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German Pages 271 Year 2010
Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung
Band 97
20 Jahre Deutsche Einheit Erfolge, Ambivalenzen, Probleme
Herausgegeben von Tilman Mayer
Duncker & Humblot · Berlin
TILMAN M AYER ( Hrsg.)
20 Jahre Deutsche Einheit
Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung Band 97
Deutschland aus internationaler Sicht Herausgegeben von
Tilman Mayer
Duncker & Humblot · Berlin
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Bundesministeriums des Innern.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte, auch die des auszugweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2010 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5774 ISBN 978-3-428-13416-8 (Print) ISBN 978-3-428-53416-6 (E-Book) ISBN 978-3-428-83416-7 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Inhaltsverzeichnis Tilman Mayer Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Angela Merkel Grußwort anlässlich der 32. Jahrestagung der Gesellschaft für Deutschlandforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Thomas de Maizière Grußwort des Bundesministers des Innern bei der Jahrestagung 2010 der Gesellschaft für Deutschlandforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Die Kunst der Politik im Gründungs- und Einigungsprozess Michael Stürmer Bismarck und die Deutsche Frage 1870/1871 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Hans-Peter Schwarz Reichsgründung und Wiedervereinigung: Variationen zum Thema „Vergleichbarkeit und Unvergleichbarkeit“ von Otto von Bismarck und Helmut Kohl . . . .
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II. Binnen- und Außenperspektiven Joachim Scholtyseck Staatskunst und „Kunst der Diplomatie“ 1989/1990? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Brigitte Seebacher Mitterrand, Brandt, Kohl und die nationale Frage in Deutschland . . . . . . . . . . . .
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Christian Hacke Die USA und die deutsche Wiedervereinigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Armin Mitter Die Oder-Neiße-Grenze und die deutsche Vereinigung 1989/90 . . . . . . . . . . . . .
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III. Verhandlungsstrategien Andreas Rödder 20 Jahre deutsche Einheit. Verhandlungsstrategie West: Bonn . . . . . . . . . . . . . . . 121 Ilko-Sascha Kowalczuk Die Wiedervereinigung Deutschlands – historische Anmerkungen . . . . . . . . . . . 133
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Inhaltsverzeichnis
Reinhard Müller Frieden mit Deutschland? Der Zwei-plus-Vier-Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Hans-Georg Wieck Der deutsch-deutsche Vereinigungsprozess aus internationaler Sicht. Vom Albtraum der deutschen Einheit vor 1989 zur Einheit Deutschlands als Fundament der Einheit Europas nach 1989 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
IV. Einheit? Diktatur? Eckhard Jesse Die Stellung der Parteien, der Publizistik und der Wissenschaft zur deutschen Einheit in den achtziger Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Ehrhart Neubert Der Umgang mit der SED-Diktatur: Versäumnisse, Möglichkeiten . . . . . . . . . . . 179 Barbara Zehnpfennig Ingenieure der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
V. Der Vereinigungsprozess nach 20 Jahren Karl-Heinz Paqué Die wirtschaftliche Entwicklung nach 20 Jahren Wiedervereinigung: Bilanz 2010 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Günther Heydemann Die demographische Entwicklung im vereinten Deutschland zwischen Bevölkerungswachstum und -schrumpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Lars Normann 20 Jahre BStU – Eine Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Dieter Schulz Die Herstellung der Einheit Deutschlands und das Schul- und Bildungswesen in den neuen Bundesländern in den Jahren zwischen 1990 und 2010. Skizzen einer Zwischenbilanz und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Herausgeber und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269
Einleitung Von Tilman Mayer Von Friedrich Nietzsche haben wir gelernt, dass große Politik zu betreiben durchaus eine Aufgabe sein kann. Die Reichsgründung 1871 wie die Wiedergründung des deutschen Nationalstaates von 1990 bedeuten sicherlich beide große Politik. Die GfD hat es sich seit ihrer Gründung von 1978 angelegen sein lassen, als Forschungsgegenstand Deutschland zu wählen. Das bleibt auch heute noch ihre Aufgabe, wenn sie das Zusammenwachsen von Ost und West analysiert. 1978 war Deutschland geteilt, die deutsche Frage war offen und die Gesellschaftsmitglieder hielten sie auch für offen und die deutsche Teilung eben nicht fatalistisch für ein Fatum. Die GfD hatte insofern, als sie sich eben nicht nur mit der DDR abgeben wollte, immer schon große Politik vor Augen, denn wie anders ließe sich die Lösung der deutschen Frage vorstellen als durch große Politik? Deshalb lag es für mich nahe, die Frage aufzuwerfen, ob und wie die Geschichte gewordenen Daten 1871 und 1989/90 miteinander harmonieren oder differieren. Ich freue mich, dass wir auf diese Eingangsfrage zwei prominente Antworten erwarten dürfen. Otto von Bismarck steht für die nationale Einigung, wie auch Helmut Kohl; dem Reichsgründer gelang darüber hinaus, meine ich, auch eine sozio-ökonomische Integrationsleistung, die wir im Gegensatz dazu nach 1990 vielleicht weniger haben wahrnehmen können. Die taktische Antwort des Reichskanzlers auf die parteipolitische Herausforderung von links wirkt sozialpolitisch bis heute konstruktiv nach. Vielleicht ist es heute im großen Rückblick auf große Politik über eineinhalb Jahrhunderte – Bismarcks 195. Geburtstag 01.04.1815 und Kohls 80. Geburtstag 03.04.1930 seien erwähnt – wichtig, gerade in Berlin, zu sagen, dass der Westdeutschland lange Zeit bestimmende politisch-kulturelle Vergleich von Bonn mit Weimar längst in den Hintergrund gerückt ist und die kritische Frage mehr Beachtung verdienen muss, ob nicht der Wilhelminismus der Nach-Bismarck-Zeit, der dann auch zum Ende des zweiten Reichs führte, mehr für uns heute zu bedenken ist, um die Zentralmacht in der Mitte Europas auf einem vernünftigen Kurs zu halten.
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Der Vergleich von 1871 und 1990 kann nicht bedeuten zu wiederholen, dass Männer (Bismarck und Kohl u. a.) Geschichte machen – wer könnte etwa Maggie Thatcher vergessen, 1989/90 besonders. Nein, das Programm der Konferenz zeigt es ja, dass viele beteiligt waren und keinesfalls zuletzt das deutsche Volk selbst, natürlich in erster Linie in der DDR, das den Herrschenden die demokratische und die nationale Karte zeigte; eine Art Nationalbewegung wuchs sich zu einer Revolution aus und veränderte die Grundstrukturen Europas. An dieser Stelle möchte ich auch den ersten und letzten frei gewählten Ministerpräsidenten der DDR, Lothar de Maizière nennen, der am 2. März seinen 70. Geburtstag gefeiert hat. Die von ihm geführte frei gewählte DDR-Regierung auf der Basis der viel sagenden „Allianz für Deutschland“ war ja für die Bundesregierung und die Westmächte immer ein wichtiger Kooperationspartner, um den Zustand der deutschen Teilung 1990 überwinden zu können. Für den zeitgeschichtlich Arbeitenden ist es immer wieder verblüffend wahrzunehmen, wie schnell das Bewusstsein und das Wissen über historisches Erbe absinken kann. So darf ich abschließend Bedeutung und Motivation der wissenschaftlichen Tätigkeit der Gesellschaft für Deutschlandforschung dadurch unterstreichen, dass ich drei Antworten aus einer IfD-Umfrage aus der FAZ vom 25.11. 2009 in Erinnerung rufe. Auf die Frage: „Glauben Sie, dass das Zusammenwachsen Deutschlands gelingt, oder glauben Sie, dass Ost und West im Grunde immer wie zwei getrennte Staaten bleiben werden?“, antworten im November 2009 68 Prozent der Westdeutschen, das Zusammenwachsen gelinge, aber nur 51 Prozent der Ostdeutschen ebenfalls; letztere stimmen gar mit 34 Prozent der Antwort Trennung zu. Folgende Dialogsituation wurde den Befragten ebenfalls vorgelegt: Die erste Meinung lautete: „Natürlich hatte die DDR auch ihre schlechten Seiten. Aber wenn man sich an die Regeln hielt, konnte man dort ganz gut leben. Für mich hat in der DDR keine Willkür geherrscht.“
Die zweite Meinung lautete: „Das sehe ich anders. Sicher gab es Menschen, die sich in der DDR wohl gefühlt haben. Aber das ändert nichts daran, dass die DDR eine Diktatur war, bei der man vor willkürlichen Übergriffen des Staates nicht sicher sein konnte.“
Nun das gravierende, unterschiedliche Ergebnis: West
Ost
1. Meinung
6%
47%
2. Meinung
83%
36%
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Ein weiteres Ergebnis füge ich im Schaubild bei. Es handelt sich dabei um die Antworten Ostdeutscher auf die Frage, ob die Verhältnisse in der DDR erträglich waren. Konkret danach gefragt: „Wie würden Sie das beurteilen, waren die Verhältnisse in der DDR in den letzten Jahren vor der Wende eigentlich ganz erträglich für die Menschen, oder würden Sie sagen, es musste sich unbedingt vieles ändern?“ Ostdeutschland
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfragen. Vgl. Thomas Petersen, Versäumnisse bei der Vergangenheitsbewältigung, in: FAZ vom 25. November 2009, Nr. 274.
Im Ergebnis zeigt sich, dass das Klein-Klein der öffentlichen Meinung bzw. dass die kleinmütige Haltung vieler Befragter im krassen Gegensatz steht zu dem, was große Politik erfordert und wie sehr es auf Führung ankommt. Insofern sollten wir in der Retrospektive wahrnehmen, dass die Lösung der deutschen Frage nicht nur außenpolitisch eine große Aufgabe, große Politik gewesen war im Jahre 1990, was wir in den Mittelpunkt unserer Konferenz gestellt haben, sondern eben auch innenpolitisch eine große Aufgabe war, nein eigentlich weiterhin ist in Gestalt des Zusammenwachsens von Ost und West. Nicht nur deshalb bin ich auch der Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel, und dem Herrn Bundesminister des Innern, Herrn Dr. Thomas de Maizière, sehr verbunden, dass sie für unsere Gesellschaft Grußworte beigesteuert haben, nein eigentlich mit besonderen Empfehlungen uns beehren. Das hat symbolische Bedeutung.
BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND DIE BUNDESKANZLERIN
Berlin, im Februar 2010
Grußwort anlässlich der 32. Jahrestagung der Gesellschaft für Deutschlandforschung Zur 32. Jahrestagung der Gesellschaft für Deutschlandforschung sende ich Ihnen herzliche Grüße. Seit über 30 Jahren widmet sich Ihre Gesellschaft der zeitgeschichtlichen Deutschlandforschung. Mit Ihren umfassenden Analysen bereichern Sie den wissenschaftlichen Diskurs immer wieder aufs Neue. Hervorzuheben ist hierbei Ihr Eintreten für die Einheit unserer Nation auch in Zeiten, als viele nicht mehr daran geglaubt haben. Dafür gebührt Ihnen Dank und Anerkennung. 2010 blicken wir nun auf schon 20 Jahre Deutsche Einheit zurück. Was haben wir in dieser Zeit erreicht, was ist zu tun? Ich kann es nur begrüßen, dass Sie sich dieser vielschichtigen Frage auf Ihrer diesjährigen Tagung intensiv widmen und sie unter dem Motto „20 Jahre Deutsche Einheit – Erfolge, Ambivalenzen, Probleme“ mit namhaften Referenten und prominenten Zeitzeugen diskutieren. Bei aller notwendigen Diskussion über den erreichten Stand der Deutschen Einheit sollte aus meiner Sicht gleichzeitig aber die Freude über die Überwindung des SED-Regimes und der deutschen Teilung nicht zu kurz kommen. Die Bundesregierung widmet deshalb den historischen Gedenktagen 2010 zahlreiche Veranstaltungen. Uns ist eine möglichst breite, gesamtgesellschaftliche Diskussion über die SED-Diktatur und die deutsche Teilung wichtig. Denn es gilt, dem Vergessen entgegenzuwirken. Die Deutsche Einheit ist und bleibt ein historisches Glück und das gemeinsame Werk aller Deutschen. Vor der staatlichen Einheit am 3. Oktober 1990 haben die Menschen gerufen: „Wir sind ein Volk!“ Diese Rufe haben uns die Einheit der Nation gebracht. Sie sind uns auch heute eine große Verpflichtung, der wir gerecht werden müssen. Schließlich stehen wir in gemeinsamer Verantwortung für die Zukunft unseres Landes. Genau darauf wird die Gesellschaft für Deutschlandforschung sicher weiterhin ein besonderes Augenmerk legen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen auch in diesem Jahr eine gelungene Tagung.
Grußwort des Bundesministers des Innern bei der Jahrestagung 2010 der Gesellschaft für Deutschlandforschung* Von Thomas de Maizière Sehr geehrter Herr Professor Mayer, sehr geehrter Herr Diepgen, Exzellenzen, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freunde der Gesellschaft für Deutschlandforschung, das Jahr 2010 ist jetzt das zweite Jahr des Jubiläums Freiheit und Einheit, in dem wir des Jahres 1949, aber auch der Jahre 1989 und 1990 gedenken. Im Jahr 2009 haben wir uns an das Jahr der friedlichen Revolution erinnert. Ich will es einmal als das Jahr der Freiheit bezeichnen. In diesem Jahr richtet sich der Rückblick auf die zweite Phase: die Errichtung demokratischer Strukturen von der Volkskammerwahl über die Kommunalwahl, die beiden großen Staatsverträge, Zweiplus-Vier, bis zum 3. Oktober und bis zur anschließenden Landtagswahl, also auf das Jahr der Errichtung demokratischer Strukturen, auf den inneren und äußeren Weg zur deutschen Einheit und auf den beginnenden Prozess des Zusammenwachsens unseres Landes. Ich möchte das Jahr 1990 deshalb als das Jahr der Demokratie bezeichnen. Ich freue mich darüber, dass die Gesellschaft für Deutschlandforschung auch mit dieser Tagung, so wie im Vorjahr, zu den Jubiläumsfeierlichkeiten ihren Beitrag leistet. Im Grußwort der Bundeskanzlerin ist es schon deutlich geworden: Die GfD hat auch vor 1989 gegen den Mainstream der Forschung an der Offenheit der deutschen Frage festgehalten, und daher ist eine Tagung wie die heutige für Sie sicher nicht nur Rückblick auf eigenes erfolgreiches Wirken, sondern sicher auch eine Form von intellektueller Genugtuung. Lassen Sie mich fünf Punkte einleitend als Begrüßung und als Auftakt zu Ihrer Tagung nennen; ich kann dabei auch an einige Erfahrungen und Eindrücke aus dieser Zeit anknüpfen. Erstens: Die Wiedervereinigung war eigentlich das natürliche Ergebnis des Sturzes der SED-Diktatur. Denn die DDR existierte nur, weil die Sowjetunion sie als sozialistisches Gegenmodell gegen die Bundesrepublik Deutschland errichtet * Berlin, Rathaus, Luise-Schröder-Saal, März 2010.
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und aufrechterhalten hatte. Als die sowjetische Existenzgarantie zurückgezogen wurde, stand das Regime der aufbegehrenden Bevölkerungsmehrheit haltlos gegenüber. Und mit dem Wegfall des Systems entfiel auch die Grundlage seiner eigenstaatlichen Existenz. „Welche Existenzberechtigung sollte eine kapitalistische DDR neben einer kapitalistischen BRD haben? Natürlich keine!“ Sie alle kennen das Zitat von Otto Reinhold, dem Direktor der Gesellschaftswissenschaftlichen Akademie der SED. Und als der damalige Botschafter der USA nach Deutschland kam und seinen Antrittsbesuch beim Chef des Bundeskanzleramtes Wolfgang Schäuble machte, sagte er, mit dem Ende der Breshnew-Doktrin ende auch die deutsche und europäische Teilung. Der damalige Chef des Bundeskanzleramtes erklärte ihn für halbwegs verrückt. Er war ein ausgeschiedener General, der vielleicht körperlich nicht ganz fit war, aber der sehr genau wusste, was die Stunde geschlagen hatte. Aber es war bekanntlich keineswegs so, dass das natürliche Ergebnis der friedlichen Revolution quasi von selbst eintrat. Angesichts der vielfältigen Gegenkräfte im Ausland und in Deutschland selbst brauchte es besonders günstige Konstellationen und eine gleichermaßen entschlossene und umsichtige Politik. Die Leistung, die damals die Regierung Kohl, Helmut Kohl selbst – insbesondere bei der internationalen Durchsetzung der deutschen Einheit – erbracht haben, hatte historische Dimension oder, um die einleitenden Worte des Vorsitzenden aufzugreifen, das war große Politik. Dazu gehörten allerdings auch auf Seiten der DDR Lothar de Maizière und auf beiden Seiten Wolfgang Schäuble, Günther Krause und noch viele andere, die dort ebenfalls ihre großen Spuren hinterlassen haben. Eine besondere Würdigung gebührt jedoch den Menschen. Sie haben nicht nur durch den Massenprotest und die Massenausreise die Diktatur gestürzt. Sie haben nicht nur den Fall der Mauer erzwungen. Sie haben auch anschließend im Jahr 1990 die Politik der Wiedervereinigung durch Druck und Dynamik bestimmt. Das Tempo wurde von der Straße bestimmt. Die Begrüßung des Bundeskanzlers durch die Dresdner Bevölkerung am 19. Dezember 1989 war nicht nur ein bewegendes Ereignis, sondern auch ein starker politischer Impuls auf dem Weg zur deutschen Einheit. Die Menschen im Osten haben durch ihr Votum bei der freien Volkskammerwahl auch vor der Weltöffentlichkeit klar gemacht, dass sie die Einheit wollten, und auch, dass sie den Weg über Artikel 23 wollten. Sie haben durch ihre gewählten Vertreter am 23. August 1990 die deutsche Einheit beschlossen. Die Deutschen in der DDR waren also, das ist mein erster Punkt, die wichtigsten Akteure im Prozess der Deutschen Einheit. Mein zweiter Punkt: Die Voraussetzung für das Gelingen der friedlichen Revolution war das offenkundige Scheitern des sozialistischen Systems – in der DDR, aber auch in der Sowjetunion und in ihren Bündnisstaaten. Gorbatschows Re-
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formpolitik, die diesen Zusammenbruch, ohne es zu beabsichtigen, einleitete, und auch die ungarische Politik der Westöffnung hatten ihren Hintergrund in der immer offenkundiger werdenden Schwäche der sozialistischen Staaten. So war es auch in der DDR. Und es war überall, vor allem aber auch in der DDR, die ökonomische Schwäche, die niemand so gut und treffend beschrieben hat wie Gerhard Schürer selbst. Sie kennen alle die Zitate aus seinem Bericht an das Politbüro der SED vom Oktober 1989. Deswegen ist die ökonomische Schwäche der DDR ein nach meiner Auffassung unterschätzter Faktor beim Zusammenbruch des SED-Regimes und auch bei der Wiedervereinigung Deutschlands, mindestens bei ihrem Tempo. Man darf diesen Ausgangspunkt nicht aus dem Auge verlieren, wenn man die Erfolge und Probleme in den neuen Ländern richtig gewichten will. Möglicherweise war es einer der Fehler des Einigungsprozesses, dass man die ökonomische Analyse des Schlusszustands der DDR nicht in entsprechender Weise dargestellt und fortgesetzt hervorgehoben hat. Ich füge drittens hinzu: Wenn man die SED-Diktatur kritisiert und verurteilt und wenn man das Scheitern der Ökonomie feststellt – und das muss man tun –, dann heißt das nicht, dass man die Menschen verurteilt, die unter und in dieser Diktatur gelebt haben und leben mussten, im Gegenteil. Die Menschen in der DDR haben sich in ihrer großen Mehrheit das SED-Regime nicht ausgesucht, auch nicht die Mauer und auch nicht die Staatssicherheit. Sie wurden gar nicht gefragt. Die meisten von ihnen haben ihre Lebensleistung erbracht unter Bedingungen, die ihnen aufgezwungen wurden und die sie nicht ändern konnten. Darum ist diese Leistung um so mehr zu respektieren und zu würdigen. Ich wünsche mir sehr, dass diese notwendige Unterscheidung zwischen dem SED-Staat und den Menschen, die in ihm lebten und eingesperrt und überwacht wurden, im öffentlichen Bewusstsein noch mehr zum Allgemeingut wird. Und man muss ja auch sehen, dass es dieselben Menschen waren, die erst angeblich angepasst in einem Regime lebten und dann die friedliche Revolution gemacht haben. Das waren dieselben Menschen. Es passt nicht zusammen, wenn man sie erst als angepasste Mitläufer bezeichnet und sie dann als Helden würdigt. Mein vierter Punkt: Man kann nicht über die Wiedervereinigung sprechen, ohne ihre internationalen und gesamteuropäischen Aspekte mitzubedenken; das muss ich in diesem Kreis nicht besonders betonen. Das gilt zum einen für die Wiedervereinigung selbst: Wir sollten uns allerdings nicht zu sehr darüber grämen, dass nicht alle Länder gleich von der Wiedervereinigung begeistert waren; von der britischen Premierministerin war einleitend schon die Rede. Zurückhaltung und Ablehnung gab es im Inland auch, und warum sollte etwa ein Pole oder ein Brite ein besserer deutscher Patriot gewesen sein als beispielsweise der eine oder andere von Rhein, Ruhr oder von der Saar? Ausschlaggebend war die rückhaltlose Unterstützung durch die Bush-Administration, George Bush senior, Außenminister James Baker und viele andere. Und
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notwendig war auch die Klugheit oder die mangelnde Kraft oder eine Mischung von beidem – wie immer man das später beurteilen wird – von Michail Gorbatschow, der zwar die deutsche Einheit nicht gewollt hatte, aber sich ihr auch nicht mit Gewalt widersetzte, widersetzen konnte oder widersetzen wollte, als die Ereignisse sich seiner Kontrolle entzogen. Und eine notwendige Voraussetzung war das Vertrauen, das die damalige Bundesregierung und das Deutschland insgesamt bei den Nachbarn und Partnern genoss – Vertrauen auch darauf, dass ein vereintes Deutschland ein berechenbarer Partner in der europäischen Integration und im westlichen Bündnis bleiben würde. Man sah im Jahr 1989/90 und man sah es jetzt wieder in der Finanz- und Wirtschaftskrise: Vertrauen, das meines Erachtens eine unterschätzte politische Kategorie ist, hat eine eminent politische und auch ökonomische Bedeutung. Wer Vertrauen verspielt, verspielt mehr als nur Vertrauen. Und wer Vertrauen gewinnt, gewinnt mehr als nur Vertrauen. Schließlich mein fünfter und letzter Punkt: Wenn wir heute über die Aufbauleistung in den östlichen Bundesländern in den letzten 20 Jahren sprechen – auch das ist ja ein Thema Ihrer Tagung morgen – so sind die Erfolge offenkundig, auch wenn es natürlich nach wie vor Probleme gibt. Modernisierte Wohnungen, denkmalgeschützte Altbausubstanz, ein modernes Telefonnetz, stark reduzierte Umweltverschmutzung, ein modernisiertes Verkehrsnetz und ein leistungsfähiges Gesundheitswesen – um nur einige Beispiele zu nennen – legen davon öffentlich Zeugnis ab. Interessant ist übrigens auch, dass im wesentlichen die Dinge, die staatlich verantwortet sind, gut oder ich würde fast sagen, besser funktionieren als vieles, was privat organisiert und veranstaltet worden ist. Der notwendige wirtschaftliche Strukturwandel ist in relativ kurzer Zeit bewältigt worden. Heute liegt die Exportquote in den neuen Ländern zwar noch unter dem westdeutschen Niveau, aber mit über 70% schon deutlich höher als 1992, die Produktivität ist von rund 40% Anfang der neunziger Jahre auf inzwischen fast 80% gestiegen. Innovative Schlüsseltechnologien konnten angesiedelt werden. Und wir verkennen bei diesen Zahlen oft, dass es in Wahrheit ja nicht wirklich einen Durchschnitt West gibt; hinter diesem „Durchschnitt“ verbergen sich erhebliche regionale Unterschiede. Das schlechteste westdeutsche Land ist, was viele Indikatoren angeht – Produktivität und vieles andere mehr – SchleswigHolstein. Das beste ostdeutsche Land ist unter vielerlei Gesichtspunkten Thüringen. Und wenn Sie mal nur diese beiden vergleichen, sieht die Differenz schon erheblich geringer aus, als wenn man einen Durchschnitt Ost und einen Durchschnitt West vergleicht.
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Der Lebensstandard in Ost und West unterscheidet sich nicht wesentlicher als zwischen einigen Regionen in Nord und Süd. Die Arbeitslosigkeit in den östlichen Ländern liegt aktuell bei 13,5% und damit auf dem niedrigsten Stand seit 17 Jahren. Im Schatten der Finanz- und Wirtschaftskrise hat sich die ostdeutsche Arbeitslosigkeit ganz gut entwickelt, sie liegt auch im letzten Monat unter dem Vorjahresniveau. Das ist auch das Ergebnis von Demographie, ich will das nicht verschweigen. Aber es ist auch das Ergebnis von einer robusteren, nicht ganz so exportorientierten und nicht ganz so durch, wenn man so will, Klumpenrisiken charakterisierten Wirtschaftsstruktur in Ostdeutschland. Sie ist aber – das darf man nicht übersehen – immer noch fast doppelt so hoch wie im Westen. Der demographische Wandel, die Abwanderung aus strukturschwachen Regionen – all das markiert ein weiteres ernsthaftes Problem für uns. Die Aufbauleistung der letzten 20 Jahre ist und bleibt dennoch eine Erfolgsgeschichte, ich lasse mir das nicht nehmen. Sie ist vor allem eine Leistung der Menschen in den ostdeutschen Ländern, für die sich in dieser Zeit des Umbruchs alle Lebensverhältnisse geändert und verändert haben. Sie ist aber auch eine Leistung der Deutschen im alten Bundesgebiet, die die notwendige Solidarität geübt haben und weiterhin üben. Zum gesellschaftlichen Zusammenhalt im vereinten Deutschland gehört aber nicht nur Ökonomie oder der Arbeitsmarkt. Was wir brauchen, ist Zeit, Geduld und die Bereitschaft zum gegenseitigen Verständnis. Und wir brauchen dazu auch die Bereitschaft zu einer offenen Aufarbeitung der Vergangenheit. Zu einer demokratischen politischen Kultur gehört auch, dass man weiß, was eine Diktatur ist, wie sie das Leben der Menschen bestimmt, wie sie das Leben auch zerstören kann. Was wir nicht brauchen, ist weiterhin das Ziel der „Angleichung der Lebensverhältnisse“. Ich habe dieses Ziel immer für falsch gehalten. Ich möchte in keinem Staat leben, in dem die Lebensverhältnisse gleich sind – eine schreckliche Vorstellung in einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaft. Die Kombination der Begriffe „Beitritt“ – ein Vorgang, der verfassungsrechtlich richtig und alternativlos war – und „Angleichung der Lebensverhältnisse“ war auf dem Resonanzboden, den es in der DDR gefunden hat, einer der Grundfehler des Einigungsprozesses. Ich kann auch mit dem Begriff der „Vollendung der inneren Einheit“ nicht viel anfangen. Die Einheit ist mit dem 3. Oktober 1990 vollendet. Nicht ist Einigkeit vollendet, nicht ist Zusammenhalt vollendet, ich sage gleich einen Satz dazu. Aber wie man eine Einheit vollenden kann, ist mir schon sprachlich und logisch ein Problem. Und ich weiß auch gar nicht, ob Vollendung etwas ist, was eine Demokratie je erreichen kann. Von daher ist allein die Zielsetzung der „Vollendung der Einheit“ die Ankündigung einer Niederlage. Und die Ankündigung von Niederlagen war auch ein psychologisches Problem der letzten Jahre nach der Vollendung der deutschen Einheit.
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Was wir allerdings brauchen, ist das Bekenntnis zu gleichwertigen Lebensverhältnissen, das ist etwas ganz anderes als gleiche Lebensverhältnisse. Was wir brauchen, ist die Freude an Unterschieden, nicht die Betonung von aus Unterschieden erwachsenden Mentalitätsunterschieden. Niemand stört sich an dem Unterschied zwischen Rheinländern und Westfalen; aber es wird von den neuen Bundesländern so gesprochen, als gäbe es die DDR noch. Ein Stück von ostdeutscher Identität ist übrigens erst nach 1990 entstanden. Was wir brauchen, ist Zusammenhalt statt Belehrungen. Ja, es gibt ostdeutsche Spezifika, und das ist wunderbar, aber im übrigen gibt es zunehmend weniger eine ostdeutsche Identität als eine thüringische, eine sächsische, bei Sachsen-Anhalt bin ich mir nicht ganz so sicher, aber eine mecklenburg-vorpommersche, jedenfalls aber eine mecklenburgische und eine vorpommersche, und eine Berlinische sowieso. Das heißt wir müssen zunehmend mehr lernen, das, was wir deutsche Einheit nennen, nicht mehr nur aus den Entwicklungen in den Jahren 1989 und 1990 zu verstehen. Ich will es so zusammenfassen: Die deutsche Einheit ist erwachsen geworden. Das muss man auch leben wollen und sich darüber freuen. Ich tue das. Und in diesem Sinne wünsche ich Ihrer Tagung viel Erfolg.
I. Die Kunst der Politik im Gründungs- und Einigungsprozess
Bismarck und die Deutsche Frage 1870/1871 Von Michael Stürmer Bis zum 9. November 1989, so schien es, war über Bismarck und die Folgen schon alles gesagt: Ein abgeschlossenes, schwieriges, zumindest doppeldeutiges wenn nicht sogar von Anfang an fatales Kapitel der deutschen und europäischen Geschichte, das nicht zu Wiederholungen einlud. Als aber Bundeskanzler Kohl nach 273 Tagen komplizierter, strukturbildender Verhandlungen am 3. Oktober 1990 in der Frühe in der Berliner Philharmonie die große Rede zur Inauguration der Zweiten Bundesrepublik hielt, verriet seine Wortwahl, dass er – respektive seine Berater – die Geschichte der preußisch-deutschen Reichsgründung 120 Jahre zuvor mit Nutzen studiert hatte. Nie wieder, so das feierliche Versprechen des deutschen Regierungschefs, solle Deutschland ein „ruheloses Reich“ sein. In den Monaten zuvor hatte es immer wieder Anklänge, bewusst und unbewusst, an Bismarck gegeben. Vom Mantel Gottes, wenn er durch die Geschichte geht, war die Rede: da müsse man aufspringen und ihn festhalten. Aber es ging nicht nur um mehr oder weniger präzise Zitate und staatsmännische Prosa. Es ging vor allem um die fleißig und oft wiederholte – für die Insider des Geschehens ein wenig zu oft – Beteuerung, deutsche Einheit und europäische Integration seien „zwei Seiten derselben Medaille“. So oder ähnlich stand es seit 1949 in der Präambel des Grundgesetzes. So hatte Konrad Adenauer es formuliert, Pater Patriae. So wiederholte es der Enkel Helmut Kohl. Und hatte Recht, elementar, historisch, politisch und moralisch, und ohne jeden Abstrich. Die deutsche Einheit gegen Europa ins Werk zu setzen, gar gegen die Vereinigten Staaten, war zwar denkbar, aber nicht machbar. Davor standen Helmut Kohl, die Union und die Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen des Landes. Es war im Übrigen auch nicht denkbar, damals wie heute, die deutsche Sicherheit unter Ignorierung der Russen zu formulieren. Kohl war es, der in seiner ersten Regierungserklärung im Herbst 1982 konstatierte, Bündnisfähigkeit sei Kern deutscher Staatsräson. Er hatte westliche Bündnisfähigkeit gemeint und hatte damit verlorenes Vertrauen aus dem Strudel der INF-Krise – amerikanische Systeme gegen sowjetische Mittelstreckenraketen – herausgefischt. Dieses Vertrauen, unter großen Nationen immer ein knappes Gut, hat dann, wenige Jahre später, den gemeinsamen Weg des Westens zur deutschen Einheit erst ermöglicht. Und doch hat mancher im Bonn des Jahres 1990 die Versuchung gespürt, die Amerikaner mit gepresstem Dank zu verabschieden, den
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Nordatlantik-Vertrag aufzukündigen und es mit dem großen equilibristischen Spiel der Mitte noch einmal zu versuchen – das reichte von Grün und Rot in der Opposition bis in die Spitzenränge der Bundesregierung und der Koalition. Die Politik der Einheit war in ihrem glücklichen Ausgang nicht vorbestimmt. Sie bedurfte der Staatskunst, nach innen ebenso wie nach außen, und eines Sinnes für Geschichte und Geographie oder, speziell, der Geopolitik. Und sie bedurfte in der Tat, auch das war eine Lehre der Geschichte, der intensiven Pflege des Verhältnisses zu Russland, damals noch als Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken firmierend. Russland war der große Verlierer des Kalten Krieges, war moralisch trost- und wirtschaftlich hilfsbedürftig – und verfügte noch immer über mehrere Millionen Männer und Frauen unter Waffen und über einiges mehr als 20.000 nukleare Gefechtsköpfe. Zudem hatte die russische Führung nicht ohne starke Vorbehalte, bevor sie sich zögernd und zerstritten Mitte Februar 1990 auf das Zwei-plus-Vier-Verhandlungsformat und das Ziel deutscher Einheit und neuen Gleichgewichts einließ, sehr vernehmlich „Njet“ gesagt. Gorbatschow warnte nach dem Fall der Mauer und Kohls 10-Punkte-Plan für Konföderation, lange Fristen und umsichtige Neuordnungen, es seien schon Leute am Genuss unreifer Früchte gestorben. Im Verlauf der Verhandlungen wurde indessen deutlich, dass die Russen einen Plan B in der Schublade hatten und über Kompensation mit sich reden ließen – was am Ende zur Aufnahme einer besonderen Vormerkung in das „Zwei-plus-Vier“-Settlement führte. Dass, wenn das Gleichgewicht gestört ist, jeder Gewinn der einen Seite der Kompensation für die andere Seite bedarf, gehört im Übrigen zu den ältesten Grundregeln der Diplomatie – Bismarck hat das 1870/71 verfehlt, gegenüber Frankreich und gegenüber Russland, und seit 1990 hätte man in Washington wie in Bonn/Berlin daraus mehr lernen können, als es der Fall war. Dass es unterdessen in westlichen Hauptstädten eitel Freude gegeben hätte, kann man auch nicht sagen. Mitterand warnte Anfang Dezember 1989 einen Sendboten der Bonner Regierung, wenn es so weitergehe, werde man sich in der Lage des Jahres 1913 wiederfinden. Was der Herr des Elysée in diesem Moment vergaß, war die Tatsache, dass 1913 die europäischen Großmächte unter sich waren, 1990 aber die amerikanische Weltmacht das entscheidende erste und letzte Wort zu sprechen hatte. So wie einst im Zeichen der Pax Britannica Großbritannien war nun, als die Pax Americana für einen historischen Moment triumphierte, Amerika der große und entscheidende „balancer from beyond the water“. Wann immer die Verhältnisse auf dem europäischen Kontinent ins Tanzen geraten – das gilt von 1848 bis 1990 und wahrscheinlich auch weiterhin – kommt das Geschehen einer inneren und äußeren Revolution gleich. 1848 hatten Großbritannien und Russland, während Frankreich mit sich selbst und dem Bürgerkrieg in Paris befasst war, die deutsche Unruhe noch einmal eingedämmt. Das galt für den kurzen Krieg im Norden, als im Sommer 1848 Preußen und Öster-
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reich gegen Dänemark aufmarschierten und der Rebellion der Kieler Studenten die militärische Schneide liehen. Es galt noch mehr für die preußische Politik der norddeutschen Union, die 1849/50 dem Scheitern der Paulskirche folgte. Bismarck, der nach dem revolutionären März 1848 noch die Generalität zum Putsch gegen den konzessionsbereiten Monarchen hatte überreden wollen und der 1849 in der Kammer verächtlich vom „Nationalschwindel“ sprach, trat in die Politik ein als Verteidiger der bestehenden Verhältnisse und begann auf diese Weise eine große Karriere. Bald aber lernte er, dass Preußen nur als Industriestaat Machtstaat bleiben konnte, dass es des historischen Kompromisses bedurfte mit dem liberalen Bürgertum und dass die soziale Frage eine Antwort von oben brauchte, sonst würde sie sich die Antwort von unten erkämpfen. Seine Strategie lautete, die Revolution zugleich zu nutzen und ihre Spitze abzuschneiden. Das geschah nicht nur, um die alten Machtverhältnisse zu stabilisieren, sondern auch, um Europa zu beruhigen. Ein konservatives Großpreußen in der Mitte Europas war den älteren Mächten vielleicht noch hinnehmbar, außer für Frankreich. Ein revolutionäres Deutschland im Modus von 1848, soviel war gewiss, würde alle Großmächte außer den Vereinigten Staaten gegen sich haben; doch die waren noch lange hinter dem Horizont europäischer Großmachtpolitik. Die preußische Heeresreform, die nach dem italienischen Einigungskrieg 1859 eingeführt wurde, sollte nicht nur das Instrument schärfen, das der Diplomatie Nachdruck gab, sondern auch die Liberalen zur Entscheidung zwingen: Sie waren gegen das katholische, protektionistische Konglomerat, das Österreich hieß – aber deshalb waren sie noch lange nicht für die preußische Monarchie in der alten, ungemilderten Form. Das Nationalprojekt war seit 1848 vor allem ein liberal-parlamentarisches Projekt, die Heeresreform des preußischen Königs Mittel des inneren Machtkampfs dagegen. Die Bismarcksche Lückentheorie – bei Nichteinigung zwischen Kammer und Kabinett wollte Bismarck die „Lücke“ auf seine Weise ausfüllen – kam einem Staatsstreich gleich. Aber die Liberalen wollten beides, die liberale Monarchie und die Scheidung, notfalls militärisch, von Österreich. Das aber zwang sie ins Bündnis mit der Maison militaire und ihrer Politik der konservativen Gegenrevolution. „Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden“, so fasste Bismarck 1862 im Parlament Vergangenheit und Zukunft zusammen, „sondern durch Eisen und Blut“1. Der Krieg von 1864 gegen die großdänische Einigungspolitik war deshalb beides: Wiederaufnahme der nationalen Freiheitsideen von 1848 und zugleich Beweis, dass sie, um zu florieren, das Bündnis mit realer Macht brauchten. Der kurze Krieg des Sommers 1866 gegen Österreich war das Gegenteil eines Eroberungskrieges: Angefangen und beendet wie ein Duell satisfaktionsfähiger
1 Otto von Bismarck, Erklärungen in der Budgetkommission, Rede vom 30. September 1862, in: Hans Rothfels, Bismarck und der Staat, 2. Aufl., Darmstadt 1953, S. 183.
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Herren, definierte er das künftige Deutschland ohne und gegen Österreich – weil die Donaumonarchie zu historisch war, zu groß, zu katholisch, zu rückständig, zu protektionistisch. Preußen-Deutschland ohne Österreich mochte den Mächten noch hinnehmbar sein. Mit Österreich, das hatte sich anno ’48 gezeigt, war es zu groß. Damals hatte in der Paulskirche der Verfassungsmacher Dahlmann allen Ernstes vom Reich zwischen den vier Meeren geschwärmt – dass das Bonner Kanzleramt an der Dahlmannstrasse lag, war eher Zufall. Aber 1866 blieb noch vieles offen, namentlich die innere Kräfteverteilung. Das Dritte Deutschland, gefangen in den Kraftlinien zwischen Paris, Berlin und Wien, schloss sich wirtschaftlich und militärisch dem Norden an. Aber der neue Schwebezustand enthielt noch viele Möglichkeiten. Die Wahlen zum Zollparlament 1867 – „Steuer zahlen, Maulhalten, Soldat sein“, agitierten die Gegner – gingen für die Preußen-Freunde schlecht aus. Die Finanzmärkte hielten den neuen Schwebezustand so wenig für das letzte Wort wie die Militärs, die französischen so wenig wie die preußischen. Die Entscheidung kam durch Krieg – die „spanische Thronkandidatur“ eines Hohenzollernprinzen aus der katholisch-süddeutschen Nebenlinie war nur Anlass. Die Franzosen stürzten sich hinein, um die in Mexiko und bei Königgrätz fragwürdig gewordene Kraft des napoleonischen Kaisertums zu beweisen. Bismarck lieferte ein Meisterstück in Krisen- und Kriegsmanagement, das die europäischen Großmächte überraschte und, bevor sie die Lage begriffen hatten, vollendete Tatsachen schuf. Was dann allerdings folgte, die protzige Proklamation des Kaisertums in Versailles, die maßlosen Annexionen, die Demütigung Frankreichs, das war alles andere als ein Meisterstück. Treibend und getrieben, legte Bismarck einen Keim des Verderbens dem eigenen Werk in die Wiege. Was ist damals geschehen? Benjamin Disraeli gab im House of Commons eine Antwort, die ähnlich wohl auch in den Staatskanzleien des übrigen Europa galt: „Let me impress upon the attention of the House the character of this war between France and Germany. It is no common war, like the war between Prussia and Austria, or like the Italian war in which France was engaged some years ago; nor is it like the Crimean war. This war represents the German revolution, a greater political event than the French revolution of last century. I don’t say a greater, or as great a social event. What its social consequences may be are in the future. Not a single principle in the management of our foreign affairs, accepted by all statesmen for guidance up to six months ago, any longer exists. There is not a diplomatic tradition that has not been swept away. You have a new world, new influences at work, new and unknown objects and dangers with which to cope, at present involved in that obscurity incident to novelty in such affairs . . .“2
2 Benjamin Disraeli, über den Deutsch-Französischen Krieg, 1871, zitiert nach Michael Stürmer, Die Reichsgründung. Deutscher Nationalstaat und europäisches Gleichgewicht im Zeitalter Bismarcks, 2. Aufl., München 1986, S. 164.
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Oppositionsführern darf man Übertreibungen nachsehen, sie gehören zum Gewerbe. Auch ist von 1870 bis 1914 noch viel geschehen, und vieles hätte anders kommen können. Doch von Jacob Burckhardt, dem Konservativen Basler Historiker, über Ludwig Bamberger, dem internationalen Bankier, bis zu Friedrich Engels, dem industriellen Revolutionsstrategen, gab es parteiübergreifend Konsens, dass die Reichsgründung eine Revolution war, wiewohl eine von oben, abgeschnittene Krise ersten Ranges, Bismarck ein weißer Revolutionär. Der Held aber ahnte den Preis des Sieges: „Mein Schlaf ist keine Erholung. Ich träume weiter, was ich wachend denke, wenn ich überhaupt einschlafe. Neulich sah ich die Karte Deutschlands vor mir, darin tauchte ein fauler Fleck nach dem andren auf und blätterte sich ab.“3
Seitdem tat er alles, vom Deutschen Reich die Folgen seiner halbrevolutionären Gründung abzuwenden. Das galt nach innen wie nach außen. Den Sozialisten, die der Pariser Commune nacheifern wollten, setzte er eine Doppelpolitik der Unterdrückung und der staatlichen Sozialpolitik entgegen; dem politischen Katholizismus, der sich für den Papst gegen den italienischen Staat engagierte, den Kulturkampf. Nach außen warb er um Frankreich und öffnete den Franzosen maghrebinische Horizonte, um sie die blaue Linie der Vogesen vergessen zu lassen. ÖsterreichUngarn und Russland, die das Erbe der Türkei beäugten, zähmte er im Dreikaiser-Bündnis. Den Russen signalisierte er, der ganze Balkan sei nicht die heilen Knochen eines pommerschen Grenadiers wert – wahrhaftig eine Alternative zu 1914. Den Botschafter in St. Petersburg wies er an, genscheristisch avant la lettre: „Wir betreiben keine Macht- sondern eine Sicherheitspolitik“4. Die Deutschen wollte er ruhig stellen, indem er zur Zeit des allgemeinen Kolonialfiebers und der Neuverteilung des Balkans warnend sagte: „[W]ir gehören zu den – was der alte Fürst Metternich nannte: saturierten Staaten“5. Flottenpolitik? Kolonialpolitik? Chef des Reichsmarineamts war ein Infanteriegeneral, der laut sagte „Je weniger Afrika desto besser“. 1889 wollte der Kanzler den ganzen Kolonialbesitz um eine symbolische Mark an ein hanseatisches Konsortium verpachten. Am Ende ahnte er, dass nach Frankreich auch Russland verloren war, sein ausgeklügeltes Bündnissystem nur noch Fragment. George F. Kennan sah darin, wie er schrieb, „the great seminal catastrophe of this cen-
3 Otto von Bismarck, Äußerung zu dem freikonservativen Abgeordneten Dr. Lucius im Mai 1872, in: Hans Rothfels, Bismarck und der Staat, 2. Aufl., Darmstadt 1953, S. 56. 4 Otto von Bismarck, Erlass an den Botschafter in Petersburg, Prinzen Reuss vom 28. Februar 1874, in: ebd., S. 132. 5 Otto von Bismarck, Reichstagsrede vom 11. Januar 1887, in: ebd., S. 140.
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tury“6. Alles kam darauf an, wenigstens die Briten, wenn schon ein formelles Bündnis unmöglich war – wegen des britisch-russischen „Great Game“ in Asien und wegen Elsaß-Lothringen in Europa – wohlwollend neutral zu halten. Da Hegemonie unerreichbar war und Beruhigung der Hauptmächte nicht gelang, blieb nur der Versuch, auf Bewahrung des Bestehenden zu setzen. Tragik ist, nach Goethe, wenn sich Widersprüche nicht auflösen lassen. Eine konservative Utopie, wenn sich alle Lebensformen ändern, ist ein tragisches Unternehmen. Zuletzt und vor allem: Wenn die Weltgeschichte mit der Tür ins Haus fällt, kann das Haus nicht unverändert bleiben. Das gilt nicht nur für die Grundlagen und Voraussetzungen neuer Gestaltung, sondern auch für die überlieferten Sichtweisen der Vergangenheit. Unsere Bilder von der Geschichte, sagte Jacob Burckhardt einmal, sind letztlich doch nur Spiegelungen von uns selbst. Bis 1990 schien über den deutschen Nationalstaat in Europa, über Macht und Moral, über Bismarck und die Folgen der Stab gebrochen – ruheloses Reich von Anfang bis Ende. Merkwürdig aber bleibt bis heute, wie wenig die weltpolitische Wende vor zwanzig Jahren die Historiker, zumal die deutschen, beeinflusste und ins Nachdenken gebracht hat. Die Rolle der Persönlichkeit in der Entscheidung, die Kräfte der Geopolitik, Gleichgewicht und Hegemonie, Verlust und Kompensation, die Bedeutung von Krieg und Gewalt, die ganze Unvorstellbarkeit des Umbruchs: Es wird wahrhaftig Zeit, im Licht radikal neuer Erfahrungen die alten Erzählungen zu überprüfen.
