Überblick über die deutschtürkischen Beziehungen und die Rahmenbedingungen der deutsch-türkischen Annäherung im 19. Jahrhundert gegeben, um die späteren Entwicklungen im waffenwirtschaftlichen Bereich besser nachvollziehen zu können. In einem weiteren Schritt soll auf die Türkeigeschäfte der Firma Krupp und der Gewehrfabrik Mauser bis zum Ersten Weltkrieg eingegangen werden. Darauffolgend werden die deutschen Waffen- und Kriegsmateriallieferungen an das Osmanische Reich während des Ersten Weltkrieges und der deutsch-türkische Waffenhandel im Zeitraum von 1923 bis 1945 in Grundzügen behandelt. Die Methode dieser Arbeit basiert auf einer Inhaltsanalyse des deutschen Archivmaterials. Mit anderen Worten: In dieser Analyse werden hauptsächlich die deutschen Primärquellen aus dem politischen Archiv des Auswärtigen Amtes ausgewertet.
Die Rahmenbedingungen der deutsch-türkischen Annäherung im 19. Jahrhundert Eine Reihe von politisch-wirtschaftlichen Rahmenbedingungen beschleunigte die deutsch-türkische Annäherung im 19. Jahrhundert. Die Türkeipolitik Deutschlands war gekennzeichnet durch die weltpolitische Lage (die deutsche Einheit im Jahre 1871 und der Übergang zur deutschen Weltpolitik nach 1890) bzw. die Mächtekonstellation in Europa. Darüber hinaus erhob die deutsche Führung keine territorialen Ansprüche auf das Osmanische Territorium, im Gegensatz zu anderen europäischen Großmächten. Auf der anderen Seite war das Osmanische Reich in einer schwierigen Lage im 19. Jahrhundert, in dem der Machtverfall des Reiches vor allem nach dem Berliner Kongress (1878) offensichtlich wurde. Wegen der territorialen Ansprüche der anderen feindseligen europäischen Mächte wie England, Frankreich und Russland näherte sich
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die türkische Führung dem Deutschen Reich an. Damit wollte Sultan Abdülhamid II. ein Mächtegleichgewicht zwischen europäischen Ländern herstellen, um die Lebensdauer seines Reiches zu verlängern. Obwohl die Natur der deutschtürkischen Beziehungen vor 1914 unter Historiker*innen weiterhin umstritten ist, könnte man sie sicherlich als «Zweckfreundschaft» bezeichnen (Türk, 2007: 24–26).
Die deutsch-türkischen bilateralen Beziehungen Die ersten diplomatischen Beziehungen zwischen Preußen und dem Osmanischen Reich waren bereits im Jahr 1718 aufgenommen worden. Im 19. Jahrhundert florierten die deutsch-türkischen Beziehungen in politisch-diplomatischen, wirtschaftlichen und militärischen Bereichen. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. besuchte das Osmanische Reich zum ersten Mal im Jahr 1889. Sein zweiter Besuch fand 1898 statt, bei dem er anschließend nach Palästina weiterreiste. Die türkischen Staatsmänner betrachteten Deutschland als Schutzmacht des Osmanischen Reiches gegen die anderen feindseligen Großmächte in Europa (Türk, 2007: 85–89). Was die deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen anbelangt, wurde ein Handelsabkommen zwischen Preußen und dem Osmanischen Reich am 20. Oktober 1761 unterzeichnet (Yazman, 1969: 12–14). Jedoch waren die Handelsbeziehungen zwischen den beiden Ländern bis zum Jahr 1898 wenig ausgebaut worden. Die zweite Kaiserreise leistete einen großen Beitrag für die Entwicklung der deutsch-türkischen Handelsbeziehungen, vor allem im militärischen Bereich. Die deutsch-türkischen Militärbeziehungen in der Literatur werden hauptsächlich aus zwei Gesichtspunkten betrachtet. Der erste Gesichtspunkt bezieht sich auf die deutschen Militärmissionen, die bis 1918 in vier Phasen behandelt wurden. Diese waren die Moltke-Mission (1835–39), die Kähler-Mission (1883–85), die von der Goltz-Mission (1885–1895) und die von Sanders-Mission (1913–1918). In diesem Zusammenhang muss man nachdrücklich sagen, dass die von der Goltz-Mission eine unersetzliche Rolle bei der Entwicklung der deutsch-türkischen waffenwirtschaftlichen Beziehungen gespielt hatte. Auf den ersten Aspekt der deutsch-türkischen Militärbeziehungen wird allerdings im Rahmen dieses Aufsatzes aus Platzgründen nicht näher eingegangen. Bei der zweiten Dimension der deutsch-türkischen Militärbeziehungen handelte es sich um den Waffenhandel, worauf der Autor dieser Zeilen unten näher Bezug nimmt (Türk, 2007: 61–69).
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Der deutsch-türkische Waffenhandel im Zeitraum von 1860 bis 1914 Beim deutsch-türkischen Waffenhandel kommt den Waffenfabriken wie der Firma Krupp und der Mauser-Gewehrfabrik eine besondere Bedeutung im Zeitraum von 1860 bis 1914 zu. In diesem Zusammenhang spielten vor allem die deutschen Fabrikanten wie Alfred Krupp und die Gebrüder Mauser eine entscheidende Rolle für die Entwicklung der deutsch-türkischen Handelsbeziehungen, worauf in diesem Abschnitt näher eingegangen wird.
Die Firma Krupp Die türkische Regierung bahnte ihre erste Geschäftsbeziehung zur Firma Krupp im Jahr 1860 an. Die Türkei importierte zwischen 1871 und 1875 insgesamt 1.444 Kanonen von der Firma Krupp. Diese türkischen Aufträge spielten in diesem Zeitraum bei dem wirtschaftlichen Aufschwung der Essener Kanonenfabrik eine große Rolle. Wenn man die gesamte Periode von 1861 bis 1875 berücksichtigt, kaufte die Türkei insgesamt 1.816 Kanonen von unterschiedlichen Typen und Kalibern bei der Firma Krupp. Die Türkei bestellte von 1885 bis 1907 insgesamt 1.924 Kanonen aus Essen. Allein in der Ära von der Goltz wurden summa summarum 1.035 Kanonen bei der Essener Kanonenfabrik gekauft. Dafür wurden nach Berechnungen des Autors mehr als 70 Millionen Reichsmark ausgegeben. Die Firma Krupp konkurrierte um die türkischen Marineaufträge auf der internationalen Bühne mit der französischen Firma Schneider-Creuzot und der englischen Firma Armstrong & Vickers (Türk, 2007: 164–168). Seit 1869 unterhielt die Essener Kanonenfabrik eine ständige Vertretung in İstanbul, die unter dem Namen Huber Frerés bis 1914 bekannt wurde. August Huber ließ eine Villa am europäischen Ufer des Bosporus bauen, die heutzutage als Sommerresidenz des Türkischen Präsidenten benutzt wird. Außerdem pflegte die Firma Krupp stets gute Beziehungen zu den deutschen Militärattachés im Osmanischen Reich (Türk, 2007: 169). Türkische Staatsmänner und die Prinzen der Familie der Osmanen waren zu Besuch bei Krupp-Werken in Essen. Beispielsweise besichtigte Prinz Vahdettin die Krupp-Werke in Essen am 22. Dezember 1917 in Begleitung von Mustafa Kemal (später Atatürk). Die Familie Krupp versuchte gute Beziehungen zum Osmanischen Hof zu pflegen. So wurde F. Alfred Krupp im Jahr 1887 vom Sultan empfangen. Die Familie Krupp wurde sogar mit einer Medaille vom Sultan ausgezeichnet (Türk, 2007: 174–178).
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Die Gewehrfabrik Mauser Der englische Stahlhändler Sir Josef Jonas leistete einen großen Beitrag zur Einfädelung der Waffengeschäfte zwischen der Türkei und der Gewehrfabrik Mauser. Im Jahr 1887 unterzeichnete Sultan Abdülhamid II. den Vertrag über den Lieferauftrag für 500.000 9,5 mm-kalibrige Repetiergewehre und 50.000 Repetierkarabiner mit der Waffenfabrik Mauser. Der Stückpreis eines Gewehrs belief sich auf 362 Türkische Pfund, wobei man den Wert dieses Vertrages auf 37.000.000 Mark beziffern konnte. Zwischen 1887 und 1896, d.h. innerhalb von neun Jahren wurden insgesamt 486.120 Gewehre hergestellt, was eine große Rolle in der wirtschaftlichen Belebung der Stadt Oberndorf spielte (Türk, 2007: 131–133). Türkische Abnahmekommissionen befanden sich von Anfang an in Oberndorf. Die erste Abnahmekommission unter Leitung von Tevfik Pascha traf 1887 in Oberndorf ein. Dieser Kommission gehörte auch Mahmut Şevket Bey an, der bei der Einführung der Mauser-Gewehre in die türkische Infanterie eine bedeutsame Rolle spielte (Türk, 2007: 138). Paul Mauser pflegte sehr gute Beziehungen zum Hof und erhielt mehrere Orden vom türkischen Sultan. Folglich können die Ordensverleihungen des Sultans an die Familie Mauser als Zeichen der engeren Beziehungen zwischen dem türkischen Hof und der Gewehrfabrik Mauser betrachtet werden. Folgenden Personen wurden Orden verliehen: Maria Magdalena Mauser (1893) Nişan-ı Şevkat III. Klasse (Wohltätigkeitsorden), der Waffenmeister Fidel Feederle, die Silberne Ehrenmedaille (1893) und Paul Mauser fünfmalige Ordensverleihungen (Türk, 2007: 139–140). Die türkischen Aufträge leisteten einen großen Beitrag zur betrieblichen Entwicklung der Gewehrfabrik Mauser und damit auch zur Stadt Oberndorf. Vor dem türkischen Großauftrag verfügte die Fabrik über eine Tageshöchstleistung von 250 Gewehren, die durch den serbischen Auftrag ermöglicht wurde. Da man wegen des türkischen Auftrages täglich 500 Gewehre produzieren wollte, musste man erneut Betriebserweiterungen in Angriff nehmen. Auch im internationalen Vergleich rangierte die Türkei mit ihren vier Modellen und einer Stückzahl von 908.700 an erster Stelle. Nach der Türkei folgte mit drei Modellen und einer Stückzahl von 147.800 Serbien (Türk, 2007: 143–145).
Deutsche Waffen- und Kriegsmateriallieferungen an das Osmanische Reich während des Ersten Weltkrieges Ab 1914 nahmen die deutschen Kriegsmateriallieferungen neue Dimensionen an. Nach dem Bündnisabkommen vom 2. August 1914 verpflichtete sich Deutschland diverse Kriegsmaterialien an das Osmanische Reich zu liefern,
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was trotz der kriegsbedingten Probleme bis zum Ende des Ersten Weltkrieges eingehalten wurde. Wegen der Blockade des Lieferweges durch Serbien, Rumänien und Bulgarien wurden bestehende Waffen- und Munitionsfabriken vor Ort erweitert oder neue gegründet, also das vereinbarte Kriegsmaterial im Osmanischen Reich hergestellt (Yılmaz, 1993: 123). Beispielsweise koordinierte der Marineoffizier Kapitän zur See Waldemar Pieper als Leiter des Waffenamtes und damit der Waffenfabriken mit ungefähr 800 Arbeitskräften die Produktion der Waffen und Munition in den türkischen Werken. Zu diesem Zwecke traf im Mai 1915 eine deutsche Gruppe in der Türkei ein, die aus 74 Offizieren (Ingenieure und Chemiker), 47 Meistern sowie 659 Facharbeitern bestand. Sie leiteten circa 14.000 einheimische Arbeitskräfte bei der Herstellung von Pulver und Munition für die Kanonen vom Kaliber 7,5 cm bis einschließlich 21 cm an. Diese Arbeiter waren nicht nur in den Waffen- und Munitionsfabriken im Umkreis von İstanbul, sondern auch in strategisch wichtigen Gegenden wie Çanakkale, also am Eingang zu den Dardanellen, aktiv. Diese Fabriken waren große Werke wie die Waffenfabrik von Tophane, in denen man Gewehre und Munition herstellte. Für die Produktion dieser Waffen wurden erforderliche Maschinen und Anlagen benötigt, und diese importierte man unter den schwierigsten Bedingungen aus Deutschland. Man transportierte solche Anlagen mit der Eisenbahn, indem man sie mal als Zirkus- und mal als RotKreuz-Material deklarierte (Wolf, 2014: 174). Während des Dardanellen-Krieges gewann die Herstellung von Waffen und Munition vor Ort wie angesprochen an immenser Bedeutung. Denn alle Landund Seewege aus Deutschland in die Türkei waren kriegsbedingt gesperrt. In diesen Fabriken stellte man bis zum Ende des Krieges nicht nur Pulver und Munition für die schon genannten Geschütze sondern auch Handgranaten und kleinkalibrige Kanonen her. Deutschland unterstützte das Osmanische Reich auch beim Aufbau einer eigenen Luftwaffe. Zu diesem Zweck entsandte man im November 1914 Oberleutnant Erich Serno in die Türkei, der in Yeşilköy eine eigene Fliegerschule aufbaute, den Luftwaffenstützpunkt von Yeşilköy erweiterte, dafür die Piloten mitsamt dem notwendigen Bodenpersonal ausbildete, ab 1916 den ersten Wetterdienst installierte und die Fertigung von Ersatzteilen vor Ort anleitete (Wolf, 2014: 371–372). Deutschland stellte der Türkei insgesamt 12 Flugzeuge zur Verfügung. Bis Ende des Krieges sollten es 185 Maschinen sein, die von 190 Piloten bedient und von 1.520 Mann Bodenpersonal gewartet wurden (Yılmaz, 1993: 203–204). Nach Angaben von Klaus Wolf setzte man zwischen 1914 und 1918 mindestens 66 deutsche Kampfflugzeuge in Gallipolli, İzmir und İstanbul ein. Obwohl diese Flugzeuge von den alliierten Mächten nach dem Krieg zerstört wurden, fungierten die von Deutschen ausgebildeten
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Piloten und Techniker als das Rückgrat der türkischen Luftwaffe in der Nachkriegsära (Interview mit Klaus Wolf). Nach den Regelungen des Bündnisvertrages vom August 1914 leistete Deutschland gegenüber der Türkei bis Ende des Ersten Weltkrieges Finanzhilfen in Höhe von ca. drei bis vier Milliarden Mark (ca.57–76 Mrd. Euro). Davon wurde etwa eine Milliarde Mark in Form von Goldlieferungen zur Verfügung gestellt. Nach türkischen Quellen ist diese Summe mit 2,7 Milliarden RM (umgerechnet 150 Millionen Türkische Lira “eins zu 18” bzw. ca. 51,7 Mrd. Euro) zu beziffern (Türk, 2017:145). Wie bereits Mühlmann nachgewiesen hat, wurde diese Summe als Kredit gewährt, den die Türkische Republik nach dem erfolgreichen Befreiungskrieg (1922) zurückzahlte (Mühlmann, 1998: 8). Nach Angaben von İsmet Görgülü lieferte Deutschland unter Mithilfe der Regierung von Österreich-Ungarn insgesamt 615.687 Gewehre; außerdem 4.454 Maschinengewehre und 673.759.212 Gewehrpatronen an die Türkei. Allerdings wurde der Umfang der deutschen Waffenhilfe im Verlauf des Krieges zunehmend durch den Eigenbedarf relativiert, sodass es bei den weiteren Lieferungen blieb und weitergehende Anfragen wie diejenige von Enver Pascha an die Oberste Heeresleitung nach Lieferung von weiteren 580.000 Gewehren und 550 Maschinengewehren unerfüllt blieben. Der Umfang der deutschen Waffenhilfe war eher als unbedeutend einzustufen, wenn man den Bedarf der türkischen Armee bei Kriegsausbruch in Betracht zieht. Nach Mühlmann entsandte Deutschland 100.000 Eisenbahnwaggons mit Kriegsmaterialien im Verlaufe des Ersten Weltkrieges an den Bosporus. Damit standen der türkischen Armee insgesamt 473.000 Gewehre und 230 Maschinengewehre zur Verfügung (Mühlmann, 1998: 8).
Der deutsch-türkische Waffenhandel im Zeitraum von 1923 bis 1945 Die deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen in der republikanischen Ära waren nicht nur begrenzt auf die Tätigkeiten des deutschen Waffenhandels, sondern die deutsche Industrie unterstützte die industrielle Entwicklung der Türkei, indem sie eine Reihe von Fabriken gründete bzw. industrielle Anlagen in dieses Land wie beispielsweise Eisenbahnschienen exportierte (Avcı, 2014: 185–207). Eine andere Dimension der deutsch-türkischen Militärbeziehungen betraf auch die Entsendung der deutschen Militärspezialisten in die Türkei. Jedoch betonten die deutschen Politiker*innen, dass dies dem Versailler Abkommen widersprach und dass sie bereit wären, anstatt dessen zivile Spezialisten in die Türkei zu entsenden. Jedoch begannen einige deutsche Offizier später ab dem Semester
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1927/1928, an den Kriegsakademien der Türkei als Lehrer zu arbeiten, was ab dem Jahr 1933 an Bedeutung gewann (Özgüldür, 1993: 63–65). Auf der anderen Seite entsandte die Türkei Schüler aus den Militärakademien nach Deutschland, um den Bedarf an technischen Hilfskräften in den Waffenfabriken zu decken (Koçak, 1991: 47–48). In der republikanischen Ära entwickelten sich die deutsch-türkischen Militärbeziehungen mit der anfänglichen Verzögerung weiter. In der Zwischenkriegszeit lieferten deutsche Rüstungsunternehmen schwere Waffen und Anlagen in die Türkei und gründeten dort auch Kanonen-, Munitions- und Gewehrfabriken, um die Auflagen der Versailler Verträge zu unterlaufen (Türk, 2015: 764). Im Einzelnen waren dies die Waffenfabrik von Ankara (1923–1924) und die Gewehrfabrik von Kırıkkale (1936–1939). Ab 1967 produzierte man hier nach den vertraglichen Abmachungen mit der deutschen Regierung Maschinengewehre vom Typ G-3 und vom Typ MG-3. … die Kanonenfabrik von Kırıkkkale (1939), die Munitionsfabriken von Kırıkkale (1929), die Patronenfabrik von Ankara (1923) und die Pulverfabrik von Kırıkkale (1939) (Özlü, 2006: 11–20). Auf der anderen Seite entwickelten deutsche Firmen wie Büssig, Krupp und Germania (Krupp) zwischen 1930 und 1939 vermehrt Türkeigeschäfte. Beispielsweise wurde der Bau vom Militärhafen von Gölcük mit Hilfe von einem deutschen Firmenkonsortium durchgeführt, worunter Krupp, Gutehoffnungshütte, Philipp Holzmann AG, Siemens-Bau Union und Julius Berger Tiefbau AG agierten (Türk, 2015:766–767). In diesem Zusammenhang muss man darauf hinweisen, dass die Firma Krupp eine wichtige Rolle bei der Industrialisierung der Türkei gespielt hatte. Sie exportierte nicht nur Waffen und Munition in die republikanische Türkei, sondern verkaufte auch zivile Güter, worauf sie sich insbesondere nach 1945 fokussierte1. Außerdem wurde von der deutschen Flugzeugfirma “Junkers” eine Flugzeugfabrik in Kayseri auf der Basis eines Vertrages vom 09. Januar 1925 gebaut. Im Rahmen dieses Vertrages verpflichtete sich Deutschland darüber hinaus den Luftverkehr zwischen Ankara und İstanbul zu regeln und eine chemische Gasfabrik zu gründen. Dem letztgenannten Punkt widersetzte sich das Auswärtige Amt aufgrund der internationalen Verpflichtungen der deutschen Regierung allerdings energisch (Türk, 2015:764).
1 Zur Bedeutung der Firma Krupp in den deutsch-türkischen Beziehungen zwischen 1923 und 1990 siehe ausführlicher Türk, Fahri und Kaya Emirhan, Cumhuriyet Dönemi Türk-Alman İlişkilerinde Sıradışı Bir Aktör: Krupp Firması 1923–1990, Gazi Akademik Bakış Dergisi, Band 10, Jg. 20 Sommer 2017, S. 121–143.
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Fazit Deutschland leistete einen großen Beitrag zur Entwicklung der türkischen Waffen- und Munitionsindustrie sowohl im Osmanischen Reich als auch in der republikanischen Türkei. Der Waffen- und Munitionshandel zwischen Deutschland und dem Osmanischen Reich war die eigentliche Triebkraft der Handelsbeziehungen zwischen Berlin und İstanbul, was zur Vertiefung des deutsch-türkischen Dialogs in vieler Hinsicht führte. Auf der anderen Seite unterstützte die deutsche Regierung die Industrialisierung der republikanischen Türkei, indem sie Waffenfabriken in diesem Land gründete. Somit verwundert es nicht, dass die Beziehungen auch nach dem Ende des Ersten Weltkrieges nicht abrissen, sondern von der nun republikanischen Türkei und der Weimarer Republik auch in der Zwischenkriegszeit weiterhin gepflegt wurden. Dies gilt auch für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, in der die Bundesrepublik Deutschland und die Türkei im Rahmen der NATO eng zusammenarbeiten. Bedenkt man die lange Tradition der militärischen Zusammenarbeit zwischen den beiden Staaten, so haben sie einiges für das wechselseitige Verständnis in den jeweiligen Interessenlagen beigetragen und damit sehr viel mehr geleistet, als man von einer reinen Modernisierungspartnerschaft hätte erwarten können.
Literaturliste Alman Gözüyle Çanakkale Destanı, Özge Kılınç’ın Klaus Wolf ile yapmış olduğu söyleşi, Savunma ve Havacılık, S. 134, http://www.tayyareci.com/hvtarihi/ canakkale/özgekilinc.pdf, (zuletzt abgerufen: 24.01.2016). Avcı, Meral, Die türkisch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen in den Jahren von 1923 bis 1945 unter Beachtung der politischen Entwicklungen, Aachener Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Band 14, Aachen, 2014. Koçak, Cemil, Türk-Alman İlişkileri 1923–1939. İki Savaş Arasındaki Dönemde Siyasal, Kültürel, Askeri ve Ekonomik İlişkiler, Ankara, 1991. Jehuda, L. Wallach, Anatomie einer Militärhilfe. Die preußisch-deutschen Militärmissionen in der Türkei 1835–1919, Düsseldorf, 1976. Mühlmann, Carl, Çanakkale Savaşı, Bir Alman Subayının Notları, Timaş Yayınları, İstanbul, 1998. Özgüldür, Yavuz, Türk-Alman İlişkileri 1923–1945 (Deutsch-türkische Beziehungen 1923–1945), Ankara, 1993.
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Özlü Hüsnü İkinci Dünya Savaşı’ndan Günümüze Türkiye’de Savunma Sanayisinin Gelişimi 1939–1990 (Die Entwicklung der türkischen Verteidigungsindustrie (1939–1990), Dokuz Eylül Universität, Unveröffentlichte Dissertation, İzmir, 2006. Türk, Fahri, “Die deutsche Rüstungsindustrie in ihren Türkeigeschäften zwischen 1871 und 1914-Die Firma Krupp, die Waffenfabrik Mauser und die Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken, Ein Beitrag zur deutsch-türkischen Beziehungen, soziologische und politologische Untersuchungen Band 13, Frankfurt am Main, Bern, Zürich, 2007. Türk, Fahri, Cumhuriyet Döneminde Türkiye ile Almanya Arasındaki Silah Ticareti 1923–1945, Belleten, Band LXXIX, Jg. 285, Ankara, 2015, S. 761–782. Türk, Fahri, Deutsche Militärmissionen und ihre Rolle beim deutsch-türkischen Waffenhandel im Osmanischen Reich 1871–1914, Elektronik Siyaset Bilimi Araştırmaları Dergisi, Band 1, Jg. 1 Juni 2010, S. 86–102. Türk, Fahri, Deutsche Waffen- und Kriegsmateriallieferungen an die Türkei Waehrend des Dardanellen Krieges, Wolfgang Gieler, Burak Gümüş und Yunus Yoldaş (hrsg.), Deutsch-Türkische Beziehungen, Historische, sektorale und migrationsspezifische Aspekte, Frankfurt am Main, 2017. Türk, Fahri und Kaya Emirhan, Cumhuriyet Dönemi Türk-Alman İlişkilerinde Sıradışı Bir Aktör: Krupp Firması 1923–1990, Gazi Akademik Bakış Dergisi, Band 10, Jg. 20 Sommer 2017, S. 121–143. Wolf, Klaus, Gelibolu 1915, Birinci Dünya Harbi’nde Alman-Türk Askeri İttifakı, Özbilen Eşref Bengi (Übersetzer), 2014, İstanbul. Yazman Turfan Ruhi, Tarihte Türk-Alman İlişkileri (Die deutsch-türkischen Beziehungen in der Geschichte), İstanbul 1969. Yılmaz, Veli, Birinci Dünya Harbi’nde Türk Alman İttifakı ve Askeri Yardımlar, İstanbul, 1993.
Mutlu ER* und Max Florian HERTSCH**
Die Bagdadbahn: Eine Reise durch die unbekannte Türkei Lodemanns Dokumentarfilm über die teleologische Kooperation zwischen dem Deutschen und Osmanischen Reich Einleitung Noch bevor sich das Osmanische Reich dem Westen annäherte, um den Zerfall seines Imperiums abzufangen, trat Russland in doppelter Hinsicht “eine Reise nach Westen” (Kusber, 2008: 55) an. Einerseits musste das Osmanische Reich durch nationale Bewegungen auf dem Balkangebiet gegen Ende des 19. Jahrhunderts große Teile seines Territoriums an andere Länder überstellen. Denn durch den technologischen Rückstand, besonders im Militär, büßte es an Macht ein und war den imperialen Großmächten des Westens unterlegen. Des Weiteren musste es seine Grenzen im Norden und Osten hin zum Zarenreich schützen. Neben dem Osmanischen Reich versuchten auch das Habsburger- und Zarenreich ein Gegenmodell zu entwickeln, das durch ein imperiales Nationalbewusstsein geprägt war. Das Scheitern des Osmanischen Reiches konnte trotz des Sultanats/Kalifats und des übernationalen Charakters des Militärs nicht verhindert werden (Reinkowski, 2006: 36). Mit Blick auf das 18. Jahrhundert können weitere zahlreiche Faktoren in Bezug auf die prekäre Lage des Osmanischen Reiches (Makro- und Mikrostruktur) genannt werden, die auch seinen Zerfall miterklären. Darüber hinaus zeigen diese auch, warum seine Aufnahme als Verbündeter für das deutsche Kaiserreich aus geostrategischen Gründen als sinnvoll galt. Aus dieser Sicht ist der im Jahre 1761 unterzeichnete Freundschafts- und Handelsvertrag zwischen Preußen und dem Osmanischen Reich ein Meilenstein in der
* Assoc. Prof. Dr., Hacettepe Universität, Abteilung für Deutsche Sprache und Literatur, E-Mail: [email protected] ** Assoc. Prof. Dr., Hacettepe Universität, Abteilung für Deutsche Sprache und Literatur, E-Mail: [email protected]
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deutsch-türkischen Freundschaft. Diesem Vertrag folgte 1790 in Istanbul ein militärisches Bündnis zwischen Sultan Selim III. und König Friedrich Wilhelm II. von Preußen (Ziegler, 1997: 262). Ausgehend von den Reformbestrebungen von Selim III., das osmanische Militär neu zu strukturieren, kam 1798 Oberst von Goetze, trotz des besonderen Interesses an Frankreich unter den Gebildeten, nach Istanbul. Nach dem Sturz des Sultans im Jahre 1807 kam 1808 Mahmud II. an die Macht und wandte sich direkt an Friedrich Wilhelm II., um einen Schulterschluss zu suchen, der daraufhin die Entsendung türkischer Offiziersschüler in deutsche Militärverbände anordnete. Des Weiteren wurden die Militärs Moltke und von Bergh einberufen, um bei der Restrukturierung und Ausbildung des Osmanischen Militärs mitzuwirken (Böer et al., 2002: 5). Darauf verweist auch Graf Helmuth von Moltkes Reisebericht „Unter dem Halbmond. Erlebnisse in der alten Türkei 1835–1839“, der nicht nur über seine Lebenserfahrungen in vielen Gebieten des Osmanischen Reiches berichtet, sondern auch mit seinen militärischen Prognosen zur Aufrüstungsstrategie der Nachfolgerschaft explizite Informationen weiterleitete. Die preußische Militärmission endete mit dem Rückruf deutscher Offiziere im Jahr 1839, jedoch bestrebte man die Aufrechterhaltung der Beziehungen durch Unterzeichnung weiterer Verträge: 1840 wurde ein Handelsabkommen mit Preußen und den Staaten des Deutschen Zollvereins unterzeichnet, das den Vertrag von 1761 mit fortgeltenden Rechten und Pflichten auf alle Mitgliedsstaaten des Deutschen Zollvereins übertrug (Ziegler, 1997: 266). Mit der staatlichen Einigung Deutschlands richtete sich Bismarcks Politik nach Russland und Österreich und man versuchte einen Orientkonflikt zu vermeiden, weil man in dem Ganzen für Deutschland kein Interesse sehe, welches auch nur die gesunden Knochen eines einzigen pommerschen Musketiers wert wäre (Engelberg E. und Engelberg A., 2014: n.v.). Außer erneut abgesegneten Handelsprotokollen konnten bis 1880 keine intensiven Kooperationen aufgezeichnet werden. Sultan Abdulhamit II., der als Kronprinz zu Besuch in Preußen war, empfand gegenüber den Deutschen jedoch eine Sympathie. Da Preußen keine Kolonie in muslimischen Ländern und Grenzen zum Osmanischen Reich hatte, war ein potenzieller Konflikt schon diesbezüglich ausgeschlossen. Ein weiterer Grund, weshalb das Osmanische Reich besonders nach dem Osmanisch-Russischen Krieg (1877–78) nach einem Verbündeten suchte, war die gut fundierte Rüstungsindustrie Preußens (Albayrak, 1995: 4). Auch das Deutsche Kaiserreich brauchte Verbündete, um seine Machtposition in Europa zu stärken (Marcinkowski, 2007: 87). Sowohl das Osmanische als
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auch das Deutsche Reich befanden sich seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts jeweils auf der Suche nach neuen Bündnispartnern. Dank der deutschen Militärmission im Osmanischen Reich waren Beziehungen vorhanden, auf die die “Kaehler-Mission” aufbauen konnte. Zwischen 1885 und 1887 gingen aus Deutschland Waffenlieferungen der Firmen Mauser und Loewe in das Osmanische Reich. Diese Aufträge bildeten eine der wichtigsten Stützen der bilateralen Beziehungen (Reichmann, 2009: 40). Colmar von der Goltz (auch Goltz Pascha genannt) ermöglichte 1886 der Firma Krupp weitere Importe in das Osmanische Reich.
Konzepte zum Bau einer Eisenbahnlinie Die Eröffnung des Sueskanals (1869) brachte eine Herausforderung im Handelsleben. Im Osmanischen Reich bemühte man sich, neue Handelswege zu schaffen. Mithad Pascha (Gouverneur von Bagdad), Hasan Fehmi Pascha (Verkehrsminister), Fuad und Ali Pascha (Minister Abdulmecids) gehörten zu den wichtigsten Projekt-Vertretern im Osmanischen Reich, die den Bau einer Eisenbahnlinie aus strategischen Gründen essenziell wichtig fanden. Sie unterbreiteten dem Sultan unmittelbar das gleiche Konzept und schlugen vor, eine Eisenbahnverbindung von der Hauptstadt durch Anatolien bis zum Persischen Golf zu bauen. Auch von Karl May wurde dieser Wunsch geäußert. Zudem wurden gleiche Entwürfe von Francis Rawdon Chesney (britischer General) und Lord Palmerston (britischer Kriegsminister) vorgelegt (Albayrak, 1995: 8). Einige Bahn-Projekte wie die von Haydarpascha nach Izmit, von Izmir nach Aydin oder von Izmir nach Manisa wurden zwar verwirklicht, jedoch fehlte die Finanzierung, um die erwähnten Groß-Projekte umzusetzen. Durch Wilhelm Pressel (Eisenbahningenieur), der von Sultan Abdulaziz einberufen wurde, um das anatolische Eisenbahnnetz auszubauen, wurde das Projekt zur Bagdadbahn angegangen. Als Karl May im Jahr 1881 seinen Wunsch nach Umsetzung des Konzepts von Mithat Pascha äußerte: „Wäre Midhat Pascha […] Generalstatthalter von Irak geblieben, so besäße Mesopotamien eine Eisenbahn, deren Zweck wäre, die Euphrat- und Tigrisländer über die Hauptorte Syriens hinweg mit Konstantinopel zu verbinden” (Augustin und Brauneder, 2010: 15), war die Tigrisbahn bereits entworfen, die schließlich 1893 zur Bagdadbahn weiter ausgearbeitet wurde. Folgende Karte zeigt den Verlauf der Bagdadbahn (Hertsch, 2016: 108).
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Das Politikum der Bagdadbahn Ab 1888 kam es erneut zu einer Wende in den Beziehungen. Mit der Zustimmung von Bismarck wurde der Ausbau der Anatolischen Eisenbahn genehmigt, die von der Deutschen Bank auch begutachtet wurde (Albayrak, 1995: 6). Der Besuch von Wilhelm II. in Istanbul (1889) stärkte zusätzlich die Mission der Bagdadbahn. Aus den Gesprächen mit dem Sultan ging hervor, dass die Bahn in einer ersten Etappe bis Konya erweitert, eine Telegraphen-Verbindung zwischen Konstanz und Istanbul eingerichtet und in Haydarpascha ein Hafen gebaut werden sollte. Mit seiner Zusage wurde Kaiser Wilhelm II. der Förderer der Bagdadbahn. In den folgenden Jahren gingen alle Eisenbahnkonzessionen an deutsche Firmen. Da jedoch der Sultan, Inhaber des Kalifats, eine Zustimmung der muslimischen Bevölkerung für die zukünftigen Pläne brauchte, besuchte Wilhelm II. Aleppo und beschrieb sich selbst als ein Freund von 300 Mio. Muslim*innen. Ein islamfreundliches Deutschland könne im Orient England überbieten und sowohl Anatolien als auch Mesopotamien durch den Bau von Bewässerungskanälen und Straßen wieder florieren lassen wie in den ehemaligen Zeiten. (Albayrak, 1995: 7). Bezüglich dieser Ansicht wurde zugunsten der Weltpolitik und der Interessen um 1915 in Wünsdorf bei Potsdam das Halbmondlager für muslimische Kriegsgefangene gebaut, das den Häftlingen eine freie religiöse Praxis anbot, um die Unterstützung der Muslim*innen vor allem aus dem indischen Gebiet zu gewähren, wohin sich einst die Mission der Bagdadbahn erweitern sollte (Kılıç, 2014: 141). Diese Strategie war allerdings riskant, da sich ein Aufstand der Muslim*innen, ein Dschihad gegen England und dessen Kolonialherrschaft mit derselben Logik am Ende auch gegen die Politik Wilhelms selbst gerichtet hätte (Lodemann, 2016: 16).
Jürgen Lodemann und „Die Bagdadbahn“ als eine synchrone Querschnittanalyse Der Regisseur des Dokumentarfilms „Die Bagdadbahn“, Dr. Jürgen Lodemann, geboren 1936 in Essen, hat einen besonderen Stellenwert als Dokumentarfilmer im deutschen Fernsehen. Zwischen 1969 und 1994 hat er etwa 30 Fernsehfilme produziert. Als eigenständige Beigabe zum Film, der über den Südwestfunk ausgestrahlt wurde, erschien das reich bebilderte Buch „Bagdadbahn – Bahnfahrt durch die unbekannte Türkei“. Die Drehaufnahme des Films wurde 1985 geführt und umfasst den Streckenverlauf vom Haydarpascha-Hauptbahnhof in Istanbul bis zur syrischen Grenze. Der Film gelang von den dritten Kanälen, besonders in Bildungsprogrammen, auch zum ARD. In Lodemanns Werk hatte zumeist
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die Musik eine hervorragende Bedeutung. Der „arabeske“ Stil, der am Anfang des Films als Einleitung im Hintergrund abgespielt wird, reflektiert die populäre Musikkultur, die damals in der Türkei besonders in Großstädten aus den Slums hervorgegangen war und veranschaulicht klanglich die veraltete BagdadbahnStrecke. Das Bahnhofsgebäude Haydarpascha wurde Anfang des 20. Jahrhunderts von den Architekten Otto Ritter und Hellmuth Cuno entworfen und von der deutschen Firma Phillip Holzmann gebaut (Möckelmann, 2013: 31). Die Architektur richtete sich dem Zeitgeist gemäß an die wilhelminische Repräsentationsarchitektur (Doğramacı, 2010: 119). Bis vor Kurzem diente das historische Gebäude dem türkischen Schienennetz. Im Verlauf des Films sieht man, etwa ab Eskişehir in Richtung Afyon und Konya, also in der ersten Etappe der Bagdadbahn, Schienen und Stahl mit Beschriftungen wie „Krupp 1889“ oder „Bagdad“ sowie Namen von Städten aus dem Ruhrgebiet. Eine Zeitzeugin in Afyon, die während der Aufnahme im Alter von 104 Jahren war, berichtet über die deutschen Ingenieure (Lodemann, SQ: 16:56): „Und die Bahn? Nach Bagdad? Ja, die wurde unter den deutschen Ingenieuren gebaut. Unsere Leute hatten die Arbeit, mit dem Holz, mit den Steinen. Einmal bin ich damals über die neuen Schienen gelaufen, da hat mich einer weggejagt. Oh doch, türkisch schimpfen, das hatten die Deutschen schon gut gelernt“ (Lodemann, 2016: 23).
Neben den verfallenden Resten der Bagdadbahn werden Ruinen von Bahnhofsgebäuden und Unterkunfts- und Freizeithäusern von den damaligen Bahn-Ingenieuren gezeigt. „Deutsches Mauerwerk“, so bezeichnet Lodemann die Bahnhofsgebäude, die an vielen Orten noch in Betrieb sind. Dieser Baustil wurde also mit der Bagdadbahn in das kulturelle Inventar Anatoliens übertragen und unterscheidet sich von französischen und russischen Bauten, die während der Besetzung Anatoliens nach dem Ersten Weltkrieg gebaut wurden. Während der Aufnahmen bemerkt Lodemann in seinem Artikel zum Film, dass die alten Schienen der Bagdadbahn wie Ruinen wirkten, die einst einen Traum verwirklichen sollten (Lodemann, 2016: 20). Durch die Elektrifizierung stehen nun Strommaste, die in naher Zukunft das Schicksal der alten Schienen gefährden. Der Höhepunkt des Bagdadbahn-Films ist die Geschichte der Varda-Brücke, die auch heute befahren wird. Das steinerne Bauwerk mit sieben Rundbögen und einer Höhe von 90 Metern am Taurus stellte in der zweiten Bau-Etappe der Bagdadbahn (bei Avanos) die schwierigste Aufgabe dar. Der deutsche Bauingenieur Winkler bekam die Bau-Genehmigung, konnte den Auftrag jedoch wegen eines Todesfalls (von Mavrogordato) nicht vollenden (Heigl, 2004: 74). Nach Lodemann ließen die Lokomotiven ununterbrochen Warnsignale tönen.
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Zeitzeugen zufolge soll sich 1910 ein türkischer Lokführer geweigert haben, den Zug über die Varda-Brücke zu fahren und ein deutscher Lokführer musste aus Adana geholt werden: “Anton, der Maschinist, der nahm seine Frau und Kinder mit in den ersten Zug und alle kamen heil rüber“ (ebd.). In der Nähe von Pozantı (Provinz Adana), wo sich noch heutzutage „Alman Mezarı“ (der Deutsche Friedhof) befindet, konnte ein türkischer Weinbauer interviewt werden, der sich an die deutschen Ingenieure erinnern konnte, die in der Provinz ihre eigenen Häuser hatten und Gemüsegarten und sogar ein Kino besaßen, was damals auf die Einheimischen sehr fremd wirkte: „Die Führer waren die Deutschen, die Arbeiter waren alles Türken. Steinhäuser haben sich die Deutschen bauen lassen. Sie hatten ein türkisches Bad, ein großes Aufenthaltshaus mit einem Kino. Außen Blumen drumrum. Abends holten sie die Tische heraus und aßen und tranken im Freien. Das war wie im Paradies dort. Wir haben da nur zugeschaut, nur Deutsche durften da hinein. Ihre Gräber findet man heute nicht mehr“ (ebd.).
Geopolitische Realität: Zerfall und Auferstehung Die deutsche Vision war es, in nur 13 Tagen per Zug von Berlin nach Mesopotamien zu reisen. Es war ein für die damalige Zeit geradezu futuristisches Vorhaben. Eine vollendete Eisenbahnstrecke würde die Landverbindung bis zum Persischen Golf herstellen und damit die Zugriffsmöglichkeiten auf diese Region verbessern. Es ging beim Eisenbahnbau nicht nur um die wirtschaftliche Erschließung der anatolischen und mesopotamischen Region sondern auch um die militärstrategische Dominanz im Nahen Osten. Die Bagdadbahn erlebte während ihrer Bauzeit von 1903 bis 1940 zwei Weltkriege, denn 37 Jahre brauchte man, um den Ausgangsbahnhof Konya (Türkei) mit der Endstation Bagdad (Irak) zu verbinden. Eine gigantische Pionierleistung, die 1940 die lang ersehnte ununterbrochene Schienenverbindung zwischen Berlin und Bagdad herstellte. Die Interessen des Osmanischen Reiches an der Kooperation können wie folgt dargelegt werden (Hoffmann, 2016: 63): a) (aufgezwungene) Modernisierungspolitik b) den europäischen Mächten gegenüber nicht ins Hintertreffen geraten c) Schuldenproblematik entgegenwirken d) Aufbau einer Infrastruktur für Militär, Agrargüter, etc. e) Kontrolle über das Reich stabilisieren Traditionell wird bei Eisenbahnkonzessionen das kommerzielle Interesse der Investoren hervorgehoben. In der Tat waren die ‚Kilometergarantien‘
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wirtschaftlich nicht uninteressant. Allerdings verfolgten die deutschen Investitionen in die Bahn auch geopolitische Interessen, insbesondere die Sicherung des Marktzuganges außerhalb britischer Einflussnahme und militärischer Eingriffsmöglichkeiten. Industriepolitisch konnte der Export der deutschen Bahnindustrie vorangetrieben werden und gesellschaftspolitisch war das revolutionäre Potential, zumindest in Teilen, exportiert oder durch die Machtdemonstration des nationalen Projektes Bahnbau ruhiggestellt. Nachdem die britische Hegemonie auf ihrer maritimen Vorherrschaft aufbaute, wird diese durch einen durchgehenden Landweg, unterbrochen nur durch den Bosporus, geschickt umgangen. Ein physischer Landweg in den Nahen Osten und zu den Ölquellen am Persischen Golf, schneller als zu Schiff und komplett im deutschosmanischen Einflussgebiet, von den Erzrivalen Großbritannien und Frankreich relativ gut geschützt, kann nur im deutschen Interesse sein. Außerdem hatte die deutsche Eisenbahntechnologie schon in den Einigungskriegen ihre Effizienz unter Beweis gestellt und konnte der wachsenden deutschen Bahnindustrie so zu neuen Aufträgen verhelfen. Der neue, effiziente und geschützte Handelsweg schuf damit eine echte, da schnellere (wenn auch teurere) Konkurrenz zum britisch dominierten Seeweg über Suez. Und nicht zuletzt band man so das Osmanische Reich, selbst geplagt von britischen Ambitionen in der Region, an deutsche Interessen. Nicht zuletzt deswegen wurden die pan-islamischen Ambitionen Abdulhamids II. als antibritische und anti-koloniale weltweite Strategie von Berlin gefordert und gefördert.
Fazit Die Bahn erreichte weder die deutschen Ziele, noch vermochte sie die Niederlage und den Zerfall des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg aufzuhalten. Dennoch konnte sowohl der inner-osmanische als auch der Nachschub aus Deutschland schneller und sicherer gewährleistet werden. Auch wenn die Eisenbahn die militärische Niederlage des Osmanischen Reiches nicht aufhalten konnte, so konnte sie doch ihren Nutzen im türkischen Unabhängigkeitskampf gegen die Alliierten unter Beweis stellen. Die Türkische Republik galt ab 1923 vielen als ein unterstützenswertes Gegenbeispiel zur Beherrschung der Welt durch liberale Kolonialmächte. Bei den militärischen Eliten der Weimarer Republik und der trotz der Versailler Beschränkungen intakt gebliebenen deutschen Heeresleitung sowie im Dritten Reich stieß der nationaltürkische Widerstand auf Wohlwollen. Strategie, Kampfhandlungen und andere Entscheidungen wurden ‚begleitet‘, politisch und militärberaterisch unterstützt und auch bei dieser Unterstützung spielte die Bahn weiterhin eine große Rolle.
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Neben dem politischen Misserfolg der Bagdadbahn können jedoch auch positive Entwicklungen aufgewiesen werden. Der Bau der Bagdadbahn führte Fortschritte in der Landwirtschaft herbei. Zwischen 1889 und 1911 stieg die Produktion der Agrarprodukte um mehr als das Doppelte, da die Bahn einen neuen Weg für den Güterverkehr öffnete. Aus diesem Grund stieg beispielsweise der Anbau von Kartoffeln in der Provinz von Konya an. Zwischen 1880 und 1904 konnte auch der Außenhandel profitieren. Um 2200% sei der Exporthandel von Agrar- und tierischen Produkten nach Deutschland gestiegen (Albayrak 1995: 34). Auf der anderen Seite nahmen deutsche Produkte auf dem osmanischen Markt um 788% zu, während englische oder französische Produkte ihren Marktanteil nur um 1% erhöhen konnten.
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Fahri TÜRK** und Sevda ŞANDA***
Deutsche Zivilberater*innen in der frührepublikanischen Türkei von 1924 bis 1936* Einleitung Die lange historische Tradition der deutsch-türkischen Beziehungen in kulturellen, politischen, militärischen, ökonomischen sowie in sozialen Bereichen reichen bis zur preußisch-osmanischen Zeit zurück. Insbesondere mit dem Beginn der Modernisierungs- und Reformbestrebungen im Osmanischen Reich im Militär1, Staats- und Bildungswesen (Ergün, 1992: 193–208)wurde auf das Wissen ausländischer, vor allem aber deutscher Offiziere, Berater*innen sowie Wissenschaftler*innengesetzt. Die bilateralen Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland entwickelten sich im Ersten Weltkrieg von einer militärisch-wirtschaftlichen Interessengemeinschaft zur Waffenbrüderschaft gegen die Alliierten. Die Niederlage gegen die Siegermächte führte einerseits zu enormen wirtschaftlichen Einbußen und Machtverlust, andererseits zum Bruch der politisch-diplomatischen Beziehungen beider Länder zueinander. So ist es nicht abwegig, dass die sechsjährige Unterbrechung der deutsch-türkischen Beziehungen durch den Abschluss des Freundschaftsvertrages2 vom 3. März 1924 als Tenor für die Wiederaufnahme der alten Beziehungen betrachtet werden kann.
* Die erweiterte Fassung dieses Aufsatzes wurde bei dem Jahrbuch Türkisch-Deutsche Studien zur Veröffentlichung angenommen. ** Prof. Dr.,Trakya Universität, Fakultät für Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften, Fachbereich Politikwissenschaften, E-Mail: [email protected] *** Promovendin am Institut für Sozialwissenschaften im Fachbereich Politikwissenschaften an der Trakya Universität, E-Mail: [email protected] 1 Die Idee der Militärreformation geht auf Selim III. (1789–1807) zurück, der sein Militärwesen mithilfe von französischen Militärinstrukteuren nach europäischem Vorbild reformierte. Diese erstreckte sich über Mahmud II. (1808–1838) bis zur TanzimatPeriode (1839–1876) unter Abdülmecid (1839–1861) weiter, der unter anderem auch das Bildungswesen reformierte. 2 Den Freundschaftsvertrag unterzeichnete Tevfik Kamil Bey und Dr. Hans Freytag in Ankara.
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TÜRK und ŞANDA
Der Mangel an geeigneten qualifizierten Landsleuten und somit an Fachkräften und Spezialist*innen im Land veranlasste die türkische Regierung, ausländische3 und deutsche Zivilberater*innen, Expert*innen und Sachverständige zu rekrutieren. Diese sollten in verschiedenen Bereichen wie Verwaltung, Bildung, Landwirtschaft, Industrie und Wirtschaft eingesetzt werden. In erster Linie sollten sie vor allem aber die Verwaltungen und Ministerien in Ankara neugestalten und in Bereichen wie Postwesen, Katasteramt und Zollwesen beschäftigt werden. Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich mit der Reorganisation des Staatsapparates der jungen türkischen Republik, die zur Neugestaltung der staatlichen Institutionen deutsche Zivilberater*innen, Expert*innen und Sachverständige in der Zeit von 1924 bis 1936 einluden. In der bisherigen Türkeiforschung wurden die osmanisch-preußischen Beziehungen und die Emigration deutscher Wissenschaftler*innen während des Nationalsozialismus in die Türkei in den Mittelpunkt gestellt. Die Verhältnisse der beiden jungen Republiken in Bezug auf die zivilen Berater*innen- und Sachverständigenfunktionen werden dabei jedoch kaum behandelt. Vielmehr wurde bisher der Schwerpunkt auf die Militärberatung gelegt, weshalb sich die vorliegende Arbeit speziell auf Zivilberater*innen fokussiert. Das Ziel dieses Aufsatzes ist es daher, den Forschungsstand im Hinblick auf die zivilen Berater*innen- und Sachverständigenfunktionen im Rahmen der deutsch-türkischen Beziehung mithilfe einer Inhaltsanalyse von primären Archivquellen aus dem deutschen Auswärtigen Amt in der Periode von 1924 bis 1936 zu erweitern. In dieser Arbeit muss ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass aus den Originalquellen die vollständigen Namen der deutschen Zivilberater*innen nicht hervorgehen. Infolgedessen sind die erwähnten Namen in diesem Aufsatz teilweise unvollständig. Vor diesem Hintergrund handelt es sich bei dieser Arbeit um folgende zentrale Fragestellungen: Welche Bereiche des türkischen Staatsapparates reorganisierten die deutschen Zivilberater*innen? Wurden den Berater*innen gesonderte Ziele
3 Im behandelten Zeitraum der vorliegenden Arbeit standen auch französische, ungarische und belgische Zivilberater in den türkischen Diensten, die in verschiedenen Bereichen wie z.B. Bildungs- und Landwirtschaftswesen tätig gewesen waren. Unter denen waren aus historischen Gründen vor allem Franzosen zahlenmäßig den deutschen Zivilberatern gegenüber weit überlegen gewesen. Auf diesen Aspekt näher einzugehen und einen Vergleich zwischen den ausländischen Zivilberatern in den türkischen Diensten zu ziehen, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Zu diesem Thema siehe ausführlicher (Gezer Baylı, 2013, Şahin, 1998, Akdağ, 2008, Köçer undEgüz, 2013, Yıldırım, 2012).
Deutsche Zivilberater*innen
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übertragen, die sie während ihrer türkischen Dienstzeit ausüben mussten? Der Versuch, diese Fragen zu beantworten, soll nach folgendem Aufbau geschehen: Zu Beginn dieser Arbeit wird vollständigkeitshalber der geschichtliche Hintergrund der Zivilberater*innen und ihre Stellung im Osmanischen Reich skizziert. In einem zweiten Schrittwird im Anschluss an die Ausführungen zu den Zivilberater*innen im Osmanischen Reich die Neugestaltung der staatlichen Institutionen während der republikanischen Ära analysiert. Hierbei wird insbesondere das Wirken der Zivilberater*innen in verschiedenen administrativen Bereichen, z.B. in Ministerien, beim Zollwesen und in der Vermessungsabteilung sowie im Rahmen der Neuordnung der Infrastrukturen in Istanbul fokussiert, die eine komplette Umstrukturierung des Staatsapparates mit sich brachte. Weiterhin werden die gesonderten Bereiche, Funktionen und Aufgaben der Berater*innendurchleuchtet und hierbei die Frage geklärt, wie die Vermittlungen zwischen den türkischen und deutschen Konsulaten zu Stande kamen. Abschließend werden die dargestellten Sachverhalte resümiert, die in Bezug auf die Forschungsfragen analysiert wurden.
Deutsche Zivilberater*innen im Osmanischen Reich Wie bereits erwähnt, wurden auch im Osmanischen Reich verschiedene Reformversuche in militärisch-zivilen Bereichen unternommen. Sultan Mahmut II. (1808–1839) holte beispielsweise erstmals preußische Offiziere ins Land, die später in der Ära von der Goltz deutliche Spuren in der Armee hinterließen. Obwohl hier nicht näher auf die Militärberater4 eingegangen wird, ist in diesem Rahmen beispielhaft Helmuth Graf von Moltke zu nennen, der in der Zeit von 1835 bis 1839 mit weiteren Offizieren zum Aufbau eines neuen Militärwesens im Osmanischen Reich beitrug (Hühner, 2014: 103–127; Erichsen, 2007). Unter Sultan Abdülhamid II. (1876–1909) wurden die Reformen fortgesetzt. In diesem Kontext holte er 1880 auch zivile und militärische Berater*innen aus Deutschland ins Land (Çolak, 2016: 397–416; Hartmann, 2016: 69–88). Der zwischen Istanbul und Berlin erfolgte intensive Schriftverkehr über die Einberufung von deutschen Zivilberater*innen endete am 14. Juli 1880 schließlich mit der Unterzeichnung eines bilateralen Abkommens über den Einsatz deutscher Militär- und Zivilberater*innen in den türkischen Diensten. Das Abkommen regelte sowohl die Beschäftigungsdauer5 und die 4 Die deutschen Offiziere spielten eine wesentliche Rolle bei der Vermittlung deutscher Rüstungsexporteure, die für Geschütze, Gewehre und Munitionen u.a. die Firmen Krupp und Mauser engagierten. 5 Die Beschäftigungsdauer der Zivilberater betrug drei Jahre. Sie konnten jedoch nach beidseitiger Vereinbarung auf weitere drei Jahre verlängern.
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Gehaltsvergütung6 der Beamt*innen als auch den Anstellungsschutz7 ihrer Tätigkeiten in Deutschland. Somit investierte die osmanische Staatskasse erhebliche Summen in die Berater*innentätigkeiten und verpflichtete sich weiterhin mit den regelmäßigen Gehaltszahlungen (Ortaylı, 1998). Im Vergleich zu den militärischen Berater*innen waren die zivilen Berater*innen jedoch von geringer Bedeutung. Im Rahmen der zivil-administrativen Beratung kamen einerseits die Zollbeamt*innen in die Türkei, um das Zollwesen zu strukturieren. Andererseits waren ab 1890 deutsche Medizinprofessor*innen im Einsatz, um das türkische Medizinwesen zu reformieren. Außerdem ließ die türkische Regierung deutsche Polizist*innen in das Land kommen, um den Polizeiapparat zu strukturieren. Bei der Entsendung der Zivilbeamt*innen ergaben sich jedoch ernsthafte Probleme, denn diese konnten nach ihrer Rückkehr in ihre Heimat nicht an ihre alten Arbeitsplätze zurückkehren, wie es bei den Militärberater*innen der Fall war (Ortaylı, 1998). Dem Zollberater Düffel konnte vom Preußischen Zollamt beispielsweise nur eine minderwertigere Beamtenstelle zugeteilt werden, da dieser mehr als neunzehn Jahre in der Türkei tätig war. Darüber hinaus gründeten die Medizinprofessor*innen im Rahmen ihrer Berater*innentätigkeiten ein Krankenhaus in Haydarpaşa/Istanbul. Trotz dieses Beitrages der deutschen Berater*innen zur Entwicklung des türkischen Medizinwesens diente bis zum Jahr 1930 das französische Medizinwesen als Vorbild in der Türkei. Nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches und der Ausrufung der Türkischen Republik unter Leitung von Mustafa Kemal Atatürk am 29. Oktober 1923 begann eine neue Ära in der Türkei, was eine Welle von verschiedenen Reformbestrebungen sowie Modernisierungsprozessen mit sich brachte (Bursalıoğlu, 1982: 185). Der zwischen Deutschland und der Türkei unterzeichnete Freundschaftsvertrag legte den Grundstein für zahlreiche weitere Verträge (Özgüldür, 1993), so dass sich die bilateralen Beziehungen wieder rasant steigerten. Außerdem bot Deutschland seine Hilfestellung bei der Umstrukturierung des Staatsapparates und somit beim Auf- und Ausbau der Türkei an (Nadolny, 1936: 457). Die Reformen, die sich von der Abschaffung des Sultanats und Kalifats bis hin zur Sprachreform erstreckten, sollten sowohl den wirtschaftlichen Aufschwung des Landes vorantreiben, als auch den Anschluss an den bereits industriell entwickelten Westen gewähren (Moser und Weithmann, 2002). 6 Die Gehaltsvergütung der Beamten betrug jährlich 20.000 Franken. Die Zolldirektoren sollten hingegen 40.000 Franken erhalten. 7 Der Artikel 11 der Vereinbarung beinhaltet, dass bei Übergang in die Osmanischen Dienste sich weder die Anstellung noch der Titel der Zivilberater in Deutschland verändern wird.
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Deutsche Zivilberater*innen in verschiedenen Ministerien der jungen Türkischen Republik Die türkische Nationalversammlung bestimmte am 13. Oktober 1923 die Stadt Angora (Ankara) zum neuen Verwaltungssitz der Türkei (Jäschke, 1936: 460). Daran anschließend legte die neue türkische Verfassung im Jahre 1924 den Weg für ein neues Regierungssystem des Landes frei, welches zur Neugestaltung staatlicher Einrichtungen und Ministerien führte (Özgül, 2015: 61–79). Dieses Vorhaben sollte aufgrund des Expert*innenmangels im Land mit ausländischer Unterstützung vollzogen werden. Insofern wandte sich die türkische Regierung an seinen ehemaligen Bündnispartner Deutschland. Es ist jedoch anzumerken, dass der Abbruch der diplomatischen Beziehungen nach dem Ende des Ersten Weltkrieges zwischen den beiden Ländern nur in formeller Hinsicht vollzogen wurde. Auf inoffiziellem Wege bestanden die bilateralen Beziehungen zwischen den beiden Ländern weiter. So informierte beispielsweise der deutsche Vertreter Walter Holstein in der schwedischen Botschaft in Istanbul seine Regierung ununterbrochen über die Vorgänge in der Türkei (Mangold-Will, 2013: 117). Aufgrund der ehemals engen Beziehungen und der hohen Wertschätzung Deutschlands entschlossen sich die türkischen Diplomat*innen und Minister*innen zur Einstellung deutscher Zivilberater*innen für die Neustrukturierungen in der Türkei, um ihr Land effektiver reformieren zu können. Dieses Vorhaben lässt sich mit den intensiven Beziehungen während des Ersten Weltkrieges begründen. Unter den Großmächten wurde insbesondere Deutschland von der Türkei als einer der ungefährlichen Verbündeten betrachtet. Darüber hinaus genoss Deutschland einen guten Ruf in den Bereichen der Industrialisierung, der militärischen Rüstung und der akademischen Ausbildung, weshalb die Türkei aufgrund der wirtschaftlichen Not und des Mangels an industrieller Infrastruktur und genügend technischer Ausrüstung um die deutsche Hilfe bat (Mangold-Will, 2013: 154). Die türkische Bitte um die Entsendung von Berater*innen wurde in vielen Fällen über den deutschen Botschafter Rudolf Nadolny8 kommuniziert, der die Anfragen an das Deutsche Auswärtige Amt in Berlin übermittelte (Mangold-Will, 2013: 154). In anderen Fällen übergingen die türkischen Minister*innen das Auswärtige Amt und stellten einen direkten Kontakt zu den Anwerber*innen her. Die erste Anfrage an die deutsche Regierung bezweckte die Vermittlung einer/s Spezialistin/en zum Ausbau und der Organisation der Personalabteilung des Innenministeriums9. 8 Nadolny war von 1924–1933 als Deutscher Botschafter in Ankara tätig. 9 PA-AA, R78630, Türkei, Bd. 1, Angora, 29. Februar 1924.
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Wie bereits erwähnt wurde, entwickelten sich die bilateralen Beziehungen der beiden Länder nach dem Abschluss des Freundschaftsvertrages sehr gut. Nichtsdestotrotz unterrichtete der deutsche Botschafter Dr. Hans Freytag das Auswärtige Amt in Berlin bereits am 29. Februar 1924 aus Ankara sowohl über das grundsätzliche Vorhaben der türkischen Regierung, den Staatsapparat umzustrukturieren, als auch über das spezielle Vorhaben, diese Ideen mit Hilfe deutscher Zivilberater*innen zu verwirklichen (ebd.). Zu dieser Zeit befand sich Freytag im Auftrag des deutschen Staatsoberhauptes Friedrich Ebert in Ankara, um Vorbereitungen für den Abschluss des Freundschaftsvertrages zu treffen (Koçak, 2013: 7). Freytag berichtete, dass die türkische Regierung ca. hundert deutsche Fachleute, darunter Jurist*innen und Techniker*innen, zur Reorganisation verschiedener Zweige der Verwaltung rekrutieren wolle und dieses Vorhaben nur noch vom Ministerrat bewilligt werden müsse10. Ein Scheitern der Vermittlung von deutschen Zivilberater*innen hätte zur Folge gehabt, dass sich die türkische Regierung mit anderen Ländern in Verbindung gesetzt hätte (ebd.). Insofern hatte die frühzeitige Meldung an das Auswärtige Amt in Berlin zum Ziel, verschiedene Behörden in Deutschland rechtzeitig zu informieren, um auf die zu ernennenden Berater*innen Einfluss nehmen und internationale Konkurrenz ausschließen zu können. Gleichfalls machte Freytag dem Auswärtigen Amt in Berlin klar, dass den Zivilberater*innen keine Sonderstellungen wie den ehemaligen Militärberater*innen in der osmanischen Ära eingeräumt werden könnte. Ebenfalls sprach er vom spartanischen Geist der neuen Türkei und wies darauf hin, dass sich die Berater*innen in das sich neuformierende Land einordnen müssten. Aus diesem Grund sollten sich die Spezialist*innen nicht nur fachlich, sondern auch psychologisch für die in Frage kommenden Stellen in Ankara eignen (ebd.). Schließlich informierte der türkische Botschafter in Berlin, Kemaleddin Sami Pascha, am 21. November 1924 das Reichsministerium des Inneren offiziell über das Vorhaben seiner Regierung bzw. des türkischen Innenministeriums, zur Neugestaltung der Personalabteilung in Ankara deutsche Zivilberater*innen einzustellen. Ein wichtiges Anforderungskriterium für die einzustellenden Berater*innen waren hierbei unter anderem Französischsprachkenntnisse11. Die Aufgaben der Zivilberater*innen lagen in der Prüfung und Eignung der einzustellenden Beamt*innen in den inneren Verwaltungsdiensten. So sollten sie beispielsweise die Bewerber*innen auf ihre wissenschaftliche Vorbildung und sonstige Eignungen prüfen. Darüber hinaus sollten die Zivilberater*innen eine
1 0 PA-AA, R78630, Türkei, Bd. 1, Angora, 29. Februar 1924. 11 PA-AA, R78630, Türkei, Bd. 1, Berlin, 21. November 1924.
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geeignete systematische Methode zur Anlegung und Führung von Personalakten entwickeln und einführen. Die Berater*innentätigkeiten honorierte die türkische Regierung mit einem Monatsgehalt in Höhe von 800 türkischen Lira (ebd.). Auf diese Anfrage hin schlugen das bayerische Staatsministerium und der Berliner Reichsminister des Inneren Dr. Karl Jarres Max Mühl12, Ministerialrat Schmid13 sowie Dr. Häntzschel14 als Zivilberater für die Türkei vor. Diese Empfehlungen wurden folglich an Kemaleddin Sami Pascha weitergeleitet15. Letzten Endes wurden Mühl und Schmid die Beraterposten in der inneren Verwaltung der Türkei zugeteilt (Türk undÇınar, 2013: 49). Weitere Ministerien und Verwaltungen wie dasPost- und Telegraphenwesen wurden bereits im Dezember 1924 mit vier deutschen Spezialist*innen besetzt16. Zu dieser Zeit berichtete Nadolny aus Istanbul an das Auswärtige Amt in Berlin, dass das türkische Finanzministerium beabsichtigen würde, den amerikanischen
12 11. September 1890 in Speyer geboren, ledig, prot. Konfession und sprach fließend Französisch. Er wurde vom bayerischen Staatsministerium für die Berater*innentätigkeit vorgeschlagen. Mühl arbeitete bereits seit drei Jahren im Dienst der inneren Verwaltung und war für seinen außerordentlichen Fleiß und großer Gewissenhaftigkeit bekannt. Zuvor hatte er 1 ½ Jahre unter den schwierigsten Verhältnissen das Bezirksamt Frankenthal geleitet und dadurch umfassende Erfahrung auf dem Gebiet der Verwaltung gesammelt. 13 Ist am 22. Juli 1869 geboren. Er wies eine langjährige Berufserfahrung vor und war zu dieser Zeit auf Grund der Personal-Abbauverordnung in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Im Jahr 1895 war Schmid als preußischer Regierungsassessor beschäftigt, 1906 als Regierungsrat und 1912 wurde er zum Oberregierungsrat ernannt. Ab 1919 war er als Ministerialrat im Reichsministerium des Inneren beschäftigt. Während seiner preußischen Dienstzeit war er beim Landesratsamt Saarlouis und dem Oberpräsidium in Posen (Preußen) sowie bei der Regierung in Allenstein (Preußen) tätig. 14 Ist am 13. Juli 1889 geboren. Er beherrschte die englische und französische Sprache. Er hatte Rechtswissenschaft und Nationalökonomie studiert und legte außer der juristischen Doktor-Prüfung in Leipzig das Dolmetscherexamen für französisch in Grenoble ab. Als Hilfsarbeiter im Dienst des Auswärtigen Amtes arbeitete er 1 ½ Jahre und ging anschließend als Stellvertretener Handelsberater in die Deutsche Gesandtschaft in Stockholm über. Im Mai 1919 wechselte er zur preußischen inneren Verwaltung im Landratsamt Bublitz als Hilfsarbeiter und war danach im Ministerium des Inneren und beim Oberpräsidium in Magdeburg beschäftigt. Im September 1920 wurde er kommissarischer und nach 1 1/2 Jahren planmäßiger Landrat des Kreises Jerichow II in Genthin. 1922 trat er als Hilfsarbeiter ins Reichsministerium des Inneren über und 1923 als Ministerialrat in die Planstelle. 15 PA-AA, R78630, Türkei, Bd. 1, München, 5. Dezember 1924. 16 PA-AA, R78630, Türkei, Bd. 1, Konstantinopel, 4. Dezember 1924.
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Fachmann Dollaro für die Strukturierung und Neugestaltung des Zollwesens zu rekrutieren (ebd.). Die Bereiche wie Eigentumsrecht, Steuer-, Versicherungs-, Kataster- und Inspektionswesen sollten mit fünf weiteren Fachleuten besetzt werden (siehe Tabelle 1)17. Darüber hinaus stellte das Unterrichtsministerium den ungarischen Archäologen Mesaras ein. Weiterhin beauftragte das Innenministerium, wie aus der Tabelle 1 hervorgeht, insgesamt sechs Zivilberater*innen für das Polizeiwesen, Inspektionswesen, Stadtverwaltung und das Standesamtswesen (ebd.). Das Justizministerium wiederum stellte vier ausländische Berater*innen und eine*n Spezialist*in ein. In verschiedenen Bereichen der Industrie wurden Verhandlungen mit vier Deutschen und zwei Schweizer*innen geführt. Das Eisenbahnwesen wurde mit siebzehn ungarischen, einem russischen und sieben deutschen Ingenieur*innen und Fachleuten besetzt (ebd.). Tabelle 1: Deutsche und ausländische Berater*innen in der türkischen Verwaltung Ministerium Anzahl Herkunftsland Post- und Telegraphenwesen 4 Deutschland Finanzministerium 1 USA Eigentumsrecht; 5 Versicherungswesen; Katasterwesen; Inspektionswesen Unterrichtsministerium 1 Ungarn Landwirtschaftsministerium 11 Ungarn Innenministerium (6)*18
Industrie (6)* Eisenbahnwesen (25)*
3 1 1 1 4 2 17 7 1
Österreich England Italien Belgien Deutsch Schweiz Ungarn Deutschland Russland
Einsatz Spezialisten Zollwesen Fachleute
Archäologie 1 Spezialist für Chemie; 1 Spezialist für Forstwirtschaft, 1 Veterinärwesen Polizeiwesen Inspektionswesen Stadtverwaltung Standesamtswesen versch. Zweige versch. Zweige 17 Ingenieure + Fachleute 7 Ingenieure + Fachleute 1 Ingenieure
Datenquelle: Eigene Darstellung der Autor*innen(Aus dem Archivmaterial PA-AA, R78630, Türkei, Bd. 1, Konstantinopel, 4. Dezember 1924).
1 7 PA-AA, R78630, Türkei, Bd. 1, Konstantinopel, 4. Dezember 1924. 18 *Stellt die Gesamtanzahl der einzustellenden Personen dar.
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Wie aus der Tabelle 1 ersichtlich ist, überwog der ungarische Zivilberater*innenanteil sowohl im Eisenbahn- als auch im Landwirtschaftswesen. Hervorzuheben ist, dass von insgesamt 25 einzustellenden Berater*innen mehr als die Hälfte der Ingenieur*innen und Fachleute im Eisenbahnwesen aus Ungarn stammten. Das Industrieministerium entwickelte Anfang 1925 die Idee über die Gründung einer türkischen Waffenindustrie. Aus diesem Grund bat die türkische Regierung die Firma Junkers darum, dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen. In diesem Rahmen kam es in Berlin zu einem Treffen zwischen dem türkischen Oberst Tevfik, dem deutschen Verteidigungsminister Oberleutnant Liebmann und von Düring als Vertreter des deutschen Industrieverbands (Özgüldür, 1993: 65).Infolgedessen bestätigte Nadolny dem türkischen Ministerpräsidenten Ismet Pascha die Absicht Deutschlands, die Türkei technisch unterstützen zu wollen19. Dazu schickte das deutsche Verteidigungsministerium de Grahl, Klein und Thomas Brown nach Ankara. Zusätzlich wurde Brown die Aufgabe zugeteilt, der deutschen Regierung über die Entwicklungen und Ereignisse in Ankara zu berichten. Darüber hinaus wurden Baron Oppenheim und Major Senftleben zur Produkteinführung und Beratung für die türkische Rüstungsindustrie nach Ankara entsendet (ebd.). Die Dienstdauer der deutschen Sachverständigen betrug drei Monate. Sie sollten in erster Linie Reformvorschläge für die Verwaltungen machen und Gutachten für die Bereiche: allgemeine Finanzlage, Post- und Telegraphenwesen, Eisenbahnen, Pensionskassen, Sparkassenwesen und Städtebau erstellen. Anfänglich ging es der türkischen Regierung hierbei darum, Vorschläge zur Neustrukturierung der Bürokratie zu sammeln. Zusätzlich zu den türkischen Gehaltszahlungen erhielten die Finanz- und Eisenbahnsachverständigen Zuschüsse von der deutschen Reichsbank beziehungsweise Reichsbahngesellschaft20. Dies zeigt die strategische Bedeutung der türkischen Eisenbahn für die deutsche Regierung. In diesem Kontext stellt sich die Frage nach den Gründen für den hohen Anteil an ungarischen Berater*innen im Eisenbahnwesen, die auf Grundlage der uns vorliegenden Quellen jedoch nicht geklärt werden kann. Wie bereits erwähnt konsultierte bereits das Osmanische Reich deutsche Zivilberater*innen zur Zollwesensumstrukturierung, was in der republikanischen Ära systematisch fortgesetzt wurde. Mit dieser Thematik befasst sich das folgende Kapitel ausführlicher.
1 9 PA-AA, R78630, Türkei, Bd. 1, Konstantinopel, 4. Dezember 1924 20 PA-AA, R78630, Türkei, Bd. 1, Berlin, 11. Juni 1930.
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Deutsche Zivilberater*innen im Zollwesen bzw. in der Generalzolldirektion Die Zivilberater*innen im Zollwesen sollten den Ausbau der Generalzolldirektion in Ankara durchführen. Die türkische Regierung benötigte Berater*innen und Beamt*innen, die die zollstatistische Abteilung errichten und leiten sollte. Insofern stellte der Reichsminister der Finanzen dem Auswärtigen Amt in Berlin fünf geeignete Zivilberater*innen für die administrative Tätigkeit vor21. Als Berater*innen für die türkische Generalzolldirektion wurden Oberregierungsrat Erhard Zweck22 und Regierungsrat Edwin Kuntze23 empfohlen. Die Berater*innentätigkeiten wurden sowohl von der türkischen Generalzolldirektion als auch von der deutschen Regierung monatlich mit einem Zuschlag in Höhe von 30 Schweizer Franken honoriert24. Zusätzlich wurden folgende Beamte zur Errichtung und Leitung der zollstatistischen Abteilung an Kemaleddin Sami Pasche empfohlen: Oberregierungsrat Dr. Walther Felcht25, Regierungsrat Dr. Georg Emmer26 und Oberregierungsrat Dr. Paul Hinz27. Wie aus der Tabelle 2 hervorgeht, sollten die Oberregierungsrät*innen für ihre Tätigkeiten monatlich 3.700 Schweizer Franken erhalten28. Verglichen mit den Gehältern der Oberregierungsrät*innen erhielt Regierungsrat Emmer beispielweise ein wesentlich geringeres Gehalt. Bei der Gehaltskalkulation spielten persönliche Faktoren wie
2 1 PA-AA, R78630, Türkei, Bd. 1, Berlin, 23. Februar 1925. 22 Oberregierungsrat Erhard Zweck war im Reichsfinanzministerium in Berlin tätig und konnte erst nach Einarbeitung eines Nachfolgers (circa zwei Monate) in die türkischen Dienste übertreten. Zweck arbeitete bereits 1 ½ Jahre als Zolldirektor in Kamerun und als Zollreferent für die Regierung in Buea (Kamerun). Er sprach portugiesisch, englisch, spanisch sowie französisch. 23 Regierungsrat Edwin Kuntze war im Landesfinanzamt Brandenburg für Zölle und Verbrauchsausgaben beschäftigt. 24 PA-AA, R78630, Türkei, Bd. 1, Berlin, 23. Februar 1925. 25 Oberregierungsrat Dr. Walther Felcht, der im Jahre 1910 in die Zollverwaltung eingetreten war, besaß umfassende Kenntnisse auf dem Gebiet der Zollstatistik. 1919 arbeitete er als Regierungsrat und anschließend als Oberregierungsrat beim statistischen Reichsamt in Berlin. 26 Dr. Georg Emmer, unverheiratet und kinderlos. 27 Er arbeitete 1910 in der Zollverwaltung für indirekte Steuern (Stempel- und Erbschaftssteuern). Im Jahre 1920 wechselte er in die Abteilung für Zölle und Verbrauchsabgaben im Landesfinanzamt Königsberg (PA-AA, R78630, Türkei, Bd. 1, Berlin, 23. Februar 1925). 28 PA-AA, R78630, Türkei, Bd. 1, Berlin, 23. Februar 1925.
Deutsche Zivilberater*innen
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Familienstand, Alter etc. eine wesentliche Rolle. Wie aus der Tabelle 2 zu entnehmen ist, spiegelt sich das bei der Vergütung von George Emmer mit einem monatlichen Gehalt in Höhe von 2.400 Schweizer Franken und einem Zuschuss in Höhe von 30 Schweizer Franken von der deutschen Regierung wieder (ebd.). Emmer sammelte sowohl in der Abteilung für Zölle und Verbrauchsabgaben beim Landesfinanzamt in Düsseldorf als auch während seiner Dienstzeit bei der Deutschen Botschaft in Konstantinopel bzw. Istanbul (Oktober 1916 bis September 1918) Berufserfahrung. Insofern war er der türkischen Umgangssprache mächtig und konnte sich ebenfalls gut auf Englisch und Französisch ausdrücken (ebd.). Obwohl Emmer, Zweck, Kuntze und Dr. Flecht ungefähr je dreizehn Jahre Berufserfahrungen in der Zollverwaltung gesammelt haben, gab es keine genaueren Aussagen über die frühen Tätigkeiten von Kuntze29. Wie aus den Unterlagen weiter hervorgeht, wandten sich die Bewerber an den türkischen Generalzolldirektor Adil Bey, um über die Vergütung zu verhandeln30. Während die Verhandlungen über die Gehälter andauerten, wurde aus dem deutschen Konsulat in Monrovia die Information vermeldet, dass der amerikanische Staatsangehörige de la Rue, der für die Generalzolleinnehmer der Republik Liberia beschäftigt und früher schon einmal für die türkische Regierung tätig war, das Zollwesen in der Türkei neu organisieren sollte. Seine Tätigkeiten sollten laut dem deutschen Konsulat in Monrovia mit einem jährlichen Gehalt in Höhe von 9.000 Dollar vergütet werden31. Diese Spekulationen wurden jedoch von Nadolny entkräftet32. Darüber hinaus wird einerseits durch den Zuschuss der deutschen Regierung und andererseits durch die Spekulationsbefürchtung aus Monrovia deutlich, dass die deutschen Zivilberater im türkischen Zollwesen eine bedeutende Rolle für die deutsche Regierung spielten. Wie aus der Tabelle 2 ersichtlich ist, wurden insgesamt fünf Zivilberater für das türkische Zollwesen vorgeschlagen.
2 9 30 31 32
PA-AA, R78630, Türkei, Bd. 1, Berlin, 17. Februar 1925. PA-AA, R78630, Türkei, Bd. 1, Berlin, Februar 1925. PA-AA, R78630, Türkei, Bd. 1, Konstantinopel, 17. März 1925. PA-AA, R78630, Türkei, Bd. 1, Konstantinopel, 13. April 1925.
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Tabelle 2: Vorgeschlagene Berater für das türkische Zollwesen Berater für die türkische Generalzolldirektion
Oberregierungsrat Erhard Zweck
Berater für die türkische Generalzolldirektion
Regierungsrat Edwin Kuntze
Errichtung und Leitung der Oberregierungsrat zollstatistischen Abteilung Dr. Walther Felcht Errichtung und Leitung der Oberregierungsrat Dr. Paul zollstatistischen Abteilung Hinz Errichtung und Leitung der Regierungsrat Dr. Georg zollstatistischen Abteilung Emmer
Gehalt: 3.700 Schweizer Franken (CHF) + 30 CHF von Deutscher Regierung Gehalt: 3.200 CHF +30 CHF von Deutscher Regierung Gehalt: 3.700 CHF + 30 CHF von Deutscher Regierung Gehalt: 3.700 CHF + 30 CHF von Deutscher Regierung Gehalt: 2.400 CHF + 30 CHF von Deutscher Regierung
Datenquelle: Eigene Darstellung der Autor*innen(Aus dem Archivmaterial PA-AA, R78630, Türkei, Bd. 1, Berlin, 23 Februar 1925).
Verglichen mit der Entlohnung von Oberregierungs- und Regierungsräten bestehen hier Gehaltsdefizite, welche sowohl auf die Betitelung als auch auf weitere Faktoren wie beispielsweise Familienstand zurückzuführen sind.
Deutsche Zivilberater*innen in der Vermessungsabteilung und den Landesaufnahmen in Ankara Die unter der Leitung von Kâzım Pascha geführte Vermessungsabteilung wurde mit drei weiteren Zivilberatern, Dr. Ing. Hermann Lüscher, Zorer und Roethig besetzt. Für die luftfotogrammetrischen Arbeiten der Landesaufnahmen wurden Flugzeuge des deutschen Herstellers Junkers genutzt. In seiner Dienstzeit ließ Lüscher für die terrestrischen Arbeiten Apparate mit einem Auftragswert in Höhe von 20.000 Deutschen Mark bestellen33. Kurz vor dem Ablauf seines Arbeitsvertrages zum 1. Januar 1928, bot ihm Oberregierungsrat von Langendorff eine Festeinstellung in der Heeresvermessungsstelle im Reichswehrministerium mit Pensionsberechtigung an34. Lüscher, Zorer und Roethig schieden aus dem türkischen Dienst aus. Wie aus der Tabelle 3 zu entnehmen ist, wurden 3 3 PA-AA, R78630, Türkei, Bd. 1, Konstantinopel, 10. April 1928. 34 PA-AA, R78630, Türkei, Bd. 1, Therapia, 4. Oktober 1927.
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vier Bewerber als Berater für die Vermessungsabteilung vorgeschlagen. Dadurch sollte ein reibungsloser Ablauf gewährt und das Aufkommen von Konkurrenzen ausgeschlossen werden35. Tabelle 3: Vorgeschlagene Zivilberater für die Vermessungsabteilung Name des Bewerbers Obersleutnant Albrecht Spiess Heilmaier Manck Von Orell
Bisheriger Arbeitsplatz Hauptbildstelle des Reichswehrministeriums. Photogrammetrie GmbH in München Militärgeographischen Institution Madrid Zeiss-Werken in Jena
Staatsangehörigkeit Besitzt die Deutsche Staatsangehörigkeit Besitzt die Deutsche Staatsangehörigkeit Besitzt nicht die Deutsche Staatsangehörigkeit Besitzt nicht die Deutsche Staatsangehörigkeit
Datenquelle: Eigene Darstellung der Autor*innen(Aus dem Archivmaterial PA-AA, R78630, Türkei, Bd. 1, Konstantinopel, 29. November 1927).
Obwohl drei Zivilberater aus dem türkischen Vermessungswesen ausschieden und Lüscher bereits eine feste Stelle in Deutschland besaß, sind die Gründe des Ausscheidens von Zorer und Roethig nicht bekannt. Hervorzuheben ist, dass die vier vorgeschlagenen Zivilberater für das Vermessungswesen eine Unterbrechung der Arbeiten verhindern sollten. Es ist anzumerken, dass zwei von den Bewerbern nicht die deutsche Reichsangehörigkeit besaßen und auch keine weiteren Angaben über ihrer Staatsangehörigkeit gemacht wurden (vgl. Tabelle 3).
Deutsche Zivilberater*innen bei den Infrastrukturen der Stadt Istanbul (Kanalisation und Feuerwehr) Die Neugestaltung der Infrastrukturen in Istanbul wurde im Jahre 1932 (z.B. die Kanalisationsprojekte und das Feuerwehrwesen der Stadtgebiete Pera und Galata) mit deutschen Berater*innen ausgeführt. Bereits 1927 engagierte die Stadt Istanbul die Firma Wayss & Freytag A.G für ein Kanalisationsprojekt, dessen Bauzeit auf 10 Jahre festgelegt wurde. Die Kosten des Projekts beliefen sich auf etwa 7,5 Millionen türkische Lira36. Für die Ausarbeitung des Kanalisationsprojektes im Jahre 1927 beauftragte die Firma den Berliner Oberbaurat Hans 3 5 PA-AA, R78630, Türkei, Bd. 1, Konstantinopel, 29. November 1927. 36 PA-AA, R78630, Türkei, Bd. 1, Istanbul, 8. Juni 1932.
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Wild, der durch die Errichtung der Schöneberger Stadtkanalisation bekannt wurde. Aus diesem Grund setzte sich die Stadtpräfektur von Pera und Galata direkt mit Oberbaurat Wild in Verbindung. Darüber hinaus erhoffte sich das deutsche Generalkonsulat in Istanbul, dass mit der Einstellung des Oberbaurates Wild auch der Ausbau der Kanalisationsarbeiten von einer deutschen Firma ausgeführt werden könnte. Außerdem benötigte die Istanbuler Stadtverwaltung für die Restrukturierung des Feuerwehrwesens ausländische Branddirektor*innen und Feuerwehrsachverständige37. Zu diesem Zweck wurde ein neues Budget in Höhe von 5.000 türkischen Lira zur Verfügung gestellt. Die türkische Botschaft in Berlin und die in den anderen europäischen Hauptstädten wurden mit der Suche einer/s geeigneten Zivilberaterin/s beauftragt. Zwei wesentliche Faktoren spielten bei der Auftragsvergabe eine Rolle. Für die Stelle sollten die Bewerber*innen sowohl die besten fachlichen Voraussetzungen erfüllen als auch die geringsten materiellen Ansprüche stellen (ebd.).Das deutsche Auswärtige Amt in Berlin leitete die Meldung an die Arbeitsgemeinschaft für Auslands- und Kolonialtechnik (Akotech) weiter. Infolgedessen setzte Marinebaurat Röflich von der Akotech den Legationsrat Schmidt-Rolke vom Auswärtigen Amt in Berlin über die in Frage kommenden Bewerber*innen in Kenntnis38. Auf Veranlassung des Reichsvereins Deutscher Feuerwehringenieure bewarb sich der Baurat und Branddirektor Bauer aus Ludwigshafen für die Feuerwehrsachverständigenstelle. Der Sachverständige wurde für die Dauer von zwei Monaten für einen Diensteinsatz in der Türkei beauftragt, um ein Gutachten zur Reorganisation des Feuerwehrwesens zu erstellen. Demzufolge sollte in Form eines ausführlichen Berichtes die Feuerwehreinrichtung überprüft und Verbesserungsvorschläge zusammengestellt werden. Bei der Vermittlung von Bauer bat Röflich das Generalkonsulat in Istanbul um Unterstützung. Die Förderung des Bewerbers sollte dahingehend bewirken, dass die deutsche Feuerlöschgeräteindustrie von dieser Beauftragung profitieren könnte39. Ein weiterer Bewerbervorschlag an das Auswärtige Amt in Berlin wurde vom Oberbürgermeister der Landeshauptstadt Dresden vermittelt, der den sachverständigen Branddirektor der Stadt Dresden, Ortloph, für diese Tätigkeit für die Dauer von zwei Monaten beurlauben konnte40. 37 PA-AA, R78630, Türkei, Bd. 1, Istanbul, 3. August 1932. PA-AA, R78630, Türkei, Bd. 1, Berlin, 17. August 1932. 38 PA-AA, R78630, Türkei, Bd. 1, Berlin, 24.August 1932. 39 PA-AA, R78630, Türkei, Bd. 1, Berlin, 1. September 1932. 40 PA-AA, R78630, Türkei, Bd. 1, Dresden, 7. September 1932. Der Branddirektor Ortloph war 51 Jahre alt und gehörte seit fast 23 Jahren der Dresdner Berufsfeuerwehr an. Nach
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Resümee Die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit war es in erster Linie, den Forschungsstand im Hinblick auf die zivilen Berater*innen und Sachverständigenfunktionen während der frührepublikanischen Ära in der Türkei im Rahmen der deutsch-türkischen Beziehungen zu erweitern. Die vorliegende Untersuchung soll hierbei Aufschluss darüber geben, in welchem Rahmen die deutschen Zivilberater*innen bei der Umstrukturierung des Staatsapparates der jungen Türkischen Republik von 1924 bis 1936 in verschiedenen Sektoren der staatlichen Institutionen bzw. unterschiedlichen Bereichen der Ministerien und Verwaltungen tätig waren, die z.B. das Zoll-, Vermessungs-, Post-, Telegraphen-, Industrie-, Eisenbahn-, Vermessungswesen umfassen und wie die Vermittlungen dieser Tätigkeiten zustande kamen. Es ist anzumerken, dass es nach dem Abschluss des Freundschaftsvertrages zwischen den beiden Ländern von 1924 hierbei in erster Linie um die Stabilisierung der bilateralen Beziehungen ging, was gerade durch den Prozess der ersten Annäherungen im Hinblick auf die Vermittlung von Zivilberater*innen und Sachverständigen offensichtlich wurde. Die für die deutsche Regierung außenund wirtschaftspolitische Bedeutung der Einstellung von deutschen Zivilberater*innen in der Türkei verdeutlicht sich unter anderem durch die Zahlung von Zuschüssen zum Gehalt der Zivilberater*innen seitens Deutschland und durch den Schriftverkehr zwischen dem Auswärtigen Amt in Berlin und der deutschen Botschaft in Istanbul, aus dem die Bestrebungen hervorgehen, die ausländische Konkurrenz zu verdrängen. Zusammenfassend lassen sich folgende Ergebnisse feststellen: Die türkische Regierung betrachtete die Zivilberater*innen in erster Linie als Wegweiser für neue Ideen einer zur transformativen Umstrukturierung und der damit Abschluss seines Studiums arbeitete er drei Jahre im Konstruktionsbüro der Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg als Betriebsleiter. Praxiserfahrung im Feuerlöschwesen sammelte er in Frankfurt, Lübeck, Hamburg und Berlin. Seit 1910 arbeitete er bei der Dresdner Berufsfeuerwehr, wo er 1923die Leitung übernahm. Orthlop besaß bereits in Sachen Reorganisation von Feuerlösch- und Rettungswesen Erfahrung, die er bei der Dresdner Feuerwehr in allen seinen Teilen durchführte. Seine Aufgaben bezogen sich sowohl auf die Verwaltung des Feuerwehr- und Feuerpolizeiamtes, als auch auf eine einheitliche Neugliederung und Ausrüstung des gesamten Feuerlöschwesens der Dresdner Stadt einschließlich der Automobilisierung des Fahrzeugparks. Darüber hinaus gestaltete er zuvor den Rettungsdienst, durch Einführung neuartiger Pionierfahrzeuge und Feuerlöschboote und baute die städtischen Kranken- und Unfallbeförderungswesen und die öffentlichen städtischen Sanitätswachen aus.
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verbundenen strukturellen und logistischen Weiterentwicklung der türkischen Verwaltungen und Ministerien. Hierbei wurden einige Zivilberater*innen für einen kurzen Zeitraum zur Erstellung von Gutachten in die türkischen Dienste aufgenommen. Andere deutsche Expert*innen waren wiederum für eine längere Zeit als Instrukteur*innen in türkischen Diensten tätig. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit konnte jedoch nicht das Wesentliche geklärt werden, welche Ideen und Erneuerungen der deutschen Zivilberater*innen letzten Endes in die Reorganisation des Staatsapparates eingearbeitet wurden.
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Deutsch-Türkische Beziehungen im militärischen Bereich (1945–2018) Einleitung Im Zuge der Modernisierung der osmanischen Streitkräfte bevorzugte die “Hohe Pforte”, also die osmanische Regierung in Istanbul, den Erwerb moderner Waffensysteme aus den drei europäischen Staaten: Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Während für die Osmanische Flotte die Kriegsschiffe aus England bezogen wurden, rivalierten die Franzosen und Deutschen beim Verkauf von Kriegsgeräten für das osmanische Heer. Zunehmend setzten sich deutsche Waffenhersteller gegenüber den Franzosen um die Gunst der Türken durch und es begann eine neue Partnerschaft, die in der sog. “Waffenbruderschaft” im Ersten Weltkrieg mündete (Grant, 2002: 11). In der Zeit der Weimarer Republik waren die bilateralen außenpolitischen wie militärischen Beziehungen nicht von intensiver Natur. Doch schon zu Beginn der Zeit des Nationalsozialismus wurden auf militärischer Ebene wieder intensive Beziehungen zwischen Berlin und Ankara gepflegt: Es gab eine Kooperation hinsichtlich der Ausbildung türkischer Soldaten und Deutschland stieg zur primären Quelle des Landes für diverse Waffensysteme an. Dabei unterstützten deutsche Firmen den Aufbau der türkischen Waffenindustrie. Auch während des Zweiten Weltkrieges bemühte sich Deutschland um den Verkauf seiner Waffen gegen Chrome an die junge türkische Republik, um diese an seiner Seite in den Krieg zu ziehen oder zumindest ihre Neutralität zu gewährleisten (Avcı, 2016). Im Sommer 1942 bewilligte Berlin der türkischen Regierung in Ankara ein Kreditvolumen von 100 Millionen Reichsmark, um den Kauf von deutschem Kriegsgerät zu ermöglichen (Deringil, 2011: 176). Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Teilung Deutschlands ruhten die deutsch-türkischen militärischen Beziehungen kurzzeitig. Ab Mitte der fünfziger Jahre gab es erneut entsprechende Abkommen über die Lieferung von Munition und Kriegsgeräte. Der Schwerpunkt des Waffentransfers im “Kalten Krieg” lag auf Systemen, die sich in den Rahmen des
* Prof. Dr., Nevşehir Hacı Bektaş Veli Universität, Fakultät für Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften, Fachbereich für Internationale Beziehungen, E-Mail: m-oecal@ gmx.de
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NATO-Auftrages einpassen ließen. Türkische Offiziere wurden an der Bundeswehrakademie in Hamburg und der Kampftruppenschule Münsterlager (Panzer) ausgebildet. Diese Arbeit widmet sich den bilateralen Militärbeziehungen zwischen Deutschland und der Türkei im Zeitraum von 1945 bis 2018. Dabei soll der Versuch unternommen werden, die Kooperation zwischen Bonn/Berlin und Ankara möglichst chronologisch zu analysieren. Man muss darauf hinweisen, dass die deutsch-türkischen Militärbeziehungen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bis in die Gegenwart wissenschaftlich kaum analysiert wurden. Während der Zeitraum von 1871 bis 1945 hinsichtlich der deutsch-türkischen Militärbeziehungen durch einige wissenschaftliche Forschungsarbeiten (Türk, 2007, 2015 und 2017) weitgehend gedeckt wurde, so trifft dies nicht für die Zeit ab 1945 zu. Es gibt allerdings in der gängigen Literatur einige Periodika über die deutsch-türkischen Militärbeziehungen für die Nachkriegsära. Das deutsche Bundesarchiv bietet dabei einige Primärquellen zum deutsch-türkischen Wirtschafts- und Militärverhältnis an (www.bundesarchiv.de). Deshalb ist diese Arbeit ein bescheidener Versuch, die deutsch-türkischen Beziehungen im militärischen Bereich nach 1945 skizzenhaft nachzuzeichnen.
Beginn der Zusammenarbeit Die militärische Kooperation zwischen der Türkei und (West)-Deutschland ging nach einem zeitweiligen Stillstand nach 1945 weiter. Nach dem Eintritt der Türkei in die NATO 1952 befürwortete Ankara Bonns Aspirationen, ein Mitglied der Nordatlantischen Allianz zu werden (Esen, 2012: 64–65). Zudem unterstüzte das Land am Bosporus die sog. “Hallstein-Doktrin”1 der Bundesrepublik zur außenpolitischen Isolierung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Mit dem Eintritt West-Deutschlands in die NATO 1955 kamen zu den gut verlaufenden politischen und wirtschaftlichen Beziehungen auch die militärischen hinzu. Ein Jahr zuvor besuchte der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer
1 Die “Hallstein-Doktrin” war eine außenpolitische Doktrin West-Deutschlands zwischen 1955 und 1969 gegenüber der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Diese besagte, dass die Anerkennung bzw. Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur DDR als ein “unfreundlicher Akt” gegenüber der Bundesrepublik Deutschland betrachtet werde. Diese Doktrin hatte das Ziel, die DDR außenpolitisch zu isolieren. Etwaige Sanktionen Bonns gegen den Verstoß dieses Ziels waren zwar nicht festgelegt, reichten aber von wirtschaftlichen Sanktionen bis zum völligen Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit den betreffenden Staaten.
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die Türkei. Der Besuch fand zwischen dem 18. und 26. März 1954 in einer guten Atmosphäre statt; es wurden die Rahmenbedingungen für die Weiterentwicklung bilateraler Beziehungen erörtert und einige Abkommen geschlossen. Zwei Jahre später, am 29. August 1956, wurde ein deutsch-türkischer Vertrag über die Munitionslieferung zwischen beiden Ländern abgeschlossen. Dieser sah jährliche Kriegsmateriallieferungen der Türkei von 1956 bis 1959 mit einem Gesamtvolumen von 760 Millionen DM vor, die in entsprechenden Jahresraten aus Etatmitteln des deutschen Verteidigungsministeriums beglichen werden sollten (Bundesregierung, 178. Kabinettssitzung, 4. April 1957). Irritiert durch die Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes 1956 hielt es die Bundesregierung für dringend erforderlich, Griechenland und der Türkei eine wirtschaftliche Unterstützung zu gewähren, um diese Staaten gegenüber der “kommunistischen Gefahr” zu stärken (92. Bundeskabinettssitzung, 1958, 18. Juni). Dabei dachte Bonn auch an eine militärische Zusammenarbeit mit Ankara, die aber erst zur Mitte der Sechziger Jahre ein konkretes Ergebnis bringen sollte.
1960er: Aufnahme intensiver militärischer Zusammenarbeit Da eine moderne Verteidigungsindustrie im Lande noch in Kinderschuhen steckte, bestand die fundamentale Beschaffungsstrategie der Türkischen Republik in dieser Dekade darin, eine externe Militärhilfe innerhalb der NATO in Anspruch zu nehmen. Die wichtigsten Partner hierfür waren die USA und erst nach 1964 die Bundesrepublik Deutschland. Mit dem von Washington ins Leben gerufenen sog. “Foreign Military Sales” (FMS) Programm wollten die USA vor allem die NATO-Staaten unterstützen, die sich moderne und teure Waffensysteme nicht leisten konnten. Dadurch war es den USA auch möglich, diese Länder politisch, wirtschaftlich und militärisch zu dominieren. Innerhalb der Allianz waren es nur zwei Staaten, nämlich die USA und die BRD, welche diese Militärhilfe in Form von Geld und Material den Mitgliedsländern in einem regulären Programm zukommen ließen. So begann das westdeutsche Militärhilfsprogramm für die Türkei 1964 mit 50 Millionen D-Mark, stieg auf 100 Millionen D-Mark im Jahre 1969 und wurde 1979 auf 130 Millionen D-Mark aufgestockt (Öztürk, 1987: 35–37). So belebte Deutschland in den sechziger Jahren die Idee der alten “Waffenbrüderschaft” aus der Zeit des Ersten Weltkrieges wieder. Nach dem Beschluss der NATO aus dem Jahr 1964, unentgeltlich Verteidigungshilfe an die Türkei zu leisten, nahm die Bundesrepublik noch im gleichen Jahr die Waffenlieferungen auf. Im Mai 1964 (Ludwig Erhard war seit 1963 Bundeskanzler) schlossen beide Staaten ein Abkommen über die militärische Zusammenarbeit ab.
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Bonn sagte Ankara eine Ausrüstungshilfe von 50 Millionen DM zu. Dagegen bekam Griechenland 68 Millionen DM. Dieser Betrag wurde “nicht in Geld, sondern in Material, z.B. in 6 Jaguar-Schnellbooten und 1 Tender geliefert.” (…) “Soweit es sich um Schiffe handelte, waren sie auf deutschen Werften zu bauen (1967–1969 geliefert)” (170. Bundeskabinettssitzung, 1965, 30. Juni). Kooperiert wurde im Rahmen der NATO auch hinsichtlich des Flugtrainings von deutschen Luftwaffenpiloten in der Türkei. Im Herbst 1958 wurden einige Luftwaffenstaffeln zur Waffenausbildung nach Bandırma (Balıkesir) und nach Erhaç (Malatya) in die Türkei verlegt. So übten deutsche Kampfpiloten gemeinsam mit ihren türkischen Kollegen für den Ernstfall. Ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre überließ West-Deutschland der Türkei im Rahmen der NATO-Militärhilfe 107 gebrauchte F-84F Thunderstreak Kampfflugzeuge aus US-amerikanischer Produktion (Flugrevue, 12.12.2018). Desweiteren wurde dem türkischen Waffenhersteller “Makine ve Kimya Endüstrisi Kurumu” (MKEK) 1968 die Lizenz erteilt, deutsche G3 und MG3 Sturmgewehre zu bauen (Habertürk, 25.07.2012). In dieser Dekade ist eine insgesamt intensivere Kooperation zwischen Bonn und Ankara in wirtschaftlicher, politischer aber vor allem auch militärischer Hinsicht zu beobachten. Vor allem der rüstungspolitischen Zusammenarbeit wurde in der ersten Hälfte der Sechziger Jahre durch Verträge eine rechtliche Grundlage gegeben. Die im Zuge des Kalten Krieges erfolgten Ereignisse wie der U-2-Vorfall und die Kuba-Krise und die damit einhergehenden politischen Alleingänge Washingtons gegenüber Moskau ohne Konsultation ihrer europäischen Verbündeten, haben sowohl in Ankara als auch in Bonn die Frage nach der Verlässlichkeit der USA aufgeworfen. Diese Frage sollte sich die Türkei in den Siebzigern noch mehrmals stellen.
1970er: Zunahme von Konflikten – Aufbau heimischer Rüstungsindustrie Bedingt durch die kriegerischen Handlungen in ihrem unmittelbaren Umfeld wie die Entwicklungen im (Nord)-Irak, der arabisch-israelische Oktober-Krieg (1973) und nicht zuletzt die Zypern-Krise begann die Türkei eine Modernisierungsphase ihrer Streitkräfte. Gleichzeitig wurde der Aufbau einer nationalen Rüstungsindustrie mit starker deutscher Unterstützung vorangetrieben. Nachdem Ankara 1974 aufgrund eines zypriotisch-griechischen Militärputsches auf Zypern intervenierte und daraus resultierend Washington über eine längere Zeit ein Waffenembargo gegen das Land verhängte, bemühte sich die Türkei zunehmend, die Abhängigkeit von auswärtigen Waffenlieferanten zu minimieren.
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Denn Ankara musste zu dieser Zeit mangels einer einheimischen Rüstungsindustrie die meisten Waffensysteme aus dem Ausland importieren, vor allem aber aus den USA. Deshalb verlagerte die türkische Regierung ihre Bestellungen für die Rüstungsgüter auf Europa und vor allem auf die BRD. Infolgedessen setzte die Türkei bei ihren Bemühungen um den Aufbau einer eigenständigen Rüstungsindustrie überwiegend auf deutsche Waffenschmiede (Klein, 18.11.1999). Bis 1975 bestellte Ankara neue Waffensysteme für über 3 Milliarden DM im Ausland (Bürgel, 1991: 373). So kaufte die Türkei 1971 20 Transportflugzeuge des Typs Transall C-160D aus Deutschland. Die Maschinen sind immer noch beim 221 Geschwader in Kayseri im Einsatz (Westerwelle, 1991: 48). Auch die bei Auftritten der Turkish Stars mitfliegende rot-weiß lackierte Transall gehört ebenfalls dem 221 Geschwader an. Des Weiteren bezog die Türkei aus West-Deutschland in unterschiedlichen Perioden Leopard-Kampfpanzer, Schützenpanzer, U-Boote, weitere Kriegsschiffe, gepanzerte Mannschaftstransportwagen, Marinehubschrauber, diverse Kampfflugzeuge wie F-104G und F-4 sowie Überschussmaterial der Bundeswehr im Rahmen der “NATOMilitärhilfe”.
1980er: Im Schatten des Kalten Krieges und des Coup d’Etat Mit dem Wiederbeleben des Kalten Krieges zu Beginn der Achtziger Jahre wurde die Rüstungskooperation zwischen beiden Ländern intensiviert und wie im Falle der deutschen Korvetten (MEKO 200) und U-Boote (U-209) zum großen Teil auch in der Türkei gefertigt. Ab Mitte der Achtziger Jahre ging die Türkei zu verstärkter Lizenz- und Eigenproduktion über. Wie nachfolgend aufgeführt, investierten nahmhafte deutsche Rüstungskonzerne verstärkt in der Türkei, vergaben Lizenzen, bauten eigene Produktionsstätten und gründeten Tochtergesellschaften: • Von der deutschen Lürssen-Werft erhielt die Türkei die Lizenz zum Bau von Schnellbooten; • Von militärischer Bedeutung ist auch die Produktion von Unimog-Geländewagen (Aksaray) und die Herstellung des LKWs bei der Firma Daimler Benz in der Türkei. • Die deutschen Firmen wie HDW, IKL, Thyssen Rheinstahl und Blohm & Voss produzieren seit Jahren auf der Werft in Gölcük Jagdboote. • Die deutschen Konzerne Abeking-Rasmussen und Friedrich Lürssen produzieren ebenfalls in Gölcük Kriegsschiffe. Die Motoren und Turbinen Union (MTU) gründete in Arifiye bei Adapazarı eine Panzermotorenfabrik mit ihrer Lizenz.
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• Die Tochtergesellschaft der MTU in Istanbul, die “Motor ve Türbin Sanayi ve Ticaret L.Ş.”, ist mit Wartungs- und Reparaturarbeiten beauftragt, und führt im Auftrag der türkischen Armee den Einbau von Dieselmotoren in die deutschen Leopard I Panzer durch. • Der Krupp-Konzern baute 1984 in Arifiye einen Panzerpaletten- und Panzerreparaturbetrieb, der auch Lizenzen von Zeiss und GLS besitzt. • Der Daimler-Benz-Konzern hat in Niğde unter dem Namen „Otomarsan“ einen Betrieb zur Herstellung von Militärfahrzeugen gebaut. • Peine Salzgitter hat an die Hema Holding eine Lizenz erteilt. Die ehemals Messerschmitt-Bölkow-Blohm (MBB) GmbH unterhält in Kayseri einen lizensierten Panzermodernisierungsbetrieb. Lizenzgeber sind auch MAN und Krauss Maffei. • Die MKEK produziert seit Jahren G-3 und MG-3 Gewehre mit Lizenz von Heckler&Koch. • Die türkische Firma Roketsan A.Ş. arbeitet mit Lizenz von Dornier, Deutz Otokar Karosserie A.Ş. mit Lizenz von Rohde-Schwarz, und MKAS mit Lizenz von Arkoni Kommunikation. • Die Bundeswehrführungsakademie in Hamburg führt Fortbildungslehrgänge für türkische Offiziere durch. • Die Spezialeinheiten der türkischen Armee wurden seit 1986 in der BRD von der Grenzschutzgruppe 9 ausgebildet (Schmid und Schreer,1995: 4). Außerdem wurden zahlreiche überschüssige Kampfflugzeuge der Bundeswehr aus US- amerikanischer Produktion (F-104G und F-4) an die türkische Luftwaffe übergeben.
1990er: Ende KK-NVA-Material & Menschenrechte Der Wegfall des “Eisernen Vorhangs” und die Auflösung der Sowjetunion hatte zunächst die strategische Bedeutung der Türkei sinken lassen. Sogar die USA begannen ihre Militärhilfen und sonstigen Zahlungen zu reduzieren. Folglich wurde in Ankara befürchtet, dass das Land seine bisherige “klassische Rolle” als Schutzmacht der Südflanke der NATO verliert. Allerdings haben die unerwarteten und tragischen Entwicklungen auf dem Balkan, im Nahen Osten und in der ehemaligen Sowjetunion die Bedeutung der Türkei in der neuen Weltordnung eher verstärkt als geschwächt. Sie wurde als eine aufsteigende Regionalmacht aufgewertet und dadurch erneut in den Blickpunkt der Weltöffentlichkeit gerückt (Yılmaz, 1993). Auch der Golfkrieg von 1991 führte die explosive und instabile Natur des Nahen Ostens wieder deutlich vor Augen. In
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dieser Kuwaitkrise entsandte Deutschland eine Staffel Kampfflugzeuge des Typs Alpha-Jet, Rettungshubschrauber und ABC-Spürpanzer Fuchs im Rahmen der “Operation Ace Guard” in den türkischen Luftwaffenstützpunkt Erhaç/Malatya als NATO-Hilfe gegen Saddam Husseins Irak2. Diese Flugzeuge hatten jedoch eher symbolische Bedeutung, denn aufgrund ihrer unzureichenden Reichweite waren sie kaum geeignet, die südliche Grenze der Türkei gegen Saddams Armee zu schützen. Nach der Wiedervereinigung überließ die Bundeswehr das aus der Nationalen Volksarmee (NVA) übernommene Rüstungsmaterial der Türkei. Die Bundesregierung hat im Herbst 1991 und im Frühjahr 1992 etwa Schützenpanzer und andere Waffen aus NVA-Beständen (Bundestag Drucksache 12/8458: 6) allerdings mit dem Vorbehalt an die Türkei geliefert, dass diese einzig zur Landesverteidigung und nicht gegen die “kurdische Bevölkerung” im eigenen Land eingesetzt werden dürften. Dies schloss auch den Kampf gegen die PKK mit ein. Der Einsatz der BTR-60 Schützenpanzer im Südosten der Türkei gegen die PKK führte zu heftigen innenpolitischen Debatten in Deutschland, was die Türkei dazu veranlasste, 1993 aus der Russischen Föderation u.a. auch 30 BTR-60 Schützenpanzer zu erwerben. So war das Land am Bosporus das erste NATO-Land, das Waffen aus Moskau bezogen hat (Şimşek-Özkan, 2019: 615–616). In der Folge verhängte Deutschland zeitweilig ein Waffenembargo gegen die Türkei. Im Rahmen der Kohlschen “Scheckbuch-Diplomatie” hatte der damalige Bundeskanzler Kohl dem türkischen Staatspräsidenten Turgut Özal während des Golfkriegs zugesagt, u.a. 100 Kampfpanzer vom Typ “Leopard I”, 300 Schützenpanzer BRT-60, 187 gepanzerte Mannschaftstransportwagen und 30 “Phantom”-Flugzeuge zu liefern (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.04.1994: 5). Im Rahmen der Materialhilfe erhielt die Türkei bis zum 18. August 1994 Rüstungsgüter
2 Eine unmittelbare Teilnahme an den Operationen gegen Kuwait lehnte die Bundesregierung aus völkerrechtlichen und innenpolitischen Gründen ab, übernahm allerdings einen großen Anteil der mit dem militärischen Vorgehen verbundenen Kosten. Als die Türkei im Dezember 1990 bei der NATO den Schutz ihrer Grenzen beantragte, erklärte sich Deutschland dennoch zu einem Einsatz bereit. Von Januar 1991 bis Mitte April 1991 waren Einheiten der Luftwaffe – dazu 18 Alpha Jets aus Oldenburg sowie Roland und Hawk Flugabwehrraktetengruppe und Flugabwehrraketengeschwader – in der Türkei stationiert. Die Stationierung der Alpha Jets erfolgte im Rahmen der Allied Mobile Force (AMF), die FlaRak-Einheiten firmierten eigenständig unter der Operation Ace Guard. Die AMF war eine schnelle Eingreiftruppe der NATO. Das Ziel war, den Schutz der Bündnisgrenzen an den Flanken – vor allem in Skandinavien, Griechenland und der Türkei – durch Einheiten der zentral gelegenen Staaten zu gewährleisten (www.geschichte.luftwaffe.de).
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im Wert von insgesamt 1,5 Mrd. DM und weitere Materialien im Wert von ca. 1,272 Mrd. DM (Bundestag Drucksache 12/8458, 7.9.1994). Die deutsch-türkische Kooperation im militärischen Bereich ging/geht auch auf dem Balkan weiter. Die Streitkräfte beider Länder arbeite(te)n nach 1996 in Bosnien-Herzegowina und nach 1999 in Kosovo, um Frieden in dieser instabilen Region zu stiften und für eine Normalisierung in diesen Staaten zu sorgen. Obwohl zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Militärbeziehungen zwischen beiden Ländern konstruktiv und vielfältig waren, mündeten diese ab 2010 eher in eine konfliktgeladenen Zusammenarbeit.
Seit 2000: vielfältige und spannungsvolle Kooperation Als Ersatz für die C-130 Hercules und C-160 D Transall Transportflugzeuge führt die türkische Luftwaffe (Türk Hava Kuvvetleri) ebenfalls Airbus A-400 M ein. Das Projekt des strategischen Transportflugzeugs begann im Jahre 1985 und die Auslieferung des ersten A-400 M für die Türkei fand im April 2014 statt. Bis Mitte 2018 bekam Ankara das sechste Exemplar der A-400 M Transportflugzeuge, von denen man insgesamt 10 Stück bestellte (Hürriyet, 22.06.2018). 2005 hatte Deutschland den Verkauf von 354 Leopard-2 Panzern an die Türkei genehmigt. Aufgrund der anhaltenden Brisanz der deutsch-türkischen Kooperation im militärisch-technischen Bereich wird auf dieses Thema unten näher eingegangen. Nachfolgend werden drei Themen der militärischen Zusammenarbeit wie die Patriot-Krise, der Konflikt um den Luftwaffenstützpunkt İncirlik sowie die Debatte um die Leopard-Panzer kurz skizziert.
Krise um Patriot-Luftabwehrraketen Der im Zuge des “Arabischen Frühlings” entstandene Krieg in Syrien offenbarte Ankara erneut die Dringlichkeit der Schaffung eines modernen Luftabwehrsystems, welches sich die Türkei seit Jahren von den westlichen Ländern zu beziehen bemühte. Die Hinhalte-Taktik der USA und die damit einhergehende Frustration Ankaras mündete in der Suche nach anderen Anbietern wie China und Russland. Unterdessen blieb das Land am Bosporus abhängig von westlichen NATO-Partnern. Ab 2013 stationierten die Niederlande, Deutschland und die USA sukzessive für einen bestimmten Zeitraum Patriot-Luftabwehrsysteme in der Türkei, um das Land vor eventuellen Angriffen aus Syrien zu schützen. In diesem Kontext wurden zwischen Januar 2013 und Januar 2016 im Rahmen der NATO-Operation “Active Fence Turkey” Bundeswehr-PatriotLuftabwehrraketen mit 250 Soldaten in der Türkei stationiert (Seibert, 2015).
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Diese wurden zum 31. Dezember 2015 aus dem Land abgezogen. Auch die USA zogen ihre Patriot-Batterien im Oktober 2015 aus der Türkei ab. Diese Schritte der Verbündeten kamen sowohl für die türkische Regierung als auch für die Öffentlichkeit des Landes einem Schock gleich. Die bisherige Solidarität durch die Luftabwehrraketen der NATO hatte für Ankara eine große symbolische Bedeutung. Das Land fühlte sich allein gelassen. Der eigentliche Grund für den Abzug der Raketen von den westlichen Ländern war die Verärgerung des Westens über die türkischen Angriffe gegen die PKK. Mit dem Abzug von “Patriot-Raketen” wollte man eigentlich Ankara wegen seines unabhängigen Handelns bestrafen. So taumelten die gespannten deutsch-türkischen Militärbeziehungen u.a. von der “Patriot-Krise” zum Konflikt um den Luftwaffenstützpunkt İncirlik.
İncirlik-Konflikt Im Kampf gegen die Terrormiliz Daesh beteiligte sich mit Tornado Aufklärungsflugzeugen seit dem Januar 2016 auch die auf dem türkischen Luftwaffenstützpunkt İncirlik stationierte deutsche Luftwaffe. Die Bundeswehr plante die Stationierung von bis zu 1200 Soldaten über einen längeren Zeitraum. Nachdem der Deutsche Bundestag am 2. Juni 2016 die Ereignisse aus dem Jahr 1915 während des Ersten Weltkrieges, die zur Deportation der osmanisch-armenischen Bevölkerungsteile aus Kriegsgebieten Anatoliens führten, wobei viele Armenier*innen und Nichtarmenier*innen ums Leben kamen, als Völkermord bezeichnete, verschlechterten sich die bilateralen Beziehungen zwischen beiden Ländern rapide. Ankara untersagte Bundestagsabgeordneten den Besuch der türkischen Luftwaffenbasis İncirlik. Aufgrund der verschlechterten deutsch-türkischen Beziehungen und des gescheiterten Vermittlungsversuchs Anfang Juni 2017 zwischen den Außenministern beider Staaten entschied sich die BRD, die Bundeswehrsoldat*innen auf den jordanischen Luftwaffenstützpunkt zu verlegen. Folglich wurde das Bundeswehrkontingent bis Ende 2017 aus İncirlik abgezogen und nach Jordanien verlegt. Ein weiterer Problempunkt für die Verschlechterung der (Militär-) Beziehungen war aus türkischer Sicht die Bewaffnung der kurdischen Peschmerga im Nordirak durch die Bundeswehr, die eine direkte Bedrohung für die türkische Sicherheit darstellte. Ankara befürchtete, dass diese Waffen unkontrolliert in die Hände der PKK und mit ihr verbündeten Milizen geraten könnten. Die von der Bundeswehr ausgestatteten und trainierten Peschmerga setzten offenbar deutsche Waffen u.a. auch gegen jesidische Kämpfer*innen ein (Gebauer et al., 2017). Die Befürchtung Ankaras wurde wahr und die Bundeswehrwaffen
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(Milan-Panzerabwehrwaffen und Splitterhandgranaten des Typs DM-51 A-1) gelangten auf Umwegen in die Hände der PKK (Der Spiegel, 14.02.2015). Allerdings sollten sich vor allem die Lieferung von deutschen LeopardKampfpanzern in die Türkei und deren Verwendung inner- und außerhalb des Landes seit den Achtziger Jahren bis in die Gegenwart zum Konflikt-Dauerbrenner avancieren.
Das Politikum mit den Leopard-Panzern Bis in die 1980er Jahre dominierten die US-Amerikanischen Panzermodelle im türkischen Heer. Dies änderte sich allerdings nach 1982, als die Türkei im Rahmen der deutschen NATO-Verteidigungshilfe (Materialhilfe und Rüstungssonderhilfe) ihre ersten Kampfpanzer Leopard-1 erhielt. Insgesamt wurden zwischen 1982 und 1984 und zwischen 1990 und 1993 397 Leopard-1 Panzer an die Türkei abgeliefert; davon • 77 KPz Leopard-1 A-3/A-4 zwischen 1982 und 1984, • 170 KPz Leopard-1 Typ A-1 im Zeitraum von 1991 bis 1993, • 150 KPz Leopard-1 Typ A-3/A-4 im Zeitraum von 1990 bis 1991 (Deutscher Bundestag, 2011: 33). Die erste Tranche erfolgte zwei Jahre später nach dem Militärputsch in der Türkei. Damals, während des erneuerten Aufflammens des Kalten Krieges, war es wichtig, gegenüber der Sowjetunion die rote Karte zu zeigen und sich mit der Südflanke der NATO zu solidarisieren. Die deutsche NATO-Verteidigungshilfe für Ankara wurde am 31. Dezember 1994 beendet. Die Bundesregierung hatte 1992 entschieden, die Verteidigungshilfe, die der Türkei zur Verbesserung ihrer Verteidigungsfähigkeit im Rahmen der NATO-Verpflichtungen gewährt wurde, aufgrund der veränderten sicherheitspolitischen Situation in Europa ab 1995 einzustellen. Parallel dazu hat die BRD beim Verkauf von Kampfpanzern und gepanzerten Fahrzeugen an die Türkei seit den 1980er Jahren bereits Einschränkungen für die Nutzung schriftlich fixiert. Zur Nutzung heißt es in der Antwort des Ministeriums: “In den zugrunde liegenden Verträgen hat sich die Türkei verpflichtet, gelieferte Waffen und sonstiges Gerät ausschließlich in Übereinstimmung mit Artikel 5 des NATO-Vertrages (Verteidigung gegen bewaffneten Angriff) einzusetzen” (Deutscher Bundestag, 2011: 33). Das bedeutete, dass Ankara diese Panzer nicht gegen die PKK einsetzen durfte. In einem asymmetrischen Krieg ist es sowieso nicht gerecht, Panzer gegen die leicht bewaffneten und hochbeweglichen Terrorist*innen/Guerillas einzusetzen. Es gibt seit den neunziger Jahren in Deutschland heftige Debatten
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und Diskussionen über den Einsatz der deutschen Waffen, beispielsweise der Leopard-Panzer in der Türkei. So verkompliziert(e) der Kurden-Konflikt immer mehr die Bündnisbeziehungen und die Rüstungslieferungen an Ankara, wie es von Lothar Rühl mit folgenden Worten ausgedrückt wurde: “dies vor allem aus psychologischen Gründen und wegen einer unmilitärischen, innenpolitisch bestimmten Debatte der damit verbundenen Probleme. Diese wäre verständlicher, ginge es um Hubschrauber und leicht gepanzerte Fahrzeuge statt schwerer Kampfpanzer, deren Einsatz gegen kurdische PKK-Kämpfer weder nötig noch zumeist auch taktisch geeignet ist” (Rühl, 1999: 10). Während für die Verwendung von Leopard-1 Panzern gewisse Vorbehalte schriftlich fixiert wurden, so gilt dies nicht für die Lieferung von Leopard-2. Dem Ressortabkommen zwischen dem deutschen und dem türkischen Verteidigungsministerium aus den Jahren 2005 und 2009 gemäß hat die Türkei insgesamt 354 Kampfpanzer Leopard 2 A4 erhalten; davon • 298 Stück im Zeitraum vom November 2006 bis März 2009, • 15 Stück – als Ersatzteilträger – im Januar 2010, • 41 Stück im Zeitraum vom September 2010 bis Ende 2011 (Deutscher Bundestag, 2011: 34). “Das oben erwähnte Ressortabkommen enthält eine allgemeine Endverbleibsklausel, wonach die türkische Seite das Material Dritten nicht ohne vorherige schriftliche Zustimmung der Bundesregierung zur Nutzung überlassen oder verkaufen darf. Eine weitergehende Einschränkung der Nutzung ist gegenüber dem NATO-Mitglied Türkei nicht enthalten” (Deutscher Bundestag, 2011: 34). Auch wenn für die Leopard-2-Panzer keine restriktive Nutzungsbeschränkung vereinbart wurde, löste der Einsatz dieser Panzer seitens der Türkei im Kampf gegen die PKK-Ableger, die PYD/YPG oder die Daesh im Norden Syriens wieder eine kontroverse Debatte in Deutschland aus. Nach einigen Verlusten dieser Panzer möchte Ankara die Leo-2 mit einem Mienenschutz aufrüsten. Dabei sollen Leopard-2 A-4 Panzer im Inventar der türkischen Armee mit Hilfe der deutschen Rüstungsfirma Rheinmetall modernisiert werden und einen verbesserten Minenschutz sowie ein besseres Feuerleitsystem erhalten. Die Modifizierung findet mit deutscher Zusammenarbeit in der Türkei statt. Das gilt auch für das Großprojekt der Türkei für den Bau von etwa 1000 modernen Kampfpanzern des Typs Altay im geschätzten Wert von etwa sieben Milliarden Euro. Der Prototyp des Altay nutzt zunächst einen Dieselmotor von MTU (Friedrichshafen) sowie eine Glattrohrkanone von Rheinmetall. Die türkische Firma BMC hat den Zuschlag für den Bau von Altay-Kampfpanzern bekommen und gründete zusammen mit Rheinmetall 2016 das Gemeinschaftsunternehmen Rheinmetall
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BMC Savunma Sanayi – Rheinmetall BMC Defence Industry (RBSS) (Tillack und Bettoni, 2018). Man kann durchaus konstatieren, dass die deutschen Rüstungshersteller weiterhin in der Türkei investieren und in Kooperation mit den türkischen Unternehmen für den Weltmarkt produzieren wollen.
Schlussbemerkungen Die zwei Staaten, die auf eine lange gemeinsame Vergangenheit zurückblicken und trotz zeitweiliger Dissonanzen gemeinsame Werte vertreten können, kamen ab Mitte der fünfziger Jahre im Rahmen der NATO als Verbündete zusammen. Die Kooperation der beiden Länder im militärisch-technischen Bereich reichte dabei von bilateralem Training und multilateralen Militärmanövern bis hin zu friedenserhaltenden Missionen. Aufgrund der geographischen und der strategischen Schlüsselstellung des Landes am Bosporus und der Furcht vor der sowjetischen Gefahr für Europa gewährte die Bundesrepublik Deutschland der Türkei im Rahmen der NATO eine intensive Wirtschafts- und Militärhilfe und half Ankara beim Aufbau einer modernen Armee. Neben der Überlassung des überschüssigen Militärmaterials gab und gibt es joint venture Unternehmen, die moderne Waffensysteme wie U-Boote, Fregatten und Panzerfahrzeuge für die türkischen Streitkräfte produzieren. Auch bei der Entwicklung vom türkischen Kampfpanzer Altay sind deutsche Hersteller aktiv. Turkish Aerospace Industries (TAI) kooperiert mit Airbus bei der Entwicklung von modernen unbemannten Fluggeräten. Trotz der noch andauernden Spannungen in den deutsch-türkischen Beziehungen exportierte Deutschland im Jahr 2017 Rüstungsgüter im Wert von 34,2 Millionen Euro in das Land am Bosporus. Im Vergleich zu den 83,9 Millionen Euro 2016 hat sich der Umfang der Genehmigungen aber mehr als halbiert. Danach ging die Zahl der Einzelgenehmigungen im gesamten Jahr 2017 von 213 auf 138 zurück. Im zweiten Halbjahr wurden nur noch Rüstungsgüter für 8,5 Millionen Euro in die Türkei geliefert (Tagesschau, 24.01.2018). Andererseits gibt es gegenwärtig zwischen den Streitkräften beider Länder auf persönlichem und institutionalisiertem Wege mannigfaltige Kooperationen. So arbeiten Angehörige beider Armeen in Afghanistan, auf dem Balkan oder auf hoher See vor der somalischen Küste zusammen, um den internationalen Frieden zu unterstützen. Zeitweilig waren Patriotraketen der Bundeswehr in der Türkei stationiert und von İncirlik aus unternahmen Tornado-Piloten Aufklärungsflüge im Kampf gegen Daesh im Norden Syriens. Ebenso bestehen bilaterale Beziehungen im Rahmen von NATO-Militärmanövern und gegenseitigen Offizierausbildungsprogrammen in Militärakademien (Hamburg/Istanbul) beider Länder. Im
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Rahmen der von der NATO neu eingerichteten Rapid Deployable Corps-Turkey (NRDC-T) arbeitet ebenfalls ein deutsches Bundeswehr-Kontingent in Istanbul unter der Führung eines türkischen Generals. In der Regierungszeit der AKP strebt Ankara an, Waffensysteme möglichst in Eigenregie oder in Kooperation mit anderen Staaten zu entwickeln und zu produzieren. Ankara bemüht sich seit geraumer Zeit darum, sich aus seiner bisherigen Abhängigkeit von Rüstungskäufen in den NATO-Staaten zu befreien. Folglich hat das Land begonnen, Kriegsgeräte aus Russland und China zu beziehen, etwa das hocheffiziente russische Raketenabwehrsystem S-400 (Şimşek und Özkan, 2019: 642; german-foreign-policy.com, 2018). Auf der anderen Seite will Deutschland vom Aufbau einer eigenständigen türkischen Rüstungsindustrie profitieren. So arbeiten verschiedene deutsche und türkische Rüstungsunternehmen an gemeinsamen Projekten zusammen. Trotz der vorübergehenden und periodischen Irritationen in den politisch-diplomatischen bilateralen Beziehungen beruht die militärische Kooperation zwischen Deutschland und der Türkei auf einer soliden Basis. Diese Sicherheitspartnerschaft kann sich auch auf ganz Europa ausdehnen. Denn Europa befindet sich an einem Scheideweg nicht nur bedingt durch den Brexit und den Druck der USA, mehr für seine kontinentale Verteidigung auszugeben. Washingtons militärische Kapazitäten nehmen zusehens ab, während Sicherheitsbedrohungen des alten Kontinents, sei es durch ungeregelte Migration oder Terror, zunehmen. Damit Europa “Europäische Streitkräfte der Zukunft” aufbauen kann, bedarf es kompetenter Sicherheitspartner wie die Türkei.
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Kapitel II Politik, Wirtschaft und Verwaltung
Murat ÖNSOY*
Eine Bewertung der deutsch-türkischen Beziehungen der letzten Jahre Einführung In den letzten Jahren liegen schwarze Wolken über den deutsch-türkischen Beziehungen, die tief in der Geschichte verwurzelt sind. Die auf der Grundlage von Allianzen stehenden und durch ewige Freundschaft sowie Waffenbrüderschaft gekrönten Beziehungen entfernen sich allmählich von der rationalen Basis, auf der sie gegründet waren und nehmen die Gestalt eines aussichtslosen Widerstreits an. Diese Situation, mit der wir sowohl auf der Diskursebene als auch auf der Handlungsebene konfrontiert sind, beeinträchtigt beide Länder samt ihrer gesamten Bewohner*innen, Einrichtungen und Institutionen. In diesem Beitrag blicken wir in die jüngste Vergangenheit der deutsch-türkischen Beziehungen zurück und diskutieren über Themen, von denen behauptet wird, sie wären die Gründe für die Verschlechterung der Beziehungen der vergangenen 15 Jahre. Es wird argumentiert, dass die durch den Machtantritt von Angela Merkel im Jahr 2005 aufgegriffene christlich-demokratische Politik und ihre negative Haltung gegenüber der Türkei sowie den Türk*innen den Wendepunkt der konfliktgeladenen Beziehungen beider Länder darstellen. Um zu verstehen, warum das Jahr 2005 als Wendepunkt in den Beziehungen betrachtet wird, ist ein Blick in die Vergangenheit erforderlich. Im ersten Abschnitt dieses Beitrages wird deshalb kurz die Politik der Merkel-Vorgänger, also die Ära von Helmut Kohl und Gerhard Schröder, die gegenüber der Türkei und den Deutschtürk*innen verfolgt wurde, beleuchtet. Danach werden jene Themen behandelt, die als Gründe für die Vertrauenskrise der deutsch-türkischen Beziehungen während der Merkel-Regierungen gelten, wie die Haltung Deutschlands zum EU-Beitritt der Türkei, die Konflikte, die über die Türkeistämmigen in Deutschland ausgetragen werden sowie die gegenseitigen Einmischungsversuche in die inneren Angelegenheiten beider Länder.
* Assoc. Prof. Dr., Hacettepe Universität – Fakultät für Wirtschaft und Verwaltungswissenschaften, Fachbereich für Internationale Beziehungen, Email: onsoymurat@ hotmail.com
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Die Ära Helmut Kohl Bei der Wiedervereinigung Deutschlands im Jahr 1990 war bekanntlich der christlich-demokratische Bundeskanzler Helmut Kohl an der Macht. Es ist kein Geheimnis, dass er in seiner Regierungszeit bis zum Jahr 1998 keine positive Haltung gegenüber der Türkei und den Türkeistämmigen in Deutschland einnahm. In der Kohl-Ära fällt eine Anti-Türkei-Haltung ins Auge, die über die sozialen und kulturellen Unterschiede zwischen Deutschland und der Türkei ausgetragen wurde. Eine weitere Besonderheit der Türkeipolitik dieser Zeit waren die Bemühungen, die eine asymmetrische Machtbeziehung mit Ankara aufbauten. Aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Schwächen der damaligen Türkei waren türkische Politiker*innen bei den politischen Diskussionen mit ihren deutschen Amtskolleg*innen immer diejenigen, die zurückhaltend reagierten und überwiegend zurückweichen mussten. Dieser Punkt ist wichtig, denn ab den 2000er Jahren werden die türkischen Politiker*innen gegenüber ihren deutschen Kolleg*innen, die ihre früheren Gewohnheiten beibehalten wollen, selbstbewusster auftreten, womit die bilateralen Diskussionen in die Länge gezogen werden. In der Ära Kohl herrschte auch gegenüber den in Deutschland lebenden Türk*innen keine positive Haltung. Herr Kohl sagte 1982 in einem Gespräch, das er mit der britischen Premierministerin Margaret Thatcher führte, dass er die Hälfte der in Deutschland lebenden Türkeistämmigen zurückschicken wolle, da sie sich in das Land nicht integrieren könnten1. Zudem waren die Beziehungen aufgrund einiger Geschehnisse während der Ära Kohl, wie die Einstellung der Waffenlieferungen an die Türkei im Jahr 1994 im Zusammenhang mit der Unterstützung der PKK und der negative Türkei-Beschluss des EU-Gipfels in Luxemburg, stets angespannt.
Die goldenen Zeiten der Beziehungen: Die Ära Schröder Mit den Bundestagswahlen im Jahr 1998 endete die Koalition der Unionsparteien (CDU/CSU) mit den Freien Demokraten (FDP) unter der Führung von Helmut Kohl und die Gewinnerin der Wahlen, die Sozial Demokratische Partei (SPD), zog mit ihrer Koalitionspartnerin Bündnis 90/Die Grünen in die Regierung. Somit begann die sieben Jahre andauernde Ära von Bundeskanzler Gerhard Schröder. Diese Zeit zwischen 1998 und 2005 war in vieler Hinsicht eine goldene Zeit der deutsch-türkischen Beziehungen. Bundeskanzler Schröder 1 Kohl, Türkler’in yarısını göndermek lazım, https://www.bbc.com/turkce/haberler/2013/08/130802_ kohl_turkler
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nahm in seiner 7-jährigen Amtszeit eine unterstützende Haltung zur EU-Mitgliedschaft der Türkei ein. Mit der Unterstützung von Schröder erhielt die Türkei im Jahr 1999 den Beitrittskandidatenstatus. Mit dem Beschluss des Europäischen Rats vom 17. Dezember 2004 begannen schließlich am 3. Oktober 2005 die Beitrittsverhandlungen. Im Gegensatz zu der herabschauenden Politik seines Vorgängers Kohl hatte Schröder ein Kanzlerbild abgegeben, welches eine Politik auf Augenhöhe zu betreiben versuchte, die auf gegenseitige Abhängigkeiten beruhte. Ein weiterer positiver Faktor in seiner Ära waren die Bemühungen, die in Deutschland lebenden Türkeistämmigen in die Gesellschaft zu integrieren.
Die Ära Angela Merkel: Eine Talfahrt 2005–2013 Mit dem Sieg der Christlich-Demokratischen Union bei den Bundestagswahlen am 22. November 2005 übernahm Angela Merkel die Regierung. Die erneute Regierungsübernahme durch eine christlich-demokratische Politik unter der Führung von Merkel war eine Hiobsbotschaft für den Weg der Türkei in die EU, auf der sie bis dahin enorme Fortschritte erzielt hatte. Wie erwartet, verfolgte Merkel eine ähnliche Politik wie ihr christlich-demokratischer Vorgänger Helmut Kohl. Wie zuvor Kohl schloss auch Merkel die Türen der EU (damals EG) für die Türkei. Diese Haltung und der Vorschlag einer „Privilegierten Partnerschaft“ als Alternative zur Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU wurden in den darauffolgenden Jahren zu einer großen Belastung in den Beziehungen beider Länder. Obwohl Merkel kompromissbereiter war als ihr Vorgänger Kohl und die vor ihrem Regierungsantritt angelaufenen Beitrittsverhandlungen weiterführte, sorgte sie dafür, dass die Idee der „Privilegierten Partnerschaft“ zuerst in Deutschland und dann EU-weit rezipiert wurde2. Im Gegensatz zu ihrem Vorgänger Kohl und dem populistischen Politiker Edmund Stoiber nahm Merkel keine aggressive Haltung zum EU-Beitritt der Türkei ein und bevorzugte es, im Hintergrund zu bleiben. Die kritische Haltung übernahmen stattdessen der Vorsitzende der CSU, die Funktionäre der Unionsparteien und die konservativen Medien wie Frankfurter Allgemeine Zeitung und Die Welt. Der Sieg von Merkel war auch für die Partei der Gerechtigkeit und des Fortschritts (AKP) die Ankündigung für eine schwierige Periode gewesen, die gerade ihr zweites Amtsjahr hinter sich gelassen hatte. Die Regierungspartei AKP, die mit dem Rückenwind der EU seit 1999 und ab ihrem Regierungsantritt im Jahr 2002 mehrere Reformen wie Demilitarisierung und Demokratisierung 2 Ankara’dan imtiyazlı ortaklığa ret, http://www.dw.com/tr/ankaradan-imtiyazl%C4%B1-ortakl%C4% B1%C4%9Fa -ret/a-2527040
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durchführte, geriet in eine Zwickmühle, da der Rückenwind ihre Richtung änderte. Die AKP fand durch ihre pro-westliche Haltung in den ersten Jahren ihrer Amtszeit sowohl im Inland als auch im Ausland Unterstützung. Doch als Reaktion zu dieser neuen Situation verlangsamte sie die Reformen und stellte sie fast ein. Die Suche nach einem neuen Gleichgewicht, verursacht durch die neue politische Konstellation und der Beginn der PKK-Angriffe im April 2005, obwohl die PKK selbst den Waffenstillstand im Juni 2004 ankündigte, zwang die AKP zu einer antirevisionistischen Haltung. Diese neue Haltung der AKP, die sich zu einer etatistisch-nationalistischen Linie bewegte, führte zur Beendigung der Unterstützung, die die AKP durch ihren reformistischen Diskurs international aber insbesondere aus Deutschland erhalten hatte. Die Abbremsung der Reformmaßnahmen durch die AKP führte zur Verschlechterung der Beziehungen zwischen der AKP und der von Deutschland dominierten EU. Einen weiteren Problemfall zwischen beiden Ländern stellen die in Deutschland lebenden Türkeistämmigen dar. In der ersten Phase der Merkel-Regierung trat das sog. Zuwanderungsgesetz als erstes Migrationsgesetz in Deutschland in Kraft. Die Vorwürfe, dass dieses Gesetz und dessen umfangreiche Modifikationen von 2007 den Aufenthalt von Türk*innen in Deutschland erschweren werde, führte zu Spannungen zwischen Deutschland und der Türkei. Die Türkei initiierte folglich Maßnahmen, um ihre in Deutschland lebenden Bürger*innen zu unterstützen, was in Berlin als Einmischung in die inneren Angelegenheiten gewertet und dementsprechend kritisiert wurde3. Die Spannungen zwischen den beiden Ländern kamen durch einige juristische Fälle ans Tageslicht, die gleichzeitig Deutschland und die Türkei betreffen. Im Fall Deniz Feneri e.V., der 2008 begann, wurde gegen Mitarbeiter*innen von Deniz Feneri e.V. ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, um zu untersuchen, ob diese in Deutschland gesammelte Hilfsgelder veruntreuten und an diverse Unternehmen und Personen, unter anderem an Deniz Feneri Türkei und dem Fernsehsender Kanal 7, weitergaben. Die Jurist*innen und Politiker*innen beider Länder warfen sich gegenseitig vor, die juristischen Prozesse zu sabotieren, zu politisieren und zu konspirieren. Ein ähnlicher Fall ereignete sich 2007 in Antalya während der Gerichtsverhandlung des verhafteten Marco W., dem vorgeworfen wurde, ein englisches Mädchen sexuell belästigt zu haben. Während dieser Gerichtsverhandlung, die durch eine Anzeige der Eltern des minderjährigen englischen Mädchens mit der Festnahme von Marco begann, nahm die deutsche
3 Yaşar Aydın, The New Turkish Diaspora Policy, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/ contents/ products/research_papers/2014_RP10_adn.pdf
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Presse eine aggressive, diffamierende und herablassende Haltung gegenüber der Türkei an und es wurde in den deutschen Medien eine Schmutzkampagne gegen die Türkei geführt. Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichten Beiträge, die auf die Schädigung der Reputation des türkischen Rechtssystems gerichtet waren. Es wurden für die Auslieferung von Marco W. nach Deutschland Kampagnen gestartet. Den türkischen Haftanstalten wurde vorgeworfen, die europäischen und UN-Standards nicht einzuhalten, da diese den mittelalterlichen Kerkern ähneln würden4. Die Diffamierungskampagne ging auch nach der Freilassung und Ausreise von Marco W. nach Deutschland weiter. Marco W. veröffentlichte ein Buch über seine Gefängnistage mit dem Titel „Meine 247 Tage im türkischen Gefängnis“, was später unter dem Titel „Marco W. – 247 Tage im türkischen Gefängnis“ inklusive Folterszenen verfilmt wurde5. Auch die Gerichtsprozesse über die sogenannten „Döner-Morde“ in Deutschland stellen ein weiteres Beispiel für die Konflikte im juristischen Bereich dar. Im Zuge der Ermittlungen gegen zwei Personen, die bei einem erfolglosen Banküberfall getötet wurden, kam ans Tageslicht, dass diese Personen Mitglieder der Terrororganisation Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) waren und zwischen 2000 und 2007 insgesamt neun Migranten, darunter acht türkischstämmige, ermordet hatten. In diesem Prozess, der zwischen 2013 und 2018 lief und die Verbindungen des Staates mit Neonazis offenlegte, wurde klar, dass der Verfassungsschutz über diese Morde informiert war und nichts unternommen hat. Das 2018 verkündete Urteil hat die mitangeklagte türkische Gemeinde nicht befriedigt. Als weitere Gründe für die Anspannung der Beziehungen zwischen beiden Ländern gelten der Wohnhausbrand in Ludwigshafen im Jahre 2008, bei dem neun Türk*innen ihr Leben verloren sowie in den darauffolgenden Tagen weitere ähnliche Brände in anderen deutschen Städten. Somit hielt der Nazi-Terror Einzug in die Beziehungen zwischen den beiden Ländern. Die Einstellung des Verfahrens über die Wohnungsbrände durch die deutschen Behörden erfolgte mit der Begründung, dass kein Anzeichen einer Brandstiftung festgestellt worden wäre und erregte die Gemüter6. Ebenso auffallend war die türkei-kritische Haltung der deutschen Medien in dieser Periode. In diesem Zusammenhang stechen die den Unionsparteien 4 Marco W. als diplomatische Lawine, http://www.stern.de/politik/ausland/presseschaumarco-w--als--diplomatische-lawine--3271658.html 5 Hoş geldin ikinci Gece yarısı Ekspresi,! http://www.radikal.com.tr/dunya/hos_geldin_ ikinci_gece_ yarisi_ekspresi-1043848 6 Almanya’da yangın soruşturması büyüyor, http://arsiv.ntv.com.tr/news/434693.asp
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nahestehenden Zeitungen wie die Frankfurter Allgemeine und Die Zeit hervor. Diese Zeitungen, die in der Vergangenheit zu beweisen versuchten, dass die Türkei aus kultureller und geografischer Hinsicht nicht zur EU gehört, stellten in der Ära Merkel im Gegensatz zu früheren Zeiten die These auf, dass die Türkei kein Platz unter den europäischen Demokratien hätte, weil die Regierungspartei AKP autoritäre Züge angenommen habe7. In den 1990er Jahren kritisierten deutsche Medien die türkische Gemeinde in Deutschland vor allem, weil sie eine konservative Familienstruktur hätte und nicht Deutsch spräche. Doch das änderte sich in den 2000er Jahren. Insbesondere mit der durch die Terroranschläge am 11. September angetriebenen Islamophobie wurden die Türk*innen in Deutschland als „halb-feudale“ und „gewaltbereite“ Menschen angeprangert. Ehrenmorde, Gewalt auf Frauen und Zwangsehen unter Türk*innen dominierten die Nachrichten. Diese Erscheinungsformen wurden für die türkische Gemeinde verallgemeinert. Nachrichten dieser Art über die Türk*innen begannen 2005 mit der Ermordung von Frau Hatun Sürücü. Die Geschichte von Frau Sürücü hat die Menschen in Deutschland schockiert. Wegen ihres modernen Lebensstils beschloss der Familienrat ihre Ermordung und beauftragte ihren jüngsten Bruder mit der Durchführung ihrer Tötung. Dieser erfüllte dann mit drei Kopfschüssen seinen Auftrag, während sie auf den Bus wartete. Anhand dieser Geschichte wurde in Deutschland lange Zeit über Ehrenmorde diskutiert. Die Begriffe Türke und Ehrenmord wurden nahezu als Synonyme verwendet8. Diesem Fall, der 2005 auf der Tagesordnung stand, folgten 2006 Nachrichten über Bandenkriege, an denen auch türkische Jugendliche beteiligt waren und Gewaltanwendungen von türkischen Jugendlichen in den Schulen gegenüber ihren Gleichaltrigen9. Im Jahr 2007 ging es dann um arrangierte Ehen der in Deutschland geborenen und aufgewachsenen türkischen Mädchen mit ihren Verwandten in der Türkei. Im Jahr 2008 belegte lange Zeit ein türkischer Jugendlicher die Schlagzeilen, der in München einen alten Mann durch Prügel schwer verletzt hatte. In all diesen Fällen wurden Türk*innen in den Medien einheitlich in traditionellen Lebensweisen verhaftet sowie als gewalttätig gegenüber Frauen und als Vergewaltiger, Bandenmitglieder
7 Deutsch-türkische Beziehungen: Feuer und Eis, http://www.tagesspiegel.de/kultur/ deutsch-tuerkische-beziehungen-feuer-und-eis/1162988.html 8 Bruder gesteht, Ehrenmord“ an seiner Schwester, http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/prozess-bruder-gesteht-ehrenmord-an-seiner-schwester-1256061.html 9 Okulda Terör, http://hurarsiv.hurriyet.com.tr/goster/haber.aspx?id=5461008&tarih=2006-11-18
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und gewaltbereite Personen dargestellt. Türkische Jugendliche wurden per se als potenzielle Kriminelle wahrgenommen10. Durch die Änderung des Ausländergesetzes im Jahr 2000 begannen die Deutschtürk*innen organisierter aufzutreten und in den folgenden Jahren durch eigene Organisationen, trotz ihrer schwachen Position, ihre Rechte zu verteidigen. Dieses organisierte Auftreten der Türk*innen verstärkte sie als Gemeinde, womit auch das Heimatland Türkei die Möglichkeit erhielt, durch diese Menschen einen Einwirkungsbereich in Deutschland zu erschaffen. Mit der Gründung des „Präsidiums für Auslandstürken“ stand Deutschland in Zentrum der Diasporapolitik der Türkei. Somit erhöhte sich die Möglichkeit Ankaras, in die Migrationspolitik Berlins einzugreifen. Die Türkei trat bei vielen Themen, die Türk*innen betreffen, wie in erster Linie Bildung und Arbeit, als eine Partnerin auf. Außerdem wurde den im Ausland lebenden türkischen Staatsbürger*innen das Recht zugesprochen, sich in ausländischen Vertretungen der Türkei an den türkischen Wahlen zu beteiligen. Somit begann die Ära der Wahlkampfveranstaltungen für die in Deutschland lebenden 1,3 Millionen türkeistämmigen Wähler*innen. Die Integration der Türk*innen in die deutsche Gesellschaft ist ein unverzichtbares Thema der Wahlveranstaltungen geworden und es wurden unter Beteiligung von zehntausenden Menschen Botschaften nach Berlin gesendet. Es war Recep Tayyip Erdoğan, der die Diskussionen über die in Deutschland lebenden Türk*innen aufgegriffen und die Integrations-Assimilationsdebatte eröffnet hat. Seine Aussage während seiner Ministerpräsidentschaft im Jahr 2008 bei einer Veranstaltung in der Köln-Arena („Assimilation ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“11) und seine Äußerung vor den türkischen Parlamentswahlen im Jahr 2011 („unsere Kinder müssen erst Türkisch lernen“) führte zur Empörung in den politischen Kreisen in Deutschland und Teilen der türkischen Gemeinde12.
10 Faruk Şen, Almanya’daki Türkler-Entegrasyon veya Gettolaşma, http://www.konrad. org.tr/ Medya%20Mercek/13faruk.pdf 11 Erdoğan Almanya’da olay yaratan sözünü tekrarladı: Entegrasyona evet, asimilasyona hayır, http://www.milliyet.com.tr/erdogan-almanya-da-olay-yaratan/siyaset/ detay/1887306/default.htm 12 Göçmen işçiler ucuz seçim malzemesi oldu, http://www.birgun.net/haber-detay/gocmen-isciler-ucuz-secim-malzemesi-oldu-12509.html
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Tiefpunkt der Beziehungen: Gezi-Proteste Der Sommer 2013, als sich die Gezi-Proteste ereignet haben, lief für die deutschtürkischen Beziehungen sehr aufreibend. Die unverhältnismäßige Gewaltausübung der Polizei bei den in der ganzen Türkei ausgeweiteten Protesten führte zu weltweiten Reaktionen, so auch in Deutschland.13 Während der Gezi-Proteste ragte Deutschland mit seiner AKP-kritischen Haltung heraus. Die harte Kritik Deutschlands an der Polizeigewalt und der Haltung der türkischen Regierung dazu erfolgte auch unter dem Einfluss der anstehenden Bundestagswahlen in Deutschland. Wie bei jeder Wahl versuchten die konservativen Kandidat*innen auch bei der Bundestagswahl 2013 mit einer Türkei-Kritik Stimmen zu fangen. Der Außenminister Guido Westerwelle erklärte: “Mit seiner bisherigen Haltung sendet Ankara sowohl nach Deutschland und als auch nach Europa falsche Signale”14. Die kleine Koalitionspartnerin CSU forderte hingegen die Beendigung oder zumindest eine langfristige Einfrierung der Beitrittsverhandlungen der Türkei in die EU15. Frau Merkel lehnte die erwartete Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen nach einer 3-jährigen Pause wegen der Polizeigewalt bei den Gezi-Protesten ab. Wegen der Ereignisse im September 2013, die auch als eine an die Innenpolitik gerichtete Aktion von Merkel kommentiert wurde, warf der amtierende EU-Minister und Chefunterhändler für EU-Angelegenheiten Egemen Bağış Merkel vor, die Türkei als innenpolitischen Stoff auszunutzen. Die entsprechende Aussage von Bağış (“Sarkozy tat das Gleiche. Merkel soll nicht vergessen, was er durchmachen musste. Sie soll überlegt handeln, wenn sie im Alter mit ihm nicht angeln gehen will.”) wurde durch die deutschen Medien mit der Schlagzeile „Der türkische Minister droht Merkel“16 wiedergegeben und die Spannung stieg weiter an, als beide Länder die Botschafter des jeweils anderen Landes ins Außenministerium einbestellten. In einem Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit der Überschrift „Erdogans Kettenhund“ wurde Bağış
13 Christian Johannes Henrich und Alica Henrich, Gezi-Park Protest 2013: Eine Analyse, Elektronik Siyaset Bilimi Araştırmaları Dergisi, Cilt 5, Sayı 2, Haziran 2014, http:// www.esbadergisi.com/ images/sayi9/gezi_park_protest_jonannes_henrich.pdf 14 Erdoğan’a Berlin’den eleştiri, http://www.dw.com/tr/erdoğana-berlinden-eleşti ri/a-16876367 15 Almanya Başbakanı Merkel’den Gezi Parkı açıklaması, http://www.hurriyet.com.tr/ planet/23427254. Asp 16 Türkischer Minister droht Merkel mit Konsequenzen, http://www.welt.de/politik/ ausland/ article117358699/Tuerkischer-Minister-droht-Merkel-mit-Konsequenzen.html
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als ein „Hund“ dargestellt, der durch Erdogan an der Kette gehalten und hier und da losgelassen wird17. Dass DER SPIEGEL einen Demonstranten, der ein Transparent hochhält, auf dem „Nicht beugen“ steht, auf sein Titelblatt stellte und einen 10-seitigen Artikel über die Gezi-Proteste in türkischer Sprache veröffentlichte, brachte Deutschland auf einen Schlag in den Fokus der Kritik der regierungsnahen Kreise in der Türkei. Diese behaupteten, dass hinter der gesellschaftlichen und politischen Polarisierung in der Türkei eine durch Deutschland geführte Koalition stehe18. Durch die polemische Auseinandersetzung zwischen Erdoğan und Präsident Joachim Gauck während dessen Türkeibesuches im Jahr 2014 und der Ereignisse in Köln während der Wahlkampfauftritte von Erdoğan vor den Präsidentschaftswahlen im gleichen Jahr verschärfte sich die angespannte Situation. Gauck kritisierte die AKP-Regierung sehr scharf, indem er Probleme bei Gewaltenteilung, Unabhängigkeit der Justiz und die Internetbeschränkungen, Repressionen auf die Presse bis hin zum Gesetz zum Türkischen Nachrichtendienst (MİT – Milli İstihbarat Teşkilatı) anprangerte. Die Antwort des Premierministers Erdoğan gegenüber Gauck folgte prompt: „spar dir deine Weisheiten für dich selbst auf!“ Die folgende Äußerung des Premierministers Erdoğan bei einer Wahlveranstaltung in Köln vor den Präsidentschaftswahlen rief ebenso heftige Reaktionen aus Berlin hervor. Er sagte dort gegenüber den Deutschtürk*innen: “Wir werden die Integration fördern, ohne uns assimilieren zu lassen und unsere Seele, unsere Kultur und Sprache aufzugeben”19. Die belasteten Beziehungen zwischen den beiden Ländern offenbarten sich auch durch das Bekanntwerden der geheimdienstlichen Aktivitäten. Herr Muhammed Taha Gergerlioğlu, der eine Zeit lang als Berater des Premierministers Erdoğan tätig war, wurde 2014 am Frankfurter Flughafen durch die deutschen Sicherheitsbehörden wegen des dringenden Verdachts der geheimdienstlichen Agententätigkeit festgenommen. Es wurde durch die Generalbundesanwaltschaft wegen Verdachts auf Spionageaktivitäten für ein anderes Land Ermittlungen eingeleitet20. In der Anklageschrift wurde der betreffenden Person vorgeworfen, mit Kenntnis 17 Erdogans Kettenhund, http://www.faz.net/aktuell/politik/portraets-personalien/dertuerkische-europaminister-erdogans-kettenhund-12240407.html 18 Gezi Parkı Kanal İstanbul 3 köprü Havalimanı Yiğit Bulut, Youtube, https://www. youtube.com/ watch?v=KrVgglzC2VU 19 Erdoğan, Almanya’da kin kustu, http://www.cumhuriyet.com.tr/haber/dunya/75351/ Erdogan__ Almanya_da_kin_kustu.html 20 Deutsch-türkische Agentenaffäre: Bundesanwalt wirft Erdogans Ex-Berater Spionage vor, http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-deutschland-wirft-ex-erdogan-berater-spionage-vor-a-1014459.html
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des türkischen Geheimdienstes (MIT) und des Geheimdienstchefs, Informationen über türkische oppositionelle Gruppen und Personen in Deutschland gesammelt zu haben. Es wurde behauptet, dass Erdoğan in Deutschland ein direkt ihm unterstelltes Spionagenetz gegründet habe21. Der bedeutendste nachrichtendienstliche Fall der letzten Jahre war der Vorwurf, dass der Bundesnachrichtendienst (BND) hochrangige türkische Bürokrat*innen ausgespäht haben soll. Der vom Focus verbreitete Vorwurf wurde auch durch die staatlichen Kreise in Deutschland bestätigt. Der damalige Außenminister Ahmet Davutoğlu kommentierte die Vorwürfe mit den folgenden Worten: “Die Sache ist bedenklich, wenn die Vorwürfe richtig sein sollten. Es wäre unverzeihlich”22. Daraufhin wurde der deutsche Botschafter in Ankara ins Außenministerium einbestellt. Die Journalist*innen erinnerten Merkel an ihre eigenen Worte (“Ausspähen unter Freunden – das geht gar nicht”) in Bezug auf den Ausspähskandal zwischen Deutschland und den USA und fragten sie, ob die Türkei zu den Freunden gehöre. Merkel sagte, dass diese Worte für Amerika gelten und somit zugab, dass die Türkei nicht zur Kategorie Freunde gehört. Aus dieser Aussage von Merkel kann man entnehmen, an welchem Punkt sich die Beziehungen beider Länder befinden. Eine weitere Erklärung für die Belastung der Beziehungen war der außenpolitische Wettbewerb der beiden Länder. Nach dem Mauerfall entwickelte sich Deutschland zu einem großen unabhängigen Staat in Zentraleuropa und steigerte seine Wirkungskraft auf der internationalen Arena zunehmend. In den 2000er Jahren hat die Türkei enorme Veränderungen vollzogen. Sie setzte in der Außenpolitik neue Ziele und bezweckte, insbesondere in dem den Nahen Osten, den Kaukasus und den Balkan umfassenden Gebiet, geopolitische Regionalmachtinteressen zu verfolgen. Durch diesen Politikwandel stieg der Wettbewerb zwischen Deutschland und der Türkei an. Insbesondere der nach 2009 in der türkischen Außenpolitik vollzogene Wandel erhöhte fühlbar die Spannungen in den Zweierbeziehungen. Wegen ihrer Politik im Nahen Osten stößt die Türkei auf einige Unstimmigkeiten mit Deutschland. Es ist in den letzten Jahren zu beobachten, dass eine gewisse Annäherung zwischen Deutschland und den kurdischen Gruppen in Syrien und Irak stattfindet, die als wachsende Kraft im Nahen Osten Energiequellen in einem bedeutenden Ausmaß unter ihrer 21 So ungeniert spioniert Erdogan seine Gegner aus – mitten in Deutschland, http:// www.focus.de/ politik/ausland/politik-und-gesellschaft-erdogan-und-seine-schattenkrieger_id_4776655.html 22 Murat Yetkin, Almanya Türkiye’yi neden mi dinlesin?, http://www.radikal.com.tr/ yazarlar/murat_yetkin/almanya_turkiyeyi_neden_mi_dinlesin-1207504
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Kontrolle halten23. Man geht davon aus, dass die Bundesrepublik anstatt der als kaum kontrollierbar geltenden Akteure wie Ankara, Teheran und Bagdad lieber die Kurden einsetzen möchte und diese zum Teil auch gegen jene Akteure als Trumpf in der Hand zu halten versucht. Die PKK entschuldigte sich für die Anschläge in den 1990er Jahren in Deutschland und im Bundestag wurden Forderungen lauter, die auf die Streichung der PKK aus der Terrorliste hinzielen. Dies erhöht auf der türkischen Seite das vorhandene Misstrauen. Die abweichende Syrienpolitik der beiden Länder rief auch Konflikte hervor. Zu Beginn der inneren Unruhen in Syrien, die auf einen Regimewandel hinzielten, war die Bundesrepublik gegen einen Eingriff. Nach anhaltenden Kämpfen bewegte sich Deutschland jedoch zu einer proaktiven Politik hin, um den entstandenen Migrationsproblemen entgegenzuwirken und den ISIS-Terror zu beseitigen. Mehr Sicherheit und die Beseitigung des islamistischen Terrors wurden zur vorrangigen Strategie, so dass in der Folge die gegen die ISIS kämpfenden Peschmerga ausgebildet, mit Waffen und Munition ausgestattet wurden. Die türkische Syrienpolitik basierte jedoch von Anfang an auf der Beseitigung des Assad-Regimes und der Verhinderung einer kurdischen Verwaltung in der Region. Ankara plant eine Sicherheitszone in Syrien, um der möglichen Gründung eines kurdischen Staates entgegenzuwirken, was von Berlin immer abgelehnt wurde. Diese Haltung Deutschlands wurde seitens der Türkei so aufgefasst, dass Berlin einen kurdischen Staat in der Region unterstützen würde.
Flüchtlingskrise: Ein Hoffnungsschimmer in den Beziehungen In die im ersten Halbjahr des Jahres 2015 eher stabilisierten Beziehungen kam in der zweiten Hälfte des Jahres durch die grassierende Migrationskrise der EU neuer Schwung. Frau Merkel, die durch diese Krise politisch angeschlagen war, mobilisierte die EU und arbeitete einen gemeinsamen Aktionsplan aus, in dem die Türkei von Anfang an als ein unverzichtbarer Bestandteil im Zentrum stand. Nach der Bestätigung des Planes auch durch türkische Verantwortliche stattete Merkel am 18. Oktober des gleichen Jahres der Türkei einen spontanen Besuch ab und führte Gespräche mit dem Premierminister Ahmet Davutoğlu und dem Präsidenten Tayyip Erdoğan24.
23 Kemal İnat, Almanya’nın PKK ve Kürt Politikası, http://www.orsam.org.tr/tr/trUploads/Yazilar/ Dosyalar/2015713_10kemalinat.pdf 24 Mülteci krizi (Türk-Alman) ilişkileri canlandırdı, http://www.abhaber.com/multecikrizi-turk-alman-iliskileri-canlandirdi/
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Durch diesen Türkei-Besuch eröffnete die politisch angeschlagene Merkel im zehnten Jahr ihrer Regierungszeit ein neues Kapitel in den deutsch-türkischen Beziehungen. Durch die Migrationskrise erfolgte eine unerwartete Verbesserung der deutsch-türkischen Beziehungen, so dass die beiden Länder eine strategische Partnerschaft eingingen. Ankara erhielt nach langer Zeit einen besonderen Rang (wichtigen Vorteil) in den Beziehungen mit seinem Verbündeten Berlin. Mit dieser durch die Migrationskrise bedingten Aufwertung der Türkei hätte man annehmen können, dass die Ära der Konfrontation mit Deutschland beendet sei und sich die Beziehungen wieder entspannen würden. Einige Ereignisse in den Jahren 2015 und 2016 belasteten jedoch die Beziehungen erneut. Nach der Anerkennung der armenischen Vorwürfe über die Ereignisse von 1915 durch den Bundestag wurde der türkische Botschafter nach Ankara zurückbestellt. Das Schmähgedicht des Komödianten Jan Böhmermann über den Präsidenten Erdoğan und dass Frau Merkel diese Schmähungen als Meinungsfreiheit bewertete, führte zu neuen Spannungen der Beziehungen. Im Jahr 2017 standen die in der Türkei inhaftierten deutschen Staatsbürger*innen und insbesondere der türkischstämmige deutsche Journalist Deniz Yücel im Fokus der Auseinandersetzungen zwischen den beiden Ländern. Die Behinderung von türkischen Politiker*innen, die zu dem bevorstehenden Referendum über die Verfassungsänderung am 16. April 2017 an Wahlkampfveranstaltungen in Deutschland teilnehmen wollten und das Besuchsverbot für deutsche Parlamentarier*innen an der Luftwaffenbasis İncirlik belasteten das zwischenstaatliche Verhältnis zusätzlich.