6 George F. Kennan, The Decline of Bismarck’s European Order. Franco-Russian Relations, 1875–1890, Princeton 1979, S. 3 (Hervorhebung im Original).
Reichsgründung und Wiedervereinigung Variationen zum Thema „Vergleichbarkeit und Unvergleichbarkeit“ von Otto von Bismarck und Helmut Kohl Von Hans-Peter Schwarz Auf den ersten und auf den zweiten Blick sind die Umbruchepochen 1864–1871 und 1985–1991 völlig unvergleichbar. Die Reichsgründung erfolgte in einem Staatensystem, in dem allein die europäischen Großmächte dominierten. Russland gehörte zwar schon seit langem zum europäischen Konzert und war periodisch nach Mitteleuropa vorgestoßen. Doch zumeist, wenn wilde Kosakenschwärme und die stoisch in den Schlachtentod marschierenden Regimenter geduldiger Muschiks im westlichen Europa Angst und Schrecken verbreiteten, waren sie von den dortigen Regierungen als Verbündete herbeigerufen, wobei es dann schwer wurde, sie wieder loszuwerden. Was sich in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs und in den Jahrzehnten danach vollziehen sollte, war somit keine Ausnahme von dieser säkularen Regel russischer Vorstöße und Rückzüge. Die Vereinigten Staaten gehörten zu Bismarcks Zeiten definitiv noch nicht zum europäischen Staatensystem, obgleich sie bereits indirekt auf die Außenpolitik Großbritanniens und Frankreichs einwirkten. Bismarck verfolgte allerdings den Aufwuchs dieser transatlantischen Großmacht sehr aufmerksam. Als der Alt-Achtundvierziger Carl Schurz, im vor kurzem beendeten Bürgerkrieg Brigadegeneral in den Armeen der Nordstaaten, Ende Januar 1868 mit dem Kanzler des Norddeutschen Bundes zwei lange Gespräche führte, wusste er zu berichten, „daß man hier mit einem außergewöhnlichen Kopf zu tun hat, der die Menschen und ihre Verhältnisse, besonders die Deutschen und ihre Schwächen und Untugenden, gründlich kennt“1. Dieser habe aber auch über die Vereinigten Staaten viel nachgedacht und viel darüber gewusst, „mehr als irgendein Europäer meiner Bekanntschaft, der nicht in Amerika gewesen war.“2 Hundert Jahre nach dieser Unterredung, in den Anfängen des Kalten Krieges, waren aus den USA und dem kommunistischen Russland die globalen Supermächte geworden, ihre bald beiderseits atomar gerüsteten Armeen und Luftstreitkräfte befanden sich mitten in 1 Carl Schurz an Heinrich Meyer, 3.2.1968, in: Carl Schurz, Lebenserinnerungen: Bd. III, Briefe und Lebensabriß, Berlin/Leipzig 1929, S. 301. 2 Ibd., Bd. 2, S. 499.
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Deutschland. Somit wurde das Ringen um die Wiedervereinigung in stärkstem Maß in Moskau und in Washington entschieden. Anders als zu Zeiten Bismarcks war die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffene Bundesrepublik Deutschland nur noch eine Macht zweiten Ranges, während der zweite deutsche Staat, die DDR, wie sich wieder und wieder zeigte, nur ein ohnmächtiges Satellitenregime von Gnaden der Sowjetunion war. Unvergleichbarkeit also! Unvergleichbar war auch ein anderer Faktor: die Einstellung der Deutschen zum Krieg. Bismarck, Wien oder Paris unter Napoleon III. hatten den Krieg noch als legitimes Mittel der Politik aufgefasst. Ihnen folgten dabei große Mehrheiten der Führungsschichten, doch auch Millionen einfacher patriotischer Staatsbürger. Vor allem Bismarck war sich zwar bereits über die schwer kalkulierbaren Risiken eines vom Hass und von der Begeisterung der Massen getragenen nationalistischen Volkskriegs voll im Klaren. Er war deshalb sorgenvoll bemüht, nur in Dauer und Ausdehnung begrenzte Kriege zu führen. Prinzipiell aber sah er im Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. „Ja“, bekam von ihm Ende März 1867 Eduard Graf von Bethusy-Huc, der Parteiführer der Freikonservativen zu hören, „ja, ich habe den Krieg von 1866 gemacht in schwerer Erfüllung einer heiligen Pflicht, weil ohne ihn die preußische Geschichte stillgestanden hätte, weil ohne ihn die Nation politischer Versumpfung verfallen und bald die Beute habsüchtiger Nachbarn geworden wäre, und stünden wir wieder, wo wir damals standen, würde ich entschlossen wieder den Krieg machen.“ Doch würde er Seiner Majestät niemals zu einem Krieg raten, welcher nicht „durch die innersten Interessen des Vaterlandes“ geboten sei.3 Wie zu allen Zeiten waren Kriege auch in der Bismarckzeit fürchterlich, schienen aber noch akzeptabel. Doch 100 Jahre später war auch in Deutschland die Einstellung zum Krieg nicht mehr wiederzuerkennen. In den Kriegsszenarios des Kalten Krieges planten die Staatsführungen zwar weiterhin für den Kriegsfall, dies aber im klaren Wissen darum, dass ein technischer, wahrscheinlich auch atomar geführter Vernichtungskrieg vielen Millionen das Leben kosten und vielleicht zur Vernichtung der Zivilisation führen würde. Wenigstens im Westen legitimierte nur der Abschreckungskalkül die Drohung mit Entfesselung des großen Infernos. Bei der politischen Klasse wie bei den Massen war längst eine postheroische, mehr oder weniger ausgeprägt pazifistische Mentalität verhaltensbestimmend. Kriegführung als Mittel zur Lösung der deutschen Frage wie 1866 oder auch 1870/71 stand außerhalb jeder Diskussion. Auch die Regierung Helmut Kohls betete Tag für Tag das Mantra herunter, jede Veränderung in Deutschland und Europa dürfe nur gewaltfrei, gewaltfrei, gewaltfrei erfolgen. Also auch hier: völlige Unvergleichbarkeit. 3 Gespräch Bismarcks mit dem Abgeordneten Grafen Bethusy-Huc, Ende März 1867, zit. nach: Bismarck Gespräche. Bis zur Reichsgründung, hrsg. von Willy Andreas (= Bd. 1), Bremen 1964, S. 174 f.
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Listet man die Unvergleichbarkeiten auf, so ist weiter daran zu erinnern, dass die Uhren der politischen Systeme 1866–1871, in der Epoche der Reichsgründung, und 1989/90, zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung, völlig anders tickten. Bismarck hatte sich bei den letzten Entscheidungen über Krieg und Frieden dem Willen des Monarchen zu beugen. Den verfassungsrechtlich abgesicherten Zwängen der konstitutionellen Monarchie konnte sich nicht einmal dieser „weiße Revolutionär“ entziehen, dessen „despotische Neigungen“4 Freund und Feind wohlbekannt waren. Die berühmte Szene in Nikolsburg ist später oft erzählt worden. Als er gegenüber Wilhelm I. mit seinem Kurs der Mäßigung gegenüber den geschlagenen Mächten Österreich-Ungarn und Bayern nicht durchdrang, will er daran gedacht haben, sich aus dem vierten Stock des Fensters zu stürzen, sei aber von seinen düsteren Gedanken durch das Eintreten des Kronprinzen abgehalten worden, der seinen Vater überredet hatte, „einen so schmachvollen Frieden anzunehmen“5. Unnötig zu sagen, dass auch der Handlungsspielraum des demokratischen Bundeskanzlers Helmut Kohl stark eingeengt war. Statt mit dem Eigensinn eines Königs oder mit Hofintrigen war er mit den Medien, mit den im Frühjahr und Frühsommer 1989 recht ungünstigen Umfragen, mit den Zweifeln in der eigenen Partei und mit den Unkalkulierbarkeiten der Entwicklung in der DDR beschäftigt. Immerhin hatte er es nicht wie Bismarck mit mehr als zwei Dutzend selbstbewusster deutscher Souveräne zu tun. Doch die Eigenwilligkeiten der Koalitionsregierung in der DDR seit Januar 1990 und die schnell wechselnden Stimmungen und Führungen in den ungefestigten DDR-Parteien warfen Woche für Woche gleichfalls schwierigste Fragen auf. Dennoch: völlige Unvergleichbarkeit der innenpolitischen Bedingungen sowohl in der Bundesrepublik als auch in der 1990 moribunden DDR mit den deutschen politischen Systemen im Zeitalter Bismarcks! So könnte man fortfahren und gut ein halbes Dutzend weiterer wichtiger Unvergleichbarkeiten benennen, die Zweifel daran wecken könnten, ob ein Vergleich der Reichsgründung und der Wiedervereinigung unter Bismarck bzw. Kohl überhaupt sinnvoll ist. Dennoch gibt es auch gute Argumente dafür, völlig unterschiedliche Konstellationen und Typen miteinander zu vergleichen. Vergleiche machen nachdenklich. Sie regen dazu an, bestimmte Besonderheiten modernen Politikmachens in ihrer historischen Eigentümlichkeit zu erfassen – gerade dann, wenn man sich vor Augen führt, wie grundlegend sich die Welt des späten 20. Jahrhunderts von den mittleren Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts unterschieden hat. Immerhin hat sich ein vergleichbarer Vorgang abgespielt. Beide Male gelang es, in Deutschland ei4 So Carl Schurz in dem eben erwähnten Brief an Heinrich Meyer, in: Lebenserinnerungen, Bd. III (a. a. O.), S. 302. 5 Bismarck, Gedanken und Erinnerungen, Stuttgart 1922, Bd. 2, S. 54.
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nen deutschen Nationalstaat zu errichten oder nach langer Teilung wiederherzustellen, dies trotz stärkster Widerstände im Innern und in einem internationalen Umfeld, das eigentlich nicht erwarten ließ, der Versuch könne gelingen. Und in beiden Fällen haben zwei bemerkenswerte Spitzenpolitiker maßgeblichen, vielleicht entscheidenden Anteil am Gelingen gehabt: der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck und der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland Helmut Kohl. Wo zeigen sich also, ist nun zu fragen, neben den vielen Unterschieden doch Vergleichbarkeiten, über die nachzudenken es sich lohnt? Beginnen wir mit dem Epochenklima und den dadurch bedingten Tabuisierungen, die auf die politischen Führungsschichten im Deutschland der Jahrzehnte des Vormärz und dann erneut der Restaurationszeit in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts eingewirkt haben und vergleichen wir das mit dem Epochenklima und den Tabuisierungen, die in der politischen Klasse der Bundesrepublik der 1970er- und 1980er Jahre jene so ganz auffällige Deutschlandpolitik zaghafter Ängstlichkeit und schmiegsamer Anbiederung zur Folge hatten. Bei den deutschen Souveränen und unter den Konservativen der Jahrzehnte von 1815 bis Mitte der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts waren drei große Ängste handlungsbestimmend: die Angst vor dem Nationalismus der Völker, die Angst vor den Ideen des Liberalismus sowie der Demokratie und die Angst vor der Revolution. Das strahlte auch weit in manche Teile des Bürgertums aus. „Seitdem die Politik auf innere Gärungen der Völker gegründet ist, hat alle Sicherheit ein Ende“, hat Jacob Burckhardt – kein Aristokrat, kein Deutscher, wohl aber ein ängstlicher Bürger – die Revolutionsfurcht des 19. Jahrhunderts gelegentlich auf den Punkt gebracht.6 Und die Furcht vor den Erschütterungen der italienischen, ungarischen und tschechischen Nationalbewegungen hatten den Dramatiker Franz Grillparzer – auch er ein ängstlicher Bürger – das alsdann geflügelte Wort zu Papier bringen lassen: „Von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität.“ Alle, die Angst hatten und warnten, konnten plausible historische Argumente in Erinnerung bringen. Die Revolution in Frankreich gefolgt von den Revolutionskriegen, das Auftreten des lange Zeit unwiderstehlichen Diktators Napoleon als Erbe der Revolution und der französische Imperialismus in den Jahren 1793 bis 1813 hatten bei vielen Deutschen ein großes Trauma hinterlassen, womit die Metternichs der folgenden Jahrzehnte ihre Repression legitimierten. Demagogenverfolgung, Interventionen, militärische Niederwerfung nationaler und liberaler Bewegungen wurden mit dem Primat politischer Stabilität und Friedenssicherung legitimiert. In Deutschland brachte erst Bismarck die Unvoreingenommenheit auf, das stets aktivierbare Potential der Nationalbewegung für die Machtsteigerung der preußischen Monarchie zu nutzen. 6 Jacob Burckhardt an Friedrich von Preen, 21.2.1878, in: Briefe, Bd. VI, Basel/ Stuttgart 1966, S. 228.
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Wo liegt die Vergleichbarkeit? Sie ist darin zu sehen, dass große Teile der bundesdeutschen politischen Klasse in den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts alle Nationalbewegungen und Freiheitsbewegungen im Ostblock genauso verabscheut haben wie das einstmals die Metternichianer und deren Nachfolger in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts mit den destabilisierenden Nationalbewegungen getan haben. Hatten nicht auch sie beim Verweis auf den deutschen Nationalsozialismus oder den italienischen Faschismus gute Argumente? „Von der Nationalität zur Bestialität . . .“? War nicht das von der Hitlerbewegung eroberte Deutsche Reich ähnlich imperialistisch, räuberisch, kriegerisch und repressiv gewesen wie das napoleonische Frankreich – doch dies, ohne dass die deutschen Armeen die bürgerlichen Freiheiten des Code Napoléon mitführten? In den beiden Jahrzehnten der Entspannungspolitik haben deren Vorkämpfer die Wiederherstellung eines deutschen Nationalstaats nach Erschütterung des Ostblocks ähnlich gefürchtet und ähnlich ent-legitimiert wie einstmals Metternich und seine Nachfolger französischen Nationalismus und das Wiederaufleben napoleonischer Diktaturen perhorresziert haben. Behutsame Evolution des Ostblocks hin zu einer obrigkeitlich kontrollierten Liberalisierung wurde für wünschbar und möglich gehalten, aber eine Destabilisierung der kommunistischen Systeme war unerwünscht, ganz besonders die Destabilisierung der DDR. Freiheiten, die in den westlichen Demokratien ganz selbstverständlich waren – Parteienpluralismus, Ablehnung obrigkeitsstaatlicher Zwangsgewalt, Meinungsfreiheit, Reisefreiheit, Freiheit, ungegängelt zu wirtschaften – wurden für gefährlich und im Grunde für illegitim erachtet, sobald Dissidenten in Ostmitteleuropa und Osteuropa oder „Kalte Krieger“ im Westen dies für den kommunistischen Herrschaftsbereich einforderten. Dieselben, die an die Opfer in den einstigen deutschen KZs oder Gefängnissen mit viel Bewegung erinnerten, verhärteten ihr Herz, wenn die Forderung aufkam, die kommunistischen Regime sollten verschwinden, weil auch sie nur mit der Angst vor Gefängnishaft, vor Bespitzelung und vor Militärintervention aufrechterhalten werden konnten. So hat sich die Bundesregierung unter Helmut Schmidt gegenüber der Freiheitsbewegung Solidarnosc mehr als reserviert verhalten. Tabuisiert war jede Art deutscher Freiheits- und Nationalbewegung. In großen Teilen der Medien, bei der SPD und seitens der Grünen wurde das seit Anfang der 70er Jahre auf die Wiedervereinigung gelegte Tabu besonders nachdrücklich artikuliert. Besonders schrill äußerten sich viele Journalisten und Spitzenpolitiker der SPD und der Grünen noch im Winter 1989/90, als nach dem Mauerfall das im Kalten Krieg verfestigte europäische Staatensystem urplötzlich in Bewegung geriet. Jetzt fanden sich nochmals zahlreiche Exorzisten, die ihre Mantras gegen die Wiederherstellung eines deutschen Nationalstaates verlautbarten. Ihre Namen sind wohlbekannt. Eines meiner diesbezüglichen Lieblingszitate stammt von dem Alt-Achtundsechziger Joschka Fischer. Eine Woche nach dem Mauerfall waren in der „taz“ seine „Thesen zu einer neuen grünen Deutschlandpolitik“ zu lesen.
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„Droht die Wiedervereinigung?“, fragte er dort, und antwortete mit dem Exorzismus: „Die nach dem 8. Mai 1945 in Europa errichtete Nachkriegsordnung hat ein wesentliches Ziel bis auf den heutigen Tag: die Fieberschauer eines gewalttätigen deutschen Nationalismus sollten nie wieder Europa ängstigen . . .“7 Die Wiederherstellung eines „kleindeutschen Nationalstaats“ zu verhindern sei „überlebensnotwendige Demokratenpflicht für mindestens weitere fünfundvierzig Jahre.“ Elf Monate später war der „kleindeutsche Nationalstaat“ bereits ohne Schaden für Europa wiederhergestellt. Fischers Verdikt ist nicht aus biographischen Gründen erinnerungswürdig; er hat sein defizitäres Urteilsvermögen auch künftig noch verschiedentlich zur Darstellung gebracht. Besonders interessant war das NichtGesagte. Indem er von der nach dem 8. Mai 1945 in Europa errichteten „Nachkriegsordnung“ sprach, legitimierte er stillschweigend das sowjetische Imperium, das die Freiheit in Ostmitteleuropa unterdrückte und die Deutschen in der DDR hinter Mauer und Stacheldraht gefangen hielt – jedoch mit gelegentlichem Freigang für Pensionäre und bei dringenden Familienangelegenheiten. Fischer als Vordenker der Grünen war nicht der einzige Spitzenpolitiker, der den kommunistischen Obrigkeitsstaat mit dem Argument legitimierte, jede Wiederkehr überbordender Freiheitsbewegungen oder gar des Nationalen gefährde die Ruhe und die Stabilität Europas. Gerhard Schröder, Oskar Lafontaine und ganz besonders Egon Bahr haben sich ähnlich geäußert. Dass sie sich damit im fernen Schlagschatten Metternich’scher Ängstlichkeit befanden, hat Willy Brandt hinlänglich deutlich erkannt. Brigitte Seebacher-Brandt hat – am 21. November, fünf Tage nach der eben erwähnten Äußerung Fischers in der „taz“ – in der FAZ geschrieben, Egon Bahr und Günter Gaus stünden in dem Ruf, „kleine Metternichs“ zu sein. Sie brachte jetzt die Meinung ihres Mannes zum Ausdruck, und später hat Egon Bahr das in einem Interview bestätigt: „Brandt“, so erzählte er dem Journalisten Daniel Friedrich Sturm, „hat mal zu mir gesagt: Du bist bei uns, was Kissinger bei Nixon ist. Mit dem Unterschied, daß Kissinger mehr Macht hat als diese kleine Bundesrepublik. Aber in eurem Denken seid ihr beide Metternichs.“8 Die Analogien sind offenkundig. Zwar behalten die Metternichs oft über Jahrzehnte hinweg Recht, solange die unterdrückten Völker ihre Misere ertragen. Kommt aber der revolutionäre Geschichtsprozess ganz unerwartet in Gang, offenbart sich die Beschränktheit ihres analytischen Vermögens. Zwischen 1982 und 1989 fanden sich die Metternichs übrigens auch im Regierungslager Helmut 7 Joschka Fischer, „Thesen zu einer neuen grünen Deutschlandpolitik“, in: „tageszeitung“, 16.11.1989, zit. nach Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung, München 2000, S. 521. 8 Daniel Friedrich Sturm, Uneinig in die Einheit. Die Sozialdemokratie und die Vereinigung Deutschlands 1989/90, Bonn 1006, S. 216. Siehe auch Brigitte SeebacherBrandt, Willy Brandt, München 2004, S. 218.
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Kohls. Noch im Oktober 1989 warnte Heiner Geißler vor einem „Herumhämmern auf der Wiedervereinigung“9. Ähnlich wie bei Joschka Fischer war auch bei Geißler die Sorge vor unsteuerbaren Nationalbewegungen ein Hauptmotiv. Unbeschadet seines zähen Festhaltens an den von der SPD und den Grünen bereits geräumten Positionen freiheitlicher Widervereinigungspolitik hatte auch Helmut Kohl lange Zeit zu den sehr Vorsichtigen gehört. Doch in wenigen, für die weitere Entwicklung entscheidenden Wochen vom November 1989 bis zum Februar 1990 warf er alle Bedenken über Bord. Der phantasievolle Bismarck, der alle Optionen durchzuspielen wusste und sich nie voll auf eine einzige Lösung festlegte, brauchte Jahre, bis er sich auf die Forderungen der Nationalbewegung einstellte und mit ihren bündniswilligen Akteuren eine Allianz einging. Der an und für sich viel bedächtigere, eigentlich alles andere als sprunghafte und zu Abenteuern disponierte Helmut Kohl brauchte nur wenige Wochen, bis er die Irrtümer der Metternichianer des späten 20. Jahrhunderts erkannte und hinter sich ließ. Indem er sich unversehens an die Spitze der Einigungsbewegung setzte, hatte er Erfolg und veränderte die geostrategische Landkarte Europas. Vergleichbarkeit also durchaus! Wenn eben von der ausgeprägten Vorsicht Helmut Kohls die Rede war, der sich in einmaliger Lage bemerkenswerte Risikobereitschaft hinzugesellte, so zeigen sich auch hier gewisse Analogien zur Raffinesse, mit der Bismarck in der Phase der Reichsgründung vorging. Bei allen Wegen und Umwegen, die ihn schließlich zur Gründung des Deutschen Reiches und zur Kaiserproklamation im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles führten, war er sich stets über zwei grundlegende Erfolgsbedingungen im Klaren: Erstens bedurfte jeder Schritt der Duldung durch mindestens zwei, wenn nicht gar drei der großen europäischen Mächte, und zweitens war nur an ein Vorankommen zu denken, wenn sich die Souveräne des späteren kleindeutschen Reiches von den Vorteilen eines Zusammenschlusses unter preußischer Führung überzeugen ließen. 1866, als Bismarck Österreich-Ungarn gewissermaßen aus dem Deutschen Bund „herausschoss“, versicherte er sich zuvor der Duldung Russlands, Großbritanniens und – damals besonders wichtig – Frankreichs unter Napoleon III. 1870/71. Als er die süddeutschen Staaten in einen nationalen Verteidigungskrieg nach Frankreich führte, das sich zur Kriegserklärung hatte provozieren lassen, mussten wiederum Russland, England und diesmal Österreich-Ungarn ruhig gehalten werden. Unter den völlig anderen geostrategischen Bedingungen der Jahre 1989/90 hat sich Helmut Kohl ähnlich umsichtig verhalten. Er verstand es, die damals mit großem Abstand stärkste Macht, die Vereinigten Staaten, fest an seine Seite zu 9 Zit. nach Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, München 2009, S. 168.
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bringen, dabei wohl wissend, dass Präsident Bush und Außenminister Baker ein viel größeres Spiel spielten. Angesichts sowjetischer Schwäche sahen diese eine Möglichkeit, den Kalten Krieg für sich selbst und die westlichen Demokratien zu entscheiden, indem sie dem sowjetischen Generalsekretär und Präsidenten Gorbatschow als dem großen Friedensbringer huldigten, ihn dabei aber freundschaftlich aus Ostmitteleuropa, dem Baltikum, schließlich sogar der Ukraine hinauskomplimentierten – eine Leistung, die in den Annalen der Diplomatie ganz einzigartig dasteht. Trotz der amerikanischen Unterstützung musste Helmut Kohl aber alles aufbieten, die beiden neben der Bundesrepublik in Westeuropa noch verbliebenen großen Mächte zu überspielen, ohne dass aus dem Fingerhakeln eine offene Konfrontation innerhalb der Allianz wurde. Margaret Thatcher wurde mit amerikanischer Hilfe kalt gestellt. Ihr Widerstand gegen die Wiedervereinigung fand auch im Foreign Office nur lauwarme Unterstützung. Frankreich unter Mitterrand galt es ähnlich hinzuhalten wie Bismarck im Sommer 1866 mit Napoleon III. verfahren ist. Die Lösung der deutschen Frage kam so schnell und so unwiderstehlich in Gang, dass der französische Präsident, der zusammen mit Gorbatschow und Margaret Thatcher teilweise ohne Wissen Helmut Kohls ein Doppelspiel versuchte, gleichfalls ausmanövriert wurde. Energischer als seinerzeit Napoleon III. bestand er allerdings auf sofortigen Kompensationen, indem er fast mit Brachialgewalt die alsbaldige Zustimmung der Bundesrepublik zum Termin der Einberufung einer Regierungskonferenz durchsetzte, die ohne Verzug einen Vertrag zur Wirtschafts- und Währungsunion auszuarbeiten hätte. Die D-Mark, so sah er es, war für das ökonomisch potente Deutschland eine Art „Atombombe“. Diese sollte um jeden Preis europäisiert werden, noch bevor das wiedervereinigte Deutschland in Versuchung geraten könnte, seine Muskeln spielen zu lassen. Dazu hat sich der Bundeskanzler, dabei gleichfalls gedrängt von seinem Koalitionspartner, Bundesaußenminister Genscher, zu Beginn des gewitterschwülen Gipfels des Europäischen Rats am 8. Dezember 1989 in Straßburg bereit erklärt. Die Kompensation fiel dem Bundeskanzler jedoch nicht allzu schwer. Schon bevor der Wiedervereinigungsprozess in Gang kam, hatte er – dabei gedrängt von Mitterrand und anderen EU-Ländern – die Währungsunion als Selbstzweck betrachtet – als tragendes Element des von ihm angestrebten Vereinten Europa. Ursprünglich hatte er darin vor allem ein Quid pro quo für die von ihm angestrebte Europäische Union gesehen, von der er sich vor allem eine gemeinschaftliche Außen- und Sicherheitspolitik der EU versprach. Dabei war der schließlich von ihm konzedierte Termin für den Zusammentritt der Regierungskonferenz, der 15. Dezember 1990, jedoch so gelegt, dass die Bundestagswahl Anfang Dezember 1990 nicht von möglichen Kontroversen über eine europäische Währung belastet werden sollte. Auch, dass die Wiedervereinigung bereits am 3. Oktober 1990, also noch vor Zusammentritt und Beauftragung der Regierungskonferenz, in trockenen Tüchern sein würde, hat am 8. Dezember 1989 niemand vorherge-
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sehen. Immerhin: Die Kompensation kam zustande, und bekanntlich hat Helmut Kohl bis zum Ende seiner Kanzlerschaft eisern daran festgehalten. Selbstverständlich zeigen sich auch beim Umgang Kohls mit der Sowjetunion unter Gorbatschow gewisse Parallelen zur Behandlung Österreich-Ungarns durch Bismarck im Frieden von Prag vom Sommer 1866 und danach. „Die Staatskunst erforderte“, so hatte Bismarck später ausgeführt, „daß das österreichische Kaiserreich, dessen Existenz für Europa notwendig sei, nicht ganz zertrümmert oder zu einem bloßen Bruchstück reduziert würde. Es müßte zum Freunde werden, und als Freund dürfe es nicht ganz machtlos sein . . .“. Genauso legte später Helmut Kohl größten Wert darauf, dem durch die revolutionäre Entwicklung in der DDR und alsdann bei den 2+4-Verhandlungen ausmanövrierten Gegner goldene Brücken zu bauen. Ersetzt man in dieser Feststellung „das österreichische Kaiserreich“ durch die Sowjetunion bzw. Russland, so hätte das genauso von Helmut Kohl gesagt werden können. Wirtschaftshilfen im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung, der für zwanzig Jahre am 9. November 1990 zwischen Kohl und Gorbatschow abgeschlossene „Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit“, der jährliche Gipfeltreffen und zweimalige Treffen der Außenminister vorsah, sowie ein weiterer Vertrag über wirtschaftliche und technische Zusammenarbeit mit gleichfalls zwanzig Jahren Geltungsdauer und ein Abkommen über die Zusammenarbeit im Bereich der Arbeits- und Sozialpolitik sollten dazu beitragen. Nicht ohne Grund hat Kohl der Schilderung dieser mit Gorbatschow in Bonn vereinbarten Verträge in seinen Memoiren die Überschrift gegeben „Neue Partnerschaft“ und unterstrichen, dies sei der erste außenpolitische Grundsatzvertrag des wiedervereinigten Deutschlands gewesen.10 Wenn man beim Vergleich zwischen dem Prozess der Reichsgründung und der Wiedervereinigung nicht allzu pedantisch vorgeht, lassen sich auch noch weitere Analogien identifizieren. Im Winter 1870/71 hatte Bismarck von den Hauptquartieren in Frankreich aus nach drei Seiten über die Reichsgründung zu verhandeln, erstens mit den deutschen Fürsten, denen die Zustimmung zu einem föderalen, doch von Preußen dominierten Deutschen Reich abgerungen (im Fall Ludwigs II. von Bayern auch insgeheim abgekauft) werden musste, zweitens mit den führenden Liberalen im Reichstag des Norddeutschen Bundes und drittens mit seinem Souverän Wilhelm I., der mit gutem Instinkt verspürte, dass die Reichsgründung und die Annahme des Rangs eines deutschen Kaisers die Identität der preußischen Monarchie zusehends auflösen würde. Wesentlich aber war: Als Bismarck die süddeutschen Länder zum Eintritt in den Norddeutschen Bund einlud, stand schon – so hat Michael Stürmer dies gelegentlich sehr zutreffend formuliert – ein mehr oder weniger fertiges Haus bereit, „dessen eine, nördliche Hälfte bereits von den Bewohnern bezogen war, dessen südliche Hälfte indessen einladend geöffnet blieb, um die künftigen Bewohner in 10
Helmut Kohl, Erinnerungen 1990–1994, München 2007, S. 258–266.
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sich aufzunehmen“11. Die Analogie zur Wiedervereinigung durch Beitritt der DDR zum Grundgesetz über den Artikel 23 GG liegt auf der Hand. Anders als im Fall des Norddeutschen Bundes hatte aber das „mehr oder weniger fertige Haus“ Bundesrepublik Deutschland nicht drei kurze Jahre, sondern 41 Jahre auf den Beitritt der Länder aus der ehemaligen Ostzone zu warten. Ähnlich wie 1870/71 verband sich mit dem Beitritt der DDR auch die vollständige Einbeziehung in das Sicherheitssystem des bereits etablierten Bundes. Zwar hatte Bismarck schon 1867 mit den süddeutschen Regierungen jene Militärabkommen gegen einen Angriff Frankreichs abgeschlossen, die bereits eine recht weitgehende Zusammenarbeit bewirkten und schließlich in einen gemeinsamen Mobilmachungsplan mündeten, welcher der integrierten Kriegsführung im deutsch-französischen Krieg 1870/71 voranging. An Kriegsführung war zwar beim Beitritt im Oktober 1990 nicht gedacht, doch die Politik und die Bevölkerung in der DDR waren sich durchaus darüber im Klaren, dass angesichts der Präsenz sowjetischer Divisionen in der DDR zwischen 1990 und 1994 eine Art Sicherheitsschirm durch die Bundeswehr und damit verbunden auch die NATO doch recht wünschenswert wäre. Unschwer sind auch in bestimmten wirtschaftlichen Aspekten der Reichsgründung und der Wiedervereinigung gewisse Analogien zu erkennen. Bekanntlich hatte sich im Rahmen des Deutschen Zollvereins in den Jahrzehnten des Eisenbahnbaus, beim Aufbau der Zukunftstechnologien Kohle und Stahl im Ruhrgebiet und in Oberschlesien, auch beim Binnen- und Außenhandel und auf dem Bankensektor ein wirtschaftliches Übergewicht Preußens gegenüber dem Süden herausgebildet. Der modernere preußische Wirtschaftsraum wirkte wie ein Magnet. Das verstärkte sich 1866, als Preußen das Königreich Hannover annektierte und sich bis zur Mainlinie ausdehnte. Somit entsprach die Errichtung eines Zollparlaments mit den vorrangigen Aufgaben der Vereinheitlichung des Gewerberechts, der Zolltarife, der Handels- und der Schifffahrtssachen sowohl der wirtschaftlichen wie der machtpolitischen Logik. Die wirtschaftliche Überlegenheit Preußens war auch auf dem Währungssektor eindeutig. Der preußische Taler verdrängte als Zahlungsmittel den österreichisch-süddeutschen Gulden. Alles in allem trifft es wohl zu, dass die Sicherheitsfragen, verbunden mit dem Faktor Nationalbewusstsein, bei der Reichsgründung ausschlaggebend waren. Doch gewisse populistische Widerstände in Süddeutschland, die sich zwischen dem Frieden von Prag 1866 und dem Sommer 1870 stark bemerkbar machten, sind damals vom süddeutschen Unternehmertum ausbalanciert worden, das im preußisch beherrschten Westen und Norden seine Zukunft erblickte. Die wirtschaftliche Attraktivität des Norddeutschen Bundes hat also durchaus eine Rolle gespielt, auch im Kalkül Bismarcks. 11 Michael Stürmer, Die Reichsgründung. Deutscher Nationalstaat und europäisches Gleichgewicht im Zeitalter Bismarcks, München 1984 (= dtv 4504), S. 63.
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Sicherlich war die DDR, nachdem sich die Grenzen geöffnet hatten, wirtschaftlich viel schwächer als die süddeutschen Länder in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts gegenüber Preußen. Die Arbeitsproduktivität, die technologische Wettbewerbsfähigkeit auf den Weltmärkten, der Wert der Währung, die Modernität von Produktion und Distribution, die Leistungsfähigkeit des Bankensystems, die Ausgleichsfunktion der innerbetrieblichen Mitbestimmung – alles war in der Bundesrepublik anders, besser und moderner. Wie überlegen das Lohnniveau und die Kaufkraft in der Bundesrepublik waren, bewies die Arbeitskräftewanderung von Ost nach West vor dem 13. August 1961 und dann erneut nach dem 9. November 1989. Auch der Faktor Größe fiel ins Gewicht. Überhaupt bestand zwischen der Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik und derjenigen der DDR eine qualitative Asymmetrie. Somit hat der wirtschaftliche Magnetismus bei der Wiedervereinigung 1989/90, die zuerst über die Wirtschafts- und Währungsunion lief, zweifellos eine viel größere Rolle gespielt als bei der weit zurückliegenden Reichsgründung. Aber die Asymmetrie der wirtschaftlichen Überlegenheit, dies verbunden mit der Größe der Volkswirtschaft, war in beiden Fällen doch ein Faktor von Gewicht. Beim Vergleich zwischen der Reichsgründung und der Wiedervereinigung verdient aber noch ein weiterer Aspekt Beachtung: die innenpolitischen Widerstände, die sich in beiden Fällen der raschen Vereinigung entgegenstellten. Da sowohl 1870 im deutsch-französischen Krieg als auch nach dem Mauerfall und in den Märzwahlen 1990 eine Art Dammbruch erfolgte, der alle Widerstände hinweg spülte, sind diese Widerstände etwas aus dem Blickfeld gerückt, obschon sie im Vollzug der Einheit sehr problematisch waren. Im Fall der Reichsgründung durch Bismarck gingen die Widerstände zwischen 1866 und 1870 vor allem von Süddeutschland aus. Bei den Wahlen zum Zollparlament hatten die Parteien, die als pro-preußisch galten, einen fühlbaren Rückschlag erlitten. Partikularisten, anti-protestantische, katholische Strömungen, auf Autonomie der jeweils eigenen Staaten abonnierte Traditionalisten, Gegner des schneidigen Autoritarismus Bismarcks und Sympathisanten mit dem geschlagenen Österreich – sie alle zögerten, in das bereits vorbereitete Haus einzutreten. Besonders in Württemberg und in Bayern wurde die wirtschaftliche Überlegenheit Preußens ressentiert; doch auch die Allianzverträge stießen auf Widerstand. Wie kritisch das von Seiten bestimmter Publizisten gesehen wurde, die sich für die Reichsgründung unter preußischer Führung stark machten, illustriert eine sarkastische Bemerkung August Ludwig von Rochaus im zweiten, 1869 erschienenen Teil seiner berühmten Schrift „Grundsätze der Realpolitik“. Dort schrieb er: „Die deutsche Vaterlandsliebe ist aus viel Dichtung und wenig Wahrheit zusammengesetzt. Es gibt keinen deutschen Nationalgeist im politischen Sinne des Wortes und
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Ein gewisses „Anti-Preußentum“ gehörte jedenfalls nicht nur damals zur Grundausstattung der politischen Kultur in Süddeutschland. Kam in den Jahren 1866 bis 1870 die Nord-Süd-Problematik zum Tragen, so wirkte sich 1990 die in mehr als vier Jahrzehnten entstandene Ost-West-Teilung Deutschlands aus. Die halb willig, halb unwillig reformerische Ostberliner Regierung unter Ministerpräsident Modrow, der seit dem 8. Februar 1990 acht Vertreter der Opposition angehörten, sowie der „Runde Tisch“ dachten vorerst nur an konföderative Strukturen. Überlegungen, eine gesamtdeutsche Konstituante gemäß Artikel 146 GG zu bilden, hatten nicht zuletzt das Ziel, den Vereinigungsprozess zu verzögern. Das natürliche Widerstreben der alten Eliten in der DDR und der heterogenen Repräsentanten der Bürgerrechtler gegen eine rasche Vereinigung wurde durch Widerstände in der Bundesrepublik selbst verstärkt. Der prononciert anti-nationale Flügel der SPD um Oskar Lafontaine sowie die Grünen, die linken Intellektuellen und die einstigen Entspannungs-Publizisten bevorzugten eine Verlangsamung des urplötzlich in Gang gekommenen Vereinigungsprozesses, wenn nicht gar eine dauerhafte Verfestigung der Zweistaatlichkeit. Dabei war nicht nur die Rücksichtnahme auf die internationale Akzeptanz einer Wiedervereinigung von Gewicht. Wie einstmals in den Jahren vor der Reichsgründung 1870/71 lagen denn auch genuin innenpolitische Motive zugrunde: parteipolitische Aversionen gegen die CDU, sozialpolitische Forderungen und Sorgen oder Befürchtungen vor den Kosten einer Wiedervereinigung. Auch bei den Reaktionen Bismarcks und Kohls auf diese Widerstände sind gewisse Analogien feststellbar. Beide wollten anfangs einen Gradualismus nicht prinzipiell ausschließen. Als die bereits erwähnten Wahlen zum Zollparlament im Frühjahr 1868 zu einem Sieg „antipreußischer“ Kandidaten führten, schrieb Bismarck an die Regierung in Karlsruhe: „Auf einen Schlag eine homogene Gestaltung Deutschlands zu erreichen, ist nur möglich im Fall eines Krieges. Abgesehen von dieser Eventualität, die wir weder vorhersehen noch herbeiführen werden, wird die Entwicklung eine oder mehrere Übergangsstadien zu durchlaufen haben.“13
Auch Helmut Kohls 10-Punkte-Plan vom 28. November 1989 sah keine sofortige Wiedervereinigung vor, vielmehr „konföderative Strukturen“ mit dem Ziel, „eine bundesstaatliche Ordnung in Deutschland zu schaffen“.
12 August Wilhelm von Rochau, Grundsätze der Realpolitik, 2. Teil, Heidelberg 1869, S. 52. 13 Otto Pflanze, Bismarck. Der Reichsgründer, München 1997, S. 398.
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Die Entwicklung zur raschen Vereinigung war erst in dem Moment innenpolitisch nicht mehr zu stoppen, als bei den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 jene Parteien eine Mehrheit bekamen, die einen schnellen Beitritt nach Artikel 23 GG wünschten. Wäre die Volkskammerwahl anders ausgegangen, wären die Befürworter des Gradualismus konföderativer Strukturen vielleicht gestärkt worden. Damals lag die Wirtschafts- und Währungsunion schon als Angebot auf dem Tisch, musste aber erst noch ausgehandelt werden, erst recht die internationalen Vereinbarungen über die Wiedervereinigung. Ich möchte diesen Punkt nicht zu stark betonen. Darüber, was hätte geschehen können, wenn die einer raschen Vereinigung widerstrebenden Kräfte am 18. März die Oberhand gewonnen hätten, lässt sich nur spekulieren. Doch genauso wenig wie die Reichsgründung 1866 und 1870/71 ein Selbstläufer gewesen ist, hätte auch die Entwicklung ohne die Wahl einer Mehrheit in der Volkskammer, die auf sofortigen Beitritt nach Artikel 23 GG drängte, anders verlaufen können, jedenfalls viel langsamer. Es sei in diesem Zusammenhang noch eine andere Analogie genannt – mag sein, diese ist etwas weit hergeholt. Doch habe ich zu Beginn schon gesagt, dass Vergleiche in erster Linie dazu dienen, bestimmte Zusammenhänge vielleicht deutlicher zu sehen und Nachdenken zu wecken. Die Siege in den Kriegen 1866 und 1870/71 waren natürlich in starkem Maß dem Kriegsglück zu danken. Wie wäre wohl, so haben seither manche gefragt, die deutsche Geschichte verlaufen, wenn die Armee des Kronprinzen auf dem Schlachtfeld von Königgrätz zu spät eingetroffen wäre? Auch der Erfolg im Krieg gegen Frankreich war ja nicht unbedingt vorherbestimmt. Doch im Allgemeinen arbeiten die Historiker doch Überlegenheit dank eindrucksvoller Modernität der preußischen Kriegsmaschine heraus: logistische Überlegenheit dank konsequenter Nutzung von Eisenbahn und Telegraph, Zündnadelgewehr, artilleristische Überlegenheit über Frankreich, preußischer Generalstab unter einem Moltke, durch den die Mittelmäßigkeit der übrigen Generalität mehr als ausgeglichen wurde. Dazu kam ein subjektiver Faktor: die Nervenschwäche und die Fehler der gegnerischen Führung, ganz besonders Napoleons III. Wenn also viel auf die technische und planerische Überlegenheit ankommt, so lässt sich fragen, in welchen Punkten Helmut Kohls friedliche, aber dennoch furiose Wiedervereinigungskampagne der Monate Januar, Februar und März 1990, die zu dem entscheidenden Wahlsieg der „Allianz für Deutschland“ geführt hat, dem Wahlkampf der SPD und auch der PDS operativ und technisch überlegen war. In der Tat kam nach dem Mauerfall nicht nur die beispiellose Überlegenheit des westdeutschen Wirtschaftssystems zum Tragen. Auch die politische Maschine des Bundeskanzleramts und des Konrad-Adenauer-Hauses erwies sich für einen politischen „Blitzkrieg“ in der Lage, obwohl alles improvisiert werden musste. Die Aktivität der Bonner Diplomatie schirmte in den entscheidenden Wochen nach Osten und Westen hin das beispiellose Tempo des Zusammenbruchs der DDR und den Triumph der Massenbewegung „Deutschland, einig Va-
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terland“ gegen alle äußeren Störversuche ab und erweckte in der DDR die zutreffende Empfindung, dass jetzt und nur jetzt alles möglich sei. Zugleich warfen CDU, CSU und FDP in der angeblich souveränen DDR alles in die Wahlkampfschlacht, was zum Erfolg führen konnte: wahlkampferfahrene Berater, vielfältige technische Hilfe (also Faxgeräte, Plakate, Fuhrparks, Fahnen und vieles mehr), Geld, wahlkampferfahrene Spitzenpolitiker, die – wie der Bundeskanzler – Massen von Hunderttausenden um sich zu versammeln vermochten. Organisatorische Effizienz und Enthusiasmus gingen eine einmalige Verbindung ein. Nie zuvor in der Geschichte der beiden deutschen Staaten seit 1945 und nie mehr danach haben derartige Starkströme der Hoffnung und der Emotionen einen Wahlausgang so stark bestimmt. Die SPD vermochte demgegenüber ihre innerparteilichen Widersprüche nicht so richtig zu lösen. Erst recht hatten es die ohnehin völlig desorientierten Funktionäre der SED, jetzt PDS, noch nie gelernt, unter freien Bedingungen Wahlkämpfe zu führen. Und wie überall bei den friedlichen Revolutionen 1989/90 transportierten emotional aufrüttelnde Fernsehsendungen die Bilder von den Massen in die Wohnstuben, die sich, schwarz-rot-goldene Nationalflaggen schwenkend, um den Bundeskanzler drängten. Statt des preußischen Generalstabs des Kriegs 1870/71 waren es jetzt gewissermaßen die Generalstäbe der Parteizentralen der Bonner Unionsparteien, die eine in dieser Art einmalige, begeisterte Wahlkampagne auf fremdem, bis vor wenige Wochen noch unzugänglichem Territorium improvisierten und durchführten – ein in dieser Art völlig einmaliger Vorgang in der neuesten deutschen Geschichte. Man hat schon viel und durchaus berechtigtes Aufheben von der friedlichen Revolution der Deutschen in der DDR in den Monaten September, Oktober, November und Dezember 1989 und im Januar 1990 gemacht. Aber genauso entscheidend für den Vollzug der Einheit war die – nach anfänglichem Zögern – auf allen Ebenen vorgetragene Offensive der Bonner Regierungsparteien im Januar, Februar, März und in den folgenden Wochen, welche die noch recht diffusen Forderungen der Bürgerrechtsbewegung nunmehr auf das Ziel einer raschen und friedlichen Wiedervereinigung ausrichtete. Dreierlei kam so zusammen: die Revolution in der DDR im Herbst 1989, gefolgt vom Kollaps des SED-Regimes und – ich wiederhole dies, denn das Bild ist durchaus zutreffend – gefolgt vom politischen „Blitzkrieg“ Helmut Kohls, um das politische Vakuum in der DDR zu besetzen und die Wiedervereinigung herbeizuführen. Der Zusammenbruch des SED-Regimes war eine Grundvoraussetzung für die folgende Entwicklung. Gorbatschow, der guten Willens war, aber zwei linke Hände hatte, hatte die SED gewissermaßen in die Freiheit zur Selbstabschaffung entlassen. Dieser Kollaps erinnert an historische Zusammenbrüche, wie sie sich sonst nur beim Eindringen fremder Armeen vollziehen – etwa 1806/07, als Preußen unter dem Ansturm Napoleons zusammenbrach oder 1940, als die Dritte Republik in Frankreich beim Ansturm der Wehrmacht kollabierte.