Fazit In diesem Beitrag wird argumentiert, dass die in unterschiedlicher Intensität ausgetragenen Auseinandersetzungen der letzten 15 Jahre zwischen den beiden Ländern zu einem kalten Krieg der Beziehungen führten. Diese unter der Führung von Angela Merkel in Deutschland und Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei verlaufene Ära war geprägt von öffentlich geführter, gegenseitiger scharfer Kritik. Diese Abhandlung versucht die vorhandene Vertrauenskrise in den Beziehungen beider Länder anhand einiger Themen wie der geänderten Haltung der MerkelRegierung zur EU-Mitgliedschaft der Türkei, der durch die in Deutschland lebenden Türk*innen verursachten Spannung in den bilateralen Beziehungen, dem außenpolitischen Wettbewerb der beiden Länder und den gegenseitigen Einmischungsversuchen in die inneren Angelegenheiten zu erklären. Es wird beobachtet, dass zum Teil Politiker*innen beider Länder die Grenzen der diplomatischen Höflichkeit überschreiten, als ob sie verfeindet wären.
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Diese mehrdimensionale und konfliktreiche Atmosphäre, die von Journalist*innen und Jurist*innen bis hin zu den Nachrichtendiensten viele Persönlichkeiten und Institutionen umfasst, beeinträchtigt das gemeinsame Interesse der beiden Länder. Die angespannten Beziehungen sind ein Nährboden für „feindliche Gefühle“ im Gedächtnis der Völker dieser Länder und beeinträchtigen das kulturelle und wirtschaftliche Zusammenwachsen, das durch die mehr als drei Millionen in Deutschland lebenden Türk*innen und Zehntausende in der Türkei lebenden Deutschen mit Mühe aufgebaut wurde.
Literaturverzeichnis Almanya Başbakanı Merkel’den Gezi Parkı açıklaması, http://www.hurriyet. com.tr/planet/23427254.asp (zuletzt abgerufen: 05.10.2015). Almanya’da yangın soruşturması büyüyor, http://arsiv.ntv.com.tr/news/434693. asp, (zuletzt abgerufen: 05.10.2015). Ankara’dan imtiyazlı ortaklığa ret, http://www.dw.com/tr/ankaradan-imtiyazl%C4%B1-ortakl%C4%B1%C4%9Fa-ret/a-2527040, (zuletzt abgerufen: 06.10.2015). Aydın, Yaşar, The New Turkish Diaspora Policy, http://www.swp-berlin.org/ fileadmin/contents/products/research_papers/2014_RP10_adn.pdf, (zuletzt abgerufen:12.8.2017). Bruder gesteht, Ehrenmord“ an seiner Schwester, http://www.faz.net/aktuell/ gesellschaft/prozess-bruder-gesteht-ehrenmord-an-seiner-schwester-1256061.html, (zuletzt abgerufen: 07.10.2015). Deutsch-türkische Agentenaffäre: Bundesanwalt wirft Erdogans Ex-Berater Spionage vor, http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-deutschlandwirft-ex-erdogan-berater-spionage-vor-a-1014459.html, (zuletzt abgerufen: 05.10.2015). Deutsch-türkische Beziehungen: Feuer und Eis, http://www.tagesspiegel.de/kultur/deutsch-tuerkische-beziehungen-feuer-und-eis/1162988.html, (zuletzt abgerufen: 07.10.2015). Erdoğan, Almanya’da kin kustu, http://www.cumhuriyet.com.tr/haber/ dunya/75351/Erdogan__Almanya_da_kin_kustu.html, (zuletzt abgerufen: 05.10.2015). Erdoğan Almanya’da olay yaratan sözünü tekrarladı: Entegrasyona evet, asimilasyona hayır, http://www.milliyet.com.tr/erdogan-almanya-da-olay-yaratan/ siyaset/detay/1887306/default.htm, (zuletzt abgerufen: 08.10.2015). Erdoğan’a Berlin’den eleştiri, http://www.dw.com/tr/erdoğana-berlinden-eleştiri/a-16876367, (zuletzt abgerufen: 05.10.2015).
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Elif KOCAGÖZ* und Orhan KOCAGÖZ**
Eine Bewertung der türkisch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen aus der Country Branding- Perspektive Einführung Als Schwellenland ist für die Türkei eine kurze Charakterisierung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit kaum möglich. Auch wenn zum internationalen Vergleich zumeist das Pro-Kopf-Einkommen herangezogen wird, reicht oftmals eine Kennzahl nicht aus, um die uneinheitliche Lage einer Schwellenländerökonomie zu beschreiben. Werte zu Wirtschaftswachstum und zur Außenwirtschaft waren im „Krisenjahr“ 2018 in der Türkei weitgehend positiv (Kriwoluzky und Rieth 2018: 790). Um eine differenziertere Operationalisierung einer Volkswirtschaft vorzunehmen, gibt es diverse aggregierte Indexzahlen, die verschiedene Indikatoren zu einem Score zusammenfassen und in Vergleich zu anderen Ländern setzen1. Weitere Möglichkeiten, eine ganze Volkswirtschaft in einen Wert zu verdichten und die Positionierung auf dem Weltmarkt zu erklären, bieten einige Country Branding-Konzepte (Breunlein, 2016: 50). Davon ausgehend sollen im Folgenden die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland untersucht werden. Mit einer Ländermarkenperspektive erfolgt eine Analyse der türkischen Volkswirtschaft mit einem Bündel an Indikatoren. Gerade die Beziehungen zu Deutschland spielen dabei eine Schlüsselrolle, da der Ausbau der wirtschaftlichen Aktivitäten mit dem wichtigsten Außenhandelspartner einen starken Beitrag zur Ländermarkenentwicklung leisten kann.
Country Branding: Definition und Inhalt Im Zuge der Globalisierung von Produktionsprozessen und Handelsbeziehungen entwickelt sich eine ganze Volkswirtschaft zu einem Vermarktungskomplex. Dieses bietet nicht nur Produkte zum Export sondern auch den Standort * Asst. Prof. Dr., Sütçü İmam Universität Kahramanmaraş, E-Mail: [email protected] ** Prof. Dr., FOM Hochschule für Oekonomie & Management Nürnberg, E-Mail: Orhan. [email protected] 1 Wohlstandsindikator, www.ifo.de/de/w/3TrCq35Yx
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als Handels- bzw. Produktionsplatz oder den nationalen Wirtschaftsraum zum Arbeiten sowie die Natur- und Kulturlandschaft zum kurzfristigen Aufenthalt im Rahmen des Fremdenverkehrs an. Kurzum, ein Land kommerzialisiert nach Möglichkeit alle verfügbaren Ressourcen auf dem globalen Marktplatz, an dem alle Volkswirtschaften mehr oder weniger aktiv teilhaben. In erster Linie sind die Unternehmen eines Landes für ihren Absatz verantwortlich, aber gemeinsam mit den politischen Entscheidungsträger*innen und den Wirtschaftsverbänden bemühen sich alle Akteur*innen, das gesamte Leistungsportfolio eines Landes bestmöglich bekanntzumachen, zu präsentieren und schließlich zu vermarkten. Sowohl für einzel- als auch gesamtwirtschaftliche Vermarktung erweist sich eine Marke als hilfreich, da sie als „…Name, Begriff, Zeichen, Symbol, eine Gestaltungsform oder eine Kombination aus diesen oder anderen wahrnehmbaren Bestandteilen, welche bei den relevanten Nachfragern bekannt ist und im Vergleich zu Konkurrenzangeboten ein differenzierendes Image aufweist, welches zu Präferenzen führt.“ (Baumgarth, 2014: 6) Auch wenn Nachfrager*innen in erster Linie zwischen Unternehmen bzw. Produkten entscheiden, so spielt ihre Herkunft und der Entwicklungsgrad sowie das Ansehen des jeweiligen Landes eine wichtige Rolle bei der Bildung von persönlichen Präferenzen der Konsument*innen. Mit dem Made-in-Label verbinden die Menschen ein Leistungs- und Qualitätsniveau des jeweiligen Landes (Dinnie, 2016: 90–91). Sind es bei Exportprodukten hauptsächlich die Unternehmen, die diese Reputation aufbauen, ist es bei Investitionsstandorten die Wirtschaftspolitik, die nach Möglichkeit dauerhaft günstige Rahmenbedingungen für ausländische Investor*innen und Tourist*innen anstrebt. Es ist daher naheliegend, auch von einer Ländermarkenbildung auszugehen, da ganze Volkswirtschaften auf dem globalen Marktplatz im Wettbewerb mit anderen Nationen stehen. In der Literatur finden sich mittlerweile zahlreiche Erklärungsansätze und Definitionen für Country Branding und im Allgemeinen Place Branding aber auch das Destination Branding für den Tourismussektor. Beim Letzteren befinden sich Länder, Regionen und Städte als Destinationen im regionalen und globalen Wettbewerb, um die Anzahl sowohl der in- und ausländischen Besucher*innen zu erhöhen (Blain et al., 2005: 329–330). Place Branding hingegen kann als Oberbegriff für die Markierung von Plätzen, Standorten, Destinationen, Ländern, Nationen, Städten und Regionen angesehen werden (Hanna und Rowley, 2008: 62). Daraus leitet sich schließlich das Nation oder Country Branding ab, das als marketingorientierter Ansatz auch im Mittelpunkt dieses Beitrages steht (Kotler und Gertner, 2004: 41ff). In der folgenden Tabelle sind einige und vielzitierte Definitionen aufgelistet (siehe Tabelle 1). Auffallend ist die unternehmensorientierte Charakterisierung
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eines Landes, das einem internationalen Publikum etwas anbietet (Dinnie, 2016: 5) und dabei auch im Wettbewerb mit anderen Staaten steht. Eine Ländermarke soll dabei helfen, Exporte zu stimulieren, Tourist*innen, Investor*innen und Einwanderer*innen anzulocken (Fetscherin, 2010: 468). Diese MarketingPerspektive vergleicht implizit das Land mit einem Unternehmen, welches Leistungen erbringt, die dann zum Konsum bereitgestellt werden. Dabei sind es nicht nur Produkte, Dienstleistungen, sondern auch ein Arbeitsplatz, ein Standort für unternehmerisches Wirken sowie ein Platz zum Wohnen und Leben (Fan, 2010: 98). Dieses Angebot wird von den jeweiligen Bewohner*innen des Landes auch als historisches Erbe gepflegt. Bei Aronczyk (2008: 42) wird betont, dass eine Markenbetrachtung den nationalen Regierungen dabei hilft, das Ansehen gegenüber der Welt besser zu lenken. Tabelle 1: Übersicht ausgewählter Definitionen Autoren Fan (2010: 98)
Dinnie (2016: 5) Aronczyk (2008: 42)
Fetscherin (2010: 468)
Definitionen “[…] the total sum of all perceptions of a nation in the minds of international stakeholders, which may contain some of the following elements: people, place, culture/language, history, food, fashion, famous faces (celebrities), global brands and so on.” Nation brand als “..the unique, multidimensional blend of elements that provide the nation with culturally grounded differentiation and relevance for all of its target audiences.” “As a communications strategy and a practical initiative, nation branding allows national governments to better manage and control the image they project to the world, and to attract the ‘right’ kinds of investment, tourism, trade, and talent, successfully competing with a growing pool of national contenders for a shrinking set of available resources.” „A country brand belongs to the public domain; it is complex and includes multiple levels, components and disciplines. It entails the collective involvement of the many stakeholders it must appeal to. It concerns a country’s whole image, covering political, economic, social, environmental, historical, and cultural aspects. The main objectives of country branding are to stimulate exports, attract tourism, investments and immigration, and create positive international perceptions and attitudes.”
Datenquelle: jeweils angegeben
Zusammenfassend ist eine Ländermarkenbildung eine Folge des globalen Wettbewerbs, dem sich die politische Führung nicht entziehen kann. Mit dieser
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Perspektive erhalten Entscheidungsträger*innen einen vielschichtigen Einblick auf die Entwicklung eines Landes. Dies wird auch erleichtert, wenn die Marke operationalisiert wird. So haben einige Institute Indexzahlen gebildet, die teils jährlich erhoben werden, um die Länder einem internationalen Vergleich zu unterziehen.
Überblick der Werte für Ländermarken Im Folgenden sollen einige Werte zu Ländermarkenberechnungen kurz vorgestellt werden, ehe sie auf die Türkei Anwendung finden. Der Anholt Nation Brand Index basiert auf einer Umfrage von 20.224 Personen in 20 Ländern2 Gemäß dieser Indexberechnung belegt Deutschland 2018 den ersten Platz, unter anderem des Ansehens deutscher Produkte im Ausland wegen. In dieser Studie erfolgt eine Bewertung von 50 Ländern3. Die spanische Beratungsgesellschaft Bloom Consulting erstellt ein Country Brand Strategy Rating, bei der die Türkei mit einer Bewertung von „Strong“ im weltweiten und europäischen Vergleich auf Platz 17 bzw. auf Platz 8 noch vor Italien und Schweden rangiert4. Kontinuierliche Daten zu Ländermarken liefert Brand Finance, die einen Markenstärkenindex berechnen5. In diesem Ranking kommt die Türkei für das Jahr 2018 auf Platz 34 mit einem Markenwert von 382 Milliarden USD (-33% gegenüber 2017). Ermittelt wird der Index durch zahlreiche Kennzahlen, wie beispielsweise Wettbewerbsfähigkeit, Lebensqualität, Justizsystem, Bildung und Investorenschutz. Seit 2010 liegen hierfür jährliche Daten vor. Die Markenstärke der Länder wird zudem verbal mit den Noten Exceptional, Very Strong, Strong, Developing, Weak und Failing eingestuft. Die Türkei erhielt dabei die Note „Strong“. Basierend auf den oben genannten, teils unterschiedlichen Bewertungen und Platzierungen ist ein eindeutiges Markenbild der Türkei nur bedingt möglich. Allerdings lässt sich schlussfolgern, dass die internationale Positionierung
2 Germany Retains Top “Nation Brand” Ranking, U.S. Out of Top Five Again, https:// www.ipsos.com/en-us/news-polls/Nation-Brands-Index-2018 3 Der komplette Datensatz zu diesem Index wurde nicht veröffentlicht, so dass Werte zur Türkei nicht verfügbar sind. 4 Bei diesem Index gibt es keine durchgängig ermittelten Daten, so dass dieser Wert nicht weiter betrachtet wird. Country Brand Ranking 2018, https://www.bloom-consulting. com/en/pdf/rankings/Bloom_Consulting_Country_Brand_Ranking_Trade.pdf 5 Nation Brands 2018, https://brandfinance.com/images/upload/brand_finance_nation_ brands_reports_2018.pdf
Bewertung der türkisch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen
103
hinsichtlich der Markenstärke der generellen Zuordnung der Türkei als Schwellenland gerecht wird. Wie sich der konjunkturelle Abschwung ab Mitte 2018 auswirkt, kann nur anhand der deutlichen Reduktion des Markenwertes von Brand Finance abgeschätzt werden. Unweigerlich führt ein wirtschaftlicher Einbruch zu einem Verlust der Markenstärke. Um die vorgestellten Ländermarkenbewertungen besser einzuordnen, sollen im Folgenden weitere Indices ergänzend betrachtet werden, die ebenfalls mehrere Indikatoren in einen Wert zusammenfassen. Allen voran kann dabei der Human Development Index (HDI) der Vereinten Nationen erwähnt werden, der nicht nur das Wirtschaftswachstum, sondern auch die Lebenserwartung und absolvierten Schuljahre in die Berechnung mitaufnimmt6. Bei diesem Ländervergleich belegt die Türkei zwar den 64. Rang, konnte aber seinen Wert seit 1990 kontinuierlich steigern. Auch gehört die Türkei zu den Ländern, die seit 2012 ihre Positionierung im Ranking deutlich gebessert haben. Beim alljährlichen Vergleich der Wettbewerbsfähigkeit, den das World Economic Forum (WEF) durchführt, ist die Türkei seit 2012 von Rang 42 auf 61 im Jahre 2018 abgerutscht, obgleich der jeweilige Wert leicht gestiegen ist7. Im zuletzt veröffentlichten Bericht werden die makroökonomische Stabilität und der Arbeitsmarkt schlechter als der Durchschnitt der „upper middle income“ Vergleichsgruppe bewertet. In puncto Marktgröße, Innovationsfähigkeit sowie Infrastruktur wird die Türkei verhältnismäßig gut eingestuft. Aus absatzmarktorientierter Perspektive ein deutlich attraktives Land, wohingegen institutionelle Faktoren und die volatile Gesamtentwicklung die Positionierung der Türkei verschlechtern. In der Abbildung 1 ist eine visuelle Gegenüberstellung der oben erwähnten Kennzahlen zu sehen, wobei für die Türkei jeweils der Rang im entsprechenden Jahr als Datenbasis herangezogen wurde. Da nicht immer alle Länder in die Berechnungen miteinbezogen werden, ist der Rang nicht immer vergleichbar. Kurzum lässt sich feststellen, dass sowohl beim Brand Finance als auch beim WEF-Ranking für die Jahre 2017 und 2018 ein Rückgang eingesetzt hat. Beim HDI ist hingegen ein steigender Trend zu beobachten.
6 Human Development Index http://hdr.undp.org/en/content/human-developmentindex-hdi 7 The Global Competitiveness Report 2018, http://www3.weforum.org/docs/GCR2018/ 05FullReport/TheGlobalCompetitivenessReport2018.pdf
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KOCAGÖZ und KOCAGÖZ
1
2010
2011
2012
2013
2014
2015
2016
2017
2018
Platzierung im jeweiligen Ranking
11 21
31 41 51 61 71
81
Brand Finance Ranking
WEF Ranking
Human Development Index
Abbildung 1: Rang der Türkei in ausgewählten Ländervergleichswerten Datenquelle: Brand Finance und World Economic Forum sowie Human Development Index
Nachdem aggregierte Werte im Mittelpunkt der Betrachtungen standen, ist es naheliegend, weitere gesamtwirtschaftliche Einzelwerte heranzuziehen, um die Aussagekraft zur Markenbewertung genauer zu untersuchen: Entwicklung der Exporte, Zufluss an ausländischen Direktinvestitionen und die Entwicklung der Touristenzahlen8. Wie bereits oben erläutert bietet ein Land dem internationalen Publikum seine Produkte zur Weiterverarbeitung und zum Konsum, seinen Standort zum Investieren und seine Natur- und Kulturlandschaft als Erholungsraum an. Die ins Ausland verkauften Produkte sind als Kombination der Fähigkeiten und Ressourcen und somit als Angebot eines ganzen Landes anzusehen. Die Attraktivität der Produkte erklärt sich zusätzlich mit komparativen Kostenvorteilen, welche sich mit einer Abwertung der Währung verstärken (Kutschker und Schmid, 2008: 385ff). Die Türkei konnte ihre Integration in den Weltmarkt kontinuierlich steigern. Vor allem ist ein deutlicher Schub zu Beginn der 1980er und 2000er Jahren zu sehen (siehe Abbildung 2). Doch nicht nur die absoluten Zahlen, sondern auch der Anteil am Weltexport legte zu. Die bereits genannte „Markenstärke“ 8 Um den Rahmen der Untersuchung nicht zu sprengen, wird auf eine Analyse der Daten zu Einwanderung (Standort als Wohn- und Arbeitsort) und Immobilienkäufe (Standort als dauerhafte Niederlassung) durch Ausländer verzichtet.
105
Bewertung der türkisch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen
160
0.9%
140
0.8%
0.6%
100
0.5%
80
0.4%
60
0.3%
40
Anteil am Weltexport
0.7%
120
0.2%
20
0.1%
0
0.0%
1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017
Export in Milliarden USD
resultiert mitunter aus dieser Integration in den Welthandel. Es werden also wettbewerbsfähige Produkte und Dienstleistungen erzeugt, die Abnehmer*innen im Ausland finden. Sozusagen werden Made in Turkey-Güter nachgefragt, die einerseits eine gewisse Markenstärke voraussetzt, aber auch Grundlage für eine weitere Festigung der Ländermarke auf dem globalen Marktplatz bildet.
Export in Mrd. USD
Anteil am Weltexport
Abbildung 2: Integration der Türkei in den Welthandel Datenquelle: Merchandise CD. WT
Export
https://data.worldbank.org/indicator/TX.VAL.MRCH.
Den Export erzeugen jedoch nicht nur heimische, sondern auch ausländische Unternehmen, die sich im Zuge von Direktinvestitionen in der Türkei niedergelassen haben. Dabei wirkt der Standort derart attraktiv, dass ein Unternehmen dort langfristig wertschöpfende Aktivitäten, unter anderem auch Produktionsstätten, aufbaut und sowohl den Binnen- als auch Auslandsmarkt mit Waren bedient. Zu einer Direktinvestition zählt aber auch der Kauf von Unternehmen. Ein Standort bietet somit nicht nur günstige Bedingungen für den kompletten Neuaufbau einer unternehmerischen Aktivität sondern auch heimische Unternehmen als Kaufobjekt, die den Markteintritt in das jeweilige Land beschleunigen. Bestehende und genutzte Investitionsmöglichkeiten stehen somit für die realisierte Nachfrage nach den Ressourcen eines Landes. Auch in diesem Fall strahlt der Standort einen Wert aus, der durch getätigte Investitionen einen Beitrag zur Wertsteigerung der Ländermarke leistet.
106
KOCAGÖZ und KOCAGÖZ
Ähnlich dem Export nahmen auch die ausländischen Direktinvestitionen seit 1980 zu (Abbildung 3). Die höchsten Zuflüsse erfolgten Mitte der 2000er Jahre als die Türkei offiziell zur EU-Beitrittskandidatin gekürt wurde. Seitdem ist der Wert rückläufig bzw. ist Schwankungen unterlegen. Bei dem Anteil an den weltweit getätigten Direktinvestitionen, den die Türkei an sich ziehen kann, ist für den gesamten Zeitraum eine Steigerung zu beobachten. Eine dauerhafte unternehmerische Tätigkeit in einem fremden Markt erfordert ein starkes Bekenntnis zu dem jeweiligen Standort, da sowohl wirtschaftliche als auch politische Risiken unternehmerische Aktivitäten stark beeinträchtigen. Dies gilt im besonderen Maße für die Türkei. Für neue Unternehmen kann selbst eine starke Ländermarke, wie es Brand Finance für 2018 trotz Markenwertverlust konstatiert, nicht ausreichend sein, um dort dauerhaft zu investieren.
0.8% 15
0.6%
10
0.4%
5
0.2%
0
0.0%
Ausländische Direktinvestitionen in Mrd. USD
Anteil der Türkei an globalen Direktinvestitionen
20
1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017
Ausländische Direktinvestitione in Milliarden USD
1.0%
Anteil an den globalen Direktinvestitionen
Abbildung 3: Integration der Türkei in den Welthandel Datenquelle: Foreign Direct Investment, https://data.worldbank.org/indicator/BX.KLT.DINV. CD.WD
Abschließend soll ein Blick auf die Zahlen zum Tourismus geworfen werden. Tourist*innen verbringen zwar nur eine kurze Zeit in einem Land, dienen aber in der Gesamtzahl ebenfalls als Indikator für die Attraktivität einer Destination insbesondere der Natur- und Kulturlandschaft. Anders als bei den vorangegangenen zentralen außenwirtschaftlichen Kennzahlen befindet sich die Türkei bei den Fremdenverkehrszahlen weltweit in der Spitzengruppe. Im Jahr 2017
Bewertung der türkisch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen
107
besuchten über 39 Millionen Touristen die Türkei, womit sie unter den beliebtesten Destinationen weltweit auf Platz 7 rangiert9. Seit 1995 ist die Anzahl der Besucher*innen aus dem Ausland von sieben Millionen auf über 39 Millionen in den Jahren 2015 und 2017 gestiegen10. Allerdings schlagen sich die hohen Touristenzahlen nicht im gleichen Maße bei den Einnahmen nieder. So erzielte die Türkei 2017 Einnahmen in Höhe von 22 Milliarden USD, wohingegen beispielsweise Thailand mit etwas weniger Tourist*innen deutlich mehr (57 Milliarden USD) erwirtschaftete11. Gemäß den Country Branding-Definitionen ist es auch ein Ziel von Ländern, Talente anzulocken, um von den Fähigkeiten der Einzelnen zu profitieren. Daher sollen kurz Studierende und Arbeitnehmer*innen, die wie Investor*innen attraktive Standorte bevorzugen, Erwähnung finden, da sie zu Know-how-Träger*innen in der Gegenwart und Zukunft gehören sowie die Ländermarkenanalyse vervollständigen. Die Anzahl von Studierenden aus dem Ausland ist in der Türkei von Jahr zu Jahr gestiegen, wobei nur eine kleine Anzahl aus Deutschland kommt. Die Mehrzahl der ausländischen Studierenden kommt aus Aserbaidschan, Turkmenistan und aus Syrien12. Dies gilt im Wesentlichen auch für die Arbeitnehmer*innenstatistik. Eine plausible Erklärung für die geringe Anzahl von ausländischen Mitarbeiter*innen ist womöglich die Tatsache, dass ausländische Unternehmen auf kostengünstige inländische Arbeitskräfte zurückgreifen. Dies ist schließlich mitunter auch ein Grund für eine Direktinvestition (Kutschker und Schmid, 2008: 90). Dennoch wird die Türkei in einer alljährlichen Expat-Befragung von InterNations regelmäßig einbezogen und vor allem in puncto Lebensqualität negativ bewertet (Platz 53 von 68 Ländern)13. Wie bei den Country Branding-Daten auch ergibt der Kurzüberblick an verschiedenen Kennzahlen ein uneinheitliches Bild der Türkei. Für Export und Tourismus erscheint die Türkei attraktiv, wohingegen bei Direktinvestitionen
9 Beliebteste Reiseziele aller Nationen nach Anzahl der Besucher im Jahr 2017 in Millionen, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/181644/umfrage/beliebteste-reiseziele-aller-nationen-nach-besucher/ 10 International Tourism, Number of Arrivals, https://data.worldbank.org/indicator/ ST.INT.ARVL 11 International Tourism, Receipts, https://data.worldbank.org/indicator/ST.INT.RCPT. CD 12 Global Flow of Tertiary-Level Students, http://uis.unesco.org/en/uis-student-flow 13 Expat Insider Survey Reveals the Best and Worst Countries for Expats in 2018, https:// www.internations.org/press/press-release/expat-insider-survey-reveals-the-best-andworst-countries-for-expats-in-2018-39690
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KOCAGÖZ und KOCAGÖZ
der türkische Standort uneinheitlich nachgefragt wird. Für das Studieren und Arbeiten liegen nur sehr wenige Daten vor, so dass die Aussagekraft gering ist. Zudem müssten diese Bereiche gesondert analysiert werden. Es wird offensichtlich, dass die Ländermarke Türkei bei den wichtigen Direktinvestitionen eine geringe Ausstrahlungskraft besitzt. Für Ausfuhren und Fremdenverkehr lässt sich die Ländermarke hingegen als attraktiv bezeichnen.
Türkisch-Deutsche Wirtschaftsbeziehungen: Zahlen und Daten
40
17%
35
16% 15%
30
14%
25
13%
20
12%
15
11%
10
10%
5 0
9% 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018
Anteil Deutschlands am türkischen Außenhandel
Außenhandelswerte in Milliarden USD
Deutschland ist ein wichtiger Außenhandelspartner der Türkei. Das Außenhandelsvolumen zwischen den beiden Ländern bewegt sich seit 2011 seitwärts rund um eine Spanne von 34–37 Milliarden USD (siehe Abbildung 4). Allerdings hat der Anteil Deutschlands sowohl bei Export und Import stetig abgenommen, was aber vor allem daran liegt, dass die Türkei den Handel mit anderen Ländern ausgebaut hat. Die Hälfte der türkischen Ausfuhren geht in Richtung der EU 28-Staaten, wohingegen etwas über 36% der Einfuhren aus den EU-Staaten stammen.
8%
Türkische Exporte nach Deutschland
Deutsche Exporte in die Türkei
Außenhandelsvolumen
Anteil Deutschland am türkischen Export
Anteil Deutschlands am türkischen Import
Abbildung 4: Entwicklung des Handels zwischen Deutschland und der Türkei Datenquelle: Dış Ticaret İstastikleri, Aralık 2018, http://www.tuik.gov.tr/PreHaberBultenleri. do?id=30652
Bei den alljährlichen Zuflüssen an ausländischen Direktinvestitionen spielt Deutschland eine untergeordnete Rolle, wenn auch der relative Anteil in den
109
Bewertung der türkisch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen
Direktinvestitionen in Millionen USD
20000
20
18000
16000 15
14000 12000 10000
10
8000 6000
5
4000 2000 0
2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 Deutsche Direktinvestitionen in Mio USD
0
Anteil Deutschlands an den Direktinvestitionen
Jahren 2003 und 2013 zeitweise die 20 Prozent-Marke erreichte (siehe Abbildung 5). Die kumulierte Investitionssumme deutscher Unternehmen in der Türkei beläuft sich zwischen 2002 und 2018 (November) auf eine Summe von etwa 9,5 Milliarden USD, was einem Anteil an dem gesamten Zufluss der ausländischen Direktinvestitionen von etwa 6,2% entspricht14. In der Türkei befinden sich über 6.500 deutsche Unternehmen, die etwa 120.000 Mitarbeiter beschäftigen15.
Ausländische Direktinvestitionen gesamt
Anteil D in %
Abbildung 5: Entwicklung deutscher Direktinvestitionen im Vergleich Datenquelle: (Ödemeler Dengesi Istastikleri – November 2018, http://www.tcmb.gov.tr/wps/ wcm/connect/TR/TCMB+TR/Main+Menu/Istatistikler/Odemeler+Dengesi+ve+Ilgili+Istatistikler/Odemeler+Dengesi+Istatistikleri/; Anmerkung: Wert für 2018 nur von Januar bis November.
14 Ödemeler Dengesi Istastikleri – November 2018, http://www.tcmb.gov.tr/wps/wcm/ connect/TR/TCMB+TR/Main+Menu/Istatistikler/Odemeler+Dengesi+ve+Ilgili+Istatistikler/Odemeler+Dengesi+Istatistikleri/ 15 Türkei braucht demokratische Strukturen, um Vertrauen zurückzugewinnen, https:// bdi.eu/artikel/news/tuerkei-braucht-demokratische-strukturen-um-vertrauen-zurueckzugewinnen/
110
KOCAGÖZ und KOCAGÖZ
6,000,000
30
5,000,000
25
4,000,000
20
3,000,000
15
2,000,000
10
1,000,000
5
0
20022003200420052006200720082009201020112012201320142015201620172018 Anzahl deutscher Touristen
Anteil deutscher Touristen
Anzahl deutscher Touristen
Lange Zeit dominierten deutsche Besucher*innen den Tourismus in der Türkei (siehe Abbildung 6). Etwa ein Drittel der Tourist*innen kamen 2002 aus Deutschland, wohingegen dieser Anteil im Jahr 2017 auf elf Prozent abrutschte16. Dennoch besuchten 2015 über fünf Millionen Deutsche die Türkei, ehe die absoluten Zahlen in den folgenden Jahren deutlich einbrachen. Allerdings nimmt die Zahl deutscher Tourist*innen wieder zu und erreichte bis einschließlich November 2018 einen Wert von 4,5 Millionen. Das hat sich bereits gegen Ende 2018 abgezeichnet, da die Türkei-Buchungen im Vergleich zum Vorjahr deutlich zulegten (Schlautmann 2018: 16–17).
0
Anteil deutscher Touristen
Abbildung 6: Deutsche Tourist*innen in der Türkei Datenquelle: (Ödemeler Dengesi Istastikleri – November 2018, http://www.tcmb.gov.tr/wps/ wcm/connect/TR/TCMB+TR/Main+Menu/Istatistikler/Odemeler+Dengesi+ve+Ilgili+Istatistikler/Odemeler+Dengesi+Istatistikleri/
16 Ödemeler Dengesi Istastikleri – November 2018, http://www.tcmb.gov.tr/wps/wcm/ connect/TR/TCMB+TR/Main+Menu/Istatistikler/Odemeler+Dengesi+ve+Ilgili+Istatistikler/Odemeler+Dengesi+Istatistikleri/
Bewertung der türkisch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen
111
Stand der Beziehungen Aus den vorgestellten Kennzahlen wird das Potenzial der türkisch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen deutlich. Die Zahlen zeigen jedoch auch, dass das Wachstum vor allem in den letzten Jahren stockt. Ein Grund hierfür ist die volatile Entwicklung der türkischen Wirtschaft. Generell werden die Aussichten im Rahmen einer halbjährlich durchgeführten Umfrage der deutschen Außenhandelskammern schlechter eingeschätzt, wobei die aktuelle Geschäftslage generell positiv bewertet wird17. Für das Jahr 2018 konnte die Türkei bedingt durch den Wertverlust der Türkischen Lira (TL) die Exporte im Vorjahresvergleich um sieben Prozent auf 168 Milliarden USD steigern. So auch die Exporte nach Deutschland, wobei die Importe rückläufig waren. Auf deutscher Seite klagen Wirtschaftsvertreter*innen vor allem über zunehmende Handelsbarrieren18. Größere deutsche Unternehmen sind jedoch weiterhin an der Intensivierung der Beziehungen interessiert. Beispiele hierfür sind Energieprojekte, die E.ON im Rahmen eines Joint-Venture mit der Sabancı-Gruppe verfolgt und auch Siemens, das sich im weiteren Ausbau des Hochgeschwindigkeitsnetzes mit Zügen beteiligen möchte (Bollmann 2018: 26–27). Es müssen jedoch vermehrt kleinere und mittlere Unternehmen aus Deutschland in die Türkei investieren, um einen weiteren Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen voranzutreiben. Allerdings bringen diese Unternehmen den türkischen Standort in erster Linie mit sehr vielen Risiken in Verbindung. Äußerungen von Vertreter*innen aus Wirtschaft und Politik umschreiben in wenigen Sätzen den Zustand der türkisch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen, indem die Schwankungen zwar erwähnt werden, aber die Aussichten für die weitere Entwicklung stets positiv bleiben:„…Ich lebe seit 18 Jahren in der Türkei und habe viele Höhen und Tiefen des Landes miterlebt. Die türkische Wirtschaft besitzt die phänomenale Fähigkeit, diese Krisen zu überwinden und sich gleichzeitig weiterzuentwickeln. Ich habe deshalb großes Vertrauen in die türkische Wirtschaft entwickelt…“, so Martin Wansleben, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelstages (DIHK) in einem Interview19. Für politische
17 AHK World Business Outlook, https://www.dihk.de/themenfelder/international/aussenwirtschaftspolitik-recht/umfragen-und-zahlen/ahk-world-business-outlook 18 Außenwirtschaftsreport, https://www.dihk.de/themenfelder/international/aussenwirtschaftspolitik-recht/umfragen-und-zahlen/aussenwirtschaftsreport 19 Verzicht auf wirtschaftliche Tätigkeit kann zum Brandbeschleuniger werden, https:// www.deutschlandfunk.de/dihk-zu-altmaier-besuch-in-ankara-verzicht-auf.694. de.html?dram:article_id=431431
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KOCAGÖZ und KOCAGÖZ
Entscheidungsträger*innen, wie Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier im Vorfeld des Türkeibesuchs Ende Oktober 2018, wird hingegen das Dilemma zwischen politisch bedingter Zurückhaltung und der Neigung, wirtschaftliche Aktivitäten voranzutreiben, deutlich: „…die Interessen deutscher Unternehmen vertreten, die sagen, wir brauchen in der Türkei stabile rechtsstaatliche Rahmenbedingungen. Das muss möglich sein für einen Wirtschaftsminister. Ich habe die Interessen vertreten von Unternehmen, die sagen, wir fühlen uns in unseren Aktivitäten unsicher. Und es ist eine gemeinsame Politik der Bundesregierung, dass wir deutsche Unternehmen im Ausland unterstützen…“20. Das Verhalten gegenüber der Türkei ist auch von der öffentlichen Stimmungslage in Deutschland abhängig, was im Rahmen einer politbarometer-Befragung im September 2018 deutlich wird: 66 Prozent haben sich gegen wirtschaftliche Hilfen geäußert, wohingegen 28 Prozent dafür votierten21. Hingegen plädierte der Präsident des ifo-Instituts Clemens Fuest für ein stärkeres Engagement Europas, ohne dabei konkrete Maßnahmen zu benennen: „…Es liegt im Interesse Europas, einen wirtschaftlichen Absturz der Türkei zu verhindern…“22. Da finanzielle Hilfen ohnehin in den Zuständigkeitsbereich des Internationalen Währungsfonds (IWF) fallen, kann die EU vor allem über die Ausweitung der Zollunion oder womöglich mit einem Freihandelsabkommen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit der Türkei einen neuen Schub geben, unabhängig von den festgefahrenen Beitrittsverhandlungen23.
Potenziale der türkischen Ländermarkenentwicklung Um zu der Ausgangsfrage zurückzukommen, lässt sich schlussfolgern, dass die Ländermarkenbetrachtung eine differenzierte Sichtweise auf die deutschtürkischen Beziehungen und mögliche Ansatzpunkte für eine Vertiefung der 20 Müller Dirk, Es wird keine Waffenlieferung geben, https://www.deutschlandfunk.de/ altmaier-zum-fall-khashoggi-und-saudi-arabien-es-wird-keine.694.de.html?dram:article_id=431548 21 Politbarometer September 2018, https://www.zdf.de/nachrichten/heute/zdf-politbarometer-gegen-hilfen-fuer-tuerkei-100.html 22 Münchrath Jens, „Wir müssen uns massive Sorgen machen“ – Clemens Fuest fordert Hilfen für die Türkei, https://www.handelsblatt.com/politik/international/interviewwir-muessen-uns-massive-sorgen-machen-clemens-fuest-fordert-hilfen-fuer-dietuerkei/22901494.html 23 Zapf Marina, EU-Türkei: Warum ein Rückschritt in Wirklichkeit ein Fortschritt wäre, https://www.capital.de/wirtschaft-politik/eu-tuerkei-warum-ein-rueckschritt-in-wirklichkeit-ein-fortschritt-waere
Bewertung der türkisch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen
113
Zusammenarbeit bietet. Der Außenhandel bildet eine wichtige Säule in den wirtschaftlichen Beziehungen beider Länder und sorgt auf türkischer Seite für eine Markenrobustheit. Diese erklärt sich dadurch, dass trotz gesamtwirtschaftlicher Schwankungen Exporte und Touristenzahlen zunehmen. Auch wenn die Ausweitung des Außenhandels für beide Seiten von Vorteil ist, profitiert die Türkei überdurchschnittlich von steigenden Ausfuhren. Dies sorgt für eine weitere Stärkung der Ländermarke. Einen wesentlichen Beitrag für die Markenentwicklung leisten auch zufließende ausländische Direktinvestitionen, da diese als Zuspruch für die wirtschaftliche Attraktivität eines Landes gelten (Lee 2016: 810). Insbesondere globale Konzerne versprechen sich durch eine direkte Investition in dem jeweiligen Land mehr Einnahmen als durch einen reinen Export möglich wäre. Sie nutzen damit Standortvorteile, müssen aber auch Standortnachteile in Kauf nehmen. Diese schrecken Unternehmen generell zu Beginn einer Investition in einem fremden Land ab, da sich dadurch die Anlaufkosten erhöhen. Den Standort mit Investitionen zu stärken und damit die Ländermarke zu fördern, ist eine effektive Vorgehensweise, um die Attraktivität eines Standortes insgesamt zu erhöhen und somit für weitere Direktinvestitionen aus dem Ausland zu sorgen. Dabei müssten sich die Rahmenbedingungen bessern, damit gerade spezialisierte und technologische Unternehmen investieren. Markenbildung und Markenentwicklung ist somit einerseits mit bestehenden Unternehmen in dem Land möglich, aber auch Voraussetzung für neuere ausländische Investitionen. Ausländische Studierende und Arbeitnehmer*innen in der Türkei sind ebenfalls wichtig, um die Markenentwicklung voranzutreiben. In der Türkei nimmt die Zahl der eingeschriebenen Studierenden aus dem Ausland zu, auch die der Deutschen24. Studierende stehen auch als Fachkräfte für deutsche Unternehmen zur Verfügung, so dass ein verstärktes Werben für ausländische Studierende für die Ländermarkenentwicklung von Vorteil wäre. Dies gilt auch für die Entsendung von Arbeitnehmer*innen. Einen Beitrag leisten dabei türkischstämmige deutsche Staatsangehörige, die mit den wahrgenommenen Widrigkeiten des türkischen Marktes besser umgehen können. Bisher wirkt die Türkei als Studierund Arbeitsstandort vorwiegend attraktiv für Menschen aus Aserbaidschan, Zentralasien und dem arabischen Raum. Dabei kommt die Vielzahl der ausländischen Direktinvestitionen aus Europa, was aber nicht für die Studierenden und Arbeitnehmer*innen gilt.
24 Yüksekögretim Bilgi Yönetim Sistemi, https://istatistik.yok.gov.tr/
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KOCAGÖZ und KOCAGÖZ
Es wird offensichtlich, dass den bereits in der Türkei tätigen deutschen Unternehmen eine Schlüsselrolle bei der Gestaltung der Beziehungen der beiden Länder zukommt. Sie bilden durch die Vernetzung der Wertschöpfungsketten ein Teil des Außenhandels ab und können für weitere Investitionen sorgen. Sie bieten auch Gelegenheiten für Entsendungen, was sich auf die Markenwahrnehmung langfristig positiv auswirken kann. Kontakte zu deutschen Unternehmen sind womöglich ein weiterer Beweggrund, in der Türkei zu studieren. Mit Forschungsprojekten und Geschäftsmodellentwicklungen bieten sich auch Möglichkeiten für talentierte Fachkräfte sowohl aus dem Inland als auch aus Deutschland, kulturelle Vorteile einer Metropole wie in Istanbul auszuschöpfen und gleichzeitig die allgemeine Standortattraktivität zu steigern. Mit derartigen Ansätzen ist der Hebel für die Förderung der Ländermarkenentwicklung größer, da mit dem gut ausgebauten Zustand der türkisch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen vielfältige Ansatzpunkte für Kooperationen vorliegen und im Ergebnis überdurchschnittliche Wirkungen erzielt werden können. Mit einer Fokussierung der wirtschaftlichen Aktivitäten auf Deutschland muss keine Abkehr von einer weiteren geographischen Diversifizierung des türkischen Außenhandels einhergehen. Vielmehr soll damit ein bestehendes Potenzial intensiver ausgeschöpft werden.
Schluss Ausgehend von den Erkenntnissen der Marketinglehre lassen sich ganze Volkswirtschaften als Entität begreifen, die im globalen Wettbewerb um Handelspartner, Investoren und Talente stehen. Insbesondere für die wirtschaftspolitische Administration eines Landes liefern Daten aus den Ländermarkenanalysen Ansatzpunkte für Handlungen und Maßnahmen, die die gesamtwirtschaftliche Entwicklung verbessern können. Die Türkei präsentiert sich auf Basis der vorliegenden Analyse als robuste Ländermarke, die im Außenhandel und Tourismus auf eine gute Wettbewerbsposition verweisen kann. Bei den Direktinvestitionen, die mit den makroökonomischen Schwankungen und Risiken in dem jeweiligen Land stärker konfrontiert sind, stagniert das Volumen, das die Türkei anziehen kann. Angesichts dieser Gesamtsituation bieten die vielschichtigen Wirtschaftsbeziehungen zu Deutschland viele Möglichkeiten, sowohl die volkswirtschaftliche Entwicklung zu stabilisieren als auch die Ländermarke Türkei zu fördern. Die Ländermarkenperspektive ist eine Ergänzung zu den zahlreichen Kennzahlen, die für Volkswirtschaften erfasst und berechnet werden. Im vorliegenden Beitrag erfolgte eine Analyse der türkisch-deutschen Beziehungen aus der Perspektive der türkischen Ländermarke insbesondere mit ausgewählten
Bewertung der türkisch-deutschen Wirtschaftsbeziehungen
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makroökonomischen Daten. Wie die Ländermarke der Türkei in Deutschland wahrgenommen wird, konnte an dieser Stelle nicht ermittelt werden. Denn für eine ganzheitliche Ländermarkenanalyse der Türkei wäre eine zusätzliche Berücksichtigung von weiteren Markendimensionen wie zum Beispiel Ansehen und Reputation, vor allem aus Sicht von Institutionen und Gesellschaft in Deutschland notwendig. Neben der wirtschaftlichen Perspektive ist auch eine soziokulturelle und politische Seite der Ländermarkenanalyse wichtig. Denn bei der Markenwahrnehmung spielen nicht nur objektive, sondern auch subjektive bzw. emotionale Kriterien eine Rolle. Um dies genauer untersuchen zu können, müssten weitere Daten im Zuge einer Feldforschung erhoben werden. Die daraus erzielten Ergebnisse würden einen wichtigen Beitrag für die Analyse der türkischen Ländermarke leisten.
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Die Rolle der deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen in der türkischen Kultur Einleitung Mustafa Kemal Atatürk ist der Gründer der Republik Türkei, die nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches entstanden ist. Mit der Gründung der Republik Türkei setzte Atatürk einen Umbruch in der gesamten Region in Gang. Dies bezieht sich nicht nur auf die Namensgebung – Republik Türkei –, sondern auch auf die Entwicklung der türkischen Kultur, die in den Anfangsjahren der Republik unter starkem Einfluss von Atatürk stand. In der aktuellen Literatur zur Türkeiforschung ist festzustellen, dass der Kulturbegriff als gegeben angesehen wird und man sich stärker inhaltlich mit der türkischen Kultur auseinandersetzt. Auffällig ist hierbei, dass sich der inhaltliche Diskurs in der Regel auf soziale Bereiche bezieht, wobei sich hier die Frage stellt, ob der Begriff Kultur sich nur auf diese Bereiche bezieht oder ob man ihn nicht weiter fassen kann – oder sogar sollte. Einen wichtigen Beitrag zur Beantwortung dieser Frage leistete der Kulturphilosoph Ernst Cassirer. Unter Beachtung seiner Ausführungen zeigt sich, dass der Begriff Kultur in der Türkeiforschung meist eng ausgelegt wird. Nach Cassirer erfasst der Begriff Kultur sämtliche Bereiche eines Sozialsystems und spiegelt sich in verschiedenen Formen im Alltag einer Gesellschaft wieder. Cassirer spricht in diesem Zusammenhang von symbolischen Formen. Diese Formen haben Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung, wodurch sie sich wiederum selbst verändern. Aus diesem Grund kann man aus den Formen heraus das Kulturverständnis einer Gesellschaft ableiten. Cassirers kulturphilosophische Ausführungen fanden auch Eingang in die Techniksoziologie, da nach seiner Auffassung jede Technik eine symbolische Form verkörpert, wodurch die Entwicklung einer Gesellschaft dargestellt wird und damit ihr Kulturverständnis. So werden im folgenden Aufsatz Cassirers kulturphilosophische Ausführungen zur Technik als Grundlage des Industrialisierungsprozesses in den Anfangsjahren der Republik Türkei angenommen. 1 Dr. rer. pol. Meral Avci, Postdoctoral Research Fellow, Research Group Electronic Business, RWTH Aachen, E-mail: [email protected]
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Dies soll helfen, das Handeln der Türkei im Rahmen der deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen zu verstehen. Der türkische Industrialisierungsprozess schritt in den Anfangsjahren der Republik Türkei auch mithilfe der deutschtürkischen Wirtschaftsbeziehungen voran. Somit spielt die deutsche Technologie im türkischen Wirtschaftsaufbau eine bedeutende Rolle. Davon ausgehend stellt sich die Frage, welchen Beitrag die deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen zur Entwicklung der türkischen Kultur leisteten. Für die Beantwortung dieser Frage wird zunächst auf Ernst Cassirers kulturphilosophische Ausführungen eingegangen. Anschließend werden einzelne Projekte im Rahmen der deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen vorgestellt. Dabei geht der Aufsatz besonders auf die Wirtschaftsbereiche ein, die Atatürks geistige Haltung in der Republik Türkei als Folge seiner Erfahrungen im Osmanischen Reich und während des türkischen Unabhängigkeitskrieges prägten. Diese Erfahrungen umfassten zum einen die Wahrnehmung einer wirtschaftlichen Unterlegenheit des Osmanischen Reiches im Vergleich zu den europäischen Mächten – beispielsweise konnte es seine natürlichen Ressourcen nicht selbst abbauen und verarbeiten – und zum anderen die mangelnde infrastrukturelle Entwicklung des Transportwesens im türkischen Unabhängigkeitskrieg. Als Folge dieser Erfahrungen war Atatürk nach der Gründung der Republik Türkei stets darauf bedacht, das Niveau der türkischen Wirtschaft möglichst rasch auf das Niveau der europäischen Mächte anzuheben und das Transportwesen auszubauen. Die Wirtschaftsprojekte, die sich hieraus ergaben, sind in diesem Zusammenhang zu bewerten. Auf der Grundlage der daraus gewonnenen Erkenntnisse wird die oben aufgeworfene Frage beantwortet.
Ernst Cassirers Verständnis der Technikkultur Ernst Cassirer leistete in seinem Hauptwerk „Philosophie der symbolischen Formen“ einen wichtigen Beitrag zum universellen Kulturverständnis. Er stellt den Menschen in den Vordergrund seiner Überlegung (Häußling, 2014: 61). Nach Cassirer ist der Mensch ein Gestalter. Dabei sind ihm keine Grenzen auferlegt; seine Grenze ist lediglich seine geistige Haltung (Häußling, 2014: 62). Angelehnt an seine Erfahrungen und Erwartungen bestimmt sein schöpferischer Geist, in welchem Ausmaß er die menschliche Lebenswelt durchdringt und erschließt. Dieses Ausmaß legt auch sein Kulturverständnis fest. Das individuelle Kulturverständnis lässt sich erweitern auf das gesellschaftliche Kulturverständnis. Jede Gesellschaft hat ihr eigenes Kulturverständnis, das sich in den kollektiven Objekten der Gesellschaft widerspiegelt (Häußling, 2014: 61). Im Bereich Mythos entwickeln sich die ersten Symbole, womit dieser
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Bereich die Basis für die Kulturbildung einer Gesellschaft darstellt und sie erst einmal prägt. Eine Gesellschaft verlässt diesen Bereich mit ihrer Aufklärung und bewegt sich in Richtung der Bereiche Technik und Sprache (Krois, 1987: 95). Beide Bereiche rückkoppeln sich in einem iterativen Prozess. Die Technik nutzt die Sprache, um ihre geistige Darstellung mithilfe von Wörtern auszudrücken. Die Sprache hingegen bietet der Technik die Möglichkeit, Wörter zu benutzen, indem sie sich entsprechend weiterentwickelt (Kreis, 2010: 383). Die Bereiche Technik und Sprache ergänzen sich somit hinsichtlich ihrer Erkenntnisse beständig, wodurch sie gemeinsam wachsen. Dabei steht ihre Entwicklung in der Abhängigkeit der gesellschaftlichen Bereitschaft, den mythischen Bereich geistig zu überwinden. Je mehr eine Gesellschaft geistig bereit ist, den mythischen Bereich zu verlassen, umso kritischer wird sie in den Bereichen Technik und Sprache, woraus sich aus diesen beiden Bereichen wiederum die Bereiche Geschichte, Wissenschaft, Kunst und Recht heraus entwickeln (Schwemmer, 1997: 24). Keineswegs handelt es sich hierbei um einen dreistufigen SymbolProzess. Die Bereiche Mythos, Sprache und Technik gehen ineinander über und entwickeln die anderen Bereiche, so dass in der Gesamtheit dieser Bereiche die Kultur einer Gesellschaft entsteht. Eine Kultur drückt sich im Gesamtzusammenhang ihrer symbolischen Formen aus, die in den einzelnen Bereichen gestaltet werden und alles Sinnliche umfassen (Schwemmer, 1997: 62–63). So wird die Immaterialität des Geistes mithilfe von Symbolen in Materialität überführt, womit jedes Symbol einen inneren Gehalt hat. Betrachter können das Symbol kontextualisieren und zuordnen. Hierbei sperrt sich Cassirer gegen eine Systematisierung der Symbole: Ihre Gesamtheit macht ihren Wertgehalt aus. Zugleich muss aber jedes Symbol in seinem Gesamtkontext betrachtet werden, um seinen Beitrag zum gesellschaftlichen Kulturverständnis zu verstehen (Schwemmer, 1995: 37). Cassirers Kulturverständnis ist dynamisch geprägt. Unabhängig von dem betrachteten Bereich verändern sich mit jeder Entwicklung die Position des Menschen und damit die Wahrnehmung seiner Welt, wodurch sich wiederum seine geistige Haltung verändert; die Kultur ist eine Art fortschreitende Selbstbefreiung des Menschen (Recki, 2004: 39). So stellt sich der Mensch im technischen Bereich nicht die Frage nach dem Stand der aktuellen Technik, sondern wie die Technik noch sein könnte. Der Geist ist also der menschliche Wille, etwas zu verändern, der sich im sinnvollen Tun wiederspiegelt. Dieser entwickelt sich zu einem sinngebenden Tun, wodurch der Geist in einer bestimmten Form wiedergegeben wird (Schwemmer, 1997: 17). Die Verwendung von Technik schafft ein grundlegend anderes Verhältnis zwischen dem Menschen und seiner Umwelt. Es entsteht eine komplexe
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Wechselbeziehung zwischen dem technologischen Symbol und den Symbolen in den anderen gesellschaftlichen Bereichen wie Wissenschaft, Staat etc. Dadurch entwickeln sich die gesellschaftlichen Teilbereiche nicht unabhängig voneinander oder nebeneinander, sondern in einem ständigen Austausch, womit die Wirkung der Technik über ihren eigenen Horizont hinausgeht (Cassirer, 1985: 42). Dabei erfüllen die Symbole eine bestimmte Funktion. Cassirer unterscheidet zwischen der Ausdrucks-, Darstellungs- und Bedeutungsfunktion (Häußling, 2014: 63). Bei der Ausdrucksfunktion wird zwischen dem Zeichen und der bezeichneten Sache nicht unterschieden, wie zum Beispiel bei Bildern in der Kunst. Die Darstellungsfunktion hingegen verknüpft das Zeichen mit Sprache. Somit wird ein objektiver Sachverhalt hergestellt, der in Begriffen für die Menschen dingfest gemacht wird. Die Begriffsbezeichnung muss hierbei aber nicht immer zutreffend sein, woraus sich beispielsweise in der Wissenschaft Diskurse ergeben, die in Erläuterungen, Korrekturen etc. ihren Höhepunkt finden. So geht beispielsweise der Bereich Technik dazu über, mit Naturgesetzen zu argumentieren und seine Erkenntnisse mit formellen Zeichen auszudrücken. Hieraus erhalten symbolische Formen ihre Bedeutungsfunktion. Folglich ist die Form des technischen Wirkens wichtig und nicht das technische Artefakt selbst. Das technische Artefakt stellt den menschlichen Willen in einer körperlichen Form dar, wie er die Wirklichkeit begreift, fasst und gestaltet (Cassirer, 1985: 45, 49, 52). Demnach hat die Technik eine Identität, die wirkt. Aus der Wahrnehmung heraus entwickelt sich wiederum eine Erkenntnis, die einen Lösungsansatz für ein anderes bestimmtes Problem bietet (Endres, 2019: 38). Diese Dynamik repräsentiert schließlich die gesellschaftliche Dialektik.
Zwischenergebnis Nach Ernst Cassirer entwickelt sich also die Kultur einer Gesellschaft ausgedrückt mit symbolischen Formen in verschiedenen Bereichen. Zu diesen Bereichen gehört auch die Technik. Im Folgenden wird nun erläutert, wie sich dieser Bereich in der Republik Türkei entwickelte und welche Rolle hierbei die deutsche Wirtschaft spielte.
Die Entwicklung der türkischen Kultur Die Republik Türkei wurde über Nacht aus den Trümmern des Osmanischen Reiches geschaffen. Die Gründer*innen standen vor der Aufgabe, die Republik mit wirtschaftlichen, politischen und sozialen Werten zu füllen. Hierfür wurden Einzelprojekte und Pläne entwickelt sowie Maßnahmen verabschiedet. Bei deren inhaltlicher Gestaltung spielten Mustafa Kemal Atatürks Analysen basierend auf
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seinen Erfahrungen im Osmanischen Reich und im türkischen Unabhängigkeitskrieg eine große Rolle. So hatte er kein Programm bei der Gründung der Republik Türkei zur Hand. Die Einzelprojekte, Pläne und Maßnahmen in den darauffolgenden Jahren ergaben sich vielmehr aus dem analysierten Bedarf der jeweiligen Situation heraus. Atatürks Ideen wurden dann im Jahr 1931 unter dem Begriff „Kemalismus“ zusammengefasst, der sich aus den Prinzipien Populismus, Laizismus, Nationalismus, Etatismus und Republikanismus zusammensetzte (Ahmad, 2014: 88). Sämtliche Entwicklungen unter diesen Prinzipien stellten in ihrer Gesamtheit die türkische Kultur dar und dienten als Maßstab für das gesellschaftliche Verhalten. Hierbei wurden insbesondere gesellschaftlicher Zusammenhalt, territoriale Unabhängigkeit und gesellschaftlicher Fortschritt vermittelt (Keskin, 1981: 70 f., 91). Die Beschreibungen der Prinzipien waren relativ allgemein gehalten und erlaubten eine situationsbedingte Interpretation (Ahmad, 2014: 88). Bei sämtlichen Entwicklungen unter diesen Prinzipien war es ein großes Anliegen der türkischen Republikgründer*innen, einen deutlichen Unterschied zur osmanischen Phase zu markieren und einen Umbruch zu signalisieren. Die Republik Türkei sollte möglichst zeitnah auf ein Entwicklungsniveau gebracht werden, das mit den westlichen Mächten Schritt halten konnte (Ahmad, 2014: 84). Die westlichen Mächte hatten ihren Fortschritt im späten 18. Jahrhundert, im 19. Jahrhundert und Anfang des 20. Jahrhunderts innerhalb zweier Industrialisierungswellen verwirklicht: Die erste Industrialisierungswelle basierend auf Kohle, Dampfmaschine und Eisen hatte im späten 18. Jahrhundert England und Schottland transformiert; die zweite Industrialisierungswelle – erweitert um die Komponenten Stahl, Elektrizität und synthetische Chemie – hatte im 19. Jahrhundert und Anfang des 20. Jahrhunderts Deutschland und die USA transformiert (Hughes, 1993: 175). Dagegen hatte die türkische Wirtschaft von der osmanischen Wirtschaft Manufakturen bzw. Kleinbetriebe übernommen, weshalb der Nachholbedarf in der Republik Türkei hoch war (Bugra, 1994: 35–37). So wurde 1927 das Industrieförderungsgesetz verabschiedet, das Investitionsanreize bot (Keskin, 1981: 70–71, 91). Relativ schnell stellte sich jedoch heraus, dass dieses Gesetz nicht erfolgversprechend sein würde, da die Investitionsanreize kaum in Anspruch genommen wurden. Tatsache war, dass in der türkischen Wirtschaft vor allem Großgrundbesitzer dominierten, die in ihren feudalen Produktions- und Gesellschaftsverhältnissen verfangen blieben. Sie waren nicht in der Lage, die Vorteile, die die Republik ihnen bot, zu nutzen und von der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformation zu profitieren. In der Republik Türkei fehlte es im Vergleich zu den westlichen Ländern an einer Scientific Community aus Akademiker*innen und Unternehmer*innen, die die
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im Land vorhandene Technik routinemäßig zu ihren Gunsten weiterentwickelte, wie z.B. die britische Royal Society for the Improvement of Natural Knowledge (Butschek, 2006: 116, 121). In Deutschland war es u.a. der Unternehmer Werner von Siemens gewesen, der immer wieder betont hatte, dass die Forschung die Grundlage für die technologische Entwicklung eines Landes sei. Ergebnisse seines Engagements waren die im Jahr 1887 gegründete Physikalisch-Technische Reichsanstalt in Berlin und in der Folge das an den deutschen technischen Hochschulen eingerichtete Forschungsfeld Elektrotechnik (Hughes, 1993: 178). In der Republik Türkei fehlte eine derartige nationale Bourgeoisie, deshalb wurde hier die wirtschaftliche Transformation in erster Linie von der Politik initiiert, die mit branchenspezifischen Wirtschaftsprojekten und branchenübergreifenden Wirtschaftsplänen eingreifen musste, um diese Lücke zu füllen und die wirtschaftliche Entwicklung anzukurbeln. Während in den Anfangsjahren der Republik Türkei der Fokus auf der Entwicklung der Verkehrsinfrastruktur lag, wurden in den 1930er Jahren Industrialisierungspläne entwickelt, die vor allem zum Ziel hatten, eine sektorenübergreifende türkische Industrie aufzubauen und die natürlichen Ressourcen des Landes zu erschließen.
Der deutsche Beitrag zur technologischen Entwicklung der Republik Türkei Die wirtschaftliche Transformation des Landes war aber allein aus der Kraft des Landes nicht umzusetzen. Es fehlte an Sach- und Humankapital, so dass die Republikgründer*innen auf Unterstützung aus dem Ausland angewiesen waren. Gegenseitige wirtschaftliche Interessen erleichterten insbesondere die Beziehungen zu Deutschland, weshalb Deutschland von Anfang an am Wirtschaftsaufbau der Türkei beteiligt war und in verschiedenen Wirtschaftsbereichen mitwirkte (Bozdoğan, 2001: 116). Eine dieser Branchen war das türkische Eisenbahnwesen (Avcı, 2014: 192). Die Republik Türkei hatte vom Osmanischen Reich insgesamt 4.112 Kilometer Eisenbahnstrecke übernommen. Hierbei handelte es sich aber keineswegs um eine zusammenhängende Infrastruktur. Die Strecken waren einzeln ausgelegt. Zudem waren sie mangelhaft. Daher entschieden sich die Republikgründer*innen, eine neue Eisenbahnstrecke zu bauen, die die Republikprinzipien widerspiegeln sollte und somit einen kulturellen Inhalt hatte (Yıldırım, 2010: 94). Eine der ersten Strecken, die sich aus dieser Entscheidung ergab, war die Strecke zwischen Arade2 und Diyarbakır. Sie wurde um die 2 Arade ist das heutige Dorf Akdoğan zwischen Mardin und Kızıltepe (Yıldırım, 2001: 85).
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Strecke nach Ergani erweitert, als sich herausstellte, dass diese Region reich an Chromerz war. Ende des Jahres 1924 bekam die deutsche Philipp Holzmann AG den Zuschlag, diese Strecke zu bauen. Relativ schnell zeigte sich allerdings, dass das Konzept der Bahnstrecke fehlerhaft war. Die in der Konzeption angedachte Schienenbreite war im Vergleich zu internationalen Standards enger ausgelegt. Somit konnte auf der Strecke zum einen nicht in der hohen Geschwindigkeit gefahren werden, wie es angedacht war, zum anderen konnte die Strecke nicht mit dem Schienenverkehr der Nachbarländer verbunden werden. Aus diesen Gründen war die Eisenbahnstrecke ökonomisch ineffizient und bedeutete keine Wertsteigerung für die Region. Hinzu kam, dass sie aus militärischen Gesichtspunkten unbedeutend war. Deshalb entschied sich die türkische Regierung Anfang 1926 gegen den Bau der Strecke (Yıldırım, 2001: 86–87). Entscheidungsrelevant waren in diesem Zusammenhang auch die sich schon herauskristallisierenden Probleme im Zusammenhang mit der Ergani Kupfer AG. Ende des Jahres 1924 hatten türkische und deutsche Gesellschafter*innen mit einem Grundkapital von drei Millionen TL die AG gegründet. Der Gesellschaftsauftrag bestand darin, die Kupfermine abzubauen. So startete die Gesellschaft mit dem Bau der Schachtanlage, die jährlich 15.000 Tonnen Kupfer fördern sollte und schob dessen Fertigstellung erst einmal auf, als sich herausstellte, dass sich der Streckenausbau nach Ergani verzögern würde, so dass in der Folge das abgebaute Kupfer zur Weiterverarbeitung nicht hätte transportiert werden können. Trotz Einstellung des Baus der Bahnstrecke wurde die AG weiter betrieben und konzentrierte sich u.a. auf den Bau von Belegschaftsunterkünften. Derartige nicht nachhaltige Finanzkapitalinvestitionen führten dazu, dass sich die Gesellschaft immer weiter verschuldete (Avcı, 2014: 160). Fehlende Finanzmittel wirkten sich am Ende auch auf die Qualität des Schachtbaus aus, was im Rahmen einer behördlichen Untersuchung im Jahre 1934 aufgedeckt wurde. Um das Problem zu lösen, hätte es die Option gegeben, das Gesellschaftskapital zu erhöhen. Infolge der allgemeinen schlechten Beurteilung der Gesellschaft durch die Behörden sprachen sich jedoch vor allem die türkischen Gesellschafter*innen dagegen aus (İnan, 1989: 36). Anhaltende Meinungsverschiedenheiten führten schließlich dazu, dass Mitte des Jahres 1936 die Aktien der deutschen Gesellschafter*innen vom türkischen Staat aufgekauft wurden. Dem türkischen Staat war also bei seinen Planungen durchaus daran gelegen, den Bau einer Fabrik nah an eine Eisenbahnstrecke zu legen, so dass sich der Industriebereich und die Transportinfrastruktur nicht unabhängig voneinander entwickelten. Bei Bedarf konnte der Staat aber auch von seiner Planung absehen. Ähnlich verhielt es sich mit der Flugzeug- und Motorenfabrik in Kayseri: Im Jahre 1925 schloss das deutsche Unternehmen Junkers & Co. mit der türkischen
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Regierung einen Vertrag zum Bau einer staatlichen Flugzeug- und Motorenfabrik in Kayseri ab. Die Vertragspartner beteiligten sich jeweils zu 50 Prozent an der dafür gegründeten Tomtasch AG (Avcı, 2014: 213). Das Unternehmen Junkers verpflichtete sich, maschinelle Einrichtungen, Flugzeugbaumaterialien und Patentlizenzen in das Geschäft einzubringen. Hierfür verpflichtete sich der türkische Staat, die benötigten Rohstoffe zur Verfügung zu stellen. Zudem hatte Junkers die Bauleitung der Fabrik inne, während Philipp Holzmann & Co. den Bauauftrag erhielt, vier Hallen mit gewölbten Lammellendächern der Firma Junkers zu errichten. Den Bau der Fabrikhallen hatte die türkische Regierung bewusst in zwei Zeitabschnitte unterteilt: Im Jahr 1926 sollten die Fabrikhallen für den Reparaturbereich und 1927 die Fabrikhallen für die Herstellung der Flugzeuge fertiggestellt werden (Avcı, 2014: 214). Durch diese Vorgehensweise beabsichtigte der türkische Staat, möglichst zeitnah im Besitz von Militärflugzeugen zu sein, da man der Ansicht war, dass es mehr Zeit in Anspruch nehmen würde, zuerst die Fabrikhallen für die Herstellung der Flugzeuge zu errichten und dann mit dem Bau der Flugzeuge zu beginnen. Diesen zeitlichen Umfang wollte man verkürzen, indem man zuerst mit dem Bau der Fabrikhallen für den Reparaturbereich begann und bis zur Fertigstellung der Herstellungshallen beim Unternehmen Junkers zivile Flugzeuge des Typs A20 kaufte, die in den Fabrikhallen für den Reparaturbereich zu Militärflugzeugen umfunktioniert wurden (Avcı, 2014: 215). Es stellte sich aber heraus, dass der Zeitaufwand und die Umbaukosten für die Militärflugzeuge höher waren als der kalkulierte zeitliche Aufwand und die kalkulierten Umbaukosten. Das hatte verschiedene Gründe: Die türkischen Fabrikarbeiter*innen wiesen ein geringes Fachwissen auf, beispielsweise musste man ihnen selbst einfache Arbeitsschritte erklären, etwa, wie man eine Schraube anzieht (Avcı, 2014: 216). So mussten mehrere Arbeitnehmer*innen für einen Arbeitsauftrag eingesetzt werden, um die gewünschte Arbeitsleistung zu erhalten, was zum einen mehr Zeit in Anspruch nahm und zum anderen die Kosten erhöhte. Ein weiterer Faktor – insbesondere im Zusammenhang mit dem letzten Punkt – war, dass die Eisenbahnstrecke Ulukışla-Kayseri noch nicht fertiggestellt war, so dass die Baumaterialien mit Kamelkarawanen und Lastwagen transportiert werden mussten. Zeitweise konnten die Baumaterialien sogar ausschließlich mit Kamelkarawanen transportiert werden, weil keine Ersatzreifen mehr für die Lastwagen vorhanden waren. Der unerwartet hohe Bedarf ergab sich aufgrund der schlechten Wegverhältnisse, bei denen die Reifen stärker abgenutzt wurden (Lauff, 2001: 77). Trotz dieser Herausforderungen sah aber der türkische Staat weder vom Bau der Fabrik noch vom Bau der Flugzeuge ab. Man ließ die Fabrik fertig bauen. Selbst dann, als sich herausstellte, dass die Strecke Ulukışla-Kayseri
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erst einmal nicht zu Ende gebaut werden würde und die Transportverhältnisse anhalten würden. Der Grund für den zuletzt genannten Punkt war, dass die Ausschreibungssumme nicht ausreichte, um die Strecke Ulukışla-Kayseri fertigzustellen. Für die Eisenbahnstrecken Kütahya-Balıkesir und Ulukışla-Kayseri hatte im Jahr 1927 das deutsche Bauunternehmen Julius Berger den Zuschlag bekommen (Yıldırım, 2001: 82–83). Zuerst sollte mit dem Bau der Strecke Kütahya-Balıkesir gestartet werden und zeitlich versetzt um sechs Monate mit dem Bau der Strecke UlukışlaKayseri. Insgesamt standen für die beiden Strecken 65 Millionen Reichsmark zur Verfügung. Im Jahre 1929 stellte sich jedoch heraus, dass der Ausschreibungsbetrag für beide Strecken nicht ausreichen würde. Infolgedessen legte die türkische Regierung fest, dass die Eisenbahnstrecke Kütahya-Balıkesir auf jeden Fall fertiggestellt werden sollte. Dagegen sollte die Strecke Ulukışla-Kayseri in Ulukışla startend soweit ausgebaut werden, wie es die Ausschreibungssumme zuließ. In der Entwicklung der Elektrizitätsinfrastruktur des Landes gab es ebenfalls verschiedene Probleme. Ein anschauliches Beispiel in diesem Zusammenhang ist die Entwicklung der Elektrizitätsinfrastruktur der Stadt Ankara. Die Stettiner Chamottefabrik AG aus Berlin hatte Anfang des Jahres 1927 vom türkischen Staat die Konzession erhalten, innerhalb der Grenzen von Ankara Elektrizität zu erzeugen und zu verkaufen, wofür sie die Aktiengesellschaft Ankara Elektrizitätswerke gründete (Avcı, 2014: 148–150). Kurze Zeit später ergaben sich schon die ersten Probleme: Die ursprünglich vorgesehene Grundstücksfläche wurde seitens der Stadt Ankara zurückgezogen und eine andere Fläche zur Verfügung gestellt, wobei die Gründe hierfür nach aktueller Forschungslage nicht bekannt sind (Avci, 2014: 150–151). Allerdings ist bekannt, dass die Stettiner Chamottefabrik AG ihre Projektunterlagen entsprechend anpassen musste. Es ergab sich auch ein Dissens hinsichtlich der Gestaltung der Elektrizitätspreise. Die Stettiner Chamottefabrik AG hatte sich nicht an die Preisbindung gehalten und eigenmächtig eine Preiserhöhung vorgenommen (Avcı, 2014: 153). Zudem hatte sie die vereinbarte Kapitalausschüttung nicht vorgenommen, stattdessen das Gesellschaftskapital erhöht. In der Folge verlangte die Stadt Ankara, dass ihre Rechnungen mit dem nicht ausgeschütteten Betrag verrechnet werden, so dass am Ende der deutsche Geheimrat vermitteln musste (Avcı, 2014: 154). Die ständig wiederkehrenden Meinungsverschiedenheiten und die Verlustmeldungen des Elektrizitätswerks bewirkten schließlich im Jahre 1936 den Aufkauf der beiden Aktiengesellschaften durch den türkischen Staat (Avcı, 2014: 158). Die deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen waren aber nicht nur von Konflikten geprägt. Im Juli 1933 beantragte die Sächsische Textilmaschinenfabrik AG eine Reichsbürgschaft in Höhe von 1,2 Millionen Reichsmark bei
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der Revisions- und Treuhand AG für einen Lieferauftrag der staatlichen Textilmaschinenfabrik Bakırköy, die unter der finanziellen Kontrolle der Sümer Bank stand – einem staatlichen Kreditinstitut, das die finanzielle Kontrolle über staatliche Betriebe besaß und den türkischen Kleinproduzenten Zugang zum Absatzmarkt verschaffte. Offensichtlich war dieser Handel für beide Seiten zufriedenstellend, denn ein Jahr später, 1934, wurde die AG aufgefordert, ein Angebot für den Bau der Baumwollfabrik in Ereğli abzugeben. Hierfür bat die Sächsische Textilmaschinenfabrik AG erneut um Unterstützung beim deutschen Wirtschaftsministerium, u.a. mit einer Reichsausfallbürgschaft, die die Deutsche Revisions- und Treuhand AG genehmigte (Avcı, 2014: 178).
Die Rolle der deutschen Wirtschaft in der türkischen Kultur Während des türkischen Befreiungskrieges hatte sich in der türkischen Bevölkerung ein Nationalbewusstsein entwickelt, was den Zusammenhalt der Menschen förderte und mobilisierte. Die Republikgründer*innen versuchten dieses Bewusstsein in die Nachgründungsphase der Republik Türkei mitzunehmen und im Rahmen verschiedener Projekte zur nachhaltigen Gründung der Republik Türkei einzusetzen, indem die Bevölkerung am Aufbau der Republik mitwirkte. Mithilfe der Projekte sollte eine türkische Kultur etabliert werden, die die Werte der Republik Türkei darstellen sollte. Relativ schnell zeigte sich allerdings, dass das Nationalbewusstsein allein nicht ausreichte, um die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umbrüche umzusetzen, die man mit den Projekten intendierte. Innerhalb der Bevölkerung fehlte teilweise das notwendige Knowhow, so dass die Republikgründer*innen versuchten, dies durch Unterstützung u.a. aus Deutschland auszugleichen. Keineswegs bedeutete dies aber, dass man sich der deutschen Hilfe unterordnen und sich in deren Abhängigkeit bringen wollte. So wurden Projekte abgebrochen, wenn deutlich wurde, dass sie durch die deutschen Unternehmen nicht wie gewünscht umgesetzt werden konnten, wie dies am Beispiel der Eisenbahnstrecke zwischen Arade und Ergani zu erkennen ist. Bei der Entwicklung der Eisenbahnstrecken spielten militärische Aspekte eine nicht zu unterschätzende Rolle. Durch die technischen Erneuerungen sollte die Stärke der Republik Türkei dargestellt und damit auch der politische Umbruch und der Unterschied zum Osmanischen Reich aufgezeigt werden. Sofern man die Gelegenheit hatte, versuchte man die Entwicklung mehrerer Branchen einer Region miteinander zu verknüpfen, um deren wirtschaftliche Bedeutung zu stärken. Durch den Bau der Ergani Kupfer AG sollte vermittelt werden, dass insbesondere die militärische Unabhängigkeit des Landes mithilfe von Wirtschaftsplänen nachhaltig geplant wird. Hierfür erlaubte der türkische Staat, dass
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deutsche Akteur*innen mitwirken. Allerdings wurde darauf geachtet, dass derartige Kooperationen sich im Sinne der türkischen Staatsziele entwickeln. Sofern dies nicht der Fall war, griff der türkische Staat ein und kaufte die Anteile der ausländischen Gesellschafter*innen auf. Eine ähnliche Konstellation ergab sich im Zusammenhang mit der Aktiengesellschaft Ankara Elektrizitätswerke. Der türkische Staat setzte auf eine moderne Stadtentwicklung, ähnlich dem der westlichen Länder. Hierfür erlaubte er auch, dass deutsche Unternehmer mitwirkten. Keineswegs durfte dies aber dazu führen, dass die jeweilige Stadt von ausländischen Unternehmer*innen finanziell abhängig wurde. Derartige Entwicklungen bewirkten den Eingriff des Staates und den Aufkauf der Gesellschaftsanteile der ausländischen Unternehmen. Mit dem Bau der Flugzeug- und Motorenfabrik in Kayseri kommunizierte der türkische Staat sowohl internen als auch externen Beobachter*innen seine Bestrebung, stets auf dem Stand der neuesten Technologie und auch wirtschaftlich in der Lage zu sein, diese selbst zu bauen, um die Unabhängigkeit des Landes zu gewährleisten. Dafür stellte sich der türkische Staat jeder Herausforderung und auch komplexen Situationen, wie beispielsweise dem Anlernen der noch ungeschulten Fabrikarbeiter*innen oder dem Transport von Fabrikbauteilen mithilfe von Kamelkarawanen aufgrund der fehlenden Transportinfrastruktur. Vom Bau der Fabrikanlage wurde selbst dann nicht abgesehen, als man das Eisenbahnprojekt Ulukışla-Kayseri erst einmal einstellen musste. Schließlich vermittelte der türkische Staat auch nach außen hin, dass er Kooperationen, die sich in der Vergangenheit als gute Entscheidung erwiesen hatten, ebenso in der Zukunft fördert. So hatte man basierend auf den positiven Erfahrungen bei der Gründung der Textilmaschinenfabrik Bakırköy die Sächsische Textilmaschinenfabrik AG motiviert, bei der Gründung der Baumwollfabrik in Ereğli ebenso mitzuwirken.
Fazit Dieser Aufsatz stellte die Rolle der deutschen Wirtschaft in der türkischen Kultur ausgehend von der technologischen Entwicklung der Republik Türkei im Sinne Ernst Cassirers dar. Sämtliche vorgestellten Projekte zeigten, dass die Gründer*innen der Republik Türkei stets den Anschluss an die Moderne suchten und auf technologische Erneuerung setzten, wobei sie hierbei auf Unterstützung aus dem Ausland angewiesen waren, weil das notwendige technologische Knowhow im Land nicht vorhanden war. Dennoch waren die Republikgründer*innen darauf bedacht, die erkämpfte Unabhängigkeit des Landes zu bewahren und sich als Folge des Fortschrittswillens nicht in westliche Abhängigkeit zu
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begeben. Infolgedessen kann festgehalten werden, dass die türkischen Republikgründer*innen zwar den Einzug der deutschen Technologie ins Land erlaubten, aber deren Ausgestaltung im Land und damit deren Aussagekraft in Form der türkischen Kultur den Republikgründer*innen oblagen.
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Uğur SADİOĞLU*
Reformen im Bereich der Kommunalverwaltungen in Deutschland und der Türkei Eine vergleichende Analyse Einführung Die Kommunalverwaltungen sind ein bedeutender Bestandteil der modernen Staatsverwaltung. Insbesondere die steigende Stadtbevölkerung in Westeuropa im 19. Jahrhundert, die dadurch in den Städten entstandenen Probleme, die neuen Bedürfnisse und die politischen Bewegungen in den Städten sowie die kommunalen und sozialen Dienstleistungen machten die Kommunalverwaltungen zu einem wichtigen Bestandteil der politisch-administrativen Systeme (Harris, 1930: 210–212). Die Kommunalverwaltungen entwickelten sich nicht nur aufgrund der Stadtplanung und der kommunalen und sozialen Dienstleistungen, sondern auch für die politische Partizipation der lokalen Gemeinschaft, zu einem wichtigen öffentlichen Raum, so dass sie als „Wiege der Demokratie“ oder „Demokratieschule“ definiert wurden, um ihre Bedeutung für die politische Partizipation und Demokratie zu beschreiben. Insbesondere die Etablierung des sozialen Wohlfahrtsstaates, das Wachstum der Städte, die Vergrößerung der Metropolen, das Wachstum der städtischen Probleme und ihre Globalisierung sowie die regionale und globale Vernetzung der Kommunalverwaltungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stärkten die Kommunalverwaltungen und speziell die Stadtverwaltungen. Zudem wurden die Kommunalverwaltungen einer der bedeutendsten Bestandteile der Verwaltungsreformen, die nach 1980 und insbesondere in den 90er Jahren durchgeführt wurden. Die Reformen des neuen Steuerungsmodells (new public management), partizipatorische Demokratiepraktiken, die lokalen Governance-Formationen (Chandler, 2000: 4–5; Denters und Rose, 2005: 1–8; Grindle, 2007: 3–4), Eingemeindung (amalgamation) aufgrund der Größendegression,
* Assoc. Prof. Dr., Hacettepe Universität, Fachbereich Politische Wissenschaften und Öffentliche Verwaltung, E-mail: [email protected]
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die digitalen Kommunen durch ihre IT-Anwendungen sowie die Smart-CityProjekte platzierten die Kommunalverwaltungen ins Zentrum der Reformen. In diesem Punkt haben die deutschen und türkischen Kommunalverwaltungen viele Gemeinsamkeiten auf der globalen und EU-Ebene. In dieser Abhandlung werden nach einem Vergleich der allgemeinen Besonderheiten der deutschen und türkischen Kommunalverwaltungen und mit Hilfe der Forschungsergebnisse die Reformen der Kommunalverwaltungen beider Länder analysiert. Der Vergleich eines Landes mit starker kommunaler Tradition mit einem anderen Land, das unitär und zentralistisch gegliedert ist und noch dabei ist, seine Kommunalverwaltungen zu stärken, deutet einerseits auf ein besseres Kommunalverwaltungssystem hin, andererseits liefert es Anhaltspunkte für zukünftige Verwaltungsreformen.
Ein allgemeiner Vergleich von Deutschland und der Türkei Öffentliche Verwaltungssysteme und Kommunalverwaltungen der Länder sowie die Beziehungen zwischen Zentralverwaltung und Kommunalverwaltung werden gewiss durch die Bevölkerungszahl, geografische Verteilung der Bevölkerung, den Verstädterungsgrad, die wirtschaftliche Größe, das Entwicklungsstadium, die internationalen Beziehungen, öffentliche Finanzen, öffentliche Dienste und allgemeine sozio-ökonomische Probleme des jeweiligen Landes beeinflusst. In diesem Zusammenhang ist es erforderlich, diese Indikatoren zu analysieren, bevor wir die öffentliche Verwaltung und die Kommunalverwaltungen in Deutschland und der Türkei vergleichen. Zum einen gleichen sich die Bevölkerungszahlen beider Länder aus, so dass die Türkei sogar im Jahr 2023 mit einer Bevölkerungszahl von 86.907.367 (TÜİK, 2018) das bevölkerungsstärkste Land in der Eurozone sein wird. Zum anderen hat die Türkei eine vergleichsweise junge Bevölkerung. Zudem sind die Verstädterungsgrade nach Angaben der UNPD mit 77,3% für Deutschland und 74,6% für die Türkei zwar vergleichbar aber die Größe der Städte und die Verteilung der Bevölkerung auf dem Landesgebiet weisen Unterschiede auf. Die zweiten wichtigen Variablen in der Tabelle 1 stellen die wirtschaftlichen Indikatoren dar. Die Größe der deutschen Wirtschaft, und dass das Pro-Kopf-Einkommen das Zweifache des türkischen Pro-Kopf-Einkommens beträgt, die niedrige Arbeitslosigkeit und der menschliche Entwicklungsgrad an fünfter Stelle des Index‘ der menschlichen Entwicklung (HDI) zeigen, dass Deutschland für das Verwaltungssystem und die Kommunalverwaltungen über günstige Möglichkeiten und Chancen verfügt. Die Indikatoren der Türkei stellen jedoch Schwächen
Reformen im Bereich der Kommunalverwaltungen
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Tabelle 1: Vergleich von Deutschland und der Türkei mittels sozialer, wirtschaftlicher und institutioneller Indikatoren Indikatoren Bevölkerungszahl (2017–2018) Durchschnittsalter Altersstruktur 0–14 Jahre Verstädterungsgrad Wirtschaft (BIP)
Deutschland 82.175.700
Türkei 81.867.223
45.9 20.0
29.9 37.3
77.3 3,677,439.13 (Millionen USD) EU, EC, OECD, WTO, G20, NATO 50,638.9 USD 718,839.14Millionen USD 78.1%
74.6 851,102.41 (Millionen USD)
Internationale Partnerschaften Pro-Kopf-BIP Staatshaushalt (2017) Anteil der Erwerbspersonen an der Bevölkerung Arbeitslosigkeit 3.7% CPIA -2017 81 Punkte, 12/180 (Transparenz, Rechenschaftspflicht, Korruption) 0–100 Index der menschlichen 0,936/5 Entwicklung -2017
EU, EC, OECD, WTO, G20, NATO 26,504 USD 123,415.81 Millionen USD 56.5% 10.8% 40 Punkte, 81/180
0,791/64
Datenquelle: Eigene Darstellung anhand der Daten von Organisationen wie World Bank, United Nations HDI, Transparency International im Zeitraum von 2017 bis 2018.
und Gefahren für die Kommunalverwaltungen und Städte dar. Somit verfügen die deutschen Kommunalverwaltungen über wichtige Vorteile und günstige Verwaltungseigenschaften für eine nachhaltige Entwicklung. Im Falle der Türkei ist jedoch noch nicht klar, ob sie ihr Verwaltungssystem dementsprechend dezentralisiert und pendelt zwischen starkem wirtschaftlichen Wachstum und nachhaltiger Entwicklung hin und her. Die letzten wichtigen Variablen in diesem Rahmen sind die internationalen und supranationalen Partnerschaften von Deutschland und der Türkei. Insbesondere der Besitzstand und die Politiken der EU sowie die öffentlichen Politiken und kommunalen Verwaltungsreformen sind wichtige Quellen für beide Länder.
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Diese aufgrund der sozialen, wirtschaftlichen und institutionellen Daten ausgeführte kurze Auswertung zeigt zwar, dass die Kommunal- und Stadtverwaltungen dieser Länder erhebliche Unterschiede im Bereich der Problemfelder und der politischen Inhalte haben und haben werden, aber gleichzeitig Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten im Globalisierungsprozess und dem europäischen Integrationsprozess vorhanden sind.
Allgemeiner Vergleich der deutschen und türkischen Verwaltungssysteme und Kommunalverwaltungen Zuerst müssen wir festhalten, dass die deutsche und türkische Staatsstruktur auf sehr unterschiedlichen Standpunkten stehen. Das föderale politisch-administrative System hat enorme Auswirkungen auf die Bundes- und Länderverwaltung. Dieses System bringt bei der Staatsverwaltung eine zweistufige Organisation mit sich (Benz, 1999: 72–74). Die Kommunalverwaltungen betreffenden Paragrafen der Verfassung sind tatsächlich sehr begrenzt und regeln die Kommunalverwaltungen in allgemeinen Zügen. Die grundlegenden gesetzlichen Bestimmungen über Kommunalverwaltungen wurden den Länderparlamenten überlassen. Bei der Betrachtung des allgemeinen föderalen politisch-administrativen Systems wird ersichtlich, dass die Organisation der Kommunalverwaltungen die dritte Ebene der öffentlichen Verwaltung darstellt (Badura, 2001: 49; Gunlicks, 1988: 150). Die politische Geschichte der Türkei, ihre Staatstradition und Verwaltungserfahrung brachte jedoch ein „unitäres politisch-administratives System“ zustande. In Bezug auf Kommunalverwaltungen haben die beiden Länder, die eigentlich über unterschiedliche politisch-administrative Systeme verfügen, jedoch ähnliche Positionen, nämlich als Dienstleistungseinheiten vergleichbare Stellungen. Zum Zweiten wird die Verteilung der Aufgaben, Befugnisse und Leistungen zwischen den Verwaltungsebenen in Deutschland durch das sogenannte Prinzip des „administrativ-funktionalen Föderalismus“ gestaltet (Gunlicks, 2003: 60–62). Dieses Prinzip ermöglicht es den Kommunalverwaltungen, innerhalb des Verwaltungssystems herauszuragen. Die Kommunalverwaltungen übernehmen einen erheblichen Teil der öffentlichen Dienste (Bogumil und Jann, 2009: 105). Nach dem „Subsidiaritätsprinzip“ werden hier die öffentlichen und sozialen Dienste so nah wie möglich an den Bürger*innen angeboten (Baldersheim, 2002:207). Dies ist der bedeutendste Faktor, der die Kommunalverwaltungen, Zivilgesellschaft und Freiwilligendienste in Deutschland stärkt. „Die zentralistische Staatstradition“ verhinderte jedoch in der Türkei, dass die Kommunalverwaltungen innerhalb des Verwaltungssystems sich stärken konnten
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Tabelle 2: Die Merkmale des politisch-administrativen Systems und der Kommunalverwaltungen in Deutschland und der Türkei Vergleichspunkte Allgemeines politischadministratives System Die Verteilung der Aufgaben, Befugnisse, Verpflichtungen und Leistungen Verteilung der öffentlichen Einnahmen Grundlegendes Merkmal der Kommunalverwaltung Ihre Stellung innerhalb der europäischen Kommunalverwaltungen Kommunales Verwaltungsmodell Elementares Organ der Kommunalverwaltung Lage der Kommunalverwaltung Auswirkungen der Kommunalreformen
Deutschland Föderales politischadministratives System Administrativ-funktionaler Föderalismus
Die Türkei Unitäres politischadministratives System Zentralistische Staatstradition
Finanz-Föderalismus
Finanz-Zentralismus
Ausgeprägte autonome Kommunalverwaltungstradition Nord-Mitteleuropäische Tradition (Germanisches Modell) Mehrere unterschiedliche Modelle der Kommunalverwaltung Starke Stadtversammlung
Schwache Kommunalverwaltung Südeuropäische Tradition
Starke Zivilgesellschaft und Freiwilligkeitstradition Europäischer Verwaltungsraum, Subsidiaritätsprinzip, Neues Steuerungsmodell, Marktwirtschaft, Governance, Instrumente der direkten Demokratie
Schwache Vereine und Stiftungen Neues Steuerungsmodell, GovernanceDiskurs, Dominanz der Privatisierung, Marktwirtschaft
Einheitliches Modell der Kommunalverwaltung Mächtiger Bürgermeister
Datenquelle: Eigene Darstellung des Autors
(Heper, 1987). Die Kommunalverwaltungen in der Türkei, die vor den Verwaltungsreformen nichts anders waren als der verlängerte Arm der Zentralverwaltung (Ergüder, 1987), sind immer noch nicht so effektiv wie die deutschen Kommunalverwaltungen. Die zentralistische Staatstradition konnte auch nach den Reformen ihre Dominanz beibehalten, womit sie die türkischen Kommunalverwaltungen weiterhin einschränkt. Das Gesetz über Stadtverwaltungen mit der Nummer 5393 von 2005 definiert das „Subsidiaritätsprinzip“ für die Kommunalverwaltungen (§ 14) nur mittelbar.
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Tabelle 3: Die Verteilung der Beschäftigten im öffentlichen Dienst auf die Verwaltungseinheiten in Deutschland (x1.000) Jahr
Bundesbereich Landesbereich Kommunaler Bereich 2014 496,6 2.356,6 1.428,0 2015 489,4 2.346,9 1.439,5 2016 489,5 2.364,1 1.464,4 2017 493,4 2.387,5 1.464,4 Jeweilige 10,5 50,5 31 Anteile in 2017 (%)
Sozialversicherung 371,4 369,6 371,1 370,1 8
Insgesamt 4.652,5 4.645,5 4.689,0 4.738,6 100
Datenquelle: Statistisches Bundesamt Deutschland – GENESIS-Online Datenbank für 2018.
Tabelle 4: Der Anteil der Beschäftigten in den Kommunalverwaltungen an Beschäftigten im öffentlichen Dienst in der Türkei (2017) Art des Personals
Beschäftigte Beschäftigte in den Beschäftigte in den im öffentlichen Kommunalverwaltungen Kommunalverwaltungen Dienst / Beschäftigte im öffentlichen Dienst (%) Beamt*innen 2.453.937 114.854 4,68 Angestellte 166.897 14.488 8,68 Arbeiter*innen 229.842 86.585 37,67 Arbeiter*innen 25.770 5.879 22,81 mit Zeitvertrag Gesamt 2.876.446 221.806 7.71 Datenquelle: Türkisches Ministerium für Umwelt und Stadtplanung, Generaldirektion für Kommunalverwaltungen, Geschäftsbericht für 2017.
Ein Vergleich der Angaben in der Tabelle 3 für Deutschland und in der Tabelle 4 für die Türkei zeigt, dass der Anteil der Beschäftigten der Kommunalverwaltungen in Deutschland mit 31% der wichtigste Indikator für die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips ist. Der Anteil der Beschäftigten der Kommunalverwaltungen der Türkei an der Anzahl der Beschäftigten im gesamten öffentlichen Dienst beträgt trotz der kommunalen Verwaltungsreform kaum 8% und fällt somit sehr niedrig aus. Als dritten Punkt erkennt man, dass das Prinzip des „Finanzföderalismus“ enorme Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen den Verwaltungsebenen hat. Dieses Prinzip ermöglicht dem Bund einerseits die anderen Verwaltungsebenen zu
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kontrollieren und andererseits allen drei Verwaltungsebenen ihre Leistungen effizient und effektiv anbieten zu können. Obwohl der Bund über keine rechtlichen und verfassungsrechtlichen Instrumente verfügt, um die Kommunalverwaltungen zu beaufsichtigen, stellt die Dominanz des Bundes bei der Verteilung der öffentlichen Einnahmen eine bedeutende Macht dar. Das Instrument „Finanzausgleich“ innerhalb des Finanz-Föderalismus stellt eine landesweit ausgeglichene Verteilung der öffentlichen Leistungen sicher, indem die öffentlichen Einnahmen sowohl horizontal als auch vertikal zwischen den Verwaltungsebenen transferiert werden (Buettner, 2008: 138; Buettner und Holm-Hadulla, 2008: 16). Das Prinzip des „Finanz-Zentralismus“ hat in der Türkei jedoch immer noch eine dominante Stellung. Obwohl durch die kommunalen Verwaltungsreformen in den 2000er Jahren die administrative Autonomie der Kommunen weitgehend verstärkt wurde, kann das gleiche nicht für die finanzielle Autonomie behauptet werden. Auf die Erhöhung der Eigeneinnahmen der Kommunalverwaltungen in der Türkei wurde nicht ernsthaft eingegangen. Durch die Erhöhung der Anteile der Großstadtverwaltungen an dem Gesamtbudget wurde nur die finanzielle Lage der Großstadt-Verwaltungen und Bezirksverwaltungen der Großstädte verbessert. Insbesondere wurde die Abhängigkeit der Großstadtverwaltungen von der Zentralverwaltung erhöht, da ihre Eigeneinnahmequellen nicht angetastet wurden. Aus der Tabelle 5 können die Anteile der Einnahmen der Kommunalverwaltungen entnommen werden, die durch die Zentralverwaltung zur Verfügung gestellt werden. Danach erhalten die Großstadtverwaltungen 72,14% ihres Einkommens von der Zentralverwaltung, was die enorme Abhängigkeit der Großstadtverwaltungen von der Zentralverwaltung darstellt. Andererseits wird die regionale Politik immer mehr um die Großstädte formiert (Erder und İncioğlu, 2008; Gül u.a., 2014: 176). Tabelle 5: Einnahmen der Kommunalverwaltungen, die durch die Zentralverwaltung bereitgestellt werden und ihre Anteile an den Gesamteinnahmen (in TL) Art der Kommune
Einnahmen über Gesamteinnahmen die Zentralverwaltung
Großstadtverwaltung Stadtverwaltung Bezirksverwaltung Gesamt
33.309.105 3.902.463 17.896.241 55.107.809
46.170.934 7.213.268 43.922.940 97.148.981
(Anteil der Einnahmen, die über die Zentralverwaltung bereitgestellt werden, an den Gesamteinnahmen(%) 72,14 54,10 40,74 56,73
Datenquelle: Türkisches Ministerium für Umwelt und Stadtplanung, Generaldirektion für Kommunalverwaltungen, Geschäftsbericht für 2017.
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Im Gegensatz zur „starken, autonomen Kommunalverwaltungstradition“ in Deutschland führen die „schwachen Kommunalverwaltungen“ in der Türkei ihre Existenz weiter, was als vierter Punkt aufgeführt werden kann. Während der Übergangsregime, den Staatsformänderungen und in Nachkriegszeiten nahmen die deutschen Kommunalverwaltungen sowohl bei der Wiedererrichtung der Verwaltungsstruktur als auch bei der Bereitstellung der öffentlichen Dienstleistungen bedeutende Rollen ein. Insbesondere nach der Wiedervereinigung in den 90er Jahren und bei der Errichtung einer landesweit ausgeglichenen sozialen, wirtschaftlichen, politischen und administrativen Organisation leisteten die Kommunalverwaltungen wichtige Beiträge. Bei der Betrachtung der Entwicklung der modernen Kommunalverwaltung in der Türkei sehen wir, dass sie nie mehr als eine Verlängerung der Zentralverwaltung war. Selbst nach den kommunalen Verwaltungsreformen in den 2000er Jahren erhielten die Kommunalverwaltungen in der Türkei gerade so viel Autonomie, wie durch die Zentralverwaltung genehmigt wurde. Als fünften Gedanken kann man erkennen, dass die deutschen Kommunalverwaltungen mit ihren allgemeinen Eigenschaften innerhalb der „Nord-Mitteleuropatradition“ (Germanisches Modell) liegen. Für diese Tradition kann argumentiert werden, dass die Kommunalverwaltungen unter verfassungsrechtlichen Garantien stehen, starke administrative und finanzielle Autonomie haben und über vielfältige Verwaltungsmodelle verfügen. Die türkischen Kommunalverwaltungen liegen im Gegensatz dazu mit ihren allgemeinen Eigenschaften in der „Südeuropäischen Tradition“ (Napoleonisches Modell) (Goldsmith, 1992: 395–396; Loughlin, 2003). Auch die türkischen Kommunalverwaltungen genießen verfassungsrechtliche Garantien, jedoch verfügen sie in ihren Beziehungen zur Zentralverwaltung über eine begrenzte administrative und finanzielle Autonomie. Dass in den türkischen Kommunalverwaltungen die Exekutive dominiert und die Stadtversammlungen eine nachgeordnete Stelle haben, zeigt auch, dass die türkischen Kommunalverwaltungen über ähnliche Eigenschaften wie die Kommunalverwaltungen in den südeuropäischen Ländern verfügen. Als sechsten Punkt kann man festhalten, dass in Deutschland unterschiedliche Verwaltungsmodelle angewandt werden. Der Föderalismus hat in Deutschland eine lange Tradition und auch nach dem II. Weltkrieg wurden unter dem Einfluss der Siegermächte unterschiedliche Kommunalverwaltungsmodelle in verschiedenen Bundesländern angewandt. Zudem sorgte die Zuständigkeit der Länder für die Kommunalverwaltungen auch dafür, dass sich unterschiedliche Modelle der Kommunalverwaltungen etablieren konnten. In jedem dieser Modelle existiert als Beschlussorgan eine Versammlung. Die Berufung und der Aufbau des exekutiven Organs, die Beziehungen zwischen den Organen und
Reformen im Bereich der Kommunalverwaltungen
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die Führung der Stadtorganisation zeigen jedoch unterschiedliche Eigenschaften. Nach der kommunalen Verwaltungsreform wird der/die Bürgermeister*in unmittelbar gewählt (Wollmann, 2004:154–158). In der Türkei existiert jedoch für sämtliche Arten der Kommunalverwaltungen ein einheitliches Verwaltungsmodell. Beispielsweise unterliegen alle Kommunalverwaltungen einem grundlegenden Gesetz und sie alle müssen nach diesem Gesetz organisiert werden. Siebtens; in Deutschland begegnet man unterschiedlichen Kommunalverwaltungsmodellen; das exekutive Organ bei sämtlichen Modellen ist jedoch eine starke Versammlung. Auch wenn in sämtlichen Bundesländern inzwischen das „Modell der direkten Bürgermeisterwahl“ Eingang gefunden hat, sind die Versammlungen immer noch die bestimmende Kraft, wenn es um die Vertretung der Stadt, Fassung der Beschlüsse, Aufsicht über den/die Bürgermeister*in, Kontrolle und Steuerung der Exekutive, Steuerung der Führung, Stadtorganisation sowie Finanz- und Personalverwaltung geht. In der Türkei dominieren bei den Kommunalverwaltungen jedoch „starke Bürgermeister*innen“. Es gibt viele politische, institutionelle, soziale, gesetzliche und kulturelle Gründe für die Dominanz der Bürgermeister*innen in den türkischen Kommunalverwaltungen. Die Bürgermeister*innen waren immer die entscheidende Kraft in vielen Bereichen wie beim Treffen und Durchführen von Entscheidungen, in der Führung der Stadtorganisation, der Einsetzung der kommunalen Ressourcen, der Berufung des kommunalen Personals und der Kommunikation mit der Zentralverwaltung und mit lokalen Partner*innen. In der Türkei kann das „Modell der unmittelbaren Wahl zum/r Bürgermeister*in“ zwar beibehalten werden, jedoch sollte die Überwachung der Bürgermeister*innen durch die Versammlung und die lokale Gemeinde ermöglicht werden, um eine transparente, rechenschaftspflichtige, klare, verantwortungsvolle und effektive Kommunalverwaltung zu verwirklichen (Bulut und Tanıyıcı, 2008: 363–364; Görmez, 2016). Tabelle 6: Vergleich der Organe der deutschen und türkischen Kommunalverwaltungen Organe der Kommunalverwaltungen Beschluss Führung Beschluss- und Führungsorgan Vertretung der Stadt / Kommune
Deutschland
Die Türkei
Stadtversammlung Bürgermeister*in Verwaltungsvorstand
Stadtversammlung Bürgermeister*in Stadtverwaltungsausschuss
Stadtverwaltung und Bürgermeister*innen Bürgermeister / stellvertretende Bürgermeister*innen
Datenquelle: Eigene Darstellung des Autors
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Achtens; eine der Besonderheiten des Systems in Deutschland ist die „starke Zivilgesellschaft“, die eine autonome und multifunktionale Kommunalverwaltung schafft und aufrechterhält. Insbesondere der soziale Wohlfahrtsstaat profitiert bei der Bereitstellung ihrer Leistungen in erheblichem Maße von den zivilgesellschaftlichen Organisationen und führt mit diesen gemeinsame Projekte durch. Dies bietet eine dem Governance-Ansatz entsprechende Atmosphäre, die die kommunale Verwaltungsreform bestimmt. Eine Atmosphäre der lokalen Governance, die für eine partizipatorische, gemeinschaftliche und auf Konsens beruhende Verwaltung mit mehreren Akteuren erforderlich ist, ist eine Chance für deutsche Kommunalverwaltungen und deren starke Seite. Obwohl am Beispiel Türkei eine historische Stiftungstradition vorlag, finden wir dort keine starke Zivilgesellschaft, wie es in den westlichen Demokratien der Fall ist. Obwohl die Zivilgesellschaft in den letzten Jahren lauter geworden ist, kann eine Entwicklung wie sie die Atmosphäre der lokalen Governance erfordert, nicht beobachtet werden. Die Stärkung der Zivilgesellschaft und die Etablierung einer Tradition der Freiwilligendienste sind eine mühsame Angelegenheit, die allein durch gesetzliche Regelungen nicht verwirklicht werden kann. Um in den Städten Kosteneinsparungen durch die Größendegression zu erzielen, eine effektive und effiziente Großstadtverwaltung zu etablieren, öffentliche Leistungen in den Städten und ländlichen Gebieten von einer zentralen Stelle zu koordinieren und eine ganzheitliche Stadtplanung zu gewährleisten, wurde als neunter Punkt der Begriff „Eingemeindung“ (amalgamation) in die politische Tagesordnung aufgenommen. In Deutschland gab es in junger Vergangenheit keine solche Eingemeindungspolitik zu beobachten. Die Anzahl der Gemeinden in Deutschland ging nur in den 1970’er Jahren teilweise zurück (Blume und Blume, 2007: 689). Die Eingemeindungspolitik, die insbesondere eine Eigenschaft der angelsächsischen Länder ist und in Reformprozessen diskutiert wird, wurde in der Türkei aufgegriffen (Keleş, 2015). Die Kreis- und Dorfverwaltungen innerhalb der Großstädte wurden geschlossen, die Zahl der Kommunen erheblich reduziert und das Kommunalverwaltungssystem wurde vereinfacht. Der Leistungsbereich der Großstädte wurde auf das gesamte Gebiet der Provinzen erweitert. Ähnlich wurde auch der Verantwortungsbereich der Kreisverwaltungen innerhalb der Großstädte um das Umland erweitert. Die Anwendung dieses Systems in 30 von 81 Provinzen führte zur Schließung der Kreis- und Dorfverwaltungen. Durch diese Reformmaßnahme insbesondere in den 2000er Jahren verließ
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Reformen im Bereich der Kommunalverwaltungen
die Türkei die kontinentaleuropäische und näherte sich der angelsächsischen Politik. Diese Maßnahmen wurden entgegen der kommunalen Autonomie und der europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung durchgeführt. Tabelle 7: Kommunen in der Türkei Einheiten der Kommunalverwaltung Großstadtverwaltung Stadtverwaltung Provinzsonderverwaltung Bezirksstadtverwaltung Bezirksstadtverwaltung der Großstädte Kreisverwaltung Dorfverwaltung Stadtteil Gesamtzahl der Stadtverwaltungen
2003–2013 Nach 14.03.2014 Unterschied
2017
16 65 81 749 143
30 51 51 400 519
14 -14 -30 -349 376
30 51 51 402 519
1.977 34.337 19.138 2.950
395 17.793 33.327 1.395
-1.582 -16.544 14.189 -1.555
396 18.380 31.635 1.398
Datenquelle: Türkisches Ministerium für Umwelt und Stadtplanung, Generaldirektion für Kommunalverwaltungen, Geschäftsbericht für 2017.
Wie zu beobachten ist, bezweckte es die kommunale Verwaltungsreform in der Türkei einerseits die Effizienz und Effektivität in den städtischen Diensten zu gewährleisten (Çınar, Çiner und Zengin, 2009), andererseits aber auch die Potentiale der lokalen Governance auszubauen, indem sie in den Entscheidungsprozessen zwischen den Akteur*innen innerhalb der Provinzen Beziehungen aufbaute (Göymen, 2010). Die Nutzung der Größendegressionen wird eher in den angelsächsischen Ländern beobachtet, jedoch sollten die Ergebnisse der Reformen auf die jeweilige Verwaltungseinheit bezogen bewertet und nicht verallgemeinert werden (Dollery, Kortt, Drew, 2016). Denn im europäischen Raum kann man in unterschiedlichen kommunalen Verwaltungstraditionen unterschiedliche Ergebnisse beobachten und die kleineren Einheiten können innerhalb der Systeme ihre Existenz fortführen.
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Abb. 1: Das neue Großstadtverwaltungsmodell in der Türkei Datenquelle: Eigene Darstellung des Autors
Tabelle 8: Kommunen in Deutschland Bund
Anzahl Einheitsge- Kreisfreie Gemeinden Bevölkeder Kom- meinden Städte in Gemein- rung (arithmunen de-verbän- metischer den Durchschnitt)
Deutschland 11,116
3,154
110
7,852 in 1,352
7,363
Größe (arithmetischer Durchschnitt) in km2 32
Datenquelle: Franzke, 2016: 58.
Als letzten Punkt sehen wir, dass die Kommunalverwaltungen betreffenden umfangreichen Reformmaßnahmen in Deutschland in den 1970er Jahren begonnen und in dieser Periode erhebliche Umgestaltungen erfolgreich durchgeführt wurden. In den 80er Jahren standen dem gegenüber die Instrumente der direkten Demokratie auf der Tagesordnung, die eine partizipatorische
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Verwaltung unterstützen. Die Mechanismen dieser Art wurden dann in den 90er Jahren umgesetzt. In dieser Periode standen in Deutschland die Regelungen des Europäischen Verwaltungsraumes, die allgemein die öffentliche Verwaltung und speziell die Kommunalverwaltungen betreffen, und das Subsidiaritätsprinzip auf der Tagesordnung. Außerdem sind die 1990er Jahre eine Ära, in der die Marktwirtschaft überwog, der soziale Wohlfahrtsstaat in Frage gestellt, die Privatisierung gefördert und die Reformen des Neuen Steuerungsmodells rezipiert wurden. Wie die neoliberale Politik fand auch das Neue Steuerungsmodell ziemlich spät Einzug in Deutschland und dementsprechend fand die Umwandlung der Kommunalverwaltungen verspätet statt, womit die Auswirkungen dieser Reformen gerade erst sichtbar werden. Die Neue Steuerungsreform, die Governance-Anwendungen, Instrumente der direkten Demokratie, das Modell der direkten Präsidentenwahl, die Privatisierungspolitik und das Subsidiaritätsprinzip standen in den 2000er Jahren alle zusammen auf der Tagesordnung der Verwaltungsreformen in Deutschland. Obwohl ernsthafte Diskussionen über den Reformbedarf der Kommunalverwaltungen in der Türkei in die 1970er Jahre zurückreichen, begannen umfassende Reformen erst in den 2000er Jahren. Mit den Möglichkeiten der durch die Alleinherrschaft einer Partei getragenen Stabilität konnte die Türkei in dieser Zeit multidimensionale Reformen in der Kommunalverwaltung durchführen. Diese Veränderungen werden überwiegend durch das Paradigma des Neuen Steuerungsmodells, dem Governance-Diskurs und die Privatisierungspolitik beherrscht und mit Nachdruck der Marktwirtschaft durchgeführt. Bei dem intensiven Reformprozess wurden Regelungen im Bereich der räumlichen Reformen getroffen und die Großstadtverwaltungen gestärkt. Weiterhin besteht ein erheblicher Reformbedarf der Kommunalverwaltungen im Bereich der finanziellen und personellen Verwaltung. Zudem kann über die türkische Reformerfahrung behauptet werden, dass bei den Regelungen und ihrer Einsetzung der Governance-Diskurs nicht ernst genommen wird, den Instrumenten der direkten Demokratie kein gebührendes Interesse entgegengebracht wird und keine Regelungen getroffen wurden, die die kommunalen Versammlungen stärken und die dominanten Bürgermeister*innen ausgleichen können. Nach einer allgemeinen Bewertung kann festgehalten werden, dass die deutschen Kommunalverwaltungen in Bezug auf ihre grundlegenden Eigenschaften wie Multifunktionalität, Selbstverwaltungstradition, eigener und übertragener Wirkungskreis, Zusammenarbeit mit freiwilligen Einrichtungen und Verwaltungsmodellen, sich von den türkischen Kommunalverwaltungen unterscheiden. Die hervorgehobenen Unterschiede sind Grunderfordernisse eines effektiven, fundierten und starken kommunalen Verwaltungssystems. Für die Türkei ist
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es von Nutzen, die deutschen Kommunalverwaltungen als Dienstleistungseinheiten zu sehen und bei dem Dezentralisierungsprozess über ihre Erfahrungen zu diskutieren. Die im Rahmen von Governance-Diskussionen durchgeführte vielseitige Reformagenda der deutschen Kommunalverwaltungen bieten für die türkischen Kommunalverwaltungen beachtliche Perspektiven.
Schluss und Bewertung Das Bildnis der kommunalen Verwaltungsreformen in Deutschland scheint nach den letzten Entwicklungen paradox und mehrseitig zu sein. Insbesondere die Übertragung der Kosten der Wiedervereinigung auf die Kommunalverwaltungen nach 1990, die angespannte finanzielle Lage wegen der Finanzkrise 2008, die Übertragung der neuen Aufgabenbereiche auf die Kommunalverwaltungen und die EU-Politik reizen die finanziellen Kapazitäten der kommunalen Verwaltungen aus. Die Bemühungen und Reformen, die auf die Governance und die partizipatorische Demokratie hinzielen, stehen deshalb unter dem Schatten der finanziellen Probleme. In Deutschland herrscht ein legales-rationales Verwaltungsverständnis, das durch einen bürokratischen Kader getragen wird und die Existenz der immerwährenden Strukturen, Grundsätze und Prozedere andeutet. Dieses Verwaltungsverständnis gleicht das Neue Steuerungsmodell (New Public Management) einerseits aus und verhindert es andererseits. Die Spannung zwischen der Rechtsmäßigkeit und dem Neuen Steuerungsmodell existiert weiterhin (Kuhlmann, 2008). Ein Zustand, der die Durchführungskosten des Neuen Steuerungsmodells finanzieren könnte, ist noch nicht in Sicht. Die sogenannten Reformen des Neuen Steuerungsmodells 2.0, das auf die Partizipation bei den Entscheidungsprozessen und der Inputlegitimität basiert und die Bürgerinitiative vorsieht, sind die ergänzenden Aspekte (Bogumil, 2006; Kuhlmann, 2009). Beim Vergleich der beiden Länder ermitteln wir, dass sie in Bezug auf den attraktiven Diskurs des Neuen Steuerungsmodells, die Probleme der kommunalen Verwaltungen, die Auswirkungen der Finanzkrise, die EU-Politik, die steigenden Forderungen von Bürger*innen, die Migrationskrise, den Klimawandel, die Verstädterungsprobleme und den herrschenden politischen Diskurs eine gemeinsame Atmosphäre haben, bei der mehrere Variablen existieren und Akteur*innen deshalb ähnliche Auswirkungen spüren (Franzke, 2016; Sadioğlu, 2018). Für die Türkei ist es von Nutzen, die deutschen Kommunalverwaltungen als Dienstleistungseinheiten zu sehen und bei dem Dezentralisierungsprozess über ihre Erfahrungen zu diskutieren. Diese Diskussionen können zu folgenden Ergebnissen führen:
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I. Die Rolle einer regulierenden – koordinierenden Einrichtung: Das Neue Steuerungsmodell wird in Deutschland durch die Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement (KGSt) entwickelt und gefördert (Banner, 2006). Die türkische „Union der Stadtverwaltungen“ könnte in dieser Hinsicht eine ähnliche Rolle übernehmen. II. Die Auswirkungen der Reformrichtung: Das Neue Steuerungsmodell wurde von der Peripherie zum Zentrum hin (von unten nach oben) entwickelt. Die Bestimmung der Reformrichtung und der Federführung bei den Reformen sollte durch die kommunalen Verwaltungen erfolgen. III. Nachdenken über die unterschiedlichen Pfeiler der Reformen und deren Bewertung: Die politisch-administrativen Strukturen der Länder ist eine bedeutende Variable, die Unterschiede aufweisen, bei denen das Neue Steuerungsmodell ansetzt (siehe Bogumil, 2006; Hendriks und Tops, 1999; Kuhlmann u.a., 2008; Pollitt und Bouckaert, 2005: 256–563). Die lokalen Gemeinschaften und Regionalpolitiker*innen in der Türkei strengen sich für die Reformen zu einer partizipatorischen Demokratie nicht an. In der Türkei ist ein neues System entstanden, das auf den Beziehungen zwischen Großstadtverwaltungen und Zentralbezirksverwaltungen basiert (Zengin, 2014). Eine Untersuchung des Großstadtverwaltungsmodells würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. IV. Die auf Input fokussierenden und Partizipation gerichteten Reforminstrumente: In Deutschland wurde das Modell der direkten Bürgermeister*innen-Wahl mit der Möglichkeit seiner/ihrer direkten Abwahl eingeführt, um das neue System zu überwachen. Das ist ein bedeutender Fortschritt in Bezug auf Beteiligung der Bürger*innen (Caulfield und Larsen, 2002). Das in der Türkei zu beobachtende Problem, nämlich das Fehlen der auf Partizipation basierenden und inputorientierten-legalisierenden Verwaltungsinstrumente, existiert weiterhin. V. Die Berücksichtigung der traditionellen Strukturen: das im Gegensatz zum Neuen Steuerungsmodell für die kontinentaleuropäischen Staaten beschriebene (Pollitt und Bouckaert, 2005: 99) Reformmodell des Neo-Weberianischen Staates (NWS), der Gedanke des New Public Service (Denhardt und Denhardt, 2007) und die Beziehung zwischen Governance und Demokratie (Acar, 2014) sollten hier für beide Länder als ein alternatives und ergänzendes Paradigma in Betracht gezogen werden.
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Kapitel III Deutsch-türkische Zusammenarbeit in Bildung und Hochschule
İbrahim S. Canbolat*
Überwindung der geschichtlichen Vorurteile zwischen Deutschland und der Türkei anhand der Zusammenarbeit im Bildungsbereich Einleitung Das Thema dieses Artikels bezieht sich auf den wissenschaftlichen und kulturellen Bereich der türkisch-deutschen Beziehungen. Einführend möchte ich zuerst anmerken, dass die Beziehungen zwischen den Nationen auf vielfältigen Motiven beruhen, die je einen konjunkturellen, politischen, wirtschaftlichen und auch kulturellen Hintergrund haben. Es stellt sich daher die unentbehrliche Frage nach dem historischen und gegenwärtigen Hintergrund für die genannten Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei. Diese Fragestellung ist deswegen wichtig, weil wir dieses Thema nicht nur formell und informativ sondern sachlich und kritisch behandeln wollen. Dieser Artikel, der die wissenschaftlichen Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland zum Forschungsgegenstand macht, beruht auf einer wissenschaftlichen Methode, die durch Fragestellung, Beobachtung, Begrifflichkeit und Begrenzung eine erhellende Analysemöglichkeit bietet. Um den jeweiligen Untersuchungsgegenstand zielgemäß analysieren zu können, wäre eine Betrachtung aus der Perspektive der Konjunkturellen Realität angebracht. Die Konjunkturelle Realität als eine theoretische Vorgehensweise beinhaltet zwei unbeständige bzw. veränderliche Faktoren: Diese sind die Zeit und der Untersuchungsgegenstand. Im Gegensatz zu dem politischen Realismus (Realpolitik), die behauptet, dass die Natur des Menschen schlecht ist und so dass die nationalen Interessen nur mit der Macht erreicht werden könnten, die Konjunkturelle Realität macht eine neutrale Sicht möglich, so dass der Betrachter die Bedeutung von Ereignissen nach Ihrer Realität verstehen kann. Mit Hilfe dieser Analysemethode werden wir in der Lage sein, die Umstände und Bedingungen der bedingten Realität unter denen politische Entscheidungen getroffen werden, zu erkennen.
* Prof. Dr., Bursa Uludağ Universität, Fakultät für Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften, Fachbereich Politikwissenschaften, E-Mail: [email protected]
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Auf diese Weise kommt, statt der eindimensionalen Machtpolitik in jedem Zustand, eine flexible Präferenz-Methode in Betracht. Die Perspektive der Konjunkturellen Realität ebnet den Weg zum besseren Verstehen der historischen und zeitgenössischen Haltung und Motivation der Staaten (Canbolat, 2018: 147– 171). Die türkisch-deutschen Beziehungen auf wissenschaftlicher und kultureller Ebene werden in dieser Arbeit anhand des oben vorgestellten theoretischen Ansatzes untersucht.
Geschichtlicher Hintergrund Wenn wir auf die Vergangenheit bis zur Zeit der Kreuzzüge im 10. Jahrhundert einen Blick werfen (einen überlegenen Blick, nach Friedrich Hegel), beobachten wir, dass türkisch-deutsche Verhältnisse nicht zu sehr von klassischen Kriegssituationen belastet wurden. Im Gegenteil: Die beiden Nationen fanden während der genannten Ära auch die Gelegenheit, sich kennenzulernen. Es gibt ja immer ein menschliches Bedürfnis nach Wissen und Kennen. Obwohl die Kreuzfahrer mit ihren blutigen Unternehmungen ihr angepeiltes Ziel nicht erreichten, weil die Kreuzzugsbewegung nicht in Schwung kam, haben die Feldzüge dennoch wesentliche Bedeutung für das Kulturleben Europas gehabt. Zum Beispiel ist das heutige Zahlensystem in Europa eine Aneignung von der wissenschaftlichen Erfahrung türkisch-arabischer Gelehrter. Um dies zu konkretisieren, möchte ich den türkischen Mathematiker und Astronomen Harezmi (780–850)1 erwähnen, der sich einer interdisziplinären Methode bediente und seine Forschungsarbeit in arabischer Sprache niederlegte. Die Araber nennen ihn El Harezmi, in Europa ist er bekannt unter dem Namen Alchorozmi und der Begriff „Algorithmus“ geht auf den Namen El Harezmi (Alchorozmi) zurück. Er trug dazu bei, dass die Zahl Null in die mathematischen Vier-Operationen eingeführt wurde. Der mathematische Begriff Null, im Englischen zero, heißt im Arabischen wie im Türkischen „sıfır“. Der deutsche Begriff Ziffer klinkt akustisch wie sıfır an und deutet generell auf Zahlen hin. Es kann also geschlussfolgert werden, dass in Europa in der Tat von der eben genannten mathematischen Errungenschaft durch Harezmi Gebrauch gemacht wurde. Das können wir als ein funktionelles Kennenlernen bezeichnen.
1 Zu Person und Werke von Harezmi siehe https://www.matematikciler.com/el-harezmiebu-abdullah-muhammed-bin-musa-el-harezmi-harizm-780-bagdat-850/ und https:// www.biyografi.info/kisi/harezmi
Überwindung der geschichtlichen Vorurteile
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Türkenbilder in den Werken der deutschen Autor*innen In diesem Zusammenhang werde ich ein anderes Beispiel für die türkisch-deutsche Beziehung in der Geschichte geben, indem ich auf einen deutschen Autor aufmerksam machen will, der als Georg von Ungarn bekannt ist. Er geriet im 15. Jahrhundert im Alter von 16 Jahren in osmanische Gefangenschaft und nach zwanzigjährigem Aufenthalt in der damaligen Türkei schrieb er ein Buch mit dem Titel „Traktat über die Sitten, die Lebensverhältnisse und die Arglist der Türken“2. Der ehemalige Gefangene erkennt da vor allem die positiven Eigenschaften der Türk*innen, wie beispielsweise Bescheidenheit, Reinlichkeit, Schlichtheit, Gastfreundschaft und Gerechtigkeit. Allerdings beurteilt er die Türken nachher argwöhnisch und sagt, dass sie nur dem Schein nach so höflich seien, weil sie durch die beim Fremden Vertrauen erweckenden guten Eigenschaften ihn von seinem Glauben abbringen würden. Er sieht in der freundlichen Beziehung der Türk*innen zu einem Fremden die Gefahr, zumindest für sich selbst, den Glauben an das Christentum zu verlieren (Canbolat, 2009: 246–247). Er hatte also trotz der Beobachtung positiver Verhältnisse in der türkischen Gesellschaft immer noch Vorurteile gegenüber Türk*innen. Zumal, wenn wir daran denken, dass auch Martin Luther in seiner Arbeit ‘Heerpredigt wider den Türcken’3 auf das Buch des Georg von Ungarn, und zwar mehrmals daraus längere Passage zitierend, hingewiesen hat, können wir einen langwierigen negativen Einfluss des Traktats bzw. türkenfeindlicher Vorurteile feststellen.
Wie könnte man die Vorurteile zwischen Deutschland und der Türkei überwinden? Um die Vorurteile zwischen Deutschland und der Türkei überwinden zu können, lässt sich folgendes nahelegen: Also, wir sehen zwei Seiten der Ereignisse auf dem Bereich, den wir hier durch geschichtliche Beobachtung und sachliche Fragestellung unter die Lupe nehmen wollen. Erstens lässt sich eine wissenschaftliche/ 2 Reinhard Klockow (Ed.), Traktat über die Sitten, die Lebensverhältnisse und die Arglist der Türken, https://www.degruyter.com/viewbooktoc/product/441782; und zu diesem Thema siehe auch noch Gündoğar Feruzan; Mungan Güler; Yıldız Cemal, Georgius de Hungaria ve Türkler Hakkındaki Değerlendirmelerine Bir Bakış, Semahat Yüksel Armağan Kitabı, Pegem Akademi, Ankara 2009, S. 198–207. 3 Martin Luther, Eine Heerpredigt wider den Türcken, Stüchs 1530, http://wolf-kroetke.de/uploads/media/ Luther_und_die_Tuerken.pdfhttps://books.google.com.tr/ books/about/Eine_Heerpredigt_wider_den_Turcken.html?id=1Wc8AAAAcAAJ&redir_esc=y
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kulturelle Errungenschaft konstatieren, die sich Türk*innen und Deutsche bzw. Europäer*innen wahrhaftig zu Nutze machen. Zweitens treten verbreitete Vorurteile über die Türk*innen zutage, die Haltungen und Überzeugungen vieler Europäer*innen prägen. Zunächst zu den Vorurteilen: Es lässt sich hier fragen, ob es nicht möglich ist, den Menschen ohne Vorurteile zu begegnen. Diese Fragestellung ebnet uns den Weg hermeneutischer Methode zum genauen Verstehen des menschlichen Verhaltens, indem menschliche Haltungen und deren Sinn auf der Basis der authentischen Quellen dargelegt werden. Dies zu versäumen, könnte zur Verfälschung der Realität führen, was als unwahres Bild von dem zu untersuchenden Gegenstand ins Gedächtnis kommt. Statt der Realität fungiert dann ein Image. Es gibt immer die potentielle Möglichkeit einer Verwechslung der Realität mit dem Image, welches bloß eine Vorstellung oder ein Bild von der Realität ist. Insofern das Image als Verschleierung der Wirklichkeit benutzt wird, wird das Image zu einem gefährlichen Instrument (Canbolat, 2007: 1–24). Das gilt als individuelles wie auch als gesellschaftliches und politisches Phänomen in den zwischenstaatlichen Beziehungen. Ein vorurteilsbeladenes Bild über die Türkei in Europa oder die Vorstellung von der Armenischen Frage, basierend auf dem Völkermord-Vorwurf gegen die Türkei, können als Beispiele für das genannte Image angeführt werden. Nun, stellt sich die Frage auf: Was ist zu tun? Dann kommt die zweite Frage, die eine Tür zur Antwort öffnet: Wozu dienen die Wissenschaft und die Universitäten oder Hochschulbildung? Der deutsche Akademiker Christian Johannes Henrich untersucht in seiner Dissertation das Türkenbild in Europa seit 19. Jahrhundert und stellt fest, dass es „in der Geschichte des späten Osmanischen Reiches eine auffällige Diskrepanz zwischen erlebter Geschichte und produzierter Erinnerung“ gibt. Mit dem Hinweis auf Birgit Neumann berichtet Henrich, dass „kollektive Erinnerung in Büchern produziert wird“, wobei dann durch das Niederschreiben der Geschichte diese erfundenen Erinnerungen neugeschrieben werden (Henrich, 2013: 14–15). Dieser Gegensatz zwischen der Realität und dem gebildeten Image, wenn wir am Beispiel der bereits erwähnten Erzählungen des Georg von Ungarn die Problematik in Betracht ziehen, führt natürlich zur Verschlechterung der Beziehungen zwischen den Nationen, also zwischen Deutschland und der Türkei. Im Allgemeinen werden die Türk*innen als Moslems den tief im europäischen Bewusstsein verankerten Vorurteilen ausgesetzt und sogar als „Widersacher der christlichen Kultur“ aufgezeigt. Das sieht man in der Politik, Musik sowie Literatur (Henrich, 2013: 80–85). Gegen diese historisch verwurzelten Vorurteile könnte man eine wissenschaftliche Vorgehensweise anführen, indem man anhand des Universitätsstudiums
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durch die Bildung von Lehrinhalten, Vorlesungen, Seminaren und Forschungsarbeiten zur Sache Stellung nimmt. Auf diesen Aspekt wird unten näher eingegangen.
Deutsch-türkische Bildungszusammenarbeit von der Vergangenheit bis zur Gegenwart Die im 19. Jahrhundert, also in der Zeit des Osmanischen Reiches, gegründete wissenschaftliche Erziehungseinrichtung Darülfünun4 (Haus der Wissenschaften) hatte schon damals einen Rat der Hochschullehrer (Muallimler Meclisi) und ein Institut für Wissenschaft (mit dem jeweiligen Namen: Cemiyet-i İlmiye-i Osmaniye), auf Deutsch: die Osmanische Wissenschaftsgemeinschaft. In der späteren Zeit wurde Darülfünun durch den Aufbau von fünf Fakultäten und Forschungsorganen wie Darülmesai (Haus für Forschungsarbeit) einigermaßen modernisiert. Im Jahre 1911 lehrten an den Fakultäten von Darülfünun auch deutsche Hochschullehrer, von denen 10 Professoren an der Fakultät für Literatur, 6 Professoren an der Fakultät für Naturwissenschaft, und 4 Professoren an der Juristischen Fakultät angestellt waren5. Es steht also fest, dass bereits vor der Naziherrschaft in Deutschland eine türkisch-deutsche akademische Partnerschaft existierte. Während des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland emigrierten viele deutsche Akademiker*innen wie Ernst Reuter, Ernst Hirsch, Fritz Neumarkt, Bruno Taut, Traugott Fuchs und u.a. Leo Spitzer in die Türkei, wo sie eine Zuflucht gefunden haben. Die Bezeichnung Zuflucht bezieht sich auf das Buch von Fritz Neumarkt, das mit dem Titel Zuflucht am Bosporus (Neumarkt, 1980) erschienen ist. Ähnlich wie Neumarkt berichtet der in jener Zeit in die Türkei geflohene Wissenschaftler Traugott Fuchs in seinem Lebenslauf von der Lebenssituation in der Türkei folgendes: „Hier jedoch war ein Tor der Zukunft, daheim ein Tor zum Tode, das war sicher“6, so seine Worte. 4 Für weitere Informationen über Darülfünün siehe Abdurrahman Siler, Darülfünun’un Kurtuluş Savaşı ve İnkılaplara Bakışı, http://www.atam.gov.tr/dergi/sayi-31/darulfununun-kurtulus-savasi-ve-inkilaplara-bakisi, (zuletzt abgerufen: 12.02.2019); Mesut Yücebaş, Darülfünun’un İlgası ve Yeni Üniversitenin Ruhu, Gaziantep University Journal of Social Sciences http://jss.gantep.edu.tr) 2014 13(2):259- 283. 5 Emre Dölen, II. Meşrutiyet Döneminde Darülfünün, http://dergipark.gov.tr/download/article-file/13211 6 Georg Stauth, Faruk Birtek (Hg.), İstanbul, Geistige Wanderung aus der Welt in Scherben, https://books.google.com.tr/books?id=zLtKCgAAQBAJ&pg=PA174&lpg=PA174 &dq=traugott+fuchs+Hier+jedoch+war+ein+Tor+der+Zukunft,+daheim+ein+Tor+z
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Diese deutschen Emigrant*innen aus der akademischen Welt haben in der Türkei hervorragende Arbeit geleistet, indem sie in Istanbul und in Ankara beim Aufbau mancher Studiengänge der neu etablierten Fakultäten mitgewirkt haben. Sie erhielten einen fünfjährigen Arbeitsvertrag von der türkischen Regierung und durften ihre Familien und Vermögen mitbringen. Detaillierte Informationen über die während des Dritten Reiches aus Deutschland in die Türkei emigrierten deutschen Akademiker*innen könnte man in den verschiedenen Artikeln und Büchern finden7. Was gerade hier nötig wäre, ist nicht unbedingt das Aufbauen eines scheinheiligen Qualitätsimages sondern die gemeinsame Förderung der wissenschaftlichen Forschung durch Hochschulen und Universitäten. Am Beispiel der Türkisch-Deutschen Universität in Istanbul kann diese Modalität vorgeführt werden. Diese Universität in Istanbul unterscheidet sich von den anderen deutschen Universitäten im Ausland vor allem dadurch, dass diese im Gegensatz zum Beispiel zu denen in Kairo, in Kasachstan oder in China, die sich vornehmlich an Technologie und Markt orientieren, auch die akademischen Disziplinen Kultur-und Sozialwissenschaften in ihre Struktur integriert hat. Das passt gut zur bereits betonten Eigenart der türkisch-deutschen Beziehungen. Was die genannte Türkisch-Deutsche Universität angeht, hatten wir in Antalya im Jahre 2007 beim Ersten Deutsch-Türkischen Kooperationsforum diskutiert, wie diese geplant und aufgebaut werden sollte. Bezüglich solch einer Universität wies ich in erster Linie auf drei Punkte hin, die ich als wichtig ansah: An erster Stelle steht der Gründungszweck dieser Universität. Die Besonderheiten der türkisch-deutschen Verhältnisse in der Geschichte und in der Gegenwart sind ausschlaggebend dafür, den Sinn und den Zweck des Aufbauens einer Türkisch-Deutschen um+Tode,+das+war+sicher%E2%80%98&source=bl&ots=W6Y24nrhPi&sig=ACfU3 U0BTFMuJIGMwzZASvw9ZhivWjAdyQ&hl=tr&sa=X&ved=2ahUKEwjulNu9t7TgA hWgwsQBHe5nCoMQ6AEwAHoECAAQAQ#v=onepage&q=traugott%20fuchs%20 Hier%20jedoch%20war%20ein%20Tor%20der%20Zukunft%2C%20daheim%20 ein%20Tor%20zum%20Tode%2C%20das%20war%20sicher%E2%80%98&f=false 7 Siehe zu diesem Thema Fahri Türk und Servet Çınar, Türkiye ile Almanya Arasında Bilimsel İlişkiler (Die wissenschaftlichen Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland), Gazi Akademik Bakış, 2013, 7/13, S. 45–65; Ernst E. Hirsch, Aus des Kaisers Zeiten durch die Weimarer Republik in das Land Atatürks. Eine unzeitgemäße Autobiographie, München 1982; Kemal Bozay: Exil Türkei. Ein Forschungsbeitrag zur deutschsprachigen Emigration in der Türkei (1933–1945), Münster 2001; Sabine Mangold-Will, Begrenzte Freundschaft. Deutschland und die Türkei 1918–1933, Göttingen 2013; Sabine Mangold-Will, Deutsche in der Türkei 1933–1945, http://www.bpb.de/ internationales/europa/tuerkei/184978/deutsche-im-exil-tuerkei
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Universität in der Türkei zu untermauern. Zweitens ist die Lehrsprache der Universität, die für ein vertieftes interdisziplinäres Studium in Anlehnung an die richtige Fragestellung und an die erleuchtende Analyse, sehr wichtig. Die Lehrsprache einer Türkisch-Deutschen Universität kann, je nach den Studiengängen und Lehrinhalten, in erster Linie Deutsch und Türkisch sein. Auch die englische Sprache sollte gelehrt/gelernt und verwendet werden, besonders wenn man an internationale Mobilität denkt. Denn die Sprachkenntnisse sind grundlegende Voraussetzung für den Erwerb interkultureller Erfahrungen und Fertigkeiten. Drittens sollten die Lehrinhalte und die spezifischen Programme der TürkischDeutschen Universität „im Sinne ihrer Identifikation und Zielsetzung“ gebildet und zukunftsorientiert bzw. problemorientiert bearbeitet werden. Heute, bereits zehn Jahre nach ihrer Gründung, lesen wir auf der Webseite der Türkisch-Deutschen Universität folgendes: „Die Türkisch-Deutsche Universität verfolgt das Ziel, die besten Errungenschaften türkischer und deutscher Hochschultradition in Forschung und Lehre zu verbinden… Im Sinne ihrer Identifikation und Zielsetzung versteht sich die Türkisch-Deutsche Universität als eine Forschungsuniversität… Bewegt von der Leitidee, dass die akademische und kulturelle Interaktion ein Gewinn ist, wurde die türkisch-deutsche akademische Partnerschaft ins Leben gerufen… und die Studienpläne werden im Sinne dieser Zusammenarbeit vorbereitet“8. Das steht zumindest im Einklang mit dem, was wir in Bezug auf eine kooperative Hochschulbildung nahelegen wollten. Und hierin sehen wir theoretisch, aber nur theoretisch, eine hoffnungserweckende Entwicklung in Richtung einer Aufklärung in dem Sinne, dass durch die zu erwartenden Qualitäten, sprich „Internationalität und Deutschlandbezug, Mehrsprachigkeit, Interdisziplinarität und interaktive Lehrmethoden“ in Zusammenhang mit besseren Welt- und Lebensumständen angemessene Fragen gestellt werden können. All dies hängt jedoch von der Qualität der Praxis ab, die sich in Lehre und Führung der Universität zeigen wird. Der Blick wird also diesbezüglich auf die Zukunft gerichtet sein.
Die Rolle der Wissenschaft bei der Lösung gesellschaftlicher und politischer Probleme In diesem Abschnitt sollten nun einige Worte zu dem gesagt wird, was die Wissenschaft und diesbezügliche Forschung zur Lösung gesellschaftlicher und
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http://www.tau.edu.tr/universitat/allgemeines
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politischer Konflikte beitragen kann. Die erste Frage: In wieweit können wir es konkret beobachten, dass die Wissenschaft die Willensbildung in der Gesellschaft und die Entscheidungsfindung in der Politik mitgestaltet? Ob politische und gesellschaftliche Auswirkungen wissenschaftlicher Erkenntnisse uns ermöglichen, ein eigenes vorurteilfreies Bild von der politischen und sozialen Realität zu machen. Die Universität als eine wissenschaftliche Einrichtung bildet ein Medium für einen Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, indem sie sowohl die Forschungsergebnisse als auch die Erkenntnisprozesse zusammenschmilzt. Aus dieser Perspektive heraus könnte man sich ein klares Bild von der gesellschaftlichen Realität machen. Erst dann kommt die Suche nach den Lösungsmöglichkeiten der gesellschaftlichen und politischen Probleme. Nicht nur Professor*innen, auch Student*innen können durch die Verwendung wissenschaftlicher Methoden zum Erwerb wissenschaftlicher Erkenntnisse beitragen. Wenn z.B. ein/e Student*in in den 80er Jahren in einer Vorlesung ein Semester lang dem Professor zuhört, der anhand der Schrift „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ von Karl Marx den Marxismus analysiert, den wir ja alle schon in Grundideen einigermaßen kennen, nämlich dass die Religion und das Jenseits bloß eine Vorstellung der in Elend lebenden Menschen sei, und dass der religiöse Mensch sich gegenüber den weltlichen Lebensbedingungen und vielleicht Unterdrückungen passiv und gleichgültig verhalten soll, weil seine Glückserwartungen nicht an diese Welt, sondern an das Jenseits gerichtet seien. Gleichzeitig jedoch sieht der Student in den Nachrichten im Fernsehen jeden Tag einen Mann mit Schnurbart, der Lech Walesa heißt, also den Gewerkschaftsführer in Warschau, unterstützt von Arbeitnehmer*innen und von der katholischen Kirche. Diese Arbeiter*innen, um es mit dem marxistischen Begriff auszudrücken, Proletarier, protestierten gegen die ungerechte Politik des sozialistischen Regimes. Nicht nur in Polen Arbeiter, auch in Afghanistan marschierten zu jener Zeit die afghanischen Moslems gegen die sowjetische Invasion, um ihr Land zu verteidigen. Der entscheidende Punkt hier ist, dass die beiden Gruppen an das Jenseits glaubten, und dass sie sich dennoch gegenüber der ungerechten Politik und der fremden Herrschaft im eigenen Land nicht zurückhielten. Das Geschehen, das der Student beobachtete, stimmte mit der Marxismus-Theorie nicht überein. Für den Studenten, der all dies beobachtet, stellt sich eine Frage nach der Glaubwürdigkeit der genannten Thesen, und er bittet den Professor (Prof. Schluchter) darum, ein Thema anzubieten, damit er eine Seminararbeit schreiben kann mit dem Titel Die Kritik der Kritik von Religion, also die Kritik des Artikels von Marx. Begeistert von dieser Idee, bestätigt der Professor das vorgeschlagene Thema, und zudem ermutigt er den Studenten. Nach der Abgabe der Seminararbeit bewertet der Professor diese mit der Gesamtnote „Besser als gut“.
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Abschließend will ich die unter Betreuung von je einem türkischen und einem deutschen Professor abgeschlossenen Dissertation (von dem bereits genannten Christian Johannes Henrich) als Beispiel dafür erwähnen, dass diese einerseits als eine wissenschaftliche Antwort auf die Frage des Realität-Image-Gegensatzes im Hinblick auf die armenische Frage gilt, andererseits zu den deutsch-türkischen Beziehungen im wissenschaftlichen Bereich einen erheblichen Beitrag leistet. Henrich geht davon aus, dass „der vermeintliche Völkermord an den Armenier*innen in den vergangenen Jahrzehnten stark politisiert und emotionalisiert wurde“. D.h. an Stelle der Wahrheit wurden „Images eingesetzt, um die öffentliche Meinung zu vereinnahmen und zu desinformieren“. Daher sei „bei Aufarbeitung der armenischen Frage und des darin enthaltenen VölkermordVorwurfs gegen die Türkei eine faktenreiche historisch-kritische Forschung anhand der Primärquellen sehr wichtig und nötig, damit die Thematik entpolitisiert, entemotionalisiert und wieder verwissenschaftlicht werden kann. Gerade unter solchen Umständen sollte man an die Aufgabe der Wissenschaft denken, so wie es bei dieser These getan wurde, „um das camouflierte, unechte Image zu enttarnen, indem man wieder zur Primärquelle zurückkehrt“. Bei Ausblendung wissenschaftlicher Methoden wird, wie Henrich es in seiner Dissertationsschrift betont, die Geschichte des Bürgerkriegs aus nationalistischen und politischen Beweggründen zu einer Geschichte des Völkermords umgeschrieben. Das wäre dann also anregend für weitere wissenschaftliche Aktivitäten innerhalb der türkisch-deutschen Beziehungen. Die langfristige Tragfähigkeit der Beziehungen und die erwartete Solidarität zwischen beiden Nationen können auf der Grundlage solcher Entwicklung noch besser standhalten.
Fazit Die türkisch-deutschen Beziehungen auf wissenschaftlicher und kultureller Ebene wurden in dieser Arbeit aus der Perspektive der Konjunkturellen Realität untersucht. Die Methode der Konjunkturellen Realität hatte die Aufgabe, zu einem besseren Verstehen der historischen und zeitgenössischen Haltungen und Motivationen der beiden Staaten beizutragen. Aus der Analyse der türkisch-deutschen Beziehungen unter Berücksichtigung wissenschaftlicher und kultureller Aspekte können wir folgende Schlussfolgerungen ableiten: Erstens, das türkisch-deutsche Verhältnis wurde auch zur Zeit der Kreuzzüge nicht zu sehr von klassischen Kriegssituationen belastet. Die Kreuzzugsbewegung hatte wesentliche Bedeutung für das Kulturleben der Deutschen und des Kontinents Europa. Zweitens, es bestand eine wissenschaftliche Kooperation zwischen der Türkei und Deutschland (sowohl in der späteren Zeit des Osmanischen Reiches
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wie auch nach der Gründung der Republik Türkei). Die im 19. Jahrhundert während des Osmanischen Reiches gegründete wissenschaftliche Erziehungseinrichtung „Darülfünun“ (Haus der Wissenschaften) wurde nachher durch den Aufbau von modernen Fakultäten und Forschungseinrichtungen weiter entwickelt. Deutsche Wissenschaftler*innen, die an den jeweiligen Fakultäten angestellt waren, trugen zu dieser Entwicklung bei. Während der Naziherrschaft in Deutschland emigrierten viele deutsche Wissenschaftler*innen in die Türkei, wo sie eine Zuflucht gefunden haben. Auch diese Akademiker*innen wirkten beim Aufbau mancher Studiengänge der neu etablierten Fakultäten mit, wo ein beiderseitiger Nutzen zu beobachten war. Drittens, verbreitete Vorurteile über Türk*innen prägen die Haltungen und Überzeugungen vieler Europäer*innen bis heute. Diesbezüglich kann eine sachliche und kritische Analysemethode vorgeschlagen werden, die einerseits als eine wissenschaftliche Antwort auf die Frage des Gegensatzes ‚Realität-Image‘ in Hinblick auf das eventuelle Vorurteilsproblem gilt und andererseits zu den deutsch-türkischen Beziehungen im wissenschaftlichen Bereich einen Beitrag leistet.
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Seldağ GÜNEŞ PESCHKE*
Ein Blick auf den Beitrag deutscher Wissenschaftler*innen in der türkischen Hochschulbildung zwischen 1933–1946 Einführung Mit der Ausrufung der Republik Türkei im Jahr 1923 wurden enorme sozioökonomische Reformen in vielen unterschiedlichen Bereichen durchgeführt. In diesem Rahmen wurden auch neue Universitäten gegründet, um die Entwicklung der türkischen Hochschulbildung voranzutreiben. Die auf Einladung von Mustafa Kemal Atatürk im Jahre 1932 in die Türkei emigrierten deutschen Wissenschaftler*innen jüdischen Ursprungs leisteten einen großen Beitrag zur wissenschaftlichen, modernen und demokratischen Etablierung der Universitäten. Als Zeichen für die der Wissenschaft und Aufklärung durch die damalige Führungsriege beigemessenen Bedeutung erhielten diese Wissenschaftler*innen als Gegenleistung zu ihren Diensten neben hohen Gehältern, der Übernahme ihrer Krankenversicherung und Umzugskosten auch das Recht, ihre Mitarbeiter*innen in die Türkei zu holen und sie zu beschäftigen sowie staatliche Schutzgarantien. Viele weltberühmte Wissenschaftler*innen wie Philipp Schwarz, Ernst Hirsch, Paul Koschacker kamen in die Türkei, bildeten Student*innen aus und trugen zur Entwicklung der türkischen Hochschulen bei. Die Freundschaft und die Kooperationsbrücke, die damals zwischen den deutschen und den türkischen Wissenschaftler*innen verknüpft wurden, wachsen stets weiter und festigen sich zunehmend.
Die Ära des Osmanischen Reichs Bildung ist einer der wichtigsten Faktoren für den Fortschritt von Gesellschaften. Bei der Determinierung des Bildungsniveaus der Länder ist die Hochschulbildung, neben Primar- und Sekundarschulbildung und Gymnasien, äußerst wichtig. Die Bildung von qualifizierten Arbeitskräften und das Fördern von Forschung und Lehre gehören zu den grundlegenden Aufgaben von
* Prof. Dr., Yıldırım Beyazıt Universität Ankara, Fakultät für Rechtswissenschaft, Fachbereich für Vergleichende Rechtswissenschaft, E-mail: [email protected]
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Universitäten. In dieser Hinsicht sind die Bildungseinrichtungen wichtig, die bei der Vertretung des jeweiligen Landes im Ausland aktive Rollen übernehmen. Die Steigerung der internationalen Bekanntheit und der Bildungsqualität von Universitäten kann nur durch die Arbeit des akademischen Personals bewerkstelligt werden. In diesem Kontext reichen die Kooperation und die Zusammenarbeit zwischen den deutschen und den türkischen Akademiker*innen bis in die Zeit des Osmanischen Reiches zurück. Mit der Gründung der Darulfünun im Osmanischen Reich wurden die Fundamente für die heutige Hochschulbildung gelegt. Im Laufe der Zeit und insbesondere in der Zeit des Ersten Weltkrieges (1914–1918) wurden jedoch in der Istanbuler Darulfünun (Haus der Wissenschaften), der osmanischen Hochschulbildung und in deren naturwissenschaftlichen Abteilungen grundlegende Änderungen vorgenommen. Ab dem akademischen Jahr 1915–1916 kamen und unterrichteten Professor*innen aus unterschiedlichen Fachbereichen aus Deutschland und Österreich-Ungarn. Einige dieser Akademiker*innen führten ihre Aufgaben in einem 5-Jahresvertrag fort. In der Zeit von 1915–1918 kamen etwa 20 deutsche Wissenschaftler*innen nach Istanbul und lehrten an der Darulfünun. Während des Weltkrieges kam aus Deutschland neben den Akademiker*innen auch technisches Personal nach Istanbul. Erich Frank wurde zum Leiter des Botanischen Instituts berufen (Aydın/Karartaş, 2007: 23). Es gab jedoch auch vor dieser Zeit Kooperationen mit deutschen Akademiker*innen, wie z.B. Prof. Dr. Robert Rieder, der 1898 aus Bonn kam und bei der Gründung der Militärmedizinischen Akademie Gülhane aktiv mitwirkte. Er blieb bis 1904 in Istanbul und leistete einen enormen Beitrag für die Entwicklung der modernen Medizin im Osmanischen Reich. Später gründeten seine Student*innen die Medizinische Fakultät der Universität Ankara mit (Erichsen, 2016: 46).
Die Ära der Türkischen Republik Mit der Gründung der Türkischen Republik am 29. Oktober 1923 durch Mustafa Kemal Atatürk wurden in den Bereichen Bildung, Recht und Gesundheit viele Reformen durchgeführt und neue Agrarpolitiken rezipiert. In diesem Rahmen erfolgten auch in der Hochschulbildung Erneuerungen. 1925 wurde die rechtswissenschaftliche Fakultät an der Universität Ankara durch Mustafa Kemal Atatürk eröffnet und nahm ihre ersten Student*innen auf. In den darauffolgenden Jahren wurden viele andere Fakultäten errichtet, wie das Institut für Agrarwirtschaft 1930, die Fakultät für Sprachen, Geschichte und Geographie 1935, die Fakultät für Naturwissenschaften 1943 und die Medizinische Fakultät 1945. Das im Jahre 1930 errichtete Institut für Agrarwirtschaft beschäftigte offiziell die
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durch den deutschen Staat entsendeten Akademiker*innen und Handwerker*innen. Akademiker wie Max Pfannenstiel, Hans Bremer, Walter Gleisberg, Rudolf Belling, Friedrich Falke, Kurt Stüwe und Franz Heske lehrten dort in unterschiedlichen Zeitabschnitten ab der Errichtung des Instituts. Außer den offiziell beschäftigten Akademikern wie Friedrich Falke und Fritz Christiansen-Weniger gab es in dieser Ära noch eine andere Gruppe von Akademiker*innen. Diese Gruppe bestand aus Akademiker*innen, die aufgrund von politischen Repressionen Deutschland verließen oder verlassen mussten (Erichsen, 2016: 46). Die Aufnahme dieser Akademiker*innen an den türkischen Universitäten beruhte auf der Hochschulreform. Vor der Hochschulreform 1933 herrschte eine Übereinstimmung über die Einholung einer externen Expertenmeinung, damit die Istanbuler Darulfünun zu einer modernen Wissenschafts- und Bildungseinrichtung umgewandelt werden konnte, die die Republik erforderte. In diesem Zusammenhang wurde der Genfer Professor Albert Malche 1932 nach Ankara eingeladen. Nach einem Treffen mit İsmet İnönü, dem damaligen Premierminister, und dem Bildungsminister Reşit Galip führte er Untersuchungen mit den Akademiker*innen, Führungskräften und den Student*innen in Istanbul über mehrere Monate durch und verfasste darüber einen Bericht. In seinem Bericht, den er am 1. Juni 1932 dem Bildungsministerium vorlegte, machte Malche einige wichtige Feststellungen über die Bildung an der Darulfünun. In dem Bericht formulierte er einige Kritikpunkte über die Darulfünun wie z.B. die Knappheit an Forschungen, Laboratorien und Anwendungsstudien, den Mangel an Lehrmethoden und Büchern in türkischer Sprache und die frühe Schließung der Bibliotheken (um 16.00 Uhr). Malche betonte auch, dass die größte Schwierigkeit für neu zu errichtende Fachbereiche bei zukünftigen Maßnahmen der Mangel an akademischem Personal sein wird. Dieser Bericht war die Grundlage der später im Jahr 1933 durchgeführten „Hochschulreform“ (Dönmez, 2014: 72–75). In diesem Rahmen wurde die in der osmanischen Ära in Istanbul gegründete Darulfünun 1933 geschlossen und es entstand an ihrer Stelle die Universität Istanbul. Mit der Gründung der Technischen Universität Istanbul und der Universität Ankara in der Zeit von der Gründung der Republik bis 1946 stieg die Anzahl der Universitäten in der Türkei auf drei an. Bei der Errichtung von neuen Fakultäten und der Bildung von jungen Akademiker*innen leisteten die Wissenschaftler*innen aus Deutschland einen großen Beitrag (Ortaylı, 1992: 25). Deutsche Akademiker*innen wirkten bei der Errichtung von neuen Fakultäten und Fachbereichen aktiv mit und gestalteten und wendeten moderne Bildungsprogramme anhand der deutschen Hochschultradition an.
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Deutsche Wissenschaftler*innen in der Türkei Als die Türkei ihre Hochschulen 1933 reformieren wollte, nahmen die politischen Repressionen an den deutschen Universitäten zu. Der politische Druck ab 1930 an den deutschen Universitäten und die Zukunftsängste der dort beschäftigten Wissenschaftler*innen, insbesondere der mit jüdischer Abstammung, führten dazu, dass sie einen neuen Beschäftigungsort suchen mussten. In diesem Sinne schrieb sogar Albert Einstein als Ehrenpräsident der „Gesellschaft für den Schutz der Gesundheit der jüdischen Bevölkerung“ einen Brief an Atatürk mit der Bitte um die Aufnahme von 40 Professor*innen und Ärzt*innen. Er fügte hinzu, dass diese Personen ohne jede Vergütungsforderung ein Jahr lang in der Türkei arbeiten könnten (Reisman, 2007: 259). Die Migrationsgeschichte der deutschen Wissenschaftler*innen in der Türkei sieht folgendermaßen aus: Es wird vermutet, dass der Bericht von Malche für die Migration der deutschen Akademiker*innen eine entscheidende Wirkung hatte (Schwartz, 2003: 84–90). Philip Schwartz war nur einer der Wissenschaftler*innen, die aus Gründen der politischen Repressionen Deutschland verlassen mussten. Er ließ sich in Zürich nieder und gründete die „Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler*innen im Ausland – NdWA“. Herr Malche setzte sich mit Schwartz in Verbindung und sprach mit ihm über die Situation der Akademiker*innen, die in die Türkei kommen wollten (Schwatz, 1995, S. 39). In dieser Zeit wurden durch Atatürk deutsche Wissenschaftler*innen, mehrheitlich jüdischer Abstammung, in die Türkei eingeladen, damit sie bei der Entwicklung der Hochschulbildung mithelfen. In diesem Zusammenhang übernahm Schwartz bei der Übersiedlung vieler Wissenschaftler*innen aus unterschiedlichen Ecken Deutschlands, insbesondere aus Frankfurt am Main, eine große Rolle. Im Endeffekt wurde durch die Bemühungen Schwartz‘s in Ankara im Jahre 1933 ein Protokoll unterzeichnet, womit sich für deutsche Wissenschaftler*innen der Weg in die Türkei eröffnete (Kreft, 2016: 81). Die Momente der Unterzeichnung des Protokolls beschreibt Schwartz in seinen Erinnerungen so: “In Ankara am Anfang eines langen Tisches saß der Bildungsminister Dr. Reşit Galip. Zu seiner Rechten saß der Berater der Regierung für die „Hochschulreform“ Prof. Dr. Albert Malche und der Sessel neben ihm war leer. Die anderen Sessel um den Tisch waren durch Verantwortliche des Ministeriums besetzt. Als ich um 14:00 Uhr in den Saal reinkam, waren alle bereit und warteten auf mich. Sie zeigten mir den leeren Sessel. In dieser auf Französisch geführten wichtigen Sitzung versuchte ich genau sieben Stunden lang atemlos die Fragen zu beantworten. Als ich dann um 21:00 Uhr die Sitzung verließ, gab ich meinen Kollegen in der Schweiz ein Telegramm auf,
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die sehnsüchtig auf meine Nachricht warteten: “Nicht drei, sondern dreißig. Dreißig wurden später Dreihundert” (Fişek, 2014: 99, Kreft, 2016: 90). In dieser Phase spielten bei der Übersiedlung der deutschen Akademiker*innen zwei Faktoren eine zentrale Rolle. Zum einen litten die durch die Hochschulreform 1933 neu errichteten Hochschuleinrichtungen unter Personalmangel, weshalb die Idee, offene akademische Stellen mit den deutschen Akademiker*innen zu besetzen, aufgeworfen wurde und bei der Regierung Akzeptanz erlangte. Zum anderen waren insbesondere Wissenschaftler*innen mit jüdischer Abstammung wegen des Regimewechsels in Deutschland auf der Suche nach Arbeitsmöglichkeiten an sichereren Orten. Die Gründung neuer Fakultäten an türkischen Hochschuleinrichtungen und die Einladung der deutschen Wissenschaftler*innen an diese Einrichtungen erfolgten exakt in dieser Zeit, was das Interesse der deutschen Akademiker*innen auf sich zog. Durch das Zusammentreffen dieser beiden Faktoren wurden den deutschen Wissenschaftler*innen die Tore der türkischen Fakultäten geöffnet.