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Als Dirigent dieser Kampagne hat Helmut Kohl politische Fähigkeiten entfaltet, die durchaus mit Bismarck vergleichbar sind. Auf internationaler Ebene war er als Staatsmann feinfühlig darauf bedacht, die nationale Volksbewegung in der DDR vor Störungen zu schützen und alsdann die bilateralen Begegnungen sowie die multilateralen Verhandlungsrunden mit gut funktionierenden Zeitplänen zur raschen Aushandlung durchzuziehen. Im politischen Vakuum der DDR brachte er als unwiderstehlicher Parteiboss die „Allianz für Deutschland“ auf den Weg. In Bonn setzte er alle Hebel der Bürokratie ein, um die Wirtschafts- und Währungsunion und den Einigungsvertrag zu schaffen. Und obwohl sich die Bundesrepublik in einem Wahljahr befand, gelang es ihm, im Bundestag und im Bundesrat die erforderlichen Mehrheiten zustande zu bringen. Schwer vorstellbar, wie die Wiedervereinigung in kürzester Zeit ohne diesen Bundeskanzler hätte gelingen können, der auf allen Ebenen gleichzeitig präsent war oder ergebene Helfer einzusetzen verstand und dem über ein Jahr hinweg in den komplizierten Entscheidungsprozessen keine gravierenden Fehler unterliefen, die geeignet gewesen wären, alles aufzuhalten oder entgleisen zu lassen. Erwähnenswert ist auch ein Weiteres. Sowohl Bismarck als auch 120 Jahre nach ihm Helmut Kohl wollten nicht laut heraus posaunen, dass sie beide den deutschen Nationalstaat geschaffen bzw. wiederhergestellt hatten, wenngleich im Fall der Wiedervereinigung um die Ostgebiete amputiert. Michael Stürmer hat gelegentlich darauf aufmerksam gemacht, dass in der Reichsverfassung in keinem einzigen Artikel der Begriff Nation auftauchte, obwohl sich Bismarck der Reichsgründung genauestens bewusst war14. Aber seine Hauptkontrahenten waren die Souveräne. Sie schufen das Deutsche Reich „als ewigen Bund zum Schutz des Bundesgebiets“. Der Reichstag war beteiligt, doch nur sekundär. Seitens der Fürsten sprach viel dafür, den nationalen Aspekt klein zu schreiben, schließlich wollten sie nicht allzu deutlich beleuchten, dass sie ihre Souveränität an den „Bundesrat“ unter Vorsitz des preußischen Ministerpräsidenten übertragen hatten, wobei zu erwarten stand, dass die faktische Macht sowohl im politischen Alltag wie im Kriegsfall beim Kaiser, der zugleich König von Preußen war, bei der preußischen Verwaltung und bei der preußischen Armee liegen würde, nicht aber beim deutschen Volk. Allerdings muss man hinzufügen: Der Fortbestand der traditionellen Regierungssysteme wurde von Anfang an durch nationale Emotionen überlagert. Die zahlreichen Anhänger der Nationalbewegung betrachteten die Reichsgründung als Verwirklichung ihrer Träume, auch wenn sie nur einen Bruchteil ihrer verfassungspolitischen Ziele erreicht hatte. Die Reichsgründung im Nationalkrieg gegen Frankreich bewirkte ein zusätzliches, dauerhaftes und, so wissen wir seit lan-
14 Michael Stürmer, Das ruhelose Reich. Deutschland 1866–1918, Berlin 1983, S. 99.
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gem, entsprechend problematisches nationales Hochgefühl. Der Sedanstag und der Reichsgründungstag wurden gewissermaßen im Feldlager zu Versailles zu Symbolen des Nationalstaats. Bekanntlich war auch Helmut Kohl nach Kräften bestrebt, die Tatsache klein zu schreiben, dass die Wiedervereinigung tatsächlich den deutschen Nationalstaat wiederhergestellt hatte, wenngleich stark reduziert und ganz und gar nicht mehr als autonome Großmacht wie das 1945 zerschmetterte Deutsche Reich. Kohl mit seiner CDU, doch ebenso Genschers FDP und seit längerem auch schon die oppositionelle SPD wussten sich alle auf dem Weg zum einem Vereinten Europa. Der Begriff Nationalstaat wollte keiner der bundesdeutschen Parteien so richtig schmecken, weil er nach Nationalismus roch und weil sich mit ihm das Trauma gescheiterter, auch schuldbeladener deutscher Machtpolitik verband. Unionsparteien und die FDP begriffen den Beitritt der Deutschen in der DDR zur Bundesrepublik in erster Linie als Triumph der Freiheit, was er auch war, und erst in zweiter Linie als Erfüllung nationaler Sehnsucht, die in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik noch sehr stark gewesen war. Ohnehin erwiesen sich die bereits erwähnten Vorbehalte im intellektuellen Bereich und seitens der Linken gegen eine Wiedervereinigung so stark, dass die erfolgreiche Koalition von Union und FDP es für geboten hielt, das Thema Nationalstaat nur mit gestopften Trompeten zu spielen. Auch aus Rücksichtnahme auf die Befürchtungen der Partner in der Europäischen Gemeinschaft schien es geboten, von den nationalen Aspekten der Wiedervereinigung möglichst wenig Aufheben zu machen. Maßgeblich war und blieb aber, dass die Bundesrepublik als Ganze, zuvörderst der Bundeskanzler Helmut Kohl, in den 80er Jahren vorwiegend die Agenda der Gründung eines föderalen Europa verfolgte. Davon wollten sie sich auch durch die Wiedervereinigung nicht abbringen lassen. Helmut Kohls Lieblingsmetapher, die Einigung Deutschlands und die Einigung Europas seien „zwei Seiten einer Medaille“, brachte dies zum Ausdruck. Das Wiedererstehen des deutschen Nationalstaats wurde durch dessen Integration in die Europäische Union relativiert. Tatsächlich liefen damals zwei Gründungsprozesse parallel. Die gradualistische Gründung einer europäischen Föderation war sozusagen das Langzeitprojekt der politischen Klasse der Bundesrepublik, ganz besonders aber Helmut Kohls. Es hatte in den Jahren vor der unerwarteten Wiedervereinigung mit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1986 und dem von Jacques Delors angestoßenen Projekt des Großen Binnenmarktes am Tempo gewonnen. 1987 und 1988 war von Mitterrand, anfangs etwas zurückhaltender sekundiert von Helmut Kohl und weniger zurückhaltend von Hans-Dietrich Genscher, bereits der Plan einer Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion auf die europäische Agenda gesetzt worden. Die deutsche Wiedervereinigung wurde – so sah das Helmut Kohl und so sahen es die Parteien – in diese langfristige Entwick-
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lungslinie integriert. Doch die Karawane der Integration sollte auch danach unbeirrt weiterziehen, und sie ist weitergezogen. Das war viel mehr als der taktische Versuch, die Sorgen der Nachbarn des wiedervereinigten Deutschlands zu zerstreuen, indem man die Verschmelzung Deutschlands in Europa „unumkehrbar“ machte. Die Deutschen im Wesen glaubten tatsächlich daran, mehr als an die Dignität des Nationalstaats. Margaret Thatcher, die dem föderalistischen Projekt mit großer Reserve gegenüberstand, hat die Motivation der Deutschen richtig erfasst: „Sie waren . . . Föderalisten aus Überzeugung“, während die Franzosen mit Hilfe der Europäischen Wirtschaftsund Währungsunion vor allem die Macht der Deutschen in Grenzen zu halten bestrebt seien.15 Und durchaus zutreffend hat sie die deutsche Psychologie mit den folgenden Worten charakterisiert: „Weil die Deutschen eine Scheu davor haben, sich selbst zu regieren, versuchen sie ein europaweites System zu schaffen, in dem sich keine Nation mehr selbst regiert.“16 Selbstverständlich war dieses Nationsverständnis der Deutschen in der Ära Kohl meilenweit von dem der Deutschen im Zeitalter der Reichsgründung entfernt. Unvergleichbarkeit in diesem Punkt also ganz sicher! Dennoch ist doch die Behutsamkeit vergleichbar, mit der sowohl Bismarck bei der Reichsgründung wie Helmut Kohl bei der Wiedervereinigung das Nationale kleingeschrieben haben, wenngleich aus völlig unterschiedlichen Motiven und mit völlig unterschiedlichen Zielvorstellungen. An diesem Punkt rückt ein letzter Aspekt der Vergleichbarkeit ins Blickfeld, dem die zeitgenössische Politik und Publizistik bis zum heutigen Tag große Beachtung geschenkt haben. Sowohl Bismarck wie Helmut Kohl zeigten sich bemüht, die Vereinigung Deutschlands in ein erneuertes, dauerhaftes europäisches Staatensystem einmünden zu lassen. Kohl ist dabei, so habe ich eben skizziert, wesentlich innovativer vorgegangen als Bismarck. Allerdings konnte er dabei auf einer rund 40 Jahre lang erprobten politischen Kultur der Integration in Westeuropa, auch im atlantischen Bereich, aufbauen. Bismarck hatte gleichfalls ein beruhigtes europäisches Staatensystem erstrebt, doch den Krieg oder wenigstens die Drohung mit Krieg nie ganz ausgeschlossen, wie dies beispielsweise die „Krieg-in-Sicht-Krise“ von 1875 illustriert. Lange Zeit haben die Öffentlichkeit, an ihrer Spitze die Historikerzunft, Bismarcks kompliziertes Bündnissystem bewundert, das er seit 1871 geschaffen hatte, um das Deutsche Reich vor generischen Koalitionen zu schützen. Verhängnisvolle Fehler, so die einstmals herrschende Meinung, seien erst nach Bismarcks Abgang gemacht worden. Die Richtigkeit der Errichtung eines mächtigen deutschen Nationalstaats als solche wurde nicht in Frage gestellt. Diese alles in allem günstige Einschätzung der Bismarckschen Bündnispolitik ist erst in den sechzi15 Margaret Thatcher, Downing Street No. 10. Die Erinnerungen, Düsseldorf 1993, S. 1051 f. 16 Ibd., S. 1034.
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ger Jahren des 20. Jahrhunderts von einer sehr, sehr skeptischen Beurteilung abgelöst worden. Jetzt wurde besonders bei Historikern in der Bundesrepublik die Auffassung vorherrschend, die Errichtung eines halb-hegemonialen Deutschen Reiches sei doch kurzsichtig gewesen und habe die langfristige Katastrophe wenn nicht provoziert, so doch vorbereitet. Aus dem föderalen, noch ungefestigten, auch durch Vorsicht gekennzeichneten Bismarck-Reich sei in den Jahrzehnten Wilhelms II. ein industriell führender, zwischen Einkreisungsfurcht und prestigesüchtiger Weltpolitik schwankender Machtstaat geworden, dessen unreife, nationalistische Außenpolitik an der Katastrophe des Ersten Weltkriegs maßgeblichen Anteil hatte. Unbekömmliche Übergröße und Nationalismus, nicht zuletzt die „Erbfeindschaft“ Frankreich gegenüber, hätten zwangsläufig zum Imperialismus geführt. Das Bismarck-Reich, so hieß es nun, sei „Europa-unverträglich“ gewesen. Gern wurde in diesem Zusammenhang die Warnung Disraelis zitiert, die dieser in der Endphase des deutsch-französischen Krieges am 9. Februar 1871 im House of Commons formuliert hatte: „Dieser Krieg beinhaltet die deutsche Revolution, ein größeres politisches Ereignis als die Französische Revolution im vorigen Jahrhundert . . . Was ist in Europa geschehen? Das Gleichgewicht der Kräfte ist völlig zerstört worden.“17
Zutreffende oder unzutreffende Geschichtsbilder bleiben nicht ohne Wirkung. Nachdem die prinzipiell positive Bewertung des Bismarckreichs bei meinungsbildenden Historikern umgekippt war, blieb das auch auf die Einstellung der politischen Klasse zur Teilung nicht ohne Auswirkung. Genauer gesagt: Die Bonner Politik, die bei nüchterner realpolitischer Betrachtung ohnehin nicht mehr so recht an die Möglichkeit einer Wiederherstellung des geteilten Nationalstaats glauben wollte, griff die in der Historikerzunft eingetretene skeptische Bewertung des Bismarckreichs gern als stützendes Argument ihrer defätistischen Deutschlandpolitik auf. Bis weit in die 60er Jahre hinein hatte sich die von allen Parteien mehr oder weniger vorbehaltlos getragene Wiedervereinigungspolitik aus zwei Quellen gespeist: aus der demokratischen Überzeugung, dass die nach dem Nationalsozialismus nunmehr bereits zweite Diktatur in Deutschland skandalös sei und beseitigt werden müsse, und zweitens aus dem Glauben daran, dass der deutsche Nationalstaat ein Wert an sich sei, dessen Wiederherstellung erstrebenswert sei und auch legitim. Jetzt aber ließ die Kritik am Bismarck-Reich tiefe Schatten des Zweifels auf den Nationalstaat fallen. Es blieb noch die Freiheitsforderung, die, so glaubten viel zu viele in den siebziger und in den achtziger Jahren, vielleicht auch im Nebeneinander zweier deutscher Staaten realisiert werden könne: einerseits der Bundesrepublik, andererseits einer liberalisierten, aber weiterhin sozialistischen und von der Sowjetunion beherrschten DDR. 17 Zitiert nach Edward Crankshaw, Bismarck. Eine Biographie, München 1981, S. 364.
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Die Bundesrepublik aber, so lautete eine weitere Schlussfolgerung aus dem strukturellen Zweifel am Bismarck-Reich, müsse alles tun, die immer noch starke Bundesrepublik „unumkehrbar“ in Europa integrieren, um jeder Versuchung prophylaktisch entgegenzuwirken. Und als sich urplötzlich die Chance zur Wiederherstellung des deutschen Nationalstaats eröffnete, lag es in der Logik dieses Geschichtsbilds, das wiedervereinigte Deutschland mit noch größerer Intensität in die Strukturen einer Europäischen Union einzubauen. Helmut Kohls Konzept, die deutsche Wiedervereinigung und die Schaffung eines integrierten Europa als zwei Seiten derselben Medaille zu verstehen, war somit die Antwort auf Phobien, die sich beim Blick auf die Reichsgründung Bismarcks ergaben. Selten sind historiographische Analogien so geschichtsmächtig geworden wie ausgerechnet beim Umbruch der Jahre 1989/90 und danach, als es wider alles Erwarten nochmals gelang, den bereits verloren geglaubten deutschen Nationalstaat wiederherzustellen. Nur galt eben auch diesmal der Satz: Man steigt nicht zweimal in denselben Strom. Vergleichbarkeit – Unvergleichbarkeit: Beides ist somit beim Blick auf Bismarcks Reichsgründung und auf die Wiedervereinigung durch Helmut Kohl zu konstatieren. Dass jede dieser Persönlichkeiten auf ihre Weise Einzigartiges und so nicht Erwartetes auf den Weg gebracht hat, bedarf keiner besonderen Hervorhebung. In dieser Hinsicht sind die beiden vergleichbar.
II. Binnen- und Außenperspektiven
Staatskunst und „Kunst der Diplomatie“ 1989/1990? Von Joachim Scholtyseck Peter Graf Kielmansegg hat zur deutschen Wiedervereinigung einmal ausgeführt, der Vorgang stelle, so sehr „Zufall, Glück [und] Zwangsläufigkeiten hineingespielt“ hätten, die „Geschichte einer Meisterleistung der Politik, der Staatskunst, wenn man es altmodisch sagen will“, dar.1 „Staatskunst“ erscheint als eine Metapher, die das Glanzvolle betont. Der Historiker Gerhard Ritter hat in seinem großen Werk „Staatskunst und Kriegshandwerk“ diese beiden Begriffe, noch ganz unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges stehend, mit dem Blick auf die wechselhafte deutsche Geschichte voneinander abgegrenzt. Dabei kann es keinen Zweifel geben, dass er die „Diplomatie“ als das eigentlich entscheidende Mittel der hohen Politik angesehen hat.2 Dennoch haben „Staatskunst“ und „Kunst der Diplomatie“ viele Facetten. In ihrer Bandbreite liegt die „Kunst des Möglichen“, aber auch die Gefahr von „Kunstfehlern“, die ja selbst erfahrenen medizinischen Operateuren unterlaufen können. Es sei darauf hingewiesen, dass bei der Verwendung des Begriffs der „Kunst der Diplomatie“ in Bezug auf die deutsche Wiedervereinigung eine westliche, um nicht zu sagen eine Bonner Perspektive eingenommen wird, denn es gab und gibt in Europa nach wie vor viele, die den Begriff „Staatskunst“ nicht unbedingt mit den Vorgängen der Jahre 1989/90 verbinden. So finden sich in Ostdeutschland geschätzte 15 bis 20 Prozent Revolutionsverlierer, die in der einen oder anderen Form von der SED-Diktatur profitiert hatten. Aber auch einst regimeaffine Menschen in den anderen sowjetischen Satellitenstaaten sehen sich bis heute in den postmarxistischen Gesellschaften auf der Verliererstraße. Auch viele westdeutsche Sozialdemokraten wurden erst durch den Gang der Ereignisse zähneknirschend zu Befürwortern des Einheitsprozesses, wollen an diesen Umstand heute aber meist gar nicht mehr so genau erinnert werden. Dem niedersächsischen SPD-Fraktionsvorsitzenden Gerhard Schröder erschien der Begriff der Wiedervereinigung noch im September 1989 als „reaktionär und hochgradig gefährlich“, und er brachte ihn als „rückwärts gerichtet“ in den Zusammenhang des Bismarckschen Nationalstaates von 1871.3 Vielleicht, mag man hinzufügen, hätte 1 Peter Graf Kielmansegg, Nach der Katastrophe. Die Deutschen und ihre Nation. Eine Geschichte des geteilten Deutschland, Berlin 2000, S. 662. 2 Vgl. Gerhard Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des „Militarismus“ in Deutschland, 4 Bände, München 1954–1968. 3 Zitiert nach Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. September 1989.
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er anders geurteilt, wenn er bereits Regierungsverantwortung übernommen hätte, aber das muss notgedrungen Spekulation bleiben. Er sprach jedenfalls für viele in seiner Partei, die sich bereits in einer postnationalen Welt sahen. Bei den Linksintellektuellen in der Bundesrepublik mochte man ebenfalls nicht von staatsmännischen Notwendigkeiten sprechen. Jürgen Habermas kritisierte in einem Artikel in der „Zeit“, der viel darüber verrät, wie ungelegen vielen Linksintellektuellen die ungeahnten außenpolitischen Perspektiven waren, eine angebliche „Anschluss“-Mentalität und einen „pausbäckigen D-Mark-Nationalismus“.4 Politiker der Grünen befürchteten „nationalistische Großmachtallüren“ einer durch die DDR vergrößerten Bundesrepublik. Der Schriftsteller Günter Grass sprach von dem „Schnäppchen namens DDR“.5 Sein Fazit lautete: „Häßlich sieht diese Einheit aus.“6 Mit anderen Worten: Ein ganzes politisches Spektrum Westdeutschlands hatte es sich bereits in der Zweistaatlichkeit bequem gemacht, blendete zunächst das Unrecht auf der anderen Seite der Mauer aus und wollte nach dem Mauerfall von territorialen Konsequenzen nichts wissen.7 Es gehört daher zur Staatskunst Helmut Kohls, dass er, beharrlich und gegen den herrschenden Zeitgeist, auf die politische Verfolgung in Mittel- und Osteuropa verwies, gebrandmarkt als Kalter Krieger, aber doch, wie Ilko-Sascha Kowalczuk ausgeführt hat, als „einsamer Mahner in der Wüste“.8 Nicht nur die Perspektive ist entscheidend bei der Frage, ob man in Bezug auf die Wiedervereinigung von „Kunst der Diplomatie“ sprechen kann. Auch der Schwerpunkt auf das Jahr 1990 sollte betont werden. Für das Jahr 1989 konnte kaum von diplomatischer Staatskunst gesprochen werden. Dass auch die europäischen Diplomaten, die hierfür ja beschäftigt werden, die Erosion und den Zerfall des östlichen Bündnissystems nicht antizipierten, war kein Ruhmesblatt. Der Politikwissenschaftler und Politiker Zbigniew Brzezinski hat schon 1970 spöttisch festgestellt, wenn es Botschaften nicht schon längst gäbe, wäre es keineswegs notwendig, diese zu erfinden.9 Kaum ein Trost für die Diplomaten konnte 4
Jürgen Habermas, Der DM-Nationalismus, in: Die Zeit vom 30. März 1990. Günter Grass, Ein Schnäppchen namens DDR. Warnung vor Deutschland. Das Monstrum will Großmacht sein, in: Die Zeit vom 5. Oktober 1990, wiederabgedruckt in: Ein Schnäppchen namens DDR. Letzte Rede vorm Glockengeläut, Frankfurt am Main 1990. 6 Ebd. 7 Vgl. Hubertus Knabe, Der diskrete Charme der DDR. Stasi und Westmedien, Berlin/München 2001; Jens Hacker, Deutsche Irrtümer. Schönfärber und Helfershelfer der SED-Diktatur im Westen, Berlin/Frankfurt am Main 1992. 8 Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009, S. 95. 9 Zitiert nach Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 2002, S. 371. Dies hat Wolfgang Reinhard zu dem Befund kommen lassen, die Diplomatie alten Stils sei heutzutage weitgehend überflüssig geworden. „Dank der Entwicklung der Nachrichten- und Verkehrsverbindungen“ werde sie „inzwischen von den Außenminis5
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sein, dass auch sonst kaum jemand die Ereignisse des Jahres 1989 vorhergesehen hatte. Die Vielzahl der sogenannten Osteuropaexperten, Kremlinologen und selbst die westlichen Nachrichtendienste mussten zugestehen, dass sie eher zum nachträglichen Kommentar als zur vorausschauenden Prognose fähig waren. In einer offiziellen autorisierten Studie zum britischen Geheimdienst heißt es ganz demütig, wie alle anderen Geheimdienste hätten auch die britischen Security Services nichts gewusst. Es war daher nicht verwunderlich, dass die Regierungen, zunächst jedenfalls, angesichts fehlender präziser Informationen und Hintergrundanalysen gar nicht kunstvoll agieren konnten. Andreas Rödder hat für den bundesdeutschen Fall davon gesprochen, mangels allenthalben wirklich verlässlicher Expertise sei „der Blindflug der politischen Verantwortungsträger in die Einheit“ unausweichlich gewesen.10 Ob und in welchem Fall also von diplomatischer Kunstfertigkeit gesprochen werden kann, soll im Folgenden mit Blick auf verschiedene Akteure geprüft werden, ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Zunächst die Sowjetunion: Michail Gorbatschow hat, wenn man es nüchtern betrachtet, mit seiner Außenpolitik ein Weltreich aufgegeben – verspielt, sagen seine Gegner, von denen es im heutigen Russland viele gibt. In Moskau und Sankt Petersburg ist wohl eine Mehrheit froh, nicht mehr unter dem Kommunismus leben zu müssen, aber sie denken eher an 1991, das Jahr, in dem die Fahne mit Hammer und Sichel vom Kreml heruntergeholt wurde. Die außenpolitischen Aktionen und Manöver der Jahre 1989 und 1990, in denen die UdSSR unter Gorbatschow eher als getriebene denn als handlungsfähige Großmacht wirkte, kommt in der öffentlichen Meinung, aber auch bei den Historikern schlechter weg. Gorbatschow, so hat Tony
tern oder den Regierungschefs selbst und ihren Stäben gemacht, die rasch Kontakt aufnehmen und sich ebenso rasch besuchen und treffen können“ (S. 377). 10 Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, München 2009, S. 174. Einen umfassenderen Überblick verschafft ein vierbändiges Werk über die „Geschichte der deutschen Einheit“: Bd. 1: Karl-Rudolf Korte, Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft, Stuttgart 1998; Bd. 2: Dieter Grosser, Das Wagnis der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, Stuttgart 1998; Bd. 3: Wolfgang Jäger, Die Überwindung der Teilung, Stuttgart 1998; Bd. 4: Werner Weidenfeld, Außenpolitik für die deutsche Einheit. Die Entscheidungsjahre 1989/90, Stuttgart 1998. Die neuere Forschung zusammenfassend Andreas Rödder, Staatskunst statt Kriegshandwerk. Probleme der deutschen Vereinigung von 1990 in internationaler Perspektive, in: Historisches Jahrbuch 118 (1998), S. 223–260. Vornehmlich aus der übergeordneten Perspektive des Ost-West-Gegensatzes: Philip Zelikow/Condoleezza Rice, Germany Unified and Europe Transformed. A Study in Statecraft, Cambridge MA 1995. Deutsch unter dem Titel Sternstunde der Diplomatie. Die deutsche Einheit und das Ende der Spaltung Europas, Berlin 1997; Raymond L. Garthoff, The Great Transition. American-Soviet Relations and the End of the Cold War, Washington D.C. 1994; Don Oberdorfer, From the Cold War to a New Era. The United States and the Soviet Union, 1983–1991, Baltimore/London 1998; Michael Beschloss/Strobe Talbott, Auf höchster Ebene. Das Ende des Kalten Krieges und die Geheimdiplomatie der Supermächte 1989–1991, Düsseldorf u. a. 1993.
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Judt es ausgedrückt, „like everyone else, was flying blind.“11 Der Berater des KPdSU-Generalsekretärs, Anatoli Tschernjajew, hatte den Kurs seines Chefs schon im Frühjahr 1989 mit undiplomatischer Offenheit charakterisiert: Höchstwahrscheinlich werde man „zu einem Kollaps des Staates und einer Art von Chaos kommen. [. . .] [Gorbatschow] hat keine Vorstellung, wohin wir gehen.“12 Diese pessimistische Prognose sollte sich bewahrheiten. Die Politik der Sowjetunion und ihres führenden Mannes war alles andere als ein diplomatisches Meisterwerk, nicht einmal ein Gesellenstück, sondern eine handwerkliche Stümperei – mit Blick auf die SED-Diktatur als Folge eines paradoxen und letztlich „fatalen Zusammenspiels von Gorbatschow und Honecker“.13 Vladislav Zubok, einer der besten Kenner des sowjetischen Kalten Kriegs, bezeichnet Gorbatschow gar als „Totengräber“ des sowjetischen Imperiums.14 Ob sich dieser überaus harsche Befund in der Forschung durchsetzen wird oder nicht – als „Kunstwerk“ lässt sich seine Politik wohl nicht bezeichnen. Seine Bemühungen, seinen Staat, die Planwirtschaft und die Außenpolitik zu revitalisieren, müssen im Rückblick als gescheitert gelten.15 Auch die französische Politik war wenig „kunstvoll“. Der SED-Diktatur war es, trotz aller „Normalisierung“ in den 1970er und 1980er Jahren, nicht gelungen, das Verhältnis zu Paris zu vertiefen. Aber der französische Staatspräsident François Mitterrand gehörte zu den sprichwörtlich schwankenden Gestalten, von denen Goethe in seinem „Faust“ sprach. Es war der Realpolitik zu verdanken, dass Mitterrand 1989 das Verschwinden der DDR am Ende als unvermeidlich akzeptierte. Ihm gelang es nicht einmal, das schwierige Verhältnis zu Helmut Kohl für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. Der zu Unzeiten geplante und dann stur durchgeführte DDR-Besuch im Dezember 1989 wurde in hektischer Stimmung vorbereitet und improvisiert in die Tat umgesetzt. Die dort gehaltenen Reden des Präsidenten zeugten vom französischen Unvermögen, sich mit der notwendigen Kühle von der zum Untergang verurteilten DDR zu verabschieden. Mitterrands Staatskunst zu Beginn des Jahres 1990 lässt sich in drei knappe Be11
Tony Judt, Postwar. A History of Europe Since 1945, London 2005, S. 641. Zitiert nach Vladislav Zubok, New Evidence on the „Soviet Factor“ in the Peaceful Revolutions of 1989, in: Cold War International History Project (CWIHP), Bulletin 12/13 (Fall/Winter 2001), Washington D.C. 2001, S. 5–23, hier S. 17. 13 Gerhard Wettig, Niedergang, Krise und Zusammenbruch der DDR. Ursachen und Vorgänge, in: Eberhard Kuhrt u. a. (Hrsg.), Am Ende des realen Sozialismus. Die SEDHerrschaft und ihr Zusammenbruch, Opladen 1996, S. 379–458, hier S. 424. Daneben auch Patrick Moreau, Die SED in der Wende, in: Ebd., S. 289–339. 14 Vladislav Zubok, A Failed Empire. The Soviet Union in the Cold War from Stalin to Gorbachev, Chapel Hill 2007, bes. S. 303–334; ders., Gorbachev and the End of the Cold War: Different Perspectives on the Historical Personality, in: William C. Wohlforth, Cold War Endgame. Oral History, Analysis, Debate, University Park 2002, S. 207–241. 15 Vgl. Helmut Altrichter, Russland 1989. Der Untergang des sowjetischen Imperiums, München 2009, S. 19. 12
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griffe fassen: „Ratlosigkeit, Indignation, Konfusion“.16 Gegen Kohls Konzept einer schnellen Wiedervereinigung fand Paris auch in den folgenden Monaten trotz verzweifelter Suche kein schlüssiges Konzept. Folgt man den Aufzeichnungen des damaligen politischen Begleiters Mitterrands, Jacques Attali, dann hat dieser nur reagiert, nicht aber am Ruder des Staatsschiffes gestanden. Paris legte schon bald die Idee ad acta, die Vereinigung der beiden deutschen Staaten durch ein konzertiertes Vorgehen der Vier Mächte zu verhindern oder zumindest hinauszuzögern. Mitterrand kannte zumindest die Grenzen seiner Möglichkeiten. Am 25. Mai 1990, im Flugzeug nach Moskau, erklärte er: „Gorbatchev me demandera encore de résister à la réunification allemande. Je le ferais avec plaisir si je pensais qu’il tiendrait. Mais pourquoi me fâcher avec Kohl si Gorbatchev me lâche trois jours après? Je serais totalement isolé. Et la France ne peut se permettre de l’être plus de trois fois par siècle.“17
Zu denjenigen, die von den Vorgängen im Umfeld des Falls des Eisernen Vorhangs kalt erwischt wurden, gehörte auch die britische Premierministerin Margaret Thatcher. Was sie über die Option einer Wiedervereinigung dachte, war in Umrissen seit langem bekannt, aber nun wissen wir es durch die 2009 veröffentlichte Aktenpublikation über die „German Unification“ noch genauer.18 Sie interpretierte die Entwicklung in den beiden deutschen Staaten als Fiasko, fand aber kein adäquates Mittel, um die unerwünschten Nebenwirkungen der Auflösung der Blöcke zu verhindern. Wenn man auf britischer Seite von Staatskunst sprechen kann, dann war sie noch am ehesten bei den Diplomaten im Foreign Office zu finden, die bisweilen am Starrsinn ihrer Premierministerin verzweifelten. Gegenüber Mitterrand beklagte Thatcher, Kohl scheine vergessen zu haben, dass die Teilung Deutschlands die Folge eines Krieges ist, den Deutschland angefangen hatte. In der Erinnerung von Jacques Attali fehlten bei Thatcher auch nicht die ominösen Hinweise auf Prag 1938: „Le Premier ministre britannique ouvre alors son sac à main et en sort deux cartes d’Europe un peu froissées, découpées dans un journal britannique. La première représente les frontières de l’Europe à la veille de la Seconde Guerre mondiale, la seconde celles de l’Europe telles qu’elles ont été fixées en 1945, au lendemain de la chute de Berlin. Elle montre la Silésie, la Prusse-Orientale. Elle dit: Ils prendront tout ça, et la Tchécoslovaquie.“ 19
Bisweilen musste gar der amerikanische Präsident George Bush in die ungewohnte Rolle eines Amateur-Psychotherapeuten schlüpfen. Vor dem Besuch des deutschen Bundeskanzlers im Februar 1990, so berichtete Bush, habe er die eng16
Kielmansegg, Nach der Katastrophe, S. 666. Jacques Attali, Verbatim III, Paris 1995, S. 495. 18 Documents on British Policy Overseas, Series III, Volume VII: German Unification 1989–1990, London 2009. 19 Attali, Verbatim, S. 369. 17
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lische Premierministerin Thatcher angerufen und ihr eine gute Stunde zugehört. Thatcher versuchte sogar noch eine Weile, eine Triple Entente wie zu Beginn des Ersten Weltkriegs herbeizuführen, um die deutsche Wiedervereinigung womöglich ganz zu verhindern, auf jeden Fall aber zu verzögern. Die Sowjets hätten sich solchen Überlegungen gegenüber vielleicht aufgeschlossen gezeigt. Aber Kommunikationsdefizite und gegenseitige Fehleinschätzungen zwischen Whitehall, Élysée-Palast und Kreml führten zu dem Trugschluss, sich auf den Widerstand der jeweils anderen Seite verlassen zu können. Kann man also hier von „Kunst der Diplomatie“ sprechen? Absolute Fehlanzeige, wenn man auf das Mächtedreieck Moskau-Paris-London blickt. Im Frühjahr 1914 hatten die damaligen Politiker und Diplomaten der Entente die Schritte schon besser aufeinander abgestimmt. All das wird aus den britischen Dokumenten erkennbar – ein wahrer Lesegenuss, auch in den zahlreichen Randbemerkungen. Von den kleineren Mächten soll an dieser Stelle nicht die Rede sein, weil sie im Konzert der Großen keine entscheidende Rolle spielten. Nur ein kurzer Blick nach Italien, einer typischen Mittelmacht, sei erlaubt. Dessen Ministerpräsident Giulio Andreotti war bekanntlich nie ein Freund der deutschen Einheit gewesen. Schon 1984 hatte er den „Pan-Germanismus“ öffentlich gebrandmarkt: „Es gibt zwei germanische Staaten, und zwei müssen es bleiben.“20 Während der Fall der Mauer in weiten Teilen der italienischen Öffentlichkeit gefeiert wurde und eine deutsche Wiedervereinigung als „potentielle Sicherheitsbedrohung“, zunächst jedenfalls, nur von wenigen beschworen wurde,21 versuchte Andreotti beharrlich, durch diplomatische Ambiguitäten und Manöver jedoch verschleiert, den Annäherungsprozess der beiden deutschen Staaten durch das Aufwerfen komplizierter Fragen zu verrätseln. Schließlich gab jedoch auch Andreotti als ausgebuffter Realist auf. Italien, das im 20. Jahrhundert gerne der „peso determinante“ im diplomatischen Kalkül gewesen war, war 1990 nicht mehr imstande, sein Gewicht schicksalsbestimmend in die Waagschale zu werfen. Helmut Kohls Zehn-Punkte-Programm war hingegen ein kühn kalkulierter Akt der Diplomatie. Vorderhand sah es freilich eher wie ein Vabanque-Spiel aus, zumal Kohl seine Verbündeten im atlantischen Bündnis nicht informiert hatte – ein 20 Zitiert nach Giulio Andreotti, „Es gibt zwei deutsche Staaten, und zwei müssen es bleiben“. Eine Äußerung des italienischen Außenministers im September 1984 und die Folgen (Dokumentation), in: Blätter für deutsche und internationale Politik 29 (1984), S. 1265–1269, hier S. 1265 f. 21 Johannes Lill, Völkerfreundschaft im Kalten Krieg? Die politischen, kulturellen und ökonomischen Beziehungen der DDR zu Italien 1949–1973, Frankfurt am Main u. a. 2001, S. 465. Grundlegend Jens Petersen, Die Einigung Deutschlands 1989/90 aus der Sicht Italiens, in: Josef Becker (Hrsg.), Wiedervereinigung in Mitteleuropa, München 1992, S. 55–90. Daneben Luigi Vittori Ferraris, L’unità della Germania e l’unità dell’Europa, in: Affari Esteri 90 (1990), S. 19–31.
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„diplomatischer Affront“, für den plausible Gründe nicht leicht zu finden sind.22 Selbst amerikanische Freunde waren befremdet, noch verhaltener war jedoch die Reaktion im Kreml. Im Gespräch zwischen Gorbatschow und Genscher warf der sowjetische Außenminister Schewardnadse fast beiläufig am 5. Dezember ein, so etwas „habe sich nicht einmal Hitler erlaubt“,23 was zeigt, auf welch dünnem Eis sich Kohl zunächst bewegte. Erst das Endergebnis zeigte, dass die Kunstgriffe gelungen waren und Helmut Kohl mit seiner Regierungsmannschaft zur richtigen Zeit richtig gehandelt hatte. Die Wahl zur Volkskammer vom 18. März 1990 kam einem Plebiszit für die Einheit gleich, ohne dass die eigentlichen außenpolitischen Hürden auf dem Weg dorthin überwunden gewesen wären. Aber schon Anfang Februar 1990 war eine erste Verständigung zwischen der Bundesrepublik, der Sowjetunion und den USA über Verhandlungen zur Wiedervereinigung erreicht worden. Die Voraussetzungen für die sogenannten „ZweiPlus-Vier“-Gespräche wurden am 13. Februar 1990 von den sechs Außenministern in Ottawa bekannt gegeben und anschließend zwischen Washington, Bonn und Moskau verhandelt. Diese diplomatische Meisterleistung wird heute über alle Partei- und Ländergrenzen hinweg anerkannt. Sogar Hans-Ulrich Wehler hat rückblickend, allerdings übertrieben gönnerhaft, die „Handlungsfähigkeit und Kompetenz“ der Regierung Kohl in jenen Monaten gewürdigt. Kohl habe 1990, „ungeachtet des Provinzialismus seiner bisherigen Politik, eine verblüffende staatsmännische Weitsicht“24 bewiesen. Dieses – nachträglich – gezollte Lob des Staatsmannes ist um so erstaunlicher, als Wehler die Köpfe der ostdeutschen Oppositionsbewegung geradezu verächtlich als „Anhänger eines klassischen Anarchismus“ brandmarkt, die an ihrer Entmachtung nach der „friedlichen Revolution“ selbst schuld gewesen seien.25 Bei der DDR-Diplomatie kann man tatsächlich weder von Meisterleistungen noch von Staatskunst sprechen. Die SED-Politik muss an dieser Stelle kaum ausführlich behandelt werden.26 Eine ZK-Information „Zur aktuellen politischen Lage in der DDR“ vom 30. Oktober 1989 hatte zwar eine „außerordentliche Zunahme geistiger Aktivität, reger politischer, oft kontroverser Diskussionen und schöpferischer Gedanken“ registriert, aber die SED-Gerontokratie hatte damit wenig anfangen können. Der als „widersprüchlich“ bezeichnete Prozess ließ sie 22
Kielmansegg, Nach der Katastrophe, S. 662. Zitiert nach Rödder, Deutschland einig Vaterland, S. 453. 24 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5: Bundesrepublik und DDR 1949–1990, München 2008, S. 324. 25 Stellungnahme Hans-Ulrich Wehler, in: Patrick Bahners/Alexander Cammann (Hrsg.), Bundesrepublik und DDR. Die Debatte um Hans-Ulrich Wehlers „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“, München 2009, S. 287. 26 Grundsätzlich Hermann Wentker, Außenpolitik in engen Grenzen. Die DDR im internationalen System 1949–1989, München 2007. 23
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ratlos zurück: „Er bringt“, so formulierte das Papier, „zur Zeit mehr Fragen auf den Tisch als Antworten gegeben werden können.“27 Egon Krenz, der glücklose Nachfolger Honeckers, konferierte just zu diesem Zeitpunkt mit Bundeskanzler Kohl telefonisch über die Fortsetzung der Zusammenarbeit beider deutscher Staaten. Anschließend reiste er am 31. Oktober nach Moskau. Hier konnte er, planlos, ratlos, ohne Geld und ohne Handlungsstrategie, nur mit einer düsteren Situationsbeschreibung aufwarten. Die von Krenz angedeutete und alle Erwartungen übersteigende Wirtschaftsmisere bestärkte die sowjetische Führung, die Dinge weiter treiben zu lassen. Zugleich erhielt Krenz den Eindruck, dass in den Grundfragen der Entwicklung des Sozialismus zwischen der Sowjetunion und der DDR kein Schulterschluss mehr vorhanden sei. Der bei dieser Gelegenheit abgesprochene innenpolitische Maßnahmenkatalog griff zu kurz, weil zu diesem Zeitpunkt wohl nur noch radikale Reformen die DDR eine Zeit lang hätten retten können – aber auch für eine solche Interimslösung wäre staatsmännisches Geschick nötig gewesen. Als Krenz mit seiner Delegation aus Moskau abreiste, wurde er selbst von den Mitarbeitern des sowjetischen Außenministeriums nicht mehr ernst genommen. Einige von ihnen frotzelten: „Da geht das Komitee zur Auflösung der DDR“.28 Wenige Tage später fiel die Mauer. Zahlreiche mit dem Vorgang verbundenen Mythen, wie etwa die Annahme, die Vorgänge des 9. November seien eine gezielte Rettungsaktion zur Stabilisierung der DDR oder gar eine überlegte Staatsaktion zur Verhinderung einer gewaltsamen Eskalation gewesen, sind inzwischen widerlegt. Keine der an den Entscheidungen beteiligten Institutionen und Akteure hat den Fall der Mauer gewollt; sie wurden vielmehr vom „kumulierenden äußeren und inneren Problemdruck zu Ad-hoc-Entscheidungen jenseits der jahrzehntelang eingespielten Routinen gezwungen“, so dass der Gesamtvorgang als „unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED-Staates“29 bezeichnet worden ist. Auch hier also keine „Kunst der Diplomatie“, stattdessen politische Verständigungsprobleme, technische Kommunikationsdefizite und falsche Interpretationen der Weisungen aus Moskau. Timothy Garton Ash hat dazu treffend bemerkt, die Vorgänge könnten am besten als eine „Mischung aus gesundem Menschenverstand und Schlamperei“30 beschrieben werden. Selbst die demokratisch gewählte Regierung unter dem CDU-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière konnte nicht ihre Fähigkeit unter Beweis stellen, kunstvolle Verhandlungspolitik betreiben zu können. Sie war nichts anderes als eine Art Ausführungsorgan zur Liquidierung der DDR. Ihr sozialdemokratischer 27 Zitiert nach Gert-Rüdiger Stephan (Hrsg.), „Vorwärts immer, rückwärts nimmer!“. Interne Dokumente zum Zerfall von SED und DDR 1988/89, Berlin 1994, S. 187. 28 Zelikow/Rice, Germany Unified, S. 140. 29 Hans-Hermann Hertle, Der Fall der Mauer: Die unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED-Staates, 2., durchgesehene Auflage, Opladen/Wiesbaden 1999, S. 299. 30 Timothy Garton Ash, Im Namen Europas. Deutschland und der geteilte Kontinent, München/Wien 1993, S. 505.
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Außenminister, Markus Meckel, der einzige frei gewählte Außenminister seines Landes, orientierte sich an pazifistisch-neutralistischen Positionen. Sein Ministerium war von der Struktur und seinem Personal her immer noch eine Behörde des SED-Staates. Meckel operierte mit einem personellen Aufgebot aus Altkadern und diplomatischen Neulingen aus der Friedens- und Dissidentenbewegung, was bei den anderen Mächten im besten Fall als mangelnde Professionalität, im schlechtesten Fall als Zeichen der Irrelevanz verstanden wurde. Auch die Bundesregierung war nicht geneigt, diplomatische Eigenmächtigkeiten zu akzeptieren. Während Bonn und Washington auf die Mitgliedschaft des wiedervereinigten Deutschlands in der NATO bestanden, verfolgte Meckel in dieser Frage einen Mittelweg. Er sah zwar die Notwendigkeit einer Mitgliedschaft im Atlantischen Bündnis für eine Übergangszeit, aber für seine Diplomaten standen mittelfristig die Schaffung eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems und die Auflösung der Blöcke im Zentrum des Denkens. Die DDR sollte den wenig konkreten Ideen zufolge der Vorreiter einer gestärkten KSZE werden. Diese luftige Vision der Meckel-Riege, die den Überlegungen der Friedensbewegung entlehnt war, erschien den europäischen und amerikanischen Diplomaten als „ziemlich weltfremd“ (Jochen Staadt). Meckel hat rückblickend durchaus zutreffend bemerkt, im Kreis der 2+4-Außenminister habe man weder damit gerechnet noch gewollt, „dass mit der demokratischen DDR noch ein wirklicher Akteur auf das Spielfeld trat“.31 Britische Diplomaten ließen offen erkennen, dass sie die DDRAußenpolitiker nicht als verhandlungsfähig betrachteten, während ehemalige SED-Diplomaten Meckels Traum von einer souveränen Außenpolitik als „kindische Illusion“ bezeichneten.32 Die wohlwollende Unterstützung Meckels durch Hans-Dietrich Genscher hatte kaum etwas mit inhaltlicher Übereinstimmung zu tun, aber wenigstens wirkte Meckels Kurs auf die Sowjetunion und Polen vertrauensbildend. Für Polen kann wohl eher von der „Kunst der Diplomatie“ gesprochen werden. Dort war die Sorge groß, Bonn werde den Warschauer Vertrag von 1970 ignorieren, in dem die Bundesregierung die Grenze an Oder und Neiße für unverletzlich erklärt und auf Gebietsansprüche verzichtet hatte. Polen genügte jedoch nicht einmal eine Bundestagsentschließung, die den Status quo garantierte. Warschau wollte die Wiedervereinigung von einem neuerlichen Grenzvertrag abhängig machen. Die Nerven lagen blank, und Premierminister Tadeusz Mazowiecki war sogar bereit, sowjetische Truppen im eigenen Land zu behalten, damit diese ihrerseits die sowjetischen Truppen in der DDR versorgen konnten – so teilte er es jedenfalls Premierministerin Margaret Thatcher mit. Vorübergehend wollten die Polen also mit dem jahrhundertelangen Erzfeind Russland gemeinsame Sache 31 Markus Meckel, Die Außenpolitik der DDR nach der freien Wahl 1990, in: Hans Misselwitz/Richard Schröder (Hrsg.), Mandat für Deutsche Einheit. Die 10. Volkskammer zwischen DDR-Verfassung und Grundgesetz, Opladen 2000, S. 75–90, hier S. 82. 32 „Wer ist Teltschik?“, in: Der Spiegel 31 (1990), S. 56 f., hier S. 57.
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machen, um den jahrhundertealten Erzfeind Deutschland in Schach zu halten. Auch eine französisch-polnische Zweckgemeinschaft kündigte sich an. Dem britischen Außenminister Douglas Hurd, auch nicht gerade ein Busenfreund Kohls, vertraute der Bundeskanzler an, er sei nicht bereit, für eine Einigung mit Polen jeden Preis zu zahlen: Deutschland habe eine Würde, und er selbst auch.33 Durch amerikanische Vermittlung konnte der Gordische Knoten zerschlagen werden – obwohl die ganze Angelegenheit weniger auf tatsächlichen Sachdifferenzen als auf der psychologisch-emotionalen Ebene angesiedelt war. Kohl gelang schließlich der auch innenpolitisch schwierige Spagat. In den Pariser Zwei-Plus-VierGesprächen im Juli 1990 wurde eine Kompromisslösung gefunden. Richtung und Tempo des Wiedervereinigungsprozesses blieben grundsätzlich durch die internationale Konstellation bestimmt. Entgegen einer weitverbreiteten „KaukasusMär“34 wurde dem wiedervereinigten Deutschland die Wahl des Bündnisses von Gorbatschow schon in Washington am 31. Mai 1990 freigestellt. Das sowjetischdeutsche Gipfeltreffen im Kaukasus am 15./16. Juli 1990 schloss diesen Prozess weitgehend ab, der wesentlich von den USA bestimmt wurde. Der amerikanische Präsident George Bush, sein Außenminister James Baker und seine Administration waren, in Absprache mit allen ihren Verbündeten, diejenigen, die kunstvoll die gefährlichen Klippen umschifften. Während die Bundesrepublik das Vertrauen der Vereinigten Staaten genoss, von 40 Jahren Bündnistreue profitierte und auch das persönliche Verhältnis zwischen Bundeskanzler und amerikanischem Präsidenten stimmte, gelang es den USA, den „Kalten Krieg“ für sich und die Demokratie zu entscheiden. Auch deshalb sollte nicht zu viel gemäkelt werden: Als Besonderheit der Kunst der Diplomatie jener Monate kann gelten, dass den beteiligten Politikern, Botschaftern und Regierungsmitarbeitern aller Nationen die geschichtliche Tragweite der Vorgänge bewusst war. Sie wussten, dass sie ihre eigenen Ziele im Einklang mit ihren Nachbarn treffen mussten, anders als dies 1918 geschehen war oder als dies in einer anderen weltpolitischen Lage 1945 erfolgt war. Sie wussten, wie prekär und fragil eine Neuordnung Europas sein würde, wenn sie nicht diplomatisch solide festgezurrt war. Es finden sich unendlich viele Belege für historische Analogien, auf die von den politischen Akteuren hingewiesen wurde. Am Ende des 20. Jahrhunderts, des von Eric Hobsbawm so einmal bezeichneten „Age of Extremes“,35 war den Akteuren das historische Grundverständnis für eine außergewöhnliche geschichtliche Situation offenkundig besonders präsent. Henry Kissinger hat darauf verwiesen, dass jedes Mal, wenn sich der Charakter des internationalen Systems fundamental ändert, Unruhen nicht zu verhindern 33
Rödder, Deutschland einig Vaterland, S. 242. Andreas Rödder, Die Kaukausus-Mär, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. September 2000. 35 Eric J. Hobsbawm, Age of Extremes. The Short Twentieth Century, 1914–1991, London 1995. 34
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sind. In seinen Worten: „a period of turmoil inevitably follows.“36 Kissinger führt zahlreiche Beispiel an, in erster Linie die Folgen des Dreißigjährigen Kriegs, die Französische Revolution und die Nachkriegsordnung der Jahre nach 1918. Das Bewusstsein des Exzeptionellen jener Monate 1989/90 zeigt sich jedenfalls auch darin, dass schon vor dem Ende der üblichen Sperrfristen regierungsoffizielles Archivmaterial veröffentlicht wurde – man denke an die deutsche Sonderedition der Akten des Bundeskanzlersamts37 oder die bereits erwähnten britischen Akten. Man darf davon ausgehen, dass auch andere Nationen nachziehen werden – ein Vorgang, den es in dieser Form das letzte Mal nach dem Ersten Weltkrieg gab, als um die Frage der Kriegsschuld 1914 ein diplomatischer „Krieg der Dokumente“ ausbrach. Wir können inzwischen mit einem Abstand von 20 Jahren mit einer gewissen Beruhigung feststellen, dass die von Kissinger beschriebenen möglichen Folgen nach 1989/90 nicht unmittelbar eingetroffen sind. Hierfür gibt es mehrere Ursachen. Erstens braucht man ganz einfach Glück: „Der Staatsmann kann nie selber etwas schaffen, er kann nur abwarten und lauschen, bis er den Schritt Gottes durch die Ereignisse hallen hört, dann vorzuspringen und den Zipfel seines Mantels zu fassen, das ist alles,“38 so hat es Otto von Bismarck einmal rückblickend formuliert. Auf diesen sprichwörtlichen Zipfel des „Mantels der Geschichte“, den auch Helmut Kohl mehrfach bemühte,39 kann man sich aber nicht verlassen: Es gab zwar das „Mirakel“ des Hauses Brandenburg, aber auf die Wiederkehr einer derartigen Situation, wie dies Hitler in seinem Berliner Bunker im März 1945 tat, kann und darf man nicht hoffen. Zweitens gehörte eine weltpolitische Konstellation dazu, die eine Gelegenheit für „Staatskunst“ bietet. Dies war beispielsweise die „Krimkriegssituation“40 in der Mitte des 19. Jahrhunderts, die es Bismarck ermöglichte, trotz aller Hindernisse die Reichseinigung zu Wege zu bringen. Am Ende des 20. Jahrhunderts war es der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums, der die Möglichkeit schuf, mit Kunstfertigkeit und Geschick dieses „window of opportunity“ zu nutzen. Drittens benötigt man Staatslenker, die sich ihrer Verantwortung bewusst sind: Es war daher bereits ein Verdienst, 36
Henry Kissinger, Diplomacy, New York 1994, S. 806. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90 (Dokumente zur Deutschlandpolitik), bearbeitet von Hanns Jürgen Küsters, München 1998. 38 Zitiert nach Paul Liman, Fürst Bismarck nach seiner Entlassung. Neue vermehrte Volksausgabe, Berlin 1904, S. 3. 39 Vgl. hierzu Thomas Stamm-Kuhlmann, Der Mantel der Geschichte. Die Karriere eines unmöglichen Zitats, in: Ders. (Hrsg.), Geschichtsbilder. Festschrift für Michael Salewski zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2003, S. 212–222. 40 Klaus Hildebrand, Die „Krimkriegssituation“ – Wandel und Dauer einer historischen Konstellation der Staatenwelt. Eine Skizze, in: Jost Dülffer/Bernd Martin/Günter Wollstein (Hrsg.), Deutschland in Europa. Kontinuität und Bruch. Gedenkschrift für Andreas Hillgruber, Frankfurt am Main/Berlin 1990, S. 37–51. 37
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das von Kissinger als Normalfall beschriebene potentielle katastrophale Chaos verhindert zu haben. Insofern mag man im Einzelnen bei den Vorgängen von 1990 von diplomatischen Kunstfehlern und Schnitzern sprechen, aber mit dem Blick auf die übergeordneten Zusammenhänge mag doch das Bild eines Gesamtkunstwerks erlaubt sein, geschaffen sozusagen in einer „Sternstunde der Diplomatie“, wie der Titel der deutschen Übersetzung einer wichtigen Studie der amerikanischen Politikwissenschaftler Philip Zelikow und Condoleezza Rice lautet. Der Titel ist eine Anlehnung an den Essayband „Sternstunden der Menschheit“, den Stefan Zweig im Jahr 1927 der Öffentlichkeit präsentierte.41 Rice und Zelikow waren als junge Mitarbeiter der Bush-Administration selbst mit den von ihnen geschilderten Vorgängen befasst, und man merkt dem klugen und doch flott geschriebenen Werk an, dass sie von den Ereignissen mitgerissen worden sind. Ihre Studie vereint die notwendige Kühle des nüchternen wissenschaftlichen Beobachters mit dem Herzblut, mit dem sie als Teilnehmer die Umgestaltung Europas begleiteten und mitgestalteten. Der letzte Absatz ihrer Studie ist gleichsam die Quintessenz dessen, was man für die Jahre 1989/1990 als die „Kunst der Diplomatie“ bezeichnen kann: „History is littered with missed opportunities. The leaders [in 1990] who saw their chance, acted with skill, speed, and regard for the dignity of the Soviet Union. As a result, Europe bears scars but no open wounds from German reunification. That is a testimony to statecraft.“42
41 Stefan Zweig, Sternstunden der Menschheit. Fünf historische Miniaturen, Leipzig 1927. 42 Rice/Zelikow, Germany Unified, S. 370.
Mitterrand, Brandt, Kohl und die nationale Frage in Deutschland Von Brigitte Seebacher François Mitterrand war ein Mann, der Machiavelli gefallen hätte. Ein Spieler mit Menschen und Mächten. Ein Monarch, der sich und die Grande Nation in Szene zu setzen wusste und dafür bewundert wurde. Vierzehn lange Jahre war er der Präsident Frankreichs. Was ist von dieser Präsidentschaft geblieben? Die Abschaffung der Todesstrafe 1981 und – die Mäkelei an den deutschen Ereignissen 1989. Der Grund? Selbstüberschätzung. Von jener Wende, die später eine Zeitenwende genannt werden sollte, wusste der Präsident nichts. Nur wer meinte, die Deutschen hätten zu den Franzosen aufzuschauen, sah über so viel Ignoranz gern hinweg. Zeit seines Lebens war Mitterrand den Ereignissen hinterhergelaufen. Die Kunst des Beidrehens beherrschte er allerdings meisterhaft. Erinnert sei an die Résistance, die algerische Unabhängigkeit, die Fünfte Republik, den Mai 68, Europa und eben an Deutschland. Mitterrand hatte keine Vision und keine „Nase“. Keine gestalterische Kraft und kein Gespür für den großen Augenblick. Der Präsident ist noch in der DDR unterwegs, als ihn die Einladung von Bundeskanzler Kohl ereilt, am 22. Dezember mit ihm gemeinsam durch das Brandenburger Tor zu gehen. Mitterrand lehnt ab, und Willy Brandt sagt: „Man stelle sich den großen Charles vor, er hätte die Generalsuniform angelegt und wäre an der Spitze des Zuges marschiert, mit Hochrufen auf das deutsche Volk.“1 Vive la différence. Als de Gaulle 1958 an die Macht zurück gekommen war und eine neue Republik aus der Taufe gehoben hatte, war Mitterrand einer der entschiedensten Gegner. „Le Coup d’Etat permanent“ hieß das Pamphlet, das er dem General entgegen schleuderte.2 Dann aber trat er dessen Erbe an und fand, dass es maßgeschneidert war – institutionell, ökonomisch, militärisch, politisch. Das Selbstverständnis einer in der Résistance gestählten Grande Nation hatte Mitterrand verinnerlicht. Derselbe Mann, der Vichy zu Diensten gewesen war, bevor er das Lager wechselte. 1
Vgl. Brigitte Seebacher, Willy Brandt, München 2004, S. 39. François Mitterrand, Le Coup d’Etat permanent, Paris 1984 (zuerst 1964 erschienen). 2
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Die Exception Française kam von weither. Wirkungsmacht hat sie aber erst entfaltet, als de Gaulle, der Mann des 18. Juni, aus der moralischen Haltung einen politischen Anspruch ableitete. Es war der Anspruch auf den Status einer Siegermacht. De Gaulle konnte den Anspruch glaubhaft machen. Er verkörperte die Résistance und fand im Kalten Krieg die Umstände vor, unter denen der Anspruch durchgesetzt werden konnte. Zum Kalten Krieg gehörte die Teilung Deutschlands. Bei einer der vielen Begegnungen, vor und während der Präsidentschaft, erzählte Willy Brandt Mitterrand einmal von einer Fahrt über die Pyrenäen nach Port Bou – auf den Spuren deutscher Hitler-Flüchtlinge, darunter Mitglieder des Vorstands der SPD. Willy Brandt fügte mit Bedacht hinzu, dass zwei herausragenden Sozialdemokraten der Weimarer Republik die Flucht nicht gelungen war. Rudolf Breitscheid, Vorsitzender der Reichstagsfraktion, und Rudolf Hilferding, einst Reichsfinanzminister und Autor des „Finanzkapital“, waren im Februar 1941 im Hotel Forum zu Arles verhaftet und ausgeliefert worden – in der nicht-besetzten Zone von französischer Polizei. Der eine nahm sich in der Santé das Leben, der andere landete in Buchenwald, wo auch Léon Blum saß, und kam im alliierten Bombenhagel ums Leben. Mitterrand kommentierte schneidend scharf: Die Franzosen konnten sich überhaupt nur schlimm verhalten, weil die Deutschen im Land waren; eigene Verantwortung hätten sie nicht gehabt. Willy Brandt unterdrückte seine Wut. Er wusste: Um das Selbstgefühl zu pflegen und den Status der Siegermacht immer noch einmal untermauern zu können, kultivierte Frankreich den moralischen und politischen Überlegenheitsanspruch gegenüber seinem Nachbarn.3 Dabei hatte er schon 1970 Pompidou darauf hingewiesen, dass man „25 Jahre von 1945 weg“ sei. Es half nichts. Vorläufig nicht.4 Mitterrand untermauerte die Vormachtstellung und tat, als könne er über Deutschland verfügen. Und wenn die Pershings zu nichts anderem da seien als auf weitere zwanzig Jahre die Teilung Deutschlands zu gewährleisten, müsse man sie aufstellen, ließ er ausrichten.5 Der Ton war apodiktisch und täuschte gerade deshalb nicht über die tiefe Unsicherheit hinweg. Schon bald nach seiner Amtsübernahme gebrauchte er jene Wendung, die noch viele Male wiederholt werden sollte, gegenüber mehr als dem einen Gesprächspartner: „Si j’ètais Allemand . . .“ 1989 erzählte Willy Brandt dem Bundeskanzler davon. Kohls Reaktion? Er schmunzelte und nickte wissend.6 Jedes Gespräch, das Mitterrand mit Willy Brandt führte, mindestens einmal im Jahr also, eröff3 4 5 6
Vgl. Seebacher, a. a. O., S. 31/32. Vgl. ebd., S. 19. Vgl. Willy Brandt, Erinnerungen, Berlin 1994, S. 366. Vgl. ebd. und Helmut Kohl, Erinnerungen 1982–1990, München 2005, S. 1035.
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nete er mit der Frage nach der Einheit und ob die Deutschen die nicht doch immer noch verfolgten. Im Elysée ging man davon aus, dass es so sei, und fand es verständlich, aber nicht angenehm. Muss man deshalb zu hintertreiben suchen, was das Selbstverständnis zu untergraben und den eigenen Machtanspruch zu gefährden droht? Man muss wohl, wenn man sich ein Erbe nur angeeignet und darüber vergessen hat, dass Zeiten sich ändern und Fundamente bröckeln können. Mit statuarischem Prunk feierte Frankreich am 14. Juli 1989 das Bicentenaire, die zweihundertste Wiederkehr der Revolution, die selbstverständlich immer noch als Ganzes – en bloc – gesehen wurde. Angesichts der täglich tiefer werdenden Risse im Ostblock, welch ein Anachronismus! Es war die erste und einzige Einladung aus dem Elysée, der Willy Brandt nicht folgte. *** Die nationale Frage ist damals oft gestellt worden. Die Frage hatte immer nur einen Adressaten – Deutschland. Die Macht und die Lage in der Mitte; die Versuchungen, denen das Land wieder erliegen könnte, und die Ängste, denen die Nachbarn wieder ausgesetzt sein würden. Es war die Wiederkehr des Immergleichen, die an die Wand gemalt wurde und – im selben Augenblick auch schon verblassen sollte. Bis zur Unkenntlichkeit. Die Zeichen der Zeit standen nicht auf Wiederkehr von was auch immer, sondern kündigten eine radikal neue Epoche an. Eine Epoche, die vom Bedeutungsverlust, jedenfalls des europäischen Nationalstaats, geprägt sein sollte. Frankreich und Großbritannien lieferten eine ungewollte Probe ab, als sie ferne Vergangenheiten beschworen und übersahen, dass die Musik schon lange nicht mehr nach dem Takt der deutschen Frage spielte. Andernfalls hätten Bedenken, Einwände und Hinhaltemanöver nicht so rasch verpuffen können. Mitterrand drehte bei, und Mrs. Thatcher wurde gestürzt, im Spätherbst 1990, als alles geregelt und nichts aufzuhalten war. Und im Land selbst? Die Sorgen von konservativer Seite verflogen, als sich herausstellte, dass Macht und Mitte nach neuem, auch: neuartigem, Maß zu berechnen waren; Jürgen Habermas versenkte seinen „DM-Nationalismus“7 so schnell, dass er kaum noch dran erinnert werden konnte; die Dissidenten, die ihre Braut, die DDR, erst noch hübsch machen wollten, verkrümelten sich; Schröder, Lafontaine, Fischer zeigten das, was sie am besten beherrschten – Beweglichkeit – und stellten sich ruckzuck auf den Boden der Tatsachen. Welcher Schluss war aus dieser rasend schnellen Anpassung zu ziehen? Dass Kräfte am Werk gewesen sein müssen, die unsere kleine nationale Frage in neues 7 Jürgen Habermas, Zur Identität der Deutschen, in: ders., Die nachholende Revolution, Frankfurt am Main 1990, S. 205.
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Licht rückten. Tatsächlich ist 1989 die Chiffre für einen gewaltigen Umbruch. Einen Epochenwechsel. 1998 gratulierte eine große amerikanische Investmentbank per Zeitungsanzeigen der „Global Economy“ zum zehnten Geburtstag.8 Merrill Lynch erfreute sich bester Gesundheit; dass sie weitere zehn Jahre später, im Herbst 2008, von der Bildfläche verschwand, zeigt nur, dass jede Revolution ihre Kinder frisst. Heute, im Abstand von zwei Jahrzehnten, bleibt kein Zweifel übrig, dass der Glückwunsch passte und 1989 tatsächlich zwei Epochen einander abgelöst haben. Auf den Kalten Krieg, der in das längere Industriezeitalter hineingehörte, folgte die Globalisierung. Ihr Kennzeichen ist eine weltweite Arbeitsteilung. In einer Welt, die Thomas Friedman als „flat“ kennzeichnen sollte, gibt es keine geschlossenen Territorien mehr, keine Inseln, keine Zufluchtsorte, keine Ausnahmen und keine nationalen Volkswirtschaften. „The World ist Flat“ ist 2005 erschienen; nur vier Jahre zuvor, zur Jahrtausendwende, hatte derselbe Autor zwischen alter und neuer Epoche noch ein Gleichgewicht ausgemacht und einen symbolträchtigen Titel dafür gefunden: „The Lexus and the Olive Tree.“ Wenige Jahre später, als er die „flache“ Welt beschrieb, war er selbst verblüfft, dass es sich nur um eine Momentaufnahme gehandelt hatte.9 Hinter der Mauer waren eben nicht nur die Handvoll Ossis zum Vorschein gekommen, sondern auch eine halbe Milliarde Bewohner des ehemaligen Sowjetimperiums, eine Milliarde Inder und eine Milliarde Chinesen. Sie alle betraten nun die Bühne der Welt, im Angebot nichts als ihre Arbeitskraft und ihren Willen besser zu leben. China hatte den kapitalistischen Pfad schon in den achtziger Jahren beschritten und gelernt, dass die Katze Mäuse fangen muss, gleich welcher Farbe. Dank der Eigendynamik, die freigesetzt wurde, und wegen seiner schieren Größe wurde China eine Kraft sui generis, die den Prozess der Globalisierung vorantrieb, als uns der Begriff noch kaum etwas sagte. Für die Inder war tatsächlich erst die Zeitenwende 1989 der Anlass, aller sozialistischen Experimente abzuschwören und die eigenen Mauern einzureißen. Stattdessen errichteten sie, mathematisch begabt und englischsprachig, das, was bald das „Backoffice“ der Welt genannt werden sollte. Es brauchte die Teilnehmer, damit der Markt werden konnte, was er nie zuvor gewesen war – global. Und es brauchte die Technik, die ungehinderte Kapitalströme und Arbeitsteilung überhaupt erst möglich machte. Unmerklich erst, im Verlauf der achtziger Jahre dann immer sichtbarer, entfalteten die Mikrotechnologien ihre umstürzende Wirkung. Auch in den zentral gelenkten Planwirtschaften des Ostens, die dafür nun gerade nicht gemacht waren. Ende 1988 oder Anfang 1989 hielt Erich Honecker einen riesigen Chip hoch; er wusste wohl selbst nicht, 8 9
Vgl. Thomas L. Friedman, The Lexus and the Olive Tree, New York 2000, S. XVI. Thomas L. Friedman, The World is Flat, New York 2005 und wie Anm. 8.
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dass es sich um eine Attrappe handelte. Nach der Wende brach Robotron wie ein Kartenhaus zusammen. Unterdessen war der Landstrich zwischen San Francisco und San José aufgeblüht und nannte sich – Silicon Valley. Eingeleitet worden ist das Jahrzehnt mit Sonys Walkman und IBMs Personal Computer. 1981 wird eine kleine Firma in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, die zwei Studenten erst wenige Jahre zuvor gegründet haben – Microsoft. Am Ende dieses Jahrzehnts, 1989!, erwirbt die Deutsche Bank ein angesehenes englisches Investmenthaus und macht sich auf den Weg zum globalen Institut. In einem Akt von höchster Symbolkraft entscheidet in jenem Jahr die Firma Mannesmann, die Ikone der deutschen Montanindustrie, aus dem Stahl aus- und in die Telekommunikation einzusteigen. 1989 orientiert sich auch eine finnische Papierfabrik neu; Nokia fertigt fortan Mobiltelefone. In den achtziger Jahren brach auf, was seit Beginn der Industrialisierung zum unverrückbaren Bestand des Zeitalters gehört hatte: Klare Grenzen innerhalb von Ländern und Lagern, feste Bindungen und große Kollektive, strenge Hierarchien in Familie und Gesellschaft und ein Nationalstaat, der Herr über sich ist. Willy Brandt hatte 1980, in seinem Vorwort zum Nord-Süd-Bericht, den noch jungen Begriff von der „Globalisierung“ aufgenommen.10 In den Jahren, die folgten, befasste er sich mit den wechselseitigen Abhängigkeiten in der Welt und den länderübergreifenden Gefahren, Hunger, Klima, Terror. Daraus schlossen Freund und Feind, dass er die nationale Sache aufgegeben habe. Welch ein Missverständnis! Das Bild von dem einen und freien Deutschland, das ein stolzer Antinazi in sich trug, blieb so klar und zeitlos wie es immer gewesen war. Verändert hatten sich allerdings die Umstände, unter denen die Teile des Landes zusammen finden würden. Es sollte zusammenwachsen, was zusammen gehört, ja, aber das „Wieder“ in der Vereinigung mochte er nicht und nahm das Wort auch nicht in den Mund: „Nichts kommt wieder, wie es war.“11 *** Eine solche Dialektik musste Helmut Kohl fremd sein. An mehreren Stellen seiner Memoiren rätselt er daran herum. In aller Unbefangenheit hat er seine Worte gewählt, wie die Gewohnheit sie ihm gerade eingab. Mit dem Schwur auf die „Wieder“-Vereinigung“ war er aufgewachsen, dabei sollte es bleiben. Das Wort hatte ja auch den angenehmen Nebeneffekt, dass die Leute glaubten, im Westen bleibe alles wie es war und im Osten werde alles wie es im Westen war. 10 Vgl. Willy Brandt, Wandel tut not, Einleitung, in: Unabhängige Kommission für Internationale Entwicklungsfragen (Hrsg.), Das Überleben sichern. Bericht der NordSüd-Kommission, Köln 1980, S. 11–40. 11 Willy Brandt, Nichts wird, wie es war. Nachschrift von Ende November ’89 zu den „Erinnerungen“, Berlin 1989.
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Tatsächlich wollte Helmut Kohl in keine Vergangenheit zurück, sondern das vereinte Land in der Gegenwart verankern. In den kurzen Augenblicken, als es galt zuzugreifen, im Hier und Jetzt, und das Mögliche wirklich zu machen, kam es auf Worte auch nicht zuerst an. Es hat sich herumgesprochen, dass Willy Brandt und Helmut Kohl einen langen Gesprächsfaden in jenen Augenblicken enger knüpften. Nach Herkunft, Alter, Prägung und Temperament waren sie so verschieden wie im Umgang mit der Macht. Eine „nationale Frage“ aber mochten sie beide nicht mehr erkennen. Es verstand sich von selbst, dass nationale Einheit und europäische wie globale Eingebundenheit für Deutschland so gut – oder so schlecht – zusammengingen wie für jedes andere Land sonst. Helmut Kohl hatte nie einen Hehl daraus gemacht, seinem Freund François gern zu gefallen zu sein und sich in dessen Gunst zu sonnen. Nun aber – als es um existentielle Fragen der Deutschen ging – wurde ihm ausgerechnet der Nachbar fremd. Kohl spürte und hielt fest: „Selbst auf meinen Freund François Mitterrand schien kein Verlass zu sein.“12 Der Bundeskanzler hat damals und hat später keinen Zweifel daran gelassen, dass er den Bruch der Freundschaft in Kauf genommen hätte, wenn es zum Schwur gekommen wäre. Den Zehn-Punkte-Plan – immerhin – hatte er auch in Paris nicht vorab bekannt gemacht! Kohl war stutzig geworden über das Ausmaß der französischen „Distanz“. Willy Brandt wunderte sich nicht. Er kannte Frankreich und dessen Präsidenten einfach zu gut. Wenige Tage nach dem Europäischen Sondergipfel in Strasburg, in den ersten Dezembertagen 1989, auf dem Mitterrand eine eisige Atmosphäre geschaffen hatte, sagte er demonstrativ in einem Gespräch mit „Le Monde“: Die Haltung der Amerikaner finde er „sympathisch“.13 Und jedem, der es hören wollte, gab er zu verstehen: Es kommt doch auf Frankreich und Großbritannien gar nicht mehr an, es kommt allein auf die Vereinigten Staaten an, nur an die würde sich die Sowjetunion halten. Als Willy Brandt die Fernsehbilder von Mitterrands Reise durch die zer- und verfallende DDR sah, regte er sich nicht einmal auf. Er schüttelte den Kopf und spottete: Eine Geisterfahrt! Was Helmut Kohl dachte, wissen wir nicht. Vermutlich dachte er ähnlich, doch ließ er sich nichts anmerken. Die Dinge gingen voran, mit oder ohne Segen aus dem Elysée, darauf kam es an. Aber aller Brüskierung zum Trotz wollte Kohl gerade auch diesen Segen haben und tat „als ob“. Als ob er die Sorge des Nachbarn ernst nehme. Die Sorge, ein vereintes Deutschland könne sich abwenden von Europa. Am 4. Januar 1990 begab sich der Bundeskanzler nach Latche. Er dürfte angedeutet haben, in welcher Form auch immer, den Zeitplan für eine gemeinsame 12 13
Kohl, a. a. O., S. 988. Vgl. Seebacher, a. a. O., S. 303.
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Währung verkürzen und in einen Zusammenhang mit dem deutschen Vereinigungsprozess bringen zu wollen. Willy Brandt war nicht gegen die neue Währung, im Gegenteil. Während seines ersten europäischen Gipfels als Bundeskanzler, im Dezember 1969, hatte er auf Papier gebracht, dass nun der zeitliche Rahmen für die gemeinsame Währung bestimmt werden müsse. Aber die Währung als Instrument der großen Politik? Gar als Zeichen von Macht oder Machtverzicht? Das gefiel ihm nicht. Kohls Rede, dass mit der Einführung eines Euro – den Namen gab es noch nicht – Krieg in Europa unmöglich werde, leuchtete ihm nicht ein. Geradezu abwegig fand Willy Brandt Mitterrands Hinweis, in der Schlacht um das Referendum 1992, dass Deutschland nur dann nicht übermächtig werde, wenn dessen Herrschaftssymbol, die Deutsche Mark, verschwinde. Insoweit dachte Willy Brandt nüchtern; der europäische Binnenmarkt verlange eine gemeinsame Währung, früher oder später; beschlossen war sie ja auch. Und Krieg, in diesem Teil Europas? Nein, im Ringen um die Gegenwart sollte dieses Gespenst nun wirklich nicht mehr hervorgeholt werden. Die Zeit ging rasend schnell über dieses und alle anderen Gespenster hinweg, die 1989 und auch noch 1990 beschworen wurden. Tatsächlich sind sie nicht mehr als eine Fußnote zu einer viel größeren Geschichte. Das vereinte Deutschland trumpfte nirgends auf und fand es keinesfalls schwerer als Frankreich, sich in der neuen Epoche der Europäisierung und Globalisierung zurechtzufinden. François Mitterrand war schwer krank und bewirkte während der letzten Jahre seiner Präsidentschaft nichts mehr. Eine Tochter und ein Orden kamen zum Vorschein, und sonst? Der Nachfolger machte tabula rasa mit der Exception Française. Bald nachdem er das Amt von Mitterrand übernommen hatte, sagte Jacques Chirac am 16. Juli 1995: „Il est, dans la vie d’une nation, des moments qui blessent la mémoire et l’idée que l’on se fait de son pays.“ Es war der 53. Jahrestag der Razzia im Velodrom d’Hiver, dem Vel d’Hiv. Jenem Ort, an dem 4.500 französische Polizisten fast 13.000 Juden zusammengetrieben und in die Vernichtungslager geschickt hatten. Chirac war der erste Präsident, der an der Verantwortung Frankreichs keinen Zweifel ließ: „La France, ce jour-là, accomplissait l’irréparable.“14 Die Exception Française, die in dem Glauben an die unbefleckte Vergangenheit gründete, hatte sich überlebt, einschließlich ihrer politischen und militärischen Weiterungen. Der Weg zurück in die Nato konnte begonnen und schließlich, unter dem heutigen Präsidenten, zu Ende gegangen werden. Heute stehen Deutschland und Frankreich vor den gleichen Problemen, nach innen wie nach
14 Zit. nach Franz-Olivier Giesbert, La Tragédie du Président. Scènes de la vie politique 1986–2006, Paris 2006, S. 196.
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außen. Kein Land kann agieren, als sei es allein auf der Welt. Die Frage ist nur, ob sie im Zusammenspiel Gutes bewirken wollen und können. Als die Mauer fiel und sich die nationale Frage erledigte, durften die Deutschen glauben, sie seien der Nabel der Welt. Im kalten Blick zurück, zwei Jahrzehnte später, lernen wir, dass die Geschichte mehrere Ebenen hatte und nicht jeder Akteur so wichtig war, wie er sich selbst nahm.
Die USA und die deutsche Wiedervereinigung Von Christian Hacke Am Tag, als die Mauer fiel, am 9. November 1989, war die amerikanische Regierung genauso überrascht wie die übrige Welt. Außenminister Baker gab gerade ein Mittagessen für die philippinische Präsidentin Corazon Aquino, als ihm von dem Ereignis berichtet wurde: „Mit einiger Bewegung, wie ich zugeben muss, las ich den Zettel meinen Tischpartnern vor, erhob mein Glas und stieß auf den Tag an, auf den der Westen seit 28 Jahren gewartet hatte – eine wahrhaft erstaunliche Wendung der Dinge.“1
Seit dem Ende der Viermächtegespräche 1953 hatten die USA wie auch die anderen westlichen Alliierten offiziell am Ziel der deutschen Wiedervereinigung festgehalten. Damals hatten die USA gemeinsam mit Großbritannien und Frankreich folgendes Kommuniqué veröffentlicht: „Die Wiedervereinigung Deutschlands sollte durch freie Wahlen erlangt werden, die zur Bildung einer gesamtdeutschen Regierung führen, mit welcher ein Friedensvertrag geschlossen werden könnte.“
Doch im Zuge der Verfestigung des Status quo in Europa und besonders unter dem Eindruck des Baus der Mauer im August 1961 gelangten die meisten Amerikanern zu der Auffassung, dass Deutschlands Teilung unvermeidbar sei und schließlich zur Stabilisierung Europas beitrage. Allein Präsident Reagan fand sich mit diesem Denken nicht ab und forderte in einer Aufsehen erregenden Rede von Michael Gorbatschow, er solle diese Mauer niederreißen. Diese couragierte Haltung blieb allerdings Ausnahme. Deshalb stand das Jahr 1989 in West und Ost im Zeichen der Jubiläen: beide deutsche Regierungen feierten die vierzigjährige Existenz ihrer Staaten, die wie für die Ewigkeit gebaut schienen. Folglich waren George Bush und Michael Gorbatschow im Sommer 1989 in die Bundesrepublik gereist, um dem 40. Jahrestag der Gründung der Bundesrepublik ihre Reverenz zu erweisen. Michail Gorbatschow reiste dazu im Oktober nach Ost-Berlin um die dortigen Feierlichkeiten zur DDR Staatsgründung zu unterstreichen. 1 James Baker, Erinnerungen, Berlin 1996, S. 149; George Bush, Brent Scowcroft, Eine neue Welt, Berlin 1999, S. 204 ff., und Robert M. Gates, From the Shadows: The Ultimate Insider’s Story of Five Presidents and How They Won the Cold War, New York 1996, S. 472 ff.
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Allerdings stand 1989 auch im Zeichen der Zweihundertjahrfeier der Französischen Revolution. Doch keiner konnte ahnen, dass nach 200 Jahren, wiederum unter dem Banner der Freiheit, politische Revolutionen in Europa ausbrechen würden. Im Gegenteil, die überwältigende Mehrheit der Völker in West und Ost teilte folgende Einschätzung: „Was die deutsche Wiedervereinigung angeht, so muss man am allerwenigsten eine Neuauflage des Bismarckschen Deutschlands fürchten. Wie groß auch immer in Westdeutschland der Wunsch nach kultureller Re-Integration ist oder in Ostdeutschland nach den Konsumprodukten des Westens, so besteht doch selbst für eine NachHonecker-DDR nur eine geringe Wahrscheinlichkeit, dass sie es zulässt, sich von ihrem dynamischen westlichen Nachbarn absorbieren zu lassen. Sie hat sich eine Identität und eigenen perversen Stolz zugelegt.“2
In der Bundesrepublik Deutschland hatte man sich, wenn auch zähneknirschend, mit dem politischen Status quo abgefunden. Im übrigen Europa in Ost und West wurde die Teilung sogar als Voraussetzung von Gleichgewicht und Sicherheit in Europa angesehen. In den Hauptstädten der Welt, so auch in Washington, hoffte man allenfalls auf mehr Entspannung zwischen West und Ost, nicht aber auf die Durchsetzung der Freiheit in ganz Europa. Man hatte sich im Status quo der Nachkriegsordnung, so gut es ging, eingerichtet. Auch Ronald Reagan, der 1987 Gorbatschow aufgefordert hatte, die Mauer niederzureißen, beließ es in seiner Deutschlandpolitik bei emotionalen Gesten. In der praktischen Diplomatie stand die deutsche Frage nicht auf der Tagesordnung, auch nicht in Washington3. Die Regierung Bush beurteilte deshalb die gärende Entwicklung in Deutschland und Europa mit Zurückhaltung. Stimmen, die vom Ende des Kalten Krieges sprachen, schienen der Regierung Bush verfrüht: „Wenn man einmal feststellt, dass der Kalte Krieg vorbei ist“, so Brent Scowcroft, „dann kann man es nicht mehr zurücknehmen. Man kann diese Feststellung deshalb nur einmal machen“4. Davor schreckte man in Washington aber zurück. Doch bahnte sich in der zweiten Hälfte der 80er Jahre Revolutionäres an. Doch wie alle großen Ereignisse, so entwickelte sich auch die Europäische Freiheitsrevolution von 1989 nur oberflächlich gesehen spontan und abrupt. Jacob Burckhardt sprach schon im 19. Jahrhundert von den zunächst unsichtbaren revolutionären Kräften, die dann plötzlich und zum Teil wie zufällig in die politische
2 Michael Howard, „1989. Eine neue Zeitenwende“, in: Europa Archiv 14/89, S. 441. 3 Elisabeth Pond, Beyond the Wall, Washington D. C. 1993, S. 162. 4 Brent Scowcroft, vgl. Michael Beschloss, Strobe Talbott, At the Highest Level, New York 1994, S. 17 f.
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Wirklichkeit einbrechen5. So nimmt es nicht Wunder, dass die revolutionären Entwicklungen auch die Amerikaner überraschten. Als die Mauer dann am 9. November über Nacht zusammenbrach, zeigte sich Bush erfreut, aber auf die Frage, ob dies das Ende des Eisernen Vorhanges sei, antwortete er vorsichtig: „Nun, ich glaube nicht, dass ein einzelnes Ereignis schon das Ende dessen ist, was Sie als Eisernen Vorhang bezeichnen.“
Bush zeigte sich besorgt über die weiteren Auswirkungen dieser Ereignisse auf die West-Ost-Beziehungen. Zu oft waren seit 1945 hoffnungsvolle Liberalisierungsansätze zusammengebrochen, weil die Sowjets brutal eingegriffen hatten. Vielleicht erinnerte sich der Präsident auch daran, dass die antikommunistische Rhetorik amerikanischer Regierungen 1956 in Ungarn und Polen große, aber falsche Hoffnungen geweckt hatte. Vielleicht wollte Bush deshalb kühne Visionen vermeiden, um dann die Entwicklung besser kontrollieren zu können. Folglich gab er sich bei aller inneren Zufriedenheit über den Fall der Mauer nach außen sachlich, um Gorbatschow nicht herauszufordern oder gar durch vorzeitige Freuden- oder gar Siegesgesten zu demütigen: „Ich werde mir nicht auf die Brust schlagen und auf der Mauer tanzen“, erklärte er, als man ihm vorschlug, nach Berlin zu reisen6. „To avoid triumphalism“, das war von Anfang an die Maxime der Regierung Bush in ihrer Vereinigungsdiplomatie. Dessen ungeachtet brachen nach dem Fall der Mauer sofort öffentliche Kontroversen zwischen Washington, Bonn, Berlin, Moskau, London und Paris über die deutsche Frage auf. Interessant war, dass die üblichen diplomatischen Kanäle für inoffizielle Gespräche kaum genutzt wurden. Zunächst suchten alle Regierungen, ihre eigenen Interessen gegenüber Deutschland zu definieren. Als erster reagierte Michail Gorbatschow: in einem Brief an die drei westlichen Regierungschefs warnte er vor chaotischen Entwicklungen und regte deshalb Gespräche der vier für Deutschland verantwortlichen Mächte an. Margaret Thatcher sympathisierte mit Gorbatschow, auch die französische Regierung blickte mit Wohlwollen nach Moskau. Allein der amerikanische Präsident beriet sich zuerst mit Bundeskanzler Helmut Kohl. Diese Einstellung war konsequent. Präsident Bush hatte bewusst eine zentrale Vorentscheidung gefällt, auf die auch Außenminister Genscher gedrängt hatte: Die Bundesregierung wünschte jetzt und in Zukunft keine Gespräche der
5 Siehe hierzu Jacob Burckhardt, Über das Studium der Geschichte, München 1982, S. 205 ff. 6 Siehe hierzu Philip Zelikow, Condoleezza Rice, Sternstunde der Diplomatie, Berlin 1997, S. 158.
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vier Mächte über Deutschland über die Köpfe der Deutschen hinweg, sondern wollte selbst gleichrangig mitentscheiden. Die Deutschen übernahmen in der deutschen Frage jetzt die Initiative und suchten vor allem den Schulterschluss mit den USA. Unmittelbar nach dem Fall der Mauer war man sich in Washington über die Details der Vorgehensweise und die endgültige Zielsetzung der USA noch uneins, doch unterstützte Bush die Regierung Kohl/Genscher rückhaltlos. Diese unverbrüchliche Achse allein garantierte, dass die Vereinigung Deutschlands überhaupt möglich und unter Bedingungen durchgesetzt wurde, die eine fast deckungsgleiche Interessenlage zwischen Washington und Bonn offenbarte. Deshalb konnte die Vereinigung zügig und ohne Verzögerung vonstatten gehen und entsprechende innen- und außenpolitische Strukturen der alten Bundesrepublik auch für das vereinigte Deutschland realisiert werden. Als der deutsche Außenminister am 22. November 1989 in Washington mit Bush und Baker über die deutsche Frage konferierte, betonte er deshalb die Notwendigkeit, in der DDR demokratische Verhältnisse zu schaffen. Genscher legte sich zunächst nicht fest, sondern wollte sich weitere Optionen offen halten. Er hielt aber daran fest, dass es keine exklusiven Viermächtegespräche über Deutschland geben dürfe, sondern dass die deutsche Frage im europäischen Rahmen gelöst werden müsse. Als Bush erklärte, Gorbatschow sei besorgt wegen der deutschen Frage, antwortete Genscher: „Gerade wegen der Wirkung auf Moskau sei es Sache der Deutschen in der DDR, sich zur Frage der Einheit zu äußern. Wir hätten von uns aus in unserer Verfassung diesen Willen zur Einheit ja bereits bekundet. Eines allerdings müsse ganz klar sein: Wir wollten keinen deutschen Alleingang, stünden vielmehr zur NATO und zur Europäischen Gemeinschaft. In der Vergangenheit sei oft grundlos Sorge vor einer deutschen Sonderrolle geäußert worden; heute dürfe es nicht dadurch zu einer deutschen Sonderrolle kommen, dass die Deutschen aus der gesamteuropäischen Entwicklung ausgeklammert würden.“ 7 Genschers Versicherung, dass Deutschland auch in Zukunft fest im Westen integriert bleiben müsse, bekräftigte die amerikanische Regierung in ihrer Absicht, den Wunsch der Deutschen nach Selbstbestimmung und freien Wahlen zu unterstützen. Aber der deutsche Außenminister ging im Gespräch mit Sicherheitsberater Scowcroft noch weiter: – Es sei jetzt von entscheidender Bedeutung, dem deutschen Volk die Möglichkeit einzuräumen, sein Selbstbestimmungsrecht auszuüben. – Die Idee eines Friedensvertrages sei durch die Entwicklung überholt worden. Eine Viermächtekonferenz über Deutschland wäre daher ein Rückschritt. Auf
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Hans-Dietrich Genscher, Erinnerungen, Berlin 1996, S. 665 f.
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keinen Fall dürfe es wieder zu einer Katzentischlösung wie in den 50er Jahren in Genf kommen. – Alle sechs Teilnehmer – die beiden deutschen Staaten Bundesrepublik und DDR sowie die vier Mächte USA, Sowjetunion, Frankreich und Großbritannien – müssten an einem Tisch Platz haben. Damit hatte Genscher im Grunde schon die Struktur der späteren Verhandlungen vorgezeichnet, die er mit dem Ziel der Wiedervereinigung mit machtpolitischer Finesse zu führen verstand. Mit Baker vertiefte Genscher dann die Konsultationen. Das Ergebnis war „eine übereinstimmende Einschätzung der Situation sowie die Chancen, die sich daraus ergaben. Persönlich hatten wir uns längst gefunden“8. Damit waren für die deutsche Wiedervereinigung zwischen Bonn und Washington optimale Voraussetzungen geschaffen worden: Bush und Baker erkannten nach Genschers Besuch noch deutlicher, dass es durch den Zerfall des Sowjetimperiums und den Bankrott des DDR-Regimes notwendig geworden war, gemeinsam mit der Bundesregierung eine neue europäische Ordnung aufzubauen – eine Einsicht, die sich bei den Verbündeten in London und Paris allerdings nicht so schnell durchsetzte. Während Premierministerin Thatcher und Präsident Mitterrand, wenn auch auf unterschiedliche Weise und aus unterschiedlichen Gründen, der deutschen Vereinigung zurückhaltend gegenüberstanden – um nicht zu sagen diese ablehnten –, reagierten die USA schon im November 1989 aufgeschlossen als verantwortungsbewusste Schutzmacht. Ihre Einstellung zur deutschen Einheit war aufs Ganze gesehen positiv und großzügig. Während für Frankreich die Vision eines wiedervereinigten Deutschland Großmachtrivalitäten wieder belebte, stellte sich die Wiedervereinigung aus amerikanischer Sicht als krönender Abschluss eines gemeinsamen Kampfes gegen sowjetische Herrschaftsansprüche in Europa dar. Es war dem amerikanischen Botschafter in Deutschland, Vernon A. Walters, vorbehalten, als einer der ersten auf Deutschlands Wiedervereinigung hinzuweisen. Als er im Mai 1989 gefragt wurde, ob er sich die deutsche Einheit in fünf Jahren vorstellen könne, antwortete er: „Sogar in viel kürzerer Zeit“9. Walters zeigte eine konservativ-freundschaftliche Einstellung zu Deutschland, die sein Außenminister Baker nicht immer teilte. „Ich war ziemlich bestürzt darüber, dass fast keiner der Deutschlandexperten meine Auffassung von einer baldigen Wiedervereinigung teilte. Ich [war] überzeugt, dass wir uns der Wiedervereinigung mit Windeseile näherten, und überrascht, mich in diesem Glauben so ziemlich allein zu sehen.“10 8
Ebd., S. 667 f. Vgl. hierzu Vernon Walters, Die Vereinigung war voraussehbar, Berlin 1994, S. 31. 10 Ebd., S. 24. 9
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Anders als in Paris erkannte man in Washington, dass mit dem Zusammenbruch der DDR auch die Nachkriegsordnung in Europa unwiderruflich verloren war. Aber während man in Paris an einer Wiederbelebung der DDR auch noch nach dem Fall der Mauer selbst mitwirkte, suchte Amerika von Anfang an einen Platz an der Seite der Bundesrepublik Deutschland. Wie selbstverständlich ging die Regierung Bush/Baker frühzeitig davon aus, dass es im amerikanischen Interesse liegen würde, den deutschen Einigungsprozess zu fördern. Als Helmut Kohl am 28. November 1989 überraschend seinen Zehn-PunktePlan vorstellte, reagierten die französische und britische Regierung abweisend. Der britische Außenminister Douglas Hurd wünschte einen elften Punkt, der besagen sollte, dass nichts unternommen würde, was das Gleichgewicht und die Stabilität Europas zerstören könnte. Margaret Thatcher schlug vor, dass die existierenden Grenzen so lange unverändert bleiben sollten, bis die Demokratie in der DDR tiefere Wurzeln geschlagen habe. François Mitterrand verkündete nach Kohls Zehn-Punkte-Plan brüsk, dass er Hans Modrow im Dezember einen Besuch abstatten werde um die DDR aufzuwerten und außenpolitisch zu stabilisieren. Dagegen war die Reaktion der amerikanischen Regierung entspannt, die der amerikanischen Bevölkerung sogar enthusiastisch. Präsident Bush unterstützte Helmut Kohl, obwohl auch er von dessen Zehn Punkten überrascht wurde. Er erklärte trotzdem ohne Vorbehalte, auf derselben Wellenlänge mit Deutschland zu sein, ohne sich öffentlich über die mangelnde Konsultation zu beklagen und vermutlich in stiller Übereinkunft mit Kohl, dass dieser nicht anders handeln konnte. Im Vergleich zu anderen außenpolitischen Problemen zeigte Bush in der deutschen Frage Mut als er für eine Überwindung des Status quo und für eine neue Vision Europas plädierte. Selbstbewusst konterte er den Vorwurf, es mangele ihm an visionärer Kraft: „Wie ich bereits im Frühjahr erklärte“ – so Bush am 29. November gegenüber Reportern in Washington –, „Sie sehen, dass diese Sache mit der politischen Vision Gestalt annimmt. Ich wünsche mir ein Europa, das vereint und frei ist – weniger als Vision, sondern als Realität.“
Bush und Walker waren durch Genscher voll informiert und deshalb zuversichtlich, dass „Bonn und Washington die deutsche Vereinigung ohne Unstimmigkeiten handhaben würden. Die entscheidende Frage war, wie Moskau und in gewisser Weise auch London und Paris auf unsere Seite gebracht werden konnten. All das sprach dafür, unsere Begeisterung über den Mauerfall, um den sich Amerika seit Jahrzehnten bemüht hatte, zurückzuhalten.“ 11
11
Baker, Erinnerungen, S. 160.