Beitrag der deutschen Wissenschaftler*innen zur türkischen Hochschulbildung Zwischen den deutschen Professor*innen in der Schweiz und der Republik Türkei, vertreten durch den Genfer Botschafter Herr Cemal Hüsnü, wurde am 4. Oktober 1933 in Genf ein Vertrag unterzeichnet, der die Arbeitsbedingungen deutscher Wissenschaftler*innen in der Türkei enthielt. Daraufhin kamen die deutschen Wissenschaftler*innen zu Beginn des akademischen Jahres 1933–1934 mit ihren technischen und wissenschaftlichen Helfern nach Istanbul. Gemäß des unterzeichneten Vertrages sollten die deutschen Wissenschaftler*innen ihre Vorlesungen zuerst auf Englisch, Französisch und Deutsch halten und innerhalb von drei Jahren Türkisch lernen und ab dem vierten Jahr auf Türkisch lehren. In diesem Vertrag, der zunächst für fünf Jahre galt und eine Verlängerung auf Wunsch der Parteien vorsah, wurde von den Wissenschaftler*innen verlangt, am Ende des dritten Jahres Lehrbücher in türkischer Sprache zu veröffentlichen. Ferner hatten diese Wissenschaftler*innen sich auf ihre Forschung und Bildung zu konzentrieren und gegebenenfalls die Regierung zu beraten. Als Gegenleistung ihrer Dienste erhielten sie neben hohen Gehältern, die Übernahme ihrer Krankenversicherung und Umzugskosten auch das Recht, ihre Mitarbeiter*innen in die Türkei zu holen und sie zu beschäftigen sowie staatliche Schutzgarantien. Die mit der Hochschulreform 1933 in die Türkei übergesiedelten deutschen Wissenschaftler*innen arbeiteten intensiv in vielen Bereichen und waren eine große Stütze bei der Errichtung und Etablierung der Grundwissenschaften
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(Türk, Çınar, 2010: 46–50). Insbesondere die in dieser Zeit gegründeten Institute spielten bei der Entwicklung der klinischen Forschung, den Feldstudien und Laborforschungen eine große Rolle, indem sie für Programme Platz boten, die die Grundlagen für das Verständnis der angewandten Wissenschaften bereiteten. Zum Beispiel kann für Grundwissenschaften und angewandte Wissenschaften festgestellt werden, dass die Anzahl der aus der Türkei stammenden Forschungen nach 1933 anstieg und bis zu den 50er Jahren anhielt (Güven, 2016: 147). Ein Teil der in die Türkei übergesiedelten Wissenschaftler*innen waren an der Medizinischen-, Naturwissenschaftlichen- und Rechtswissenschaftlichen Fakultät sowie in den Literaturwissenschaften beschäftigt. Mit den in den darauffolgenden Jahren an der Universität Ankara beauftragten Wissenschaftler*innen stieg die Zahl der Wissenschaftler*innen mit ihren Familien und Helfer*innen auf über 300, womit sie eine große Migrantengruppe bildeten. Die übersiedelten Akademiker*innen bekamen im Laufe der Zeit in der Türkei Kinder, wo sie zur Schule gingen. Verstorbene Akademiker*innen wurden sogar in der Türkei beerdigt. Bei der Gründung der Universität Istanbul wirkten insgesamt 42 deutsche Wissenschaftler*innen mit, darunter 38 ordentliche Professor*innen und 4 Professor*innen. Deutsche und österreichische Wissenschaftler*innen waren später auch an der Universität Ankara beschäftigt. Zwischen 1933 und 1955 lehrten ca. 300 überwiegend deutsche Wissenschaftler*innen an den Universitäten Istanbul und Ankara. Darunter waren 70 Wissenschaftler*innen an der Medizinischen Fakultät und in den Krankenhäusern beschäftigt. In dem in Ankara neu gegründeten Numune Krankenhaus waren z.B. viele deutsche Ärzt*innen im Einsatz, obwohl es ein staatliches Krankenhaus war. Andererseits lehrten an den rechtswissenschaftlichen Fakultäten in Ankara und Istanbul die Professoren Ernst Hirsch, Paul Koschacker, Andreas Schwarz, Gerhard Kessler, Richard Honig, Karl Strupp, Alfred Isaac, Eduard Zuckmayer und Ernst Silberknopf über lange Jahre. Ernst Hirsch lehrte als Professor zunächst zwischen 1933 und 1943 an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Istanbul und anschließend an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Ankara. In der Zeit, in der er in der Türkei war, leistete er zur Ausbildung vieler Akademiker*innen einen großen Beitrag. Zur selben Zeit beriet er das Justizministerium und übernahm bei der Vorbereitung des türkischen Urheberrechtes und des Handelsrechts eine große Rolle. Seinen in der Türkei geborenen Sohn nannte er Enver Tandoğan. Nachdem er die Türkei verlassen hat, wurde er 1952 Präsident der Freien Universität Berlin und blieb bis 1967 an dieser Universität. Koschacker seinerseits lehrte an führenden rechtswissenschaftlichen Fakultäten Europas wie in Graz, Innsbruck, Leipzig, Berlin und Tübingen als Professor, bevor er in die Türkei kam. Mit dem Beschluss der Professorenkommission vom
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11.09.1947 bekam er an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Ankara einen Lehrstuhl für Römisches Recht, der bereits nach einem Monat zur ordentlichen Professur im selben Fachbereich befördert wurde. Bis er nach ungefähr zwei Jahren aufgrund seiner Krankheit die Türkei verließ, spielte er bei der Entwicklung des Lehrstuhles für Römisches Recht eine wichtige Rolle. Sein Buch mit dem Titel „Grundzüge des Römischen Privatrechts als Einführung in das moderne Privatrecht“ gilt immer noch als eine der grundlegenden Quellen in diesem Bereich (Şenocak, 2016: 172–202). Albert Eckstein, Anna Eckstein, Rudolf Nissen, Erich Frank, Werner Lipshitz und Hugo Braun sind nur einige der Wissenschaftler*innen, die im Bereich der Medizin arbeiteten und bei der Errichtung und Etablierung der Fachbereiche, in denen sie Spezialist*innen waren, mitwirkten. Beispielsweise Frank, der im Bereich der Inneren Medizin erfolgreiche Arbeiten durchführte, schrieb in den 25 Jahren, die er in der Türkei verbrachte, zwei Lehrbücher in türkischer Sprache mit den Titeln „Klinikunterricht für Nierenkrankheiten“ und „Klinikunterricht für die Innere Medizin“. Viele Akademiker wie der weltberühmte Gynäkologe Wilhelm Liepman, der Gründer der Medizinischen Fakultät Ankara Alfred Marchionini, ein Spezialist für Augenkrankheiten, Joseph Igersheimer und der Gründer der Zahnmedizinischen Fakultät, Alfred Kantorowicz arbeiteten lange Jahre in der Türkei und führten ihre Arbeit nach 1946 in unterschiedlichen Ländern weiter aus. Obwohl viele der deutschen Akademiker*innen überwiegend bei der Gründung der rechtswissenschaftlichen und medizinischen Fakultäten mitgewirkt haben, gab es auch Akademiker*innen aus anderen Bereichen, die in die Türkei kamen und wichtige Aufgaben übernahmen. Wilhelm SalomonCalvi, Leo Brauner, Fritz Arndt, Hans Rosenberg, Alfred Heilbronn, Ants Laur und Richard Edler von Misses arbeiteten an den naturwissenschaftlichen Fakultäten. Prof. Kurt Kosswig arbeitete in der Türkei und war Direktor des Instituts für Zoologie an der Universität Istanbul, bis er schließlich 1955 zur Universität Hamburg wechselte. An der Fakultät für Sprachen, Geschichte und Geographie der Universität Ankara arbeiteten Ernst Silberknopf, Georg Rohde, Benno Landsberger, Eduard Zugmayer, Helmuth Bossert, Leo Spitzer, Herbert Melzig, der berühmte Hettitologe Hans Gustav Güterbock und Annemarie von Gabain lange Jahre (Widmann, 1981: 241–242). Der Ökonom Wilhelm Pöpke, der Philosoph Hans Reichenbach (einer der Gründer der modernen Logik), Ernst Rudolf Reuter (nachdem er die Türkei verlassen hatte, wurde er 1948 Erster Bürgermeister von West-Berlin), Rudolf Belling, der viel Arbeit in die Abteilung Skulptur der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste steckte, der Archäologe Kurt Bittel, der Zoologe Curt Kosswig, der das Vogelparadies Manyas entdeckte, der Architekt Clemens
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Holzmeister, der das damalige Parlamentsgebäude, den ehemaligen Präsidentenpalast, das ehemalige Rechnungshofgebäude, das Gebäude der Fakultät für Sprachen, Geschichte und Geographie und viele andere Bauten für Ministerien und Behörden errichtete und Bruno Taut sind nur einige der deutschen Wissenschaftler*innen, die zur Entwicklung der Wissenschaft in der Türkei maßgeblich beigetragen haben. Während ihres Aufenthaltes in der Türkei arbeiteten die deutschen Wissenschaftler*innen einerseits an der Bildung und Erziehung und widmeten sich andererseits der Veröffentlichung türkischer Lehrbücher. Zwischen 1933 und 1946 stiegen die Qualität und Anzahl der veröffentlichten türkischen Lehrbücher. Während manche Wissenschaftler wie Fritz Arndt, Ernst Hirsch, Alfred Isaac, Fritz Neumark, Curt Kosswig und Andreas Schwarz in der Türkei fünf oder mehr Bücher veröffentlichten, beträgt der Anteil der Professor*innen, die gar keine Bücher veröffentlicht haben, nur 20 Prozent. In dieser Zeit wurde mehr Wert auf wissenschaftliche Forschung gelegt und die deutschen Akademiker*innen stellten insbesondere die Leistungsfähigen unter ihren Studierenden als Assistent*innen ein und bildeten sie aus. Darüber hinaus haben sich die deutschen Wissenschaftler*innen während ihrer Aufenthalte in der Türkei für die Aufklärung des Volkes eingesetzt. Sie hielten Vorträge zu unterschiedlichen Themen und beteiligten sich an gezielten wissenschaftlichen und kulturellen Aktivitäten. 75 Prozent der Akademiker*innen, die in den Jahren zwischen 1935 und 1945 durchgeführten Konferenzen der Universitäten Vorträge hielten, waren Deutsche (Kalaycıoğulları, 2016: 126). Ein Vergleich der Länder zeigt, dass die Türkei nach den Vereinigten Staaten von Amerika das meist bevorzugte Land war, wenn es darum ging, dass die deutschen Professor*innen, die aufgrund von politischen Gründen nach 1933 Deutschland verlassen mussten (Kalaycıoğulları, 2016: 103). Nach dem Ende des II. Weltkrieges verließen einige dieser Wissenschaftler*innen die Türkei. Manche von ihnen gingen nach Deutschland zurück und andere in die Vereinigten Staaten von Amerika, wo sie gute Arbeitsangebote erhielten. Aber ein Teil dieser Wissenschaftler*innen blieb weiterhin in der Türkei und erhielt sogar die türkische Staatsangehörigkeit. Deutsche Wissenschaftler*innen, viele mit Weltruhm, kamen ab 1933 in die Türkei und leisteten zur Entwicklung der türkischen Wissenschaftswelt in verschiedenen Bereichen einen großen Beitrag. Diese Personen wirkten bei der Gründung von vielen Fakultäten und Fachbereichen aktiv mit, lehrten und schrieben türkische Lehrbücher, übernahmen Aufgaben an der Universitätsverwaltung und manche berieten sogar die Ministerien. Mit ihren Student*innen, Assistent*innen und Kolleginnen, mit denen sie gemeinsame Arbeiten durchführten, wirkten sie nicht nur in ihrer Zeit sondern prägten die
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Bildung von einigen Generationen. Nachdem sie nach Deutschland zurückgingen, erhielten diese deutschen Professor*innen Ehrendoktorwürden aus ihren früheren Universitäten in der Türkei. Ihre Namen schmückten viele Bereiche der Universität; Hörsäle und Konferenzräume wurden nach ihnen benannt und ihre Namen werden am Leben gehalten.
Fazit Die ersten akademischen Kooperationen und die Zusammenarbeit zwischen den türkischen und deutschen Akademiker*innen im Osmanischen Reich wurden mit der Gründung der Türkischen Republik 1923 weitergeführt. Nach dem durch den Genfer Professor Malche verfassten Bericht, der als Grundlage für die „Hochschulreform“ von 1933 diente, wurden viele deutsche Wissenschaftler*innen mit überwiegend jüdischer Abstammung dank der Bemühungen Schwartz’s durch Atatürk in die Türkei eingeladen, um die türkische Hochschulbildung voranzutreiben. Am 4. Oktober 1933 wurde in Genf ein Vertrag über die Arbeitsbedingungen der deutschen Wissenschaftler*innen in der Türkei unterzeichnet und anschließend zu Beginn des akademischen Jahres 1933–1934 kamen die deutschen Wissenschaftler*innen mit ihren technischen und wissenschaftlichen Helfer*innen nach Istanbul. Die deutschen Akademiker*innen wirkten aktiv bei der Gründung von Fakultäten und Fachbereichen mit und gestalteten im Rahmen der deutschen Hochschultradition moderne Bildungsprogramme. Sie arbeiteten intensiv in unterschiedlichen Bereichen und unterstützen die Gründung und Verbreitung der Grundwissenschaften maßgeblich. Insbesondere die in dieser Zeit gegründeten Fakultäten und Institute spielten bei der Entwicklung der klinischen Forschung, den Feldstudien und Laborforschungen eine große Rolle, indem sie für Programme Platz boten, die die Grundlage für das Verständnis der angewandten Wissenschaften bereiteten. Mit ihren Student*innen, Assistent*innen und Kolleg*innen, mit denen sie gemeinsame Arbeiten durchführten, wirkten sie nicht nur in ihrer Zeit sondern prägten auch die Bildung von nachfolgenden Generationen. Die Kooperation und Freundschaft der deutschen und türkischen Akademiker*innen, die im Osmanischen Reich anfingen und in der Republik verstärkt wurden, bestehen dank der Beiträge des DAAD und der Akademiker*innen beider Länder stets weiter.
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Seldağ GÜNEŞ PESCHKE
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Nilgün YÜCE*
Deutsch-Türkische Hochschulkooperationen in Vergangenheit und Gegenwart Einleitung Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der Entwicklung der deutsch-türkischen Hochschulkooperationen vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Nur die bedeutendsten Meilensteine in der bilateralen Bildungskooperation finden hier Beachtung. Die in dieser Arbeit verwendeten Daten beziehen sich auf aktualisierte Recherchen, die im Rahmen der Veröffentlichung “Kulturökologische Deutschlandstudien” der Autorin (Yüce, 2003) durchgeführt wurden. In der Periode nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart wird auf eine chronologische Darstellung verzichtet und stattdessen das Augenmerk auf die jüngste Gegenwart der bilateralen Hochschulkooperationen in ihrer aktuellsten Form gelegt, wobei sich die präsentierten Daten auf die Veröffentlichungen des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) und anderer, relevanter Einrichtungen beziehen. Obwohl die deutsch-türkischen Hochschulkooperationen sehr vielfältig sind, wurden in dieser Arbeit mit Ausnahme der DAAD-TEV Masterstipendien nur jene Kooperationsprojekte berücksichtigt, deren Förderung durch den DAAD bis Ende 2018 bzw. 2019 datiert werden konnte.
Deutsch-türkische Bildungskooperation im Osmanischen Reich Obgleich die ersten Kontakte zwischen Deutschen und Türken bis ins 11. Jahrhundert und in die Zeit der Kreuzzüge zurückreichen, begann die deutsch-türkische Bildungskooperation erst intensiv nach der Gründung des Deutschen Kaiserreiches im Jahre 18711. * Dr. Nilgün Yüce, DAAD-Lektorin, Akdeniz Universität Antalya, Philosophische Fakultät, Fachbereich Germanistik, E-Mail: [email protected] 1 Vor der deutschen Reichsgründung pflegte das Osmanische Reich gute Beziehungen mit dem preußischen Königreich. So unterzeichnete man einen Bündnisvertrag im Jahre 1749 mit Preußen. Die preußische Gesandtschaft, die 1755 in Istanbul eröffnet wurde, sollte zur Unterstützung Preußens bei der Neuorganisation der osmanischen Streitkräfte beitragen. Karl Adolf von Rexin wurde der erste Abgesandte des preußischen Königs (1755–1765) in Istanbul. 1761 wurde ein Handels-, Schifffahrts- und
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Anfang des 20. Jahrhunderts wuchs die deutsche Gemeinde in der Türkei, begünstigt durch die diplomatische und militärische Zusammenarbeit. Es entstanden deutsche Schulen in Istanbul und Izmir. Weitere wichtige Ereignisse im Rahmen der bilateralen Kulturbeziehungen und Kooperationen waren im 19. Jahrhundert in Istanbul u.a. die Gründungen des deutschen Clubs „Teutonia“ (1847), des deutschen Krankenhauses “Alman Hastanesi” (1852), der ersten deutschsprachigen Zeitung „Osmanische Post“ (1890) und der Beginn der Umstrukturierung der Militärmedizinschule (1898). Ausgehend vom Lehrkrankenhaus Gülhane wurden Reformen der medizinischen Ausbildung unter der Leitung der deutschen Professoren Robert Rieder, Ernst von Düring, Georg Deycke und Julius Wieting durchgeführt. Zahlreiche osmanische Mediziner, u.a. der Gynäkologe Asaf Derviş Paşa und der Histologe und Embryologe Tevfik Recep Örensoy, konnten bis 1915 Forschungsaufenthalte und Facharztausbildungen in Deutschland genießen. Der Bonner Medizinprofessor Robert Rieder berichtet aus dieser Zeit: „Ein Erlernen der deutschen Sprache fand bis dahin nur statt seitens der nach Deutschland geschickten Ärzte… Aus diesen Erwägungen folgte mein Antrag, und nach dessen Allerhöchster [sic!] Genehmigung die obligatorische Einführung der deutschen Sprache in die Medizinschule. Bereits jetzt sind die Resultate dieses Sprachunterrichts recht bemerkenswert“ (Rieder 1903:129).
Deutsch-türkische Bildungskooperation in der frührepublikanischen Ära Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es 20 deutsche Schulen im Osmanischen Reich, während sich die Zahlen der französischen Schulen auf ca. 600, die der Freundschaftsabkommen zwischen Preußen und dem Osmanischen Reich unterzeichnet. Am 24. Juli 1763 traf Ahmet Resmi Efendi als Botschafter an der Spitze der ersten osmanischen Gesandtschaft in Berlin ein. Einige Jahrzehnte später, zwischen 1835 und 1918, wurden preußische bzw. deutsche Militärmissionen in Istanbul eröffnet, um den Ausbildungs- und Bildungsstand des osmanischen Heeres zu verbessern und topographische Karten zu erstellen. Die Reformperiode (1839–1869) „Tanzimat“ trug zur Orientierung des Osmanischen Reiches am „Westen“ bei, u.a. bei der Militär-und Rechtsreform. Zu erwähnen ist auch die Entsendung Helmuth von Moltkes als Militärberater (1835–1839) in das Osmanische Reich. Im Januar 1837 wurde ihm befohlen, zur Privataudienz bei Sultan Mahmut II. zu erscheinen. Er berichtete: “Der Großherr äußerte sich zunächst anerkennend und dankbar über die vielen Beweise von Freundschaft, welche er von unserem König empfangen, und sprach sich sehr günstig über preußisches Militär im Allgemeinen aus“ (Yüce, 2003: 55).
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englischen Schulen auf ca. 500 beliefen. Zwischen 1915 und 1918 lehrten 19 deutsche Dozenten am Dar-ül-fünun-ü Şahane, der heutigen Universität Istanbul. Nach Beendigung des Ersten Weltkrieges, mit dem Waffenstillstandsvertrages von Moudros am 30. Oktober 1918, wurden auf Forderung der Siegermächte alle deutschen Schulen auf türkischem Territorium geschlossen und alle deutschen Hochschuldozenten nach Deutschland zurückberufen. Allerdings wurde am 3. März 1924 zwischen der Weimarer Republik und der jungen Republik Türkei ein deutsch-türkischer Freundschaftsvertrag geschlossen (Yüce, 2003: 56). Auf der anderen Seite wurden zwischen 1928 und 1939 die Landwirtschaftliche Hochschule (Yüksek Ziraat Enstitüsü) sowie auch die Veterinärmedizinische Hochschule in Ankara durch circa 20 deutschen Professoren aufgebaut. 1929 wurde das Deutsche Archäologische Institut in Istanbul gegründet. 1933 begann der Aufbau des modernen Hochschulsystems durch die emigrierten deutschen Wissenschaftler*innen, die über Verträge mit der „Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland“ gewonnen werden konnten. Es waren verfolgte Wissenschaftler*innen aus Nazi-Deutschland, die einen großen Beitrag zur Entstehung des modernen Hochschulwesens in der Türkei nach deutschem Vorbild leisteten. Der Organisator der akademischen Emigration aus Nazi-Deutschland, Philipp Schwartz, berichtete folgendes über das Eintreffen der Professor*innen mit ihren Familien und Assistent*innen: “Sie kamen direkt aus Deutschland, wo sie verachtet und verfolgt ihre oft alten Patrizierhäuser verließen; oder aus bescheidenen Boardinghäusern Englands, aus überbevölkerten, billigen Pariser Pensionen, in welchen sie als bedrängte Emigranten weilten. Nun leben sie, in glücklicher Erregung, von einem gastfreundlichen Volk umgeben, frei als verehrte, ja verwöhnte Einwanderer” (Yüce, 2003, 57).
Anlässlich der Vertragsverhandlungen mit den deutschen Exilwissenschaftler*innen am 6. Juli 1933 sprach der türkische Bildungsminister Dr. Reşit Galip: “Als vor fast 500 Jahren Konstantinopel fiel, beschlossen die byzantinischen Gelehrten das Land zu verlassen. Man konnte sie nicht zurückhalten. Viele von ihnen gingen nach Italien. Die Renaissance war das Ergebnis. Heute haben wir uns vorbereitet, von Europa eine Gegengabe zu empfangen. Wir erhoffen eine Bereicherung, ja eine Erneuerung unserer Nation. Bringen Sie uns Ihr Wissen und Ihre Methoden, zeigen Sie unserer Jugend den Weg zum Fortschritt. Wir bieten Ihnen unsere Dankbarkeit und unsere Verehrung an” (Cremer und Przytulla, 1991:32).
1933 arbeiteten 30 deutsche Dozenten an der Universität Istanbul. 1942 waren 70 Wissenschaftler*innen, 230 wissenschaftliche Mitarbeiter*innen sowie ca. 1.500 weitere Personen (Krankenschwestern und technisches Personal) aus Deutschland in der Türkei tätig, u.a. Ernst Reuter, zeitweise Paul Hindemith, Philipp
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Schwartz, Fritz Neumark (der spätere Rektor der Universität Frankfurt) und Bruno Taut. Viele der Emigrant*innen siedelten nach Kriegsende in die USA um oder kehrten nach Deutschland zurück, einige blieben dauerhaft in der Türkei. Tevfik Sağlam, Rektor der Universität Istanbul, sagte in seiner Rede anlässlich des 10-jährigen Jubiläums seiner Institution 1943: „Die neue Universität nur mit Türken zu gründen war nicht möglich. Daher wandte sich die Regierung, um eine sehr berechtigte und treffende Maßnahme zu veranlassen, an das Ausland und erhielt von dort Kräfte, die zu dieser Arbeit fähig waren. Es erleichterte diese Arbeit, dass sich in der Zwischenzeit einige bedeutende Professoren gezwungen sahen, Deutschland zu verlassen“ (Cremer und Przytulla, 1991:76).
Prof. Helmut Ritter, der zwischen 1928 und 1949 in Istanbul wirkte, begründete dort eine Nebenstelle der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (DMG) – heute trägt sie den Namen “Orient-Institut Istanbul“ und ist seit 2009 selbständiges Forschungsinstitut im Verbund der Max-Weber-Stiftung. Im Jahr 1937 studierten insgesamt 234 türkische Staatsstipendiat*innen im Ausland, wovon mehr als die Hälfte, nämlich 133, ihre Ausbildung im Deutschen Reich genoss.
Deutsch-türkische Bildungskooperation nach dem Zweiten Weltkrieg Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte man einen Aufschwung in den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei. 1951 wurde die türkische Mission in Bonn wieder in eine Botschaft umgewandelt. 1958 fand die Unterzeichnung eines bilateralen Abkommens über kulturelle Zusammenarbeit, inklusive der Bildung und der wissenschaftlichen Forschung zwischen Ankara und Bonn statt. 1984 wurde das erste Kooperationsabkommen zwischen dem Türkischen Rat für Wissenschaft, Technik und Forschung (TÜBİTAK) und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geschlossen. 1997 wurde schließlich im Auftrag des BMBF ein Memorandum of Understanding zwischen der TÜBITAK und dem Projektträger Jülich (PTJ) unterzeichnet (Ditgens, 2017:8). Obwohl es die Idee zur Gründung einer türkisch-deutschen Universität bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegeben hatte, konnte dieses Vorhaben jedoch erst nach drei Anläufen, circa ein Jahrhundert später, umgesetzt werden. Im Jahr 2008 wurde ein Regierungsabkommen zur Gründung der TürkischDeutschen Universität (TDU) geschlossen. Nachdem die Regierungsvereinbarung am 14. April 2009 ratifiziert und das Gründungsgesetz am 01. April 2010 im türkischen Parlament verabschiedet wurde, fand am 22. Oktober 2010 in einem feierlichen Staatsakt die Grundsteinlegung der Universität durch die
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Staatspräsidenten Abdullah Gül und Christian Wulff statt. Nach dem Bau der ersten Gebäude und vieler Vorarbeiten konnte man schließlich 2013 mit dem Lehrbetrieb beginnen. Ein Jahr später, am 29. April 2014, wurde die Türkisch-Deutsche Universität feierlich, wiederum in Anwesenheit des türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül sowie des Bundespräsidenten Joachim Gauck, eröffnet. Dies fand im Rahmen des deutsch-türkischen Jahres der Forschung, Bildung und Innovation 2014–2015 statt. Die TDU ist eine staatliche Universität mit Studiengängen in Deutsch, Türkisch und Englisch. Mittelfristig sollen ca. 5000 Studierende an fünf Fakultäten (für Ingenieurwissenschaften, Rechtswissenschaften, Naturwissenschaften, Wirtschafts-wissenschaften und Kulturwissenschaften) in einem dreistufigen System (BA, MA und PhD) studieren, wobei ca. 30 % der Lehre durch die deutsche Seite verwirklicht wird. Im Vordergrund steht die Verbindung der wissenschaftlichen Stärken beider Länder, um Spitzenleistungen in Forschung und Lehre zu erbringen (Menden, 2017: 11).
Hochschulpartnerschaften und DAAD-Individualstipendien Aktuell existieren 1.471 deutsch-türkische Hochschulpartnerschaften (Stand: 05.04.2019) wobei es 2010 ca. 400 waren. Ungefähr 80% der Hochschulpartnerschaften sind ERASMUS-Kooperationen. Die Türkei befindet sich auf Platz sieben der beliebtesten Kooperationsländer deutscher Hochschulen, nach Frankreich, Spanien, den USA, Italien, Großbritannien und Polen (Internationale Hochschulkooperationen). Deutschland hingegen befindet sich nach den USA auf dem zweiten Platz der beliebtesten Zielländer türkischer Studierender, noch vor Bulgarien, Großbritannien und Österreich (DAAD-Ländersachstand Türkei 2018:2). Die Zahl türkischer Studierender in Deutschland betrug im akademischen Jahr 2015/16 ca. 6.800 Bildungsausländer*innen, was den siebten Rang unter allen ausländischen Studierenden bedeutet. Zählt man auch die sogenannten Bildungsinländer, d.h. die türkischen Staatsbürger*innen, die ihre Bildung in Deutschland genossen haben, dazu, beläuft sich die Gesamtzahl auf ca. 35. 000 (DAAD-Ländersachstand Türkei 2018:2). Durch den DAAD wurden im Jahre 2017 insgesamt 1.347 Personen aus der Türkei für einen Studienaufenthalt in Deutschland gefördert. Dagegen wurden 919 Personen aus Deutschland für einen Aufenthalt in der Türkei gefördert (DAAD-Ländersachstand Türkei 2018:11). Auf der Ebene der Personenförderung wurden im Jahre 2017 insgesamt 45 neue DAAD/TEV-Stipendien (Masterstipendien für ausländische Graduierte) an türkische Studierende vergeben. Vier Hochschuldozent*innen wurden für Kongressreisen gefördert. Während 19 Doktorand*innen ein Forschungsstipendium erhielten, wurde 10
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Hochschuldozenten ein Forschungsstipendium für einen Aufenthalt an einer deutschen Universität verliehen. Insgesamt konnten 40 türkische und sechs deutsche Praktikant*innen gefördert werden. Hinzu kommen 38 Absolvent*innen deutscher Auslandsschulen. 62 Studierende konnten mit einem Hochschulsommerkurs- bzw. Intensivsprachkursstipendium an Fach- und Sprachkursen in Deutschland teilnehmen. (DAAD-Ländersachstand Türkei 2018:12).
Förderung der deutsch-türkischen Hochschulkooperationen durch den DAAD Der DAAD fördert verschiedene Formate von bilateralen Kooperationsprojekten, wobei jeweils die deutsche Seite bzw. eine deutsche Hochschule antragsberechtigt ist (Programme der Projektförderung des DAAD). Im Folgenden sollen die aktuell geförderten Projekte kurz dargestellt werden.
Strategische Partnerschaften (SP) und Thematische Netzwerke (TN) Der DAAD möchte mit dem Programm „Strategische Partnerschaften und thematische Netzwerke“ internationale Kooperationen mit Universitäten im Ausland fördern, wobei der Austausch auf allen akademischen Ebenen, also von Studienanfänger*innen bis zu Rektor*innen, verwirklicht werden kann. Zwischen 2015 und 2018 wurden zwei Projekte aus dem Programm „Thematische Netzwerke“ mit türkischen Hochschulen gefördert. So findet zwischen der Universität München und der Erciyes Universität Kayseri eine Kooperation zur Erforschung für seltene Erkrankungen und personalisierte Medizin statt. Diesem Projekt wurde eine Anschlussförderung für den Zeitraum von 2019 bis 2020 ermöglicht, wobei auch der Iran, Kanada, Kolumbien, Österreich, Thailand und die USA, Deutschland sowie Israel als weitere Partner beteiligt sind. Des Weiteren arbeitet die Hochschule Trier (Birkenfeld) als Netzwerkuniversität für den Bereich „International Material Flow Management“ (IMAT) bzw. auch “Internationales Stoffstrommanagement” mit der Akdeniz Universität in Antalya zusammen (Programme der Projektförderung des DAAD).
Germanistische Institutspartnerschaften (GIP) Durch dieses Programm wird seit 1993 die Kooperation zwischen deutschen Instituten sowie ihren Partnerinstituten im Ausland gefördert, die Germanistik oder Deutsch als Fremdsprache an einer deutschen Universität anbieten,
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um zum Erhalt und zur Stärkung des Stellenwertes der deutschen Sprache und Kultur im Ausland beizutragen. In der Türkei werden drei Projekte durch den DAAD bis zum 31.12.2019 finanziell unterstützt. Zwischen dem Fachbereich Germanistik an der Philosophischen Fakultät der Ege Universität in Izmir und dem Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft der Fakultät für Kulturwissenschaften der Universität Paderborn besteht eine Germanistische Institutspartnerschaft. Außerdem kooperiert der Fachbereich Translationswissenschaft an der Ege Universität in Izmir mit dem Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg Universität Mainz ebenfalls im Rahmen einer Institutspartnerschaft. Die Universität Istanbul konnte ebenfalls eine Zusammenarbeit mit der Universität Hamburg im Rahmen einer Germanistischen Institutspartnerschaft durch den DAAD herstellen.
Bachelor Plus-Programm zur Einrichtung vierjähriger Bachelorstudiengänge mit integriertem Auslandsjahr Dieses Programm soll der Einrichtung vierjähriger Bachelor-Studiengänge dienen, in denen Studierende eine besondere interdisziplinäre bzw. berufsvorbereitende Qualifikation durch einen einjährigen Auslandsaufenthalt erzielen, ohne ihre Studienzeit verlängern zu müssen. Damit wollte man die Mobilität der Studierenden gewährleisten und den fachlichen bzw. interkulturellen Gewinn des Auslandsstudiums steigern. In diesem Rahmen wurden im Wintersemester 2017/18 Türkeiaufenthalte der Studierenden von vier deutschen Hochschulen in diversen Studiengängen gefördert. So konnten sich Studierende der Universität Weimar, die an der Fakultät Architektur und Urbanistik in den Fachbereichen Ingenieurwissenschaften und Raumplanung studierten, mit einem Bachelor Plus Programm in der Türkei aufhalten. Profitiert haben auch Studierende der Hochschule Darmstadt innerhalb der Studiengänge Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und im Rahmen des Teilstudiengangs Migration und Globalisierung, wobei sie im Grundstudium des Schwerpunktes Soziale Arbeit einen Türkeiaufenthalt durch die Bachelor Plus Programmförderung verwirklichen konnten. Das Gleiche gilt für Studierende der Fachhochschule Frankfurt. Studierende der Fachbereiche Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften konnten im Rahmen des Bachelorprogrammes Soziale Arbeit sowie im Schwerpunkt transnationale Sozialarbeit und Gesundheit in den Genuss eines Türkeiaufenthaltes kommen. Auch die Studierenden der Universität Marburg konnten sich über eine Förderung des DAAD freuen. Mit der Zielsetzung, einen Bachelor of Arts in Internationaler Orientwissenschaft am Centrum für Nah- und
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Mittelost-Studien zu absolvieren, hatten Studierende in den Fächern Sprachund Kulturwissenschaften, Orientalistik und Islamwissenschaft die Möglichkeit, die Türkei durch dieses Stipendium näher kennenzulernen.
Integrierte internationale Studiengänge mit Doppelabschluss Studiengänge an Universitäten und Fachhochschulen, die nach einem z.T. an der deutschen und z.T. an der ausländischen Hochschule absolvierten Studium einen „Joint Degree“ (gemeinsamer Abschluss beider Hochschulen) oder einen „Double Degree“ (Abschlüsse beider Hochschulen, also zwei Abschlüsse) ermöglichen, können durch dieses Programm gefördert werden. Es ist als Stärkung der Internationalisierung und zur Unterstützung des Austausches von Lehrenden und Studierenden gedacht. So wurde beispielsweise bis Ende 2018 zwischen den Universitäten Istanbul und Hamburg, jeweils an der Fakultät für Rechtswissenschaft, ein „Deutsch-Türkischer Bachelor-Studiengang für Allgemeine Rechtswissenschaft“ angeboten. Des Weiteren führt die Bilgi Universität in Istanbul mit der Universität Frankfurt/Oder an der jeweiligen Kulturwissenschaftlichen Fakultät unter dem Titel “Europastudien Bilgi/Viadrina” ein Double Degree-Masterprogramm in European Studies durch, wobei das Projekt finanziell bis einschließlich Ende 2019 gefördert wird. Darüber hinaus verwirklicht die Bilgi Universität in Istanbul mit der Universität zu Köln am Institut für internationales und ausländisches Privatrecht einen Masterstudiengang „Deutsches und Türkisches Wirtschaftsrecht“ und erhält ebenfalls Förderung bis Ende 2019. Die Kemerburgaz Universität in Istanbul kooperiert mit der Universität zu Köln am Institut für internationales und ausländisches Privatrecht und bietet einen „Deutsch-Türkischen Bachelor-Studiengang Rechtswissenschaften“ an. Dieses Projekt wird ebenfalls bis Ende 2019 gefördert (DAAD-Ländersachstand Türkei 2018:18).
Transnationale Bildung (TNB) – Studienangebote deutscher Hochschulen im Ausland (Sach-, Mobilitätskosten, Koordinierungsstellen) Das Programm „Transnationale Bildung – Studienangebote deutscher Hochschulen im Ausland“ wird seit 2001 mit Mitteln des BMBF angeboten und hat die Zielsetzung, Studienangebote im Ausland aufzubauen, die Internationalisierung der deutschen Hochschulen zu fördern, die Gewinnung hochqualifizierter Wissenschaftler*innen und Studierender zu unterstützen und die Positionierung auf dem weltweiten Bildungsmarkt zu stärken. Aktuell kooperiert die
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Humboldt-Universität Berlin mit der Middle East Technical University (METU) in Ankara im “German-Turkish Master of Social Sience” („GetMA“), wobei die Förderung bis Ende 2019 verlängert wurde.
Zusammenfassung Die Wissenschaftskooperation zwischen Deutschland und dem Osmanischen Reich begann bereits im 19. Jahrhundert, wobei zunächst die Unterstützung der militärischen Ausbildung der osmanischen Streitkräfte im Vordergrund stand. Viele osmanische Ärzte verwirklichten ihre Facharztausbildung in Deutschland und zahlreiche deutsche Medizinprofessoren wirkten am Lehrkrankenhaus Gülhane in Istanbul. Zwischen 1914 und 1939 war Deutsch die bedeutendste Wissenschaftssprache in der Türkei. Deutsche Wissenschaftler*innen bauten ein modernes Hochschulwesen nach deutschem Vorbild auf. Trotz wechselvoller Geschichte und zwei Weltkriegen war Deutschland für die Türkei immer ein bevorzugter Kooperationspartner im Bereich der Bildung und Wissenschaft. Die Gründung der staatlichen Türkisch-Deutschen Universität durch ein Regierungsabkommen bildet in dieser Hinsicht einen Höhepunkt der bilateralen Hochschulbeziehungen. In der Gegenwart zeigen rund 1.500 deutsch-türkische Hochschulkooperationen (Hochschulkompass), wie lebendig die Beziehungen beider Länder im Bereich Bildung sind. 2017 wurden knapp 3.000 Akademiker*innen aus der Türkei für einen Sprachkurs-, Praktikums- oder Forschungsaufenthalt in Deutschland gefördert und nahezu 1.000 Akademiker*innen aus Deutschland konnten sich zu Bildungs- und Forschungszwecken in der Türkei aufhalten. In keinem Land der Welt außerhalb Deutschlands gibt es so viele Sprecher*innen der deutschen Sprache wie in der Türkei. Dieser Umstand und auch die durch die Arbeitsmigration seit 1961 gewachsenen, vielfältigen Verflechtungen der beidseitigen Kooperation beeinflussen die deutsch-türkischen Beziehungen in vieler Hinsicht sehr positiv.
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Erol ESEN*
Mehrsprachige Bildung und Erziehung: Ein neues Kooperationsfeld der deutsch-türkischen Freundschaft Einleitung Die langjährige Geschichte der deutsch-türkischen Migration stellt die bilaterale Freundschaft zwischen Deutschland und der Türkei vor neue Herausforderungen. Denn in der Schule und auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland liegen die türkischstämmigen Kinder und Jugendlichen weit hinter den anderen Gleichaltrigen zurück, unabhängig von ihrer nationalen Herkunft. Eine hohe Anzahl von Schulabbrüchen, Arbeitslosigkeit und soziale Probleme sind meist die Folge dieser schwierigen Lage der Kinder mit türkischem Hintergrund in Deutschland. Expert*innen weisen in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung der bi- bzw. mehrsprachigen Erziehung und Bildung von Migrantenkindern hin. Sie erwarten dadurch nicht nur größere Erfolgsquoten in Schule und Beruf der jungen Migrantengenerationen, sondern halten es auch für einen wichtigen Beitrag zur Integration und zum interkulturellen Zusammenleben im Lande. Nicht zuletzt angesichts der steigenden rechtsextremen Orientierungen in den letzten Jahren gewinnt dieses in Deutschland immer mehr an Bedeutung. Nach einer kurzen Einführung in die gegenwärtige Situation der türkischstämmigen Kinder und Jugendlichen in Schule und Beruf wird es in diesem Beitrag um bilinguale Erziehung und Bildung im Vorschulalter gehen. Allerdings werden hier weniger Methoden und Techniken der bilingualen Sprachvermittlung bzw. der Verbesserung von deutschen Sprachkenntnissen und damit der Startchancen in Schule und Beruf behandelt. Vielmehr werden die Vorzüge der bilingualen Erziehung im Vorschulalter dargestellt, die es neben der Vermittlung der Herkunftssprache ermöglicht, dass die jungen Teilnehmer*innen wesentliche Elemente ihrer Herkunftskultur kennenlernen und schon im frühen Alter eine gleichwertige Behandlung mit ihrem Migrationshintergrund erfahren. Diese anspruchsvolle Aufgabe der Kindertageseinrichtungen neuerer Generation mit dem Prädikat * Prof. Dr., Akdeniz Universität Fakultät für Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften, Fachbereich für Politik- und Verwaltungswissenschaften, Email: esen@akdeniz. edu.tr
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„bilingual“ erfordert ebenfalls professionelle Ausbildungsprogramme für das Erziehungspersonal. Anhand der Ergebnisse eines Modellprojektes1 der Akdeniz Universität zeigt der Beitrag die vorhandenen Kooperationsstrukturen für die deutschen und türkischen Hochschulen auf, die die Entwicklung und Durchführung eines gemeinsamen Studienganges zur Ausbildung von Erzieher*innen für bilinguale deutsch-türkische Kindertagesstätten möglich machen. Eben darin liegt die hier erwähnte Herausforderung an die deutsch-türkische Freundschaft, die auf eine 300 Jahre alte Geschichte zurückblicken kann und die dafür notwendigen Kenntnisse und Erfahrungen in sich birgt.
Situation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Deutschland Während etwa ein Fünftel der Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund aufweisen, beträgt dieser Anteil im Jahr 2017 für Kinder und Jugendliche unter 20 Jahren 35 Prozent; einen ähnlichen Wert zeigt auch deren Anteil an allgemeinbildenden Schulen in Deutschland (35,5%)2. Nach etwa 60 Jahren der Migrationsgeschichte besuchen Migrantenkinder jedoch selten eine Kindertageseinrichtung, wechseln selten von der Grundschule zum Gymnasium und erzielen auch in der Regel geringere Schul- und Berufsabschlüsse. Sie schaffen es viel seltener als Gleichaltrige ohne Migrationshintergrund an deutsche Hochschulen; außerdem tut sich der deutsche Arbeitsmarkt schwer, diese nach der Schule lange oder dauerhaft zu beschäftigen. Unter den Zuwanderer*innen sind mehr armutsgefährdete Familien zu verzeichnen als bei Menschen ohne Migrationshintergrund (MH). Expert*innen führen diese prekäre Situation der meisten Menschen mit MH in Deutschland auf eine doppelte Benachteiligung zurück, die neben dem Migrationshintergrund durch die soziale Herkunft verursacht würde (SVR, 2016: 5).
1 In der Zeit von 2015 bis 2017 führte das Zentrum für Europäische Studien der Akdeniz Universität in Kooperation mit der Alice Salomon Hochschule Berlin und der Pädagogischen Hochschule Heidelberg ein Modellprojekt “Ein Kind, Zwei Sprachen und Doppelabschluss” durch. Die Ergebnisse wurden in zwei Publikationen, jeweils in Deutsch und Türkisch, herausgebracht: Esen, Erol (Hrsg.) (2016), Ein Kind – Zwei Sprachen, Ankara sowie Esen, Erol und Engin, Havva (Hrsg.) (2017), Ein Kind – Zwei Sprachen – Doppelabschluss, Ankara. 2 Vgl. Mediendienst Integration: https://mediendienst-integration.de/artikel/bundeslaender-bauen-ihre-angebot
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Die besondere Benachteiligung der Migrantenkinder beginnt bereits in den frühen Jahren. Etwa ein Drittel der Kinder mit MH (31%) weisen bereits vor dem Schulbeginn erhebliche Sprachdefizite in Deutschland auf. Die Sprachbedürftigkeit der Migrantenkinder erhöht sich sogar bis auf 39 Prozent, wenn Eltern zu Hause häufig eine andere Sprache sprechen als Deutsch. Dabei könnten Kita bzw. Schule die vorhandenen Bildungsbenachteiligungen ausgleichen, wenn dort der Spracherwerb bzw. die Schulleistungen gefördert würden (Slupina und Klingholz, 2013, 9–11; SVR, 2016: 8). Andernfalls kann es sogar zu einer Verstärkung der Sprach- und Leistungsdefizite kommen. In den entscheidenden Jahren im Elementarbereich bleiben Migrantenkinder den Krippen jedoch weitgehend fern. Laut Bildungsbericht 2018 betrug der Anteil der Kinder mit MH in der Altersgruppe 1–3 in den Kitas lediglich 20 Prozent, während dieser für Kinder ohne MH mit 40 Prozent doppelt so hoch war. Dieser Anteil gleicht sich erst in der Altersgruppe von 3–6 Jahren mit 84 Prozent versus 98 Prozent einigermaßen aus (s. Mediendienst Integration). Begonnen mit einer kürzeren Bildungsdauer in der Vorschulphase3 setzen sich diese Benachteiligungen für Kinder und Jugendliche mit MH im späteren Schul- und Berufsleben fort. Denn eine Bildungsbenachteiligung im Kindesalter hat langfristige und vielfältige Folgen, die sogar über Generationen fortwirken. Laut der Studie der SVR (2016: 21) folgen Eltern mit MH eher den Empfehlungen von Lehrer*innen und schicken ihre Kinder nach der Primarstufe selten auf ein Gymnasium; sie entscheiden sich viel häufiger für eine niedriger qualifizierende Schulform. So liegen die meisten Schulabschlüsse von Jugendlichen mit MH bei mittleren Abschlüssen; im Jahr 2015 etwa erreichten lediglich 17 Prozent von ihnen FH-Reife bzw. Abitur (s. Mediendienst Integration). Bei beruflichen Abschlüssen stehen die Migrant*innen schlechter da: In der Altersgruppe von 25–65 haben 35 Prozent der Menschen mit MH keinen beruflichen Abschluss. Für Personen ohne MH beträgt dieser Anteil lediglich 15 Prozent, für Personen mit türkischem MH hingegen sogar 60 Prozent (bpb, 2013: 201). Jugendliche mit türkischem MH verlassen die Berufsschulen zu 56 Prozent ohne einen Abschluss. Ähnlich wie bei Schulabschlüssen sind Menschen mit MH auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt: 2017 lag die Erwerbslosenquote in Deutschland insgesamt bei 4 Prozent. Dabei betrug der Anteil der Menschen mit
3 Auf weitere Einzelheiten der Nutzung von Bildungsangeboten für Kinder im Vorschulalter durch Familien mit MH wird auch am Beispiel der Eltern mit türkischem MH unten ausführlich eingegangen.
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MH 6,5 Prozent, während diese für die ohne MH lediglich 3 Prozent betrug (s. Mediendienst Integration).
Stand der Nutzung von vorschulischen Bildungsangeboten in Deutschland Nicht nur das sprachliche Umfeld hat Einfluss auf die Sprachkompetenzen der Kinder in Schule und Beruf. Auch der wiederholt „ausgesprochene Imperativ“ mancher Pädagog*innen bzw. Politiker*innen, in Kindertageseinrichtungen, auf dem Schulhof oder auch zu Hause keine andere Sprache zu sprechen als Deutsch, hat kaum geholfen, die Schulerfolge der Kinder und Jugendlichen mit MH anzuheben4. Dafür müssen andere Lösungen diskutiert werden. Denn inzwischen steht fest: Nicht allein mit der zu Hause gesprochenen Sprache korreliert die Sprachbedürftigkeit der Kinder im Schulalter. Auch die Dauer der Teilnahme an vorschulischen Bildungsmaßnahmen hat unmittelbaren Einfluss auf den Sprachbedarf vor dem Schulbeginn. Die Besuchsdauer einer Kindertagesstätte steht in einem asymmetrischen Verhältnis zum Grad der Sprachbedürftigkeit der Kinder. Bei den Migrantenkindern, die vorher keine Tageseinrichtung besuchten, betrug das Sprachdefizit 2012 in Berlin bis zu 61 Prozent (Esen und Taheri, 2016: 84). Bei einer Dauer von vier Jahren Kindergartenbesuch geht dieser bei Kindern mit MH bis auf 30 Prozent zurück; für Kinder ohne MH reduziert sich dieser Prozentsatz auf sieben Prozent. Bei der Nutzung von frühkindlichen Betreuungsangeboten sind auch erhebliche Differenzen zwischen Eltern mit und ohne Migrationshintergrund zu beobachten. Nicht nur ihre Herkunft, auch die meist zu Hause gesprochene Sprache ist für das Kita-Verhalten der Eltern entscheidend. Schober und Spiess (2012: 21) unterscheiden dabei zwischen den Familien mit einem oder mit beiden Elternteilen mit Migrationshintergrund bzw. solchen, die zu Hause meist Deutsch oder eine andere Sprache sprechen. Familien mit einem Elternteil mit MH nehmen zu 18 Prozent Tagesbetreuungsangebote für ihre U3-Kinder in Anspruch, während nur 14 Prozent der Familien mit beiden Elternteilen mit MH solche Angebote wahrnehmen. Wenn bei den Migrantenfamilien eine andere Sprache gesprochen wird als Deutsch, geht dieser Prozentsatz für die U3-Kinder sogar bis auf 10 Prozent zurück. Auch bei Kindern in der Altersgruppe von 3–6 Jahren zeigen 4
Vgl. hierzu: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/csu-will-dass-migrantenzuhause-deutsch-sprechen-a-1006932.html und https://www.bento.de/gefuehle/ mehrsprachigkeit-warum-ich-froh-bin-zu-hause-nicht-deutsch-gesprochen-zuhaben-a-68f5e0aa-1b38-48da-baeb-1e81a7d0b03e.
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Eltern mit den oben genannten Merkmalen ähnliches Verhalten, wenn es um die Nutzung von Betreuungsangeboten geht. Selbst die Dauer der Nutzung von Kinderbetreuungsangeboten wird bezüglich des Erwerbs von Sprachkompetenzen unwirksam, wenn Kinder mit MH diese nicht in einem richtigen Sprachumfeld genießen. Das fehlende Bildungsbewusstsein der Familien oder innerfamiliäre Umstände führen meist zu Fehlentscheidungen bei der Wahl der Kindertagesstätte. So stellen Slupina und Klingholz (2013: 11) fest, dass gerade Kinder mit MH und meist mit hohem Sprachdefizit eine möglichst sprachlich gleichmäßig gemischte Kita besuchen müssten. So besuchen jedoch etwa 30 Prozent der Kinder, die zu Hause kein oder wenig Deutsch sprechen, solche Tageseinrichtungen, die ebenfalls von Kindern mit hohem Sprachdefizit genutzt werden. Die Autoren zeigen auf, dass 57 Prozent der Kinder aus nichtdeutschsprachigen Familien im Jahr 2010 in Berlin ebenfalls Kitas mehrheitlich mit Kindern mit MH besuchten. Folge dieser Nichtberücksichtigung des Sprachumfeldes ist meist das fehlende „deutsche Sprachbad“, das wiederum für den Erwerb von hohen Sprachkompetenzen für Kinder mit MH in der Vorschulphase dringend nötig ist.
Das Kita-Verhalten von Eltern mit türkischem Migrationshintergrund Bei den bereits erwähnten Punkten, u.a. der Nutzungsdauer von vorschulischen Kinderbetreuungseinrichtungen und der Bevorzugung von Kindertagesstätten mit einem fehlenden „deutschen Sprachbad“ weisen auch Eltern mit türkischem MH ein ähnliches Verhalten auf, wenn es um Nutzung von Bildungsangeboten für ihre Kinder geht. Unterschiedliche Gründe sind hier ausschlaggebend: Bei der Wahl der Kindertageseinrichtung wird oft die nächstliegende Kita bevorzugt (Slupina und Klingholz, 2013), ungeachtet dessen, dass diese ebenfalls von türkischstämmigen Community-Kindern bzw. Kindern mit Migrationshintergrund mehr frequentiert wird. Die besonderen Bindungen zur eigenen Community bzw. das besondere Verhältnis zum unmittelbar kommunizierten sozialen Umfeld bzw. die örtliche Nähe der Tageseinrichtung zur Wohnung bringen einige Vorteile für die Familie mit sich und erleichtern so einen Kita-Besuch ihrer Kinder. Nach den Ergebnissen einer Befragung, die der Autor im Rahmen eines Modellprojektes im Jahre 2015 unter den Berliner Eltern mit türkischem MH durchführte, halten 89 Prozent der Befragten es für notwendig (Esen und Taheri, 2016: 90), Kinder in Tageseinrichtungen zu schicken. Zudem geben die befragten türkischstämmigen Eltern zu 84 Prozent an, dass sie ihre Kinder in eine
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Kindertagesstätte schicken bzw. geschickt haben, sofern sie Kinder im Alter von 0–6 Jahren hatten. Die genannte Befragung, die mit 110 Müttern und Vätern türkischer Herkunft ausschließlich in Berlin durchgeführt wurde und daher ihre Ergebnisse nicht auf andere Bundesländer übertragen werden kann, deutet allerdings auf Grundhaltungen und allgemeine Tendenzen der Eltern mit türkischem MH hin, wenn es um eine Inanspruchnahme von vorschulischen Bildungsangeboten geht. Anhand der Befragungsergebnisse wird deutlich, welche Rolle eine bilinguale Kindertageseinrichtung hinsichtlich ihrer Bereitschaft spielen würde. So geben 82 Prozent der befragten Berliner Eltern mit türkischer Herkunft an, dass sie ihre Kinder mit zwei Jahren oder jünger in eine Kita schicken würden. Ihre Bedingung dabei ist, dass dort beide Sprachen, Türkisch und Deutsch, gleichberechtigt gesprochen werden. Weitere 17 Prozent der Befragten würden ihre Kinder mit drei Jahren in eine deutsch-türkische Kita schicken. Zuvor antworteten die türkischstämmigen Eltern auf die Frage, wann sie frühestens ihre Kinder in eine Kita schicken würden, zu 73 Prozent mit zwei Jahren oder jünger. So kann festgestellt werden, dass mehr Eltern mit türkischem MH (etwa 10%) bereit sind, ihre Kinder in eine Kita zu schicken, wenn diese das Prädikat „bilingual“ tragen würde. Ebenfalls zeigen sich die Berliner Eltern mit türkischem MH zu 99 Prozent bereit (ebd.) ihre Kinder mit drei Jahren oder jünger in eine deutsch-türkische Kita zu schicken. So bewirken die Kindertageseinrichtungen mit gleichzeitig deutsch-türkischem Sprachangebot eine erhebliche Erhöhung der Bereitschaft von türkischstämmigen Eltern in Berlin, für ihre Kinder Bildungsangebote in der Vorschulphase länger in Anspruch zu nehmen. Es ist somit eindeutig, dass die bilinguale frühkindliche Bildung zu einem wichtigen Indikator bei der Entscheidung der türkischstämmigen Eltern dadurch wird, dass diese fast alle (99%) bilinguale vorschulische Bildungsangebote ab 2 Jahren oder jünger in Anspruch nehmen und damit diese viel länger nutzen würden, als wenn sie ihre Kinder in eine herkömmliche deutschsprachige Kindertagesstätte schicken müssten. Wer allerdings die bilingualen Kitas unter den Berliner Eltern mit türkischem MH mehr begehrt, wird anhand weiterer Ergebnisse deutlich. So sprechen sich mehr Mütter (83%) als Väter (80%) unter den Befragten für eine deutsch-türkische Kita aus (Esen und Taheri, 2016: 95). Auch der Bildungsstand wird bei der Entscheidung der Berliner Befragten darüber wirksam, in was für eine Kita sie ihre Kinder schicken würden. Die meisten unter den türkischstämmigen Eltern in Berlin, die einer bilingualen Kita für ihre Kinder mit zwei Jahren oder jünger zustimmen, sind Hochschulabsolvent*innen (95 Prozent). Ihnen folgen Abiturient*innen mit 88 bzw. Realschulabsolvent*innen mit 76 Prozent. Die Haupt- bzw. Grundschulabsolvent*innen finden sich
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überwiegend bereit, ihre Kinder erst in höherem Alter, von drei oder älter (70% bis 80%), in eine Kita zu schicken (Esen und Taheri, 2016: 96). Bei der zu Hause meist gesprochenen Sprache weisen die türkischstämmigen Eltern in Berlin zwar ein ähnliches Verhalten wie bei anderen Familien mit MH auf, dennoch macht sich der Einfluss der Sprachwahl in der Kita bemerkbar, wenn es um die Nutzung der Vorschulangebote geht. Eltern mit türkischer Herkunft, bei denen zu Hause am meisten Deutsch gesprochen wird, sind am ehesten bereit (92%), ihre Kinder mit zwei Jahren oder jünger in eine Kita zu schicken, wenn diese Deutsch und Türkisch gleichwertig als Arbeitssprache verwendet. Ihnen folgen die Eltern mit deutsch-türkischer Bilingualität zu Hause mit etwa gleich großem Anteil (91%). Anders entscheiden sich allerdings Eltern mit türkischem MH in Berlin, wenn diese zu Hause überwiegend Türkisch sprechen. So geben diese mehrheitlich an, dass sie ihre Kinder erst mit drei Jahren oder älter (63%) in eine deutsch-türkische Kindertageseinrichtung schicken würden; der Anteil jener zu Hause türkischsprachigen Befragten, die ihre Kinder mit zwei Jahren in eine bilinguale Kita schicken wollen, beträgt lediglich 37 Prozent (ebd.). Die Haltung türkischstämmiger Eltern gegenüber den bilingualen Vorschulangeboten wird deutlicher, wenn man sie auf ihre grundsätzliche Meinung in dieser Frage anspricht. So finden die deutsch-türkischen Kindertagesstätten bei den Berliner Eltern mit türkischem MH die höchste Zustimmung (73%), wenn bei ihnen zu Hause täglich Deutsch und Türkisch gleichermaßen gesprochen werden. Ihnen folgen die zu Hause meist deutschsprachigen Eltern mit 67 Prozent, die grundsätzlich für bilinguale Vorschulangebote plädieren. Bilinguale Kindertageseinrichtungen finden wiederum einen viel geringeren Zuspruch (40%) bei den Berliner Eltern, wenn diese zu Hause täglich Türkisch sprechen (Esen und Taheri, 2016: 98). Die hier befragten Eltern mit türkischer Herkunft in Berlin zeigen sich den bilingualen Kindertageseinrichtungen gegenüber grundsätzlich offen, in denen Deutsch und Türkisch gleichberechtigt gesprochen werden. Das wird vor allem bei den Familien deutlicher, bei denen zu Hause überwiegend Deutsch bzw. Deutsch und Türkisch zugleich gesprochen werden. Selbst die Berliner Eltern mit Türkisch als meist zu Hause verwendeter Sprache neigen mehrheitlich dazu, ihre Kinder in eine bilinguale Kita zu schicken, wenn es darum geht, ihre Kinder früh (unter drei Jahren) an den Bildungsangeboten im Vorschulalter zu beteiligen5.
5 Für eine ausführliche Darstellung der Einstellungen der türkischstämmigen Eltern in Berlin bezüglich der Nutzung von frühen Bildungsangeboten siehe Esen und Taheri, 2016: 87–99.
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Argumente für bilinguale frühkindliche Bildung Auch wenn die bilingualen deutsch-türkischen Kitas einen zusätzlichen Motivationsfaktor für Eltern mit türkischem Migrationshintergrund darstellen, sich für längere Bildungsangebote für ihre Kinder im Vorschulalter zu entscheiden, bietet der gegenwärtige Bildungsmarkt wenig Grund zur Freude. Denn ähnlich wie das „deutsche Sprachbad“ für die meisten Kinder mit MH im Vorschulalter sind auch bilinguale deutsch-türkische Kitas in Deutschland eine Mangelware. So stellte der Verein für frühe Mehrsprachigkeit an Kindertagesstätten und Schulen e.V. – (FMKS) im Jahre 2014 insgesamt 1035 bilinguale Kitas mit 21 verschiedenen Sprachen in Deutschland fest (FMKS, 2014: 1). Die meisten davon beanspruchen allerdings die Prestigesprachen wie Englisch oder Französisch. Bundesweit zählte der FMKS e.V. lediglich 42 bilinguale Kitas (etwa 4%), in denen mit dem Sprachpaar Deutsch-Türkisch gearbeitet wird. Für Berlin mit der höchsten Sprachvielfalt unter den Bundesländern beträgt die Zahl der bilingualen Kindertagesstätten insgesamt 173. Die Föderation Türkischer Elternvereine in Deutschland (FÖTED) konnte 2016 insgesamt 17 Kindertagesstätten feststellen, die deutsch-türkische Bildung anbieten, so der Geschäftsführer des FÖTED, Mehmet Alpbek6 (2016, 341). Dabei legen die besonders mangelhaften Schulleistungen der Kinder und Jugendlichen aus türkischstämmigen Familien den hohen Förderbedarf für sie in der Vorschulphase offen. Sie stehen nicht nur ihren Gleichaltrigen in Deutschland gegenüber, sondern auch verglichen mit den türkischstämmigen Kindern und Jugendlichen in anderen Ländern schlechter da7 und das nicht nur in Europa sondern auch in den USA bzw. Kanada. Die geringe Neigung der Eltern mit türkischem MH, rein deutschsprachige Bildungsangebote im Vorschulalter für ihre Kinder zu nutzen oder auch das oben erwähnte „deutsche Sprachbad“, das meist den türkischstämmigen Kindern in den vorhandenen Kitas fehlt, macht in Deutschland mehr Kindertageseinrichtungen mit dem Prädikat „bilingual“ nötig. Argumente für den Erwerb einer Zweitsprache in der Vorschulphase liefern zudem internationale Studien zu Genüge: Bei Sprache als eine Schlüsselkompetenz wirkt deren früher Erwerb auf den weiteren Verlauf des Bildungsweges des Kindes positiv. Die Forderung nach einem Erwerb der Mutter- bzw. Herkunftssprache als Zweitsprache in der frühen Bildung hat in vielerlei Hinsicht seine
6 Für eine ausführliche Darstellung der deutsch-türkischen Kindertagesstätten in Berlin siehe Alpbek, M. (2016: 335–348. 7 Vgl. Hierzu u.a. Tures, 2015; Politeknik, 2014; El-Mafaalini und Kemper, 2014.
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Berechtigung. Auf diese Weise erwirbt das Kind elementare kommunikative Fähigkeiten und Kompetenzen, die für die Verständigung mit den Familiengenerationen nötig sind. Die gleichwertige Behandlung der Herkunftssprache in der frühen bilingualen Bildungsphase hat außerdem einen persönlichkeits- und identitätsbildenden Effekt für das Kind, was für das spätere Schul- und Berufsleben von enormer Bedeutung ist. Durch die frühe Bilingualität erwirbt das Kind nicht nur eine generelle Offenheit anderen Kulturen und Sprachen gegenüber, sondern wird auch für den Erwerb von weiteren Sprachen besonders befähigt. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse belegen außerdem, wie groß die bildungsbiographische Bedeutung und gesellschaftliche Relevanz von Migrantensprachen ist (Engin, 2017; Rehbein, 2017: 72; Ertanır, 2016).
Deutsch-türkischer Studiengang für bilinguale Bildung und Erziehung Nicht zuletzt angesichts der zunehmenden Professionalisierung und der damit verbundenen Akademisierung8 der Ausbildung von Erzieher*innen werden im Folgenden die Merkmale und Rahmenbedingungen eines deutsch-türkischen Studiengangs mit Doppelabschluss besprochen. Es geht hier also um einen Bachelor-Studiengang zur Ausbildung von Erzieher*innen, die in bilingualen deutsch-türkischen Kindertageseinrichtungen eingesetzt werden sollen. Dieser gemeinsame Studiengang muss drei Grundvoraussetzungen erfüllen: Zwei Partnerhochschulen, zweisprachige Bildung und Doppel- oder einen gemeinsamen Abschluss. Zwei Partnerhochschulen: Die Einrichtung eines deutsch-türkischen Studiengangs mit Doppelabschluss bzw. einem gemeinsamen Abschluss erfordert die Zusammenarbeit von mindestens zwei Hochschulen (Esen at al., 2017: 316– 317). Die Studiengänge für Erzieher*innen-Ausbildung in der Türkei sind ausschließlich an den erziehungswissenschaftlichen Fakultäten untergebracht9. Unabhängig davon, ob es dort bereits einen Studiengang zur Ausbildung von Erzieher*innen gibt, kann ein solcher gemeinsamer Studiengang an einer erziehungswissenschaftlichen Fakultät einer türkischen Universität eingerichtet 8 Angestoßen durch die PISA-Studien führte dieser Trend seit Anfang der 2000er Jahre in Deutschland dazu, dass an vielen Hochschulen über 100 Studiengänge im Bereich der frühkindlichen Bildung und Kindheitspädagogik eröffnet wurde (Vgl. Hierzu: Esen und Taheri, 2016: 100–101). 9 Erzieher*innen-Tätigkeit ist in der Türkei ein akademischer Beruf und erfordert grundsätzlich einen vierjährigen Bachelorabschluss an einer Universität.
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werden. Unter den drei Hochschulformen in Deutschland, den Universitäten, Hochschulen und Fachhochschulen, kommen dagegen die beiden letzten als Hochschulpartner für den einzurichtenden Studiengang zur Erzieher*innenAusbildung in Frage. An den deutschen Fach- bzw. Hochschulen stehen derzeit über 100 Studiengänge mit dem Schwerpunkt der Kindheitspädagogik für eine Partnerschaft zur Auswahl. Bilinguale und bikulturelle Kompetenzen: Die Einrichtung eines Studiengangs zur Ausbildung von Erzieher*innen für bilinguale Kindertageseinrichtungen erfordert eine Zweisprachigkeit, in der der Studiengang durchgeführt wird. Schließlich geht es um eine Vorschuleinrichtung, in der Deutsch und Türkisch als Arbeitssprachen gleichwertig eingesetzt werden. Das setzt eine hohe Sprachkompetenz beim Erziehungspersonal voraus. Nicht nur exzellente Kenntnisse in beiden Sprachen sondern auch in beiden Kulturen sowie Kenntnisse über Land und Leute des jeweiligen Partnerlandes sind erforderlich (Esen et al., 318). Entsprechend dem Prinzip der zweisprachigen Erziehung „eine Person-eine Sprache“ wird vom Erziehungspersonal erwartet, dass es beide Sprachen gut beherrscht, um den Erziehungsaktivitäten jeweils in der anderen Sprache folgen zu können. Daher sind Kenntnisse und Erfahrungen sehr empfehlenswert, die im Rahmen des Teilstudiums bzw. der Praktika in dem jeweiligen Partnerland erworben werden können. Doppelabschluss: Ein Studiengang von zwei Partnerhochschulen, der zudem zweisprachig durchgeführt wird, sollte mit einem Doppelabschluss enden, um die Programmziele auf höchstem Niveau erreichen zu können. So erhalten die Absolvent*innen zwei Abschlüsse; je einen von beiden Partnerhochschulen (double). Sie können aber auch einen gemeinsamen und voneinander abhängigen Abschluss (dual) erhalten, je nachdem, was beide Partnerhochschulen vereinbart haben. In dem zweiten Fall (dual) muss das Zeugnis allerdings einen Hinweis enthalten, dass das Zeugnis nur in Verbindung mit dem Zeugnis der Partneruniversität gültig ist. Nur so kann das durch eine der Partnerhochschulen ausgestellte Abschlusszeugnis als Doppelabschluss anerkannt werden (Esen et al., 2017: 327–328). Deutsch-türkische Studiengänge mit Doppelabschluss beinhalten auch eine mindestens einjährige Studienzeit in dem jeweiligen Partnerland, deren Zeitpunkt und Inhalt beide Partnerhochschulen gemeinsam vereinbaren können. Dieses Teilstudium, das an der Partnerhochschule verbracht werden muss, ermöglicht es den Teilnehmer*innen, die erforderlichen Sprachkenntnisse und Fertigkeiten zu erwerben. Zugleich haben die Studierenden die Möglichkeit, die Kultur des Landes der Partnerhochschule näher kennenzulernen (Esen und Taheri, 2016: 116–119).
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Nach den neuen Regelungen des Türkischen Hochschulrates10 (YÖK) können Studiengänge mit Doppelabschluss relativ einfach eingerichtet werden. Ungeachtet des Vorhandenseins von den jeweiligen Studiengängen in nationaler Fassung kann ein gemeinsamer Studiengang als eine Neueinrichtung an beiden Partnerhochschulen aufgebaut werden. Der gemeinsame Studiengang kann aber auch aus zwei bereits bestehenden und fachnahen Studiengängen an den jeweiligen Partnerhochschulen entwickelt und konzipiert werden. Durch eine gemeinsam ausgearbeitete Vereinbarung, in der die jeweiligen Kriterien, der Zeitrahmen sowie die notwendigen Studienbedingungen festgelegt werden, kann der gemeinsame Studiengang eingerichtet werden. Die deutsche Partnerhochschule müsste dabei durch den YÖK als kooperationsfähig für türkische Hochschulen anerkannt sein, der schließlich auch der gemeinsamen Vereinbarung zustimmen muss. Auf der deutschen Seite finden gemeinsame Studiengänge besondere Unterstützung der Hochschulbehörden und werden meist durch die jeweils beauftragten Agenturen begutachtet. Wenn der gemeinsame Studiengang aus einem bereits vorhandenen fachnahen Studiengang hervorgegangen ist, wird in der Regel keine zusätzliche Genehmigung oder ähnlicher Verwaltungsakt benötigt. Unabhängig von einem möglichen Koordinierungsaufwand sollte die Einrichtung eines solchen gemeinsamen Studiengangs nicht auf die Partnerschaft von zwei Hochschulen begrenzt werden. Im Gegenteil: Für die Umsetzung eines solchen Studiengangs mit Doppelabschluss kann sogar die Kooperation von mehreren Hochschulen sehr förderlich sein, wenn es insbesondere um die sprachliche Vorbereitung, Absolvierung der Pflichtpraktika sowie die Erteilung von fremdsprachlichem Fachunterricht geht (Esen et al., a.a.O., 316–317). Neben einer intensiven Zusammenarbeit aller beteiligten Einrichtungen der Partnerländer, wie z.B. des YÖK, des DAAD und der jeweiligen Ministerien setzt die Durchführung eines Studiengangs mit Doppelabschluss voraus, dass Teile des Curriculums und der jeweiligen Lerninhalte gegenseitig anerkannt werden. Dadurch werden die Studieninhalte und der gemeinsame Studiengang selbst internationalisiert und dessen Absolvent*innen können im Anschluss an das Studium einen Aufbaustudiengang in dem Partnerland und darüber hinaus aufnehmen. Außerdem genießen die gemeinsamen Studiengänge mit 10 Die entsprechenden Regelungen sind enthalten in “Verordnung über die Einrichtung der gemeinsamen Bildungsprogramme durch Hochschuleinrichtungen mit zugelassenen ausländischen Hochschulen” vom 6. Oktober 2016, die durch YÖK verabschiedet wurde. Für den türkischen Titel des YÖK-Beschlusses s. Literaturliste am Ende des Textes.
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Doppelabschluss finanzielle Unterstützung von beiden Partnerländern. Vor allem der DAAD fördert die Entwicklung, den Aufbau und die Durchführung solcher Studiengänge über mehrere Jahre, unter Umständen bis zu 12 Jahren. Auch das türkische „Amt für Auslandstürken und Verwandschaftsgemeinschaften“ (Yurtdışı Türkler ve Akraba Toplulukları Başkanlığı – YTB) stellt Stipendien für die türkischstämmigen Teilnehmer*innen aus Deutschland zur Verfügung, die ihr Studium teilweise oder vollständig in der Türkei absolvieren wollen (Esen et al., a.a.O., 320). Die ausgewählten weiteren Bestandteile des hier beschriebenen gemeinsamen Studiengangs zur Ausbildung von Erzieherinnen und Erziehern für bilinguale Kindertagesstätten sollen noch kurz erwähnt werden: Die Einrichtung des Studiengangs und die Aufnahme des Studienbetriebs, einschließlich ihrer Bedingungen unterliegen der Zustimmung des Türkischen Hochschulrates (YÖK). In einer Kooperationsvereinbarung legen die Partnerhochschulen auf Rektorenoder Fakultätsebene die einzelnen Bedingungen und Inhalte des gemeinsamen Studiengangs fest. Es geht darin unter anderem um die Zulassungsbedingungen zum Studium an beiden Partnerhochschulen, die sprachliche Vorbereitung, die Studiengebühren, die Unterrichtssprache, Studiendauer, Studentenaustauschdauer, Doppelabschluss, das Notensystem und schließlich um das Curriculum samt des Fächerkatalogs11.
Schlussfolgerungen: Deutsch-türkische Zusammenarbeit für ein interkulturelles Zusammenleben Bei der hier diskutierten mehrsprachigen Bildung und Erziehung geht es um Kinder und Jugendliche, die zunächst unabhängig von ihrer nationalen Herkunft von klein auf nicht nur in der Herkunftssprache sondern auch in der Sprache des Aufnahmelandes Bildung und Erziehung genießen. Der Fokus der obigen Ausführungen liegt allerdings auf der bilingualen Erziehung von Kindern mit türkischem MH, die besonderen Benachteiligungen im deutschen Bildungssystem unterliegen und dringende Unterstützung benötigen. Kritik 11 Zu den Einzelheiten der Einrichtung eines gemeinsamen deutsch-türkischen Studiengangs mit Doppelabschluss für bilinguale Vorschulbildung siehe Esen at al., 2017: 320–386. Darin werden alle notwendigen Bedingungen, Kriterien, Regelungen und dem Austauschplan eines solchen Studienganges, samt des Curriculums mit einem achtsemestrigen Veranstaltungskatalog am Beispiel der Partnerhochschulen der türkischen Akdeniz Universität und der deutschen Pädagogischen Hochschule Heidelberg dargestellt.
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an der gegenwärtigen Situation gibt es von allen Seiten: etwa den Regierungen in Deutschland und der Türkei, von der Wissenschaft, den türkischstämmigen Menschen und zivilen Organisationen, sprich NGOs und den Bildungsverantwortlichen aus beiden Ländern. Nach etwa 60jähriger Migrationsgeschichte gilt weiter: Menschen mit türkischem MH in Deutschland weisen erhebliche Sprachdefizite im Kindesalter auf, die sie mehrere Lebensabschnitte mit sich tragen, ja sogar diese an neue Generationen weiterreichen. Sie liegen in Schule, aber auch im Beruf weit hinter den Gleichaltrigen, unabhängig von deren nationaler Herkunft. Sie besuchen selten oder nur kurz eine Kindertageseinrichtung; ihnen fehlen in der Kita oft das „deutsche Sprachbad“. Vor allem bei Kindern, in deren Familie mehr Türkisch gesprochen wird als Deutsch, können diese zu Hause kaum Unterstützung erhalten. Sie wechseln selten von der Grundschule zum Gymnasium; stattdessen besuchen sie niedriger qualifizierende Schulen. Anteilig verlassen sie viel öfter die Schule ohne einen Abschluss. Auch in der schulischen Berufsausbildung sind sie selten vertreten. Auch die Hochschulen öffnen selten ihre Türe für die Jugendlichen mit türkischer Herkunft. Sie weisen viel größere Arbeitslosenquoten als andere auf; sie bilden eine stark armutsgefährdete Gruppe in Deutschland und nicht selten sind sie Zielscheibe rechtsextremer Übergriffe, verbal und tätlich. Auf eine 300jährige Geschichte der freundschaftlichen Beziehungen können Deutschland und die Türkei gemeinsam zurückblicken. Wie in mehreren Beiträgen dieses Werkes dargestellt, gab es in vielen Bereichen deutsch-türkische Kooperationen, die teilweise auch die türkischen Reformen auf dem Gebiet des Militärs, der Bildung und Wissenschaft, des Hochschulwesens und vieles mehr von Anfang an begleiteten. Nicht zuletzt durch die Bagdadbahn ist ein gemeinsames Technologie- und Know-How-Transferprojekt realisiert worden, das in ihrer etwa 40jährigen Dauer das Osmanische wie das Deutsche Reich überlebte und nach dem Wechsel beider Länder in eine Republik erfolgreich beendet wurde. Die deutsch-türkische Entwicklungszusammenarbeit in der Nachkriegszeit stand zudem in der völligen Übereinstimmung mit der Interessengemeinschaft in dem Verteidigungsbündnis (NATO), der wirtschaftlichen und politischen Integration (EU) und vieles mehr in der Außen- und internationalen Politik beider Länder. Der Aufbau eines Studiengangs für die Ausbildung von Erzieher*innen für deutsch-türkische bilinguale Frühbildung fällt in den Bereich der Hochschulkooperation, die ein wichtiger Bestandteil der deutsch-türkischen Freundschaftsbeziehungen seit Jahren darstellt. Insbesondere seit der Anerkennung der Türkei als ein EU-Beitrittskandidat wurden die deutsch-türkischen Hochschulbeziehungen weiter intensiviert, die ihren Ausdruck im regen Erasmusaustausch von
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Studierenden und Akademiker*innen, den gemeinsamen Europaprojekten im Bereich Forschung, im zivilen Dialog und sonst mehr finden. Es gibt ständige bilaterale Forschungsprogramme, an denen zahlreiche deutsche und türkische Forschungsteams beteiligt sind. Auch die öffentliche Türkisch-Deutsche Universität (TDU) in Istanbul lehrt schon seit über 10 Jahren Student*innen aus den beiden Ländern. Der DAAD wie mehrere parteinahe Stiftungen sowie das Goethe Institut und viele andere Institutionen deutschen Ursprungs sind über Jahre bemüht, durch ihre Bildungs- und Kulturarbeit die Jahrhunderte währende deutsch-türkische Zusammenarbeit öffentlich und zivilgesellschaftlich zu begleiten. Auch die Türkeiarbeit, die in Deutschland in vielen Orten, an den Universitäten sowie in Kooperation mit vielen verschiedenen NGOs geleistet wird, wird inzwischen teilweise durch den türkischen Staat gefördert und durch verschiedene Institutionen, wie Yunus Emre Institute, die Bildungs- und Erziehungsstiftung (Maarif Vakfı) und sonstige Einrichtungen ausgebaut und weiter institutionalisiert. Professionelles Erziehungspersonal, das Deutsch wie Türkisch als Arbeitssprache gleichermaßen verwendet und Kinder mit türkischem und nichttürkischem Hintergrund betreuen und in ihrer Vorschulphase professionell begleiten kann, bedarf einer intensiven Zusammenarbeit von Hochschuleinrichtungen aus beiden Ländern. Die Bereitstellung einer kompetenten zweisprachigen Begleitung ihrer Kinder überzeugt eher die Eltern mit türkischem MH, für ihre Kinder vorschulische Bildungsangebote in Deutschland länger in Anspruch zu nehmen. So erhalten die türkischstämmigen Kinder, ungeachtet ihrer sozialen und Migrationsherkunft die Chance, zusammen mit ihren Gleichaltrigen gleichberechtigt und selbstbewusst am gesellschaftlichen Leben in Deutschland teilzunehmen. Die Regierungen und sonstigen Institutionen in Deutschland und der Türkei sind aufgerufen, diese Prozesse zu unterstützen. Nach langen Jahren des Zögerns und den Ungewissheiten in den Migrations- und den Integrationspolitiken sind sie gegenüber den jungen Generationen deutscher und nichtdeutscher Herkunft dieses schuldig. Mehr noch: Deutschland und die Türkei können dabei auf einen Erfahrungsschatz und ein Kooperationsnetzwerk zurückgreifen, was über Jahrhunderte gewachsen ist.
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deutsch-türkischer Studiengänge für bilinguale Vorschulbildung, Ankara, 2017, S. 71–98 Sachverständigenrat der Deutschen Stiftung für Migration und Integration – SVR, Expertise: Doppelbenachteiligt? Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund im deutschen Bildungssystem – Eine Expertise im Auftrag der Stiftung Marcator, Mai 2016. Schober, S. P. und Spiess, C. K., Frühe Förderung und Betreuung von Kindern: Bedeutende Unterschiede bei der Inanspruchnahme besonders in den ersten Lebensjahren, DIW-Wochenbericht, 43.2012, Berlin, 2012, S. 17–28 Slupina, M. und Klingholz, R., Bildung von klein auf sichert Zukunft: Warum frühkindliche Förderung entscheidend ist, Berliner Institut für Bevölkerung und Entwicklung, Berlin, 2013. Tures, A., Inklusive Perspektiven auf Mehrsprachigkeit, nicht veröffentlichter Vortrag, 12.1.2015, Antalya, 2015. Yükseköğretim Kurulu Başkanlığı, Yükseköğretim Kurumlarının Yurtdışındaki Kapsama Dahil Yükseköğretim Kurumlarıyla Ortak Eğitim ve Öğretim Programları Tesisi Hakkında Yönetmelik, Resmi Gazete, Sayı 29849, 6 Ekim 2016.
Kapitel IV Deutschland und Die Türkei in Europa
M. Nail ALKAN*
Perspektiven eines EU-Beitritts der Türkei unter der Fragestellung „Gehört die Türkei zu Europa?“ Einleitung In diesem Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, ob die Türkei zu Europa gehört oder nicht. Trotz der Tatsache, dass im Jahre 1959 die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei begonnen haben, wird heute noch immer darüber diskutiert, ob die Türkei zu Europa gehört. Solange diese Frage nicht beantwortet wird, kann man nicht von einem EU-Beitritt der Türkei sprechen. Es soll in diesem Beitrag erörtert werden, welche Aspekte dafür sprechen, dass die Türkei zu Europa gehört und welche dagegen. In diesem Zusammenhang soll versucht werden, den europäischen Aspekt der Türkei aus politischer, wirtschaftlicher und kultureller Sicht zu erklären. Es wird sich am Ende zeigen, ob aus dieser Sichtweise heraus entschieden werden kann, die Türkei in die EU aufzunehmen oder nicht.
Gehört die Türkei zu Europa? Dies ist eine Frage, mit der sich Europäer*innen schon seit Jahrzehnten beschäftigen, jedoch noch immer keine Antwort gefunden haben, die alle zufriedenstellt. An dieser Stelle soll versucht werden, diese Frage zu beantworten. Die Türkei gilt als der Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches, das von 1299 bis 1922 über Gebiete in Europa, Asien und Afrika herrschte. Können wir denn das Osmanische Reich als einen europäischen Staat bezeichnen? Zwar galt das Osmanische Reich bis in das 19. Jahrhundert hinein nicht als europäischer Staat, jedoch änderte sich dieser Zustand 1856 mit dem Pariser Abkommen. Das Osmanische Reich wurde zu diesem Zeitpunkt formal in das Konzert der europäischen Mächte aufgenommen (Reinkowski, 2006: 34–35). Auch wenn wir es seit 1856 mit dem Osmanischen Reich als einer europäischen Macht zu tun haben, sollte trotzdem nicht übersehen werden, dass die Hohe Pforte
* Prof. Dr., Fakultät für Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften, Fachbereich Politikwissenschaften, Ankara Hacı Bayram Veli Universität, [email protected]
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immer auch als das Fremde, das Andere gesehen wurde. Das Osmanische Reich, das im 19. Jahrhundert noch als kranker Mann am Bosporus angesehen wurde, sollte mit dem Pariser Abkommen nun langsam genesen. Frankreich, England und Deutschland wollten mit dem Pariser Abkommen das Osmanische Reich gegen Russland auf ihre Seite bekommen. Trotz des Pariser Abkommens von 1856 wurde das Osmanische Reich aus europäischer Sicht nie als gleichberechtigter Teil empfunden. Eigentlich zeigt sich dieser Zustand auch heute noch in den Beziehungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union. Die Türkei wird aus Sicht der Europäischen Union kaum als eigener Teil empfunden, eher als ein Fremder, der versucht, sich in die europäische Familie einzumischen. Die europäische Identität der Türkei wird in Frage gestellt. Nicht das Gemeinsame sondern die Andersartigkeit der Identität wird hervorgehoben (Karabulut, 2016: 3) Ein weiteres Datum, welches die Zugehörigkeit der Türkei zu Europa bestätigt, ist der 12. September 1963. An diesem Tag wurde zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Türkei das Ankara Abkommen unterzeichnet. Anlässlich der Unterzeichnung des Assoziationsabkommens zwischen der Türkei und der EWG am 12. September 1963 hielt der damalige Kommissionspräsident der EWG, Walter Hallstein, eine Rede zu den Beziehungen zwischen der EWG und der Türkei, in der er mehrere Male betonte, dass die Türkei ein Teil Europas ist (Hallstein, 1979: 739). Jetzt stellt sich natürlich die Frage, weshalb die Türkei im Jahre 1963 als ein Teil Europas betrachtet wurde, jedoch heute nicht als ein Teil Europas angesehen wird? Normalerweise sollte sich am Zustand eines Landes nichts geändert haben. Doch im Falle der Türkei ist zu beobachten, dass die Perzeption der Türkei im Jahre 1963 eine andere war als heute im Jahre 2019. Dies hängt mit folgender Tatsache zusammen: im Jahre 1963 war Europa und auch die Weltpolitik durch den Kalten Krieg beeinflusst. Während des Kalten Krieges galt die Türkei als Vorposten des Westens und sie war ein unverzichtbarer strategischer Partner des Westens. Die geopolitische und geostrategische Bedeutung der Türkei hat sich seit dem Ende des Kalten Krieges verändert, so dass die Perzeption der Türkei durch die Europäische Union eine andere geworden ist. Um in diesem Zusammenhang die Frage beantworten zu können, ob die Türkei zu Europa gehört, muss man sich zuerst mit der Frage beschäftigen, was Europa eigentlich ist. Muss man Europa als einen geografischen, einen kulturellen oder einen historischen Begriff verstehen? Was hat Europa zusammengeführt, so dass wir heute von einer Europäischen Union sprechen können. Es gibt verschiedene Sichtweisen, was diese Fragestellung anbelangt. Jedoch überwiegt die Meinung, dass Europa weniger geografisch zu verstehen ist, sondern
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vielmehr historisch und kulturell. Ein Europa – eigentlich auch die Europäische Union – das sich lediglich geografisch versteht, habe keine Zukunft (Schultz, 2003: 223–224). So argumentieren Politiker*innen und Akademiker*innen in Europa, die gegen einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union sind.