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Auf dem amerikanisch-sowjetischen Gipfel am 2./3. Dezember in Malta handelte Bush im deutschen Interesse, als er gegenüber Gorbatschow für ein überlegtes und umsichtiges Vorgehen in der deutschen Frage plädierte. Gorbatschow könne doch nicht im Ernst damit rechnen, dass die USA die deutsche Wiedervereinigung behindern würden! Dank amerikanischer Entschlossenheit war Gorbatschow zu Rückzugsgefechten gezwungen. Er musste erkennen, dass die USA und die Bundesrepublik die beiden machtvollsten Hauptakteure waren, die Seite an Seite die deutsche Vereinigung durchsetzen wollten. Aber Bush und Kohl waren sich einig, dass die deutsche Frage den westlichen Integrationsrahmen nicht sprengen dürfe, sondern stärken müsse. Deshalb unterstützte Bush besonders die europapolitische Einbettung eines vereinten Deutschland wie von Bundeskanzler Kohl angeregt. Auf der NATO-Tagung in Brüssel am 4. Dezember 1989 berichtete Bush zunächst vom amerikanisch-sowjetischen Gipfel in Malta und seiner Einschätzung der deutschen Frage12. Dann formulierte er „vier Grundsätze“ der amerikanischen Regierung, die mit Unterstützung der Regierung Kohl/Genscher entwickelt wurden: „Erstens muss die Selbstbestimmung so ausgeübt werden, dass das Ergebnis des Prozesses nicht vorweggenommen wird. Wir sollten zum jetzigen Zeitpunkt kein bestimmtes Modell der Einheit befürworten oder ausschließen. Zweitens sollte die Wiedervereinigung von dem unveränderten Bekenntnis Deutschlands zur NATO und einer mehr und mehr zusammenwachsenden Europäischen Gemeinschaft ausgehen, und sie müsste die Rechte und Verantwortlichkeiten der alliierten Mächte gebührend berücksichtigen. Drittens müssen im Interesse der allgemeinen Stabilität in Europa Maßnahmen in Richtung auf die Wiedervereinigung friedlich, allmählich und schrittweise getroffen werden. Schließlich sollten wir in der Frage der Grenzen unser Bekenntnis zu den Prinzipien der Schlussakte von Helsinki bekräftigen.“13
Sofort im Anschluss an die Rede Bushs erklärte Kohl, dass niemand die Situation hätte besser darstellen können als der amerikanische Präsident und man deshalb am besten die Sitzung beenden sollte. Als daraufhin Italiens Ministerpräsident Andreotti davor warnte, dass Selbstbestimmung zu Schwierigkeiten führen könnte, erklärte Kohl erregt, dass Andreotti eine andere Meinung vertreten würde, wenn der Tiber sein Land politisch teilen würde14. 12 Hannes Adomeit, Annette Messemer, „Politische Annäherung zwischen USA und Sowjetunion“, in: Die internationale Politik 1989/90, Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, München 1992, S. 51 f. 13 Zelikow, Rice, Sternstunde der Diplomatie, S. 195. 14 Helmut Kohl, Ich wollte Deutschlands Einheit, Berlin 1996, S. 189 ff.
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Dank amerikanischer Festigkeit konnten in Brüssel handfeste Meinungsunterschiede überwunden werden. Die NATO befürwortete die Vereinigung, es blieb aber noch offen, in welcher Form ein vereintes Deutschland Mitglied der NATO werden sollte. James Bakers DDR-Besuch vom 12. Dezember 1989, auf dem er in Potsdam mit Regierungschef Modrow zusammentraf, verursachte allerdings leichte Irritationen in Bonn. Obgleich der Botschafter in der Bundesrepublik, Vernon Walters, von einem solchen Besuch nachdrücklich abgeraten hatte, war der amerikanische Außenminister seinem Botschafter in Ostberlin, Richard Barkley, gefolgt. Doch der Besuch hatte auch sein Gutes, denn nach seinen Eindrücken kabelte Baker dem Präsidenten: „Am meisten bin ich vom Willen zur Reform und zu friedlichem Wandel beeindruckt. . . . Meiner Ansicht nach wird es in jedem Fall de facto zu einer wirtschaftlichen Vereinigung der DDR und der BRD kommen, aber ich glaube nicht, dass sich der durchschnittliche Ostdeutsche viel Gedanken um diese Option macht: Er sieht im Westen einfach grüneres Gras. Aber es gibt offensichtlich ein Dilemma. Es muss ein Weg gefunden werden, gewisse Hoffnungen auf wirtschaftliche Verbesserung aufzubauen, um den Druck auf Vereinigung zu entschärfen. Deutlich ist, dass ein Prozess des friedlichen Wandels in der DDR glaubwürdige strukturelle und politische Reformen im Innern und eine wahrnehmbare Wirtschaftshilfe von außen erfordert. Unser Engagement könnte Kohl etwas Rückhalt geben, um die notwendigen wirtschaftlichen Schritte zur Unterstützung einer reformierten, aber hinfälligen DDR zu unternehmen, ohne Ängste der Nachbarn allzu sehr zu schüren. . . . Ich vermute, die Sowjets werden zunehmende Verflechtungen zwischen den deutschen Staaten bereitwilliger zulassen, wenn sie glauben, dass wir ein Auge auf die Szenerie haben.“15
Noch blieb die Zweistaatlichkeit eine Option. Aber schnell wurde dem amerikanischen Außenminister klar, dass die Vereinigung zwingend wurde. Die Bundesrepublik lehnte eine Wiedereinsetzung der vier alliierten Mächte Verantwortung strikt ab. H. D. Genscher hatte sich über das Treffen der vier alliierten Botschafter in Berlin außerordentlich erregt und vor einem Friedensvertrag à la Versailles über die Köpfe der Deutschen hinweg gewarnt16: „Niemals, niemals werden die Deutschen einem solchen weiteren Treffen zustimmen, niemals werden die Deutschen sich an einen Katzentisch wie in den 50er Jahren in Genf setzen.“17
Vermutlich hatte der versierte Außenminister seinen Ausbruch genau kalkuliert, um jegliche Alternativen zu 2+4 auszuschließen. Die Wirkung war jedenfalls eindrucksvoll, denn der amerikanische Außenminister, der neben Genscher saß, legte seine Hand auf Genschers Arm und erklärte verständnisvoll: „HansDietrich, wir haben dich verstanden“. 15 16 17
Baker an Bush, zit. nach Baker, Erinnerungen, S. 169. Genscher, Erinnerungen, S. 695 f. Ebd.
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Genscher hatte die Wirkung seiner Intervention vorausgesehen: „Das Vierertreffen im Kontrollratsgebäude hatte im nachhinein eine wichtige und richtige Wirkung. Unseren Partnern war durch meine Reaktion klar geworden, dass die Deutschland und Berlin betreffenden Fragen keine Sache mehr waren, die die Alliierten ohne uns mit der Sowjetunion in einem Viererkreis besprechen konnten. An der gleichberechtigten Teilnahme Deutschlands führte kein Weg mehr vorbei.“
Schewardnadse gegenüber erklärte Genscher in derselben Sache am 10. Februar 1990: „Wir werden keiner Verhandlung zustimmen, bei der die Vier über uns zu Gericht sitzen. Jedes Volk hat seine Würde. Wir wollen mit den Vieren sprechen. Über das Treffen der vier Botschafter Anfang Dezember in Berlin waren wir nicht erfreut. Zu einer Konferenz wie in Genf in den 50er Jahren, bei der die deutschen Delegationen am Katzentisch saßen, werde ich nicht erscheinen.“18
Anfang 1990 erkannten die amerikanische und deutsche Regierung, dass die Vereinigung in Sachfragen, aber auch in der Vorgehensweise weiterer Klärung bedurfte. Der Drang nach Freiheit und dann nach Einheit, der Ruf nach Wiedervereinigung, von der Bevölkerung in der DDR machtvoll geäußert, erforderte nun das ganze diplomatische Geschick der beteiligten Regierungen, um die Vereinigung in die richtigen politischen und diplomatischen Kanäle zu leiten. Das war nicht einfach: Während die Regierungen in Paris und London den Prozess zu verzögern suchten, blockierte die sowjetische Führung nach wie vor die Vereinigung. Erst der Rückhalt der USA gab den Bonner Initiativen Durchschlagskraft. Als die DDR 1990 wirtschaftlich und gesellschaftlich wie ein Potemkinsches Dorf zerfiel, die Menschen zu Tausenden in die Bundesrepublik flüchteten, beschleunigte Helmut Kohl den Prozess dramatisch: Hatte er noch vor Wochen mit einem langfristigen Prozess der Vereinigung gerechnet, der Jahre dauern würde, so drückte er jetzt aufs Tempo. Als sein außenpolitischer Berater Horst Teltschik sich Anfang Februar 1990 in München mit seinem Kollegen Scowcroft beriet, war beiden klar, dass in Washington und Bonn parallel gedacht wurde: „Welches Pfand die Sowjetunion gegen die Bundesregierung in der Hand habe, will Brent wissen. Ich verweise auf die Vier-Mächte-Verantwortung. Da werden die USA nicht mitmachen, erwiderte Brent. Das lasse sie auch zögern, einem KSZE-Gipfel zuzustimmen, weil die Sowjetunion versucht sein könnte, daraus eine Ersatz-Friedenskonferenz über Deutschland zu machen.“19
Ein kühner Plan zur Vereinigung war notwendig: Kohl und Busch befürchteten, dass Gorbatschow von reaktionären Kräften gestürzt werden könnte. Die
18 19
Ebd., S. 696. Horst Teltschik, 329 Tage, Berlin 1991, S. 127.
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Konsequenzen wären für die deutsche Vereinigung verheerend gewesen. Deshalb waren für die Deutschland- und Europapolitik der USA drei Fragen entscheidend: 1.
Wie schnell soll Deutschland vereinigt werden, und wie soll das Verhältnis Deutschlands zur NATO aussehen?
2.
Welcher Prozess, welche diplomatische Vorgehensweise ist für die Klärung der außenpolitischen Vereinigung angemessen?
3.
Wie soll die militärische Präsenz der USA in Europa und Deutschland in den 90er Jahren aussehen?
Um die Jahreswende 1989/90 musste die Regierung Bush zwei gegensätzliche Entwicklungen unter Kontrolle halten: Auf der einen Seite unterstützte die Regierung Bush Gorbatschows Reformkurs, trat aber unverdrossen weiter für die deutsche Vereinigung ein, ohne den sowjetischen Führer schwächen zu wollen. Das kam einer Quadratur des Kreises gleich. Deshalb hatte Bush mit Gorbatschow auf dem Gipfel in Malta vereinbart, zunächst keine übereilten Maßnahmen zu ergreifen, die die Nachkriegsordnung in Europa zerstören könnten. Kontrollierte Machtpolitik war das Credo von Präsident Bush als er den zentralen Widerspruch seiner vier Grundsätze zur deutschen Frage aufzulösen suchte: Wenn die Selbstbestimmung von den Deutschen „so ausgeübt werden“ sollte, „dass das Ergebnis des Prozesses nicht vorweggenommen wird“, so hätten sie sich auch für ein vereinigtes, neutrales, blockfreies Deutschland entscheiden können – aber genau dies schloss der zweite Grundsatz, nämlich das „unveränderte Bekenntnis Deutschlands zur NATO und . . . Europäischen Gemeinschaft“, aus. Bush wusste um diesen Widerspruch, der nur durch zwei Entwicklungen aufgelöst werden konnte: Die wirtschaftliche und politische Lage der DDR konnte sich so positiv entwickeln, dass die DDR-Bürger in ihrem Staat bleiben wollten und entsprechend eine reformierte DDR entstünde, oder der Ruf nach Einheit würde sich verstärken und in dramatischer Geschwindigkeit zum Zerfall der DDR führen. Es ist nicht auszuschließen, dass Bush und Baker sich als vorsichtige Pragmatiker der Macht in dieser prekären Übergangsphase eine Hintertür für die erste Möglichkeit offen halten wollten, weil sie ihre Status-quo-Überlegungen sowie ihrer Befürchtung, Gorbatschow könnte im Zuge der deutschen Wiedervereinigung zu Fall kommen, mit bedachten. Das Hauptinteresse der amerikanischen Regierung lag jedoch eindeutig in der Überwindung der Spaltung Deutschlands und Europas. Bei aller Wertschätzung Gorbatschows war eindeutig, dass die amerikanische Außenpolitik für Freiheit, Selbstbestimmung und Einheit eintrat, wie die Rede Bakers vor dem Berliner Presseclub am 12. Dezember 1989 deutlich machte: „Präsident Gorbatschow gebührt das Verdienst dafür, als erster sowjetischer Staatschef den Mut und die Weisheit besessen zu haben, die Unterdrückung in Osteuropa
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zu beenden. Der wahre Impuls für den Wandel kommt jedoch aus einer völlig anderen Quelle: den Völkern Polens, Ungarns, der Tschechoslowakei, Bulgariens und der DDR. Sie haben sich selbst befreit. Freie Menschen und freie Regierungen sind die Bausteine eines ungeteilten freien Europa.“20
Gleichzeitig betonte die amerikanische Regierung, dass die deutsche Vereinigung aus ihrer Sicht im Rahmen eines europaweiten Kontexts vor sich gehen sollte. Nach Baker bestand die Aufgabe darin, eine neue Architektur für ein neues Zeitalter zu entwerfen und schrittweise aufzubauen: „Diese neue Struktur muss ferner zwei spezielle Zwecke erfüllen. [Vor allem] muss es als Teil der Überwindung der Teilung Europas eine Chance geben, die Teilung Berlins und Deutschlands durch Frieden und Freiheit zu überwinden. Seit 40 Jahren stehen die Vereinigten Staaten und die NATO für die deutsche Einheit, und wir werden von diesem Ziel nicht abrücken.“21
Der rasante Zusammenbruch der DDR zur Jahreswende 1989/90 erforderte schnelle Entscheidungen. Die USA wollten den beiden deutschen Staaten zur Vereinigung verhelfen und gleichzeitig Gorbatschow einen Platz am Tisch freihalten, damit er dessen Kritikern im eigenen Land zeigen konnte, dass er die Dinge noch immer in der Hand habe. Zugleich wollte Baker, dass „die Hebelkraft der innenpolitischen Ereignisse auf die außenpolitische Dimension der Vereinigung verstärkt würde“22. Baker wollte vor allem neue sowjetische Probleme umgehen, die die Vereinigung verhindern könnten. Vor diesem Hintergrund kombinierte der Planungsstab im State Department deutsche und amerikanische Überlegungen für eine Vereinigungsdiplomatie: „Dieses Rezept hieß ,Zwei plus Vier‘. Die USA sollten die zwei plus vier Mächte einbinden, um das Ziel der Vereinigung Deutschlands zu erreichen. Die Vorzüge dieser Formel lagen klar auf der Hand. Sie würden den Deutschen (den zwei) die Kontrolle über ihre inneren Angelegenheiten überlassen und zugleich den vier Siegermächten gestatten, im Hinblick auf die außenpolitischen Aspekte der Vereinigung eine Rolle zu spielen. Außerdem würde die Beteiligung der Siegermächte der Vereinigung mit dieser Formel die notwendige Legitimität verleihen, vor allem würde sie einen diplomatischen Vereinigungsprozess in Gang setzen, der mit den Ereignissen tatsächlich Schritt halten konnte.“23
Auf dieser Grundlage wurde in Zusammenarbeit mit der Bundesregierung der „2+4“-Prozess entwickelt, der für die USA unverzichtbar war, denn „ohne einen solchen Prozess liefen wir Gefahr, dass sich die Deutschen und die Sowjets selbständig machten und gemeinsam einen Deal aushandelten (wie sie es 1918 in Brest-Litowsk, 1922 in Rapallo und 1939 mit dem Molotow-Ribbentrop-Nichtangriffspakt getan hatten), der den westlichen Interessen nicht gut bekommen würde. 20 21 22 23
Zit. nach Karl Kaiser, Deutschlands Vereinigung, Bergisch-Gladbach, S. 175 f. Ebd. Baker, Erinnerungen, S. 174 ff. Ebd.; vgl. auch Zelikow, Rice, Sternstunden der Diplomatie, S. 216 ff.
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Christian Hacke Mir schien es daher wichtig, alle Großmächte an einem Tisch zu versammeln, damit jeder in die Karten des anderen schauen konnte.“24
Den USA kam es vor allem darauf an, dass der Prozess der deutschen Vereinigung, der Anfang 1990 letztlich allen unaufhaltsam erschien, nicht bilateral zwischen Deutschen und Sowjets ausgehandelt wurde. Traditionslinien amerikanischer Deutschlandpolitik wurden erkennbar. Deutsche Einigung ja, aber nicht unter prosowjetischem oder neutralem Vorzeichen, sondern in unverbrüchlicher Einbindung der Deutschen in die westliche Staatengemeinschaft und in die amerikanische Interessensphäre. Die historische Gunst der Stunde lag darin, dass es in diesem Punkt völlige Interessenübereinstimmung zwischen den USA und der Bundesrepublik gab. Die neuen Machtverschiebungen zugunsten des Westens waren dabei so gigantisch, dass selbst die Vorbehalte der Franzosen und Engländer kaum spürbaren Nadelstichen glichen. Sie hinterließen zwar auf der historisch sensiblen Haut der Deutschen Schmerz und Enttäuschung, konnten aber die Dynamik der revolutionären Veränderungen nicht mehr beeinflussen. Karl Kaiser betont, dass sich die amerikanische Politik während des deutschen Vereinigungsprozesses an vier Prioritäten ausrichtete: Volle Souveränität, „Zwei plus Vier“ statt „Vier plus Zwei“, Einhegung der sowjetischen Interessen und die Gunst der Stunde nutzen. Das ist richtig, aber hinzu kam folgender entscheidender fünfter Punkt: Einbindung des vereinten Deutschland in die Kontinuitätsmuster der bundesrepublikanischen Außen- und Sicherheitspolitik brachte erst die Sicherung und Vergrößerung der westlichen, sprich amerikanischen Interessensphäre mit sich. Drei Bedingungen sollten diese Entwicklung absichern: Die Verhandlungsdelegation der DDR durfte nur als Ergebnis freier Wahlen und einer entsprechenden demokratischen Regierung in Ostberlin an einem solchen Verhandlungsprozess teilnehmen; die beiden deutschen Delegationen sollten absolut, das heißt uneingeschränkt gleichberechtigt an den Verhandlungen teilnehmen; und schließlich sollten sich alle Teilnehmer einig sein, dass das Ziel der Gespräche die Einheit Deutschlands sei. Schließlich konnten folgende Vorbehalte überwunden werden: – Premierministerin Thatcher hatte ursprünglich „4+2“-Gespräche gewünscht und gleichzeitig auf eine Langzeitperspektive der deutschen Vereinigung verwiesen, wobei zunächst als Vorbedingung die DDR selbst demokratischen Charakter entwickeln müsse.
24
Baker, Erinnerungen, S. 176 f.
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– Die französische Regierung bevorzugte ebenfalls ursprünglich „4+2“-Gespräche und suchte zunächst den Vereinigungsprozess aufzuhalten oder zumindest zu verzögern. – Gorbatschow wünschte allenfalls ein neutrales Deutschland und deshalb möglichst nur Viermächteverhandlungen über Deutschland25. – Die Regierung Modrow schließlich wünschte sich eine Art Deutschen Bund unter militärischer Neutralität von DDR und Bundesrepublik Deutschland – Ulbricht und Grotewohl ließen aus den 50er Jahren grüßen! Aber dank der Wucht der Vereinigungsbewegung in der DDR Bevölkerung und der synergetischen Macht der amerikanischen und bundesrepublikanischen Diplomatie bei „2+4“ wurden Alternativen schnell vom Tisch gefegt. Bush und Kohl waren sich vielmehr einig: Es sollte für Deutschland keinen Sonderstatus, keine Singularisierung, keine Diskriminierung geben dürfen26. Kohls Zehn-Punkte-Plan über eine Vertragsgemeinschaft zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR wurde allerdings von den Ereignissen bald überholt. Hatte er zunächst mit seinen zehn Punkten die deutschlandpolitische Initiative innerhalb der Bundesregierung an sich gezogen, so eroberte im Zuge der Entstehung des „2+4“-Mechanismus das Auswärtige Amt verhandlungspolitisches Terrain zurück. In den schwierigen „2+4“-Gesprächen waren es wieder die USA, die gegen Frankreichs und Englands Bedenken diesen Rahmen festzimmerten: Während Frau Thatcher am liebsten – wenn überhaupt – reine Viermächteverhandlungen über Deutschland gesehen hätte, neigten andere Verbündete zu einer Behandlung der deutschen Frage im KSZE-Rahmen; besonders die Sowjetunion suchte die KSZE für die deutsche Frage zu aktivieren27. Dank klugen diplomatischen Taktierens gelang es den Deutschen und Amerikanern, die KSZE-Idee geschickt, aber unverbindlich mit einzubeziehen: Eine Gipfelkonferenz der KSZE war denkbar und wünschenswert, aber nur um den Vereinigungsprozess protokollarisch abzusegnen. Der sicherheitspolitische Status der Bundesrepublik wurde dabei zum Hauptproblem der Verhandlungen. Im Januar 1990 suchten die Bundesregierung und die Regierung Bush fieberhaft nach einer Lösung. Nicht alle Fragen konnten zwischen den Sechs geregelt werden; die Aspekte der Sicherheit berührten auch NATO und Warschauer Pakt. Genscher wollte das Problem über einen veränderten Sicherheitsbegriff und den sich daraus ergebenden Wandel der Militärallian-
25
Teltschik, 329 Tage, S. 134, 396. Frank Elbe, Richard Kiessler, Ein runder Tisch mit scharfen Kanten, Baden-Baden 1993, S. 78. 27 Baker, Erinnerungen, S. 182. 26
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zen angehen, ohne das Problem der NATO-Mitgliedschaft aussprechen zu müssen28. „Kooperative Sicherheitsstruktur“ war für Genscher der Schlüssel: „Den Bündnissen NATO und Warschauer Pakt kommt dabei in diesem Prozess eine besondere politische Steuerungsfunktion zu: Die den Völkern Europas von den Bündnissen gewährte Sicherheit muss in einem ersten Schritt durch kooperative Sicherheitsstrukturen bestärkt werden. In einem zweiten Schritt müssen die dann kooperativ strukturierten Bündnisse in einen Verbund gemeinsamer, kollektiver Sicherheit überführt werden.“29
Genscher stand in diesen entscheidenden Monaten in engem Kontakt mit seinem Amtskollegen Baker. Jetzt machte sich bezahlt, dass die beiden einander vertrauten. Beide, der Deutsche wie der Amerikaner, bewegten sich nach den Gesetzen kontrollierter Machtpolitik „mit der Vorsicht eines Rieseninsektes, das mit seinen vielen Fühlern vorsichtig das Umfeld abtastete, bereit, zurückzuzucken, wenn es Widerstand spürte, um dann sofort den Fühler an einer anderen Stelle anzusetzen.“30
Beide bewegten sich aber nur taktisch flexibel, strategisch verband sie dasselbe Ziel: ein vereintes Deutschland in klarer Bindung und Fortsetzung der Werte und Interessen und in Kontinuität der alten Bundesrepublik. In Washington und Bonn wusste man, dass der Schlüssel zur Lösung der deutschen Frage in der Respektierung der sowjetischen Interessen lag. Nur wenn diese als legitim anerkannt und behandelt wurden, konnte man darauf vertrauen, dass die Sowjetunion die Veränderungen dulden würde. Genscher „schien es dringend geboten, Klarheit über unseren Willen zu fortdauernder NATO-Mitgliedschaft zu schaffen“. In seiner Tutzinger Rede nahm Genscher Einfluss auf die öffentliche Meinung und die Staaten der Welt. Er gab ein unmissverständliches Signal, das von den Amerikanern mit Zustimmung, ja erleichtert aufgenommen wurde, weil Genscher zur NATO-Frage unmissverständlich erklärte: „Ein neutralistisches Gesamtdeutschland wollen wir nicht“31. Damit hatte er auch ausgeschlossen, das Gebiet der DDR könne von der NATO-Mitgliedschaft ausgeklammert werden, also quasi neutralisiert werden. Die NATO-Erklärungen von Turnberry und London im Frühjahr und Sommer 1990 bekräftigten das amerikanische und bundesdeutsche Anliegen. So wurde der Weg geebnet, der die Sowjetunion in der Bündnisfrage zu einem Umdenken veranlasste. Diese Phase der „2+4“-Gespräche war durch vertrauliche Kooperation der USA und der Bundesrepublik gekennzeichnet. Genscher und Baker bedienten 28 29
Elbe, Kiessler, Ein runder Tisch mit scharfen Kanten, S. 78. So Genscher am 6. Januar 1990 auf dem Dreikönigstreffen der Liberalen in Stutt-
gart. 30 31
So Elbe, Kiessler, Ein runder Tisch mit scharfen Kanten, S. 78 f. Genscher, Erinnerungen, S. 714.
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sich in diesen Monaten häufig ihrer „rechten Hände“ (Elbe auf deutscher Seite, Zoellick und Ross auf amerikanischer Seite), um heikle Fragen vorab zu erörtern: „In Zoellicks Büro auf der Ministeretage des State Departments akzeptierten Elbes amerikanische Gesprächspartner am 1. Februar 1990 die Tutzing-Formel von Außenminister Genscher. . . . Ihrerseits schlugen Zoellick und Ross für die Verhandlungen einen sogenannten Sechser-Mechanismus vor.“
So wurden die „2+4“-Gespräche geboren: „Der Sechser-Mechanismus, den sich Baker, seine Berater Zoellick und Ross und im Nationalen Sicherheitsrat Bob Blackwill ausgedacht hatten, kam den deutschen Interessen nach einem möglichst begrenzten Verhandlungskreis entgegen.“32
Die Vaterschaft der „2+4“-Formel auf amerikanischer Seite wurde mehrfach beansprucht. Intern wurde auf der 7. Etage des State Departments – also auf der Führungsetage – der Begriff schon früher verwandt. Er wurde in den Beratungen Zoellicks mit dem Planungsstab entwickelt, beteiligt war auch Francis Fukujama vom Planungsstab des State Department. Der Einfluss der Regierung Bush auf den Vereinigungsprozess wurde erneut deutlich, als Baker (und nicht die deutsche Bundesregierung) Gorbatschow drängte, die Deutschen nach Moskau einzuladen; Bush wusste, dass ein Durchbruch bei den deutsch-sowjetischen Gegensätzen zwingend war. In seinen Gesprächen mit Schewardnadse suchte Baker fintenreich die starre Haltung der Sowjetunion aufzuweichen, denn ursprünglich hatten Gorbatschow und Schewardnadse völlig entgegengesetzte Vorstellungen. Eines der Hauptprobleme war die Frage der Bündniszugehörigkeit eines vereinten Deutschland: Baker konnte Schewardnadse davon überzeugen, dass ein neutrales, ungebundenes Deutschland eine große Gefahr darstellen, dagegen ein wiedervereinigtes Deutschland in der NATO die europäische Sicherheit stabilisieren würde. Im Rahmen der NATO und unter den Augen der USA würde Deutschland keine politischen Eskapaden wagen, die es als ungebundener neutraler Staat versuchen könnte. Die Sowjets ließen sich von diesem Argument zunächst noch wenig beeindrucken; doch die Regierung Bush hatte erkannt, dass zuerst der Grundcharakter der NATO geändert werden müsse, bevor die Sowjets von der deutschen Vereinigung und NATO-Mitgliedschaft überzeugt werden konnten. In seinem Gespräch mit Gorbatschow hatte Baker auch das Gefühl, dass der Generalsekretär Überlegungen, die auf Veränderung des Charakters der NATO abzielten, aufgeschlossener gegenüberstand als Außenminister Schewardnadse. Die Begründung für die unterschiedliche Haltung liefert Baker in seinen Erinnerungen: „Zum ersten Mal erlebte ich, dass Schewardnadse einen Punkt ablehnte, zu dem sich Gorbatschow offen bekannte [gemeint ist die Aussicht auf die Vereinigung Deutsch32
Elbe, Ein runder Tisch mit scharfen Kanten, S. 87.
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Christian Hacke lands]. Was aber vermutlich daran lag, dass Gorbatschow eine wesentlich bedeutendere Gegebenheit nicht wahrhaben wollte: den Niedergang der Sowjetunion als Großmacht. . . . Gorbatschow schien davon auszugehen, dass die Sowjetunion für alle Zeiten eine überragende Macht in Europa bleiben würde – selbst wenn Deutschland vereinigt war. Und ich begann zu verstehen, dass Schewardnadse die Zukunft sehr viel klarer sah als er und einfach nur versuchte, jedes Gespräch über den immer deutlicheren Niedergang der Sowjetunion zu vermeiden.“33
Bush und Baker blieben im Unterschied zur Bundesregierung von Anfang an hinsichtlich der Forderung nach voller Einbeziehung Deutschlands in die NATO kompromisslos. Die Sowjets gaben schließlich nach, weil auf Drängen der Bundesregierung und der USA der defensive Charakter der NATO weiter betont und ihre neue politisch kooperative Rolle gegenüber dem Warschauer Pakt erweitert wurde. Die USA spielten für die NATO-Einbindung Deutschlands eine unverzichtbare Rolle. So sprach Baker in Moskau mit Gorbatschow und Schewardnadse darüber, dass die beiden deutschen Staaten und die vier Siegermächte Verhandlungen an einem gemeinsamen Tisch führen sollten. „Das nachdrückliche Werben Bakers wurde in dieser Situation zu einer entscheidenden Hilfe für die deutsche Seite“34. Diese Sicht wird von Elizabeth Pond bekräftigt: „Die Vereinigten Staaten befanden sich in einer Position, in der sie starken Einfluss auf die Bedingungen der Vereinigung nehmen konnten. Ihre einzigartige Supermachtsbeziehung zur Sowjetunion erlaubte es ihr, Gorbatschow zu versichern – was Bush auch sofort tat –, dass Moskau im Verlauf des folgenden Anpassungsprozesses nicht isoliert oder erniedrigt werden würde und dass die wirklichen sowjetischen Sicherheitsinteressen nicht beeinträchtigt würden. Das amerikanische Engagement in Europa war implizit auch für Deutschlands Nachbarn die Versicherung, dass die USA als Gegengewicht zu einer wachsenden deutschen Macht bereitstünden. Zur gleichen Zeit half die vorbehaltslose Unterstützung der Vereinigung Bonn dabei, einen glatten Übergang zu bewerkstelligen – trotz der Befürchtungen anderer Europäer –, und es erlaubte den USA, einige harte Wahrheiten über die Notwendigkeit des Fortbestands der NATO zu sagen, die die Franzosen und Briten aufgrund ihres Widerstandes gegen die Vereinigung nicht mehr vorbringen konnten.“35
Bush präsentierte Gorbatschow neun Garantien des Westens, welche die sowjetischen Sicherheitsbedenken zerstreuen sollten: 1.
Reduzierung der Truppenstärke der Bundeswehr durch VKSE II;
2.
Beschleunigung der SNF-Verhandlungen;
3.
die Absicherung, dass Deutschland atomare, biologische oder chemische Waffen niemals herstellen, besitzen oder erwerben werde;
33 34 35
Baker, Erinnerungen, S. 183 ff. Elbe, Kiessler, Ein runder Tisch mit scharfen Kanten, S. 91. Zit. nach ebd.
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4.
die Zusicherung, dass während einer Übergangsperiode keine NATO-Streitkräfte auf dem Boden der DDR stationiert würden;
5.
die Festlegung einer Übergangsperiode für den Abzug sowjetischer Truppen von deutschem Territorium;
6.
die politische und militärische Anpassung der NATO;
7.
eine verbindliche Vereinbarung über die polnisch-deutsche Grenze;
8.
die Institutionalisierung und Weiterentwicklung der KSZE und schließlich
9.
die Entwicklung von vorteilhaften Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Sowjetunion und Deutschland, bei gleichzeitiger Erfüllung aller wirtschaftlichen Verpflichtungen der DDR gegenüber der UdSSR.
Die USA wollten diese Schritte ursprünglich einzeln einleiten. Doch indem sie zu einem Paket verschnürt und als neun Garantien präsentiert wurden, verstärkte sich ihre politische Wirkung: „Das Paket war so zusammengestellt worden, dass einerseits die Deutschen nicht ausgesondert wurden und es andererseits für die Sowjets keine entwürdigende Niederlage bedeutete. Vor allem aber hatten wir uns mit diesem Paket bemüht, Gorbatschow den Rücken zu decken, um dem Ganzen einen Rahmen zu geben, der ihm innenpolitisch helfen würde.“36
Die neun Garantien verfehlten ihre Wirkung nicht. Aber Gorbatschow zögerte zunächst, die Mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands in der NATO zu akzeptieren. Daraufhin konzentrierten sich Washington und Bonn auf das Ziel, den Charakter der NATO tiefgreifend zu verändern und die Beziehungen zwischen NATO und Warschauer Pakt soweit zu „entfeinden“37, dass Gorbatschow der Mitgliedschaft Deutschlands zustimmen konnte. Die Beziehungen der Blöcke bzw. der Verteidigungssysteme sollten einen neuen kooperativen Charakter erhalten. Das war leichter gesagt, als getan, denn zunächst mussten die NATO-Mitglieder selbst von dieser politischen Strategie überzeugt werden. Baker schildert die Stimmungslage auf der NATO-Konferenz in Ottawa Mitte Februar folgendermaßen: „Ich ging hinunter zur NATO-Vollversammlung, die bereits seit einiger Zeit im Gang war. Es herrschte eine gespannte Atmosphäre. Keiner der anderen Außenminister war in die Diskussion eingeweiht worden, die zur Verständigung über die 2+4-Gespräche geführt hatten; und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, hatten sie von Journalisten davon erfahren, noch bevor Genscher, Hurd, Dumas oder ich ins Konferenzzentrum hatten zurückeilen und sie davon in Kenntnis setzen können. Die Bündnispartner waren empört, dass man sie nicht konsultiert hatte. . . . Wir versuchten, sie mit ihrer Zurücksetzung zu versöhnen . . . doch nach dem ganzen Hin und Her war Genscher nicht mehr in der Stimmung für Höflichkeitsfloskeln. Als er De Michelis brüsk 36 37
Baker, Erinnerungen, S. 223; Zelikow, Rice, Sternstunde der Diplomatie, S. 365. Ein Lieblingsausdruck des Bundesaußenministers.
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Christian Hacke das Wort abschnitt, schlug Joe Clark mit dem Hammer auf den Tisch und beendete das Treffen.“38
Zu diesem kritischen Zeitpunkt des Verhandlungsprozesses war erneut engste amerikanisch-bundesdeutsche Abstimmung nötig. Bevor Kohl und Genscher im Februar 1990 zu den entscheidenden Verhandlungen nach Moskau reisten, hinterließ Baker deshalb einen dreiseitigen Brief mit den Ergebnissen seines Gesprächs, das er gerade mit Gorbatschow geführt hatte: „Am Flughafen steckt mir unser Botschafter, Klaus Blech, einen Brief Bakers für den Bundeskanzler zu. Es ist die versprochene Unterrichtung über seine Gespräche mit Gorbatschow und Schewardnadse.“39
In diesem Brief empfahl der amerikanische Außenminister dringend, dass der Bundeskanzler Deutschlands Grenzen dauerhaft unverrückbar festschreiben sollte – eine Forderung, die Genscher von Anfang an als zentral angesehen hatte. Auch Bush hatte dem Bundeskanzler vor diesem wichtigen Treffen in einem persönlichen Schreiben nahegelegt, unbedingt auf der Mitgliedschaft eines vereinten Deutschland in der NATO zu bestehen, wenn er Michail Gorbatschow gegenübersitze40. Die Regierung Bush tat alles, um vor dem entscheidenden deutsch-sowjetischen Treffen den westdeutschen Kanzler im westlichen Bündnis eingesponnen zu halten. „Immer wenn Kohl vor der Wahl steht, die NATO zu verlassen oder einen Bruch mit den Russen zu riskieren, werden die westlichen Nationen einen Ring um ihn bilden. Wie ein einmütiger Chor wird der Westen hinter ihm stehen und ihm einflüstern: Wir stehen zu dir. Wir werden ihm in Erinnerung rufen, dass die Deutschen ihn auf die gleiche Stufe wie Bismarck und Adenauer stellen werden, was immer auch in diesem Jahr mit Deutschland geschieht.“41
Auf der NATO-Tagung in Ottawa im Mai 1990, dem ersten Treffen zwischen NATO und Warschauer Pakt, waren die deutsch-amerikanischen Abstimmungen ebenfalls zentral, wie Bakers unermüdliches Einwirken auf die Verbündeten und zukünftigen Partner in Mittel- und Osteuropa zeigte. Baker berichtet allerdings von internen Differenzen innerhalb der Regierung, weil Mitarbeiter des Nationalen Sicherheitsrates sich gegen die 2+4-Formel gestellt hatten und dementsprechend den Präsidenten dazu bringen wollten, sie nicht zu akzeptieren42. Als sich Gorbatschow am 30. Mai 1990 zu Gesprächen in Washington aufhielt, betonte Bush, dass die NATO-Mitgliedschaft Deutschlands die Sicherheit in Eu38 Baker, Erinnerungen, S. 196 f.; Genschers Memoiren ergänzen diesen Eindruck: Genscher, Erinnerungen, S. 728 f. 39 Teltschik, 329 Tage, S. 137. 40 Elbe, Kiessler, Ein runder Tisch mit scharfen Kanten, S. 95 f. 41 So Robert Blackwill, zit. nach ebd., S. 96. 42 Baker, Erinnerungen, S. 195.
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ropa stabilisiere. Gorbatschow blieb misstrauisch, schlug jedoch vor, dass NATO und Warschauer Pakt jeweils ihre politische Bedeutung erweitern sollten und Deutschland Mitglied in beiden Bündnissen sein müsse43. Baker stellte Gorbatschow die erwähnten neun Garantien vor. Eine einseitige Mitgliedschaft würde Europas Balance gefährlich verändern, erwiderte Gorbatschow. Bush antwortete mit einem Vorschlag, der alle Anwesenden elektrisierte und Gorbatschow politisch entwaffnete: in der KSZE-Schlussakte von Helsinki sei das Recht der freien Wahl einer Bündniszugehörigkeit verankert. Also könne man auch dem vereinten Deutschland dieses Recht nicht verweigern. Nach Bushs Ausführungen warteten alle gespannt auf Gorbatschows Reaktion. Er nickte und erklärte nur knapp: Ja, das sei wahr. Die amerikanische Delegation war begeistert, aber den sowjetischen Begleitern Gorbatschows stand der Schrecken ins Gesicht geschrieben. Besonders Falin und Achromejew waren konsterniert. Um sicherzugehen, bat Bush Gorbatschow noch einmal ausdrücklich, seine Auffassung zu wiederholen, worauf Gorbatschow seine Aussage bekräftigte. Er hatte ohne Rücksicht auf seine Mitarbeiter ein großes, ja zentrales Zugeständnis gemacht. Bush hatte sich ganz spontan geäußert. Vielleicht war Gorbatschow dadurch so überrascht, dass er ebenfalls ganz spontan zustimmte, ohne im Moment die Tragweite seiner Aussage zu übersehen. Aber nun war der Weg frei, um in der NATO die neuen politischen kooperativen Ergänzungen zu besprechen, denn damit hatte Gorbatschow am 30. Mai in Washington der Mitgliedschaft eines vereinten Deutschland in der NATO zugestimmt – das war eine Sensation, wie Horst Teltschik zu Recht feststellte44. Nach diesem Durchbruch hatte Baker das Gefühl, „dass wir die Initiative bei den amerikanisch-sowjetischen Beziehungen zurückgewonnen hatten“45. Nun lag es am Westen, entsprechende Veränderungen der NATO in Politik und Strategie deklaratorisch zu verdeutlichen. In langen Verhandlungen, in denen die Initiativen zumeist von den USA und der Bundesrepublik ausgingen, bahnten sich sieben entscheidende Veränderungen der NATO an. 1.
Die ehemaligen Gegner wurden eingeladen, ständige Verbindungsbüros mit der NATO einzurichten.
2.
Die NATO versprach, die konventionellen Streitkräfte in einem CFE-II-Abkommen um die Hälfte zu verringern.
3.
Die NATO wollte die konventionellen Streitkräfte noch stärker unter multinationale Kontrolle stellen (um vor allem die Befürchtungen der Sowjets vor der Bundeswehr zu zerstreuen).
43 44 45
Vgl. hierzu und im Folgenden Baker, Erinnerungen, S. 226 ff. Teltschik, 329 Tage, S. 252 f. Baker, Erinnerungen, S. 227.
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4.
Die USA versprachen, nukleare Artillerie zu vernichten und die entsprechenden Reserven stark zu reduzieren. Außerdem sollte eine neue Nukleardoktrin der sogenannten letzten Wahl entwickelt werden.
5.
Die NATO wollte den kommenden Verhandlungen über Nuklear-Kurzstreckenraketen durch Ankündigung eigener massiver Kürzungen zum Erfolg verhelfen.
6.
Die NATO wollte eine neue Militärstrategie entwickeln, in der sowohl die Vorwärtsverteidigung wie auch die „flexible response“ durch eine neue Doktrin der letzten Wahl (last resort) ersetzt werden sollten.
7.
Neue KSZE-Institutionen wie das Zentrum für Konfliktverhütung sollten die Verteidigungspolitik der Allianz mitbestimmen46.