Gegner*innen der Türkei Hier soll versucht werden aufzuzeigen, welche Aspekte verwendet werden, um zu betonen, dass die Türkei nicht zu Europa gehört und deshalb auch eine Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union nicht zur Diskussion steht. Der Aspekt der Geografie hinsichtlich einer EU- Mitgliedschaft der Türkei wird seit Jahrzehnten diskutiert. Dabei wird von den Befürwortern der Türkei die Meinung vertreten, die Türkei gehöre geografisch zu Europa. Schaut man in die Geografiebücher, so wird man sehen, dass die Türkei als eine Brücke zwischen Europa und Asien zu verstehen ist. Ungefähr 3% der Gesamtfläche des Landes befinden sich auf dem europäischen Kontinent. Sind diese 3% ausreichend, um von einer europäischen Türkei sprechen zu können? Wer fällt die Entscheidung, ob diese 3% ausreichen? Eine weitere Frage, die es zu beantworten gilt, ist: wo fängt Europa an, wo hört Europa auf? Im Westen, im Norden und im Süden hört Europa und auch die Europäische Union am Wasser auf. Im Osten dagegen ist die Lage nicht eindeutig. Im Allgemeinen wird als Schnittgrenze zwischen Europa und Asien der Ural genannt. Es wird betont, dass die Grenzen oft abhängig waren von den jeweiligen Gegebenheiten und wechselnden Interessen (Schultz, 2003: S. 224). Um erneut auf die Frage zurückzukommen, ob die Türkei wegen der 3% Fläche als europäisch angesehen werden kann, sei anzumerken, dass Zypern, das geografisch östlicher liegt als die Türkei, 2004 als Mitglied in die Europäische Union aufgenommen wurde. Ist Zypern geografisch gesehen europäischer als die Türkei? Es zeigt sich in diesem Zusammenhang, dass nicht der geografische sondern der politische Aspekt überwiegt. Es ist und wird also eine politische Entscheidung sein, die Türkei als europäisch anzusehen und in die Europäische Union aufzunehmen oder nicht. Der zweite Aspekt, mit dem wir uns zu beschäftigen haben, ist der Aspekt der Historie. Ist Europa ein historischer Begriff, ist die Türkei historisch gesehen ein Teil Europas? Es wird betont, dass Europa durch Christentum, Renaissance und Aufklärung geprägt wurde (Kramer, 2003: 10). Es wird argumentiert, dass in der türkischen Geschichte diese genannten Kulturepochen fehlen, so dass man nicht von einer europäischen Türkei reden kann. In der europäischen Geschichte und in dem Europa von heute ist von einem Wir-Gefühl die Rede. Die europäische Identität, die sowohl auf einer gemeinsamen Geschichte, als auch auf religiösen,
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philosophischen und rechtlichen Traditionen basiert, wird dahingehend formuliert, dass die Türkei ausgeschlossen wird (Kramer, 2003: 16). Mit der Ausschließung der Türkei aus Europa wird auch gleichzeitig argumentiert, dass die Türkei anders ist als Europa. Bis zum 20. Jahrhundert galt das Osmanische Reich immer als das Andere. Diese Andersartigkeit prägte bis in das 20. Jahrhundert hinein die Beziehungen zwischen Europa und der Türkei. Auch wenn, wie erwähnt, das Osmanische Reich 1856 in das Konzert der europäischen Mächte aufgenommen wurde, kann man nicht davon sprechen, dass die Argumentation der Andersartigkeit der Türkei aufgehoben wurde. Auch wenn die Türkei 1999 in den Kandidatenstatus gehoben wurde, wird in Brüssel und in vielen Hauptstädten der Europäischen Union diese Andersartigkeit hervorgehoben. Diese Andersartigkeit der Türkei hängt damit zusammen, dass es zwischen den Staaten der Europäischen Union und der Türkei keine gemeinsame Geschichte gibt, die beide Seiten verbindet. Im Gegenteil: die Tatsache, dass das Osmanische Reich 1529 und 1683 Wien belagerte, wurde im 16. und 17. Jahrhundert als große Bedrohung angesehen. Dieser Bedrohungsaspekt lässt sich heute noch immer nachverfolgen. In den Medien wird diese Bedrohung der Historie noch immer gerne benutzt, wenn von den Beziehungen zwischen Europa und der Türkei die Rede ist (Akdemir, 2007: 145–146). Zusammenfassend lässt sich folgendes sagen: Aus Sicht der Gruppe, die eine Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union nicht befürworten, gehört das Land am Bosporus geografisch, historisch und kulturell nicht zu Europa. Deshalb lehnen sie eine eventuelle Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union ab (Schultz, 2003: 244).
Befürworter*innen der Türkei An dieser Stelle soll versucht werden zu erklären, warum die Türkei doch zu Europa gehört, so dass man auch von einer möglichen EU-Mitgliedschaft der Türkei sprechen kann. Die Befürworter*innen der Türkei vertreten die Meinung, dass die Türkei eng mit der europäischen Geschichte verflochten und trotz des anderen Glaubens voll im Westen integriert war (Schultz, 2003: 246). Des Weiteren wird die Türkei als Bindeglied zwischen Europa und Asien, zwischen der Christlichen und der Islamischen Welt gesehen, so dass eine europäische Türkei nicht trennen sondern binden würde. Insbesondere beim Dialog der Religionen und dem Dialog der Kulturen spielt die Türkei eine wichtige Rolle und kann auch in Zukunft diese wichtige Rolle weiterspielen. Mit der „Allianz der Zivilisationen“ versuchten die Türkei und Spanien unter der Schirmherrschaft der UNO ab dem Jahre 2005, die Vorurteile der westlichen Welt betreffend
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des Islams und betreffend der Türkei abzubauen1. Denn insbesondere seit dem 11. September 2001 haben sich die Vorurteile und Klischees hinsichtlich des Islams ausgeweitet, so dass die Initiative für die „Allianz der Zivilisationen“ ein wichtiges Projekt darstellte, um den Dialog zwischen der Christlichen und der Islamischen Welt zu fördern. Ein zweiter wichtiger Aspekt, weshalb man die Türkei als europäisch ansehen sollte, ist die Tatsache, dass das Land schon seit Jahrzehnten zu den meisten Institutionen in Europa gehört, z. B. die Mitgliedschaft im Europarat und in der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa), im Eurovision–Songcontest oder in der UEFA Champions-League im Fußball. Die Türkei ist also neben dem politischen auch ein Bestandteil der europäischen Kultur-und Sportswelt. Der dritte Aspekt der Türkei-Befürworter beschäftigt sich mit dem Zustand, dass Europa zum globalen Akteur aufsteigen würde, wenn die Türkei nicht ausgeschlossen sondern integriert werden würde. Mit einer Türkei als Regionalmacht im Nahen und Mittleren Osten, könnte Europa gegenüber der amerikanischen Politik in der Region eine Alternative darstellen. Für die Region Naher und Mittlerer Osten selbst könnte Ankara ein Vorbild darstellen, wie islamische und demokratische Werte zu vereinbaren wären. Ein letzter Aspekt, der gern von den Türkei-Befürwortern benutzt wird, ist die Tatsache, dass die Türkei als ein wichtiges Land beim Transit von Erdöl und Erdgas aus den Gebieten am Kaspischen Meer und aus Zentralasien angesehen wird. Die Türkei wird hier aus europäischer Sicht als ein wichtiges Bindeglied betrachtet (Deutsche Energieagentur, 2013: 16–17).
EU- Mitgliedschaft der Türkei Die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei feierten am 31. Juli 2019 ihr 60jähriges Jubiläum. Das heißt, dass die Türkei seit 60 Jahren darauf wartet, in die Europäische Union aufgenommen zu werden. Die bis heute 60jährige Wartezeit ist ein Novum in den internationalen Beziehungen. Kein Land zuvor hat so lange auf eine Mitgliedschaft in einer internationalen Organisation warten müssen. An dieser Stelle soll erörtert werden, was gegen eine EU-Mitgliedschaft spricht und was für eine EU-Mitgliedschaft spricht.
1 T. C. Dışişleri Bakanlığı, Medeniyetler İttifakı Girişimi, http://www.mfa.gov.tr/medeniyetler-ittifaki-girisimi.tr.mfa
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Gegen eine EU-Mitgliedschaft der Türkei sprechen folgende Argumente: – Die Türkei gehört geografisch nicht zu Europa und damit auch nicht zur Europäischen Union. – Mit einer Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union würde die Europäische Union neue Außengrenzen und somit neue Nachbarn bekommen. Der Iran, Syrien, Georgien, Armenien, Aserbaidschan und der Irak wären neue Nachbarn der Europäischen Union. Es erscheint realistisch, dass ein großer Teil der Bevölkerung in der Europäischen Union diese genannten Staaten als neue Nachbarn haben will. Heute gilt die Türkei vor allem aus sicherheitspolitischer Sicht als Pufferzone zwischen der Europäischen Union und diesen Staaten. – Es wird vor allem von konservativen Parteien und ihren Wählern befürchtet, dass mit einer Mitgliedschaft der Türkei Millionen von Türk*innen in die Staaten der Europäischen Union ziehen würden. Jedoch sollte bedacht werden, dass eine Freizügigkeit von Personen neuer Mitgliedsstaaten nicht sofort gewährt wird. Auf der anderen Seite sollte jedoch nicht übersehen werden, dass nach der EU- Mitgliedschaft von Griechenland, von Spanien oder dann auch später von Polen, die Staaten der Europäischen Union die Befürchtung geäußert haben, dass die Griechen, die Spanier und die Polen in die Staaten der Europäischen Union einwandern werden. Doch es hat sich im Nachhinein gezeigt, dass die Griechen, die Spanier und auch die Polen nicht in Scharen in die Staaten der Europäischen Union eingewandert sind2. – Es wird von verschiedenen europäischen Politikern, wie z.B. Valery Giscard d‘ Estaing die Meinung vertreten (Kramer, 2003: 10), dass eine Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union die europäische Identität in Gefahr bringen würde. Eine weitere Befürchtung in diesem Zusammenhang ist, dass mit einer EU-Mitgliedschaft die Türkei im Europäischen Parlament die meisten EU-Parlamentarier*innen stellen würde und in anderen europäischen Gremien mit der höchsten Zahl vertreten wäre. Im Folgenden soll dargelegt werden, welche Argumente für eine EU-Mitgliedschaft der Türkei sprechen: – Mit der Türkei würde die Europäische Union außenpolitisch und weltpolitisch mehr Gewicht bekommen. Die geopolitische und geostrategische Lage des Landes würde die Europäische Union zu einem globalen Akteur machen. 2 Die Polen kommen- und das ist gut so, https://www.cicero.de/innenpolitik/die-polenkommen-%E2%80%93-und-das-ist-gut-so/41956
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– Die Europäische Union könnte mit einer Aufnahme der Türkei beweisen, dass sie kein „christlicher Club“ ist. – Mit der Türkei als Nachbar zu den Staaten im Nahen und Mittleren Osten und zu den Staaten im Kaukasus hätte die Europäische Union einen einfacheren und besseren Zugang zu den Märkten in diesen Regionen. – Die Tatsache, dass mehrere Staaten in der Europäischen Union in den kommenden Jahren einen Arbeitskräftemangel und Fachkräftemangel haben werden, macht die Türkei mit ihrer jungen und dynamischen Bevölkerung zu einem begehrenswerten Mitgliedsstaat. – Eine Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union wird als ein Schlussstein der Europäisierung der Türkei gesehen. Die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei werden kontrovers diskutiert. In dieser Diskussion haben wir es mit einer Eigen-und Fremdperzeption zu tun, die dazu führt, dass auch heute noch Ängste geschürt werden, wenn es um die Türkei geht. Die „Türkenangst“ und die „Türkengefahr“ des 17. Jahrhunderts sind immer noch Begriffe, die gerne benutzt werden, um die heutige Türkei und die Perzeption der Türkei zu beschreiben3. Auf türkischer Seite wird betont, dass die Europäische Union mit dem Ankara Abkommen von 1963 der Türkei zugestanden hat, dass sie zu Europa und damit auch zur Europäischen Union gehört. Jedoch gibt es in Brüssel und in den europäischen Hauptstädten auch viele Politiker*innen und Bürokrat*innen, die die Meinung vertreten, dass die heutige Europäische Union etwas anderes ist als die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) aus dem Jahre 1963: Wir haben es nicht mit der gleichen Institution zu tun, so dass die EU nicht das Versprechen einhalten müsse, welches die EWG in den 60er Jahren gemacht hat. Des Weiteren wird auf europäischer Seite oft betont, dass die Europäische Union vor allem mit der Erweiterungsrunde im Jahre 2004 an die Grenzen ihrer Aufnahmemöglichkeit gekommen sei, dass die Europäische Union „erweiterungsmüde“ sei4. An dieser Stelle ist die Frage zu stellen, wie eine erweiterungsmüde Europäische Union 2007 und 2013 drei neue Mitglieder in die Europäische Union aufnehmen konnte. Der Bevölkerung in der Türkei ist es schwer zu vermitteln, dass die Europäische Union auf der einen Seite erweiterungsmüde sei
3 Andrea K. Riemer, 2003: http://www.bpb.de/apuz/27762/die-tuerkei-und-die-europaeische-union 4 Tucek,2009 https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/europa/europaarchiv/238958_ Die-Union-ist-der-Erweiterung-muede.html
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und auf der anderen Seite dennoch in diesen Jahren der Erweiterungsmüdigkeit Bulgarien, Rumänien und Kroatien als Mitglieder aufgenommen werden konnten.
Beziehungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union aus deutscher Sicht Nun soll versucht werden die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei aus dem deutschen Blickwinkel zu analysieren. Deutschland gilt als einer der wichtigsten Staaten in der Europäischen Union, weshalb die Meinung Deutschlands von großer Bedeutung ist. Beschäftigt man sich mit den Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei aus der deutschen Sichtweise, so lässt sich feststellen, dass wir es mit drei verschiedenen Perioden zu tun haben. Die erste Periode ist die Periode von Helmut Kohl, der von 1982 bis 1998 Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland war. In dieser Zeit wurde die Türkei nicht als ein Staat bewertet, der in die Europäische Union aufgenommen werden könnte. Helmut Kohl vertrat die Meinung, dass die Türkei die Kopenhagener Kriterien nicht erfüllen werde, so dass ein Beitritt der Türkei in die Europäische Union nicht zur Diskussion stand5. Weiterhin vertrat er die Auffassung, dass die Europäische Union nach dem Beitritt von Bulgarien, Rumänien und einigen Staaten aus der Balkan-Region ihre maximale Ausdehnung erreicht habe. Die Tatsache, dass die Türkei für den Westen ein wichtiger Partner ist, werde nicht automatisch zu einem EU-Beitritt der Türkei führen (ebd.). Die zweite Periode, die als die goldenen Jahre in den Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei, bzw. zwischen Deutschland und der Türkei wahrgenommen wurden (Önsoy, 2016: 508), ist die Periode von Gerhard Schröder, der von 1998 bis 2005 Bundeskanzler war. In dieser Zeit erklärte die Europäische Union, im Jahre 1999, mit der Unterstützung der Regierung Schröder/Fischer, die Türkei zum Kandidatenstaat6. Ein weiteres wichtiges Datum in der Ära Schröder ist der 3. Oktober 2005. An diesem Tag beginnen die Beitrittsverhandlungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei. Es war vor allem Bundeskanzler Gerhard Schröder, der sich für den Beginn der 5 Kohl warnt vor EU-Beitritt der Türkei, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/ europaeische-union-kohl-warnt-vor-eu-beitritt-der-tuerkei-a-332920.html 6 Albrecht Meier, Spätestens mit dem Gipfel beginnt die Diskussion über die endgültige Form der EU, https://www.tagesspiegel.de/politik/spaetestens-mit-dem-gipfelbeginnt-die-diskussion-ueber-die-endgueltige-form-der-eu-kommentar/109424.html
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Beitrittsverhandlungen eingesetzt hat und somit die Türkei auf dem Weg in die Europäische Union unterstützt hat7. Mit der Ära Angela Merkel gehen die goldenen Jahre in den türkisch-europäischen bzw. deutsch-türkischen Beziehungen zu Ende. Seit November 2005 ist Angela Merkel Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland. Angela Merkel hat keinen Hehl daraus gemacht, dass sie einen EU-Beitritt der Türkei nicht befürwortet. Jedoch sollte trotz alledem nicht übersehen werden, dass sie das Versprochene der Regierung Schröder eingehalten hat, indem sie die Beitrittsverhandlungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei nicht blockiert hat. Vom 1. Januar 2007 bis zum 30. Juni 2007 hatte Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft inne. In diesen 6 Monaten wurden zwischen der Türkei und der Europäischen Union drei Verhandlungskapitel eröffnet. Dies war und ist ein Novum, denn Deutschland war und ist in diesem Zusammenhang der einzige Staat in der Europäischen Union, der sich dafür einsetzte, dass in seiner Ratspräsidentschaft drei Kapitel auf einmal eröffnet wurden. Das Kapitel Wirtschaft und Industrie (29.03.2007), das Kapitel Statistik (26.06.2007) und das Kapitel Finanzkontrolle (26.06.2007) wurden in der Ära Merkel eröffnet8. Angela Merkel hat mit dieser Haltung das Prinzip, das Versprochene des Vorgängers Schröder einzuhalten, befolgt. Die Türkeipolitik der Regierung Merkel im Jahre 2019 lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: auf absehbare Zeit ist nicht mit einem EU-Beitritt der Türkei zu rechnen9. Jedoch ist die Türkei ein zu wichtiger Staat in Bezug auf die Flüchtlingsfrage, um ihr die Tür vor der Nase zuzuschlagen.
Ausblick An dieser Stelle soll versucht werden, neue Ansatzpunkte zu finden, die die Beziehungen zwischen Brüssel und Ankara in Zukunft verbessern können. – Zwischen der Europäischen Union und der Türkei müssen vertrauensbildende Maßnahmen ergriffen werden, damit das Vertrauen auf beiden Seiten wieder wächst. 7 Schröder unterstützt Beitrittswunsch der Türkei, https://www.faz.net/aktuell/politik/europaeische-union/ankara-schroeder-unterstuetzt-beitrittswunsch-der-tuerkei-1144416.html 8 Bilanz der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, https://www.auswaertiges-amt.de/de/ newsroom/070627-bilanzpraesidentschaft/222572 9 Paul Linke, Merkel zur Türkei: Auf absehbare Zeit kein EU-Mitglied, https://de.sputniknews.com/politik/20190111323558208-tuerkei-eu-beitritt-merkels-statement/
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– Diese vertrauensbildenden Maßnahmen werden dazu führen, dass die türkische Bevölkerung ihr Vertrauen in die Europäische Union zurückgewinnt. – Eine Visa-Erleichterung würde dazu führen, dass in der türkischen Bevölkerung wieder der Wunsch geweckt würde, sich Europa und damit auch der Europäischen Union anzunähern. – In der Türkei ist man sich heute bewusst, dass man zur Zeit nicht von einer Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union sprechen kann und sollte. Die Europäische Union und die Türkei sollten die stockenden Beitrittsverhandlungen fortführen. Diese Beitrittsverhandlungen sind ein technischer Prozess, der Beitritt selbst ist ein politischer Prozess. – Brüssel und Ankara sollten mit offenen Karten spielen und auch offen miteinander reden, wie sie die Zukunft zwischen der Europäischen Union und der Türkei planen. Nur eine reale Planung kann beiden Seiten helfen, die Zukunft zu gestalten. – Es sollten keine Versprechen gegeben werden, die nicht haltbar sind. – Die Europäische Union sollte offen aussprechen, wie sie sich die Beziehungen zu Ankara in der Zukunft vorstellt. Bei einer Nicht-Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union sollten neue Alternativen gefunden werden. – Auch die Türkei sollte sich bei einer Nicht-Mitgliedschaft neue Alternativen für die Außenpolitik suchen. Die Türkei würde sich bei solch einer Lage nicht von Europa und nicht von der Europäischen Union entfernen, jedoch könnten Prioritätsverschiebungen zustande kommen. – Eine Politik der „Privilegierten Partnerschaft“ wird von der Türkei nicht erwünscht, die Türkei beansprucht noch immer das Ziel einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union. – Brüssel und Ankara sollten sich zusammensetzen und einen Neuansatz in den Beziehungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union finden. Dieser Neuansatz könnte eine eventuelle Neuorientierung bringen. Beide Seiten sollten versuchen, durch diesen Neuansatz die Beziehungen zu verbessern, zu fördern und das nötige Vertrauen zu schaffen.
Literatur Akdemir, Erhan, Avrupa Aynasında Türk Kimliği, Ankara Avrupa Çalışmaları Dergisi, Herbst 2007/ Band 7/ Nr. 1, S. 131–148. Bilanz der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, https://www.auswaertiges-amt. de/de/newsroom/070627-bilanzpraesidentschaft/222572, zuletzt abgerufen am 18.04.2019
Perspektiven eines EU-Beitritts der Türkei
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M. Nail ALKAN
Tucek, Wolfgang, Die Union ist der Erweiterung müde. Wiener Zeitung vom 29.04.2009, https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/europa/europaarchiv/ 238958_Die-Union-ist-der-Erweiterung-muede.html, zuletzt abgerufen 02.03.2019.
İsmail ERMAĞAN*
Die Positionen der deutschen Parteien hinsichtlich der Vollmitgliedschaft der Türkei zur Europäischen Union Einleitung Die Türkei visiert seit 1963 die Mitgliedschaft in der Europäischen Union (EU) bzw. Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) an. Dieser Artikel untersucht die Ansichten der deutschen Parteien im derzeitigen Bundestag in Bezug auf den türkischen EU-Beitritt (Niedermayer, 2016: 171–178; Ermağan, 2012: 73–92). Es wird hier argumentiert, dass Deutschland bzw. seine Parteien hinsichtlich des türkischen EU-Beitritts eine entscheidende Rolle spielen. Die Bestandaufnahme dieser Forschung erfasst den Zeitraum von 1991 bis 2019 und diesbezügliche Vorstellungen der deutschen Parteien. Die Quellen sind die Deklarationen der EU und der deutschen Parteien wie das jeweilige Grundsatzoder Wahlprogramm, akademische Werke und Interneterklärungen. In solch einer Studie ist es also zunächst wichtig zu bedenken, wie die Haltungen der deutschen Parteien bezüglich des Beitritts der Türkei in die EWG im Kalten Krieg waren. Dazu ist generell zu sagen, dass die Türkei eine strategische Bedeutung im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion im Rahmen der Sicherheit des Westens innerhalb der NATO gehabt hat. Zum Beispiel teilte der CDU-Politiker und der damalige Präsident der EWG-Kommission Walter Hallstein bei der Unterzeichnung des „Ankara-Abkommens“ 1963 folgendes mit: “Turkey is a part of Europe. […] [T]oday this means that Turkey is establishing a constitutional relationship with the European Community”1. Zu bemerken ist, dass sich die CDU/CSU, SPD und FDP auch im Kalten Krieg im Bundestag für einen Beitritt der Türkei zur EWG aussprachen und die gerade oben erklärte These vertraten. Dies ist aber das Thema einer anderen Untersuchung. In vorliegender * Assoc. Prof. Dr. Medeniyet Universität İstanbul, Fakultät für Wirtschaft und Verwaltungswissenschaften, Fachbereich für Internationale Beziehungen E-Mail: [email protected] 1 Hallstein, Walter: Rede von Walter Hallstein anlässlich der Unterzeichnung des Assoziationsabkommens zwischen der EWG und der Türkei vom 12. September 1963 in Ankara, in: http://www.ena.lu/ rede_walter_hallstein_anlasslich_unterzeichnung_ assoziationsabkommens_zwischen_turkei_ankara_september_1963-03-17464.
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İsmail ERMAĞAN
Studie werden die Besonderheiten, die Europapolitik und die Türkeipositionen der deutschen Parteien heute dargestellt.
Die Unionsparteien und der Türkeibeitritt zur EU Als Sammlungsstelle des christlich-bürgerlichen Lagers scheint die Christlich Demokratische Union Deutschlands (CDU) nach dem Kriegsende eine „natürliche” Regierungspartei (West)-Deutschlands zu sein (Bösch, 2018: 242–261; Walter/Werwath/D’Antonio, 2014). „Ihr Programm ist von konservativen, liberalen und christlich-sozialen Standpunkten geprägt, deren Modernisierung immer wieder auch an Kernbestandteilen der Parteiidentität rührt. […] Als überkonfessionell ausgerichtete Sammlungspartei des christlich-bürgerlichen Lagers stellt die CDU/CSU die wichtigste Neuerfindung des Parteiensystems der Bundesrepublik dar. Die Integration des protestantischen Teils wurde dabei einerseits durch die gemeinsame, antisozialistische Ausrichtung, andererseits durch die Erfolge der Regierungspolitik erleichtert”2. Im Deutschen Bundestag handelt die Christlich-Soziale Union in Bayern e.V. (CSU) mit der CDU zusammen und hat somit bei gemeinsamen Beschlüssen in wesentlichen Themen ein faktisches Vetorecht (Buchstab, 2009: 255–274; Kießling, 2004). Bezüglich der Europapolitik betrachten die Unionsparteien sich als „deutsche Europapartei“. Für sie ist ein „einheitliches“ Europa in einer sich globalisierenden Welt im Interesse der Europäer*innen. Sie lehnen aber ein zentralistisches Europa ab. Ziel sei auch soziale Marktwirtschaft bzw. ein gemeinsamer europäischer Arbeitsmarkt und die Angleichung der Unternehmenssteuern in Europa. Sie betonen dazu, dass die Mitglieder in den aktuellen Problemen der EU wie der Euro-Schuldenkrise, der Migrations- und den Sicherheitsthemen mehr Leistung erbringen sollten. Deutschland solle die Rolle z.B. als „Stabilitätsanker und Wachstumsmotor Europas“ bei der Lösung der EU-Schuldenkrise übernehmen. Insgesamt dürfe die EU nicht bewegungsunfähig werden (CDUCSU, 2017: 55–63)3. Man merkt aber nicht selten an, dass die CSU bestimmte regional-politische Kritikpunkte an der EU hat: „Europa braucht einen Neustart. […] Wir wollen eine Überprüfung der Kompetenzverteilung zwischen Europa, den Nationalstaaten und den Regionen. […] Europa hat nur als Stabilitätsunion
2 Decker, Frank, Die CDU, 16.7.2018, in: http://www.bpb.de/politik/grundfragen/parteien-in-deutschland/ cdu/42058/kurz-und-buendig. 3 Vgl. Tagesschau, Wahlprogramme im Vergleich, 22.08.2013, in: https://www.tagesschau.de/wahl/parteien_ und_programme/programmvergleich-europa100.html.
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Zukunft, nicht als Schuldenunion.“ (CSU, 2016: 102ff). Die CSU wird als EUskeptisch eingeschätzt (Hartleb, 2007: 17). Hinsichtlich der Beziehungen zwischen der EU und der Türkei stehen die Unionsparteien einem EU-Beitritt der Türkei eher reserviert gegenüber und befürworten (im Jahre 2004) hingegen das Konzept der „Privilegierten Partnerschaft“. Dieses Konzept gilt ihnen als eine Art „Mittelweg“ zwischen Nicht- und Vollmitgliedschaft, der sowohl für die Türkei als auch für die EU eine plausible Lösung gegenüber einem „Entweder oder“ (Ermağan, 2011: 100–114) wäre. Zu beobachten ist, dass sich die meisten Politiker*innen dieser Parteien seit langem gegen einen EU-Beitritt der Türkei positioniert haben. Beispielsweise äußerte sich der einstige Europapolitiker der CDU, Kurt Lechner, zu diesem Thema im Jahre 2010 wie folgt: In der Geschichte hätten die Völker Europas gemeinsame Werte, Kultur und Normen entwickelt („abendländische Kultur“). Dabei seien geographische und religiöse Gemeinsamkeiten von herausragender Bedeutung. Eine solche Gemeinsamkeit gebe es mit der Türkei aber nicht. Der vernünftigste Weg zwischen der EU und der Türkei sei so weit wie möglich die Vertiefung der bestehenden Beziehungen von Wirtschaft zu Außenbeziehungen und von Sicherheits- zu Jugendprogrammen. Dies sollte auf beiden Seiten keinesfalls als Feindseligkeit empfunden werden (Lechner, 2010: 181–188). Auch der damalige CSU-Chef Edmund Stoiber deklarierte eindeutig, dass er eine Vollmitgliedschaft der Türkei in der EU mit allen Mitteln verhindern wolle4. Auch nach dem EVPChef im Europaparlament Manfred Weber (CSU) war dieser Prozess falsch, denn „[i]n der Türkei ist das Gefühl entstanden, die in Europa, die wollen uns eigentlich gar nicht richtig, und in Europa ist die Atmosphäre entstanden, das Gefühl entstanden, um Gottes Willen, das kann doch nicht funktionieren mit der Türkei in der EU. Insofern wurde es eher zur Entfremdung genutzt und wir müssen zurückkommen zum Weg der Partnerschaft”5. Daher forderte er 2017 die sofortige Beendigung der Beitrittsgespräche und die Gestaltung eines besseren Verständnisses, um „Wege zu finden, wieder miteinander und nicht übereinander zu reden“. Andere CDU-Politiker wie Polenz unterstützen dagegen einen Türkeibeitritt. Danach seien eine westlich-orientierte Türkei, die strategische und wirtschaftliche Bedeutung dieses NATO-Mitglieds und die weitere
4 Focus, Türkei-Beitritt Union malt Horror-Szenario, 12.12.2004, in: https://www.focus. de/politik/ausland/tuerkei-beitritt_aid_89395. 5 Weber, Manfred, „Sofortiges Ende der Beitrittsgespräche“, 12.09.2017, in: https:// www.deutschlandfunk.de/ manfred-weber-csu-zur-tuerkei-sofortiges-ende-der.694. de.html?dram:article_id=395642.
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Entwicklung der türkischen Migrant*innen in Deutschland nicht zu ignorieren (Polenz, 2010). Im Regierungsprogramm aus dem Jahr 2017 betont die CDU „die strategische und wirtschaftliche Bedeutung der Türkei für Europa ebenso wie die vielfältigen Beziehungen zwischen den Menschen in unseren beiden Ländern. […] Eine Vollmitgliedschaft der Türkei lehnen wir aber ab, weil sie die Voraussetzungen für einen Beitritt nicht erfüllt. Wir sehen mit großer Sorge die jüngsten Entwicklungen in der Türkei im Hinblick auf Rechtsstaatlichkeit, insbesondere Meinungs- und Pressefreiheit” (CDU-CSU, 2017: 58).
Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) und der EU-Beitritt der Türkei Die SPD ist mit 150 Jahren die älteste Partei Deutschlands und eine der einflussreichen Parteien der europäischen Arbeiterschicht. Sie gehört zu den Gründer*innen der Sozialistischen Internationale. Die SPD identifizierte sich seit dem Godesberger Programm (1959) als sozialdemokratisch und verließ die marxistischen Bezüge in ihrem Programm. Bundesweit wurde sie zum ersten Mal die stärkste Partei in den 1970er Jahren unter Führung von Willy Brandt (1969–1974) bzw. Helmut Schmidt (1974–1982). Zwischen 1998 und 2005 gab es zudem die Schröder-Regierung in Deutschland (Jun, 2018: 468–486). Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität sind die Grundprinzipien der SPD. Dazu ist folgendes zu bemerken: Zusammenhalt, direkte Demokratie, mehr Gewerkschafts- und Arbeitnehmerrechte, Reform der öffentlichen Medien, Gleichstellung der gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, richtige Integration, wirtschaftliche Verbesserung der Klassen bzw. Bundesregionen (Krell und Woyke, 2015: 93–137). Im Bereich der Europapolitik denkt die SPD, dass die EU eine Chance für gemeinsamen Fortschritt und soziale Gerechtigkeit für die EU-Staaten sei. Um gegen das kalte Wettbewerbseuropa ein soziales und egalitäres Europa entgegenzusetzen, müsse das System von übermäßigen kapitalistischen Praktiken befreit werden. Die EU sei nicht eine christliche Formation sondern eine Wertegemeinschaft, somit seien ihre regionalen und globalen Missionen wie die Unterstützung des Friedens, der Demokratie, humanitärer Systeme (z.B. im Sinne der Bekämpfung globaler Armut oder der Geflüchteten) oder der Dialog zwischen Kulturen und Religionen wichtiger. Die EU müsse in ihren Institutionen verstärkt werden und könne so gegebenenfalls – etwa durch die Vertiefung der deutschen und französischen Zusammenarbeit – Einspruch gegen die USA erheben und den Dialog mit Russland entwickeln. Zusammengefasst betont die
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SPD ein besseres, sozialeres und demokratischeres Europa sowie mehr Frieden und Stabilität in der Welt (SPD, 2017: 92–113). Die SPD hat in den letzten Jahren ihre Befürwortung eines Türkeibeitritts anscheinend taktisch geändert, wobei es ihr nicht leichtzufallen scheint, ihre Beziehung mit der Türkei neu zu definieren: „Eine besondere Herausforderung für uns ist die Zusammenarbeit mit der Türkei. Die Türkei ist in vielen Bereichen ein wichtiger, wenngleich mittlerweile sehr schwieriger Partner. Die gegenwärtigen Entwicklungen in der Türkei sehen wir mit größter Sorge und verurteilen die massenhaften Verhaftungen von Journalistinnen und Journalisten und Oppositionellen sowie die Einschränkungen fundamentaler Grundrechte wie der Freiheit von Medien und Wissenschaft in aller Schärfe. Das Vorgehen der türkischen Regierung steht im Widerspruch zu den Werten der Demokratie und Rechtstaatlichkeit, die grundlegend für die europäische Wertegemeinschaft sind. Die Wahrheit ist: Weder die Türkei noch die EU sind in absehbarer Zeit für einen Beitritt zur EU bereit. Allerdings sind die Beitrittsverhandlungen das einzige kontinuierliche Gesprächsformat der EU mit der Türkei. Eine Isolierung der Türkei ist nicht im Interesse Europas. Die Stärkung der demokratischen Kräfte der Türkei ist in unserem besonderen Interesse. Wir setzen uns deshalb für Unterstützung und Reiseerleichterungen für Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft, türkisch-deutscher Unternehmen, der Wissenschaften und der Künste sowie für Journalistinnen und Journalisten ein. Klar ist: Hält die türkische Regierung an ihrem konfrontativen Kurs fest, entfernt sie die Türkei von Europa. Sollte die Türkei die Todesstrafe einführen, entscheidet sie sich offen gegen die Mitgliedschaft in der EU! Dann müssen die Beitrittsverhandlungen beendet werden.” (SPD, 2017: 92–100).
Die Alternative für Deutschland (AfD) und der EU-Beitritt der Türkei Die erst 2013 gegründete AfD wurde bereits 2017 auf Anhieb die Hauptoppositionspartei im Bundestag. Bei ihrem schnellen Aufstieg sind besonders die Euro(von 2010) und Flüchtlingskrise (von 2015) sowie ihre strikte Kritik an den EU-Organen bzw. der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkels festzuhalten (Hensel, 2017; Bebnowski, 2015). Um ihre politische Haltung besser begreifen zu können, sollte die AfD ideologisch und programmatisch detailliert analysiert werden (Lewandowsky, 2016: 45). Hier „reiht sich die AfD in die Parteienfamilie des europäischen Rechtspopulismus ein. Dessen Hauptmerkmale sind die AntiEstablishment-Orientierung und der Anspruch, den ‚wahren’ Volkswillen zu vertreten, was unter anderem in der Forderung nach ‚mehr direkter Demokratie’
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zum Ausdruck kommt. […] Auch in der Familien- und Gesellschaftspolitik vertritt die AfD stark konservative Positionen. In der Sozial- und Wirtschaftspolitik bestehen dagegen Divergenzen zwischen den Befürwortern einer eher marktliberalen oder sozialpopulistischen Linie.” Im Sinne ihrer EU-Politik betont die AfD die Begrenzung und die Rückführung der Zufluchtsursachenden (in der Asyldebatte). Im Endeffekt werde die EU durch bestimmte ökonomische, gesellschaftliche und politische falsche Forderungen nationale Strukturen der einzelnen Mitgliedsstaaten destruieren. Die AfD hält also „das Europaparlament genauso wie den Euro für überflüssig. Deutschland solle zur D-Mark zurückkehren. Streit hat es vor allem darüber gegeben, wie schnell sich die EU reformieren soll”6. Deshalb ist die AfD als EUskeptisch angenommen (Hasselbach, ebd.; Niedermayer, 2016: 186). Die AfD lehnt kategorisch einen möglichen Türkeibeitritt ab und fordert daher das sofortige Ende aller Beitrittsverhandlungen mit Ankara. Die Türkei sei weder geographisch noch kulturell oder historisch jemals ein Teil von Europa gewesen. „Die aktuellen politischen Entwicklungen geben Anlass zur Sorge und zeigen, dass sich die Türkei noch weiter von Europa und der westlichen Wertegemeinschaft entfernt hat. Die Mitgliedschaft der Türkei in der NATO ist zu beenden, […] und alle direkt und indirekt an die Türkei im Rahmen internationaler, multilateraler und bilateraler Abkommen gewährten Geldleistungen umgehend zu stoppen.” (Alternative Für Deutschland, 2017: 19). Darüber hinaus lehnt die AfD „Visaerleichterungen oder gar Visafreiheit für türkische Staatsbürger [strikt ab]. Privilegien für türkische Staatsangehörige, die auf längst überholten Verträgen beruhen – z.B. Kranken-mitversicherung von Eltern im Sozialversicherungsabkommen oder ihre ausländerrechtliche Bevorzugung nach dem sogenannten Assoziationsratsbeschluss 1/80 – müssen beendet werden. Das ganze entsprechende Abkommen der EU mit der Türkei aus dem Jahr 1963 ist aufzukündigen.” (Alternative Für Deutschland, 2017: 29). Zudem sieht die AfD den Islam im Konflikt mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. „So ist die Abhängigkeit der rund 900 DITIB-Moscheen und ihrer Imame vom staatlichen ‚Amt für Religiöse Angelegenheiten’ der Türkei (Diyanet) nicht hinnehmbar. Über die DITIB übt die autoritäre Türkei starken Einfluss auf viele in Deutschland lebende Bürger türkischer Herkunft aus […] und gefährdet die Loyalität zu unserem Staat.” (Alternative Für Deutschland, 2017: 34).
6 Hasselbach, Christoph, EU-kritische Parteien: Nation statt Union, in: https://www. dw.com/de/eu-kritische-parteien-nation-statt-union/a-47075608.
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Die Freie Demokratische Partei (FDP) und der Türkeibeitritt zur EU Die 1948 gegründete FDP betrachtet sich als die politische Repräsentantin des Liberalismus bzw. der liberalen Wählerschaft sowohl auf der deutschen als auch der europäischen Ebene. Ihre Grundziele sind u.a.: die Freiheit des Einzelnen, Eigenverantwortung, die Stärkung der Wirtschaft vor allem des Mittelstandes, mehr direkte Demokratie, stärkeres Urheberrecht, mehr Datenschutz, fairer Umgang mit Opfern einer Straftat, mehr Integrationsmaßnahmen, Marktöffnung sprich Privatisierungen, Steuerentlastungen für die Wirtschaft (Treibel, 2018: 319–331; Freckmann, 2018; Anan, 2017). Hinsichtlich der Europapolitik denkt die FDP, dass die EU sowohl bei der Verankerung der liberalen Werte bzw. Normen auf der internationalen Bühne wie Meinungsfreiheit, Menschenrechte oder Rechtsstaatlichkeit als auch bei der politischen und wirtschaftlichen Unterstützung der jeweiligen Mitgliedsstaaten auf der globalen Ebene eine bedeutsame Rolle spielen könne. Zudem müsse die Union eine starke Verwaltung aufbauen, um weltweit effektiver zu werden. Dafür solle das Europäische Parlament reformiert bzw. gestärkt werden. Unter den anderen Europapolitiken der FDP sind noch diese zu erwähnen: Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten, effektiver Schutz der EU-Außengrenzen, echte gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik in Europa und der Aufbau einer „Europäischen Armee“ und geregeltes Austrittsverfahren aus dem EuroWährungsgebiet (FDP, 2017: 108–126; Moring und Genscher, 2014). Ferner sei langfristiges Ziel ein europäischer Bundesstaat, der durch eine europaweite Volksabstimmung legitimiert wird. In Bezug auf die Mitgliedschaft der Türkei in der EU hat die FDP seit langem betont, dass, falls die Türkei die Kopenhagener Kriterien realisiere, sie wie die anderen Mitgliedstaaten der EU beitreten könne. Demgegenüber deklariert die Partei in ihrem Grundsatzprogramm von 2017 zum Beitritt der Türkei jedoch wie folgt: „Wir Freie Demokraten wollen die Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei in der bisherigen Form beenden und die Beziehungen mit der Türkei auf eine neue Grundlage enger sicherheitspolitischer und wirtschaftlicher Zusammenarbeit stellen. Denn eine von Präsident Erdoğan zunehmend autoritär regierte Türkei kann für uns Freie Demokraten kein Kandidat für eine Vollmitgliedschaft in der EU sein. Grundlage für die Mitgliedschaft in der EU sind und bleiben die Kopenhagener Kriterien. Insbesondere die darin geforderten Bedingungen für einen funktionierenden Rechtsstaat erfüllt die Türkei zurzeit eindeutig nicht. Die Türkei ist und bleibt aber als NATO-Mitglied, und als eng mit der EU vernetzter Nachbar, ein unverzichtbarer Partner,
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so, wie umgekehrt auch die Türkei auf die Kooperation mit der EU angewiesen bleibt. Wie sich in mittlerer und ferner Zukunft die gegenseitigen Beziehungen der EU und der Türkei entwickeln können, bleibt offen. Umso mehr, als die EU sich selbst in einem Veränderungsprozess hin zu Modellen mit unterschiedlichen Integrationstiefen befindet, die in der Zukunft neue Formen der Einbindung in gemeinsame europäische Strukturen bieten könnten.” (FDP, 2017: 102–103). Im Jahr 2017 gab der FDP-Chef Christian Lindner kund, dass die Türkei sich meilenweise von den europäischen Werten entfernt habe. Menschenrechte, Meinungs- und Pressefreiheit sowie Rechtsstaatlichkeit sind nicht verhandelbar. Ein EU-Beitritt der Türkei sei deshalb jenseits jeder Vorstellungskraft, so Lindner7. Dazu sollten Finanzhilfen für Ankara gestrichen werden oder nicht infrage kommen.
Die Linkspartei und der EU-Beitritt der Türkei Als parlamentarische Kraft hat die Linke sich besonders ab 2005 entwickelt. Dabei zeichnet sich ihr Selbstverständnis durch zwei Komponenten aus – demokratischer Sozialismus (nämlich die sozialrevolutionäre Demokratisierung) und soziale Gerechtigkeit (Neu, 2018: 384–401). Sie nimmt die Kritik der hegemonialen Strukturen sowohl auf der inländischen als auch der internationalen Ebene, wie die Unterstützung der wirtschaftlich und sozial unterentwickelten Teile der Gesellschaft, bzw. die Förderung des Gemeinwohls, durch die marxistischen Diskurse ins Zentrum ihrer Politik. Dies führt zum natürlichen Wettbewerb mit der SPD (Decker, 2013: 549–563). Laut der Linken müssen soziale, demokratische und friedensfördernde Reformen umgesetzt werden, um zerstörerische Auswirkungen des Kapitalismus zu vermeiden. Außerdem sind ihre folgenden Ideen hervorzuheben: Mehr interkultureller Dialog, Kampf gegen den Rechtextremismus, die Gewährung des Wahlrechts an Ausländer*innen mit dauerhaftem Wohnsitz in Deutschland, die Steigerung der staatlichen Investitionen und die Nicht-Beschädigung der unteren Klassen und der verschiedenen Kulturen (Oppelland und Träger, 2014). Im Zuge der Europapolitik schlägt die Linkspartei ein alternatives sozialistisches Modell vor bzw. fordert einen solidarischen, friedlichen, demokratischen, ökologischen Neustart beim Aufbau der EU. Kapitalismus, Brüsseler Bürokratie, Totalitarismus und Militarisierung sind ihre Kernkritikpunkte. Daher sei die EU 7 Welt, „Ein EU-Beitritt der Türkei ist jenseits jeder Vorstellungskraft“, https://www. welt.de/politik/-ausland/article166995777/Ein-EU-Beitritt-der-Tuerkei-ist-jenseitsjeder-Vorstellungskraft.html.
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in den erwähnten Bereichen zu reformieren. Insgesamt sehen diese Sozialist*innen die EU als einen unvermeidlichen politischen Raum, in dem die gemeinsamen Interessen der Länder verbessert werden könnten. Sie betont, dass aber die EU-Kommission die Haushaltspolitik der EU-Staaten kontrolliert und sanktioniert. Die nationalen Parlamente seien dagegen nicht weiter zu entmachten. Die Abschnitte zur EU im Wahlprogramm 2017 können wie folgt zusammengefasst werden: Austerität für die unten, Profite für die oben; die Macht der Banken und Konzerne brechen; eine EU, in der die Parlamente entscheiden; eine EU, die gute Arbeit und soziale Rechte schafft; gleichwertige Lebensverhältnisse schaffen; keine Europäische Union der Aufrüstung und Militarisierung; sichere Fluchtwege und Schutz der Menschenrechte statt Krieg gegen Flüchtlinge (Die Linke, 2017: 101–107). Die Linkspartei ist wegen dieser Auffassungen als EU-skeptisch zu bewerten (Niedermayer, 2016: 177–178; 186). Im Zusammenhang des Türkeibeitritts in die EU hat auch diese Partei ihre Meinung geändert und fordert nun das Ende der Beitrittsgespräche mit der Türkei. Im Jahr 2010 unterstrich Lothar Bisky, der damalige Parteiführer der Linken sowohl in Europa als auch in Deutschland, dass „es nicht unterschiedliche Kriterien für den Türkeibeitritt zur EU geben soll. Dazu soll dieser Prozess unumkehrbar gemacht werden“ (Bisky, 2010: 248–258). Hierzu solle die Türkei vor allem die Gewährung der unterschiedlichen Kulturen, die Gerechtigkeit in der Einkommensverteilung, die „Minderheitenrechte“ wie die der Kurden und die Pressefreiheit beachten. 2017 wendet die Linke sich dagegen, „EU-Beitrittsverhandlungen mit autoritären Regimen wie im Falle der Türkei zu intensivieren. Wir treten für eine radikale Wende der deutschen und europäischen Türkeipolitik ein. Wir stehen an der Seite der Demokraten in der Türkei und fordern einen sofortigen Stopp der Rüstungsexporte und der Lieferungen von Rüstungsfabriken. Die Linke setzt sich für die Freilassung der politischen Gefangenen in der Türkei ein und steht allen Versuchen, dem türkischen Staatspräsidenten Erdoğan unter die Arme zu greifen, wie mit einer Erweiterung der Zollunion, entgegen. Der von der Bundeskanzlerin Merkel vorangetriebene EU-Türkei-Deal [bezogen auf die Flüchtlinge, İ.E.] muss aufgekündigt werden” (Die Linke, 2017: 100). Einige Abgeordnete der Linke fordern dabei, den Namen der PKK von der Liste der Terror-Organisationen in Europa zu streichen. Dazu sei die Türkei als ein NATO-Mitglied nicht als die Gendarmerie des Westens gegen „den Terror des Islam” anzusehen. Ferner kontrolliere die türkische Regierung über die Türkisch-Islamische Union DITIB die Türkeistämmigen in Deutschland und behindere somit die weitere Integration der Deutschtürk*innen.
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Das Bündnis 90/Die Grünen und der EU-Beitritt der Türkei Seit 1983 agieren die Grünen als eine Partei im Bundestag und mit den parteiprogrammatisch gleichen Parteien der EU-Staaten auf der europäischen Ebene. Bei der Entstehung der Grünen spielten die Proteste der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen gegen Umweltzerstörung, die Nutzung der Kernenergie und die atomare Hochrüstung eine bemerkenswerte Rolle (Klein und Falter, 2003; Kleinert, 1992). Die primären Grundannahmen der Grünen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Solidarische und ökologische Zukunft; Freiheit, Gleichheit und sozialer Ausgleich; direkte Demokratie, mehr Datenschutz, multikulturelle Gesellschaft gegen rechtsextremes Gedankengut, Akzeptanz von Doppelstaatler*innen, mehr Geflüchtete aufnehmen, die Verringerung der destruktiven Effekte von kapitalistischen Strukturen, etwa weniger Abgaben vom Lohn oder mehr Mitbestimmung von Arbeitnehmer*innen. Im Sinne der Europapolitik der Grünen scheint eine nicht von bürokratischen und zentralistischen Tendenzen überwältigte, vereinigte und kompetente EU wichtig, um ihre grünen Ziele auf dem nationalstaatlichen, europäischen und globalen Dreieck zu verwirklichen. „Heute ist die EU eine Garantin für den Frieden und für unsere universellen Werte. Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Geschlechtergerechtigkeit, Religionsfreiheit, Achtung der Menschenwürde, Menschenrechte, Toleranz, soziale Marktwirtschaft.” (Bündnis 90/Die Grünen, 2017: 68). Sie unterstreichen dabei: für ein starkes Europa gegen Spaltung und autoritäre Tendenzen; in ein ökologisches und soziales Europa investieren; für mehr Transparenz, mehr Engagement und ein starkes EU-Parlament; die EU als handlungsfähige Akteurin in der Außen-, Entwicklungs- und Sicherheitspolitik. Zudem seien die effektiven Organe der EU ein Instrument für das Ideal des Aufbaus einer „besseren Welt“. Die Notwendigkeit eines internationalen / grenzüberschreitenden Akteurs wie der EU sei offen insbesondere bei der Suche nach gemeinsamen Lösungen für Probleme, die den Nationalstaaten nicht auskommen (z. B. Klimawandel, Menschenhandeln, Kulturkampf usw.). Im Hinblick auf den EU-Beitritt der Türkei unterstützen die Grünen eine eventuelle Mitgliedschaft der Türkei im Prinzip. Dabei sei aber die Erfüllung der Kopenhagener Kriterien entscheidend. Eine demokratische und stabile Türkei sei auch der Gewinn für ein „grünes” Europa. Sowohl bei der Vertiefung der friedlichen Beziehungen zur islamischen Welt als auch bei der Effektivierung der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik Europas könne die Türkei einen großen Beitrag leisten. Demgegenüber seien sowohl einige Vorurteile und mangelnde Kenntnisse über die Türkei und den Islam als auch wachsende nationalistische Tendenzen in nicht wenigen europäischen Ländern nicht zu
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vergessen. Obwohl der türkische Mitgliedschaftsprozess im Jahre 2005 begann, gibt es kaum Fortschritte. Inzwischen habe sich die „Türkei von Erdoğan” von der EU distanziert. Daher brauche es nun eine grundlegende Bewertung der europäisch-türkischen Beziehungen. „Wir Grüne stehen [im Jahre 2017, İ.E.] auch weiterhin fest an der Seite derjenigen in der Türkei, die für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Weltoffenheit eintreten. Wir verurteilen die von Erdogan eingeschlagene Politik hin zu einem autoritären Präsidialsystem, die massiven Angriffe auf Oppositionelle, auf die Zivilgesellschaft, auf die Meinungs- und Pressefreiheit. Der Krieg des türkischen Militärs und der Terror der PKK im Südosten der Türkei werden auf dem Rücken der Zivilgesellschaft ausgetragen. […] Darum werden wir deutsche Rüstungsexporte in die Türkei stoppen. […] Verhandlungen über eine Ausweitung der Zollunion kann es erst geben, wenn die Türkei eine Kehrtwende zurück zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit vollzieht.” (Bündnis 90/Die Grünen, 2017: 76).
Fazit Die Haltungen der deutschen Parteien im derzeitigen Bundestag über einen Türkeibeitritt zur EU können wie folgt zusammengefasst werden: Die Unionsparteien als die Regierungsakteur*innen nehmen die Türkei als Partnerland generell ernst, aber aus der bilateralen zwischenstaatlichen Perspektive, nicht über eine mögliche EU-Mitgliedschaft. Parallel versuchen sie zur Gewährleistung der Sicherheit Deutschlands und Europas, sich in den von ihr als nützlich gesehenen Themen – z. B. Migration bzw. Zuflucht-Suchende, Wirtschaft oder Außenpolitik – mit der Türkei abzustimmen. In den letzten Jahren betont die CDU die Richtigkeit ihrer bisherigen Thesen bezogen auf einen Türkeibeitritt, da die Türkei die Kriterien für die EU-Mitgliedschaft mit den autokratischen Tendenzen nicht mehr erfülle. Dagegen fordert die CSU das sofortige Ende der Beitrittsgespräche und befürwortet, dass die Beziehungen zu diesem NATO-Mitgliedstaat konstruktiver gestaltet werden sollten. Die SPD war ursprünglich gegenüber einem möglichen Türkeibeitritt aufgeschlossen, den sie für die demokratische Konsolidierung der Türkei, für die Verbesserung der Besonderheit der Wertegemeinschaft der EU, für die tiefgreifenden Interaktionen der Beziehungen zwischen der EU und der islamischen Welt und die demokratische Transformation der Islamischen Welt nötig sah. Allerdings kritisiert die SPD in den letzten Jahren die türkische Regierung hart und behauptet, dass Präsident Erdoğan mit den autoritären Praktiken die Türkei von der EU entfernt habe. Für den Erhalt der EU-Mitgliedschaftsperspektive spielte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder im Jahre 1999 eine
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grundlegende Rolle. 2017 befürwortet die SPD das Ende der Mitgliedschaftsverhandlungen, weil die EU dadurch den demokratischen Charakter der Union der Türkei endlich beweisen könne und sagt, dass die Türkei reformorientiert bleiben solle. Die AfD sieht die Türkei kulturell nicht europafähig und agiert durch die Fokussierung auf die kontroversen Themen – u.a. nationale Souveränität, den wirtschaftlichen Rückgang, die gesellschaftliche Entfremdung, die kulturelle Erosion sowohl gegenüber der EU als auch dem Türkeibeitritt. Sie akzeptiert keinesfalls Visaerleichterungen und Geldüberweisungen für die Türkei. Falls die Türkei sich nicht als „Neu-Osmanen“ sehe, dürfe sie NATO-Mitglied bleiben, so der jetzige AfD-Vorsitzende Alexander Gauland8. Nach der FDP kann die Türkei grundsätzlich ein Mitglied der EU werden, aber nicht unter den aktuellen Umständen. Der Beitrittsprozess bleibt für die Türkei offen. Deswegen muss sie eine demokratische Ordnung schaffen. Darüber hinaus sollte die Türkei die Kriterien des gemeinschaftlichen Besitzstandes der EU übernehmen und diese auf ihrer rechtlichen Ebene verwirklichen. Jedoch zeigen sich in der Türkei nach der FDP ernsthafte Defizite im Sinne der fundamentalen liberalen Werte, auf die für europäische Gesellschaften nicht zu verzichten sei. Andererseits dürfe Europa die geopolitische und ökonomische Bedeutsamkeit der Türkei nicht vergessen und neue Kooperationen entwickeln. Laut der Linkspartei ist die Türkei unter Erdoğan inzwischen autoritärer geworden und hat nicht viel auf dem Weg zur EU zurückgelegt. Zum Beispiel erfahren verschiedene Kulturen und die Oppositionsgruppen in der Gesellschaft immer noch ernsthafte Probleme. Aus diesen Gründen schlägt sie eine radikale Änderung in den EU-Türkei-Beziehungen vor. Es ist hier anzumerken, dass diese Haltung, wie im Fall der CSU und der AfD, bezüglich der ernsthaften Probleme in den Türkei-EU-Beziehungen keine effektiven Lösungen bietet. Die Grünen sehen das Potenzial der Türkei sowohl für die islamische als auch für die westliche Welt und betrachten einen möglichen Türkeibeitritt für beide Seite zum größten Teil als eine positive Entwicklung. Dafür müsse aber die Türkei ihre Hausaufgaben machen. Daneben sei nicht nur die „Erdoğan-Türkei” sondern auch „die Türkei mit ihren demokratischen Gesellschaftsteilen” zu beachten, um dieses Beitrittsland zu beurteilen. Für die Grünen wäre es ein falsches Signal an die proeuropäischen und demokratischen Kräfte in der Türkei,
8 Gauland, Alexsander, „Türkiye’nin NATO üyeliği devam etmeli”, https://www. dw.com-/tr/gauland-t%C3%BCrkiyenin-nato-%C3%BCyeli%C4%9Fi-devam-etmeli/ av-40126875
Die Positionen der deutschen Parteien
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die Beitrittsgespräche jetzt komplett abzubrechen. Für eine demokratische und weltoffene Türkei müssten die Türen zur EU offen bleiben. Der wichtigste Grund für den Meinungs- und Haltungswechsel der Parteien in der Beitrittsfrage sind die seit dem Jahr 2013 erlebten Spannungen in den deutsch-türkischen Beziehungen (Ermağan, 2017: 207–236). Alle diese Parteien gehen davon aus, dass die Türkei unter der Führung von Erdoğan autoritärer geworden ist und diese „neue“ Türkei sich von der EU entfernt habe. Man kann auch sagen, dass die Parteien außer der Parteien der Union und der AfD ihre Positionen taktisch verändert haben. Zum Schluss sind folgende Faktoren und ihre Auswirkungen auf die Haltungen der Parteien nicht zu ignorieren: zeitliche Änderungen der Haltungen der Parteien und/oder parteiinnere Differenzierungen gegenüber dem Türkeibeitritt; andere Entscheidungsfaktoren eines Türkeibeitritts, nämlich die internationale Konjunktur, außenpolitische Entwicklungen, die Einstellungen anderer staatlicher Institutionen und der öffentlichen Meinung in Deutschland und Europa, die Mitgliedschaftskriterien der EU und die Leistung des möglichen Mitglieds, die Ansichten anderer Mitglieder.
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Ebru TURHAN*
Das deutsch-französische Tandem in der Europäischen Union und die TürkeiPolitik: Gemeinsamkeiten und Unterschiede Einleitung Seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) hat die deutsch-französische Partnerschaft eine zentrale Rolle bei der Aufrechterhaltung und der Weiterentwicklung des europäischen Integrationsprozesses gespielt. Durch die Schaffung einer „Allianz innerhalb der Allianz“ (Hahm, 1999: 1) haben die beiden Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) den Umfang, Inhalt und die Bedingungen von mehreren grundlegenden Initiativen wie die Europäische Währungsunion, den Binnenmarkt und die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) zusammen definiert und festgelegt (Degner und Leuffen, 2019: 89–108; Hahm, 1999: 2). In den akademischen Debatten messen manche Expert*innen dem sogenannten deutsch-französischen Motor eine große Bedeutung bei den Prozessen der Agendabestimmung (Agenda-Setting) und Entscheidungsfindung (Decision-Making) der Union zu (u.a. Garrett, 1992: 533–560; Krotz und Schild, 2018: 1174–1193). Andere Studien deuten jedoch auf erhebliche Begrenzungen und Herausforderungen für die Aufrechterhaltung und die Funktionsfähigkeit eines deutsch-französischen Tandems innerhalb der EU hin (u.a. Kaeding und Selck, 2005: 271–290; Pedersen, 2003: 13–25). Nichtsdestotrotz weist die jüngste Unterzeichnung der Neufassung des Elysée-Freundschaftsvertrags von der Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron in Aachen im Januar 2019 auf die bilateralen Bemühungen um die Vertiefung und Reform der deutsch-französischen Partnerschaft und Solidarität bezüglich europäischer Angelegenheiten hin. Nationale und regionale Herausforderungen wie der Brexit-Prozess, die europäische Flüchtlingskrise, steigender Euroskeptizismus und Rechtspopulismus in Europa sowie die Debatten über die zukünftige institutionelle Architektur der EU spielen dabei zweifellos eine wichtige Rolle. * Dr., Koordinatorin des Jean Monnet Moduls INSITER, Türkisch-Deutsche Universität (TDU), Istanbul. Dieses Projekt wurde verwirklicht im Rahmen des INSITER Moduls und des BAP Projekts (2018BI0012) der TDU, E-Mail: [email protected]
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Die Beziehungen der Türkei mit Deutschland und Frankreich sind dynamisch, vielfältig und blicken auf eine lange Geschichte zurück. Während Frankreich 2018 siebtgrößter Handelspartner der Türkei war, galt Deutschland in dem gleichen Jahr als der wichtigste Handelspartner der Türkei mit einem bilateralen Handelsvolumen von circa 36,5 Mrd. Euro1. Nachdem zwischen Deutschland und der Türkei der Startschuss für einen „strategischen Dialog“ im Mai 2013 gegeben wurde, um die bilaterale Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern in mehreren strategischen Bereichen wie Energiepolitik, Kampf gegen Terrorismus und Wirtschaft zu vertiefen, haben die französischen und türkischen Außenminister im Januar 2014 eine gemeinsame Erklärung zur Schaffung eines strategischen Rahmens für die Zusammenarbeit zwischen der Türkei und Frankreich abgegeben2. Berlin, Paris und Ankara kooperieren intensiv und ständig in multilateralen Foren, unter anderem unter dem Dach von internationalen Organisationen wie der G-20, der Organisation des Nordatlantikvertrags (NATO) oder der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Die führenden deutschen und französischen Regierungsvertreter*innen kommen entweder am Rande von Gipfeltreffen internationaler Organisationen oder bei offiziellen Staatsbesuchen regelmäßig mit den türkischen Regierungsvertreter*innen zusammen. Es ergibt deswegen Sinn zu prüfen, ob sich das sogenannte deutsch-französische Tandem während des türkischen EU-Beitrittsprozesses auf eine einheitliche Politik einigen konnte. Dieses Buchkapitel wird sich dabei vor allem auf die Zeitperiode nach dem Auftakt der Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und der Türkei am 3. Oktober 2005 fokussieren und die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Türkei-Politik des deutsch-französischen Motors in Hinblick auf die folgenden Bereiche beleuchten: a) Eröffnung von Verhandlungskapiteln, b) Allgemeine Unterstützung für den türkischen EU-Beitrittsprozess/alternative Partnerschaftsmodelle, c) Zypern-Konflikt, d) EU-Türkei-Flüchtlingsdeal, f) Modernisierung der Zollunion zwischen der EU und der Türkei.
1 Ülkelere göre ithalat ve ihracat, http://www.tuik.gov.tr/PreTablo.do?alt_id=1046. 2 Relations between Turkey and France, http://www.mfa.gov.tr/relations-between-turkey-and-france.en.mfa.
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Der deutsch-französische Motor Europas: vom Krisenmodus zum Neustart? Warum Deutschland und Frankreich sehr wichtige und einflussreiche Kooperationspartner bei der Gestaltung, Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung des europäischen Integrationsprozesses und dem politischen System der EU sind, wird in der Literatur anhand verschiedener Kriterien und Konzepte untersucht und erklärt. Degner und Leuffen (2019: 91–93) unterscheiden zwischen drei Mechanismen, durch welche die zwei bevölkerungsreichsten und wirtschaftlich mächtigen Mitgliedsstaaten der EU die Prozesse der Agendabestimmung und Entscheidungsfindung innerhalb der Union erheblich beeinflussen können: a) Vorbestimmung von gemeinsamen Präferenzen über mögliche politische Optionen bezüglich einer bestimmten Angelegenheit und somit die Einschränkung der Anzahl von möglichen politischen Optionen für die restlichen Mitgliedsstaaten; b) die Realisierung von bilateralen zwischenstaatlichen Verhandlungen zwischen Berlin und Paris, um in Hinblick auf die manchmal voneinander abweichenden Präferenzen und Interessen auf einen gemeinsamen Nenner kommen zu können; und c) die strukturellen Machtressourcen von Deutschland und Frankreich, durch welche die beiden Länder bei den zwischenstaatlichen Verhandlungen in der EU über große Vorteile gegenüber anderen Ländern verfügen. In ähnlicher Weise bezeichnet Schild (2010: 1386–1387) die strukturellen Machtressourcen von Frankreich und Deutschland, informelle Legitimität der deutsch-französischen Führung in der EU sowie die eher informellen und zwischenstaatlichen Verhandlungs- und Entscheidungsprozesse in den einflussreichen zwischenstaatlichen EU-Institutionen (Europäischer Rat und Ministerrat) als die wichtigsten Instrumente des deutsch-französischen Motors in der EU. Neben strategischen und interessenorientierten Argumenten wie strukturelle Machtverhältnisse innerhalb der EU, intergouvernementale Verhandlungen und Übereinstimmung der französischen und deutschen Präferenzen wurden von bestimmten Fachkreisen ebenso normative Argumente benutzt, um den deutsch-französischen Einfluss in der EU zu begründen. Dabei haben vor allem normative Argumente wie die historischen gemeinsamen Erinnerungen von Deutschland und Frankreich, Identitäten und die gemeinsame Wahrnehmung der langjährigen bilateralen Kooperation als eine Norm eine zentrale Rolle gespielt (Hahm, 1999: 22). Obwohl die deutsch-französische Partnerschaft innerhalb der EU von vielen als ein Erfolgsmodell für Allianzbildung betrachtet wird, ist auch zu berücksichtigen, dass das Tandem vorwiegend im letzten Jahrzehnt und insbesondere nach
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dem Beginn der Eurokrise an Konvergenz und somit gemeinsamem Einfluss in der EU in gewissem Maße verloren hat. Die unterschiedlichen Positionen der beiden Länder im Eurozonen-Krisenmanagement, begleitet von Deutschlands von der Krise am wenigsten betroffenen wirtschaftlichen Stärke, haben zu einem Ungleichgewicht im deutsch-französischen Tandem geführt (Mourlon-Druol, 2017: 2) und den Alleingang Deutschlands in der EU beim Umgang mit der Eurokrise (Turhan, 2016a: 26) gefördert. Die zunehmende Divergenz zwischen Deutschland und Frankreich in Bezug auf Politikpräferenzen und die zunehmende Annäherung zwischen Frankreich und anderen EU-Mitgliedsstaaten wurden als der Untergang von „Merkozy“ (ein Begriff, der sich aus den Namen von Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem damaligen französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy zusammensetzt) beschrieben (Schoeller, 2018: 1031). Trotz zunehmender Differenzen zwischen Deutschland und Frankreich im letzten Jahrzehnt scheint es, als würde das deutsch-französische Tandem in den letzten Jahren insbesondere nach dem Machtwechsel in Frankreich im Mai 2017 mit der Übernahme des Amtes des Staatspräsidenten durch Emmanuel Macron und in Hinblick auf den näher rückenden Brexit auf einen Neustart und eine bessere Funktionsfähigkeit bezüglich der Politikgestaltung auf europäischer Ebene zielen. Das spiegelt sich vor allem in den jüngsten Erklärungen der deutschen und französischen Geschäftswelt (Bundesverband der Deutschen Industrie, 2018) und der Unterzeichnung der Neufassung des Elysée-Freundschaftsvertrags von Merkel und Macron im Januar 2019 wider. Unter Berücksichtigung der jüngsten Bemühungen um die Neubelebung des deutsch-französischen Motors in der EU und den allgemeinen Einfluss des Tandems auf die Prozesse der Entscheidungsfindung und Politikgestaltung auf europäischer Ebene seit dem Beginn des europäischen Integrationsprozesses ergibt es Sinn zu prüfen, ob sich das deutsch-französische Tandem auf eine einheitliche Politik einigen konnte in Bezug auf die EU-Türkei-Beziehungen im Allgemeinen, und auf den türkischen EU-Beitrittsprozess im Besonderen. Die Studie wird sich dabei auf die Analyse der Türkei-Politik des Tandems hinsichtlich fünf a priori ausgewählter Themenbereiche konzentrieren.
Die Türkei-Politik des deutsch-französischen Motors – Eine Analyse der strategischen Themenbereiche für die EU-TürkeiBeziehungen: Eröffnung von Verhandlungskapiteln Nach dem Beginn der Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und der Türkei am 3. Oktober 2005, welche insbesondere die Eröffnung und das Schließen
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der 35 Kapitel des EU-Acquis Communautaire seitens des Ministerrates anhand von Empfehlungen der Europäischen Kommission umfassen, haben Frankreich und Deutschland zeitweilig zusammen und zeitweilig voneinander getrennt entweder als Vetospieler oder treibende Kräfte (driving forces) eine sehr wichtige Rolle bei der Gestaltung des türkischen EU-Beitrittsprozesses gespielt. Was die Ausübung des Vetorechtes gegen die Eröffnung von neuen Verhandlungskapiteln im Ministerrat betrifft, wurde Frankreich ein sehr einflussreicher und richtungsweisender Vetospieler in den EU-Türkei-Beziehungen zwischen 2007 und 2013. Der vorherige Staatspräsident Sarkozy hatte 2007 unmittelbar vor der Durchführung von zwei Beitrittskonferenzen mit der Türkei, auf welchen neue Verhandlungskapitel eigentlich eröffnet werden sollten, seine persönliche und unilaterale Blockade der Eröffnung von fünf konkreten Kapiteln (11, 17, 22, 33, 34) in den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei angekündigt (Bacia, 2007). Dieses erste unilaterale Veto hat eine zentrale Rolle im weiteren Verlauf des türkischen EU-Beitrittsprozesses gespielt und ist bis heute richtungsweisend, da das französische Veto anderen Mitgliedsstaaten der EU als Beispiel gedient (Turhan, 2016b: 469) und signalisiert hat, dass es möglich ist, den de jure völlig technischen Beitrittsprozess wegen komplett unilateralen, persönlichen oder strategischen Motiven zu blockieren, ohne dabei den normativen Aspekt der EU-Konditionalität zu berücksichtigen. Interessant ist dabei auch die Tatsache, dass das Veto Frankreichs gegen die Eröffnung des 17. Kapitels zum Thema „Wirtschafts- und Währungspolitik“ während der Ratspräsidentschaft Deutschlands und trotz deutscher Unterstützung für die Eröffnung dieses Kapitels stattgefunden hat (Bacia, 2007). Dies deutet auf der einen Seite darauf hin, dass Deutschland und Frankreich sich nicht immer einig in der Türkei-Frage gewesen sind. Auf der anderen Seite signalisieren die Abwesenheit einer offiziellen deutschen Kritik am französischen Veto für mehrere Jahre und die deutsche Forderung nach der Eröffnung eines neuen Kapitels (Kapitel 22 zum Thema Regionalpolitik und Koordination der strukturpolitischen Instrumente) in den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei3 erst nach der Aufhebung des Vetos seitens der französischen Regierung unter der Leitung des damaligen Staatspräsidenten François Hollande 2013 (Financial Times, 2013), dass Deutschland und Frankreich trotz mancher Differenzen
3 EU/Türkei: Neues Verhandlungskapitel eröffnen, Bundeskanzlerin.de, 23 Februar 2013, https://www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/mediathek/die-kanzlerin-direkt/eu-tuerkeineues-verhandlungskapitel-eroeffnen-1009932.
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ihr Verhalten aufeinander abstimmen und auf ein harmonisches Vorgehen zum Thema Türkei und EU-Beitritt achten. Im Gegensatz zu Frankreich wurde Deutschlands Funktion als ein wichtiger Vetospieler in der Gestaltung der türkischen Beitrittsverhandlungen zum ersten Mal Mitte 2013 sichtbar, als die deutsche Regierung trotz ihrer vorherigen Ansagen zur Unterstützung der Eröffnung von Kapitel 22 und gegen den Willen der anderen EU-Mitgliedsstaaten die Aufnahme von Gesprächen im Kapitel 22 zwischen Juni 2013 und Oktober 2013 vorübergehend blockiert hat (Turhan, 2016b: 470). Wie im Fall des französischen Vetos wurde das deutsche Veto von der anderen Partei (Frankreich) gar nicht kritisiert. Deutschland hat sich in den letzten Jahren zu einem noch sichtbareren und entschlosseneren Akteur in den EU-Türkei-Beziehungen entwickelt, was sich in zwei Entwicklungen widergespiegelt hat. Erstens hat die deutsche Regierung 2015–2016 eine Schlüsselrolle gespielt bei der Eröffnung von neuen Verhandlungskapiteln als Gegenleistung für die türkische Beteiligung an der Bewältigung der Flüchtlingskrise, dem sogenannten „Flüchtlingsdeal“ zwischen der EU und der Türkei (Turhan, 2017: 197). Zweitens leistet Deutschland in den letzten Jahren noch größeren Widerstand dagegen, dass dem türkischen Beitrittsprozess neue Schwungkraft verliehen wird. In dem Koalitionsvertrag vom Februar 2018 wird nämlich öffentlich betont, dass die deutsche Regierung, was die Beitrittsgespräche mit der Türkei angeht, die Eröffnung und die Schließung von Verhandlungskapiteln aufgrund ihrer Kritik an der Lage der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei nicht unterstützen wird (CDU, 2018: 150).
Allgemeine Unterstützung für den türkischen EU-Beitrittsprozess: Alternative Partnerschaftsmodelle Was die allgemeine Unterstützung für den türkischen EU-Beitrittsprozess betrifft, lässt sich insgesamt festhalten, dass es zwischen den offiziellen Haltungen der beiden Regierungen keine großen Unterschiede in der Verhandlungsphase (von 2005 bis heute) gibt. Während Bundeskanzlerin Merkel seit der Eröffnung der Beitrittsverhandlungen immer wieder öffentlich ihre persönliche Skepsis vor einer türkischen Vollmitgliedschaft in der EU betont4, weist sie auch darauf hin, dass die deutsche Bundesregierung am Grundsatz „Pacta
4 Siehe zum Beispiel, Merkel sieht EU-Beitritt der Türkei weiter skeptisch, EurActiv, 4. Februar 2014, https://www.euractiv.de/section/erweiterung-und-nachbarn/news/ merkel-sieht-eu-beitritt-der-turkei-weiter-skeptisch/.
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sunt servanda“ festhält5 und somit kein alternatives Partnerschaftsmodell offiziell hervorhebt. Der französische Staatspräsident Sarkozy hat dagegen während seiner Amtszeit (2007–2012) klar und deutlich die Gestaltung eines alternativen Dialogmechanismus‘ zwischen der Türkei und der EU außerhalb des Rahmens des Beitrittsprozesses empfohlen6 und so darauf hingezielt, den Beitrittsprozess mit Hilfe von unilateralen Vetos gegen die Eröffnung von kritischen Verhandlungskapiteln zu bremsen. Der nächste Staatspräsident Hollande hat zwar gegen eine potenzielle türkischen EU-Mitgliedschaft keinen eindeutigen Widerstand gesetzt und die Aufrechterhaltung des Beitrittsprozesses unterstützt7. Allerdings hat Hollande bis zum Wandel der syrischen Flüchtlingskrise von einer Krise der MENA-Region hin zu einer europäischen Krise die Eröffnung der von Sarkozy blockierten Kapitel (mit der Ausnahme vom Kapitel 22, das im November 2013 eröffnet wurde) auch nicht unterstützt. Der französische Staatspräsident begründete dies mit der Argumentation, dass es besser wäre, wenn Zypern sein Veto gegen das Kapitel zum Thema Justiz und Grundrechte aufheben würde8. Diese Argumentation stellte in einer gewissen Weise einen Gegensatz zum normativen Charakter der EU-Konditionalität dar, weil einige der von Frankreich blockierten Kapitel laut der Fortschrittsberichte der Europäischen Kommission9 bereits vor Jahren einen fortgeschrittenen Stand der Angleichung an EU-Acquis Communautaire erreicht hatten. In den letzten Jahren hat sich die deutsche und französische Skepsis in Hinsicht auf eine türkische Mitgliedschaft in der EU zum offiziellen Widerstand 5 Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel auf der neunten Ordentlichen Mitgliederversammlung der Türkisch-Deutschen Industrie- und Handelskammer am 25. Juni 2013 in Berlin, Die Bundesregierung, 25. Juni 2013, https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/rede-von-bundeskanzlerin-dr-angela-merkel-799574. 6 Turkey not fit for EU accession: Sarkozy, Deutsche Welle, 26. Februar 2011, https:// www.dw.com/en/turkey-not-fit-for-eu-accession-sarkozy/a-14875593. 7 France’s Hollande cautiously backs Turkey EU membership bid, Reuters, 27. Januar 2014, https://www.reuters.com/article/us-france-turkey/frances-hollande-cautiously-backsturkey-eu-membership-bid-idUSBREA0Q1EV20140127. 8 Hollande declines to open new EU chapter in Turkey, Reuters, 28. Januar 2014, https:// euobserver.com/foreign/122889. 9 Siehe zum Beispiel die Angleichung im Kapitel 17, European Commission, Commission Staff Working Paper Turkey 2011 Progress Report. Communication from the Commission to the European Parliament and the Council, SEC (2011) 1201, Brussels, 12. Oktober 2011, S. 76.
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gegen die Umsetzung der weiteren technischen Schritte, die zur türkischen EU-Vollmitgliedschaft führen würden, und zur Hervorhebung eines möglichen alternativen Partnerschaftsmodells zwischen der EU und der Türkei entwickelt. Obwohl beide Parteien des Tandems eine eher negative Haltung zum türkischen Beitrittsprozess einnehmen, reagieren Deutschland und Frankreich gewissermaßen unterschiedlich auf den Prozess. Die deutsche Regierung betont zwar in dem Koalitionsvertrag ihren eindeutigen Einspruch gegen die Eröffnung und die Schließung von Verhandlungskapiteln, schlägt offiziell jedoch kein alternatives Dialogmodell für die EU-Türkei-Beziehungen vor, welche außerhalb des Rahmens einer EU-Mitgliedschaft gestaltet werden würde. Dahingegen plädiert der aktuelle französische Staatspräsident Macron seit einiger Zeit für den Aufbau eines alternativen Partnerschaftsmodells zwischen der EU und der Türkei, mit dem Argument, dass das jetzige Modell in den kommenden Jahren kein konkretes Ergebnis zulasse10. Der französische Vorschlag ist auf vehemente Kritik in Ankara gestoßen11.
Zypern-Konflikt Die folgenden Regierungen von Deutschland und Frankreich haben meist eine ähnliche Haltung zur Zypern-Frage gehabt und in kritischen Zeiten ihr Verhalten anhand bilateraler Treffen koordiniert. Zweifellos ist die Entscheidung des Ministerrates (des Rates Allgemeine Angelegenheiten) vom 11. Dezember 2006 über die vorläufige Aussetzung der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei in acht Kapiteln (Council of the European Union, 2006) ein sehr wichtiger und wegweisender Wendepunkt in den EU-Türkei-Beziehungen gewesen. Diese Entscheidung hat nämlich eine politische Lösung des Zypern-Konflikts in einen wichtigen Faktor für eine erfolgreiche Vollendung des türkischen Beitrittsprozesses verwandelt. Voraussetzung für die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei im Oktober 2005 war die Ausweitung der Zollunion zwischen der EU und der Türkei auf Zypern. Demzufolge hatte Ankara am 29. Juli 2005 ein Zusatzprotokoll zur Ausweitung der Zollunion auf alle EUMitgliedsstaaten unterzeichnet, welches sie jedoch später mit der Begründung 10 Macron suggests ‘partnership’ with EU for Turkey, not membership, France24, 5. Januar 2018, https://www.france24.com/en/20180105-french-president-macronsuggests-partnership-deal-turkey-eu-not-membership-erdogan. 11 MFA regrets Macron’s remarks targeting Turkey, EU process, Daily Sabah, 28. August 2018, https://www.dailysabah.com/diplomacy/2018/08/28/mfa-regretsmacrons-remarks-targeting-turkey-eu-process.