Verhandlungstechnisch mussten die USA unter größtem Zeitdruck Widersprüche und Bedenken verschiedener Bündnispartner ausräumen bzw. durch entsprechende Formulierungen so berücksichtigen, dass der Kern der neuen NATO-Strategie nicht verwässert wurde. Es ist das historische Verdienst der Regierung Bush, dass sie vorbehaltlos an der Seite der Bundesregierung stand, um auf dem NATO-Gipfel in London diese Veränderungen durchzusetzen. Die traditionelle NATO-Bürokratie, der alteingefahrene NATO-Entscheidungsprozess wurde bei dieser revolutionären Veränderung weitgehend außer Kraft gesetzt. Die westliche Führungsmacht setzte sich stattdessen mit ihrem ganzen Prestige unilateral ein. Das war ein in der Geschichte der NATO seltener Vorgang, weil Grundstruktur, Strategie, politisch-ideologische Einstellung zum Gegner, ja die Grundphilosophie der vergangenen 40 Jahre im Handstreich so verändert wurden, dass die sowjetische Führung den Eindruck gewann, dass zwischen NATO und Warschauer Pakt Zusammenarbeit dominieren würde. Die USA waren zum revolutionären Schrittmacher der neuen Militärstrategie der NATO geworden. Sie konnten diese unilateral durchsetzen, weil die Europäer im Prinzip erleichtert waren, hatten sie doch schon früher auf die Verwirklichung von Zielen gedrängt, wie sie in diesen sieben Punkten von der amerikanischen Regierung formuliert wurden. Hierbei gilt es natürlich zwischen Schein und Wirklichkeit zu unterscheiden – ein Grundproblem bei der Analyse der Vereinigung Deutschlands und insbesondere der amerikanischen und deutschen Argumentation gegenüber der Sowjetunion. Initiativen wie die der Veränderung der NATO waren grundsätzlich Voraussetzung für das sowjetische Einverständnis zur deutschen Einheit. Gorbatschow konnte nur zustimmen, wenn die sowjetischen Sicherheitsinteressen verbessert wurden. Das war nur möglich, wenn das militärische, politische West-
46 Vgl. hierzu Londoner Erklärung der NATO vom 5./6. Juli 1990, in: Europa Archiv 17/90, S. D 456–460.
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Ost-Verhältnis auch in Struktur und Strategie sichtbar von der NATO verändert wurde! Diese Veränderung war wiederum für Gorbatschow wichtig, weil er auf dem Parteitag, im ZK und im Politbüro nur dann Zustimmung für seine Deutschlandpolitik erhalten würde, wenn die Vereinigung die eigenen Interessen der Sowjetunion nicht beeinträchtigen würde. Die Regierungen Bush und Kohl wussten von dem Doppelspiel, das notwendig war: Einerseits wollten sie dem neuen West-Ost-Beziehungsrahmen auch in der NATO-Deklaration Rechnung tragen, andererseits sollten der Grundcharakter, die Lebensfähigkeit und die Zielsetzung der NATO jedoch beibehalten werden. Dieser Quadratur des Kreises war sich Bush bewusst: „Wenn ihm, Bush, nach dem Gipfel von Journalisten die Frage gestellt werde, ob die NATO vorhabe, ihre Nuklearstrategie diesen Veränderungen anzupassen, könne er natürlich sagen, dass wir darüber nachdenken. Aber damit beweisen wir keine Führungskraft. Wenn ich sage, dass die flexible Erwiderung ungeachtet der neuen Umstände bestehen bleiben wird, dürfte es schwer sein, den Konsens über die nukleare Abschreckung der NATO aufrechtzuerhalten. Und wenn ich erkläre, dass sich die NATO-Strategie ändern wird, müssen wir dann nicht etwas sagen, um die neue Richtung zu bestimmen?“ Bush erkannte: „Wenn wir beim Londoner Gipfel keine kühnen Schritte unternehmen, . . . werden wir die öffentliche Prüfung nicht bestehen, welche die Erklärung, wie wir . . . meinen, zu durchlaufen hat.“47
Horst Teltschik war sich der Problematik der sowjetischen Interessenlage bewusst und schlug deshalb vor, in noch formellerem Rahmen eine Übereinkunft zwischen NATO und Warschauer Pakt über die Verpflichtung zum gegenseitigen Nichtangriff zu verankern48. Man verfuhr entsprechend, und deshalb wurde der NATO-Gipfel im Juni 1990 in London ein voller Erfolg. Er spiegelte die veränderte Situation Europas und des künftig vereinigten Deutschland wider. „Der Kalte Krieg ist Geschichte“, erklärte NATO-Generalsekretär Manfred Wörner. Die NATO hatte die Veränderungen in Europa durch eigene konstruktive Initiativen sicherheitspolitisch aufgefangen: „Mit der Vereinigung Deutschlands wird auch die Teilung Europas überwunden. Das geeinte Deutschland im atlantischen Bündnis freiheitlicher Demokratien und als Teil der wachsenden politischen und wirtschaftlichen Integration der Europäischen Gemeinschaft wird ein unentbehrlicher Stabilitätsfaktor sein, den Europa in seiner Mitte braucht. . . . Wir wissen, dass in dem neuen Europa die Sicherheit eines jeden Staates untrennbar mit der Sicherheit seiner Nachbarn verbunden ist. Die NATO muss zu einem Forum werden, in dem Europäer, Kanadier und Amerikaner zusammenarbeiten, auch beim Aufbau einer neuen Partnerschaft mit allen Ländern Europas. Die atlantische Gemeinschaft wendet sich den Ländern Mittel- und Osteuropas zu, die im Kalten Krieg unsere Gegner waren, und reicht ihnen die Hand zur Freundschaft.“49
47 48 49
Bush, zit. nach Zelikow, Rice, Sternstunde der Diplomatie, S. 435 f. Teltschik, 329 Tage, S. 287 ff. Londoner Erklärung der NATO, in: Europa Archiv 17/90, S. D 456 ff.
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Unter Federführung der USA entstand eine eindrucksvolle Deklaration, die erst nach langen Diskussionen verabschiedet werden konnte, nachdem die Einwände Englands und Frankreichs ausgeräumt worden waren. Hans-Dietrich Genscher erinnert sich: „In einer Besprechungsrunde der Außenminister wurde über den Entwurf der Gipfelerklärung beraten. Die meisten von uns hatten die Jacken ausgezogen. Jim Baker und ich bestritten die Debatte Seite an Seite. . . . Die NATO-Gipfelerklärung von London wurde schließlich zu einem zukunftsweisenden Dokument, das ein neues Verhältnis zu den Gegnern von gestern eröffnete.“50
Gorbatschow zeigte sich befriedigt, wobei die Bedeutung des Textes durch ein persönliches Schreiben Bushs an Gorbatschow noch unterstrichen wurde51. Dank des Londoner Signals zur Veränderung der NATO und ihres Verhältnisses zum Warschauer Pakt konnten entscheidende Vorbehalte der Sowjetunion gegenüber der Vereinigung Deutschlands ausgeräumt werden. Auch hier hatten sich die Vereinigten Staaten um die deutschen und westlichen Interessen verdient gemacht. Die Frage der Truppenstärke der Bundeswehr wurde ebenfalls zwischen den USA und der Bundesrepublik abgestimmt. Bush war mit 350.000 bis 330.000 Mann einverstanden. Auch der entscheidende Durchbruch in den deutsch-sowjetischen Gesprächen Mitte Juli 1990 in der Sowjetunion beruhte auf intensiver Kooperation zwischen Bonn und Washington. Nachdem Kohl das historische Ergebnis und die Zustimmung der Sowjetunion zur deutschen Einheit in acht Punkten öffentlich dargelegt hatte, verwies Gorbatschow auf die Bedeutung des NATO-Gipfels in London: Erst die historische Veränderung der NATO hatte ihn zu seiner entscheidenden Wende in der Vereinigungsfrage gebracht. Nach seiner Rückkehr rief Kohl sofort den amerikanischen Präsidenten an und dankte ihm für seine Unterstützung52. Bush war ebenso überrascht über das schnelle und günstige Ergebnis wie die übrige Welt. Mitte Juli waren die Haupthindernisse aus dem Weg geräumt. Jetzt ging es nur noch um Einzelfragen. Die Schlüsselentscheidungen waren gefallen. Der Weg zur deutschen Einheit war vorgezeichnet, vor allem weil in den deutsch-sowjetischen Gesprächen auch die Frage der wirtschaftlichen und finanziellen Unterstützung geklärt werden konnte. Die Weichen der Vereinigungspolitik waren im Machtdreieck WashingtonBonn-Moskau gefallen. Die „2+4“-Gespräche waren in Wirklichkeit „2+1“-Gespräche, in denen die übrigen Teilnehmer eine nachgeordnete Rolle spielten und sich schließlich dem im Dreieck Washington-Bonn-Moskau ausgehandelten Ergebnis anpassen mussten. Richtung, Geschwindigkeit, Inhalt und Verfahrensweise wurden im diplomatischen Wechselspiel zwischen Washington und Bonn
50 51 52
Genscher, Erinnerungen, S. 828. Zelikow, Rice, Sternstunde der Diplomatie, S. 444 f. Kohl, Ich wollte Deutschlands Einheit, S. 308.
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festgelegt. In der deutschen Frage zeigte die Regierung Bush einen unverbrüchlichen Schulterschluss. Nirgendwo ist die Formel „Partnership in Leadership“ zwischen den USA und der Bundesrepublik Deutschland so konsequent und angemessen in die Tat umgesetzt worden wie im deutschen Vereinigungsprozess bei den „2+4“-Gesprächen. Zwischen November 1989 und Juli 1990 konzentrierten sich alle außenpolitischen Kräfte, Sinne und Wünsche auf dieses gemeinsame Ziel, während die beiden anderen Großmächte Frankreich und England nur noch Rückzugsgefechte lieferten und schließlich den beiden Schrittmachern folgten. Zeitweiliges Aufflackern von Allianzen, die an die Zwischenkriegszeit erinnerten, wie zwischen Paris und Warschau oder Paris und Moskau, waren schon im Ansatz zum Scheitern verurteilt – dank amerikanisch-bundesrepublikanischer Interessenübereinstimmung. Am Ende des „2+4“-Prozesses stand ein wiedervereinigtes Deutschland, das glücklich darüber war, dass die USA, wie schon nach dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg, nun auch nach dem Kalten Krieg den Deutschen angesichts ihrer verworrenen psychologischen Verfassung und ihrer schwierigen Interessenlage und Standortbestimmung rückhaltlose Unterstützung boten. Ein fest in der NATO verankertes wiedervereinigtes Deutschland lag natürlich im amerikanischen Interesse. Weniger Gorbatschows Politik, sondern vielmehr die absehbare Vereinigung Deutschlands hatte die Amerikaner endgültig davon überzeugt, dass die neuen außenpolitischen Realitäten in Europa auch eine veränderte Deutschlandpolitik erforderten. Während oberflächlich gesehen der Eindruck von Symmetrie und Gleichrangigkeit zwischen NATO und Warschauer Pakt vorherrschte, war die Entwicklung in Wirklichkeit gegenläufig. Während der Warschauer Pakt und das Sowjetimperium zusammenbrachen, wurden USA und NATO zu den herausragenden Stützpfeilern westlicher gesamteuropäischer Sicherheit sowie zu den Steigbügelhaltern des deutschen Einigungsprozesses. Die Rhetorik der Gleichrangigkeit war Kosmetik, damit die sowjetische Führung nicht so alt und verbraucht aussah, wie sie in Wirklichkeit war. Die Menschen in West und Ost erkannten diese Diskrepanz und waren umso dankbarer, dass der Westen, allen voran die USA und die Bundesrepublik, diese gefährliche Lage der Sowjetunion mit Takt, Zurückhaltung und mit Gefühl für Würde diplomatisch handhabten. Im Westen hielten alle an der fortgesetzten Präsenz der amerikanischen Truppen fest. Man erkannte klar, dass im Westen Festigung, im Osten aber Auflösung die unmittelbaren Folgen der Ereignisse von 1989/1990 waren. Auch die politische Gegensätzlichkeit in der Neuorientierung der Allianzbeziehungen war deutlich: Während sich die bi- und multilateralen Beziehungen der Sowjetunion zu den Staaten in Mittel- und Osteuropa völlig veränderten, weil die Sowjetunion an Macht, Einfluss und Ansehen verloren hatte, gewannen die USA an Einfluss, weil das „Kronjuwel“ DDR aus dem Sowjetimperium herausgebrochen und im Zuge
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der Wiedervereinigung zum Teil der Pax Americana wurde. Jetzt war auch die Politik der Eindämmung obsolet geworden, weil der Kalte Krieg zu Ende war. Das Herz Europas konnte wieder frei schlagen. Bei der deutschen Vereinigung zeigte sich auch der Unterschied zwischen Reagan und Bush: Reagan sorgte für Aufmerksamkeit, als er Gorbatschow 1987 in Berlin aufforderte, die Mauer niederzureißen, aber seine Deutschland- und Europapolitik hielt sich im engen vorgezeichneten Rahmen. George Bush profitierte von den historischen Veränderungen, ließ sich aber in der Stunde des Sieges im Kalten Krieg, der mit der Vereinigung Deutschlands besiegelt war, von Zurückhaltung leiten, denn die Sowjetunion war noch präsent, wenn auch vom politischen Todeskampf gekennzeichnet. Gorbatschows Zugeständnisse, die die Lösung der deutschen Frage erst ermöglichten, haben seinen politischen Rückzug beschleunigt. Für die Sowjetunion war die Vereinigung Deutschlands kein Sieg, sondern Teil des schmerzlichen Zusammenbruchs ihres Imperiums, das Lenin und Stalin mit brutaler Gewalt erzwungen und zusammengehalten hatten. Im September 1990 hatte das Imperium mit der Vereinigung Deutschlands im Rahmen der NATO seinen westlichen Eckpfeiler verloren, was den weiteren Zusammenbruch beschleunigte. Im Dezember 1991 verschwand die Sowjetunion völlig von der politischen Bildfläche. Die bipolare Machtrivalität zwischen den USA und der Sowjetunion wurde durch diesen letzten Kampf um die deutsche Einheit zugunsten der USA entschieden. In Deutschland wurde 1990 auch der gegensätzliche Charakter und der unterschiedliche Wert der Bündnissysteme offensichtlich: Der Warschauer Pakt zerfiel, weil die Satelliten abfielen. Schließlich machten sich sogar die Sowjetrepubliken selbständig. Auch in der Bewältigung der deutschen Frage stand Gorbatschow schließlich allein, denn nach den freien Wahlen in der DDR drängte das Land zur Einheit und nach Westen. Ganz anders war die Situation im Westen: Die USA, die Bundesrepublik und das atlantische Bündnis gingen gestärkt aus dem Kalten Krieg hervor, den westlichen Grundforderungen nach Einheit und Freiheit stand nichts mehr im Wege. Auch Gorbatschow konnte letztlich den Weg nicht länger versperren, höchstens den Prozess verzögern. Durch Deutschlands Einheit wurde der Westen, die atlantische Staatenwelt mit ihren Schlüsselinstitutionen NATO und EG, gestärkt. Das war für die USA eine tiefe Genugtuung. Die westliche Nachkriegsstruktur, von den USA über Jahrzehnte aufgebaut und erhalten, hatte sich bewährt. Für das Sowjetimperium war die deutsche Einheit der letzte Nagel zum Sarg. Bald wurden Warschauer Pakt, COMECON und Sowjetunion zu Grabe getragen. Die würdigende Rhetorik der Westmächte gegenüber Gorbatschow, die Anerkennung seiner Rolle, die Londoner Schlusserklärung der NATO, die vielen Gesten und Reden westlicher Staatsmänner, besonders diejenige Genschers, verdeckten geschickt die revolutionären machtpolitischen Veränderungen. So wurde die Sowjetunion wenigstens auf würdige Weise verabschiedet.
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Historisch gesehen brach mit der Sowjetunion das letzte europäische Imperium im 20. Jahrhundert zusammen. So sehr die Regierung Bush diesen Machtzerfall zunächst zu bedauern schien, politisch gesehen gab es keinen Grund, dem Sowjetimperium auch nur eine Träne nachzuweinen. Bush zeigte persönliche Sympathie für Gorbatschow, vernachlässigte aber die Staaten und Menschen, die jahrzehntelang auf das schwerste unter der sowjetischen Herrschaft gelitten hatten. Die Regierung Bush verpasste in diesen Monaten einen mutigen politischen Neuanfang der Beziehungen zu den mittel- und osteuropäischen Demokratien, der früher und eindrucksvoller hätte in die Wege geleitet werden können. Auch mussten die befreiten Länder Osteuropas feststellen, dass die amerikanische Regierung weder bereit noch in der Lage war, in Mittel- und Osteuropa großzügig zu helfen, wie dies die Bundesrepublik tat. Nirgendwo schlug sich das verheerende Ergebnis der defizitären Finanzpolitik von Ronald Reagan und George Bush schmerzlicher nieder als in Mittel- und Osteuropa. Die USA waren unfähig, diesen notleidenden Staaten angemessen zu helfen. Nach wie vor blieb die amerikanische Auslandshilfe auf Staaten wie Ägypten und Israel, Jordanien und Lateinamerika konzentriert. Versuche der Bundesregierung – wie auf dem Gipfeltreffen der G-7 in Houston –, die USA zu verstärkter Wirtschaftshilfe für die Sowjetunion und Osteuropa zu bewegen, scheiterten53. Für die USA und Großbritannien machte eine solche Hilfe wenig Sinn. Margaret Thatcher wollte nicht „das Sauerstoffzelt liefern, das wesentlichen Strukturen des alten Systems das Überleben sicherten“54. Bush hatte Gorbatschow und Kohl schon früher verdeutlicht, dass Wirtschafts- und vor allem Finanzhilfe keinen Sinn mache, solange die sowjetische Führung kein überzeugendes Reformprogramm vorlegen könne und durch massive Abrüstung anzeige, dass sie im militärischen Bereich die dringend notwendigen Kürzungen einleite sowie ihre massive Hilfe an kommunistische Staaten wie Kuba einschränke bzw. völlig einstelle. Die mutige Lösung der deutschen Frage war das herausragende Verdienst der Regierung Bush – vielleicht, weil sie keine neue Problematik aufwarf, sondern weil es um ein Relikt aus der Zeit des Kalten Krieges ging. Bonn und Washington waren zwar nicht im wörtlichen Sinne auf die Vereinigung vorbereitet, aber im Grunde genommen wurde hier ein Problem gelöst, mit dem sich der Westen, insbesondere die Amerikaner und die Deutschen, so intensiv beschäftigt hatte wie mit keiner anderen Frage während des Kalten Krieges. Die Wege, die Methoden und die Nuancen der Diplomatie mögen zeitweise unklar gewesen sein, aber die Zielbestimmung eines vereinten Deutschland als Teil des westlichen Bündnisses war zentraler Punkt der interessenpolitischen Gemeinsamkeit. Die USA und die Bundesrepublik bewegten sich also in diesen schwierigen Monaten auf ver53 54
Ebd., S. 415 ff. Zelikow, Rice, Sternstunde der Diplomatie, S. 446 f.
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trautem politischen Terrain, wenn auch unter neuen und plötzlich erfolgversprechenden Bedingungen. Umso erstaunlicher, ja befremdlicher wirkten die Versuche in London und Paris, die Vereinigung, zu der sich beide Länder seit den 50er Jahren verpflichtet hatten, letztlich zu verzögern. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Vereinigten Staaten die Vereinigung Deutschlands aus der Perspektive der letzten verbleibenden Weltmacht durch kontrollierte und verantwortungsbewusste Machtpolitik in eine Richtung steuerten, die voll und ganz mit den Interessen der Bundesregierung übereinstimmte. Während Frankreich und Großbritannien sich im Zuge der Vereinigung plötzlich fragten, wie sie mit der neuen Macht Deutschlands psychologisch fertig werden sollten, stellte sich diese Frage für die Vereinigten Staaten nie. Für die Regierung Bush bedeutete die Vereinigung auch die Durchsetzung ihres eigenen Wertesystems in Europa und bildete deshalb den krönenden Abschluss des Kalten Krieges im Zeichen der jahrzehntelangen Eindämmungspolitik. Moskaus Hegemonie über Mittel- und Osteuropa war zusammengebrochen, Gorbatschow musste unter dem Druck der Ereignisse Reagans Appell vom Juni 1987 nachkommen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass der Vereinigungsprozess unter großem Zeitdruck und unter der Gefahr des Einwirkens anderer zentraler Ereignisse stand. Für die deutsche Vereinigung war es ein Glück, dass die Invasion Kuwaits durch irakische Truppen erst am 1. August 1990 begann. Hätte der Krieg früher begonnen, so hätte sich die Lösung der deutschen Frage verzögern oder gänzlich anders entwickeln können. Auch hätten politische Fehler, diplomatische Kurzsichtigkeit oder taktische Entgleisungen den Vereinigungsprozess behindern können. Die Regierungen in Washington und Bonn arbeiteten jedoch an der Vereinigung wie ein Tandem, denn es lag im beiderseitigen Interesse, dass der Einigungsprozess erfolgreich zu Ende gebracht wurde. Jetzt bewährte sich die Führungspartnerschaft, die Bush der Bundesrepublik während seines Deutschlandbesuchs im Mai 1989 angeboten hatte. Außerdem bot ein vereinigtes Deutschland die beste Aussicht, dass die amerikanisch-deutsche Führungspartnerschaft in Zukunft auch den regionalen und globalen Interessen der USA dienen würde. So war es kein Zufall, dass die Grußbotschaften der vier Mächte zum 3. Oktober 1990, dem Tag der deutschen Einheit, unterschiedlich ausfielen. Während Margaret Thatcher und François Mitterrand nur kurze, fast protokollarisch höflich zu nennende Botschaften übermittelten und Michail Gorbatschow mit Würde und nicht ohne Wärme der „großen deutschen Nation“ Glück, Wohlergehen und immerwährenden Frieden wünschte, war allein die Grußbotschaft des amerikanischen Präsidenten voller Herzlichkeit und Anteilnahme55.
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Grußbotschaft von Präsident Bush vom 3. Oktober 1990.
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Die USA zogen aus der Vereinigung Deutschlands folgende Schlussfolgerungen: – Die aufgeschlossene Haltung der USA gegenüber Deutschland und gegenüber Westeuropa insgesamt nahm in dem Maße zu, wie die politische Union unter Einschluss Gesamtdeutschlands verwirklicht und Westeuropa sich in enger Kooperation mit den USA auch weltpolitisch verantwortungsbewusst weiterentwickeln würde. – In den bilateralen Beziehungen der USA zu Europa zeichnete sich nach der Vereinigung eine Akzentverlagerung ab: Zu Lasten Großbritanniens und Frankreichs konzentrierten sich die USA seit 1990 stärker auf die Bundesrepublik, die nicht nur ihre Rolle im Rahmen der atlantischen Allianz vergrößerte, sondern im Geflecht der neuen Beziehungen zwischen West- und Osteuropa ihre Schlüsselrolle weiter ausbaute. – Bush erkannte, dass die USA die Gemeinschaftsinstitutionen der Allianz stärken müssten, damit der ordnungspolitische Rahmen westlicher Politik gefestigt würde. – Die NATO blieb für die USA zentrale Institution für militärische Sicherheit und Rückversicherung bei einem Scheitern der neuen kooperativen Strukturen zwischen West und Ost. – Der Sinn der Beziehungen zwischen den USA und Westeuropa müsste sich nach Ende des Kalten Krieges stärker aus sich selbst heraus entwickeln. Die Grundlage der atlantischen Zivilisation56 würde sich aus sich selbst heraus positiv bestimmen und entwickeln müssen. Daraus könnte sich ein beiderseitiges Verständnis gleichgewichtiger Partnerschaft entwickeln. Andererseits könnte nach Wegfall des alten Bindemittels „Antikommunismus“ die NATOBindung zwischen den Mitgliedsländern schwächer werden. Nach wie vor fehlt in Washington ein Neuansatz amerikanischer Osteuropapolitik „über Eindämmung hinaus“. Aber die amerikanische Politik für die Vereinigung Deutschlands war eine diplomatische Sternstunde. Die eigenen Interessen wurden klug verfolgt, und die Interessen der Freunde, Partner und Rivalen wurden realistisch eingeschätzt. Nach der klugen Handhabung der Kubakrise 1962 war die Lösung der deutschen Frage 1990 die zweite herausragende Leistung der USA im Ringen um die Oberhand im Kalten Krieg. Der auf dem Kriegsschauplatz Europa 1989/90 zu einem glücklichen Ende gebracht werden konnte. In Europa, ja in Deutschland wurde letztlich der Kalte Krieg entschieden. Historisch gesehen, hatte der gemeinsame amerikanisch-deutsche Sieg im Kalten Krieg, der seinen Höhepunkt in der Vereinigung Deutschlands fand, einen tieferen Sinn: Zum ersten Mal stand Deutschland im Oktober 1990 im Verlauf 56 Der Begriff der atlantischen Zivilisation wird hier gebraucht im Sinne von Hannah Arendt, Über die Revolution, S. 178, 278, 389.
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dieses Jahrhunderts auf der Seite der Sieger. Gleichzeitig wurde es, anders als 1918 oder 1945, beruhigt und befriedet. Es wurde wie 1871 vereint, aber ohne die Belastungen des Krieges wie bei der Reichsgründung durch Bismarck. Darüber hinaus hat der Einschluss des vereinten Deutschland in die Pax Americana die globale Rolle Amerikas gestärkt, wie umgekehrt erst der Schutz und Beistand der USA die Vereinigung möglich machten. Diese wechselseitige Interessenverknüpfung ist Teil einer politischen Wertebindung, über den sich Deutsche und Amerikaner freuen können. Sie bleibt Aufgabe und Herausforderung zugleich.
Die Oder-Neiße-Grenze und die deutsche Vereinigung 1989/90 Für Heinz Lemke zum 85. Geburtstag Von Armin Mitter I. „Eine neue deutsche Invasion über die Oder?“ „Sodann die Grenzfrage – in Wahrheit sei sie kein großes Problem, es gehe nur um die ,Methode‘“, äußerte Bundeskanzler Helmut Kohl am 24. Februar 1990 in einem Gespräch mit dem amerikanischen Präsidenten George Bush in Camp David.1 Gemeint war die Grenze zwischen Deutschland und Polen, von ihren Kritikern in Deutschland immer nur Oder-Neiße-Linie genannt. In den vorangegangenen Monaten hatten sich die Diskussionen über die polnische Westgrenze ständig ausgeweitet und zugespitzt. Kohl spielte das „Problem“ gegenüber dem amerikanischen Präsidenten im Februar 1990 deutlich herunter. Die beiden Staatsmänner diskutierten es vor allem als Frage zwischen Polen und der Bundesrepublik. Tatsächlich aber bewegte es nicht nur die Regierung und Öffentlichkeit in Polen und Deutschland, sondern in ganz Europa und Amerika. In Frankreich werde, so berichtete die bundesdeutsche Botschaft am 20. Januar 1990, die Haltung des Bundeskanzlers zur polnischen Westgrenze „zum Prüfstein der Vereinigungsfähigkeit der Deutschen“.2 In Großbritannien stand ohne die Klärung dieser Frage die tatsächliche Bereitschaft der Bundesrepublik Deutschland zur europäischen Integration zur Debatte.3 In der Sowjetunion wurde schon das zeitweise Schweigen Kohls zur polnischen Westgrenze als Wiederaufleben der revanchistischen Kräfte in Deutschland gewertet.4 Welches Ausmaß die Spannungen zwischen Bonn und Warschau angenommen hatten, beschrieb der bundesdeutsche Botschafter am 19. Februar 1990 – also wenige Tage vor dem Gespräch zwischen Bush und Kohl in Camp David – folgendermaßen: „Ein unbeteiligter Besucher würde beim Aufschlagen der Zeitungen oder im Gespräch mit polnischen Gastgebern meinen, 1 Gespräch Kohl-Bush 24.2.1990 Dok. 192, in: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, S. 863. 2 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Berlin, Zwischenarchiv (im Folgenden: PA, AA, ZA) 140.723 E. 3 Gespräch Genscher-Thatcher 14.02.1990, PA, AA, ZA 178.927 E. 4 Vgl. umfangreiche Berichterstattung aus Moskau: PA, AA, ZA.
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eine neue deutsche Invasion über die Oder stünde kurz bevor“.5 Stein des Anstoßes war, dass die bundesdeutsche Regierung es ablehnte, eine zusätzliche Erklärung zu den bestehenden Verträgen abzugeben, die Polen den Bestand der OderNeiße-Grenze völkerrechtlich garantierte. Nur eine Minderheit in Deutschland dürfte den Bestand der Oder-NeißeGrenze zu diesem Zeitpunkt überhaupt ernsthaft in Zweifel gezogen haben, und die Gefahr einer „neuen deutschen Invasion über die Oder“ war völlig abwegig. Durch den abgeschlossenen Görlitzer Vertrag zwischen der DDR und Polen 1950 und den Warschauer Vertrag von 1970 zwischen Polen und der Bundesrepublik schien die Frage geregelt. Allerdings gab es keine völkerrechtliche Bestätigung. Die sollte erst durch einen Friedensvertrag mit dem vereinten Deutschland erfolgen. Das Bundesverfassungsgericht hatte 1973 den Warschauer Vertrag deshalb für rechtswidrig erklärt. Der, wenn man so will, „rechtsfreie Raum“ – in der praktischen Politik von 1970 bis Anfang 1989 faktisch ohne Bedeutung – diente Teilen der Vertriebenen in Deutschland, aber durchaus auch seriösen Politikern in der Bundesrepublik, den Bestand der Grenze mit rechtlichen und juristischen Argumenten anzuzweifeln. Als Begründung diente die Argumentation, dass Deutschland nicht am Potsdamer Abkommen beteiligt worden sei und somit noch die Grenzen von 1937 rein formal gültig wären. Die Reaktionen in Polen, aber auch in der internationalen Öffentlichkeit, konnten nicht ausbleiben. Natürlich waren die Verbrechen der Nationalsozialisten im 2. Weltkrieg nicht nur für die einseitige kommunistische Propaganda ein günstiger Nährboden. Auch die im Bericht aus Warschau vom Februar 1990 beschriebene Stimmungslage wurde aus ganz unterschiedlichen Quellen gespeist, nicht zuletzt aus den Erfahrungen mit den Deutschen im 2. Weltkrieg, aber in erster Linie durch das Verhalten des Bundeskanzlers. Im vorliegenden Beitrag soll nicht noch einmal auf rechtliche und juristische Aspekte der Oder-Neiße-Grenze exegetisch eingegangen werden6. Es geht um die innen- und außenpolitischen Motive, sowohl der Befürworter als auch der Gegner einer völkerrechtlichen Erklärung der Bundesrepublik bzw. von DDRVertretern nach der Wahl vom 18.03.1990. Die Diskussion darüber prägte die Zeit zwischen Sommer/Herbst 1989 bis Sommer 1990 wesentlich. Hans-Dietrich Genscher, der bundesdeutsche Außenminister, hatte in einem Gespräch mit seinem britischen Kollegen am 20. September 1989 erklärt: „Hervorhebung der deutschen historischen und moralischen Verantwortung für Polen. Bedauern über Grenzdiskussion; Juristische Haarspaltereien hinsichtlich Legitimation für endgültige Grenzziehung sind unsinnig . . . (W)ir müssen auf jeden Fall Situation verhindern, in der sowjetische Armee behaupten kann, sie gewähr5
Ber. Knackstedt 19.02.1990, PA, AA, ZA 140.726 E. Vgl. dazu Michael A. Hartenstein, Die Geschichte der Oder-Neiße-Linie, München 2007, 2. Aufl.; Klaus Rehbein, Die westdeutsche Oder/Neiße-Debatte, Berlin 2006. 6
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leiste Westgrenze Polens“.7 Im Gegensatz zum Bundeskanzler sprach sich Genscher schon im Herbst 1989 für eine zusätzliche völkerrechtliche Erklärung aus. Später verwies er immer wieder auf seine Rede vor der UN-Vollversammlung Ende September – jedoch ohne Erfolg. Der Kreml und die polnischen Kommunisten haben durchaus im Sinne Genschers Befürchtung bis Mitte 1990 argumentiert und damit erheblich die Diskussion beeinflussen können. Das schien zumindest Kohl wenig zu stören. Weniger jedenfalls als die Kritik im In- und Ausland, die er kaum reflektierte sondern „persönlich“ gegen sich gerichtet empfand. Wenn er sich überhaupt dazu äußerte, führte er immer wieder rechtliche und juristische Argumente gegen eine zusätzliche völkerrechtlich verwertbare Erklärung ins Feld. Die tatsächlichen Gründe für den Bundeskanzler waren jedoch, wie bereits in der Literatur betont wurde, innenpolitische Überlegungen.8 Andere Folgen schien er nicht zu fürchten. Er glaubte die Stimmen der „Vertriebenen“ bei den 1990 in der Bundesrepublik anstehenden acht Wahlen zu verlieren. Im Februar 1990 meinte er allerdings eine Lösung gefunden zu haben, indem er einen Grenzvertrag mit Polen nach der Vereinigung in Aussicht stellte. Immerhin, wie zu zeigen sein wird, ein Schritt vorwärts. Deshalb bedeutete für ihn im Gespräch mit Bush die „Grenzfrage kein großes Problem“.9 Bis zur Vereinigung war man jedoch im In- und Ausland nicht gewillt zu warten. Vor allem natürlich nicht in Polen. Um die Ursache für das dringende Verlangen im östlichen Nachbarstaat verständlich zu machen, ist es zunächst notwendig die tiefgreifenden innen- und außenpolitischen Veränderungen Polens 1989 in gebotener Kürze zu erläutern. II. Die Phase der „Umwälzung“ „Polen durchlebt gegenwärtig eine Phase der Umwälzung, deren Tiefe und Ausmaß in der Geschichte der Volksrepublik ohne Parallele ist. Auch wenn die gegenwärtige Situation Anlass zu vorsichtigem Optimismus bietet, kann ein erfolgreicher Verlauf des begonnenen Reformprozesses durchaus nicht als gesichert gelten. Die verknöcherten Strukturen über vierzigjähriger staatssozialistischer Herrschaft, gravierende Wirtschaftsprobleme und schwer berechenbarer Widerstand in den eigenen Reihen sind die zentralen Probleme, mit denen sich die Partner des in Gang gekommenen Dialogs Führung – Opposition konfrontiert sehen“.10 Der in den Akten leider nicht feststellbare Autor dieses Berichtes vom 1. März 1989 im Auswärtigen Amt sollte sich schon im Grundsatz schwer irren. Es ging in den folgenden Monaten nicht mehr um einen erfolgreichen „Dialog“ 7 Vermerk betr. Deutsch-britische AM-Konsultationen vom 20.09.1989, PA, A, ZA 140.698 E. 8 Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland, München 2009, S. 236 f. 9 Vgl. Anm. 1. 10 Politischer Halbjahresbericht Polen (Stand: 01.03.1989). Nur zur Unterrichtung des Auswärtigen Amtes, PA, AA, ZA 140.711 E.
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zwischen „Führung und Opposition“ in Polen, sondern um die Beseitigung der kommunistischen Machtverhältnisse. Die „verknöcherten Strukturen vierzigjähriger staatssozialistischer Herrschaft“ waren zusammengebrochen. Ein „begonnener Reformprozess“ der Kommunisten, gemeinsam mit der Opposition, fand nie statt. Der Versuch war schon in den Anfängen gescheitert. Die kommunistische Führung sah sich gezwungen die Opposition offiziell, insbesondere „Solidarnosc“, wieder zuzulassen und Gespräche mit ihr aufzunehmen. Das wichtigste und zukunftsweisendste Ergebnis der Gespräche am „Runden Tisch“ war die Abhaltung „halbdemokratischer Wahlen“ im Juni 1989. Freilich glaubte die PVAPFührung an ein Überleben der kommunistischen Herrschaft trotz der Wahlen. Sie setzte vor allem auf die Unterstützung des sowjetischen Generalsekretärs Michael Gorbatschow und propagierte eine ähnliche „Reformpolitik“, allerdings mit einigen Abweichungen wegen der „nationalen Besonderheiten“. Zwar war die Opposition in einen Dialog mit der Regierung eingetreten, verband damit jedoch weitreichendere Ziele als etwa die Gorbatschowschen Reformen, denen sie kritisch gegenüber stand. Die Forderung nach Demokratisierung bedeutete für sie die Brechung des kommunistischen Machtmonopols und zwar nicht in einem langwierigen evolutionären Prozess, sondern als Wahlziel 1989. Adam Michnik, ein Mitglied in der Führung von Solidarnosc, erklärte bereits 1987: „Gorbatschows Reformen haben einen gegenreformerischen Charakter. Sie sind eine Antwort auf die Stagnationskrise, auf die Möglichkeit einer antiautoritären reformistischen Rebellion nach polnischem Muster. Sie haben den Charakter einer Selbstverteidigung des Systems – durch den Versuch, den inneren Wandel so kontrolliert durchzuführen, dass sich die außerhalb und gegen das System entstandenen kritischen Werte und Ideale integrieren lassen“.11 Die polnische Opposition wollte genau das im Frühjahr 1989 verhindern und wurde besonders von der Basis dazu gedrängt ihr Versprechen, das kommunistische Machtmonopol zu brechen, nach den Wahlen einzuhalten. Bereits vorher war die wirtschaftlich und politisch bankrotte kommunistische Führung zu Zugeständnissen gezwungen, deren Konsequenzen sich nicht absehen ließen. Der Spielraum der Opposition vergrößerte sich in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen. Darauf versuchte die PVAP „flexibel“ zu reagieren: „Die offizielle Deutschlandpolitik ist in den zurückliegenden Monaten Gegenstand intensiver interner Diskussionen gewesen, die als ,Neubewertung‘ oder ,grundsätzliches Überdenken‘ bezeichnet wurden. Seit etwa einem Jahr ist die ,altbewährte‘ antideutsche Propaganda weitgehend verschwunden. Hier setzt die Oppositionsthese an, dass die Führung aufgrund des sich wandelnden Verhältnisses zur Sowjetunion sich des antideutschen Legitimationsinstrumentes nicht mehr bedienen könne bzw. wolle“, schrieb der deutsche Botschafter Schöller aus Warschau.
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Zitiert nach Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel, München 2009, S. 29 f.
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Die Diskussion um die deutsche Frage leitete die polnische Opposition um die Jahreswende 1988/89 ein. Insbesondere Adam Michnik, Chefredakteur der „Gazeta Wyborcza“, der wichtigsten Zeitung der „Solidarnosc“, veröffentlichte entsprechende Beiträge, über die auch die deutsche Botschaft aus Warschau nach Bonn berichtete. Darin wurde eine grundlegende Änderung des polnisch-bundesdeutschen Verhältnisses gefordert. Nicht mehr vom deutschen Revanchismus war die Rede, sondern von gutnachbarlichen Beziehungen. Das sollte im Rahmen einer Öffnung nach Europa und damit verbunden mit einer Lockerung der Abhängigkeit von Sowjetrussland geschehen. Unter diesem Druck sah sich auch die PVAP gezwungen eine Diskussion zur deutschen Frage zuzulassen. Es wurde offen darüber debattiert, ob die Einheit Deutschlands nicht auch von Vorteil für Polen sein könnte.12 Für die kommunistische Regierung galt bis dahin die deutsche Zweistaatlichkeit als ein Unterpfand für die Sicherheit Polens. Sie bedeute auch die Garantie für den Bestand der Oder-Neiße-Grenze. III. Die deutsche Einheit? Die Diskussionen nahmen einen solchen Umfang an, dass in Polen weitaus mehr über die deutsche Einheit diskutiert wurde als in Deutschland selbst. Diese Frage war in beiden deutschen Staaten kaum ein ernstes Thema in den deutschlandpolitischen Diskussionen zu diesem Zeitpunkt. Einer der besten polnischen Kenner der deutsch-polnischen Verhältnisse, Artur Hajnicz äußerte gegenüber der deutschen Botschaft in Warschau im Frühjahr 1989: „Es gebe fast eine Gegenläufigkeit mancher Prozesse (in Deutschland und Polen – AM). Während die Wiedervereinigungsdebatte bei uns (in Deutschland – AM) abklänge, werde sie in Polen unter anderen Vorzeichen neu belebt“.13 Die deutschen Diplomaten in Warschau meinten dazu: „Gefördert wird diese Diskussion auch durch den Wandel des Deutschlandbildes in der jüngeren Generation der Diskussionsteilnehmer. Sie haben vielfach die beiden deutschen Staaten aus eigener Anschauung kennengelernt und urteilen aufgrund anderer Kriterien als die Generation vor ihnen.“ Eine zentrale Frage bei der Erörterung der Deutschlandpolitik in Polen war die Sicherung der Oder-Neiße-Grenze. Bereits am 15. Januar 1989 wurde in einem Artikel der „Rzeczpospolita“ kaum verhüllt, „die Gleichung: mögliche Hinnahme der Wiedervereinigung gegen endgültige Grenzreglung aufgemacht . . .“.14 Die veränderten Gegebenheiten in Polen führten auch zu engeren Kontakten. So besuchte der bundesdeutsche Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Jürgen Warnke (CSU), Ende März 1989 Polen und traf auch mit führenden Oppositionellen zusammen. Sie erläuterten ihm eindringlich die Veränderung der gesell-
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Ber. Schöller 01.03.1989, PA, AA, ZA 140.726 E. Ebd. Ebd.
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schaftlichen Verhältnisse. Solidarnosc beschäftige sich nicht mehr nur mit der Bewältigung der wirtschaftlichen Krise im Land, sondern fordere beispielsweise auch radikale Veränderungen in der Außenpolitik, insbesondere gegenüber der Bundesrepublik: „Das Regime habe versucht, das Feindbild Bundesrepublik lebendig zu erhalten. Diese Zeit gehe zu Ende. Eine Bedrohung durch die Bundesrepublik Deutschland sei nicht mehr gegeben“.15 Warnke war sichtlich beeindruckt von dem Gespräch. Ob er jedoch damit gerechnet hat, mit Vertretern der künftigen politischen Führung in Polen konferiert zu haben, dürfte wenig wahrscheinlich sein. Überhaupt hielt sich bis dahin der Kontakt bundesdeutscher Politiker mit der polnischen Opposition in Grenzen. Abgesehen davon, ob sie deren Vorstellungen überhaupt die nötige Beachtung schenkten. Immerhin bat Warnke Schöller ausdrücklich darum, die Berichte über seine Gespräche dem Auswärtigen Amt zuzuleiten. Denn die Zusammenkunft Warnkes mit den Vertretern der Opposition fand „außerhalb des offiziellen Programms“ statt.16 Die Vertreter der polnischen Opposition äußerten dem Bundesminister gegenüber: „Bedauerlich sei, dass Besucher aus der Bundesrepublik Kontakte vor allem mit dem Regime gesucht hätten. Das habe sich glücklicherweise geändert“.17 Geändert hatten sich die Möglichkeiten der polnischen Opposition aber auch in Bezug darauf, auf das Verhalten ausländischer Staaten Einfluss zu nehmen. Es dürfte ein Verdienst der Opposition gewesen sein, dass der amerikanische Präsident 1989 erst nach den Wahlen Polen besuchte und damit nicht noch zu einer Unterstützung der polnischen Kommunisten beitrug. Gleiches traf auf die wirtschaftliche Unterstützung Polens zu. IV. „Halbfreie“ Wahlen und ihre Folgen Die Juniwahlen 1989 in Polen bedeuteten einen politischen Erdrutsch. Die Opposition gewann mit weitem Abstand. Mitnichten hatten die polnischen Kommunisten mit einem derartigen Wahlergebnis gerechnet. Trotz ihrer eklatanten Niederlage versuchten sie ihre politische Macht auch danach zu behaupten.18 Ohne Erfolg. Völlig überrascht zeigten sich auch die Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Warschau: „In einer ersten Wertung . . . ist festzuhalten, dass nach den zum Teil unverhältnismäßigen Forderungen der bisherigen Koalition PVAP, ZSL und SD nach Regierungsbeteiligung das Ausmaß, mit dem sich Solidarnosc durchgesetzt und für die Kraft der Bewegung spricht“.19 Die PVAP hatte es nicht einmal in die Regierungskoalition geschafft. Lediglich einige Minister wurden mit Billigung von Solidarnosc als Person kooptiert. Immerhin gehörte dazu auch 15 16 17 18 19
Ber. Schöller 04.04.1989, PA, AA, ZA 140.711 E. Ebd. Ebd. Auf die Einzelheiten kann in diesem Beitrag leider nicht eingegangen werden. Ber. Bauch 08.09.1989, PA, AA, ZA 24117.
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Staatspräsident Jaruzelski, der damit in der eigenen Partei als „Verräter“ gebrandmarkt wurde. Als besonders bemerkenswert wurde jedoch von der deutschen Botschaft die Besetzung des neuen Außenministers bewertet, „wo mit Professor Skubiszewski eine völlig überraschende Nominierung erfolgte, die angesichts der Vertrautheit Skubiszewskis vor allem mit den Problemen des deutschpolnischen Verhältnisses einen deutlichen Akzent auch für diese Beziehungen zu setzen scheint“.20 Zu fragen bleibt, weshalb die deutsche Botschaft in Warschau derart überrascht reagiert. Die Diskussionen um die deutsche Frage seit Anfang 1989 hätten ihr deutlich machen müssen, welchen Wert die Opposition auf eine Veränderung der Außenpolitik legte, insbesondere der Deutschlandpolitik. Wahrscheinlich wurde in der Botschaft kaum mit einem derartigen Sieg von Solidarnosc gerechnet. Noch in der Zeit der Regierungsbildung riet die Botschaft der Zentrale, die Beziehungen zur PVAP weiterhin besonders zu pflegen. Den Vermerk über die Person Krzysztof Skubiszewskis für das Auswärtige Amt in Bonn fertigte keineswegs die Botschaft in Warschau an, sondern die entsprechende Abteilung: „Unbeschadet der erwarteten Botschaftsberichterstattung zu Person und politischem Profil des neuen polnischen Außenministers ergibt eine Durchsicht der Akten über das Wochenende: . . .“21 In dem mehrseitige Bericht wurden Skubiszewskis umfangreichen Aktivitäten im Auftrage des polnischen Episkopats seit 1985 auf dem Gebiet der deutsch-polnischen Beziehungen beschrieben. Seine öffentlichen Stellungnahmen bedeuteten eine radikale Kritik an der polnischen Deutschlandpolitik der Kommunisten. Als vierter Unterpunkt wurde ausdrücklich auf seine Stellungnahme beim IV. Deutsch-polnischen Forum der katholischen Kirche 1985 in Krakau hingewiesen: „Während des IV. Forums in Krakau erwähnte S. ,als einziger großherzige deutsche Hilfeleistungen in der Zeit der polnischen Krise, kritisierte andererseits die vordergründige Grenzdiskussion und stellte die existenzielle Frage: Welche Rolle sind die Deutschen bereit, den Polen in einer gemeinsamen europäischen Zukunft zuzuweisen‘“.22 Im gleichen Duktus war der gesamte Bericht gehalten. Mit Skubiszewski begann eine neue Epoche in den deutsch-polnischen Beziehungen.23 Für den vorliegenden Beitrag erscheint wichtig zu erwähnen, dass er mehrere Untersuchungen zur Oder-Neiße-Grenze veröffentlicht hat. Zudem unterhielt er „seit langem enge Kontakte zur (deutschen – AM) Botschaft“.24
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Ebd. Verm. AA (Unterschrift unleserlich) 10.09.1989, PA, AA, ZA 24117. 22 Ebd. 23 Vgl. Mateusz Wilinski, Stosunki polsko-niemeckie w latach 1982–1991, Katowice 2009 (Polnisch-Deutsche Beziehungen 1982–1991, Katowitz 2009). 24 Ber. Schöller o. D. (Anfang September 1989), PA, AA, ZA 24117. 21
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V. Die „ergänzende politische Deklaration“ Soweit ich die Quellen und die Literatur überblicke, wurde die polnische Forderung nach einer zusätzlichen Erklärung zum bestehenden Warschauer Vertrag von 1970 das erste Mal in einem Bericht des bundesdeutschen Botschafters aus Warschau am 29. Juni 1989 erwähnt: „Für Polen bedeute das Bündnis des Warschauer Pakts die einzige Grenzgarantie. Der Warschauer Vertrag von 1970 bedeute für die Bundesrepublik Deutschland lediglich einen modus vivendi. Da sie weiterhin die Wiedervereinigung, von manchen in den Grenzen von 1937 gefordert, anstrebe. Nötig sei deshalb eine ergänzende politische Deklaration. Nicht nur von Seiten der SPD, sondern auch der Regierungskoalition. Rein praktische Lösungen reichten nicht aus. Im Jahr, in das der 50. Jahrestag des Kriegsausbruches falle, wäre es schlecht vorstellbar, dass keine solche Deklaration erfolge“.25 Die Information hatte die deutsche Botschaft von dem CDU-Bundestagsabgeordneten Dr. Blens bekommen, der zu einem Besuch in Warschau weilte und mit einem Abteilungsleiter im polnischen Außenministerium gesprochen hatte: „Polen warte darauf, wenn über ein ,neues Kapitel‘ gesprochen werde. Jaruzelski und Rakowski seien bereit, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen“.26 Trotz ihres insgesamt gemäßigten deutschkritischen Duktus, war es eine typische Stellungnahme der PVAP aus dieser Zeit. Trotz der eklatanten Wahlniederlage glaubte sie zu diesem Zeitpunkt noch die Regierung bilden zu können. Als geradezu sicher erschien es den polnischen Kommunisten, das Außenministerium besetzen zu können. Auch in der deutschen Botschaft in Warschau war man fest davon überzeugt. Jaruzelski, der ehemalige Selbstherrscher, und Rakowski, der PVAP-Vorsitzende, fühlten sich als künftige führende Regierungsmitglieder und rechneten mit der entsprechenden Würdigung ihrer Ansichten in Bonn, vielleicht nicht zu unrecht. Freilich hatte den Kommunisten die ausführliche deutschlandpolitische Diskussion gezeigt, dass die Darstellung der Bundesrepublik als potentieller Okkupant nunmehr wenig überzeugend wirkte. Schwachpunkte in der bundesdeutschen Politik herauszustellen und in dem Zusammenhang die Bedeutung des sowjetischen Schutzschildes für Polen hervorzuheben, insbesondere für die polnische Westgrenze, versprach Wirkung in der Bevölkerung. Außerdem sollte Bonn signalisiert werden zu einer „neuartigen Zusammenarbeit“ bereit zu sein. Eine tatsächlich „neuartige Zusammenarbeit“ entwickelte sich mit der neuen polnischen Regierung. Die Kommunisten hofften auf deutsche Hilfe bei der Lösung der wirtschaftlichen Probleme, um die Opposition von der politischen Macht möglichst fernzuhalten. Sie irrten sich gründlich. Das hieß aber nicht, dass eine Erklärung der Bundesregierung zur Oder-Neiße-Grenze mit der Machtübernahme von Solidarnosc in der polnischen Öffentlichkeit vom Tisch
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Ber. Schöller 29.06.1989, PA, AA, ZA 140.726 E. Ebd.
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war. In den ab August 1989 zunehmenden Kontakten mit der politischen Führung in Bonn kam die polnische Seite stets darauf zu sprechen, ohne allerdings konkrete Vorschläge zu unterbreiten. Wenn dies nicht erfolgte, war man auf deutscher Seite sichtlich irritiert. Anfang September 1989 weilte Lech Walesa in Bonn. Unter anderem kam es zu einem Gespräch mit Hans-Dietrich Genscher, in dem Walesa die Grenzfrage zur Verwunderung Genschers nicht ansprach. In der Aufzeichnung des AA in Bonn heißt es: „BM (Bundesminister Genscher – AM) bemerkte sodann, W. (Walesa – AM) habe ihn in diesem Gespräch nicht auf das Thema ,polnische Westgrenze‘ angesprochen. Vielleicht glaubt W., dies sei bei ihm, BM, nicht nötig. Er wolle feststellen, die Garantie der polnischen Westgrenze überließen wir nicht der Roten Armee und Ostberlin. Diese Garantie übernähmen wir selbst“.27 Damit hatte sich Genscher jedoch zu weit vorgewagt. Bereits vorher hatte Walesa mit dem Bundeskanzler gesprochen und die Frage der Oder-Neiße-Grenze zur Sprache gebracht. Selbstbewusst erklärte Walesa dem Bundeskanzler zunächst: „Die Solidarität habe im vergangenen Jahrzehnt gezeigt, dass sie in der Lage sei, das kommunistische System zum Zusammenbruch zu bringen. Der lange Weg habe bis zu einem Ministerpräsidenten aus den Reihen der Solidarität geführt. Jetzt sei der politische Kampf zu Ende. Jetzt gehe es um wirtschaftlichen Kampf“.28 Der politische Kampf war längst nicht zu Ende. Die polnischen Kommunisten versuchten mit allen Mitteln an der Macht wenigstens teilzuhaben. Die Außenpolitik erschien ihnen dabei ein fruchtbares Feld. Zwar amtierte Skubiszewski als Außenminister in Warschau, aber der gesamte Apparat bestand aus Mitgliedern der PVAP. Die dünne Personaldecke der Opposition reichte nicht aus, um sofortige Abhilfe zu schaffen. Das war nur eines der Probleme, mit denen der neue polnische Außenminister zu kämpfen hatte. Gerade in den Auseinandersetzungen um die Oder-Neiße-Grenze nahm das Verhalten der Bundesrepublik deshalb eine wichtige Rolle ein. Walesa hatte die „Grenzfrage“ im Gespräch mit Kohl sehr vorsichtig angesprochen: „Er erhoffe von Seiten des Bundeskanzlers eine kluge Politik. Werde von anderer Seite die Grenzfrage angeschnitten, erschwere es vielmehr die Arbeit“. Er vermied offensichtlich eine Erklärung zu verlangen. In erster Linie wurde die wirtschaftliche Unterstützung Polens durch Deutschland diskutiert. Die Äußerungen Walesas zur Grenzfrage blieben seitens des Bundeskanzlers ohne Kommentar. Im Gespräch erklärt er: „Aber ein Punkt werde in Polen nur schwer oder gar nicht begriffen: Wir hätten keinen Friedensvertrag – dies sei aber nicht nur ein Problem im Verhältnis zu Polen, sondern auch zur DDR. Den Warschauer Vertrag hielten wir aber nach Geist und Inhalt ein. Dort stehe unter anderem der Satz, dass die Bundesrepublik Deutschland keine Gebietsansprüche an Polen habe“.29 27
Genscher – Walesa 08.09.1989, PA, AA, ZV 178.931 E. Gespräch Kohl – Walesa 07.09.1989, Dok. 38, in: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/ 90, S. 400. 28
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VI. Helmut Kohl und die Oder-Neiße-Grenze Kohl vermied eine direkte Erklärung zur Oder-Neiße-Grenze. Ein halbes Jahr später sollte der Bundeskanzler alles andere wünschen als den Abschluss eines Friedensvertrages. In dieser Zeit hatte sich allerdings die internationale Situation rasant verändert, die Behandlung der Oder-Neiße-Problematik seitens des Kanzlers jedoch nicht. Nur die damit verbundenen innen- und außenpolitischen Schwierigkeiten hatten für ihn ständig zugenommen. Nach wie vor unterstrich er, dass die bestehenden Verträge eingehalten und natürlich keinerlei Gebietsansprüche gestellt werden würden. Doch eine zusätzliche Erklärung blieb die ganze Zeit über das eigentliche Problem. Schon in der Phase der schwierigen Regierungsbildung in Polen von Juli bis September 1989 hatten es die Auftritte bundesdeutscher Politiker Solidarnosc nicht gerade erleichtert, die Verbesserung der deutsch-polnischen Beziehungen der polnischen Bevölkerung plausibel zu machen. Stellungnahmen von einflussreichen CDU/CSU-Politikern wie Heiner Geisler und Theo Waigel liefen darauf hinaus, dass die Grenzen von 1937 noch gültig seien.30 Entsprechend waren die Reaktionen in der polnischen Presse. Kohl hat gegen solche Erklärungen nie Stellung genommen. Er betrachtete sie als stillschweigende innenpolitische Unterstützung dabei, dass er eine Erklärung Polen gegenüber nicht abgeben könne. VII. Demokratie oder ,Perestroika‘-Reformen Die Zeit zwischen August und November 1989 war jedoch vor allem durch die Ereignisse in der DDR geprägt. Die ersten außenpolitischen Kontakte der neuen polnischen Regierung und Bonn erfolgten wegen der DDR-Flüchtlinge in der bundesdeutschen Botschaft in Warschau. Die Klärung verlief im Gegensatz zum Flüchtlingsproblem in Prag problemlos. In seinen Erinnerungen schreibt HansDietrich Genscher: „Krzysztof Skubiszewski konnte ich jederzeit voll vertrauen“.31 Zunächst per Flugzeug, dann per Bahn, konnten die „DDR-Besetzer“ in die Bundesrepublik Deutschland „ausreisen“. Die DDR-Führung beschuldigte die Bundesrepublik diese Fluchtwelle maßgeblich mit inszeniert zu haben. In diesem Zusammenhang wurde auch auf die „revanchistischen“ Bestrebungen und die Nichtanerkennung der Oder-Neiße-Grenze „durch die BRD“ hingewiesen. Zweifellos intensivierte sich in dieser Zeit die Diskussion um die Einheit Deutschlands, ohne dass sie von bundesrepublikanischer Seite geschürt worden wäre. Die Bemühungen der polnischen Regierung um eine Erklärung zur Grenz29 Gespräch Kohl – Walesa 07.09.1989, Dok. 38, in: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/ 90, S. 399. 30 Ber. Silberberg 01.07.1989, PA, AA, ZA 140.726 E. 31 Hans-Dietrich Genscher, Erinnerungen, Berlin 1995, S. 648.
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frage erfolgten in dieser Zeit unter dem Blickwinkel der Zweistaatlichkeit. So schrieb die Regierungszeitung „Rzeczpospolitik“ Ende September laut einem Bericht der bundesdeutschen Botschaft, es gebe „zwei Hindernisse“ bei der Verbesserung der bundesdeutsch-polnischen Beziehungen: „– die rechtliche Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland, am Fortbestehen des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 festzuhalten, sowie – die Weigerung, in verbindlicher Form festzustellen, dass der offene Charakter in der deutschen Frage sich nicht auf einen Teil des polnischen Territoriums bezieht“.32 Dieser Bericht wurde offensichtlich auch Genscher nach New York zugesandt, der auf der UNO-Vollversammlung auftrat. In seinen Erinnerungen verweist er darauf, dass er „ernsthaft erwog . . . in meiner Rede vor den Vereinten Nationen Ende September eine Grenzgarantie für Polen abzugeben“.33 Anders als Kohl erkannte er schon frühzeitig die besondere Bedeutung Polens für Deutschland im Prozess der Entwicklung der deutschen Frage, aber auch der europäischen Einigung. Beides hat zweifellos dazu beigetragen, dass er den Bundeskanzler in dieser Zeit zu einer Erklärung drängen wollte und auch mit der Kündigung der Koalition drohte – ohne Erfolg. Kohl beschränkte sich immer stärker auf die innerdeutsche Entwicklung. Er unterschätzte die Bedeutung der polnischen Entwicklung auch für Osteuropa. Mit der demokratischen Machtübernahme in Polen geriet Michael Gorbatschow in wachsende Schwierigkeiten seine sogenannte „Reformpolitik“ überzeugend darzustellen. Im Grunde genommen bedeutete die demokratische Entwicklung in Polen das Ende der sogenannten Perestroika. Die Befürchtungen, „die konterrevolutionären Kräfte“ könnten die „Reformen“ Gorbatschows beenden, überwogen in der westeuropäischen Öffentlichkeit bei weitem gegenüber der Einschätzung, dass die „Reformpolitik“ des Generalsekretärs eine Demokratisierung verhindern sollte. Der polnischen Entwicklung stand Moskau äußerst skeptisch gegenüber. Schon während der Zeit der Regierungsbildung in Warschau kritisierte Moskau, dass schon die Regierungsbeteiligung von Solidarnosc zur Destabilisierung Polens führen könnte.34 Bereits im Juni erklärte der sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse seinem deutschen Kollegen, „hinderlich“ könnten sich „Phänomene der Destabilisierung“ in Polen auf die „Entwicklung“ der DDR auswirken. Genscher erklärte, „es sei wünschenswert, dass die DDR baldmöglichst dem Reformbeispiel der UdSSR folge“. Dem widersprach der sowjetische Außenminister ganz entschieden: „Dies dürfe gerade nicht forciert werden. Die Bedingungen dafür müssten in Ruhe reifen“.35
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Ber. Silberberg 25.09.1989, PA, AA, ZA 140.726 E. Hans-Dietrich Genscher, Erinnerungen, Berlin 1995, S. 643. Ber. Schöller 15.08.1989, PA, AA, ZA 24117. Genscher-Schewardnadse 20.06.1989, PA, AA, ZA 178.931 E.
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In den Akten finden sich zahlreiche Belege, wie ungelegen der Sowjetunion eine mögliche Reformentwicklung in der DDR 1989 kam. In einem Gespräch äußerte der Stellvertretende Direktor des Europa-Institutes in Moskau, Karanganow, der über ausgezeichnete Beziehungen zum Kreis um Gorbatschow verfügte, dass weder auf offizieller noch auf wissenschaftlicher Ebene an der deutschen Frage gearbeitet werde. Die Führung habe andere Sorgen und sei auf absehbare Zeit an „größtmöglicher Stabilität“ in Bezug auf Deutschland interessiert. Infolgedessen werde auch bewusst akzeptiert, dass sich diese Stabilität in der DDR eher in „Starrheit“ äußere. Diese Konstellation werde von der sowjetischen Führung „unkontrollierten Entwicklungen“ vorgezogen.36 Gorbatschow reiste mit gemischten Gefühlen zum 40. Jahrestag der DDR nach Ostberlin. Natürlich hoffte er darauf, „unkontrollierten Entwicklungen“ keinen Vorschub zu leisten, andererseits konnte er Erich Honeckers Politik kaum uneingeschränkt loben. Die Wirkung seiner Auftritte erwies sich trotz allem inspirierend auf die Aktionen auf der Straße. Das hat er mit Sicherheit nicht gewollt. Im Gegensatz zum sowjetischen Generalsekretär begrüßte die SolidarnoscFührung die Aktionen der DDR-Bevölkerung. Die Ereignisse von Oktober 1989 bis Januar 1990 in der DDR prägten auch die Diskussionen um die Oder-NeißeGrenze. Bis zu diesem Zeitpunkt war zwar die Frage der deutschen Einheit umfangreich diskutiert worden, aber kaum jemand nannte einen konkreten Zeitraum ihrer Verwirklichung. Das änderte sich seit dem 7. November 1989 grundlegend. Mit der Öffnung der Mauer wurde unmissverständlich klar, dass es zur Vereinigung Deutschlands kommen würde. Der vermutete Zeitraum, in dem dies geschehen würde, verkürzte sich vor allem durch die innenpolitische Entwicklung in der DDR und insbesondere durch den Druck der DDR-Bevölkerung ständig.37 Für die Grenzdiskussion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen war die Grenzöffnung der DDR am 7. November ganz entscheidend. Zu diesem Zeitpunkt weilte der Bundeskanzler zu seinem ersten Besuch in Warschau. Vor seiner Abreise hatte sich Kohl wiederum darauf beschränkt in der Grenzfrage, „die Rechtspositionen zu wiederholen, die alle Regierungen vor ihm vertreten haben“, schreibt Horst Teltschik, einer der engsten Vertrauten und Kritiker von dessen Haltung zur polnischen Westgrenze.38 Kohl unterbrach die Polenreise um an der Kundgebung zur Maueröffnung am 10. November in Berlin teilzunehmen und mit den führenden Politikern in den wichtigsten Staaten die neue Sachlage zu besprechen. Dann kehrte er nach Warschau zurück. Es ging in den Diskussionen um umfangreiche Wirtschaftshilfe für Polen, die Kohl auch mit den Staats36
Ber. Schäfer 14.04.1989, PA, AA, ZA 140.727 E. Wohl die beste Darstellung der Vorgänge in der DDR bis zu den ersten demokratischen Wahlen sowohl methodisch wie empirisch: Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. München 2009. 38 Horst Teltschik, 329 Tage, Berlin 1991, S. 14. 37
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chefs in Frankreich, Großbritannien und den USA während seiner Reiseunterbrechung besprochen hatte. Doch Teltschik benennt in den Gesprächen in Warschau etwas anderes als Hauptproblem für die grundlegende Verbesserung des Verhältnisses der Bundesrepublik zu Polen: „Die Grenzfrage bleibt ein entscheidendes Thema. Sie begleitet uns in Polen auf Schritt und Tritt. Aussöhnung zwischen Deutschen und Polen wird so lange nicht möglich sein, wie dieses erdrückende Problem den Weg zueinander versperrt“.39 Was es bedeutet hätte, wenn Kohl bei seinem Besuch Anfang November 1989 in Polen eine Erklärung zur Grenzfrage abgegeben hätte, muss spekulativ bleiben. Jedenfalls hat der Bundeskanzler wieder eine Chance, und nicht die letzte bis zur Wiedervereinigung, ausgelassen, das polnisch-deutsche Verhältnis grundlegend zu verbessern. Die nächste Möglichkeit hatte Kohl bei der Verkündung des 10-Punkte-Plans im Deutschen Bundestag zur Wiedervereinigung am 28. November gehabt, der mit einer überwältigenden Mehrheit vom Bundestag gebilligt wurde. Dieser Schritt des Bundeskanzlers wurde allerdings unter anderem kritisiert, weil er ohne Absprache mit dem Bundesaußenminister erfolgte. Vielleicht waren es die Unstimmigkeiten mit Genscher in der Frage einer Erklärung zur polnischen Westgrenze, die Kohl veranlassten ihn nicht vorher zu informieren. Denn ein solcher Punkt fehlt in der Erklärung, was einschneidende innen- und außenpolitische Konsequenzen zur Folge hatte. Kohl war laut seinem engen Berater Teltschik nicht bereit, eine solche Erklärung abzugeben, weil er verhindern wollte, „dass die Frage zum innenpolitischen Kampfthema der Rechten würde“40. Doch trat die SPD ganz massiv auf den Plan und verlangte als 11. Punkt eine Grenzerklärung und stellte entsprechende Anträge im Bundestag. Die Grenzfrage wurde ein wesentlicher Punkt im SPD-Wahlkampf und in dem der Grünen. Noch schwieriger wurde es anschließend die immer wieder verwendete Formulierung „die Frage der deutschen Vereinigung in die europäische Einigung einzubetten“ nach der Erklärung des 10Punkte-Plans dem Ausland deutlich zu machen. Genscher weilte am 30. November in Paris und hatte ein Gespräch mit dem französischen Präsidenten Francois Mitterrand. Er wollte ihm den 10-Punkte-Plan erläutern. Eine der wichtigsten Aussagen „sei die Bekräftigung, dass wir auch in Zukunft unser nationales Schicksal in die europäische Entwicklung einbetten wollten . . .“41 Um diese Aussage zu bekräftigen, verwies er auf seine Erklärungen zur Oder-Neiße-Grenze und führte in diesem Zusammenhang aus: „Die Deutschen müssten zur Stabilität beitragen, zum Beispiel durch klare Haltung zur polnischen Westgrenze. Er habe sich verbindlich vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen zu diesem Thema geäußert. Der Bundestag habe diese Aussage mit überwältigender Mehrheit bestätigt“.42 Er konnte damit allerdings nichts daran ändern, dass der Bun39 40 41 42
Ebd., S. 30. Ebd., S. 14. Genscher-Mitterrand 30.11.1989, PA, AA, ZA 178.931 E. Ebd.
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deskanzler eine zusätzliche Grenzerklärung weiterhin ablehnte. Entsprechend reagierte Mitterrand: „Bisher sei die Bundesrepublik immer Motor im europäischen Einigungsprozess gewesen. Jetzt sei sie Bremse.“43 In einem Gespräch fragte Bernhard Vogel, Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung, bei seinem in der gleichen Zeit stattfindenden Paris-Besuch Jacques Blot, den Europa-Direktor des Quai d’Orsay, was er von Kohls Erklärung halte. Blot antwortete unter anderem: „Wenn von deutscher Seite in der Frage der Ostgrenze keine ausreichenden Garantien gegeben würden, würden die mitteleuropäischen Länder in die Arme der UdSSR getrieben. Der jüngste Besuch von Mazowiecki in Moskau habe klar in diese Richtung gezeigt“.44 Polen wollte alles andere als das Bündnis mit der Sowjetunion festigen. Zwar erklärte Warschau auch weiterhin im Warschauer Vertrag zu verbleiben, konkret bemühte man sich aber um eine größere Distanz zu Moskau. So wurde von Solidarnosc die Neutralität eines möglichen vereinten Deutschland abgelehnt und für eine Mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands in der NATO schon vor der Jahreswende 1989/90 geworben. Die ablehnende Haltung zu einer Grenzerklärung der Bundesrepublik erschwerte zweifellos der polnischen Außenpolitik einen solchen Kurs. Die polnischen Kommunisten wiederum nutzten das Verhalten Bonns ganz im Sinne der im Juni 1989 geforderten „ergänzenden politischen Deklaration“ gegen die neue Deutschlandpolitik der Warschauer Regierung zu polemisieren. So berichtet die deutsche Botschaft aus Warschau Anfang Dezember 1989: „So ist es vor allem die KP-Presse und ihr Organ „Trybuna Ludu“, die vor einem vereinigten Deutschland warnen. Kommentatoren wie Urban und Hoffmann üben darüber hinaus weiter Kritik an der Reise BK Kohl (nach Polen – AM) und der zu großen Nachgiebigkeit Mazowieckis den Deutschen gegenüber. Im Vorfeld des Parteitages der polnischen Kommunisten wird so die ,Deutsche Frage‘ und alles damit Zusammenhängende zum innenpolitischen Amboss“.45 Auf die wachsende Kritik im In- und Ausland um die Jahreswende 1989/90, dass die Bundesregierung keinerlei Aktivitäten entwickelte eine zusätzliche Erklärung für die polnische Westgrenze abzugeben, kann hier schon aus Platzgründen nicht eingegangen werden. Wichtig erscheint jedoch, dass in dieser Zeit nicht nur SPD und Grüne-Mitglieder eine Grenzerklärung verlangten sondern auch die Zahl führender CDU-Mitglieder wuchs, die eine solche forderten. Als Beispiele seien hier die Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth und der Bundespräsident Richard von Weizsäcker genannt. Kohls inoffizielle Argumentation, dass aus Rücksicht auf die „Vertriebenenstimmen“ keine solche Erklärung abgeben werden könne, erschien demgegenüber fadenscheinig.
43 Armin Mitter, Wir versuchen die Grenzöffnung zu halten, in: Horch und Guck, Heft 68 2/2010, S. 59. 44 Ber. Pfeffer 29.11.1989, PA, AA, ZA 139.798 E. 45 Ber. Knackstedt 11.12.1989, PA, AA, ZA 139.738 E.
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VIII. Die polnische außenpolitische Offensive in der „Grenzfrage“ Bewusst wurde in den bisherigen Ausführungen auf die innenpolitischen Verhältnisse während des Umbruchs in Polen großes Gewicht gelegt und der Zusammenhang zur Forderung der ersten demokratischen polnischen Regierung nach einer zusätzlichen Erklärung zu den bestehenden Verträgen dargestellt, die bis dahin verhältnismäßig vorsichtig erfolgte. Dadurch sollten die Ursachen für die teilweise in Botschaftsberichten aus Warschau beschriebene „hysterische Stimmung“ in der polnischen Bevölkerung erklärt werden. Wenn in den folgenden Ausführungen vor allem die Bemühungen der polnischen Regierung mit internationaler Hilfe eine ganz konkrete Erklärung zu erlangen, und zwar vor der Vereinigung, dann heißt das nicht, dass die Warschauer Regierung nicht weiterhin unter teilweise extremen Druck stand. Nach wie vor hatten die Kommunisten beispielsweise in der Ministerialbürokratie enormen Einfluss. Das führte auch dazu, dass die Mehrheit dieser Schicht einer Wiedervereinigung ablehnend gegenüberstand.46 Umso höher sind die Bemühungen der herrschenden demokratischen Kräfte wertzuschätzen, eine neue Deutschlandpolitik Polens durchzusetzen. Im Februar 1990 gab der sowjetische Parteichef seine Zustimmung zur deutschen Vereinigung. Moskau versuchte diesen Bemühungen, vor allen Dingen aber dem Kurs der bundesdeutschen Führung in diese Richtung, erhebliche Hindernisse in den Weg zu legen. Im Nachhinein könnte man allerdings den Eindruck gewinnen, dass Gorbatschow immer mehr Einsicht gezeigt hätte. Es soll hier nicht der Verdienst des sowjetischen Generalsekretärs an der deutschen Einheit geschmälert, sondern lediglich versucht werden, diesen angemessen zu bestimmen. Nach meinem Dafürhalten hat Artur Hajnicz in seinem Buch „Polens Wende und Deutschlands Vereinigung“47 die zutreffendste Einschätzung gegeben. Sie wurde in den vorliegenden Untersuchungen bisher viel zu wenig beachtet und soll deshalb ausführlich zitiert werden: „Gorbatschow musste seinem schleichenden Machtverfall, der wesentlich durch die Demokratisierung in Polen vorangetrieben wurde durch Zugeständnisse an die Alliierten Tribut zollen. Damit sie durch materielle Unterstützung seine ,politische Macht‘ durch wirtschaftliche Hilfe in Russland gegen den Vormarsch demokratischer Kräfte aufrechterhielten. Der Lohn waren immer größere Zugeständnisse auf dem Weg zur deutschen Einheit. NATO-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands, Austritt der DDR aus dem Warschauer Pakt; Entscheidungen die keine sowjetische Führung unter anderen Bedingungen bei Strafe ihres eigenen Untergangs getroffenen hätte. Aber dem Perestroika-Glasnost-Generalsekretär blieb keine andere Wahl, die tiefgreifende politische Aufbruchsstimmung gegen eine kommunistische Herrschafts46 Vgl. Mieczyslaw Tomala, Polen und die deutsche Wiedervereinigung, Warschau 2004. 47 Artur Hajnicz, Polens Wende und Deutschlands Vereinigung. Die Öffnung zur Normalität 1989–1992, Paderborn/München/Wien/Zürich 1995.
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struktur generell und die unter Gorbatschow gewachsene wirtschaftliche Unfähigkeit hatte die Attraktivität der bürgerlichen Gesellschaft im vergehenden sozialistischen Lager wesentlich erhöht. Die Ankündigung von landesspezifischen Reformen durch die Kommunisten war von vorn herein eine Ankündigung zum Kampf mit Windmühlenflügeln, den man nur dort ernst nehmen konnte, wo man nicht selbst davon betroffen war. Gorbatschows Ausführungen zu Reformen waren schon bei ihrem Entstehen Potjomkinsche Dörfer. Gorbatschow reagierte bei seinen Zugeständnissen nicht aus Einsicht sondern aus Furcht vor der eigenen Isolation und zum Entsetzen der eigenen Genossen“.48 Auch das Eintreten Gorbatschows für die von Polen gewünschte Erklärung zur Oder-Neiße-Friedensgrenze war zwiespältig. Zunächst hoffte die sowjetische Führung Polen dadurch eng an sich zu binden. Denn mit dessen Unterstützung hätte Moskau eine weitaus stärkere Position in den Verhandlungen um die deutsche Vereinigung gehabt. Hinzu kam, dass die Anerkennung der Oder-NeißeGrenze eingebunden sein sollte in die Anerkennung aller nach dem 2. Weltkrieg bestehenden Grenzen. 1989 war nicht nur der 50. Jahrestag des Überfalls Deutschlands auf Polen, sondern auch der 50. Jahrestag des Überfalls der Sowjetunion auf Polen. In diesem Zusammenhang hatten die russischen Kommunisten nicht unbeträchtliche Teile Polens okkupiert, was im Potsdamer Abkommen festgeschrieben wurde. Mit der zunehmenden internationalen Diskussion über die polnische Westgrenze fürchtete Moskau auch eine Diskussion der polnischen Ostgrenze. Im Februar 1990 fand in Ottawa eine Konferenz über die außenpolitische Absicherung der deutschen Vereinigung statt. Es wurde ein Beschluss gefasst „Zwei-plus-Vier-Verhandlungen“ dazu einzuleiten, in denen auch die Interessen der Nachbarstaaten Deutschlands berücksichtigt werden sollten. Auf seinem Rückflug machte Hans-Dietrich Genscher in London Station um die britische Premierministerin Margret Thatcher, „über die Gespräche mit der sowjetischen Führung am 10./11.02. in Moskau und die nachfolgenden Konsultationen und Gespräche am Rande der Open Skies Conference am 12./13.02.1990 in Ottawa zur Vereinigung Deutschlands und damit zusammenhängender Fragen zu unterrichten“.49 Das Gespräch sollte etwas anders verlaufen, als sich das der Bundesaußenminister vorgestellt hatte: „PM eröffnete das Gespräch mit dem Hinweis auf derzeitigen Besuch polnischen PM Mazowiecki in GB und dessen Wunsch, Garantie der Oder-Neiße-Grenze in einem völkerrechtlichen Vertrag (treats), der bei den VN registriert werden müsse“. Thatcher kritisierte heftig, dass dies bisher noch nicht erfolgt sei. Sie betonte ausdrücklich, dass Mazowiecki es nur um 48 Artur Hajnicz, Polens Wende und Deutschlands Vereinigung. Die Öffnung zur Normalität 1989–1992. Die Öffnung zur Normalität 1989–1992, Paderborn/München/ Wien/Zürich 1995, S. 52. 49 Ber. aus London ohne Autor (wahrscheinlich Elbe), 14.02.1990, PA, ZA 178.927 E.
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diese Forderung der Polen gehe und nicht etwa um materielles Entgegenkommen. Genscher zeigte sich sichtlich beeindruckt von der offensichtlich sehr engagiert auftretenden „Eisernen Lady“. Versuche von ihm und dem ebenfalls anwesenden britischen Außenminister über Ottawa zu berichten, fegte sie förmlich beiseite und setzte ohne Kommentar ihre Erörterung zu Mazowieckis Forderung fort. Offensichtlich leicht eingeschüchtert verwies schließlich Genscher auf seine Stellungnahmen zur Oder-Neiße-Grenze: „Auf Feststellung von BM, dass zwischen ihm und der PM in der Substanz keine Meinungsverschiedenheiten bestünden, erwiderte diese, BM habe sich in dieser Frage immer klar geäußert, andere nicht. Die vertragliche Reglung müsse jeden Rechtsstreit (legal dispute) ausschließen“. Das „andere nicht“ war zweifellos gegen den Bundeskanzler gerichtet. Ähnliche Wirkungen wie bei Margret Thatcher hatten weitere Reisen von Mazowiecki und auch Skubiszewski in den nächsten Wochen nach Paris und später auch nach Washington. Neben dem Abschluss eines völkerrechtlichen Grenzvertrages forderte die polnische Führung die Teilnahme an den „Zwei-plus-VierVerhandlungen“, wenn es um Polen betreffende Fragen gehe. Die polnischen Auftritte waren ausgesprochen wirkungsvoll. Sogar der Bundeskanzler geriet massiv unter Druck und sah sich veranlasst nun endlich etwas zu unternehmen. In einer Rede in Paris sprach er die Notwendigkeit der Klärung der Oder-Neiße-Grenze an, ohne jedoch konkret zu werden. Auch der Vorschlag von Kohl, dass nach den ersten freien Wahlen zur Volkskammer beide deutsche Parlamente gleichlautende Erklärungen verabschieden, einen Grenzvertrag nach der Vereinigung abzuschließen, reichte der polnischen Regierung längst nicht aus. Mitterrand hatte in einem Interview auf die Frage, „ob nicht die unzweideutige Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze unerlässlich sei, mit einem trockenen ,ja‘ geantwortet und diese Auffassung auch in seinem gemeinsamen Auftritt vor der Presse mit dem Bundeskanzler am 15.02“ vertreten.50 Der Verfasser des Berichtes äußert die Vermutung: „Insgesamt ist die Frage der polnischen Westgrenze in der französischen öffentlichen Diskussion in den Vordergrund gerückt, die nicht erwarten lässt, dass die französische offizielle Seite uns bei einem weiteren Hinausschieben einer Regelung auf Grund ihrer im Viermächte Rahmen bestehenden Mitverantwortung öffentlich entlasten wird“.51 Die Wiederherstellung der Souveränität Deutschlands war eines der Kernziele bei den Zwei-plus-Vier-Vertragsverhandlungen. Es musste also etwas geschehen. Das internationale Eskalieren der Grenzdiskussion im Februar/März 1990 hatte zur Folge, dass Deutschland seine ursprüngliche Ablehnung gegenüber der Teilnahme Polens an den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen, wenn es um Grenzfragen ging, aufgab. Es kam zu einer Bundestagsdebatte zur polnischen Westgrenze, in der die Koalitionsfraktionen CDU/CSU und FDP einen Entschließungsantrag 50 51
Ber. Elfenkämpfer 01.03.1990, PA, AA, ZA 140.723 E. Ebd.
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einbrachten, dass der künftige gesamtdeutsche Souverän diese völkerrechtlich bestätigen werde. Nur fünf Unionsabgeordnete enthielten sich der Stimme. Teltschik bezeichnete das als „sensationell“.52 Tatsächlich war es ein Beweis, wie falsch Kohl die Folgen einer möglichen Grenzerklärung eingeschätzt hatte und nach wie vor einschätzte. Trotz der positiven, wenn auch kleinen Fortschritte, die von Seiten der Bundesregierung vor allem im März und April gemacht wurden, was auch die polnische Regierung anerkannte, beharrte Warschau auf einer völkerrechtlich gültigen Erklärung zur Oder-Neiße-Grenze vor der Vereinigung. Mazowiecki unterbreitete den Vorschlag, dass die beiden deutschen Parlamente nach den ersten demokratischen Wahlen in der DDR eine solche Erklärung paraphieren sollten. Die Ratifizierung und Unterschrift bräuchte erst nach Vereinigung erfolgen. Doch durch den Ausgang der Wahlen am 18. März 1990 in der DDR verhärtete sich wieder die Position des Bundeskanzlers. Der Grund war, dass die CDU einen unerwartet grandiosen Sieg gefeiert hatte. Als eine polnische Delegation am 19. März von Teltschik empfangen wurde, reagierte dieser ziemlich reserviert. Die derzeitige polnische Position nütze „weder Polen noch uns noch den beiderseitigen Partnern“. Insgesamt wirken Teltschiks Ausführungen, als wolle er die polnischen Vertreter dazu veranlassen ihre Forderungen nach einem Grenzvertrag vor der Vereinigung aufzugeben. Indirekt übt er sogar Kritik daran, dass Polen das Thema gegenüber „beiderseitige(n) Partner(n)“ – damit meinte er Frankreich und die USA – zur Sprache brächte.53 Immerhin hatte Polen damit erreicht, an den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen teilnehmen zu können. IX. Die „Grenzfrage“ und die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen Den Ausgang der ersten demokratischen Wahlen in der DDR beurteilte die polnische Regierung und Presse hoffnungsvoll. Gegenüber der „Gazeta Wyborcza“ äußerte der stellvertretende Regierungssprecher Wozniakowski, Polen zähle darauf, dass die Christlich Demokratische Regierung der DDR Verständnis für die polnischen Postulate zeigen werde. Auf die Zusatzfrage der Zeitung, ob dieses Wahlergebnis nicht bedeute, dass sich die Konferenz 2+4 praktisch in ein Gespräch 1 plus 4 verwandle, antwortete Wozniakowski, dies sei reine Spekulation.54 Gemeint war, ob es zwischen der bundesdeutschen und der DDR-Regierung auch Differenzen gebe, die Polen ausnützen könne.
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Horst Teltschik, 329 Tage, Berlin 1991, S. 169. Gespräch Teltschiks mit Karski und Sulek 19.03.1990, Dok. 223 in: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, S. 957. 54 Ber. Bauch 20.03.1990, PA, AA, ZA 140.71 E. 53
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Lothar de Maizière, der erste und letzte demokratisch gewählte Ministerpräsident der DDR, schien keine allzu großen Schwierigkeiten mit dem vorgegebenen Kurs von Kohl zu haben. Am 19. April 1990 legte er Teltschik seine nach Durchsicht Kohls korrigierte Regierungserklärung vor. Der hatte noch manche Einwände. Einen Punkt lobte er jedoch ausdrücklich: „De Maizière legt sich auf kein Verfahren zur Anerkennung der polnischen Westgrenze fest. Hier hat unsere Beratung und die Intervention des Kanzlers gewirkt“.55 Nicht ganz so unproblematisch war der neue Außenminister Markus Meckel von Seiten der DDR-SPD. Schon äußerlich missfiel dieser Teltschik: „Als wir das Zimmer des Ministerpräsidenten verlassen, kommt uns Außenminister Meckel entgegen – Pullover und Cordhose, als gehe er einer Freizeitbeschäftigung nach“.56 Meckel betrachtete seine Tätigkeit durchaus nicht als Freizeitbeschäftigung, wie sein Vorgehen in der Polenfrage zeigt. Er ließ sich nicht wie de Maizière „korrigieren“, sondern verfolgte eine eigene Strategie. Bevor er Bundesaußenminister Genscher einen Antrittsbesuch abstattete, reiste er nach Warschau.57 Ohne Zweifel ein gewisser Affront und eine Demonstration seiner Eigenständigkeit. Darüber hinaus ein Zeichen, welchen Stellenwert er den Beziehungen zwischen Ostberlin und Warschau beimaß. Mit dem Amtsantritt Meckels begann eine kurze Phase deutsch-deutscher Polenpolitik. Auch gegenüber dem Kohl sehr nahe stehenden de Maizière agierte Meckel weitgehend eigenständig. Am 24. April berichtete Meckel seinem bundesdeutschen Kollegen über die Vorstellungen der polnischen Regierung zur Oder-Neiße-Grenze. „(D)ie polnische Seite halte an dem Skubiszeski-Vorschlag fest, dass ein Grenzvertrag jetzt paraphiert und dann durch eine gesamtdeutsche Regierung unterzeichnet und ratifiziert werden sollte“.58 Es gab trilaterale Verhandlungen zwischen der Bundesrepublik, der DDR und Polen – allerdings ohne Ergebnisse.59 Die DDR-Delegation hatte letztlich die polnische Forderung sehr zum Verdruss der Bundesregierung unterstützt. Wohl aus diesem Grund lies die bundesdeutsche Delegation diese Verhandlungen Ende Mai platzen.60 Am 3. Mai fand in Warschau zur Vor55
Horst Teltschik, 329 Tage, Berlin 1991, S. 202. Ebd., S. 198. 57 Hans Misselwitz: In Verantwortung für den Osten, in: Elke Bruck/Peter M. Wagner (Hrsg.), Wege zum „2+4-Vertrag“. Die äußeren Aspekte der deutschen Einheit, S. 50. 58 Genscher – Meckel 24.04.1990, PA, AA, ZA 178.927 E. 59 Herbert Misselwitz, In Verantwortung für den Osten, in: Elke Bruck/Peter M. Wagner (Hrsg.), Wege zum „2+4-Vertrag“. Die äußeren Aspekte der deutschen Einheit, S. 62. 60 Über diese Verhandlungen und die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen, mit Schwerpunkt polnische Westgrenze, habe ich mehrere ausführliche Gespräche mit dem ehemaligen DDR-Außenminister Markus Meckel und seinem Staatssekretär Dr. Hans Misselwitz führen können. Aus Platzgründen erfolgt hier nur eine Darstellung in groben Zügen, in die auch die Auskünfte der beiden Politiker einfließen ohne jedoch ausdrücklich vermerkt zu werden. 56
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bereitung des ersten Außenministertreffens im Rahmen der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen auf Beamtenebene ein Gespräch statt. Von der polnischen Delegation wurde der Entwurf eines Grenzvertrages vorgelegt. Auch diesen unterstützt die DDR-Delegation, was auf Kritik bei der bundesdeutschen Delegation stieß.61 Auch wenn zwischen der polnischen und der DDR-Seite Einvernehmen darüber herrschte, dass ein Grenzvertrag zwischen Polen und Deutschland noch vor der Vereinigung paraphiert werden sollte, so gab es durchaus unterschiedliche, wenn nicht gegensätzliche, Auffassungen. So setzte sich die DDR für die Transformation der NATO und des Warschauer Paktes ein. Das entsprach ihren Abrüstungsbemühungen. Beide militärische Bündnissysteme sollten zunehmend politische Funktionen übernehmen. In Polen sah man diese Fragen ganz anders. Das hing nicht zuletzt mit der Oder-Neiße-Grenze zusammen, über deren völkerrechtliche Garantie durch Deutschland sich die Verhandlungen hinzogen. Am 21. März kam Außenminister Skubiszewski erstmalig mit dem NATO-Generalsekretär und dem NATO-Rat zusammen. Was den Warschauer Pakt und Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe anbetraf, sprach er von „in Auflösung begriffenen und praktisch kaum noch relevanten Institutionen“.62 Ganz anders fiel sein Urteil über die NATO aus: „AM (Außenminister – AM) hielt NATO in derzeitiger Form nicht für reformbedürftig. Er ging ohne irgendwelche Vorbehalte von baldiger deutscher Einigung aus und befürwortete NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschland. Nachdrücklich plädierte er gegen deutsche Neutralität.“63 Es lag auf der Hand, weshalb Polen überhaupt noch Mitglied des Warschauer Paktes war. Es handelte sich wohl nur noch um eine rein symbolische Mitgliedschaft, die dann endete, wenn die Oder-Neiße-Grenze gesichert war. Und so trat die groteske Situation ein, dass Polen als einer der letzten Staaten aus dem einst mächtigen sozialistischen Militärbündnis austrat. Unverkennbar gab es unterschiedliche Auffassungen über den Zeitpunkt des Abschlusses eines Grenzvertrages mit Polen zwischen beiden deutschen Staaten Mitte 1990. Wahrscheinlich wurde auch in Warschau erkannt, dass die demokratisierte DDR einen Vertragsabschluss vor der Vereinigung in Bonn nicht durchsetzen könnte. Deshalb setzte Polen seit Juli 1990 auf entsprechende Beschlüsse der Zwei-plus-Vier-Konferenz. Am 17. Juli 1990 sprach der polnische Außenminister auf dem Ministertreffen 2+4 in Paris. Er sagte unter anderem: „Die Notwendigkeit einer Regelung, an der die vier Mächte beteiligt sind, sowie die Notwendigkeit eines Vertrages zwischen der Republik Polen und dem vereinten Deutschland ergeben sich aus der Tatsache, dass jegliche Zweideutigkeit hinsichtlich des rechtlichen Status der polnisch-deutschen Grenze auszuräumen sind.“64 61 62 63
Horst Teltschik, 329 Tage, Berlin 1991, S. 215. Ber. Plötz 21.03.1990 PA, AA, ZA 156.313 E. Ebd.
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Der „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ wurde am 12. September 1990 in Moskau unterzeichnet: „Dass an erster Stelle des Vertragswerkes die endgültige Regelung der deutsch-polnischen Grenze steht, ist kein Zufall. An die Stelle der seit der Potsdamer Konferenz von 1945, dem letzten Treffen der drei alliierten Anti-HitlerMächte nach Teheran und Jalta, herrschenden rechtlichen Unverbindlichkeit war die Macht des Faktischen getreten.“, schreibt Hans Misselwitz.65 „Die Macht des Faktischen“ hat auch vermocht, dass erst am 14. November 1990 ein Grenzvertrag zwischen Polen und Deutschland abgeschlossen wurde.
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PA, AA, ZR 3269/64. Hans Misselwitz, In Verantwortung für den Osten, in: Elke Bruck/Peter M. Wagner (Hrsg.), Wege zum „2+4-Vertrag“. Die äußeren Aspekte der deutschen Einheit, München 1996, S. 66. 65
III. Verhandlungsstrategien
20 Jahre deutsche Einheit Verhandlungsstrategie West: Bonn Von Andreas Rödder I. Die Wiedervereinigung kam für die Bundesrepublik völlig überraschend. Bis Ende November 1989 war die deutsche Revolution eine Angelegenheit der Ostdeutschen. Bundeskanzler Kohl hatte zwar bereits im August öffentlich gesagt, als sich die Flüchtlingskrise über Ungarn aufbaute, die deutsche Frage stehe – „entgegen dem, was hier und da auch bei uns gesagt wird – nach wie vor auf der Tagesordnung der internationalen Politik.“ Zunächst aber blieb die Bundesregierung auf der Ebene der praktischen Politik bei der eingespielten pragmatischen Kooperation. „Es liege nicht in unserem Interesse“, so Kohl am 23. Oktober gegenüber George Bush, „daß möglichst viele Menschen aus der DDR weglaufen“1, und ebenso wenig zielte die Bundesregierung darauf, die DDR zu destabilisieren. „Wir wollten darauf hinwirken“, so beschied Kanzleramtsminister Seiters den Stellvertreter von Außenminister Baker, „daß sich die Lage für die Menschen in der DDR verbessere.“ Vorrangig seien das Selbstbestimmungsrecht und das Recht auf Freiheit: „Wie die Deutschen in der DDR ihre Rechte dann ausübten, wenn sie sie denn hätten, sei eine Angelegenheit, die nur z. T. von uns abhinge“2 – wobei Kohl nicht daran zweifelte, dass Selbstbestimmungsrecht und Wiedervereinigungswille zwei Seiten einer Medaille seien. Auf die Krise in der DDR reagierte die Bonner Regierung situativ, etwa in der Frage der Fluchtbewegung über Ungarn oder der Zufluchtsuchenden in den bundesdeutschen Vertretungen in Ost-Berlin, Prag und Warschau, und von der Eska-
1 Kohl gegenüber Bush in einem Telefongespräch am 23. Oktober 1989, in: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit, Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, bearb. von Hanns Jürgen Küsters und Daniel Hofmann, München 1998, Dok. 64, S. 459. 2 Gespräch zwischen Seiters und Eagleburger in Bonn, 7. September 1989, in: ebd., Dok. 37, S. 397; vgl. auch Teltschik gegenüber dem sowjetischen Botschafter Kwizinski am 29. September 1989, in: ebd., Dok. 50, S. 426: Selbstbestimmungsrecht „könne Einheit heißen, müsse es aber nicht zwangsläufig“.