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nicht implementiert hatte, dass der Ministerrat sein Versprechen vom April 2004 bezüglich der Ermöglichung von direkten Handelsbeziehungen zwischen der EU und dem türkisch-zyprischen Teil der Insel nicht gehalten hat (Kramer, 2007: 3). In den EU-weiten Debatten und Verhandlungen über die möglichen Konsequenzen der Nichterfüllung der vertraglichen Verpflichtungen für die Türkei haben sowohl Deutschland als auch Frankreich eine eher härtere Linie im Vergleich zu anderen einflussreichen Mitgliedsstaaten wie Großbritannien verfolgt und ihre Reaktionen koordiniert. Während Großbritannien die Aussetzung von Gesprächen in den drei mit der Zypern-Frage verbundenen Kapiteln forderte (The Guardian, 2006), verlangten Deutschland und Frankreich die Aussetzung von Verhandlungen in etwa der Hälfte der Kapitel und die Festlegung einer 18-monatigen Frist für Ankara für die Umsetzung des Zusatzprotokolls und drohten damit, andernfalls die Beitrittsgespräche zu beenden (Bloomberg, 2006). Trotz der Präferenzen des deutsch-französischen Tandems hat die Europäische Kommission eine Kompromiss-Lösung gefunden und die Aussetzung der Gespräche in acht Kapiteln vorgeschlagen, um einen potenziellen Zusammenstoß zu verhindern. Diesen Vorschlag hat der Ministerrat akzeptiert. Nach der unilateralen Blockade der Eröffnung von sechs weiteren Verhandlungskapiteln durch Zypern im Jahr 2009 haben die deutschen und französischen Staats- und Regierungschefs immer wieder die zentrale Signifikanz der Lösung des Zypern-Konflikts für den weiteren Verlauf der türkischen Beitrittsgespräche und insbesondere für die Eröffnung der von Zypern blockierten Kapitel 23 und 24 zu Justiz, Grundrechten und Freiheit betont12. Obwohl der deutsch-französische Motor in den letzten Jahren öfters seine Unterstützung für den Auftakt der Gespräche in den Kapiteln 23 und 24 bekräftigt hat, hat er diesbezüglich keine konkrete Initiative ergriffen, abgesehen von einem kurzen Versuch Merkels während der Bemühungen um die Gestaltung des Flüchtlingsdeals (Turhan, 2016b: 472).
EU-Türkei-Flüchtlingsdeal Möglicherweise ist die Bewältigung der Flüchtlingskrise und die damit verbundene Gestaltung eines Kooperationsrahmens zwischen der EU und der 12 Siehe zum Beispiel, Hollande declines to open new EU chapter in Turkey, Reuters, 28. Januar 2014, https://euobserver.com/foreign/122889, (zuletzt abgerufen: 16.03.2019); Rede der Bundeskanzlerin beim Deutsch-Türkischen Wirtschaftsforum, Die Bundeskanzlerin, 20. März 2010, https://www.bundeskanzlerin.de/ bkin-de/suche/rede-derbundeskanzlerin-beim-deutsch-tuerkischen-wirtschaftsforum-398574.
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Türkei einer der wenigen Themenbereiche gewesen, in welchem der deutschfranzösische Motor bei der Politikgestaltung keine intensive und kooperative Zusammenarbeit gewährleistet hat im Vergleich zu anderen für die EU-Türkei-Beziehungen relevanten Politikfeldern und Themenbereichen. Nach der Umwandlung der syrischen Flüchtlingskrise in eine europäische Krise im Sommer 2015 hatten die deutschen und französischen Regierungen die EU-weiten Bemühungen um Krisenmanagement anhand der Formulierung einer vertieften europäisch-türkischen Kooperation in der Flüchtlingskrise gemeinsam angestellt. In diesem Zusammenhang hatte der französische Präsident Hollande im September 2015 auf einer Pressekonferenz argumentiert, dass die Flüchtlingskrise mit einer gemeinsamen Initiative des deutsch-französischen Tandems bewältigt werden könnte13. In ähnlicher Weise hatten Merkel und Hollande im Oktober 2015 bei einem gemeinsamen Auftritt vor dem Europäischen Parlament auf die entscheidende Rolle der Türkei bei der Steuerung der irregulären Migrationsströme hingewiesen14. Aufgrund von vielen Faktoren wie dem Status Deutschlands als wichtigstes Zielland für die syrischen Flüchtlinge, den strukturellen Ressourcen und Kapazitäten von Deutschland, der mangelnden Beteiligung anderer EU-Länder am Krisenmanagement und teilweise der mangelnden Führungsverantwortung innerhalb der EU (Reiners und Tekin, 2019: 12–13; Turhan, 2017: 192) entwickelte sich Deutschland ohne Frankreich zum hauptsächlichen Architekten des „Flüchtlingsdeals“ zwischen der EU und der Türkei, welcher anhand einer gemeinsamen EU-Türkei-Erklärung am 18. März 2016 angekündigt wurde. Merkel hat eine Schlüsselrolle bei der Gestaltung der Bedingungen, des allgemeinen Rahmens und des Inhalts des Flüchtlingsdeals gespielt, indem sie zwischen Oktober 2015 und März 2016 anhand bilateraler und minilateraler Treffen öfters Vertreter*innen der türkischen Regierung und der Staaten der sogenannten Balkan-Route und Zypern mit dem Ziel konsultierte, die unterschiedlichen Akteur*innen mit verschiedenen Präferenzen in ein gemeinsames Vorhaben einzubinden15. Die deutsche Regierung war auf der einen Seite während 13 French President calls Erdoğan over images of drowned Syrian boy, calls for common EU refugee policy, Daily Sabah, 3. September 2015, https://www.dailysabah.com/ diplomacy/2015/09/03/french-president-calls-erdogan-over-images-of-drownedsyrian-boy-calls-for-common-eu-refugee-policy. 14 Merkel und Hollande beschwören europäische Solidarität, Zeit Online, 7. Oktober 2015, https://www.zeit.de/politik/2015-10/europaeisches-parlament-angela-merkel-francois-hollande. 15 Siehe für Details Turhan, Ebru, Europe’s Crisis, Germany’s Leadership and Turkey’s EU Accession Process, CESifo Forum, Band 2, Jg. 2016a, 2016, S. 25–29.
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dieses zwischenstaatlichen Verhandlungsprozesses schon in die institutionellen Strukturen der EU eingebettet, weil sie ihre Aktivitäten insbesondere mit der Europäischen Kommission, der Ratspräsidentschaft und den ausgewählten Mitgliedsstaaten koordiniert hatte (Reiners und Tekin, 2019: 13). Auf der anderen Seite deutet die Tatsache, dass die Vertreter*innen der französischen Regierung an Merkels minilateralen Treffen zwischen Oktober 2015 und März 2016 mit den anderen wichtigen Akteuren für die Bewältigung der Flüchtlingskrise gar nicht teilgenommen haben, darauf, dass der „Flüchtlingsdeal“ größtenteils als keine gemeinsame Initiative des deutsch-französischen Tandems betrachtet werden kann. Zwei führende Gründe für die Abwesenheit „einer gemeinsamen deutschfranzösischen Debatte“ über die Flüchtlingskrise waren die unterschiedlichen Prioritäten von Deutschland (Migration) und Frankreich (Terroranschläge) zu diesem Zeitpunkt und die Differenzen zwischen der humanitären Haltung Deutschlands und der sicherheitsorientierten Haltung Frankreichs zum Thema Migration (Bertoncini et al., 2017: 1).
Modernisierung der Zollunion zwischen der EU und der Türkei Angesichts der zunehmend sachlichen, verfahrenstechnischen (transactional) und interessenorientierten Natur der EU-Türkei-Beziehungen (Arısan Eralp, 2018: 1) wird der bilaterale Dialog zwischen den beiden Parteien wegen der de facto eingefrorenen Beitrittsverhandlungen in zunehmendem Maße außerhalb des Rahmens des türkischen EU-Betrittsprozesses formuliert. In diesem Zusammenhang werden die am wenigsten politisierten Politikfelder allmählich wichtiger für die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der EU-Türkei-Beziehungen. Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen der EU und der Türkei spielen dabei eine sehr wichtige Rolle. Während die politischen Beziehungen zwischen der EU und der Türkei viele Tiefen und Höhen gehabt haben, haben sich die bilateralen wirtschaftlichen Beziehungen ohne große Hindernisse schrittweise weiterentwickelt. Dabei hat insbesondere der 1995 unterzeichnete Vertrag über die Gründung einer Zollunion zwischen der EU und der Türkei eine Schlüsselrolle gespielt (Yalçın und Turhan, 2015: 32). Im Hinblick auf die institutionellen Schwächen dieses „veralteten“ Vertrages16 und die negativen Folgen der neuen Freihandelsverträge der EU mit Drittstaaten für die türkische Wirtschaft sowie die „asymmetrischen Verpflichtungen [der Türkei] gegenüber Drittstaaten bei neuen Freihandelsabkommen der EU“ (Yalçın, 2013: 33) haben 16 Customs Union Modernization, Delegation of the European Union to Turkey, https:// www.avrupa.info.tr/en/customs-union-modernisation-54.
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sich die Europäische Kommission und Ankara am 12. Mai 2015 darauf geeinigt, die Zollunion zu modernisieren. Bislang konnten die Verhandlungen zur Modernisierung des Zollunionsabkommens nicht eröffnet werden, weil der Ministerrat der Europäischen Kommission seit Dezember 2016 kein Mandat für Verhandlungen mit der türkischen Regierung erteilt. Die negative Haltung des Rats wurde noch sichtbarer mit Schlussfolgerungen des Rates von 26. Dezember 2018, welche keine weiteren Arbeiten für die Modernisierung der Zollunion mit der Argumentation vorsieht, dass die Türkei sich von der EU schrittweise entfernt habe (Council of the European Union, 2018: 13). Diese Schlussfolgerungen stimmen mit den Aussagen des aktuellen Koalitionsvertrags Deutschlands überein: „[…] eine Erweiterung der Zollunion […] ist erst dann möglich, wenn die Türkei die notwendigen Voraussetzungen erfüllt (CDU, 2018: 151).“ Genauere Beobachter*innen der EU-Türkei-Beziehungen argumentieren, dass insbesondere der deutsche Widerstand gegen die Eröffnung der Verhandlungen mit der Türkei eine führende Rolle bei dem Status Quo der laufenden Debatten zur Modernisierung der Zollunion spielt (Arısan Eralp, 2018: 5; Ülgen, 2017). Im Gegensatz zur deutschen Regierung bevorzugt Paris, öffentlich keinen harten und eindeutigen Widerstand gegen die Modernisierung der Zollunion zu leisten. Abgesehen davon deutet die französische Zustimmung zu den Schlussfolgerungen des Ministerrats von Juni 2018 darauf hin, dass sich Deutschland und Frankreich im Umgang mit der Frage der Zollunion eigentlich einig sind.
Schlussfolgerungen Obwohl die deutsch-französische Partnerschaft aufgrund von divergierenden und konvergierenden Präferenzen und Interessen ihre Tiefen und Höhen gehabt hat, hat das Tandem immer wieder viele maßgebende Beiträge zur Weiterentwicklung des europäischen Integrationsprozesses, etwa durch Einflussnahme auf Prozesse der Agendabestimmung und Entscheidungsfindung innerhalb der Union geleistet. Dabei haben die Koordinierung der deutschen und französischen Haltungen in unterschiedlichen Politikfeldern zu unterschiedlichen Themen sowie die Entwicklung von gemeinsamen Ideen und Ansätzen eine große Rolle gespielt. Kernziel dieses Beitrages war deswegen die Prüfung, ob sich das deutsch-französische Tandem auf eine einheitliche Politik in Bezug auf die EUTürkei-Beziehungen einigen konnte. Anhand der Analyse der Türkei-Politik des deutsch-französischen Motors in den fünf a priori ausgewählten Themenbereichen wurde demonstriert, dass Deutschland und Frankreich seit dem Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei im Jahr 2005 in fast allen ausgewählten
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kritischen Themenbereichen (Eröffnung von Verhandlungskapiteln, allgemeine Unterstützung für den türkischen EU-Beitrittsprozess/alternative Partnerschaftsmodelle, Zypern-Konflikt und Modernisierung der Zollunion) vorwiegend entweder eine einheitliche oder ähnliche Politik verfolgen, ihr Verhalten öfters mit Hilfe von bilateralen Treffen und Gesprächen koordinieren und ähnliche Präferenzen gehabt haben. Die Gestaltung des „Flüchtlingsdeals“ ist ein Thema gewesen, in welchem am wenigsten eine deutsch-französische Koordination vorherrschte. Die Studie hat auch demonstriert, dass auch in Zeiten, in denen Berlin und Paris über unterschiedliche Präferenzen und Haltungen verfügten, beide Parteien darauf verzichtet haben, gegenüber dem anderen Partner harsche Kritik auszuüben und stattdessen auf ein harmonisches Vorgehen geachtet haben. Die Befunde lassen deswegen auf eine große Relevanz des deutsch-französischen Motors für EU-Türkei-Beziehungen schließen.
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Kapitel V Deutsch-türkische Beziehungen im Blickfeld von Migration und Integration
Birgül DEMİRTAŞ*
Konstruktionen von Innen- und AußenIdentitäten während der Krise der syrischen Flüchtlinge: Die Fälle der Türkei und Deutschlands Einleitung Dieser Aufsatz wird die Diskurse der Entscheidunsträger*innen in der Türkei und in Deutschland in Bezug auf die syrischen Flüchtlinge analysieren. Er wird sich insbesondere auf die Diskurse von Bundeskanzlerin Angela Merkel und vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan konzentrieren. Merkel und Erdoğan können als die/der wichtigste Entscheidungsträger*in in den jeweiligen Ländern betrachtet werden. In diesem Aufsatz wird die Methode der kritischen Diskursanalyse aus der Perspektive des Poststrukturalismus benutzt. Dies wird unten näher erläutert. Die Forschungsfragen in diesem Aufsatz sind folgende: 1) Wie erklären der/die Entscheidungsträger*in die Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge? Wie legitimieren sie diese Entscheidung? 2) Welche Begriffe benutzen sie, wenn sie die Flüchtlinge definieren möchten? 3) Welche sozialen und politischen Funktionen haben ihre Diskurse? 4) Welches Selbstbild und Gegen-Bild konstruieren sie? Zuerst beschäftigt sich der Artikel mit den theoretischen Grundlagen. In diesem Rahmen werden die zentralen Annahmen der kritischen Diskursanalyse erläutert. Im zweiten Teil werden die Wirkungen der syrischen Flüchtlingskrise auf Deutschland und die Türkei analysiert. Danach werden die Diskurse der Bundeskanzlerin Merkel und des Präsidenten Erdoğan in Bezug auf die syrischen Flüchtlinge untersucht. Im Fazit werden die wichtigsten Ergebnisse der Studie zusammengefasst.
* Prof. Dr., TOBB Universität der Wirtschaft und Technologie, Fachbereich Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen, Ankara, Türkei, E-Mail: birgul.demirtas@ gmail.com
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Theoretische Grundlage Nach der kritischen Diskursanalyse kann ein Diskurs ein wichtiger Teil der Konstruktionen von Innen- und Außenpolitik sein. Die Sprache bedeutet immer weit mehr als nur die Sprache. Diskurse tragen zur Entstehung der Realität bei und führen zur Bestimmung der Innen- und Außen-Identität von Staaten. Wenn Entscheidungsträger*innen sprechen, bauen sie nicht nur ein Selbstbild auf, sondern auch das Gegen-Bild – das der “Anderen”. Die “Anderen” werden manchmal durch die Sprache marginalisiert. Sie werden als Gegner dargestellt. Manchmal sind es die Minoritäten, manchmal die Gastarbeiter*innen und heute sind es die Migranten*innen, die durch den Diskurs der Eliten sehr oft als die “Anderen” dargestellt werden. Wenn man über diese anderen Gruppen spricht, konstruiert man ein positives Selbstbild, aber gleichzeitig ein negatives Bild der “Anderen”. Die Sprache trägt zur Errichtung einer Hierarchie zwischen den Eliten und den Gruppen bei, die als “die Anderen” betrachtet werden. Im Prozess der Konstruktion der nationalen Identität in vielen Ländern wird stets dieses konstruierte Selbstbild und das unterlegte Bild der Anderen verwendet. Das war auch der Fall, als die türkischen und deutschen nationalen Identitäten gestaltet wurden. Man muss auch betonen, dass diese Identitäten immer wieder durch den Diskurs der Entscheidungsträger*innen neu produziert werden (Wodak et al., 2003). Zusätzlich kann man die Methode der kritischen Diskursanalyse auch für die Migration benutzen. Wenn Politiker*innen über Migrant*innen sprechen, konstruieren sie auch die Realität der Migration. Sie versuchen, ihre Politik durch den Diskurs für die Öffentlichkeit zu legitimieren. Der Diskurs kann eine Vorstufe für die Entstehung der Politik sein. Es ist offensichtlich, dass die Migration durch den Diskurs der Eliten versicherheitlicht (securitised) wird (Demirtaş, 2006: 5–15). Die Migrant*innen sind die neuen Anderen in verschiedenen europäischen Ländern. Obwohl es Versuche gab, eine einheitliche Politik innerhalb der Europäischen Union gegenüber Migrant*innen und den sogenannten “Migrantenstrom” zu gestalten, war dies nicht möglich, weil manche EU-Staaten wie Ungarn gar keine Migrant*innen aufnehmen wollten. Jäger betont, dass es verschiedene Diskursebenen gibt, zum Beispiel in der Politik, in den Medien, in der Wissenschaft, im Alltag, im Bildungswesen, usw. Diese verschiedenen Diskursebenen können sich gegenseitig beeinflussen (Jäger, 2012: 83–84). Der Diskurs der Politiker*innen kann Wirkung auf die Medien haben oder umgekehrt können die Medien Politiker*innen beeinflussen. Es gibt verschiedene Diskurse, auch in der Migrationsforschung: Es gibt Diskurse in Medien, Diskurse in den Protestbewegungen, Diskurse in der Kunst, Diskurse in sozialen Medien und politische Diskurse. Obwohl es unterschiedliche Diskurse
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auf verschiedenen Ebenen gibt, sind sie nicht unabhängig voneinander (Dijk, 2018: 231). Wie oben bereits erwähnt wurde, wird sich diese Arbeit auf politische Diskurse konzentrieren. Es wird davon ausgegangen, dass der Diskurs auf dieser Ebene einen sehr wichtigen Einfluss auf die anderen Ebenen haben kann. Die kritische Diskursanalyse beschäftigt sich damit, wie der Diskurs der Regierenden die Ungerechtigkeit und die wirtschaftliche Ungleichheit (inequality) in der Gesellschaft pflegt und manchmal auch intensiviert (Dijk, 1993: 249; Fairclough et al., 2004: 2; Wodak, 2003; XXXVII). Mit anderen Worten analysiert sie, wie die Regierenden an der Macht bleiben und die Regierten als solche verbleiben und wie der Diskurs zum Zweck der Pflege sowie Stärkung des Status quo dienen kann. Dieser Teil erläuterte die wichtigsten Annahmen der kritischen Diskursanalyse. Im nächsten Teil werden die Rahmenbedingungen der syrischen Krise für beide Länder analysiert.
Die Rahmenbedingungen Die Türkei und Deutschland sind von den Flüchtlingsströmen aus Syrien in den letzten Jahren stark betroffen. Die Türkei hat eine 911 Kilometer lange Grenze mit Syrien. Deswegen ist sie seit 2011 direkt betroffen vom Krieg in Syrien. Deutschland wurde seit 2015 das Ziel von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten, besonders aus Syrien, die nach Europa fliehen wollten. Seit einigen Jahren war die Türkei das Land mit der größten Zahl an Flüchtlingen, weil sie zur Gastgeberin für mehr als 3,5 Milionen Flüchtlinge wurde1. Zwischen Mitte 2015 und Mitte 2018 wurden dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in Deutschland etwa 1,300,000 Millionen Asylanträge eingereicht2. Die meisten von diesen Flüchtlingen in Deutschland kamen aus Syrien. Beide Länder haben das Abkommen über die Rechtsstellung von Flüchtlingen aus dem Jahr 1951 unterschrieben, aber die Türkei hat einen geografischen Vorbehalt. Sie akzeptiert Flüchtlinge nur dann, wenn sie aus Europa kommen. Die türkische Regierung besteht auf die Aufrechterhaltung des Vorbehalts wegen ihrer geografischen Position, die sich in einer Umgebung von Konflikt-Zonen befindet. Die meisten Konflikte, die nach dem Kalten Krieg entstanden sind,
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http://www.goc.gov.tr/icerik3/gecici-koruma_363_378_4713. https://www.sueddeutsche.de/politik/fluechtlinge-in-deutschland-drei-jahre-wirschaffen-das-eine-bestandsaufnahme-1.4110671.
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geschahen in der unmittelbaren Nachbarschaft der Türkei, etwa in Nagorno-Karabagh, Irak, Bosnien, Kosovo, Ukraine, Georgien usw3.
Diskurs der Bundeskanzlerin Angela Merkel und syrische Flüchtlinge Zuerst möchte ich den Diskurs von der Bundeskanzlerin Merkel analysieren. Merkel hat unterstrichen, dass die Flüchtlingsströme für Deutschland und Europa eine Herausforderung seien. Die Krise wurde von Merkel als ein steiniger Weg benannt, den man “mit Entschlossenheit und mit langem Atem gehen müsse”4. Sie bezeichnete die Krise als “Riesenaufgabe, eine der größten Herausforderungen in der Geschichte der Bundesrepublik”5. Der Migrationsstrom sei zwar eine “Riesenaufgabe”, aber Deutschland als Staat könne es schaffen, mit dieser Herausforderung zurechtzukommen. Zusätzlich wies sie auch darauf hin, dass es für Deutschland nicht möglich sei, einseitig zu entscheiden, “wer kommt noch und wer kommt nicht”6. Sie meinte, dass diese Flüchtlingsströme nicht zu 100 Prozent kontrolliert werden könnten. Deshalb mussten in Bezug auf diese große Krise in Deutschland und in der EU die richtigen Entscheidungen und Maßnahmen getroffen werden. Die deutsche Regierung versuchte folglich, eine einheitliche Antwort der EU auf diese Herausforderung erreichen zu können – was sich jedoch als unmöglich erwies. Auf der anderen Seite betonte Merkel, dass eine Abschottung im 21. Jahrhundert keine vernünftige Option sei7, da das Schließen der Grenzen das Problem nicht lösen würde. Merkel wollte eine andere Lösung finden als Abschottung. In einem europäischen und globalen Zeitgeist, in dem das politische Spektrum 3 Das Osmanische Reich und die Türkei sind Migrationsländer seit der Gründung der beiden Staaten. Für mehr Information über die Geschichte der Migration in der Türkei siehe M. Murat Erdoğan und Ayhan Kaya (Eds.), Türkiye’nin Göç Tarihi, 14. Yüzyıldan 21. Yüzyıla Türkiye’ye Göçler, İstanbul, 2015. Für mehr Information über die Geschichte der syrischen Flüchtlinge in der Türkei siehe M. Murat Erdoğan, Türkiye’deki Suriyeliler. Toplumsal Kabul ve Uyum, İstanbul, 2015. 4 https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/regierungserklaerung-vonbundeskanzlerin-dr-angela-merkel-454288. 5 https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/besserer-schutz-der-eu-aussengrenzen-noetig-453726. 6 https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/besserer-schutz-der-eu-aussengrenzen-noetig-453726. 7 https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/merkel-abschottung-ist-keine-option-454258.
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nach rechts orientiert ist, war es kein leichtes Unterfangen, die deutsche Öffentlichkeit davon zu überzeugen. Wie legitimierte die Bundeskanzlerin die Öffnung der Grenzen? Wie kann man das Motto “Wir schaffen das” von Merkel erklären? Merkel legitimierte es insbesondere mit dem Verweis auf die deutsche Wirtschaftskraft. Sie sagte, dass Deutschland es sich leisten könne, “weil das Land wirtschaftlich gut dastehe”8. Somit hat sie ein Deutschland-Bild gezeichnet, das sich auf die wirtschaftliche Leistung beruft. Deutschland als eine Wirtschaftsmacht wurde besonders im Diskurs betont. Man muss betonen, dass Deutschland die viertgrößte Ökonomie der Welt ist. Nach Meinung von Merkel ist es für Deutschland möglich, mit der Flüchtlingskrise zurechtzukommen, da das Wirtschaftswachstum andauern würde. Die Betonung Deutschlands als eine Wirtschaftskraft im Diskurs kann auf mindestens zwei Arten interpretiert werden: Erstens: Merkel versuchte, die deutsche Bevölkerung von der Aufnahme von Flüchtlingen zu überzeugen. Zweitens: Merkel konstruierte ein Selbstbild von Deutschland als einem überlegenen Staat und errichtete so eine Hierarchie zwischen Deutschland und den Migrant*innen. Merkel hat auch auf die demografische Größe Deutschlands hingewiesen. Deutschland hat eine Bevölkerung von 80 Millionen und könne und werde “diese Integration schaffen”9. Das kann als der zweite Faktor interpretiert werden, der die oben erwähnte Hierarchie stärken könnte. Zusätzlich bemerkte sie, dass die Deutschen eine besondere Verantwortung hätten und diese Verantwortung wahrgenommen werden müsse; letztlich sei Deutschland “allerdings auch ein größeres Land” und könne diese Herausforderung folglich meistern10. Um sich dieser Herausforderung zu stellen, müssten Bund, Länder und Kommunen zusammenarbeiten. Das sei eine nationale Aufgabe. Merkel betonte auch, dass man in Bezug auf die Flüchtlinge nicht zu klein denken dürfe11. Alle Länder werden zu unterschiedlichen Zeiten von Flüchtlingsströmen betroffen. Deshalb ist es das Beste, die Krise zu bewältigen und diese
8
https://www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/aktuelles/trotz-fluechtlingskrise-keine-steuererhoehungen-453686. 9 https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/balance-zwischen-foerdern-undfordern-205122. 10 https://www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerinmerkel-bei-der-verleihung-der-ehrendoktorwuerde-durch-die-universitaet-bern-am3-september-2015-797746. 11 https://m.bundeskanzlerin.de/bkinm-de/aktuelles/rede-von-bundeskanzlerinmerkel-zum-tag-der-deutschen-industrie-2015-des-bundesverbands-der-deutschenindustrie-e-v-am-3-november-2015-457592.
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Leute in die deutsche Gesellschaft und die Wirtschaft zu integrieren. In diesem Sinne ist die Integration der Flüchtlinge eine weitere zu bewältigende Problematik für alle Länder, die die Flüchtlinge aufnahmen. Merkel betonte sehr oft die Bedeutung der Regeln/Gesetze und des Grundgesetzes. Sie unterstrich, dass “das Willkommen an Regeln gebunden” sei12. Was Deutschland von den Flüchtlingen erwarte und worauf Deutschland Wert lege, sei sehr wichtig. Sie meinte auch, dass die deutsche “Rechts- und Werteordnung in diesen Integrationsanstrengungen vermittelt wird”13. Deutschland sei ein tolerantes und offenes Land. Aber es sei auch ein Land, in dem das Grundgesetz gilt. Um Integration zu schaffen, müsse man den Menschen vom ersten Tag an klar und freundlich sagen, welche Regeln in Deutschland gelten. Merkel hat sehr oft betont, dass die Flüchtlingskrise nicht nur ein Problem für Deutschland, sondern für ganz Europa ist. Deshalb ist die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union notwendig. Maßnahmen auf der nationalen Ebene seien nicht genug. Frontex müsste eine größere Autorität haben. Wie man sich von der Flüchtlingskrise schützen könne, sei eine wichtige Frage. Daher betonte Merkel den Schutz der europäischen Grenzen und Küsten. Die Türkei wurde in Bezug auf die Krise in Syrien von der Bundekanzlerin Merkel als Schlüsselland betrachtet, mit dem man kooperieren muss. Nicht nur Deutschland, sondern auch die EU will die Flüchtlingskrise externalisieren und den Nachbarländern wie der Türkei finanziell beistehen, so dass sie die Hauptlast von Flüchtlingen tragen können. Merkel sagte “…je besser die Lebensbedingungen für Flüchtlinge in der Türkei seien, desto weniger Flüchtlinge würden sich auf den Weg nach Europa machen”14. In diesem Kontext soll hinzugefügt werden, dass Merkel sehr oft den Begriff Flüchtlinge benutzt. Wenn man den Diskurs von der Bundeskanzlerin Merkel zusammenfassen würde, kann man Folgendes konstatieren: 1) In Bezug auf die Flüchtlingsfrage wird das Bild eines wirtschaftlich starken Deutschlands gezeichnet, wobei die ökonomische und demografische Macht Deutschlands besonders unterstrichen wird.
12 https://m.bundeskanzlerin.de/bkinm-de/aktuelles/-wir-werden-die-integration-schaffen--371414. 13 https://www.bundesregierung.de/breg-de/bundesregierung/staatsministerin-fuerkultur-und-medien/aktuelles/schnellere-verfahren-einheitlicher-ausweis-295524. 14 https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/merkel-abschottung-ist-keine-option-454258.
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2) Die Bedeutung des Grundgesetzes und der deutschen Regeln/Gesetze wurde betont. 3) Es wurde in Aussicht gestellt, dass die EU eine faire Verteilung der Flüchtlinge ermöglichen könnte. 4) Die Türkei wurde als ein Schlüsselland genannt und Deutschland wollte, dass die Flüchtlinge soweit wie möglich in der Türkei bleiben. Das ist ein Fall der Externalisierung der Migrationsfrage15. Im nächsten Teil wird der Diskurs des türkischen Präsidenten Erdoğan in Bezug auf die syrischen Flüchtlinge interpretiert.
Diskurs des türkischen Präsidenten Erdoğan und syrische Flüchtlinge In diesem Kapitel wird der Diskurs vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in Bezug auf die syrischen Flüchtlinge analysiert. Zuerst möchte ich anmerken, dass der Präsident der Türkei den Begriff Flüchtlinge selten benutzt, stattdessen bevorzugt er, sie als „Gast“ und „Brüder“ zu bezeichnen. Er betont auch, dass diese Leute, die vor dem Krieg in Syrien in die Türkei geflohen waren, nur vorübergehend in der Türkei bleiben würden. Warum die Türkei die Grenzen offen hielt und warum die Grenze für etwa vier Jahre geöffnet bleiben durfte, ist eine wichtige Frage. Hier muss man betonen, dass Erdoğan ständig auf die osmanische Geschichte und den Islam hinwies. Beispielsweise sagte er, dass die Türkei den Flüchtlingen geholfen hat, weil man im gleichen Geist gehandelt habe wie zur Zeit des Gallipoli Krieges im Jahre 191516. Die Türkei hilft den flüchtenden Menschen aufgrund der Zivilisation und des Glaubens, was eine humanitäre, gewissenhafte und islamische Aufgabe sei17. 15 Für eine Analyse über wie die EU ihre Grenzverwaltung externalisiert, siehe Melanie Bonnici Bennett, The Refugee Crisis and the EU’s Externalisation of Integrated Border Management to Libya and Turkey, EU Diplomacy Papers, College of Europe, No 6, 2018. 16 https://www.tccb.gov.tr/konusmalar/353/29794/100-yilinda-canakkale-ruhu-vegenclik-adli-ozel-programda-yaptiklari-konusma. 17 https://www.tccb.gov.tr/konusmalar/353/29591/valiler-toplantisi-munasebetiyleverilen-yemekte-yaptiklari-konusma, 15.02.2019. Für eine umfassende kritische Diskursanalyse über die AKP Rhetorik in Bezug auf die syrischen Flüchtlinge und der Einfluss der osmanischen Geschichte und der Religion Islam, siehe Rabia Karakaya Polat, Religious Solidarity, Historical Mission and Moral Superiority: Construction of External and Internal ‘Others’ in AKP’s Discourses on Syrian Refugees in Turkey, Critical Discourse Studies, Band 5, Jg. 15, 2018, S. 500–516.
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Man kann feststellen, dass der türkische Präsident auf die Normen, Werte und auch den islamischen Glauben hinwies. Seiner Meinung nach gehöre die Türkei zur “Zivilisation der Güte” (“iyilik medeniyeti”)18. Er sagte, dass die Türkei diese Leute aufnehmen musste, da sie zu dieser Zivilisation gehörten. Dieser Diskurs ist ein gutes Beispiel für die Entstehung einer hierarchischen Zuordunug des Denkens von Erdoğan. Das impliziert folgendes: Wir als Mitglied der Zivilisation der Güte gegen die “Anderen”, die Mitglieder der Zivilisation des Bösen. Diese Konstruktion “wir, die Guten”, gegen “die Anderen, die Bösen”, impliziert meistens, dass die Bösen die westlichen Länder bezeichnen. Obwohl die meisten muslimischen Länder im Nahen Osten nicht genügend Flüchtlinge aufnahmen, kritisierte der türkische Präsident sie nicht (Polat, 2018: 509–510). Von Erdoğan wurden in diesem Sinne nur die westlichen Länder kritisiert. Zusätzlich wies er sehr oft auf die Religion hin und erinnerte an einen Satz des Propheten Muhammed (Hadith): “Eine muslimische Person ist ein Bruder für die anderen Muslime. Ein Muslim wird den anderen Muslimen nichts Böses tun, sondern ihnen helfen.”19 Religion ist ein konstruierender Teil der AKP-Politik in der Innen- und Außenpolitik und das Thema Flüchtlinge ist hier keine Ausnahme. Wenn ein Land seine Flüchtlingspolitik im Einklang mit dem internationalen Recht bringen sollte, spielt die Religion eine der Hauptrollen im Diskurs der AKP-Politiker*innen, einschließlich des Präsidenten Erdoğan. Der Präsident spricht auch über die Frage, ob die Ressourcen des Landes ausreichend seien, um diese Krise zu bewältigen: “Bitte machen Sie sich keine Sorge über die Möglichkeiten und Ressourcen. Diese Nation ist mit Gottes Hilfe gütig”20. Das ist ein weiterer Hinweis auf die religiöse Rechtfertigung seines Standpunktes. Er versucht nicht, den Begriff “Macht” zu operationalisieren, sondern er gibt direkt eine religiöse Erklärung und Begründung. Ferner betrachtet der Präsident die Türkei als ein Land dahingehend, dass sie die Grenzen für alle Bedürftigten öffne, diese ernähren, ankleiden und unterbringen kann, was auf die wirtschaftliche Größe und Großzügigkeit der Türkei hinwies21. 18 https://www.tccb.gov.tr/konusmalar/353/40144/turkiye-diyanet-vakfi-uluslararasiiyilik-odulleri-toreninde-yaptiklari-konusma.html. 19 https://www.tccb.gov.tr/konusmalar/353/40144/turkiye-diyanet-vakfi-uluslararasiiyilik-odulleri-toreninde-yaptiklari-konusma.html. 20 “İmkan, kaynak konusunda endişeniz olmasın. Bu millet evvel Allah iyilikseverdir.” https://www.tccb.gov.tr/konusmalar/353/40144/turkiye-diyanet-vakfi-uluslararasiiyilik-odulleri-toreninde-yaptiklari-konusma.html. 21 “…muhtaçların tamamına kapılarını açan, onları doyuran, giydiren, barındıran bir Türkiye var.” https://www.tccb.gov.tr/haberler/410/1396/turkiyedeki-her-meselenincozum-ve-karar-yeri-tbmmdir.
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Zusätzlich zog Erdoğan auch Parallelen zwischen der islamischen Geschichte und der gegenwärtigen Situation, indem er oft betonte, dass es Ähnlichkeiten zwischen Muhacir und Ensar auf der einen Seite und syrischen Flüchtlingen sowie den türkischen Gastgeber*innen auf der anderen Seite gegeben hätte.22 Der Präsident sieht eine Ähnlichkeit zwischen den muslimischen Migrant*innen im 7. Jahrhundert und den Flüchtlingströmen aus Syrien in die Türkei. Im Fall Syrien sind die Flüchtlinge Muhacir. Die türkischen Menschen, die die syrischen Leute willkommen heißen, sind Ensar,23 womit er die türkische Politik durch die islamische Geschichte zu legitimieren sucht, um die türkische Öffentlichkeit davon überzeugen zu können, Toleranz gegenüber den Flüchtlingen zu zeigen. Auf der anderen Seite zeichnete der Präsident durch den Diskurs ein GegenBild von Europa. Europa bzw. der Westen wurde als eine Gegen-Identität konstruiert. Er kritisierte Europa und die Welt wegen der Schließung ihrer Grenzen. “Wenn die Nase ihrer eigenen Bürger bluten würde, würden sie die ganze Welt erheben. Aber sie tun gar nichts, wenn das Mittelmeer sich zu einem Flüchtlingsfriedhof verwandelt”24. “Was macht der Westen?” fragt er. Die Antwort lautet Stacheldraht. Während der Westen und Europa als ein monolithisches Wesen betrachtet werden, wird die Türkei als ein Land dargestellt, das Großzügigkeit, Güte und Gutmütigkeit vertreten würde. Der Block „Europa und der Westen“ und die geschlossenen Grenzen Europas wurden mit harschen Wörtern kritisiert, etwa mit dem Hinweis auf die Geschichte: “Europa war in Bosnien tot und es wurde in Syrien begraben”25. Dieser Diskurs spiegelt die Meinung der türkischen Öffentlichkeit wider: die meisten Leute in der Öffentlichkeit sind nämlich der Meinung, dass Europa oder der Westen gar nichts gegen die Ermordung von Muslimen unternehme. 22 Der Begriff “Muhacir” bedeutet die Muslime unter der Führung von Muhammed, die aus Mekka nach Madina fliehen musste wegen des Drucks auf die Muslime in Mekka im 7. Jahrhundert. Diese Migration nennt man in der islamischen Geschichte Hicra. Die Leute, die aus Mekka nach Madina fliehen mussten, waren Muhacir. Und die Leute in Madina, die diese Migranten willkommen hießen, wurden als Ensar betrachtet. 23 http://www.haber7.com/ic-politika/haber/1208342-cumhurbaskani-erdogan-bizlerensar-sizler-muhacir. 24 “Kendi vatandaşlarının burnu kanadığında dünyayı ayağa kaldıranlar, Akdeniz’in adeta bir mülteci mezarlığı haline dönüşmesine adeta seyirci kalıyor.” https://www. tccb.gov.tr/haberler/410/29691/insani-yaratilmislarin-en-sereflisi-goren-bir-inancinmensuplari-olarak-vicdan-pusulamizi-asla-kaybetmeyecegiz. 25 “Avrupa Bosna’da ölmüş, Suriye’de gömülmüştür.” https://www.tbmm.gov.tr/develop/ owa/genel_kurul.cl_ getir?pEid=71991.
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Dieser Teil interpretierte den Diskurs von Erdoğan aus der Perspektive der kritischen Diskursanalyse. Es wurde betont, dass der türkische Präsident oft die osmanische Geschichte und die Religion benutzte, um zu erklären, warum die Türkei mehr als 3,6 Millionen Flüchtlinge aufnahm.
Fazit Im abschließenden Teil werden die Diskurse von Merkel und Erdoğan verglichen und Schlussfolgerungen gezogen. Wie kann man die Diskurse von der Kanzlerin Merkel und dem Präsidenten Erdoğan vergleichen? Erstens: In Deutschland und in der Türkei gibt es Hinweise auf die Größe der jeweiligen Länder. Beide Politiker betonen, dass ihre Länder groß seien. Sie möchten die Öffnung der Grenzen durch die Größe ihrer Länder legitimieren. Sie beabsichtigen dadurch, in der Öffentlichkeit Toleranz gegenüber Flüchtlingen zu schaffen. Zweitens: Merkel benutzt den Begriff “Flüchtlinge” öfter, während Erdoğan selten davon Gebrauch macht. Er bezeichnet die Flüchtlinge dagegen oft als “Gäste” und “Brüder”. Ich denke, es hat mit der türkischen Politik zu tun, die die Genfer Konvention nur mit Vorbehalt anerkennt. In Deutschland weist man ständig auf die Regeln/ Gesetze und das Grundgesetz hin. Dagegen gibt es eine solche Betonung im türkischen Diskurs eher nicht. Während Merkel die Verantwortung von Bund und Ländern unterstrich, fehlt in der türkischen Politik eine diesbezügliche Ansage gänzlich. Merkel und Erdoğan sind mit der Politik der EU in Hinblick auf die Flüchtlingsfrage nicht zufrieden. Merkel übt eine sanfte Kritik gegenüber der EU aus und möchte eine faire Verteilung der Verantwortung unter den Mitgliedsstaaten zu Stande bringen. Erdoğan hingegen zeichnet ein Gegenbild des Westens und Europas in der Flüchtlingskrise und weist sehr oft auf das menschliche Gewissen und religiöse Gefühle hin. In diesem Sinne ist auch die Emotionalität im Diskurs des türkischen Präsidenten offen zu erkennen.
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Filiz KEKÜLLÜOĞLU*
Transnationalität als Türöffner für Bildungskarrieren deutsch-türkischer Akademiker*innen Einleitung Mit der Einführung des Transnationalisierungsansatzes in den 1990ern lässt sich in der deutschsprachigen Migrationsforschung ein Paradigmenwechsel aufzeigen: Allmählich wurde erkannt, dass Migrationsprozesse nicht einmalig in eine geographische Richtung, sondern zirkulär und in mehreren Etappen verlaufen können (Vertovec 2009: 14), und dass das physische und mentale Pendeln zwischen verschiedenen Nationalstaaten „selbst zu einer genuinen alltagsweltlichen Lebenspraxis“ der Transmigrant*innen wird (Pries 2008: 196). Die Verfechter*innen des Transnationalisierungsansatzes hatten in den Anfängen ihr Augenmerk vor allem auf Migrationsbewegungen von Eliten (z.B. Diplomat*innen, Wissenschaftler*innen, akademischen Fachkräften) sowie auf Makro-Fragen wie supranationale Zusammenschlüsse gelegt (vgl. Pries, 2008). Transnationale Lebensführung der sozioökonomisch weniger privilegierten Gruppen in Deutschland – etwa von Arbeitsmigrant*innen aus der Türkei in den 1960er/70er und deren Nachkommen, die als Folge der Arbeitsmigration in einem anderen Land als ihre (Groß-)Eltern geboren wurden, sind seit Anfang der 2000er nur sporadisch in den Fokus empirischer Analysen gerückt (Krumme, 2003; Fürstenau, 2004; Goeke, 2007; Pielage und Pries, 2010; Sioutis, 2013). Das Hauptaugenmerk lag insbesondere auf Akademiker*innen, die ihr Studium bereits in Deutschland absolviert hatten und für bessere Berufsaussichten ins Herkunftsland ihrer Eltern bzw. Großeltern ausgewandert sind – oft unter dem Motto „Anwerbung hochqualifizierter Arbeitskräfte aus dem Ausland“ (Griese und Sievers, 2010). Eine dezidierte Analyse der Bildungsbiographien von Menschen, die bereits nach der Schulzeit zur Aufnahme eines Studiums ins Herkunftsland ihrer Familie ziehen und somit den transnationalen Hochschulraum erschließen, bleibt noch aus.
* Doktorandin an der Universität Hildesheim, Institut für Erziehungswissenschaft, E-Mail: [email protected]
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Der vorliegende Beitrag greift diese Forschungslücke auf und stellt Zwischenergebnisse der laufenden Doktorarbeit vor (Arbeitstitel „Wege zur Hochschule: Transnationale Bildungsbiographien zwischen Deutschland und der Türkei“). Im Fokus der Arbeit stehen biographisch-narrative Interviews mit Menschen, die nach der Beendigung der Schulzeit in Deutschland zum Studium ins Herkunftsland ihrer (Groß-)Eltern – in die Türkei – migrieren. Im Folgenden werden Pull- und Push-Faktoren beleuchtet, die eine Türkei-Migration aus Deutschland zum Zweck des Studiums ermöglichen bzw. erleichtern. Dabei wird auf ausgewählte Beispiele der kulturellen sowie sozialen Kapitalformen eingegangen, die förderlich für die Entstehung von transnationalen Lebensführungen im Bildungskontext sind. Ferner werden institutionelle sowie programmatische Bildungsrahmenbedingungen nachskizziert, die alternative – von nationalstaatlich geprägten Lebensläufen ‚abweichende‘ – Bildungsbiographien im transnationalen Sozialraum begünstigen.
Transnationalisierungsansatz Begriffserläuterung Der transnationale Ansatz umfasst diverse soziale, wirtschaftliche, politische, kulturelle, technische Aspekte der Transnationalisierung. So werden Menschen als transnational beschrieben, die sich zu unterschiedlichem Grad mit ihrem (eigenen oder familiären) Herkunfts- sowie Ankunftsland verbunden fühlen, am politischen, sozialen sowie kulturellen Leben zweier oder mehrerer Länder teilhaben, Teil von Bildungssystemen und Arbeitsmärkten in verschiedenen Nationalstaaten sind und ihre Beziehungen zu Netzwerken, Freund*innen und Verwandten über Nationalgrenzen hinweg aufrechterhalten (Schiller et al., 1995: 48). Der Begriff der Transnationalisierung beschreibt die Intensivierung „pluri-lokaler und dezentraler, dauerhafter und dichter Sozialbeziehungen und Austauschverhältnisse […], die sich über die essentialistischen Containerräume von Nationalgesellschaften hinweg erstrecken“ (Pries, 2008: 161). Transnationale Sozialräume sind nicht nur als geographische Orte zu verstehen, sondern auch als (intergenerationale) biographische Ansammlung für Wissen und Erfahrungen (Apitzsch, 2003: 65).
Paradigmenwechsel: Abwendung vom defizitären Diskurs über „integrationsunfähige Türken“ Mit dem Beginn der sozialwissenschaftlichen Migrationsforschung in Deutschland in den 1980er Jahren wurden Migrationsprozesse als ein
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Phänomen verstanden, das mit einer einmaligen Wanderung vom Herkunftsin das Ankunftsland abgeschlossen sei (Apitzsch und Siouti, 2008: 106). Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses standen vor allem Bedingungen für eine ‚gelungene Integration‘ bzw. Assimilation mit dem einseitigen Fokus auf ‚die Migrant*innen‘, ihre vermeintlichen ‚Integrationsdefizite‘ sowie ihre unilaterale Bringschuld im Hinblick auf Integration. In diesem Rahmen waren die Arbeiten des Soziologen Hartmut Esser (z.B. 1980) maßgeblich. Den regelmäßigen, dynamischen, vielschichtigen Verbindungen, Vernetzungen, Verzahnungen und Pendelbewegungen (sei es physisch oder mental via Kommunikationstechnologien) zwischen Migrant*innen und den Herkunftsgesellschaften wurde hingegen kaum Beachtung geschenkt (Vertovec, 2009). Auch wurden die „Öffnung der Orte zur Welt“ sowie die damit einhergehenden transnationalen Räume und die Diversität der Lebensentwürfe weitestgehend ausgeblendet (Yıldız, 2010: 136). Damit einhergehend war der Trend in der Migrationsforschung, türkische Migrant*innen als eine fremde, defizitäre, ungebildete und „integrationsunfähige“ homogene Gruppe und in dieser Logik die hergestellte Differenz als eine Devianz von der Norm zu konstruieren (Yıldız, 2010: 60). Im Gegensatz dazu weist der Mikrozensus für 2009 eine hohe Bildungsaspiration bei den Nachfolgegenerationen der Migrant*innen auf, die im Rahmen des Anwerbeabkommens von 1961 aus der Türkei nach Deutschland migriert sind: Die erste Generation der türkischen Arbeiter*innen hatte zu 3 % einen höheren Bildungsabschluss. Im Jahr 2009 ist dieser Anteil unter den zweiten und dritten Generationen auf 22,4 % gestiegen (Foroutan et al., 2010: 23). Umgekehrt ist der Anteil der Personen ohne einen qualifizierten Bildungsabschluss von 68 % (erste Generation) auf 27 % (zweite Generation) gesunken (Foroutan et al., 2010: 16). Zudem gehen bei gleichem sozioökonomischen Status und gleichen Schulleistungen Schüler*innen mit türkischem Migrationshintergrund ca. fünfmal mehr auf das Gymnasium als Schüler*innen ohne Migrationshintergrund (ebd.: 27). Parallel zu diesen statistischen Entwicklungen ist seit den 2000er Jahren auch in der qualitativen Bildungsforschung ein Paradigmenwechsel zu verzeichnen. Dieser konzentriert sich zunehmend auf erfolgreiche Bildungsaufsteiger*innen, deren Familien migriert sind (vgl. u.a. Pott, 2002; Boos-Nünning und Karakaşoğlu, 2005; Raiser, 2007; El-Mafaalani, 2012). Daran anknüpfend bietet der Transnationalisierungsansatz einen Analyserahmen für die Wahrnehmung und Erforschung von transnationalen Bildungswegen.
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Push-Faktor im deutschen Kontext: Bildungsungleichheit an deutschen Schulen Wie in etlichen Studien belegt wurde, ist das deutsche Bildungssystem durchzogen von sozialer Ungleichheit (vgl. u.a. Radtke, 2007; Solga, 2008), die als institutionelle Diskriminierung theoretisiert werden kann (vgl. u.a. Kalpaka, 2009; Gomolla und Radtke, 2002). Mit dem Ansatz der institutionellen Diskriminierung wird „[der Blick] zur Erklärung von Ungleichheitsphänomenen […] weggelenkt von den betroffenen oder beteiligten Individuen und neu ausgerichtet auf die soziale Strukturierung diskriminierender Handlungen und ihre Einbettung in institutionelle und organisatorische Kontexte. […] Die Ursachen von Ungleichheit sind eingebettet in die Strukturen, Normen, reguläre und informelle Regeln und Rollen, sie sind sedimentiert in sozialen Positionen und den damit verbundenen Rechten und Pflichten“ (Gomolla und Radtke, 2002: 43). Damit eng verschränkt sind Normalitätserwartungen der Lehrkräfte an Schüler*innen in Bezug auf die Schul- und Sprachfähigkeit. Pädagogisches Handeln innerhalb der Bildungsinstitutionen sind „in ihrem Selbstverständnis […] ethnozentrisch, monokulturell, monolingual“ (Kalpaka, 2009: 33). Gogolin (1994) spricht vom monolingualen Habitus der Schule; Lehrkräfte gehen demnach von der Normalitätsannahme aus, dass Individuen einsprachig seien. Dabei wird im Schullalltag (ob implizit oder gar explizit) die deutsche Bildungssprache als die Norm festgesetzt. An diesem Maßstab wird Sprachkönnen und Sprachpraxis, aber auch darüber hinaus Leistungs- und Lernfähigkeiten in anderen Fächern als im Deutschunterricht, beurteilt. Dies kann relativ unabhängig von den tatsächlichen Fähigkeiten und Kompetenzen der Schüler*innen erfolgen (vgl. Diefenbach, 2007). Auch im vorzustellenden Interviewmaterial dokumentiert sich die handlungsrelevante Wirkmächtigkeit der gefestigten Normalitätskonstruktionen sowie -vorstellungen an Schulen. Die interviewten Personen wurden während ihrer Schulzeit aufgrund ihrer Mehrsprachigkeit, ihrer familiären Migrationsgeschichte und/oder ihrer islamischen Religionszugehörigkeit als von der ‚Norm‘ abweichende Schüler*innen seitens der Lehrerschaft und der Mitschüler*innen begegnet. Die Interviewpartner*innen wurden regelmäßig Othering-Prozessen im Klassenzimmer ausgesetzt; der Begriff des Otherings bezeichnet den Prozess der Konstruktion ‚der anderen Gruppe‘ und die damit einhergehende Differenzierung und Distanzierung der Gruppe, der man sich zugehörig fühlt. Anknüpfend an diesen Ansatz werden im Folgenden Ausschnitte aus Interviews mit fünf Transmigrant*innen dargestellt, deren Erfahrungen in der Schule in Deutschland als institutionelle Diskriminierung und Othering erfasst werden können.
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Zugleich werden ihre Bildungsaspirationen dokumentiert, die aufgrund dieser Erfahrungen – hier fokussiert auf den Gebrauch der deutschen Sprache und die Religion des Islam – den transnationalen Bildungsraum für ein Studium im Herkunftsland ihrer Eltern aktivieren. Daran anschließend wird die Perspektive der Mehrsprachigkeit als aktivierte und aktivierende Ressource im transnationalen Raum am Interviewmaterial ausgeführt.
Exemplarische Falldarstellungen1 Push-Faktor im deutschen Kontext: Othering-Prozesse und Defizitzuschreibungen im Gebrauch der deutschen Sprache im Klassenzimmer Die Interviewpartnerin Medina Sönmez (28 Jahre alt, aufgewachsen in Hamburg) hat in Istanbul das Studium der Islamischen Theologie aufgenommen. Zum Zeitpunkt des Interviews befindet sie sich im Masterstudium der Erziehungswissenschaften an der Universität Hannover, nachdem sie das Studium in der Türkei abgebrochen hat. In der retrospektiven Erinnerung an ihre Schulzeit in Deutschland greift sie insbesondere die Kategorien „Deutsche“ [Z.2 337] und „Türkin“ [Z. 340] auf, um über diese Differenzsetzung zu unterstreichen, dass sie in der Klasse oft die einzige „Türkin“ [Z. 340] gewesen war. Darüber beschreibt sie ihre ambivalente Situation im Unterricht: Medina Sönmez wird in diesem Alleinstellungs- und besonderem Merkmal hervorgehoben und als die Repräsentantin und „Spezialistin“ [Z. 376] des Islams behandelt. Da sie sich für Fragen rund um den Islam „verantwortlich gefühlt hat“ [Z. 396–396], übernimmt sie als Schülerin unhinterfragt diese Rolle, die sie rückblickend der Lehrerrolle zuschreibt. Sie ging zu diesem Zeitpunkt noch davon aus, dass ihre Funktion als Aufklärerin „normal“ sei [Z. 367]. Gleichzeitig hätte es ihr „Spaß“ [Z. 370] bereitet, sich mit dem Islam auseinanderzusetzen und sieht in der unhinterfragten Übernahme der ihr zugeschrieben Rolle zugleich ihre eigene Verpflichtung, „die Missverständnisse alle (aus?) der Welt [zu] schaffen“ [Z. 369].
1 Die Forschungsdaten, insbesondere Personennamen und Ortsangaben, wurden anonymisiert. Die Interviews wurden zweisprachig geführt, wobei stets entweder die deutsche oder die türkische Sprache überwog. Im vorliegenden Beitrag wurden Passagen aus türkischen Transkripten von der Autorin ins Deutsche übersetzt. 2 „Z.“ steht für Zeilenangaben aus den jeweiligen Interviewtranskripten.
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„Ich hatte mehr deutsche Freunde, was ich auch, also was heißt gut oder schlecht. Das war schön für mich. Ich hatte da jetzt keine negativen Erfahrungen mit. Aber ich war im Unterricht, wenn‘s um den Islam ging, war ich immer… Weil ich die einzige Türkin oder einer der wenigen war, ich hatte also nie so viele in der Klasse sozusagen, Türken auch nicht, oder der Anteil war nie so hoch, so dass ich meistens die einzige war und mich immer verantwortlich gefühlt hab‘, Sachen klarzustellen. […] Vor allem in dem Jugendalter […] beschäftigt man sich selbst nicht so viel damit und dann ist [das] ‘ne große Verantwortung. Also, das regt mich immer noch auf, […] wieso da Lehrer nicht eingreifen, weil, wie gesagt, Schüler in dem Alter, die wissen das auch nicht so, wie sie zu reagieren haben oder sie reagieren müssen“ [Z. 337-351].
Die externen Erwartungen an sie sowie die eigenen Ansprüche, die sie an sich selbst stellt, setzen Frau Sönmez unter hohen „Druck“ [Z. 372]. Diesen Druck beschreibt Medina Sönmez mit einem Bewusstsein dafür, dass ihre Antworten und ihre Überzeugungskraft einen Einfluss darauf haben, welches Bild sich ihre Mitschüler*innen vom Islam formen. Innerhalb dieses Spannungsfelds und der darin aktivierten Fixierung auf ihre Religion finden sich die impliziten Beweggründe von Medina Sönmez, sich mit der islamischen Theologie auf einem akademischen Niveau zu beschäftigen: „Das war auch so mein Thema, weshalb ich das ja auch später studiert habe“ [Z. 371]. Nicht nur das religionsspezifische Spannungsfeld nimmt im Schulalltag von Medina Sönmez großen Raum ein. Ebenso dokumentiert sich ein großer und relevant gesetzter, jedoch erfolglos bleibender Kraftaufwand in der steten Bemühung um die „gute“ Anwendung der deutschen Sprache bzw. „gute“ Leistungen im Deutschunterricht [Z. 853–854]. Zwar kann sie ihre Mehrsprachigkeit wahrnehmen und für sich selbst positiv konnotieren, allerdings macht sie die Erfahrung, dass ihr aufgrund ihrer Türkischkenntnisse Defizite im Deutschen zugeschrieben worden: „Manchmal ist es ein Vorteil, wenn man eine andere Sprache noch dazu kann“ [Z. 834835]. „Negativ ja, wenn man so abgestempelt wird gleich, dass man nicht so gut Deutsch kann oder solche Sachen. Oder wenn man wirklich mal sich nicht gut ausdrücken kann und dieser Druck da ist. Vor allem im Jugendalter. Also ich hatte wirklich auch in Deutsch so, also ich habe wirklich jetzt nicht große Probleme, aber ich habe wirklich versucht, gut zu sein in Deutsch. Also das war auch so wichtig für mich. Es war immer nur eine drei. Deshalb habe ich mich immer aufgeregt“ [Z. 845-855].
Der hier erkennbare Kraftaufwand dokumentiert den Druck der Defizitzuschreibung im Sprechen und in der Überlappung des „gut Sein in Deutsch“ mit a) dem Sprachgebrauch im Deutschen an sich und b) der guten Note im Deutschunterricht; beides wird gleichgesetzt. Die Note im Deutschunterricht erhält eine Sonderrolle im Kanon der Schulnoten.
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Auch Mete Bayram (23 Jahre alt, aufgewachsen in Berlin), der in Ankara ein Architektur-Studium aufgenommen und abgebrochen hatte, hat die Erfahrung gemacht, dass ihm Defizite im Deutschen ‚diagnostiziert‘ worden sind: „Sie [die Deutschlehrerin] hat immer so… Dieser Vorwurf war immer da. So […] hab‘ ich es aufgenommen, dass dieser Vorwurf da war, dass meine Deutschkenntnisse nicht gut genug waren“ [Z. 358-360].
Er erzählt dazu, dass er in Deutschland auf einer Gesamtschule war, in der er im Deutschunterricht dem ‚leistungsschwächeren‘ Kurs zugeordnet wurde. Dies hätte ihn veranlasst, einen Antrag zu stellen, um in den Deutschkurs für ‚Leistungsstärkere‘ wechseln zu können. Dieser Kurs war für Mete Bayram wichtig, da er die Voraussetzung für die allgemeine Hochschulreife ermöglichte. Dieser Antrag wurde abgelehnt. Die Begründung beschreibt er wie folgt: „Aufgrund fehlender Reife oder so hat sie [die Deutschlehrerin] gesagt. Ich war wohl unreif - vielleicht im Deutschunterricht oder vielleicht allgemein, ich weiß jetzt nicht“ [Z. 383-385].
Für Mete Bayram bleibt es vage, intransparent, insbesondere aber nicht einschätzbar, ob seine Leistungen im Deutschunterricht ein Grund für die attestierte „Unreife“ waren oder ob er im Allgemeinen nicht die Reife gehabt haben soll, den ‚leistungsstärkeren‘ Deutschkurs zu besuchen. Auch bleibt für ihn unklar, ob die Lehrerin ihm generell die Reife abspricht, die allgemeine Hochschulreife zu erlangen. Auch hier findet eine Überlappung statt: Die Leistungen im Deutschunterricht werden implizit mit der Reife gleichgesetzt, das Abitur zu absolvieren und ergo zu studieren. Auch Elif Demir (25 Jahre, aufgewachsen in einem Vorort von Ludwigshafen, studiert Wirtschaftswissenschaften in Ordu) hat bezüglich defizitärer Zuschreibungen im Deutschen ähnliche Erfahrungen gemacht. Auf der Oberschule legten ihre Lehrer*innen den Fokus vordergründig auf die Deutschleistungen bzw. Fähigkeiten im Deutschen. Für Elif Demir war diese Schwerpunktsetzung zu einseitig. Sie bemängelt, dass ihre Lehrer*innen sie nicht mit all ihren Fähigkeiten wahrgenommen, im Gegenteil ihre Stärken ausgeblendet und sie auf ihre vermeintlichen ‚Defizite‘ im Deutschunterricht reduziert hätten. „Bei manchen Deutschen gab es doch diese Sache: Wenn der Lehrer etwas sagt, okay, dann muss ich das so akzeptieren. Aber bei uns gibt es so etwas nicht. ‚Du kannst es nicht machen. Setze dich hin und schau zu. Wir machen das‘. […] Sogar auf der IGS (integrierten Gesamtschule), sie haben gesagt, dein Deutsch ist nicht gut und so. Okay, das kann sein. Aber es geht ja nicht nur um Deutsch. In den anderen Fächern war ich gut. Meine Mathematik ist gut. Ich bin gut in Biologie. […] Die anderen, die mit mir angefangen und von anderen Schulen gekommen sind, hatten schon längst einen
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Ausbildungsplatz gefunden […] und sind gegangen. […] Weil wir trotzig sind, sind wir immer noch da [auf der IGS geblieben]“ [Z. 266-276, Übersetzung aus dem Türkischen von Keküllüoğlu].
Die Lehrer*innen hatten Elif Demir sowie anderen Schüler*innen aufgrund der scheinbar schwächeren Deutschleistungen nahegelegt, nach dem Absolvieren der neunten Klasse mit einer Ausbildung zu beginnen. Auch an dieser Stelle überlagern sich die Lehrer*innen-Bewertungen der Leistungen im Deutschunterricht mit den Bewertungen des Sprachgebrauchs bzw. der Deutschkenntnisse der Schüler*innen. Die meisten Mitschüler*innen von Elif Demir sind der Empfehlung der Lehrer*in gefolgt. Doch Elif Demir ist hartnäckig geblieben, hat ihren Fähigkeiten in anderen Fächern vertraut und nicht eingesehen, dass allein ihre Note im Deutschunterricht darüber entscheiden soll, eine Ausbildung zu starten und ihre Chance auf einen höheren Schulabschluss aufzugeben. In dieser Interviewpassage wird deutlich, dass es auch für Elif Demir selbstverständlich ist, wer „Deutsch“ ist und dass „die Deutschen“ die ‚anderen‘ sind. Mit dem Pronomen „wir“ meint sie die türkischen Schüler*innen und zählt sich selbst zu dieser Gruppe hinzu. Beide Gruppen stellt Elif Demir als homogen und in dieser Homogenität als Gegensätze zueinander dar: „Die Deutschen“ seien gehorsam und würden die Empfehlungen und Entscheidungen der Lehrer*innen nicht hinterfragen. Die ‚türkische Wir-Gruppe‘ hingegen sei widerspenstig und übernähme nicht unhinterfragt die Empfehlung der Lehrer*innen. Elif Demir hat höhere Bildungsaspirationen als die ihr von der Lehrer*in nahgelegte Ausbildung und lässt sich nicht von den Lehrer*innen, die sie weghaben wollen, beirren und bleibt ihrem eigenen Bildungsplan treu. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Interviewpartnerpartner*innen im deutschen Schulkontext die Erfahrung machen, dass ihre Religion bzw. die familiäre Migrationserfahrung und ihre Familiensprache in unverhältnismäßiger Weise zum Thema gemacht werden. Ihnen wird implizit zu spüren gegeben, dem kollektiven ‚deutschen Wir‘ nicht zugehörig zu sein. So wird das Herkunftsland ihrer Eltern – die Türkei – en passant omnipräsent im Schulalltag. Die Türkei sedimentiert sich als eine handlungsrelevante Auswanderungsoption im biographischen Wissen der Transmigrant*innen. Gleichzeitig werden die vermeintlich mangelhaften Kenntnisse im Deutschen der Interviewpartner*innen stets bei wichtigen Bildungsempfehlungen und Bildungsentscheidungen seitens der Lehrkräfte relevant gesetzt. Die Lehrer*innen konzentrieren sich nicht auf die Stärken und das Entwicklungspotenzial der Schüler*innen mit dem sog. Migrationshintergrund, sondern auf ihre (vermeintliche) Abweichung vom monolingualen Habitus. Dies hat zur Folge, dass die interviewten Personen
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ihren Deutschkenntnissen kaum vertrauen. Während die deutsche Sprache als problembehaftet wahrgenommen wird, konzentrieren sich die interviewten Personen stärker auf ihre Türkischfähigkeiten. So werden ihre Türkischkenntnisse zum Türöffner für die Aufnahme eines Studiums im Ausland, dessen Sprache sie innerhalb der eigenen Familie sprechen. Dies wird im Folgenden näher beleuchtet.
Pull-Faktor im türkischen Kontext: Mehrsprachigkeit als Ressource und Türöffner für transnationale Bildungsbiographien Der monolinguale Habitus der Institution Schule in Deutschland steht im Widerspruch zu den Lebensrealitäten der multilingualen Transmigrant*innen. Sie verfügen über linguistisches Kapital, d.h. sie sind in der Regel mindestens in zwei Sprachen flüssig und besitzen die damit verbundenen, inkorporierten intellektuellen sowie sozialen Fähigkeiten (Fürstenau, 2004: 37). Ihre Mehrsprachigkeit stellt eine über reine Sprachkenntnisse hinausreichende Ressource dar. Der 25-jährige Osman Karaca (aufgewachsen im Vorort von Stuttgart, studiert Bachelor of Arts in International Theology in Ankara) ist sich bezüglich des Vorzugs seiner Sprachfähigkeiten bewusst: „Ich hab‘ Verwandte, Bekanntschaften hier [in der Türkei], ich kenn‘ hier die Kultur, ich kenn‘ hier die Sprache, und das nutz‘ ich nur zum Vorteil, ehrlich gesagt“ [Z. 455-457].
Auch Gül Demir (23 Jahre), die wie ihre ältere Schwester Elif Demir in Ordu Wirtschaftswissenschaften studiert, profitiert davon, neben der türkischen auch die deutsche Sprache zu beherrschen. Sie erkennt, dass vor allem ihre Deutschkenntnisse, die ihr im Laufe ihrer Schullaufbahn in Deutschland abgesprochen wurden, in der Türkei mit positiven Zuschreibungen einhergehen: „Unser Vorteil ist, dass wir eine zweite Sprache beherrschen. Im Endeffekt schauen sie dort (in der Türkei) anders drauf, also auf diejenigen, die aus dem Ausland kommen. Sie sehen sie als viel erfolgreicher an, denke ich“ [Z.1443-1445, übersetzt aus dem Türkischen von Keküllüoğlu).
Die Zweisprachigkeit betrachten auch die Eltern von Mete Bayram als eine Ressource für ihren Sohn, die sie nicht nur innerhalb der Familie pflegen, sondern auch institutionell fördern und auf das bildungssprachliche Niveau anheben möchten, „Deswegen hat meine Mutter mich damals auf eine deutsch-türkische Vorschule geschickt, damit ich bilingual aufwachse. Bin ich ja sowieso, aber […] dass es kein Problem sein sollte, weil sie ist der Meinung, dass erstmal die Muttersprache wichtig sei. Aber sie wusste nicht so, welche Muttersprache jetzt wirklich zu mir gehört, ob das die
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deutsche Sprache ist oder ob das die türkische Sprache oder die kurdische. Da zuhause selten Deutsch gesprochen wird, hat sie sich entschieden, dass die türkische Sprache wichtig ist. Und da bin ich auf die deutsch-türkische Grundschule…“ [Z. 36-43].
An der deutsch-türkischen Grundschule hat Mete Bayram seine Türkischkenntnisse ausbauen können: „Dann hatten wir unglaubliche Türkischkenntnisse schon am Ende der Grundschule, dass wir auf der Oberschule unseren Türkischlehrer meistens korrigiert haben“ [Z. 269279].
Die mehrsprachige Sozialisation und insbesondere die Kompetenzen in der türkischen Sprache, die im deutschen Kontext kaum eine Anerkennung – gar eher eine Abwertung – erfahren, werden für die Transmigrant*innen zum notwendigen und entscheidenden Push-faktor zur Erschließung des türkischen Bildungsraumes.
Bildungsprogramme als Push-und Pull-Faktoren für transnationale Bildungsbiographien Neben den individuellen Ressourcen fördern bestimmte Rahmenbedingungen im deutschen und türkischen Bildungssystem bzw. Bildungsprogramme in diesen beiden Ländern die Entstehung von zirkulären, transnationalen Bildungsverläufen. Im Folgenden werden die von den Interviewpartner*innen genutzten formalen Bildungspfade zu Institutionen höherer Bildung in beiden nationalstaatlichen Kontexten näher erläutert.
‚Türkische‘ Strukturen in Deutschland, die ein Weiterkommen in der Türkei begünstigen Unter den Interviewpartner*innen gibt es Personen, die im deutschen Bildungssystem das Abitur nicht erwerben, allerdings in der Türkei ein Studium aufnehmen. Sie erzielen über das Açık Öğretim Lisesi Batı Avrupa Programı3 (AÖL BAP) das türkische Lise-Diplom, das die Teilnahme an der Hochschulzugangsprüfung des türkischen Staates – Uluslarası Öğrenci Seçme Sınavı (YÖS)4 ermöglicht. YÖS richtet sich an Studierende mit einem Sekundarschulabschluss, den sie 3 Frei übersetzt: Ferngymnasium Westeuropa Programm 4 Frei übersetzt: Prüfung zu Auswahl von internationalen Schüler*innen. Für mehr Informationen: YÖS (Uluslarası Öğrenci Seçme Sınavı): http://yos.sdu.edu.tr/tr; Bewerbungsvoraussetzungen: http://yos.sdu.edu.tr/tr/basvuru/basvuru-kosullari8448s.html
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außerhalb der Türkei erworben haben – unabhängig ihrer Staatsangehörigkeit. Das Bestehen dieser Prüfung ermöglicht die Aufnahme eines Studiums in der Türkei. Die YÖS-Ergebnisse werden bei der Hochschulanmeldung von den für internationale Studierende reservierten Quoten berücksichtigt. Bis 2010 wurde diese Prüfung vom Ölçme, Seçme ve Yerleştirme Merkezi (ÖSYM)5 (in Deutschland ausschließlich in Köln) durchgeführt. Seit 2011 richten Universitäten in der Türkei diese Prüfung für internationale Studierende selbständig aus; die Prüfung kann auch im Ausland abgelegt werden6. Im Rahmen von diversen strukturierten Vorbereitungskursen und mithilfe von speziellen Lehrmaterialien kann für die Prüfungen im Rahmen des AÖL BAP sowie für YÖS in Deutschland gelernt werden. Der türkische Staat sieht in den jungen Menschen mit türkischem Hintergrund aus Deutschland ein Bildungskapital und wirbt proaktiv um sie, indem er zwecks Brain-Drain eigene Kurse und staatliche Prüfungen vor Ort in Deutschland anbietet. An dieser Stelle ist zu unterstreichen, dass diese beiden Prüfungen in der türkischen Sprache abgehalten werden. Die in Deutschland nicht-anerkannte Sprache wird zur Grundvoraussetzung für den Bildungsübergang auf die Hochschule in der Türkei. Diese Gelegenheitsstruktur ermöglicht es den Transmigrant*innen, das deutsche Abitur – auf das sie keine Aussicht zu haben scheinen – zu umgehen und über diesen alternativen Bildungsweg ihren Bildungszielen näher zu kommen. Einige finden sich im Studium in der Türkei zurecht und bringen es mit einem Abschluss zu Ende (bzw. sind auf gutem Weg dahin). Andere hingegen brechen das Studium in der Türkei aus Gründen wie Diskriminierungs- oder Fremdheitserfahrung, fehlendem familiären bzw. sozialen Netzwerk, Überforderung mit den universitären Leistungsanforderungen oder den Lebensumständen ab. Mit dem Studienabbruch kehren sie nach Deutschland zurück. Für die Rückkehrer*innen stellt der Studienabbruch in der Türkei nur deshalb eine Handlungsalternative dar, weil die Re-Migration nach Deutschland eine reelle Option darstellt. Ohne diese Option wäre ein Studienabbruch keine Alternative für sie. Trotz Unzufriedenheit hätten sie versucht, ihr Studium in der Türkei zu absolvieren. Die Rückkehr nach Deutschland erfolgt in der Regel abrupt, verbunden mit weiteren Versagensängsten angesichts eines Neustarts bzgl. ihrer Bildungslaufbahn.
5 Frei übersetzt: Prüfungs-/Auswahl- und Platzierungszentrum 6 YÖS (Uluslarası Öğrenci Seçme Sınavı): http://yos.sdu.edu.tr/tr/basvuru/sinav-merkezleri-8451s.html
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„Ich fang‘ noch mal neu an. Und aber dieser Schritt, dann das dritte Mal ein Studium anzufangen, das war schon schwierig, weil, als ich dann in Deutschland war, habe ich mich wirklich sehr…ich dachte, ich mach‘ ‚ne Ausbildung. Ich riskier‘ das jetzt nicht noch mal, obwohl es ja gar nichts mit dem Studium zu tun hatte. Ich hab‘ ja noch nicht richtig angefangen zu studieren. Aber ich hatte Angst, dann noch mal irgendwas abzubrechen. Deswegen hatte ich gleich in der Anfangsphase, wo wirklich alles neu war, also wo ich auch den Alltag erlebt habe im Studium, mit den ganzen wissenschaftlichen Arbeiten... Also das war wirklich schwierig für mich auch am Anfang. Und es war sogar ein Gedanke, wieder das Studium abzubrechen, weil ich Angst hatte, dann wieder irgendwie zu versagen“ [Medina Sönmez, Z. 898-908].
Strukturen für Bildungsausländer*innen in Deutschland, die ein Weiterkommen in Deutschland begünstigen Ohne das deutsche Abitur haben die Rückkehrer*innen keine Zugangsberechtigung für Universitäten in Deutschland. Weil sie allerdings das türkische LiseDiplom erworben haben, können sie über das Studienkolleg den Weg zu einer deutschen Hochschule finden. Das Studienkolleg ermöglicht es Menschen mit einem ausländischen Schulabschluss, der zwar im Ausland den Hochschulzugang ermöglicht, aber in Deutschland nicht als Hochschulzugangsberechtigung anerkannt wird, in Deutschland ein Studium aufzunehmen7. Obwohl die Rückkehrer*innen das deutsche Schulsystem durchlaufen haben und so gesehen Bildungsinländer*innen sind, ermöglicht ihnen ein ausländischer Schulabschluss von einem Bildungsangebot Gebrauch zu machen, das sich explizit an sogenannte Bildungsausländer*innen richtet. Während in ihrer Schulzeit für einige interviewten Transmigrant*innen die Markierung als ‚Ausländer*in‘ bzw. ‚Schüler*in mit Migrationshintergrund‘ stets Nachteile bedeutete, ermöglicht ihnen der offizielle Status des Bildungsausländers den Quereinstieg in das deutsche Hochschulsystem. Die hier nachskizzierten Bildungsprogramme sowohl in Deutschland als auch in der Türkei – z.T. Programme des türkischen Staates bereitgestellt in Deutschland – ermöglichen oder fördern die Fortführung des Bildungsweges im Herkunftsland der Eltern und somit die Gestaltung einer transnationalen Lebensführung. So können Transmigrant*innen ihre verpassten Bildungschancen kompensieren und ein Studium in der Türkei aufnehmen. Einige nehmen sogar mit einem ‚Umweg‘ über die Türkei in Deutschland ein Studium auf. Sich in diesem Bildungs-Dschungel zurecht zu finden, erfordert ein hohes Maß an
7 Studienkolleg – Was ist das: http://www.studienkollegs.de/Willkommen.html
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einem ausgeprägten Navigationskapital. Schließlich sind diese transnationalen Bildungsbiographien durchzogen von vielen Brüchen, die viel Zeit und Energie in Anspruch nehmen. So sind Transmigrant*innen nicht selten mit hoher Resilienz ausgestattet.
Schluss Die hier beschriebene Untersuchung verdeutlicht, inwiefern die Transnationalität als Türöffner für Bildungskarrieren deutsch-türkischer Akademiker*innen fungieren kann. Die Nachfolgegenerationen der Arbeitsmigrant*innen aus der Türkei sind nicht selten mit familiärem Aufstiegskapital ausgestattet; für ihre (Groß) Eltern waren mit der Migration nach Deutschland Aufstiegsziele verbunden, die sie oft an ihre Kinder weiterreichen. Des Weiteren prägen die familiären Migrationserfahrungen und die Rückkehr-Rhetorik der Vorgängergenerationen, die ursprünglich nur vorübergehend aus der Türkei migriert sind, die Lebenswelten der Nachfolgegenerationen in Deutschland und tragen zu deren transnationaler Orientierung bei. Migration ist in ihren Familien eine Selbstverständlichkeit und wird über biographische Verbindungen zur Türkei nicht nur mental aufrechterhalten, sondern gepaart mit dem Vertrauen in die eigenen Türkischkenntnisse auch tatsächlich verwirklicht, um den eigenen bildungsbezogenen Handlungsraum strategisch zu erweitern und so einen Bildungsaufstieg zu erzielen. Zudem wird die Realisierung von transnationalen Bildungsbiographien über Gelegenheitsstrukturen wie YÖS und über Bildungsprogramme wie das Studienkolleg, die jeweils Menschen mit im Ausland erworbenen Schulabschlüssen im Blick haben, flankiert. Die Vorstellung von einem Studium in der Türkei geht nicht selten mit einer Idealisierung des dortigen Lebens einher. Allerdings können Transmigrant*innen in beiden nationalen Kontexten negative Erfahrung wie Nicht-Anerkennung machen. Ihre transnationale Orientierung nimmt der Migration zu einem gewissen Maß die Endgültigkeit ihrer (Re-)Migrationsentscheidung: Die Entscheidung der Türkei-Migration bzw. der Re-Migration nach Deutschland sind nicht irreversibel. Es gibt immer ein ‚Weiter‘, einen alternativen Ort bzw. ein ‚Zurück‘. So stellt Deutschland bereits vor der Migration in die Türkei eine reelle Rückkehr-Option dar. Die Transmigrant*innen wissen, dass sie bei Herausforderungen in der Türkei stets zurückkehren können.
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Über Steinmeiers Symbolpolitik im Integrationsbereich* Eine Konzert-Empfehlung des Bundespräsidenten für die umstrittene Rostocker Punk-Rockband Feine Sahne Fischfilet auf Facebook rückte Frank-Walter Steinmeier ins Zentrum politischer Kritik. Er hatte auf seiner offiziellen Webseite ein Konzert gegen fremdenfeindliche Gewalt unter dem Motto #WIRSINDMEHR beworben und wurde daher massiv kritisiert (Graw und Lühmann, 3.9.2018), auch wegen seiner nicht unparteiischen Einmischung in die aktuelle Tagespolitik. So ließ sich die rechtspopulistische Partei Alternative für Deutschland zur Verlautbarung hinreißen, das eigentlich zur politischen Neutralität verpflichtete Staatsoberhaupt missbrauche seine Stellung, „um Linksextremismus salonfähig zu machen.“ (AfD-Presseerklärung, 3.09.2018). Hier soll Steinmeiers symbolpolitisches Wirken im Bereich der Integration von Einwanderer*innen in der Bundesrepublik erörtert werden. In diesem Beitrag wird die These vertreten, dass dem deutschen Staatsoberhaupt aufgrund seiner eingeschränkten Machtbefugnisse nur symbolpolitische Mittel bleiben, mit denen er versucht, die Politik mitzugestalten. Unter Symbolpolitik soll hierbei eine „Politik der Zeichen: der Worte, Gesten und Bilder [verstanden werden]; sie entfaltet sich im semantischen Raum. Faktische Politik [hingegen] ist eine Politik der Taten: der Kriege, Verträge, Steuern und Zölle; sie entfaltet sich im materiellen Raum“ (Jessen, 2006: 3).
* Dieser Sammelbandbeitrag ist die stark gekürzte und überarbeitete Version eines im Electronic Journal of Political Science Studies publizierten Artikels, der wiederum auf einen Vortrag mit dem Titel „Das symbolpolitische Engagement des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier im Bereich der Integration” basiert. Das Paper wurde während einer von der Konrad-Adenauer-Stiftung und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst organisierten Veranstaltung „300 Jahre Deutsch-Türkische Freundschaft: Stand und Perspektiven“, am 20.10.2018 vorgetragen (Gümüş, 2019). ** Prof. Dr., Trakya Universität, Fakultät für Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften, Fachbereich für Politik- und Öffentliche Verwaltungswissenschaften, E-Mail: burak. [email protected]
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Elemente der Kompetenzen des bundesdeutschen Staatsoberhaupts Als Konsequenz auf die negativen historischen Erfahrungen aus der Weimarer Republik hat der Bundespräsident lediglich geringe verfassungsrechtliche Befugnisse. Das bundesdeutsche Regierungssystem ist als „Abkehr von Weimar“ kein „hyperpräsidentielles“, sondern ein parlamentarisches Regierungssystem ohne Volkswahl des Staatsoberhauptes, der auch kein eigenständiges Recht hat, den Bundeskanzler eigenmächtig zu ernennen, das Parlament eigenmächtig aufzulösen, den Notstand zu verkündigen oder Dekrete mit Gesetzeskraft zu erlassen (Notverordnungsrecht) (von Beyme, 2017:341–347). Es herrscht somit eine „Kompetenzenarmut“ (Rudzio, 2015:315) bzw. Begrenzung politischer Rechte des Staatsoberhaupts nach dem Muster des „parlamentarischen Regierungssystems“, der das schwache Glied neben einer starken Bundesregierung innerhalb einer doppelköpfigen Exekutive darstellt, auch wenn sein Amt offiziell keinen der drei Gewalten zuzuordnen ist. Der Bundespräsident hat somit einen eher begrenzten Einfluss auf Regierung und Parlament. Neben repräsentativen und staatsnotariellen Machtbefugnissen besitzt er einige wenige Reserve-Funktionen nur für Krisenfälle. Der auf fünf Jahre von Abgeordneten des Bundestags und derselben Anzahl der Delegierten der 16 Landtage („Bundesversammlung“) gewählte Bundespräsident repräsentiert die Bundesrepublik Deutschland nach innen und außen. Was die Regierungsbildung anbelangt, kann er einen Kandidaten für die Wahl des Bundeskanzlers vorschlagen, woran sich der Bundestag allerdings nicht zu halten braucht. Er hat den mit absoluter Mehrheit gewählten Bundeskanzler zu ernennen und besitzt nur ein Recht auf Ablehnung der Ernennung eines nur mit relativer Mehrheit des Bundestags gewählten Bundeskanzlers (mit anschließenden Neuwahlen). Bei der Ausfertigung von Gesetzen in Gegenzeichnung mit zuständigen Regierungsmitgliedern kann er eigenständig nur bei Bedenken über die verfahrensrechtliche Korrektheit des Gesetzgebungsverfahrens (formelle Prüfungskompetenz) und bei Bedenken über die Verfassungskonformität des Gesetzes (materielle Prüfungskompetenz) dies verweigern, aber ein reguläres Vetorecht besitzt er in diesem Sinne nicht. Im Gegensatz zum Reichspräsidenten der Weimarer Republik kann er das Parlament eigenmächtig nicht auflösen und besitzt nur ein bedingtes Recht auf Auflösung des Bundestages: Wenn er an einem nicht mit absoluter sondern nur mit relativer Mehrheit vom Bundestag gewählten Bundes- bzw. „Minderheitenkanzler“ nicht festhalten möchte oder wenn der amtierende Bundeskanzler eine selbst gestellte Vertrauensfrage verliert und ein alternativer Kandidat vom Bundestag nicht gewählt wird.
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Grobe Skizze von der Rolle des Bundespräsidenten in der Politik Aufgrund der Kompetenzarmut kommt dem Bundespräsidenten lediglich eine „Integrationsfunktion“ (Rudzio, 2015:316) zu, dessen Handlungen auch über politische Grenzen hinweg als Folge seiner Distanz zur aktuellen Tagespolitik als legitim erscheinen. Der Bundespräsident „darf politisch sein. Aber eben nicht tagespolitisch. Er darf Richtungen benennen, aber nicht vorgeben“ (Denkler, 12.12.2017). Im Gegensatz zum als „Integrationsfaktor“ (von Beyme, 2017:344) fungierenden Staatsoberhaupt wird diese wiederum von der als Regierungschefin auftretenden Bundeskanzlerin bestimmt. Nach dem Entschluss des Bundesverfassungsgerichts verkörpert der Bundespräsident als Staatsoberhaupt die „Einheit des Staates. Autorität und Würde seines Amtes kommen gerade auch darin zum Ausdruck, dass es auf vor allem geistig-moralische Wirkung angelegt ist.“ (BVerfG-Urteil vom 10.06.2014). Der Bundespräsident ist „dasjenige Verfassungsorgan, das die Einheit der Bundesrepublik Deutschland verkörpert und nach innen und außen repräsentiert. Dies geschieht, indem der Bundespräsident durch sein Handeln und öffentliches Auftreten den Staat selbst – seine Existenz, Legitimität, Legalität und Einheit – sichtbar macht“ (Bundespräsident-Webauftritt.a). Die „politische Bedeutung des Amtes [des Staatsoberhaupts] liegt weit mehr in der stilgebenden und repräsentativen Funktion des Amtsinhabers als in seinen Kompetenzen“ (von Beyme, 2017:344) und deutet auf eine „Autorität auch ohne Macht“ (Dönhoff, 13.04.1990/22.11.2012) hin, mit der sich der Bundespräsident bemüht, „die Grundstimmung im Lande zu beeinflussen“ (Rudzio, 2015:317). Daher findet die „aktive Gestaltung des politischen Lebens“ durch das Staatsoberhaupt „kaum“ (von Beyme, 2017:342) statt, wobei systemfeindliche Gruppen von links und rechts, „Gelegenheit [bieten], die Ermessensspielräume des Bundespräsidenten auszudehnen“ (von Beyme, 2017:32). Gerade mit der eingeläuteten Ära von anti-liberalen Führern in der Weltpolitik (Putin, Trump, Orban, etc.1) und dem Einzug der rechtspopulistischen Alternative für
1 Sowohl in westlichen als auch in nicht-westlichen Ländern übernehmen zunehmend jene Politiker*innen die Regierungsgewalt, die liberal-demokratischen Prinzipien offen ablehnend gegenüberstehen und einen autoritären Regierungsstil an den Tag legen. Dazu gehören neben Wladimir Putin (Russland), Recep Tayyip Erdoğan (Türkei), Nicolas Maduro (Venezuela), Jair Bolsonaro (Brasilien), Rodrigo Duterte (Philippinen) auch Donald Trump (USA) und Viktor Orban (Ungarn); vgl. Ian Bremmer, The ‚Strongmen Era‘ is Here. Here’s what it means for you, Time, 3.05.2018; Der Spiegel, Rise of Autocrats. Liberal Democracy under Attack, 13.06.2018.
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Deutschland in den Bundestag und deren Aufstieg zur Hauptoppositionspartei wuchs der politische Bedarf an einen „dezidierten Nichtpopulisten“ für das Amt des Bundespräsidenten an, der als Garant für Stabilität (Löwisch, 12.11.2016) dienen sollte. Die Antrittsrede des am 22. März 2017 vereidigten Frank-Walter Steinmeier mit dem Titel «Wir müssen wieder lernen für Demokratie zu streiten» kann entsprechend ausgelegt werden: „…neutral darf ich gar nicht sein, wo es um das Grundsätzliche geht. … Ich werde parteiisch sein – parteiisch, wenn es um die Sache der Demokratie selbst geht!“ (Steinmeier, 22.03.2017: 12).
Bereiche der Symbolpolitik im Integrationsbereich In Anlehnung an Günther gibt es allgemein „vier Bereiche der Symbolpolitik“ des Bundespräsidenten (2012:108–111): 1. Symbole des Bundes (z.B. Ehrung), 2. Reden, 3. Briefwechsel mit der Bevölkerung (bzw. Webauftritte in den Neuen Medien zur Kommunikation mit den „Netizens“), 4. Besuche im In- und Ausland. Diese können um die Bereiche Einladungen bzw. Empfänge (5.) und veröffentlichte Interviews (6.) erweitert werden. „Jedes Auftreten des Staatsoberhauptes in der Öffentlichkeit, seine Teilnahme an einer Veranstaltung, die Übernahme einer Schirmherrschaft, eine Rede, ein Glückwunsch, Besichtigungen und vieles mehr bringen die staatliche Würdigung in der Person des Bundespräsidenten zum Ausdruck“ (Bundespräsident-Webauftritt.b). Diese Bereiche können miteinander verwoben werden und gemeinsam Synergieeffekte erzeugen.
Briefwechsel mit der Bevölkerung bzw. Webauftritt in den Sozialen Medien Da das Internet heutzutage zunehmend als primäre Bezugsquelle für Informationen dient, legen politische Akteure und Institutionen eigene offizielle Webseiten im Cyberspace und entsprechende Webauftritte als virtuelle Visitenkarte zur Imagepflege an. Dazu zählt auch die Facebook-Repräsentanz des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, die als medial breitenwirksames Mittel zur Vermittlung von Informationen über seine Sicht der thematisierten Bereiche aus der Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur und Politik und seine Handlungen wie Besuche und Empfänge sowie Reden benutzt wird. Diese Seite ist auch für die Schaffung von präsidialen Diskursen und für den kommunikativen Aufbau und die Pflege einer Kollektividentität geeignet, wie es Steinmeier mit seinen Postings zum Empfang und zur Rede an der Deutsch-Türkischen Kaffeetafel über seine Definition von Heimat und Nation gezeigt hat. Da Facebook-Nutzer selber auch Kommentare dazu verfassen können, dient diese Seite auch als Forum zur Kommunikation mit der Bevölkerung.
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Beispiele für Steinmeiers Postings in der Integrationsthematik sind die auf seiner Seite veröffentlichten Berichte und die darauf bei Facebook angestoßenen Debatten über seinen Empfang von Mesut Özil und İlkay Gündoğan während der sog. Özil-Affäre, über seinen Besuch bei der Überlebenden des Brandanschlags von Solingen, Mevlüde Genç, die fünf Verwandte verlor und sich dennoch für ein Miteinander von Deutschen und Deutsch-Türk*innen einsetzt, über seine an Menschen mit türkischer Herkunft gerichtete Einladung zur türkisch-deutschen Kaffeetafel, über seine Online-Werbung für das Konzert #WIRSINDMEHR gegen die fremdenfeindlichen Gewaltereignisse in Chemnitz als „Zeichen für Mitmenschlichkeit und gegen Fremdenfeindlichkeit“ mit einem entsprechenden Konzert-Plakat mit dem Namen der teilnehmenden Künstler*innen, darunter auch die berüchtigte Band Feine Sahne Fischfilet (FacebookAuftritt des Bundespräsidenten, 19.05.2018; 28.05.2018; 23.08.2018; 31.08.2018), die schließlich Anlass zur Kritik bot. Bei der Betrachtung der Kommunikation mit der Netzgemeinde fällt auf, dass sich die offizielle Seite von Herrn Steinmeier für Zuspruch bedankt und mit diplomatischen Antworten milder Kritik stellt, während Beschimpfungen ignoriert werden.
Präsidiale Empfänge und Besuche, die als Symbol für staatliche Würdigung gelten Neben der offiziellen Ehrung von ausgewählten ehrenamtlich engagierten Gästen, darunter auch Migrant*innen (Bundespräsident-Webauftritt.c), in denen die präsidiale Würdigung zum Ausdruck kommt, sind Einladungen und Empfänge bedeutsam. So empfing Steinmeier beispielsweise die wegen ihres FotoShootings mit dem als „autoritär“ geltenden türkischen Staats- und Partei- sowie Regierungschef Recep Tayyip Erdoğan harte politische und mediale Kritik in Deutschland geratenen und sogar rassistisch beleidigten deutsch-türkischen Fußballer Mesut Özil und İlkay Gündoğan (Gümüş, 2018), um ein Zeichen zu setzen und sie somit unter präsidialen Schutz vor Beleidigungen und vor weiterer Herabsetzung und Diskriminierung zu stellen. Steinmeier ließ unter seinem Foto mit den beiden Gästen auf seiner offiziellen Facebook-Seite folgende Nachricht verlauten, um die Kritik einzudämmen: „Beiden war es wichtig, entstandene Missverständnisse aus dem Weg zu räumen. Wir haben lange gesprochen … Ihre Geschichte spiegelt wider, was ich in meiner Rede zum Tag der Deutschen Einheit gesagt habe; ‘Heimat gibt es auch im Plural. Ein Mensch kann mehr als eine Heimat haben, und neue Heimat finden.’ … Genauso wichtig wie der Respekt vor der Vielfalt unserer Wurzeln, ist das Bekenntnis aller Bürgerinnen und Bürger zu unserem Land und seinen Werten. Mesut Özil hat mir heute gesagt: ‘Ich bin
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hier aufgewachsen und stehe zu meinem Land.“ (Facebook-Auftritt des Bundespräsidenten, 19.05.2018)
Trotz seiner einmaligen Intervention Mitte Mai gingen die Medienkampagnen gegen Özil auch bis zu seinem Rücktritt im Juli 2018 weiter (vgl. Gümüş, 2018:253–254). Auch Steinmeiers „Einladung zum Gespräch mit Bürgerinnen und Bürgern aus der Nachbarschaft bei einer türkisch-deutschen Kaffeetafel“ (während des Opferfestes und nach der internationales Aufsehen erregenden #MeTwo-Bewegung2 als Reaktion auf die sog. Özil-Affäre, kann als Engagement betrachtet werden.
Besuche Neben regelmäßigen präsidialen Besuchen beim muslimischen Fastenbrechen („Iftar“-Essen) als eingeladener Gast der von der deutschen Regionalen Bildungsstelle für Bildung, Integration und Demokratie in Berlin geförderten „jung-muslimischen“ Initiative JUMA (Steinmeier, 10.06.2017) spielen Besuche zu besonderen Anlässen auch eine große Rolle. So besuchte Steinmeier anlässlich des Jahrestags des fremdenfeindlichen Solinger Brand- und Mordanschlags vom 29. Mai 1993 die Überlebende und Hinterbliebene Mevlüde Genç, die sich für Völkerverständigung und Aussöhnung einsetzt (Facebook-Auftritt des Bundespräsidenten, 28.05.2018) und brachte somit seine Würdigung zum Ausdruck. Hier wird die These vertreten, dass der Bundespräsident als „Mit-Hüter der Verfassung“ die Inklusion von Migrant*innen in die deutsche Gesellschaft mit seinen symbolpolitischen Mitteln anstrebt und in die aktuelle Tagespolitik eingreift. Da er beispielsweise „kein politisches Mandat für ‚hochpolitische‘ Reden“ (van Ooyen, 2015:31) besitzt, greifen seine Reden in die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers bzw. die der Ressortkompetenz eines Ministers ein (van Ooyen, 2015:25).
Präsidiale Reden Die Präsidiale Rede gilt als das wichtigste politische Mittel des Staatsoberhauptes. Wenn man sich neben der regelmäßigen Grußbotschaft an Muslime anlässlich des Ramadan-Festes (Steinmeier, 13.06.2018) einige ausgewählte Reden des Bundespräsidenten vergegenwärtigt, wozu die Rede nach der Vereidigung am 22. März 2017, die Rede zum Tag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2017, die Rede beim Gespräch mit Bürger*innen aus der Nachbarschaft 2 Darauf wird weiter unten eingegangen.
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(„Türkisch-deutsche Kaffeetafel“) am 22. August 2018 im Schloss Bellevue (während des islamischen Opferfestes) und die Rede beim Staatsbankett zu Ehren des türkischen Staatspräsidenten Erdoğan am 28. September 2018 gehören, kann man deren Bezug zur Integration sehen. Diese Reden können seinen Wunsch nach Inklusion von Migrant*innen in die deutsche Gesellschaft verdeutlichen. Die Wahlerfolge der rechtspopulistischen Systemoppositionspartei Alternative für Deutschland (AfD) werden von Steinmeier als „Mauern“ gedeutet, „die unserem gemeinsamen ‚Wir‘ im Wege stehen. …Und ich meine die Mauern aus Entfremdung, Enttäuschung oder Wut, die bei manchen so fest geworden sind, dass Argumente nicht mehr hindurchdringen. Hinter diesen Mauern wird tiefes Misstrauen geschürt, gegenüber der Demokratie und ihren Repräsentanten, dem sogenannten ‚Establishment‘, zu dem wahlweise jeder gezählt wird – außer den selbsternannten Kämpfern gegen das Establishment.“ (Steinmeier, 3.10.2017: 6) Diese geben für Steinmeier Anlass dazu, nicht nur über die Demokratie zu „reden“, sondern auch zu „lernen, für sie zu streiten!“ (Steinmeier, 22.03.2017) Zur Inklusion der bereits sich in Deutschland befindenden Migrant*innen in die deutsche Gesellschaft lehnt Steinmeier eine auf der primordial-ethni(zisti) schen Definition der Begriffe „Heimat“ und „Nation“ basierende Abgrenzung von Menschen explizit ab. In Anlehnung an den Philosophen Karl Jaspers definiert Steinmeier hingegen „Heimat“ als den kommunikativ erzeugten Zustand von „Verstehen und verstanden werden“ ohne Rücksicht auf Herkunftsunterschiede. „Diese Sehnsucht nach Heimat“, so Steinmeier, „dürfen wir nicht denen überlassen, die Heimat konstruieren als ein ‚Wir gegen Die‘; als Blödsinn von Blut und Boden; die eine heile deutsche Vergangenheit beschwören, die es so nie gegeben hat. Die Sehnsucht nach Heimat … nicht den Nationalisten überlassen. … Heimat ist der Ort, den wir als Gesellschaft erst schaffen. Heimat ist der Ort, an dem das ‚Wir‘ Bedeutung bekommt. So ein Ort, der uns verbindet.“ (Steinmeier, 3.10.2017:10) Mit der Migration und den damit entstehenden dualen Loyalitäten und Bindungen gibt es nach Steinmeier Heimat „auch im Plural. Ein Mensch kann mehr als eine Heimat haben, und neue Heimat finden. Das hat die Bundesrepublik für Millionen von Menschen bereits bewiesen. Sie alle sind Teil unseres ‚Wir‘ geworden. Ganze Generationen von Zuwanderern sagen heute voller Stolz: ‚Deutschland ist meine Heimat‘, – und das hat uns bereichert.“ (Steinmeier, 3.10.2017:12) Zur Integration von Migrant*innen in Deutschland schlägt Steinmeier eine herkunftsneutrale und auf gemeinsamen Werten und Normen als Grundgesamtheit basierende alternative Bestimmung der Nation der Deutschen vor, in der Einwander*innen ein integraler Bestandteil sind. Zu diesen Bezugskriterien gehören nach Steinmeier das Bekenntnis zu Grundgesetz, Geschlechtergleichberechtigung, Deutsche Geschichte, Holocaust
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und die Absage an völkische Denkweisen und Antisemitismus sowie Achtung der Sicherheit Israels (Steinmeier, 3.10.2017:12). Die Wohnbevölkerung mit Arbeitsmigrationshintergrund, die in seinen Reden Deutschland wirtschaftlich und im „gesellschaftlichen, kulturellen, lebensweltlichen Sinne“ (Steinmeier, 28.09.2018) bereichernd präsidial gewürdigt wird (Steinmeier, 22.08.2018), zählt somit dazu. Türkisch-muslimische Arbeitsmigrant*innen werden als „Menschen türkischer Abstammung, die in Deutschland leben, arbeiten und hier zuhause sind“ (Steinmeier, 22.08.2018) betrachtet. Deren Vertreter*innen lud Steinmeier „[a]ls Ihr Bundespräsident. Und als Ihr Nachbar“ zur symbolträchtigen gemeinsamen türkisch-deutschen Kaffeetafel während des islamischen Opferfestes und der international aufsehenerregenden Verbreitung der anti-rassistischen #MeTwo-Bewegung (Deutsche Welle, 26.07.2018) als Reaktion auf die sogenannte Özil-Affäre in seinen Amtssitz in Berlin ein. Steinmeier prangert in seiner Begrüßungsrede offen fremdenfeindliche Diskriminierung in Deutschland an und lehnt die mögliche Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft bei Deutschen mit Migrationshintergrund ab: „Es gibt keine Deutschen auf Bewährung, die sich das Dazugehören immer neu verdienen müssen – und denen es bei angeblichem Fehlverhalten wieder weggenommen wird. Sondern es gibt die eine Bundesrepublik Deutschland – ihre Staatsbürger, mit gleichen Rechten und Pflichten.“ (Steinmeier, 22.08.2018)
Somit werden Menschen mit Migrationshintergrund durch inkludierende Reden des Bundespräsidenten und damit auch durch den von ihm verkörperten Staat in die Gesellschaft eingegliedert und sollen sich als willkommener Teil des Staatsverbandes fühlen, was zudem ihre Integration fördert und Radikalisierungstendenzen aufgrund von Verrandung durch die Mehrheitsgesellschaft entgegenwirkt. Dass diese präsidialen Reden selber aber in die durch erhitzte Debatten über Zuwanderung und Geflüchtete geprägte aktuelle Tagespolitik Deutschlands und somit auch in die Richtlinienkompetenz der Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und des Ressortbereichs des Bundesinnenministers Horst Seehofer (CSU) eingreifen, Ausdruck der Positionen der sozialdemokratischen Herkunft des Staatsoberhaupts und in ihrem Inhalt her „hochpolitisch“ sind, wird vom als „Mit-Hüter der Verfassung“ agierenden Bundespräsidenten in Kauf genommen, weil es dem „Verfassungs-Schutz“ vor Rechtspopulismus dienlich ist.
Zeitungsinterviews Die auf der offiziellen Webseite des Bundespräsidialamts veröffentlichten Interviews mit dem Bundespräsidenten beinhalten Steinmeiers Antworten auf die Fragen der Journalist*innen auf gesellschaftliche und politische Themen. Mit
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ihrer Veröffentlichung werden präsidiale Diskurse erneut in Umlauf gesetzt, dem Leserpublikum vermittelt und so auf diese Weise gepflegt. Da sie auch Steinmeiers Antworten auf Fragen zu bereits von ihm behandelten und aufgegriffenen Themen wie z.B. seine Haltung zur „Özil-Affäre“ beinhalten, runden sie seine bisherigen Reden und Handlungen sowie Empfänge dazu ab. So z.B. kommentierte Steinmeier seine Einladung der aufgrund ihres Fotoshootings mit dem türkischen Staatschef in harsche mediale Kritik geratenen Fußballer Özil und Gündoğan und verdeutlichte dabei auch seine Rolle als Vermittler in seinem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit (Hildebrandt und di Lorenzo, 7.06.2018).
Mit-Gestaltung der Politik Die Symbolpolitik eröffnet dem Bundespräsidenten auch „real-politische“ Spielräume. Beispielsweise wurden am 8. Oktober 2018 Vertreter*innen diverse Migrantenvereinigungen offiziell von ihm eingeladen. Dabei kam es auch zu Gesprächen über zivilgesellschaftliche Strategien und Initiativen dieser Organisationen gegen Rechtsextremismus und für Integration in die deutsche Gesellschaft im Beisein von und mit Bundespräsident Steinmeier, darunter auch Veranstaltungen von Migrantenorganisationen, deren Schirmherrschaft das Staatsoberhaupt offiziell übernehmen und ihnen somit staatliche bzw. symbolische Würdigung verleihen konnte. Somit ist eine bundespräsidiale und -staatliche Koordinierung realer und „konzertierter“ zivilgesellschaftlicher politischer Handlungen im Integrationsbereich zumindest angedacht worden, die über eine „bloße“ offizielle Einladung und Würdigung der Gäste aus dem Migrations- und Integrationsbereich deutlich hinausgeht und zumindest teilweise eine höchstpersönliche und aktive Mit-Gestaltung der (Migrations- bzw. Integrations-) Politik durch den Bundespräsidenten beinhaltet (Korrespondenz mit dem TGD-Vorsitzenden Gökay Sofuoğlu, 8.10.2018; Facebook-Auftritt Steinmeier, 9.10.2018).
Fazit Symbolpolitik als Politik der Sprache, Gesten und Bilder ist das einzige dem fast ausschließlich mit repräsentativen Aufgaben, Pflichten und Rechten ausgestatteten Bundespräsidenten bleibende politische Mittel nach der Beschneidung verfassungsrechtlicher Machtbefugnisse des deutschen Staatsoberhaupts infolge der negativen historischen Erfahrungen aus der Weimarer Republik. Die poltische Rede des Bundespräsidenten als ein übrig gebliebenes und daher wichtiges
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politisches Mittel verleiht diesem daher eine „Autorität auch ohne Macht“, während seine offiziellen Besuche und Einladungen staatliche Würdigung symbolisch zum Ausdruck bringen sollen. In den oft polarisierenden Debatten über die Fragen der Zuwanderung und Flüchtlingskrise sowie dem Erstarken von populistischen Bewegungen und Parteien in Deutschland und in „EU-ropa“ kommt dem Bundespräsidenten eine bedeutsame Rolle als Stabilitätsanker zu, der „Richtungen benennen, aber nicht vorgeben“ darf. Frank-Walter Steinmeier, der schon als Politiker und Außenminister Initiative für Migrant*innen ergriff, strebt als Bundespräsident inmitten von tagespolitischen Debatten über Zuwanderung und Populismus oder gar Rassismus ausdrücklich eine nicht auf Abstammung, sondern auf gemeinsame Werten und Normen basierende Inklusion von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland an und bedient sich dabei präsidialen symbolpolitischen Handlungsrepertoires, wozu politische Reden, offizielle Einladungen, Ehrungen, Würdigungen, Besuche und Empfänge, Interviews und der Webauftritt in den Neuen Medien zählen, die aber wegen ihrer tagespolitischen Bezüge zum Gegenstand von Kritik werden.
Literaturangaben AfD-Presseerklärung, Steinmeier wirbt für Rechtsextreme, https://www.facebook.com/ alternativefuerde/photos/a.542889462408064/2043707042326291/?type= 3&theater, (zuletzt abgerufen: 28.11.2018). Bremmer, Ian, The ‚Strongmen Era‘ is Here. Here’s what it means for You, http:// time.com/ 5264170/the-strongmen-era-is-here-heres-what-it-means-foryou/ (zuletzt abgerufen: 3.01.2019). BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 10. Juni 2014, – 2 BvE 2/09 – Rn. (1–136), http://www.bverfg.de/e/es20140610_2bve000209.html (zuletzt abgerufen:13.09.2018) Bundespräsident-Webauftritt a: http://www.bundespraesident.de/DE/Amt-undAufgaben/ Verfassungsrechtliche-Grundlagen/verfassungsrechtliche-grundlagen.html (zuletzt abgerufen: 13.09.2018) Bundespräsident-Webauftritt b: http://www.bundespraesident.de/DE/Amtund-Aufgaben/Wirken-im-Inland/Repraesentation-und-Integration/repraesentation-und-integration-node.html (zuletzt abgerufen: 24.09.2018) Bundespräsident-Webauftritt c: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/ Berichte/DE/Frank-Walter-Steinmeier/2018/09/180907-Buergerfest-2018. html (zuletzt abgerufen: 26.09.2018)
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Heimat oder Haymatloz – Wertedebatten in Zeiten multipler Identitäten Einleitung Migrantenorganisationen leisten ihren Beitrag zur Integration und Partizipation. Als ‚neue Deutsche‘ zielen sie auf das Austarieren der Interessen von ‚Alteingesessenen‘, ‚neuen Deutschen‘ und Neuankömmlingen und bieten Plattformen und Formate an, auf denen sich alle einbringen und Verantwortung für das Land übernehmen können. Die Integrationsforschung spricht von einer gelungenen Integration, wenn nach der Integration in den Arbeitsmarkt, die Integration in die Bürger- und Zivilgesellschaft gelingt. Dies bedeutet zumindest im Hinblick „(…) auf das Deutsch-Werden (…) die höchste und anspruchsvollste Ebene (…)“ (Münkler/Münkler, 2016: 285f.) der Integration. Aktuell bestehen in Deutschland innenpolitische Debatten über Werte bzw. normbehaftete Dialoge zwischen der sog. Mehrheitsgesellschaft sowie Migrant*innen und Geflüchteten. Anstelle einer reinen Wertevermittlung kommt der verstärkten Etablierung von Wertedialogen auf Augenhöhe große Bedeutung zu, da viele Geflüchtete und Migranten ein starkes Fundament von Wertvorstellungen und Normbindungen besitzen. Deswegen lassen sich u.a. über Familie, Solidarität, Nächstenliebe, Zugehörigkeit oder auch Heimat fruchtbare Diskurse führen. Ein solcher Dialog fördert die Diversität, ist ein Ausdruck von Wertschätzung der Herkunftskulturen und bietet den Menschen Halt. Dieser kleine Beitrag möchte Einblicke in aktuelle Migrations- und Integrationsdebatten in Deutschland liefern.
Ausgangslage – von Widersprüchen und Dilemmata In Deutschland werden seit vier Jahren heftige innenpolitische Debatten um Zuwanderung, Migration, Zugehörigkeit und Loyalität geführt. Zuletzt ist der Heimatbegriff hinzugekommen. Das Flüchtlingsthema hat das Land und seine Politik fest im Griff und wie tief die Gesellschaft in der Flüchtlingsfrage * Doktorand am Seminar für Turkologie und Zentralasienkunde, Georg-August Universität Göttingen, Türkeiberatung und freier Autor, E-Mail: [email protected]
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gespalten ist, zeigen konträre Perzeptionen von Flucht. Begriffe wie ‚Flüchtlingsstrom‘ oder Flüchtlingskrise‘ zeigen, dass Flucht als Bedrohung wahrgenommen wird. Im Gegensatz dazu steht das positiv konnotierte Bild der Chancen für den deutschen Arbeitsmarkt, da Zuwanderung als zentrale Lösung des durch demografische Entwicklungen verursachten Fachkräftemangels propagiert wird. Deutschland scheint dauerhaft auf Zuwanderung angewiesen zu sein, auch wenn sich politische Akteure mit dem Begriff Einwanderungsland noch schwertun und ein umfangreiches Einwanderungsgesetz ablehnen. Man darf mutmaßen, dass Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, einen hohen Grad an Frustrationstoleranz bezüglich ihrer eigenen beruflichen Integration besitzen. Sie finden sich häufig damit ab „(…) dass ihr eigenes (…) soziales Kapital nicht wirklich übertragen werden kann. Sie richten ihre Hoffnung vorwiegend auf die Zukunft ihrer Kinder.“ (Münkler/Münkler, 2016: 268). Somit reicht im Moment ein Fachkräftezuwanderungsgesetz aus, das eine gezielte Einwanderung in den deutschen Arbeitsmarkt steuert. Mit der AfD besteht eine Partei, die mit Abschottung, rassistischen Ressentiments und Kampagnen gegen Ausländer*innen und Flüchtlinge Wähler gewinnt. Sie ist besonders stark in Ostdeutschland, wo im Jahr 2017 der Anteil von Migrant*innen an der Gesamtbevölkerung bei nur 6,8 Prozent lag1. Die größte Furcht vor ‚Fremden‘ offenbart sich dort, wo Alteingesessene kaum mit Migrant*innen in Berührung kommen. Auf der anderen Seite stehen Hunderttausende von ehrenamtlichen Freiwilligen, die sich seit Jahren in die Flüchtlingsarbeit einbringen u. a. als Mentor*innen, Pat*innen und Deutschlehrer*innen. Nach einer aktuellen Umfrage des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) überwiegen in der Bevölkerung mehrheitlich positive Konnotationen bezüglich des Themas Flucht. Eine Mehrheit befürwortet eine weitere Flüchtlingsaufnahme, auch wenn sie sich eine Begrenzung der Zuwanderung wünscht2.
1 Bundeszentrale für politische Bildung: Bevölkerung mit Migrationshintergrund vom 26.09.2018, https://www.bpb.de/wissen/NY3SWU,0,0,Bev%F6lkerung_mit_Migrationshintergrund_I.html 2 SVR-Integrationsbarometer 2018: Alltagserfahrungen im Zusammenleben deutlich besser als der Diskurs – Mehrheit befürwortet weitere Flüchtlingsaufnahme, wünscht sich aber Begrenzung, https://www.svr-migration.de/wp-content/uploads/2018/09/ PM_IB_2018.pdf
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Zukunftsfragen und Herausforderungen Die gesellschaftlichen Diskurse um Migration und Flucht bilden jedoch nicht die Themen ab, die die Menschen am meisten bewegen und die zentralen Zukunftsfragen darstellen. Eine dieser zentralen Zukunftsfragen ist die Ungewissheit bezüglich der Weiterexistenz des offenen freiheitlichen Systems und kann verkürzt mit dem Böckenförde-Theorem ausgedrückt werden: “Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.” (Böckenförde, 1976: 60). So argumentierte der Rechtsphilosoph und ehem. Richter am Bundesverfassungsgericht Ernst-Wolfgang Böckenförde schon vor einem halben Jahrhundert und fasste die Zerbrechlichkeit freiheitlicher Gesellschaften und Staaten gegenüber Terrorismus und Anarchismus zusammen. Das grundsätzliche Dilemma besteht, wenn ein freiheitlicher Staat und eine demokratisch verfasste Gesellschaft bei der Abwehr fundamentaler Gefahren auf Mittel des Rechtszwangs und Rechtsinstrumente zurückgreifen und dabei selbst autoritäre Züge annehmen und das Volk als Souverän übergehen. Ein aktuelles Beispiel sind verschärfte Polizeigesetze wie die in Bayern und NRW als Reaktion auf islamistischen, linken und rechten Extremismus. Eine weitere zentrale Unsicherheit besteht in der Zukunft des bisher existenten Wirtschaftsmodells und Lebensstils. Obwohl Deutschland weiterhin die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt ist, stellt sich die Frage, wie lange dieser Wohlstand noch anhält? Und welche grundlegenden Veränderungen des Lebensstils und Wirtschaftens der westlichen Welt noch erfolgen müssen? Der ‚Earth Overshoot Day‘, der Tag an dem global die erneuerbaren Rohstoffe und Ressourcen, die zu einem nachhaltigen Lebensstil ausreichen, aufgebraucht sind, bzw. die Nachfrage nach diesen Ressourcen die Kapazität der Erde zur Reproduktion übersteigt, war im vergangenen Jahr mit dem 01. August so früh wie nie3. Die Weltbevölkerung lebt auf Kosten künftiger Generationen und des ärmeren Teils der Welt. Auf Deutschland heruntergebrochen besteht die Befürchtung, dass große Industrien wie die Autoindustrie als Motor der Volkswirtschaft wegbrechen und in 15–20 Jahren bis zu 600.000 Arbeitsplätze verloren gehen könnten. Andere Länder und Unternehmen haben bei der PKW-Produktion, insbesondere der E-Mobilität und beim autonomen Fahren stellenweise die deutsche Autoindustrie überholt. Eine weitere zumindest diffuse Befürchtung vor der Zukunft stellt die Erwartung dar, Europa und der Westen könnten nicht viel länger das 3 Earth Overshoot Day 2018: Ressourcenbudget verbraucht, https://www.umweltbundesamt.de/themen/earth-overshoot-day-2018-ressourcenbudget
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Zentrum der Welt darstellen. Ob neben China und Asien nach Ansicht des kamerunischen Politikwissenschaftlers Achille Mbembe „(…) die Geschichte und die Dinge sich uns zuwenden und Europa nicht mehr das Gravitationszentrum der Welt bildet“ (Mbembe, 2014: 11) und am Ende großer Transformationen und Umbrüche Afrika ein neues Zentrum globalen Ausmaßes wird, bleibt abzuwarten. Zumindest befindet sich die Welt in einer Phase, in der die Zusammenarbeit von Nationen an historischer Aufarbeitung, Augenhöhe und Allokation gebunden scheint.
Diversität und Chancengleichheit Inzwischen besitzt fast ein Viertel der Menschen in Deutschland einen sog. Migrationshintergrund. Nach Definition des Statistischen Bundesamtes hat eine Person einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzt. (Statistisches Bundesamt: Zensus 2011: Ausgewählte Ergebnisse, 2013: 26.) So besaßen im Jahr 2017 fast 19,3 Mio. der insgesamt 81,7 Mio. Einwohner*innen in Deutschland einen Migrationshintergrund4. Immer mehr dieser Menschen sind im Alltag in Deutschland selbstverständlicherweise Teil der Gesellschaft und Arbeitswelt. Deutschland ist sehr divers und war noch nie so bunt wie heute, wobei sich trotz großer Fortschritte diese Diversität nicht immer in allen Bereichen widerspiegelt. Die Vehemenz der Debatten um Migration scheint auch so groß, weil die Community der Migrant*innen vielfältig aufgestellt ist und Debatten verstärkt in der Öffentlichkeit stattfinden. Der Soziologe Aladin El-Mafaalani benennt dieses Phänomen das Integrations-Paradox, wonach Debatten um Integration an Heftigkeit zunehmen, je mehr die Gesellschaft zusammenwächst. Er bemüht folgende Metapher, um diese Aussage zu verdeutlichen: Die erste Generation der Migrant*innen saß noch am Katzentisch, während die dritte nun über Tischregeln mitentscheiden möchte und über den Kuchen, der aufgetischt werden soll5. Im übertragenen Sinne intendieren Migrant*innen eine Veränderung der Rezeptur des Deutschseins, was eine nationalistische Gegenreaktion auslöst. Die politische Teilhabe von Migrant*innen liegt unter dem Durchschnitt und betrug im Jahr 2011 auf der kommunalen Ebene (Stadträte) 4 Prozent. 4 Bundeszentrale für politische Bildung: Bevölkerung mit Migrationshintergrund vom 26.09.2018, https://www.bpb.de/wissen/NY3SWU,0,0,Bev%F6lkerung_mit_Migrationshintergrund_I.html 5 Aufstand am Katzentisch, https://de.qantara.de/inhalt/aladin-el-mafaalani-das-integrationsparadox-aufstand-am-katzentisch
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(Schönwälder et al., 2011: 12). Aus Gründen des Legitimationsdefizits fordern Migrantenorganisationen schon seit geraumer Zeit analog zur bestehenden Diskussionen um Frauenquoten (Parité-Gesetz) die Etablierung von Quoten innerhalb der Parteien bei der Aufstellung von Kandidat*innen und Wahllisten für Migrant*innen ein. Das Thema Quotenregelung wird nachvollziehbarerweise sehr konträr diskutiert, und auch ohne Quoten können mit positiver Diskriminierung bisweilen gar bizarre Ergebnisse erzielt werden. So beträgt der Frauenanteil bei Bundestagsabgeordneten aktuell insgesamt 31,3 Prozent6. Von den insgesamt 15 sog. türkeistämmigen Abgeordneten im Bundestag sind 11 Frauen und damit fast 74 Prozent. Dieses Phänomen einer Überrepräsentanz politisch aktiver Frauen bei Türkeistämmigen und anderen Migrant*innen zeigt sich auch bei den kommunalen Ratsmitgliedern. (Schönwälder et al., 2011: 13) Sind muslimische Männer mit Migrationshintergrund, in diesem Fall türkeistämmige Männer etwa weniger politisch interessiert als Frauen oder befördern SPD, Grüne und Die Linke eine doppelte positive Diskriminierung? Unbeachtet der Motivationen, wird hiermit nicht auch indirekt ein muslimisches Frauenbild befördert, welches dem einer modernen, unabhängigen und freien Frau aus westlicher Sicht entspricht? Werden damit Frauen mit Kopftuch, die damit außerhalb dieser Norm stünden, nicht diskriminiert? Selbst die CDU, die aus wertkonservativer Hinsicht deutlich bessere Zugänge zu konservativen Muslim*innen besitzen müsste, fördert bisher ausschließlich Muslima ohne Kopftuch, obwohl kein unbedeutender Anteil derselben ein solches trägt. Kommt es hier nicht zur Diskriminierung aufgrund positiver Diskriminierung? Eine ähnliche Unwucht besteht bei den Debatten um den von Bassam Tibi eingeführten Begriff des Euro-Islam, des liberalen oder deutschen Islam und weiteren Begrifflichkeiten wie Muslim-Europäer*innen oder europäischer Islam (Göle, 2016). Zwar unterstreicht die Vielzahl solcher (Selbst)-Zuschreibungen, dass ein singulärer Islam, der den Glauben für alle bindend kodifizierte, nicht besteht. Stehen hinter den Diskussionen von Euro-Islam und liberaler Islam nicht eurozentrische und von westlichen Werten durchwirkte ‚Wunsch‘-Islambilder und werden nicht westliche Erwartungen auf den Islam projiziert? Wirken Selbstzuschreibungen wie liberaler Islam oder ‚säkulare Muslime‘, so sehr die Motive dahinter legitim sind, nicht auch ausgrenzend und werden nicht neue Gräben geschaffen anstelle bestehende zu überbrücken? Kommt es dadurch nicht zu einer Degradierung von Muslim*innen, die nicht offen als säkulare
6 Abgeordnete. Frauen und Männer https://www.bundestag.de/abgeordnete/biografien/ mdb_zahlen_ 19/frauen_maenner/529508
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Muslime oder als Vertreter des illiberalen Islam erkannt werden? Letztlich wird die muslimische Mehrheit mit einem exklusiv ‚fortschrittlichen‘ Islambild konfrontiert, dass sich wie das Konzept des sog. ‚Kulturmuslims‘ sui generis zwar aus dem aktuellen Kontext erschließt, jedoch nicht frei ist von eurozentrischen und kulturalistischen Attitüden. Festzuhalten bleibt: Die Betrachtung des Islam und der islamischen Welt durch eine von westlichen Werten und Verständnissen geformte Sichtweise ist problematisch und für eine Reform des Islam von innen heraus kontraproduktiv. Innerislamische theologische Reformkräfte und Bewegungen wie z. B. die Ankaraner Schule setzen sich schon längst mit einer historisch-kritischen Koranexegese und einer sehr modernen Hermeneutik auseinander. Die Reform des Islam muss aus der Mitte des Islam als Ergebnis eines kritischen innermuslimischen theologischen Diskurses erfolgen.
Islamisierung der Integrationsdebatte – Gehört der Islam zu Deutschland? In der innerdeutschen Migrations- und Integrationsdebatte wird oft von einem stereotypen, vorurteilsbelasteten und negativ konnotierten Islambild ausgegangen. Dieses Islambild entspringt teilweise dem mittelalterlichen Europa und selbst Martin Luther, an dessen reformatorisches Vermächtnis in Form des 500-jährigen Jubiläums des Thesenanschlags gedacht wurde, hat als Zeitgenosse mit Schriften wie „Wider die Türken“ zu diesem Bild beigetragen. Die öffentliche Debatte extrahiert ein Islambild, das auch stark beeinflusst wird von den extremistischen Entwicklungen des Islamismus. Seit dem 11. September 2001 steht der Islam in toto im Zentrum des globalen Interesses und im Fadenkreuz öffentlicher Debatten. Wenn Medien und Öffentlichkeit von Vertreter*innen muslimischer Verbände in Deutschland als Antwort auf Anschläge muslimischer Extremist*innen eine Stellungnahme und Distanzierung einfordern, werden sie in gewisser Weise zur Kollektivverantwortung herangezogen. Auf die Existenz eines stark negativ konnotierten Islambilds lässt auch eine Umfrage des SVR aus dem Jahr 2013 von über 5.600 Personen zu ihrer Vorstellung zur Anzahl von Muslimen in Deutschland schließen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts lebten in Deutschland im Jahr 2017 ca. 4,5 Mio. Muslime7. Ca. 70 Prozent der Befragten überschätzten die tatsächliche Anzahl 7 Anzahl der Muslime in Deutschland nach Glaubensrichtung, https://de.statista.com/ statistik/daten/studie/ 76744/umfrage/anzahl-der-muslime-in-deutschland-nachglaubensrichtung/
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deutlich. Spätaussiedler*innen (13 Mio.) und Menschen ohne Migrationshintergrund (11 Mio.) lagen mit ihren Schätzwerten ebenso deutlich darüber, wie die Gruppe der Türkeistämmigen (9 Mio.)8. Diese Umfrage ist ein Beispiel der Aufgeregtheit und Irrationalität der Debatte und Forscher*innen beobachten mittlerweile neben einer veränderten Perzeption des Islam und der Muslime eine „Islamisierung der Muslime“ (Rohe, 2017: 172). Es kann sogar von einer Islamisierung der Integrationsdebatte gesprochen werden, die auch auf die Veränderungen des Staatsangehörigkeitsrechts mit erleichterter Einbürgerung zurückzuführen ist. Migrant*innen aus muslimisch geprägten Staaten wurden bisher mit einem Herkunftsland assoziiert. Durch Einbürgerung lassen sich die ‚neuen Deutschen‘ aber nicht mehr so einfach auf ein Herkunftsland reduzieren. Deswegen werden in der öffentlichen Debatte Menschen aus muslimischen Ländern verstärkt als Muslime wahrgenommen, die Kategorie „des Ausländers“ ersetzt und „(…) nicht selten eine Reihe von Kausalzusammenhängen vielschichtiger Konflikte auf das (vermeintliche) Muslimsein reduziert“ (Spielhaus, 2011: 5). Die Islamisierung der Integrationsdebatte macht vor Nichtmuslimen, Nichtgläubigen oder Atheist*innen nicht halt. Unter diesem Aspekt scheinen die Bestrebungen nach Betonung eines ‚säkularen Muslimseins‘ legitim, um in der Debatte abgetrennt von orthodoxen Muslimen wahrgenommen zu werden. Der extremistische Islamismus darf jedoch nicht die Debatte um den Islam allgemein vereinnahmen. Topoi, wie die Beschreibung des Islam per se als gewaltbereite und -verherrlichende sowie reaktionäre Religion oder die Unvereinbarkeit des Islam mit Säkularismus, Moderne und Demokratie stellen indifferente Beschreibungen dar und müssen zurückgewiesen werden. Der Islam wird in der öffentlichen Wahrnehmung auch durch Unterstützung autodidaktischer Schnellschüsse auf dem Buchmarkt, die vorurteilshaft, selektiv, schlecht recherchiert und mit unzuverlässigem Datenmaterial Panikmache betreiben (Rohe, 2017: 261ff) unvorteilhaft beschrieben. Wissenschaftlich fundierte, seriöse Veröffentlichungen erreichen oft nur ein Fachpublikum und bleiben in der aufgeregten Diskussion unbeachtet. Ein Begriff, der in der Debatte immer wieder auftaucht, ist ‚Islamkritik‘. In einer innenpolitischen Diskussion über die generelle Zugehörigkeit des Islam zu Deutschland sollte eine detaillierte Konkretisierung davon geliefert werden, was man kritisieren möchte. Die Sprachforscherin Elisabeth Wehling kritisierte,
8 Wie viele Muslime leben in Deutschland? Einschätzungsmuster von Personen mit und ohne Migrationshintergrund https://www.svr-migration.de/wp-content/ uploads/2015/01/SVR_ Kurzinfo_Wieviele_Muslime_leben_in_D.pdf
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man könne weder den Islam noch andere Religionen per se kritisieren9. Letztlich verweist sie auf die sprachwissenschaftliche semantische Theorie der Frame-Semantik, die sprachliche Ausdrücke nach der Erwartungshaltung und dem Weltwissen der Rezipienten hin betrachtet. Im konkreten Fall der ‚Islamkritik‘ haben die Rezipienten also eine genaue Vorstellung und Erwartungshaltung, die in diesem Fall mit Stereotypen durchzogen sind. Ähnlich schwierig ist der Begriff Islamismus, da die meisten Rezipient*innen damit unterschiedliche und meist ein vorherbestimmtes und stereotypes Bild des Islam subsumieren. Was muss man sich unter ‚Islamkritik‘ konkret vorstellen? Geht es um theologische Fragen, wie einer fehlenden Modernisierung oder Anpassung von Glaubensinhalten und um die Forderung nach einer historisch-kritischen Exegese des Korans, dann wäre diese Forderung legitim. Jedoch ist dieser Diskurs in erster Linie innerislamisch und unter Theolog*innen, Anthropolog*innen, Jurist*innen und von Vertreter*innen weiterer wissenschaftlicher Disziplinen zu erbringen und nicht im Rahmen eines öffentlichen Diskurses. Die Organisationsformen, die Verfasstheit muslimischer Organisationen in Deutschland sowie die Verbindungen und finanzielle Verflechtungen zu den Herkunftsländern wie im Fall der Türkei können ebenso legitimerweise kritisiert werden, wie die Predigten in den Moscheen. Diese Debatten sollten aber nicht unter dem Stichwort der Islamkritik firmieren, da sie ein ebenso unspezifisches Wort darstellt wie der vorurteilsbelastete Begriff der Islamophobie.
Wertedebatten: Heimat und Zugehörigkeit In den hier dargestellten Diskursen spiegeln sich die aktuellen Wertedebatten wider, in denen neuerdings insbesondere Heimat und Zugehörigkeit als Schlüsselbegriffe diskutiert werden; man könnte dazu auch noch Loyalität zählen. Die Fragen werden gestellt: Wer gehört zu Deutschland und wann bin ich Deutsche*r? Mesut Özil hatte im Rahmen seines Rücktritts aus der Fußballnationalmannschaft ausgesagt: Wenn wir gewinnen, bin ich Deutscher, wenn wir verlieren, Migrant. Ähnliche Tendenzen der Zugehörigkeit lassen sich auch in der medialen Berichterstattung erkennen. Als im August 2018 ein Deutscher von Migrant*innen in Chemnitz getötet wurde, reagierte der rechte Mob mit Protestmärschen, bei denen es zu Jagdszenen auf Migrant*innen kam. Dabei wurde der Ermordete aufgrund seiner kubanischen Herkunft zuvor selbst von Rechten
9 Sprache und Wirkung: „Es gibt keine Islamkritik“, https://mediendienst-integration. de/artikel/es-gibt-keine-islamkritik.html
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verprügelt10. Bei einer Messerattacke in Lübeck im Sommer 2018 wurde der deutsch-iranische Hintergrund des Täters in vielen Medien in den Vordergrund gestellt, obwohl er schon seit Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt und lediglich im Iran geboren wurde. Und einige Deutsch-Türk*innen, die in den Sommermonaten in den letzten beiden Jahren aus unbekannten Gründen in der Türkei festgesetzt wurden und in Untersuchungshaft gerieten, wurden von den Medien als Deutsche bezeichnet, die sie zweifellos sind. Findet sich hinter diesen verändernden Perzeptionen etwa ein Muster wieder, dass keiner empirischen Untersuchung, sondern nur einer individuellen Beobachtung entspringt. In allen drei Fällen handelt es sich wahlweise um Deutsche oder Deutsche mit Migrationshintergrund. Weshalb werden Deutsche mit Migrationshintergrund, wenn sie Opfer sind zu Deutschen und Deutsche, die Täter geworden sind, dann mit ihrer Bindestrich-Identität hervorgehoben? Wer bestimmt zudem, wann die Menschen Deutsche oder Deutsche mit Migrationshintergrund sind? Letztlich tragen Menschen mit einer Bindestrich-Identität eine Dichotomie in sich, die ihnen je nach Situation Vor- oder Nachteile bringen kann oder sie werden mit der Loyalitätsfrage konfrontiert, wie bei der Optionspflicht mit 21 Jahren zwischen zwei Staatsbürgerschaften entscheiden zu müssen. Multiple Identitäten erfordern eben auch multiple Pässe. Wenn wir von Heimat reden, müssen wir der Frage nachgehen, was ist unter Heimat zu verstehen? Es lassen sich für Heimat viele Definitionen oder Assoziationen finden und jeder Mensch hat vielleicht sogar eine ganz eigene Definition davon. Heimat kann Zugehörigkeit, Geborgenheit, Geburtsort oder Sehnsuchtsort sein. Oft kann man Heimat nicht mit Worten beschreiben und sie ist auch nicht nur im räumlichen Kontext zu verstehen, sondern als Manifestation eines Gefühls, eines Geruchs, einer Vorstellung und von Emotionen tieferen Zusammenhangs. Oder anders ausgedrückt mit den Worten des Philosophen Karl Theodor Jaspers, der einmal sagte: „Heimat ist da, wo ich verstehe und wo ich verstanden werde.“ Vielleicht könnte Heimat auch da sein, wo man seine Steuern bezahlt. Nicht zuletzt würden Finanzminister*innen eine solche Definition von Heimat gar als Appell gutheißen. Oder kann Heimat nicht auch der Ort sein, an dem Menschen ihre letzte Ruhe finden? Zwar lassen sich immer noch viele Migrant*innen, allen voran Türkeistämmige der ersten Generation, in ihrer ‚Herkunfts-Heimat‘ beisetzen. Immer öfter werden die Menschen jedoch in Deutschland bestattet und
10 Vom „Negi“ zum Märtyrer, https://www.cicero.de/innenpolitik/daniel-h-chemnitzrassismus-auslaenderfeindlichkeit-rechte-linke-wir-sind-mehr
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sie wählen das Land als letzte Ruhestätte, in dem ihre Kinder und Enkel dauerhaft leben. Immer mehr Gemeinden haben islamische Grabfelder als Teil städtischer Friedhöfe eingerichtet und für die Einhaltung islamischer Bestattungsregeln wurden die Gesetze über das Leichen- und Bestattungswesen angepasst. Dies ist ein sehr starkes Heimat-Bekenntnis, zudem da das deutsche Bestattungswesen kein ewiges Ruherecht einräumt, wie es z. B. in der Türkei gilt. Der Begriff Heimat besitzt einen vielfältigen und multiplen Charakter und auch die Politik hat erkannt, dass der Begriff nicht exklusiv und ausgrenzend, sondern inklusiv und divers definiert werden muss. Der für Heimat zuständige Bundesinnenminister Seehofer hat in einem viel beachteten Beitrag im April 2018 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung den Heimatbegriff besetzt, in dem er Heimatpolitik als Politik der Vielfalt definierte und somit generell die Möglichkeit für vielfältige, multiple und auch konkurrierende Heimat(en) öffnete11. Er hat damit den Heimatbegriff vor der einseitigen Besetzung von Rechtspopulist*innen positiv geschützt und damit einen wichtigen Diskurs angestoßen. Nebensächlich dabei ist, dass Seehofer seinen eigenen Auftrag darin sieht, die Arbeit der Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ voranzutreiben und deren Ergebnisse als Heimatminister umzusetzen. Heimatpolitik ist für ihn sozusagen die Umsetzung entwicklungspolitischer und infrastruktureller Aufgaben, um in allen Regionen Deutschlands gleichwertig gute Lebensverhältnisse zu schaffen. Er möchte die Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Menschen die Orte lieben, in denen sie leben und als Heimat wahrnehmen. Ist damit der Weg frei zur Akzeptanz multipler Identitäten und multipler Heimaten, da ein Mensch natürlich zwei oder mehre Heimaten haben kann und muss, wenn in seiner Brust zwei Herzen schlagen. Mitnichten solange immer noch von Bindestrichdeutschen und Biodeutschen oder der deutschen Mehrheitsbevölkerung gesprochen wird. Alleine die Sprache trennt oft, was eigentlich zusammengehört. Aber was sind multiple oder hybride Identitäten, Menschen die sich zwei oder mehreren Kulturen zugehörig fühlen? Empirisch erwiesen ist, dass sich viele Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland wohl und zugehörig fühlen. Aber sie bleiben auch dem Herkunftsland ihrer Eltern verbunden, was aus psychologischer Sicht völlig normal erscheint.
11 Warum Heimatverlust die Menschen so umtreibt, https://www.faz.net/aktuell/politik/ inland/innenminister-horst-seehofer-zum-thema-heimat-15565980.html
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Menschen mit mehreren Identitäten sollten als Bereicherung empfunden werden und nicht als Belastung. Zurecht bemängeln Integrationsforscher*innen wie Ahmet Toprak, dass die Mehrfach-Kulturalität in der öffentlichen Wahrnehmung zu selten als Kompetenz wahrgenommen wird, sondern von der Mehrheitsgesellschaft als Integrationsdefizit interpretiert wird. Und Toprak geht sogar noch weiter, indem er deutlich benennt, dass diese Kompetenz bei Italiener*innen oder Franzos*innen von der deutschen Gesellschaft anerkannt und ein französischer oder spanischer Dialekt als sexy und romantisch positiv wahrgenommen wird, während sprachliche Defizite oder Dialekte bei Türk*innen und Araber*innen als Integrationsunwilligkeit ausgelegt werden12. Diese negative Perzeption wird der Hybridität und ihren Chancen nicht gerecht.
Schlussbemerkung Irrtümlich könnte in diesem kurzen Beitrag der Eindruck entstanden sein, in Deutschland bestünden nur Probleme mit Migration und die Integration sei gescheitert. Mitnichten ist dies der Fall. Das Land ist so bunt und divers wie noch nie und allerorten haben Menschen mit sog. Migrationshintergrund ihren Platz in der Gesellschaft und Arbeitswelt gefunden. Wie divers das Land ist, lässt sich aktuell an den Parteipräferenzen von Migrant*innen ablesen, die sich mittlerweile stark denen der Gesamtbevölkerung angenähert haben. Das SVR-Integrationsbarometer hat diese in den Jahren 2016 und 2018 untersucht und folgende Werte für das Jahr 2018 herausgefunden. Die Parteipräferenzen von Migrant*innen lauten: CDU 43,2 Prozent, SPD 25 Prozent, Grüne 10 Prozent, Linke 10,1 Prozent, FDP 5,2 Prozent und AfD 4,2 Prozent. Und auf die Türkeistämmigen heruntergebrochen präferieren ‚nur‘ noch 37 Prozent die SPD (Wert 2016 noch ca. 70 Prozent) und 32,9 Prozent die CDU13. In wenigen Generationen könnten die Debatten um multiple Identitäten überdies längst Geschichte sein. Der SVR hatte schon vor zwei Jahren den Vorschlag eines Doppelpasses mit Generationenschnitt unterbreitet14. Demnach sollten alle in Deutschland geborenen
12 „Zwei Kulturen in sich zu vereinen, ist eine Kompetenz“, https://de.qantara.de/inhalt/ interview-mit-ahmet-toprak-zwei-kulturen-in-sich-zu-vereinen-ist-eine-kompetenz 13 Parteipräferenzen von Zuwanderinnen und Zuwanderern: Abschied von alten Mustern, https://www.svr-migration.de/publikationen/parteipraeferenzen2018/ 14 SVR: Doppelpass mit Generationenschnitt einführen, modernes Staatsbürgerschaftsrecht schaffen, https://www.svr-migration.de/presse/presse-svr/doppelpass-mit-generationenschnitt/
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Menschen unabhängig ihrer Staatsbürgerschaft und vorbehaltlos den deutschen Pass erhalten. Die deutsche Staatsbürgerschaft kann dann ohne Beschränkung an Kinder und Kindeskinder weitervererbt werden und die Enkelgeneration muss sich dann entscheiden, ob sie Deutsche bleiben wollen oder eine andere Staatsbürgerschaft präferieren. Es bleibt zu hoffen, dass spätestens in zwei Generationen die wichtigsten Forderungen von Migrantenorganisationen neben stärkerer politischer Teilhabe wie dem kommunalen Wahlrecht, Mehrstaatlichkeit und doppelte Staatsbürgerschaften, Einwanderungsgesetz und ein eigenes Integrationsministerium sowie stärkere institutionell finanzielle Unterstützung zur Stärkung von deren Expertise eingetreten sind oder sich erübrigt haben. Daran wollen die Migrantenorganisationen mitarbeiten und sich an den wichtigen Debatten für die Zukunft dieses Landes und eine bessere Zukunft der Welt beteiligen.
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Zwei Kulturen in sich zu vereinen, ist eine Kompetenz, https://de.qantara.de/ inhalt/interview-mit-ahmet-toprak-zwei-kulturen-in-sich-zu-vereinen-isteine-kompetenz, (zuletzt abgerufen: 12.03.2019).
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Mustafa Nail ALKAN Mustafa Nail Alkan wurde im Jahre 1964 in Ankara geboren. In der Zeit von 1970 bis 1993 hat er in Deutschland (Bonn) gelebt. Dort hat er an der Universität Bonn Politikwissenschaften studiert. Seine Abschlussarbeiten für den Magister und die Promotion hat er über die deutsch-türkischen Beziehungen geschrieben. Seit 1993 lebt er in Ankara. Er lehrte von 1993–2005 am Fachbereich für Internationale Beziehungen der Ankara Universität. Seit 2008 lehrt er an der Gazi Universität in Ankara ebenfalls als Professor im Fachbereich für Internationale Beziehungen und seit 2018 an der Ankara Haci Bayram Veli Universität. Dr. Meral AVCI Dr. rer. pol. Meral Avcı ist Postdoc an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der RWTH Aachen. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit der Entwicklung und Veränderung von Infrastrukturen und mit politischen Transformationsprozessen. So untersuchte Dr. Avcı im Rahmen ihrer Dissertation die deutschtürkischen Wirtschaftsbeziehungen in den Jahren 1923 und 1945 und deren Auswirkungen auf die politische Transformation ab 1933 in Deutschland sowie auf die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen. Der Fokus ihrer Habilitation liegt auf der Unternehmensgeschichte der IG-Farben. Hier untersucht sie, ob sich die internationalen Informationsinfrastrukturen des Unternehmens nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 verändert haben. Prof. Dr. İbrahim S. CANBOLAT İbrahim S. Canbolat, geboren im Jahre 1959 in Osmaniye-Türkei, absolvierte sein Studium in den Fächern Politikwissenschaften und Soziologie an der Universität Heidelberg und schloss es 1986 mit dem Magister Artium (M.A.) ab. Nach seiner Rückkehr in die Türkei nahm er 1987 sein Promotionsstudium an der Universität İstanbul am Fachbereich für Politikwissenschaften und Internationale Beziehungen auf. 1992 promovierte er zum Thema ‘Die Untersuchung der politischen Integration in die Europäische Gemeinschaft aus der Perspektive der Systemanalyse‘. 1996 erhielt er in der Türkei den akademischen Titel ‚Doçent‘ (Assoc. Prof.) für Internationale Beziehungen. Im Jahr 2002 wurde er am Fachbereich für Internationale Beziehungen an der Uludağ Universität zum Professor
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ernannt. In den Jahren 2006–2010 war er als Leiter des Fachbereichs für Internationale Beziehungen und 2011–2018 als Gründungsdekan der Fakultät für Betriebswirtschaft an der Uludağ Universität tätig. Assoc. Prof. Dr. Mutlu ER Assoc. Prof. Dr. Mutlu ER (Hacettepe Universität/ Ankara) legte seinen Bachelorabschluss 2001 an der Hacettepe Universität im Fachbereich für Germanistik ab. 2006 folgte sein Masterstudium mit dem Schwerpunkt “Wortfeldtheorie”. 2011 promovierte er im Bereich der kontrastiven Werbesemiotik sowie Geschäftsnamen im Deutschen und Türkischen. 2018 bekam er in der Türkei seinen akademischen Titel ‚Doçent‘ (Assoc. Prof.) und ist an der Hacettepe Universität tätig. Zu seinen aktuellen Forschungsgebieten zählen u.a. die linguistische Diskursanalyse und Imagologie. Prof. Dr. Birgül DEMİRTAŞ Birgül Demirtaş ist Professorin am Fachbereich für Internationale Beziehungen an der TOBB Universität für Wirtschaft und Technik in Ankara. Sie absolvierte ihr Bachelorstudium an der Boğaziçi Universität und ihr Masterstudium an der Bilkent Universität. Sie promovierte an der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungschwerpunkte sind die türkische Außenpolitik, die deutsche Außenpolitik, Balkanländer und Diplomatie der Städte. Ihre Aufsätze erschienen in verschiedenen Zeitschriften wie Internationale Politik, WeltTrends, Journal of Balkan and Near Eastern Studies, Middle East Policy, Iran and the Caucasus, Ankara Journal of European Studies, Turkish Yearbook of International Relations and Perceptions. Sie ist zudem die stellvertretende Redakteurin für die Zeitschrift “Uluslararası İlişkiler”. Assoc. Prof. Dr. İsmail ERMAĞAN İsmail Ermağan promovierte am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt (2011). Er publizierte als Autor und Herausgeber mehrere Bücher, die in der Türkei und in Deutschland erschienen sind, u.a. über: „Integrations- und Segregationsneigungen von Deutschtürken. Versuch der Eingliederung in gesellschaftliche Bereiche, die Europäische Union und der Beitritt der Türkei“, „Positionen türkischer Parteien und der Parteien im Europäischen Parlament, Türkei in die Europäische Union“, „EU-Skeptizismus in der Türkei, Positionen türkischer Zivilgesellschaft gegenüber der Europäischen Union“, „Afrika in der internationalen Politik (1–2–3–4)“, „Ostasien in der internationalen Politik“ und „Latein Amerika in der internationalen Politik (1–2)“.
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Prof. Dr. Erol ESEN Prof. Dr. Erol Esen schloss sein Studium (Magister und Promotion) in Politikwissenschaft (Hauptfach), Soziologie und Entwicklungspolitik (Nebenfächer) 1990 an der Universität Bonn ab. Im gleichen Jahr wechselte Prof. Esen nach Berlin und arbeitete dort als freier Referent für verschiedene Institutionen im Bereich der politischen Bildung. Seine ersten Erfahrungen in der Lehre machte er am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität und leitete als Bildungsreferent und Geschäftsführer die Landesarbeitsgemeinschaft Arbeit und Leben Brandenburg in den Jahren 1995–1997. Seit dem Jahre 2000 ist Prof. Esen am Fachbereich für Politische und Öffentliche Verwaltungswissenschaft der Akdeniz Universität tätig. Als Gründungsdirektor leitete er 2003–2017 das Zentrum für Europäische Studien (AKVAM – http://akvam.akdeniz.edu.tr/) sowie den Fachbereich 2014– 2019. Seine Arbeitsschwerpunkte sind u.a. europäische Integration, deutschtürkische Zusammenarbeit, Kommunalverwaltungen sowie transnationale und transkulturelle Prozesse. Prof. Dr. Burak GÜMÜŞ Der 1974 in Radolfzell geborene Sozialwissenschaftler Burak Gümüş studierte Soziologie und Politikwissenschaften u.a. mit dem Schwerpunkt Randgruppen/ Migration und Außenpolitikanalyse an der Universität Konstanz. Prof. Gümüş promovierte dort über die Revitalisierung des Alevitentums. Seit 2007 lehrt er am Fachbereich für Öffentliche Verwaltung der Trakya Universität in Edirne “Einführung in die Politikwissenschaft” und “Politische Soziologie”. Er ist Mitherausgeber und Mitautor der Publikationen “Die Neue Türkei“ (Frankfurt, 2015) und “Deutsch-türkische Beziehungen“ (Frankfurt, 2017). Assoc. Prof. Dr. Max Florian HERTSCH Assoc. Prof. Dr. Max Florian HERTSCH (Hacettepe Universität, Ankara), aus Wangen im Allgäu, studierte von 2001 bis 2006 Erziehungswissenschaften an den Universitäten in Lüneburg und Freiburg. 2006 schrieb er seine Diplomarbeit an der Pädagogischen Hochschule Freiburg zum Thema »Blended-Learning im DaF-Unterricht«. Seit 2007 arbeitet er unter anderem im Fachbereich Auslandsgermanistik an der Hacettepe Universität in Ankara. 2012 promovierte er hier zum Thema »Das Wortfeld Nation in den Deutschen und Türkischen Antrittsreden – Eine politolinguistische Diskursanalyse«. 2016 habilitierte er an der Istanbul Universität. Des Weiteren forscht er zur türkisch-deutschen Kultur.
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Filiz KEKÜLLÜOĞLU Filiz Keküllüoğlu studierte Politikwissenschaft und Öffentliches Recht an der Universität Mannheim (BA), an der Istanbul Universität (Erasmus) und International Conflict Studies am King’s College London (MA). Keküllüoğlu ist seit Januar 2018 Referentin für Erwachsenenbildung in der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie in Berlin. Davor war sie fünf Jahre lang die Koordinatorin des Zentrums für Bildungsintegration – Diversity und Demokratie in Migrationsgesellschaften und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Diversity Education an der Stiftung Universität Hildesheim, an der sie derzeit zum Thema „Wege zur Hochschule: Transnationale Bildungsbiographien zwischen Deutschland und der Türkei“ promoviert. Assist. Prof. Dr. Elif KOCAGÖZ Dr. Elif Kocagöz studierte Betriebswirtschaftslehre an der Uludağ Universität in Bursa (Türkei). Anschließend promovierte sie am Sozialwissenschaftlichen Institut der Erciyes Universität in Kayseri über Konsumentenverhalten. Am Fachbereich für Betriebswirtschaftslehre an der Nevşehir Universität war sie als Assist. Professorin tätig. Danach übernahm sie Lehraufträge an der Friedrich-Alexander- Universität Erlangen-Nürnberg und absolvierte dort ein PostDoc-Programm. Sie ist gegenwärtig Assist. Professorin an der Sütçü İmam Universität in Kahramanmaraş. Vorlesungsschwerpunkte bilden u.a. die Module Grundlagen des Marketings, Konsumentenverhalten und Marketingstrategien für Nonprofit Organisationen sowie Ganzheitliche Marketingkommunikation. Zusätzlich zu Marketingthemen forscht Dr. Kocagöz auch über die soziale Verantwortung deutscher Unternehmen im Bereich der Flüchtlingspolitik und über türkische Vereine in Deutschland. Prof. Dr. Orhan KOCAGÖZ Orhan Kocagöz studierte Betriebswirtschaftslehre an der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg. Dort promovierte er über Unternehmensgruppen in Schwellenländern, insbesondere über die türkischen Holdings. Nach mehrjähriger Tätigkeit als Lehrbeauftragter in Erlangen und an der Hochschule Bremen erfolgte im Jahre 2011 seine Berufung zum Professor für Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Internationales Management an der FOM Hochschule für Ökonomie & Management mit Sitz in Essen. Seine Schwerpunkte in der Lehre am Studienzentrum in Nürnberg sind Unternehmensführung,
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Entrepreneurship und Trendforschung sowie Innovationsmanagement. Im Sommersemester 2018 hat er zudem einen Lehrauftrag an der Türkisch-Deutschen Universität in Istanbul (TDU) übernommen. Im Rahmen seiner Forschungstätigkeit beschäftigt sich Kocagöz vor allem mit Smart Mobility und mit mittelständischen Unternehmen in ländlichen Regionen, insbesondere im Rahmen der Mitgliedschaft im KompetenzCentrum für Entrepreneurship & Mittelstand an der FOM Hochschule für Ökonomie & Management. Prof. Dr. Mehmet ÖCAL Prof. Dr. Mehmet Öcal (geb. 1969) studierte Politikwissenschaften, Orientalistik und Mittlere u. Neuere Geschichte an der Universität Köln und schrieb seine Magisterarbeit zum Thema: “Der Berg-Karabach-Konflikt und seine internationale Dimension” (1996) bei Prof. Dr. Lothar Rühl. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter war Prof. Öcal am Zentrum für Türkeistudien (1997) tätig. Bei Prof. Dr. Hans-Peter Schwarz promovierte er 2004 zum Thema “Türkische Außen- und Sicherheitspolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts” an der Universität Bonn und arbeitete 2005 als Lehrbeauftragter an der selbigen Universität. Prof. Öcal ist seit 2006 am Fachbereich für Internationale Beziehungen an der Erciyes Universität tätig. Gleichzeitig arbeitet er seit 2018 als Dekan der Fakultät für Wirtschafts- und Administrative Wissenschaften an der Nevşehir Hacı Bektaş Veli Üniversität. Seine Arbeitsschwerpunkte sind u.a. türkische Außenpolitik, diplomatische Geschichte, Naher Osten und Sicherheitspolitik. Assoc. Prof. Dr. Murat ÖNSOY Assoc. Prof. Murat Önsoy studierte Politikwissenschaft an der Bilkent Universität in Ankara und schloss dort seinen Master im Fach Internationale Beziehungen ab. Als Stipendiat des Hochschulrats der Türkei (YÖK) promovierte er an der FAU in Erlangen/Nürnberg am Institut für Gegenwartsbezogene Orientforschung. 2009 erhielt er seinen Doktortitel mit einer Dissertation zum Thema „Die wirtschaftliche Kriegsführung der Alliierten im Zweiten Weltkrieg: Der Fall des türkischen Chromhandels”. Von März 2015 bis Februar 2016 arbeitete er als Gastwissenschaftler im ZEUS-Programm der Universität Hamburg. Dort untersuchte er Friedenskonsolidierung und Demokratisierung auf dem Westbalkan. Seit 2017 ist er Assoc. Professor für Internationale Beziehungen an der Hacettepe Universität in Ankara.
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Prof. Dr. Seldağ GÜNEŞ-PESCHKE Seldağ Günes-Peschke erlangte ihren Master an der Juristischen Fakultät der Ankara Universität und absolvierte ihre Doktorarbeit am Institut für Sozialwissenschaften der Ankara Universität und der La Sapienza Universität in Rom. Von 1995 bis 1997 arbeitete Prof. Güneş-Peschke als Rechtsanwältin in der Privatisierungsverwaltung. Ihre akademische Karriere startete sie an der juristischen Fakultät der Gazi Universität 1997 als wissenschaftliche Assistentin. Es folgten durch den DAAD und die Max-Planck-Stiftung geförderte Forschungsaufenthalte in Rom, Frankfurt und Bonn. 2009 wurde sie Assoc. Professor an der Gazi Universität und seit 2015 ist sie Professorin für Privatrecht an der Yıldırım Beyazıt Universität in Ankara. Ihr Forschungsinteresse reicht vom Römischem Recht und Rechtsvergleich über Familien- und Frauenrecht, Medienrecht sowie Aspekte der Ethik, bis hin zum Datenschutz- und Persönlichkeitsrecht. Assoc. Prof. Dr. Uğur SADİOĞLU Assoc. Prof. Dr. Uğur Sadioğlu wurde 1983 in Izmir geboren. Er ist Dozent in der Abteilung für Politikwissenschaften und Öffentliche Verwaltung an der Hacettepe Universität in Ankara. Im Jahre 2006 absolvierte er sein Studium im Bereich Öffentliche Verwaltungswissenschaften an der Fakultät für Wirtschafts- und Verwaltungswissenschaften der Hacettepe Universität. Von 2008 bis 2010 befand er sich als Gastforscher an der Universität Duisburg-Essen in Deutschland. In seiner Dissertation im Jahre 2012 untersuchte er die lokalen Verwaltungsreformen vergleichend in Deutschland und in der Türkei. In den Jahren 2015–2016 war er Gastdozent am Institut für Vergleichende Politikwissenschaften der Universität Köln und unterrichtete dort auch. Er führte mehrere Forschungsprojekte zum Thema der Verwaltungsreformen durch. Zum Thema der Kommunalverwaltungen publizierte er in der Türkei sowie im Ausland. Markus J.T. SCHRIJER Nach seinem Abitur am Gymnasium Casimirianum in Coburg studierte Markus J.T. Schrijer Geschichte und Musikwissenschaften an der Universität zu Köln. Nachdem er diesen BA-Studiengang abgeschlossen hatte, ging er 2012 nach Konstanz, um dort im Rahmen der entsprechenden Exzellenz-Initiative den interdisziplinären Masterstudiengang Kulturelle Grundlagen Europas zu studieren. Im Jahr 2015 begann er seine Promotion zum Thema Kulturelle Sicherheit in Deutschland bei Prof. Dr. Gabriele Metzler an der Humboldt Universität zu Berlin. Ende 2017 nahm er zudem die Stelle eines Lektors am Akdeniz Uygarlıkları Araştırma Enstitüsü an der Akdeniz Universität in Antalya an.
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Sevda ŞANDA Sevda Şanda wurde 1989 in Bremerhaven geboren. Sie absolvierte ihr Bachelorund Masterstudium im Fach Kommunikation und Management an der Hochschule Osnabrück in Lingen. Ihre Masterarbeit verfasste sie über „Implizite Führungstheorien. Persönlichkeitsspezifische Erwartungen an Führungskräfte. Eine empirische Studie.“ Seit 2016 lebt sie in der Türkei. 2017 nahm sie ihr Promotionsstudium am Fachbereich Internationale Beziehungen/Politikwissenschaften an der Trakya Universität in Edirne auf. Derzeit befindet sie sich im Promotionsprogramm und bereitet sich auf ihre Dissertationsarbeit über deutsch-zentralasiatische Beziehungen vor, die sie voraussichtlich 2019 abschließen wird. Franziska TREPKE Franziska Trepke leitet seit 2018 das DAAD-Informationszentrum in Ankara und war zuvor als DAAD-Lektorin an der Middle East Technical University in Ankara tätig. Sie studierte Germanistik, Psychologie und Deutsch als Fremdsprache an der Freien Universität in Berlin. Längere Auslandsaufenthalte zu Studien- und Arbeitszwecken führten sie nach Portugal, Indonesien und Aserbaidschan. Vor ihrer Tätigkeit in der Türkei war sie an der Universidade do Estado de Rio de Janeiro (UERJ) in Rio de Janeiro/Brasilien tätig. Dirk TRÖNDLE Dirk Tröndle, Geschäftsführer der Iranischen Gemeinde in Deutschland e.V. (IGD), geb. in Stockach am Bodensee, studierte Geschichte und Kultur des Nahen Orients sowie Turkologie, Politikwissenschaften und Volkswirtschaft in Konstanz, Istanbul und München (M.A. 1999). Er lebte und arbeitete lange Jahre in Istanbul und Ankara u.a. bei der Konrad‐Adenauer‐Stiftung und bei der Deutschen Botschaft. Er ist Autor der Atatürk-Biographie “Mustafa Kemal Atatürk. Mythos und Mensch”, die 2012 im Muster-Schmidt Verlag erschienen ist und bereitet aktuell eine Promotion zu normbehafteten Debatten und wertekonservativen Diskursen des türkischen Konservatismus und Islamismus an der Georg-August Universität in Göttingen vor. Assist. Prof. Dr. Ebru TURHAN Dr. Ebru Turhan arbeitet als Dozentin für Politikwissenschaft und stellvertretende Leiterin der Abteilung für Politikwissenschaft & Internationale Beziehungen an der Türkisch-Deutschen Universität (TDU) in Istanbul. Sie ist ebenso
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die Leiterin des von der Europäischen Kommission geförderten Jean Monnet Moduls „INSITER-Inside the Turkey-EU Relations“ (www. http://insiter.tau. edu.tr/). Ihren Doktortitel erhielt sie von der Universität Köln und ihren MATitel von der University of Bath, UK. Zu ihren aktuellen Forschungsinteressen zählen EU-Türkei-Beziehungen, das politische System der EU, externe differenzierte Integration zwischen der EU und den Drittländern, deutsche Europapolitik, die deutsch-türkischen bilateralen Beziehungen und die Flüchtlingskrise. Prof. Dr. Fahri TÜRK Fahri Türk (Jahrgang 1969) studierte an der Freien Universität Berlin (1997) Politikwissenschaften und promovierte dort. Er schrieb seine Promotionsarbeit über “Die deutsche Rüstungsindustrie in ihren Türkeigeschäften 1871–1914. Die Firma Krupp, die Waffenfabrik Mauser und die Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken” am Otto-Suhr-Institut Berlin (2006). Seit 2007 ist er Dozent am Fachbereich für Politikwissenschaften der Universität Trakya in Edirne. Prof. Türk ist Herausgeber der Fachzeitschrift “Die elektronische Zeitschrift für politikwissenschaftliche Studien“ (seit 2010); er ist ebenfalls Herausgeber und Mitautor von zahlreichen Büchern und Sammelbändern über “Die Kulturaußenpolitik der Türkei“ (2014), “Türkische Minderheiten auf dem Balkan” (2016) und „Tadschikistan“ (2017). Seine Arbeitsschwerpunkte sind u.a. Zentralasien, Außenpolitik der Türkei in Bezug auf Zentralasien und deutsch-türkische Beziehungen. Dr. Nilgün YÜCE Dr. Nilgün Yüce studierte an der Universität Bielefeld Germanistik, DaF, Pädagogik und Tourismuswissenschaft mit anschließender Promotion. Sie ist Stipendiatin der Körber-Stiftung (Deutsch-Türkische Sommerakademien 1994 und 1995) und der Robert Bosch-Stiftung (Stiftungskolleg für internationale Aufgaben, 1997–1998). Nach Lehrtätigkeit an Hochschulen in Bielefeld, Ankara und Istanbul ist sie seit September 2017 als DAAD-Lektorin am Fachbereich Germanistik, an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Akdeniz Universität Antalya tätig.