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lation der Flüchtlingskrise zur Existenzkrise war sie genauso überrascht wie die Mehrheit der Zeitgenossen in Ost und West. Mit dem Fall der Mauer jedoch standen die Grenzen offen – und die deutsche Frage stand im Raum. In den Wochen danach machten sich in der DDR Desorientierung und Unsicherheit innerhalb der Bevölkerung breit. Dabei spaltete sich die Bürgerbewegung, die noch im Oktober das SED-Regime zum Einsturz gebracht hatte: Während die führenden Kräfte der Oppositionsbewegung am Runden Tisch nach einer reformierten und demokratisierten, eigenständigen DDR suchten, forderte die demonstrierende Massenbewegung zunehmend: „Wir sind ein Volk“ und „Deutschland einig Vaterland“. Unterdessen zögerte Kohl nach dem Fall der Mauer zwei Wochen lang, aus Sorge vor innerer Destabilisierung und vor internationalem Aufruhr, aber auch, weil in Bonn keinerlei Szenario für die Situation vorlag, die jetzt eingetreten war. „Die deutsche Politik von heute“, so ätzte die Welt am zweiten Sonntag nach der Maueröffnung, „ist unvorbereitet, weil sie Ideen, die über die westdeutsche Existenz und deren Besitzstand hinausweisen, fürchtet. [. . .] Und so kann es sein, daß der Mantel der Geschichte an ihr vorüberrauscht und sie glaubt, ein lästiger Windstoß habe gerade ein paar Aktenpapiere vom Schreibtisch gefegt.“3 Mit dem Zehn-Punkte-Programm vom 28. November 1989 aber, von dem vorher nur eine Handvoll Eingeweihter wusste, landete Kohl seinen ersten wiedervereinigungspolitischen Coup. Es gelang ihm, die Meinungsführerschaft in der deutschen Frage zu übernehmen. Und vor allem hatte er instinktiv, wie wohl kein anderer bundesdeutscher Politiker außer vielleicht Willy Brandt, die Stimmung in der DDR-Bevölkerung und ihre Entwicklungsrichtung erfasst. Mit der nationalen Wende im November 1989 begann die Scharnierzeit zwischen den beiden Phasen der deutschen Revolution: dem ostdeutschen Sturz des SED-Staates im Herbst 1989 und der deutschen Wiedervereinigung 1990. In dieser Scharnierzeit wechselten zugleich die maßgeblichen Handlungsebenen und Inhalte, Richtungen und Akteure. War die Bonner Regierung, war nicht zuletzt Helmut Kohl selbst zunächst eher der Agent der Massenbewegung in der DDR und ihres Willens zur Wiedervereinigung, so wurden der westdeutsche Kanzler und seine Regierung innerhalb weniger Wochen zur bestimmenden vereinigungspolitischen Kraft. Angesichts des zunehmenden inneren Zerfalls der DDR ging Bonn Anfang 1990 zu einer „Politik der großen Schritte“4 über und nahm das innerdeutsche 3 Herbert Kremp, „Wie Kesselflicker“, in: Welt am Sonntag vom 19. November 1989. 4 Aufzeichnung des Ministerialdirigenten Hartmann vom 29. Januar 1990, in: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit, Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, bearb. von Hanns Jürgen Küsters und Daniel Hofmann, München 1998, Dok. 151, S. 727.
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Geschehen nunmehr entschlossen in die eigene Hand. Am 7. Februar landete Kohl seinen zweiten vereinigungspolitischen Coup: Ohne zuvor die Bundesbank und das Bundeswirtschaftsministerium zu konsultieren, schlug der Kanzler vor, mit der DDR „unverzüglich in Verhandlungen über eine Währungsunion mit Wirtschaftsreformen einzutreten“.5 Die Bundesregierung hatte sich damit auf einen direkten, stufenlosen Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft festgelegt. Damit griff sie direkt auf die DDR zu, der das Angebot den geld- und währungspolitischen Souveränitätsverlust abforderte. Damit lag zugleich das Bonner Einheitskonzept fest: eine Wiedervereinigung durch möglichst uneingeschränkte Übertragung der bundesdeutschen Ordnung auf die DDR, mithin eine Einheit nach westlichem Modell und zu westlichen Bedingungen – innerdeutsch und international. Wenn dabei nach der „Verhandlungsstrategie“ Bonns gefragt wird, so ist zu bedenken, dass dieser Begriff schnell ein höheres Maß an autonomer Gestaltungsfähigkeit suggeriert, als es die Umstände den Beteiligten wirklich gestatteten. Denn ein zentrales Problem – 1989 noch mehr als 1990 – lag darin, den überstürzten Prozess überhaupt zu steuern. Dabei waren grundlegende Richtungsentscheidungen bei höchst eingeschränkter Fernsicht zu treffen und zugleich schier unzählige verschiedenste Sachverhalte binnen kürzester Zeit zu regeln: von der Bündniszugehörigkeit bis zur Apothekenordnung, vom Rundfunkwesen bis zur Kommunalverfassung, nicht zu vergessen die präzedenzlose Privatisierung einer gesamten Staatswirtschaft. II. Auch auf internationaler Ebene markierten Kohls Zehn Punkte eine Zäsur. Die deutsche Frage stand nun nicht mehr nur im Raum, sondern auch auf der politischen Tagesordnung. Das löste in vielen Regierungszentralen bekanntlich keineswegs ungeteilte Freude aus. So etwas hätte sich „nicht einmal Hitler erlaubt“, soll der sowjetische Außenminister Schewardnadse seinem deutschen Amtskollegen am 5. Dezember in Moskau entgegen geschleudert haben. Jedenfalls war die tiefe sowjetische Verstimmung unverkennbar6, und auch Margaret Thatcher und François Mitter5 Zit. nach Dieter Grosser, Das Wagnis der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Politische Zwänge im Konflikt mit ökonomischen Regeln (= Geschichte der deutschen Einheit, Bd. 2), Stuttgart 1998, S. 184; wortgleich die Erklärung von Seiters vor dem Bundestag am 7. Februar, in: Texte zur Deutschlandpolitik, hrsg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Reihe III/Bd. 8a: 10. Januar 1990–23. August 1990, Bonn 1991, S. 54. 6 Gorbatschow und Schewardnadse gegenüber Genscher in Moskau am 5. Oktober 1989, zit. nach Alexander Galkin/Anatoli Tschernjajew (Hrsg.), Michail Gorbatschow i germanski wopros. Sbornik dokumentow, 1986–1991 [Michail Gorbatschow und die
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rand sprachen über die Notwendigkeit besonderer anglo-französischer Beziehungen, „wie 1913 und 1938“.7 Dass sich der Widerstand gegen die Bonner Vereinigungsdiplomatie nicht bis zur Unüberwindlichkeit aufbaute, lag in erster Linie an der Reaktion der US-Regierung. Schon einen Tag nach Kohls Zehn-Punkte-Programm gab sie „vier Prinzipien“ bekannt, auf deren Grundlage sie eine deutsche Wiedervereinigung unterstützte. Das wichtigste war die fortgesetzte Zugehörigkeit auch eines vereinten Deutschlands zur Europäischen Gemeinschaft und zur NATO. Was Washington anstrebte, war nichts anderes als eine deutsche Wiedervereinigung zu westlichen Maximalkonditionen. Auffällig war jedoch, jedenfalls fiel es in Washington auf, dass sich Bonn zunächst zu diesen Bündnisfragen nicht öffentlich äußerte. Die schwarz-gelbe Koalition war zwar, im Gegensatz zur Opposition, einig darin, dass die Bundesrepublik in der NATO verbleiben solle. Die konkreten Vorstellungen darüber variierten allerdings sehr. Sie reichten von Vorstellungen einer vollständigen Integration des DDR-Gebietes in die NATO bis hin zu einer faktischen bündnispolitischen Neutralität des Territoriums der DDR in einem vereinten Deutschland, wie es etwa Genscher vorschwebte. Dass sich der Außenminister mit dieser Position im Februar 1990 durchzusetzen schien, beunruhigte die Verantwortlichen in Washington. Und so schlossen Bush und Baker Ende Februar 1990, als Kohl – ohne Genscher – zu informellen Gesprächen nach Camp David reiste, einen „historischen Handel“ mit Bonn, wie es Bushs Sicherheitsberater Scowcroft formulierte: die volle Aufrechterhaltung der deutschen NATO-Verpflichtungen gegen die amerikanische Abschirmung des Vereinigungsprozesses nach außen. Bonn und Washington verabredeten in Camp David, unter beinahe vollständiger Harmonisierung der beiderseitigen Positionen, eine für den weiteren Fortgang wegweisende Aufgabenteilung: die Bundesregierung sorgte für die innerdeutsche Administration der Wiedervereinigung und für die materielle Ausgestaltung gegenüber der Sowjetunion, während die US-Regierung die Federführung auf internationaler und sicherheitspolitischer Ebene übernahm. deutsche Frage. Eine Dokumentensammlung 1986–1991], Moskau 2006, S. 273–284 (Zitate: 276–279 und 283, dort allerdings nicht das Hitler-Zitat), vgl. auch, offenkundig dasselbe Protokoll zitierend Alexander von Plato, Die Vereinigung Deutschlands – ein weltpolitisches Machtspiel. Bush, Kohl, Gorbatschow und die geheimen Moskauer Protokolle, Berlin 2002, S. 127–134 und dort S. 132 das Hitler-Zitat, sowie Philip Zelikow/ Condoleezza Rice, Sternstunde der Diplomatie. Die deutsche Einheit und das Ende der Spaltung Europas, Berlin 1997, S. 199 f. mit S. 553 f. Anm. 98 (dort ebenfalls das Hitler-Zitat). 7 Jacques Attali, Verbatim. Tome III: Chronique des années 1988–1991, Paris 1995, S. 370; vgl. auch Margaret Thatcher, The Downing Street Years, London 1993, S. 796 f., und Robert L. Hutchings, American Diplomacy and the End of the Cold War. An Insider’s Account of U.S. Policy in Europe, 1989–1992, Washington D.C. 1997, S. 96 mit Anm. 22.
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Das galt insbesondere für die zentrale Frage nach der Bündniszugehörigkeit eines vereinten Deutschland, denn dessen NATO-Mitgliedschaft lehnte die Sowjetführung, als sie sich überhaupt mit einer Wiedervereinigung an sich abgefunden hatte, zunächst rundheraus ab. Dabei sagte Kohl in Camp David ganz zutreffend voraus, „ob es nicht denkbar wäre, daß die Sowjetunion so spiele, daß sie zunächst einmal Gespräche im Rahmen Zwei plus Vier führen und dann ein letztes Wort mit dem Präsidenten der USA im Juni bei dem Gipfel haben wolle. [. . .] Die Sowjetunion habe aus der Sicht Gorbatschows in Wahrheit nur einen Partner, nämlich die USA. [. . .] Gorbatschow wolle mit der anderen Weltmacht abschließen.“8 So kam es in der Tat, freilich unter ganz ungewöhnlichen Umständen. Direkt am Verhandlungstisch in Washington vollzog Gorbatschow, zum Entsetzen der sowjetischen und zur völligen Verblüffung der amerikanischen Delegation, am 31. Mai eine glatte Kehrtwende. Er stimmte zu, dem vereinten Deutschland selbst die Wahl des militärischen Bündnisses zu überlassen, dem es angehören wolle – und dass dies die NATO sein würde, war kein Geheimnis. Damit war der Durchbruch in der Bündnisfrage erzielt, doch die konkrete Gestaltung blieb noch auszuhandeln – und dies geschah Mitte Juli 1990 beim sowjetisch-deutschen Gipfel im Kaukasus. Nach windungsreichen Verhandlungen sagte die Sowjetunion zu, binnen vier Jahren ihre Truppen vom Territorium der DDR abzuziehen, das mit einigen Sonderregelungen in die NATO überführt wurde. Kodifiziert wurden diese Regelungen im „Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland“ am 12. September 1990 durch die Außenminister der beiden deutschen Staaten und der vier alliierten Siegermächte des Zweiten Weltkrieges. Der „Zwei-plus-Vier“-Prozess war im Februar eingesetzt worden, um ein geordnetes internationales Verfahren zur Herstellung der deutschen Einheit zu gewährleisten und die Beteiligten einzubinden. Diese Konferenz trat auf der Ebene der Außenminister insgesamt vier Mal zusammen, und sie trug alle Züge der Schwerfälligkeit solcher Konferenzen, begonnen mit Fragen der Tagesordnung. Die wesentlichen Entscheidungen fielen unterdessen auf „Zweiplus-Eins“-Ebene, jeweils bilateral im Dreieck Washington-Moskau-Bonn, und dort in erster Linie zwischen Bush, Gorbatschow und Kohl. Die Diplomatie der DDR blieb in diesem Prozess je länger, je mehr außen vor, und sie hatte auch strukturell keine Chance: Die neuen Verantwortungsträger, die nach den Volkskammerwahlen ins Amt kamen, waren allgemein politisch, und erst recht auf dem internationalen Parkett völlig unerfahren, und als sie jene hundert Tage im Amt waren, die jeder Regierung üblicherweise zur Einarbeitung zu8 Aufzeichnung des Gesprächs zwischen Bush und Kohl in Camp David, 25. Februar 1990, in: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit, Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, bearb. von Hanns Jürgen Küsters und Daniel Hofmann, München 1998, DzD Deutsche Einheit, Dok. 193, S. 877.
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gestanden werden, waren alle wesentlichen Entscheidungen bereits gefallen. Zudem vermochten die professionellen westdeutschen Diplomaten die bürgerbewegten Ost-Berliner Akteure in Cordhosen und Birkenstock-Sandalen nicht wirklich als satisfaktionsfähige Partner anzusehen.9 Dahinter standen unterschiedliche Kommunikations- und Repräsentationsstile, überhaupt Grundauffassungen von Politik seitens des professionellen, zumal des westlichen politischen Betriebs einerseits und der Bürgerrechtsbewegung andererseits. Sie hatte damit unter den Sonderbedingungen des Umbruchs im Herbst 1989 reüssiert; mit den politischen Anforderungen unter den so schnell wieder geänderten Bedingungen erwies sie sich jedoch als inkompatibel. Zudem hatte Außenminister Markus Meckel Berater aus der westdeutschen Friedensbewegung engagiert, mit deren Hilfe er im Juni einen sicherheitspolitischen Vorschlag für ein vereintes Deutschland unterbreitete. Als dieser nicht einmal vom sowjetischen Außenminister aufgriffen wurde,10 stand die ebenso eigenwillige wie strukturell chancenlose Ost-Berliner Außenpolitik endgültig im Abseits der Vereinigungsdiplomatie. Auf diesem Wege setzten Bonn und vor allem Washington mit der NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschland eine Lösung der deutschen Frage durch, die nahe an der Maximalposition des Westens lag und alle Erwartungen aus der Zeit des Ost-West-Konflikts bei weitem übertraf. Die „Teilung Europas zu überwinden und eine auf westlichen Werten gegründete Einheit zu schmieden“, hatte George Bush im Frühjahr 1989 als Devise des Westens für das Finale des OstWest-Konflikts ausgegeben11 – auf mittlere Sicht dehnte sich das westliche Verteidigungsbündnis nach Osten bis an die Grenzen der ehemaligen Sowjetunion aus, und darüber hinaus. III. Mit dem Übergang zur „Politik der großen Schritte“ und dem Angebot der „Währungsunion mit Wirtschaftsreformen“ vom 7. Februar hatte sich die Bonner Regierung auf einen stufenlosen Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft festgelegt, und auf die vollständige Integration der DDR in das bundesdeutsche Modell. Damit griff Bonn direkt auf die DDR zu, und zugleich ließ sie die Regierung Modrow, der Anfang Februar auch Vertreter der Oppositionsbewegung bei9 Vgl. Richard Kiessler/Frank Elbe, Ein runder Tisch mit scharfen Ecken. Der diplomatische Weg zur deutschen Einheit, Baden-Baden 1993, S. 189–201, bes. S. 195 und 198, Zitate: S. 180 und 191; und Horst Teltschik, 329 Tage. Innenansichten der Einigung, Berlin 1991, S. 198. 10 Vgl. Werner Weidenfeld mit Peter M. Wagner/Elke Bruck, Außenpolitik für die deutsche Einheit (= Geschichte der deutschen Einheit, Bd. 4), Stuttgart 1998, S. 476 f. 11 Public Papers of the Presidents of the United States. George Bush, 1989/I, Washington D.C. 1990, S. 638.
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getreten waren, am ausgestreckten Arm verhungern. Als Modrow einen milliardenschweren „Lastenausgleich“ von der Bundesrepublik forderte, wies Kohl dies allein schon begrifflich zurück. Die Bundesregierung wollte aber auch keine funktionsunfähigen Strukturen subventionieren, und sie verlegte sich darauf, erst mit einer frei gewählten Regierung in der DDR zu verhandeln, der freilich schon vor ihrer Wahl die ohnehin schnell verrinnende Zeit davonlief. Unmittelbar fühlbar wurde diese Konstellation, als Modrow mit seiner Regierung Mitte Februar zu einer Bundesregierung nach Bonn reiste, der Gorbatschow soeben die sowjetische Zustimmung zur Wiedervereinigung konzediert hatte. Kohl dominierte und lehnte abermals unkonditionierte Bonner Milliardenhilfen für die DDR ab. Matthias Platzeck brachte die gesamte Enttäuschung der Oppositionsbewegung in der DDR zum Ausdruck: „Es gebe den Eindruck einer gewissen Fremdsteuerung. Hilfe der BRD wäre früher notwendig gewesen. Kohl habe sie angekündigt, doch nichts sei gekommen. Es sei Soforthilfe erforderlich. Mit den ,Brüdern und Schwestern‘ dürfe man nicht taktieren. Die Ziele des Oktobers dürften nicht umsonst gewesen sein.“12
Bei der Nachlese am Runden Tisch in Ost-Berlin herrschte Verbitterung.13 Dafür „schimmerte eine neue DDR-Identität auf, eine jetzt gegen die Bundesrepublik gerichtete Solidargemeinschaft“, notierte der westdeutsche Politikwissenschaftler Uwe Thaysen, der die gesamten Beratungen des Runden Tisches als Augenzeuge verfolgte und dokumentierte. Eine Mischung aus „Selbstwertbehauptung und Wagenburgmentalität“ machte sich breit.14 Zugleich griff die westliche Dominanz auch auf die Kommunikationsformen über. Im Volkskammerwahlkampf wurde die politische Öffentlichkeit einer offenen Diskursivität, die sich in der DDR im Zeichen des „Dialogs“ im Herbst 1989 herausgebildet hatte, überlagert von der westlichen Werbesprache plakativer Botschaften. Wie sich schlussendlich jedoch zeigte, traf dieser Tonfall die Mehrheitsstimmung der Ostdeutschen. Das Wahlergebnis vom 18. März bedeutete in der Tat „Kohls Triumph“, wie der Spiegel titelte, und es gab Bonn seitens der Ostdeutschen und ihres Selbstbestimmungsrechts das Mandat zur schnellen Wiedervereinigung nach westlichen Bedingungen. Dies bedeutete, dass die DDR nach Artikel 23 des Grundgesetzes der Bundesrepublik beitrat. „Es gibt das Grundgesetz, und es gibt die Bundesrepublik 12 Bericht über den Besuch, in: Detlef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan, Von Hubertusstock nach Bonn. Eine dokumentierte Geschichte der deutsch-deutschen Beziehungen auf höchster Ebene 1980–1987, Berlin 1995, Dok. 63, S. 309. 13 Vgl. Tagesordnungspunkt 2 der 13. Sitzung des Zentralen Runden Tisches am 19. Februar 1990, in: Uwe Thaysen (Hrsg.), Der Zentrale Runde Tisch der DDR: Wortprotokoll und Dokumente, Bd. 3: Neuer Machtkampf, Wiesbaden 2000, S. 783–795. 14 Uwe Thaysen, Der Runde Tisch oder: Wo blieb das Volk? Der Weg der DDR in die Demokratie, Opladen 1990, S. 139 und 142.
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Deutschland“, so brachte Innenminister Schäuble – der freilich auf ostdeutscher Seite als harter, aber aufrichtiger Verhandlungspartner geschätzt wurde – die Bonner Haltung auf den Punkt. „Laßt uns von der Voraussetzung ausgehen, daß ihr vierzig Jahre lang von beiden ausgeschlossen wart. Jetzt habt ihr einen Anspruch auf Teilnahme, und wir nehmen darauf Rücksicht.“15 So blieben auch die Staatssymbole der Bundesrepublik – Hymne und Flagge – unverändert. Als Lothar de Maizière vorschlug, Hoffmann von Fallerslebens „Einigkeit und Recht und Freiheit“ um eine zweite Strophe zu ergänzen und zur selben Melodie Joseph Haydns den in der DDR seit den siebziger Jahren nicht mehr gesungenen Text der Becher-Hymne – „Auferstanden aus Ruinen“ mit dem Passus „Deutschland einig Vaterland“ – zu singen, sah Kohl dies, auch noch im Nachhinein, völlig verständnislos als Versuch an, „die deutsche Einheit für jedermann sichtbar als Bruch auch mit der bundesrepublikanischen Kontinuität festzuschreiben“16. Demgegenüber gestaltete sich die Verhandlungsposition der DDR-Regierung denkbar ungünstig. Die Volkskammerwahlen hatten ihr den Auftrag zur Selbstauflösung erteilt, und in den Verhandlungen mit der Bundesrepublik besaß sie keine Exit-Option. Zudem herrschte eine ganz unvermeidliche Diskrepanz zwischen den professionellen westdeutschen Apparaten und den unerfahrenen, oftmals moralisierenden ostdeutschen Verantwortungsträgern – und noch einmal: die wesentlichen Entscheidungen fielen zumeist innerhalb der ersten hundert Tage dieser Regierung. Bonn vollzog die deutsche Wiedervereinigung in den Denkmustern der ,Erfolgsgeschichte‘ der ,alten Bundesrepublik‘ und der Systemkonkurrenz des OstWest-Konflikts. Die DDR erschien in dieser Sichtweise ausschließlich als Unterdrückungssystem und Misswirtschaft, und demzufolge fand keine gleichberechtigte Vereinigung von zwei Partnern statt, sondern, in Übereinstimmung mit dem Selbstbestimmungsrecht der Ostdeutschen, eine Wiedervereinigung nach westlichen Maßstäben, durch den Beitritt der gescheiterten DDR zur erfolgreichen Bundesrepublik, die in der Wiedervereinigung wenig eigenen Veränderungsbedarf erkannte. Sachlich war dies nach Lage der Dinge weitestgehend unumgänglich. Die DDR brachte materiell nichts mit und begab sich in die „Obhut eines reichen 15 Wolfgang Schäuble, Der Vertrag. Wie ich über die deutsche Einheit verhandelte, Stuttgart 1991, S. 131. 16 Vgl. das Protokoll der ersten Verhandlungsrunde über den Vertrag zur Herstellung der Einheit Deutschlands, Berlin, 6. Juli 1990, in: Dokumente zur Deutschlandpolitik. Deutsche Einheit, Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, bearb. von Hanns Jürgen Küsters und Daniel Hofmann, München 1998, Dok. 345, S. 1327; Helmut Kohl, Erinnerungen 1990–1994, München 2007, S. 192 f. (das Zitat S. 192).
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Verwandten“.17 Dessen dementsprechend selbstbewusste Haltung traf unterdessen auf eine Melange ostdeutscher Gefühlslagen und Befindlichkeiten zwischen tiefer Verunsicherung und hohen Erwartungen, die sich, bei allem Willen zur Einheit, von den westdeutschen Perspektiven deutlich unterschieden. Die ostdeutsche Regierung und diejenigen, deren Vorstellungen sie zum Ausdruck brachte, gingen davon aus, eine eigene, aus der Erfahrung und der Überwindung der Diktatur gespeiste Geschichte und Würde in die deutsche Einheit einzubringen, die – trotz allem – auf möglichst gleicher Augenhöhe stattfinden sollte. Dieser Wille zur Selbstbehauptung speiste sich auch aus einem Gefühl historischer Benachteiligung, aus dem ostdeutsche Gerechtigkeitsansprüche auf Unterstützung durch den Westen abgeleitet wurden, die sich wiederum mit übergroßen Hoffnungen schnellen Wohlstands und wenig marktwirtschaftlichen Vorstellungen weiterhin regulierender und fürsorgender staatlicher Tätigkeit verbanden. Spätestens in der zweiten Phase der deutschen Revolution waren grundlegende Differenzen zwischen östlichen und westlichen Perspektiven angelegt und somit strukturelle Spannungen bei ganz ungleicher Kräfteverteilung. Dabei vermochte die in vieler Hinsicht so unterlegene DDR-Regierung sich am ehesten im Hinblick auf die sozialpolitische Ausgestaltung der deutschen Einheit im Rahmen des ersten Staatsvertrags zu behaupten.18 Denn hier traf sie auf eingespielte Mechanismen der bundesdeutschen Konsensdemokratie im Vollgefühl der Prosperität: sachpolitische Notwendigkeiten hinter die Erfüllung unmittelbarer Bedürfnisse zurückzustellen. Allerdings taten sich im Falle der Wiedervereinigung immer wieder aporetische Dilemmata auf, blieb „nur die Wahl zwischen zwei schlechten Lösungen“19. Ein signifikantes Beispiel ist der Umstellungskurs der Währungsunion. Eins zu eins für die laufenden Zahlungen war gesellschaftlich-politisch unvermeidlich, weil ein Einkommensniveau, das weniger als 20% des westdeutschen betragen hätte, in den neuen Ländern nicht durchsetzbar gewesen wäre, jedenfalls nicht ohne weitere Massenabwanderung. Ökonomisch hingegen war der Kurs verheerend, weil er die marode ostdeutsche Wirtschaft endgültig ihrer Wettbewerbsfähigkeit beraubte. Am 18. Mai, 36 Tage nach dem Amtsantritt der Regierung de Maizière, wurde in Bonn der erste Staatsvertrag unterzeichnet. Zur Wirtschafts- und Währungsunion kam eine Sozialunion hinzu, mit der auch der westdeutsche Sozialstaat auf 17 Dieter Grosser, Das Wagnis der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Politische Zwänge im Konflikt mit ökonomischen Regeln (= Geschichte der deutschen Einheit, Bd. 2), Stuttgart 1998, S. 310. 18 Vgl. ebd., S. 307–310, und Gerhard A. Ritter, Der Preis der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaates, München 2006, S. 272 f. 19 Lothar de Maizière, Anwalt der Einheit. Ein Gespräch mit Christine de Mazière, Berlin 1996, S. 101.
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die neuen Länder übertragen wurde. Die Bonner Hoffnung lief darauf hinaus, mit einiger Anschubhilfe innerhalb kurzer Zeit westdeutsche Bedingungen im Osten zu schaffen: einen Boom, ein neues Wirtschaftswunder zu entfachen, das dann auch die sozialen Sicherungssysteme tragen würde. Als dieser Aufschwung ausblieb, der Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft stattdessen viel „dramatischer verlief, als es selbst Pessimisten erwartet hatten“20, ging Bonn von der Hoffnung auf die Kräfte des Marktes zu aktiver Arbeitsmarktpolitik und schließlich zur kostspieligen Industriepolitik der „Sicherung industrieller Kerne“ über. Für den zweiten Staatsvertrag ging die Federführung auf das Innenministerium über. Dabei stellte sich die Frage, ob überhaupt ein Vertrag erforderlich sei, oder ob die DDR einfach dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitreten und die notwendigen Regelungen über die reguläre Gesetzgebung und Überleitungsgesetze erfolgen sollten. Die Entscheidung für den Vertrag fiel insbesondere auf Drängen der ostdeutschen Seite, die auf diese Weise als eigenständiger Verhandlungspartner auftreten wollte, die freilich mit fortschreitender innerer Krise permanent an Verhandlungsposition verlor. Aus bundesdeutscher Warte hatte ein Vertrag den Vorteil, dass er gebündelte, konzise Lösungen statt langwieriger Übergangsregelungen ermöglichte, wobei es der Bonner Verhandlungsposition zugutekam, dass sie auf den Vertrag nicht angewiesen war. Der Vertrag von mehr als 1.000 maschinenschriftlichen Seiten, der am 31. August paraphiert wurde, stellte schließlich eine Großleistung der Ministerialbürokratie dar, der sich im Zuge der Vereinigung für wenige Monate historisch ungewöhnlich weitreichende Entscheidungsspielräume eröffneten. IV. Institutionell war das, was mit der Wiedervereinigung 1990 ausgehandelt und umgesetzt wurde, grundsätzlich alternativlos. Weder zeitgenössisch noch nachträglich ist eine grundsätzliche alternative Option identifiziert worden, die den drei fundamentalen Anforderungen von 1989/90 genügt hätte: die DDR in einen freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat zu verwandeln, Wohlstand für die Ostdeutschen zu schaffen und zugleich die Massenabwanderung aus der DDR zu stoppen. Das zentrale Problem der Gestaltung der deutschen Einheit lag nicht in den institutionellen Arrangements, sondern in den Haltungen und Erwartungen – auf beiden Seiten. Die Ostdeutschen richteten überhohe Erwartungen an den westdeutschen Staat, die von zu tiefen Enttäuschungen abgelöst wurden. Diese manifestierten sich in einer unzufriedenen Abgrenzungsmentalität, sich als „Bürger zweiter Klasse“ zu fühlen. 20 Gerlinde und Hans-Werner Sinn, Kaltstart. Volkswirtschaftliche Aspekte der deutschen Vereinigung, München 1993, S. 34.
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Auf der anderen Seite erwies sich die westdeutsche Erwartung, die Übertragung der bundesdeutschen Ordnung auf die DDR werde in den neuen Ländern automatisch ein neues Wirtschaftswunder in Gang setzen und die benachteiligten Ostdeutschen in zufriedene Bundesbürger verwandeln, als zweifache Fehleinschätzung. Erstens zeigte die ökonomische Entwicklung, wie sehr das „Wirtschaftswunder“ als Gründungslegende der Bundesrepublik überschätzt wurde, während die Dimension der Probleme und der Aufgaben der Wiedervereinigung erheblich unterschätzt wurde. Hinzu kam, zweitens, die ironischerweise eher marxistische Einschätzung, dass materielle Bedingungen unmittelbare bewusstseinsmäßige Folgen zeitigen würden, dass materieller Wohlstand in den neuen Ländern – und der Wohlstandsschub trat ja für die überwiegende Mehrzahl der Bevölkerung sehr wohl ein – zufriedene Bundesbürger schaffen werde. Dass kulturelle Prägungen hingegen ihr Eigengewicht haben, dass die DDR für die Ostdeutschen nicht nur Unterdrückungsstaat und Misswirtschaft war, sondern auch Sozialisationsraum und Alltagsort, der die Beteiligten, wie Lothar de Maizière am 2. Oktober 1990 formulierte, nie los lassen werde21, blieb in diesem bundesdeutschen Kalkül aus der Zeit des Kalten Krieges unberücksichtigt und unverstanden. Umso überraschender stellten sich die politisch-kulturellen Differenzen dann als grundlegend und hartnäckig heraus – ob sozialisiert oder situativ bedingt, es ist wohl beides, und jedenfalls haben sie sich inzwischen, wenn wir den Umfragedaten glauben, strukturell eher verfestigt. Im Hinblick auf die Haltungen kam schließlich ein weiteres Problem hinzu: mit der Wiedervereinigung flossen nämlich zwei Ströme von Staatsorientierung zusammen. Auf ostdeutscher Seite überlebte die gleichheitsorientierte Tradition des rundumversorgenden Fürsorgestaates das Ableben der DDR. Zugespitzt gesagt: Die Ostdeutschen legten die Macht, die sie dem SED-Staat entrissen hatten, in die Hände des westdeutschen Sozialstaats. Dieser wiederum befand sich schon vor der Wiedervereinigung auf dem Vormarsch, und er hatte sich längst von einer Sicherungsinstanz gegen existentielle Risiken zum „Generalagenten der Lebenszufriedenheit“22 der Bürger mit nahezu allumfassender Zuständigkeit entwickelt – dass dies auf einem dauerhaft nicht finanzierbaren Leistungsniveau geschah, stand allerdings im öffentlichen Bewusstsein der Westdeutschen hinter der selbstgewissen „Erfolgsgeschichte“ vom „Modell Deutschland“ zurück. Wenn der Bundeskanzler versprach, niemand im Westen werde „wegen der Vereinigung
21 Vgl. Fernsehansprache de Maizières vom 2. Oktober 1990, in: Texte zur Deutschlandpolitik, hrsg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Reihe III/8b: 31. August 1990–31. Dezember 1990, Bonn 1991, S. 701 f. 22 Annette Zimmer, Staatsfunktionen und öffentliche Aufgaben, in: Thomas Ellwein/ Everhard Holtmann (Hrsg.), 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Rahmenbedingungen – Entwicklungen – Perspektiven, Opladen 1999, S. 211–228, hier: S. 224.
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Deutschlands auf etwas verzichten müssen“23, und es nicht wagte, vor den Wahlen an eine national-solidarische Verzichtbereitschaft für die deutsche Einheit zu appellieren, dann reflektierte dies den besitzstandswahrenden Konsens zwischen Regierenden und Regierten im „Modell Deutschland“, unumgängliche Zumutungen zugunsten kurzfristiger Bedürfnisbefriedigung zu vermeiden. Dass dies von der Realität dann doch eingeholt zu werden pflegt, ist eine andere, freilich durchaus aktuelle Frage.
23 Erklärung Kohls vor dem Deutschen Bundestag, in: Texte zur Deutschlandpolitik, hrsg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, Reihe III/Bd. 8a: 10. Januar 1990–23. August 1990, Bonn 1991, S. 396. Vgl. auch Gerhard W. Dittrich, Staatsund Marktversagen. Strategien ostdeutscher Unternehmen im Kontext der Wiedervereinigung, Linz 2003, S. 76.
Die Wiedervereinigung Deutschlands – historische Anmerkungen Von Ilko-Sascha Kowalczuk Das Tempo des Einigungsprozesses bestimmte die ostdeutsche Gesellschaft, der Einfluss der Westparteien darauf wurde ab Anfang 1990 immer stärker und dann mit dem Wahlausgang vom 18. März 1990 – der einem Plebiszit für Art. 23 GG gleichkam – entscheidend. Einen „Dritten Weg“ für die DDR erträumten nur Minderheiten – auch innerhalb der Bürgerrechtsbewegung. Wir haben 2009 intensiv über die Revolution von 1989 debattiert und viel Neues erfahren können.1 Im Kern der historischen Ereignisse und Vorgänge ging es um Freiheit.2 Weniger relevant war dabei zunächst den meisten Menschen die Frage, wie sich das System nennen solle, das künftig Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit garantieren solle. Die nationale Frage stand bis zum 9. November 1989 vor allem deshalb nicht im Zentrum, weil weder jemand mit einem so raschen „9. November“ rechnete noch weil es in Ost wie West für möglich gehalten wurde, dass Moskau die europäische Jalta-Nachkriegsordnung buchstäblich über Nacht ohne signifikante Gegenwehr und Gegenleistung aus der Hand geben würde. Gorbatschow wollte einen wie auch immer gearteten demokratischen Kommunismus kreieren, er wollte weder den Kommunismus noch den Ostblock abschaffen. Dies wird seit fast 20 Jahren in Deutschland geflissentlich übersehen, unsere osteuropäischen Nachbarn haben da ein weitaus besseres historisches Gedächtnis. Die Aufgabe der Breshnew-Doktrin3 – öffentlich am 10. April 1987 in Prag verkündet4 – war eben nicht gleichbedeutend mit der Aufgabe des Ostblocks. Und selbst die förmliche Aufhebung der Breshnew-Doktrin durch die 1 Neben neuen Monographien etwa von Ehrhart Neubert (Unsere Revolution, 2008), Andreas Rödder (Deutschland einig Vaterland, 2009) oder Wolfgang Schuller (Die deutsche Revolution, 2009) sowie zahlreichen regionalen Darstellungen (v. a. Michael Richter, Die Friedliche Revolution, 2009) ragt als Kompendium heraus: Klaus-Dietmar Henke (Hrsg.), Revolution und Vereinigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte, München 2009. 2 Das habe ich ausführlich dargestellt in: Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR. 2., durchgeseh. Aufl., München 2009. 3 Sie ist unmittelbar nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ als Legitimation für das Eingreifen fremder Truppen formuliert worden. 4 Vgl. Michail Gorbatschow, Rede auf der Kundgebung der tschechoslowakischsowjetischen Freundschaft, 10. April 1987, in: ders., Ausgewählte Reden und Aufsätze, Band 4: Juli 1986–April 1987, Berlin 1988, S. 530.
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Warschauer-Paktstaaten am 7./8. Juli 1989 in Bukarest galt – was oft übersehen wird – eigentlich nur im Hinblick auf die Entwicklungen in Polen und Ungarn.5 Nach dem 9. November entwickelte sich eine völlig neue Dynamik. Hatte sich in den Wochen zuvor schon die Zeit enorm beschleunigt, so raste sie nun förmlich dahin, kaum jemand kam noch mit. Das kommunistische Kartenhaus war zusammengebrochen und urplötzlich entfalteten sich so unterschiedliche gesellschaftliche Kräfte und Entwicklungen, die kaum noch zu überschauen waren, die kaum jemand für möglich gehalten hatte und die dennoch typisch sind, wenn scheinbar stillgelegte Gesellschaften ihre Fesseln abstreifen. Nach dem 9. November wurden nicht nur die politischen Forderungen radikaler, es gab nicht nur weitaus mehr Demonstrationen und Kundgebungen als vor dem Mauerdurchbruch, auch die Fluchtbewegung erreichte neue Dimensionen. Die Frage der künftigen nationalen Verfasstheit Deutschlands rückte praktisch mit dem 9. November auf die internationale Tagesordnung.6 Im Februar 1990 ging die Bundesregierung davon aus, die Einheit käme sehr, sehr schnell – etwa 1995. Wenn man die Dynamik der Ereignisse verstehen will, muss man sich vergegenwärtigen, in welch einem Zustand Wirtschaft und Gesellschaft der DDR sich 1989 befanden und wie stark die SED-Herrschaft bereits vor 1989 erodiert war. Dies war bis zum Herbst 1989 kaum einem auswärtigen Beobachter bewusst.7 Zwar sahen bundesdeutsche Analytiker und Politiker sehr wohl einzelne Systemdefizite, aber insgesamt ging man von einer stabilen DDR aus8, deren Rückhalt in einem größeren Teil der Gesellschaft gewährleistet sei. Wie wenig in der bundesdeutschen Wissenschaft und Politik über die tatsächlichen Verhältnisse im SED-Staat bekannt war, zeigte sich ab 1990 in einem auch heute noch erstaunlichen Ausmaß. Entscheidend scheint mir in diesem Zusammenhang der Umstand, dass die realen gesellschaftlichen und individuellen Langzeitfolgen von Diktatur 5 Die Entwicklungen in den einzelnen Staaten zeichnet glänzend nach: György Dalos, Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa, München 2009; speziell zur Entwicklung in der UdSSR siehe: Helmut Altrichter, Russland 1989. Der Untergang des sowjetischen Imperiums, München 2009. Die Innenansicht noch immer hervorragend aufzeigend: Timothy Garton Ash, Ein Jahrhundert wird abgewählt. Aus den Zentren Mitteleuropas, 1980–1990, München/Wien 1990. 6 Vgl. Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, München 2009. 7 Allerdings gab es eine Reihe von Analysen osteuropäischer Dissidenten, die in den achtziger Jahren die Krisensymptome im gesamten Ostblock durchaus realistisch zu deuten wussten, siehe nur als ein eindrucksvolles Beispiel: Ferenc Fehér, Die sozialistischen Länder Osteuropas am Beginn der 80er Jahre, in: Polen – Symptome und Ursachen der politischen Krise, Hamburg 1981, S. 188–222. 8 Die DDR galt als 10. stärkste „Industrienation“, das war, was oft übersehen wird, keine reine DDR-Erfindung, sondern basierte auch auf westeuropäischen Einschätzungen.
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und Unfreiheit nicht einmal ansatzweise reflektiert wurden. Mit diesen Langzeitfolgen plagen wir uns noch heute herum – und man muss kein Prophet sein, um zu sagen: auch noch in den nächsten Jahren. Denn die Sehnsucht in der Unfreiheit nach Freiheit ist das eine; in der Freiheit aber die „Einmischung in die eigenen Angelegenheiten“ (Jürgen Fuchs) zu leben etwas ganz anderes und offenbar für viele dann doch weitaus anstrengender. War es nun wirklich so überraschend, welche Dynamik die nationale Frage nach dem 9. November annahm? Dies mag damals vielen so erschienen sein, in einer historischen Perspektive aber verwundert eher die naive Wahrnehmung der DDR-Gesellschaft im Westen. Der Ausreise- und Fluchtkomplex hatte in den achtziger Jahren stetig an Brisanz zugenommen und erreichte 1989 einen Klimax, der innen- wie außenpolitischen Verhältnissen geschuldet war. Aber nicht nur das: kaum einem Beobachter war die dominante Westorientierung der DDRMenschen, zumal der jüngeren Menschen, entgangen. Warum nur blieb dies folgenlos in den Analysen? Der Westen war – bewusst und unbewusst – Fixpunkt der meisten Menschen in der DDR – und zwar von 1949 bis 1989. Das heißt nicht, dass die Sehnsucht nach der realen Bundesrepublik dominierte, aber es dominierte die Sehnsucht nach jener fremd- und selbstimaginierten Bundesrepublik, die sich deutlich von den realen Erlebniswelten hinter dem Stacheldraht unterschied, was den Vorteil in sich barg, dass jede und jeder damit seine ganz persönlichen Vorstellungen und Sehnsüchte verbinden konnte. Diesem permanenten Vergleich unterlag bekanntlich auch die SED, die ihr System und die DDR-Lebensverhältnisse ständig damit zu legitimieren versuchte, dass in der DDR alles besser sei als in der Bundesrepublik. Vergleich und Sehnsucht, die Westorientierung gehörten zum politischen System und zum Alltag, zum Denken und Fühlen fast aller Menschen in der DDR so selbstverständlich dazu, dass es vielen gar nicht mehr bewusst war. Dies ist deshalb wichtig zu betonen, weil dieser Hintergrund – gesellschaftlicher Zustand der DDR, längst vor 1989 eingesetzt habende massenhafte Abkehr vom SED-System und überwiegende Westorientierung der DDR-Bevölkerung – den rasanten Einigungsprozess erklärt. Das Tempo bestimmte die DDR-Gesellschaft, nicht Regierungen in Bonn oder Ost-Berlin. Die bundesdeutsche Politik und die internationalen Aushandlungsprozesse – historische Zeitfenster hin und her – waren der Dynamik, um nicht vom Druck der Straße zu sprechen, – wenn auch auf ganz andere Weise – 1990 ebenso ausgesetzt, wie die Entwicklungen 1989 dieser gesellschaftlichen Dynamik folgten. Mit anderen Worten: das Tempo des Einigungsprozesses ist von der ostdeutschen Gesellschaft bestimmt worden, die bundesdeutschen Parteien reagierten darauf, wenn auch ganz unterschiedlich. Natürlich gab es Phantasten – in Ost wie West –, die auf einen „dritten Weg“ hofften. Aber sie waren in den Jahren vor 1989 wie 1989 und dann auch 1990 gesellschaftliche Minderheitsströmungen – und zwar jederzeit. All die oppositio-
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nellen Dokumente und Erklärungen, die herangezogen wurden, um eine solche Dritte-Weg-Orientierung in den Bürgerbewegungen als dominant zu erklären, sparen den Umstand aus, dass fast alle politischen Handlungsträger in Ost wie West von der Jalta-Ordnung buchstäblich gefangen waren. Die oppositionellen Bewegungen agierten objektiv systemüberwindend,9 auch wenn vielen subjektiv dies nicht einmal bewusst war und wenn auch viele westliche Beobachter dies nicht so wahrnahmen – sehr wohl aber die Kommunisten übrigens. Erst in dem Moment – also nach dem 9. November – als weltpolitisch plötzlich andere Optionen möglich schienen, konnten sich auch jene, die in der DDR vor 1989 mutig gegen das SED-Regime agierten, von dieser Jalta-Fessel befreien – so wie die Regierungen im Westen (die noch weitaus länger auf die SED setzten). Mit anderen Worten: Die Suche nach einem „dritten Weg“, die Suche nach Veränderungen im System, war das Grundmuster westlicher Regierungs- und parlamentarischer Oppositionspolitik gegenüber den kommunistischen Systemen ebenso wie für die Bürgerrechtsbewegungen im gesamten Ostblock in den siebziger und achtziger Jahren. Denn niemand konnte sich vorstellen, dass die alte Ordnung einfach untergehen würde. Dass heute so viele in Ost wie West behaupten, sie haben aber nichts anderes als diesen alternativlosen Untergang im Sinn gehabt und ihn vorhergesehen, ist weniger ein Problem für Historiker. Natürlich existierten sehr wohl unterschiedliche Vorstellungen davon wie die deutsche Einheit hergestellt und erreicht werden könnte. Dass es so lief, wie es lief, scheint alternativlos, aber in der Geschichte gibt es immer Alternativen. Das Problem ist nur, dass wir niemals erfahren werden, ob andere Wege zur Einheit vielleicht besser verlaufen wären. Die Idee, die DDR-Gesellschaft zunächst einem Demokratisierungsprozess zu unterziehen, um zwei demokratische Gesellschaften und Staaten zu vereinen, ist ja so unattraktiv nicht gewesen. Das zumindest war die Intention größerer Teile der Bürgerrechtsbewegung. Der 18. März, der Tag der ersten freien Wahlen, kam aber einem Plebiszit für Art. 23 GG gleich. Die Forderung nach freien Wahlen – eine zentrale Forderung der Opposition auch in den Jahren vor 198910 – ließ sich aus Sicht der Akteure weniger schnell umsetzen, als viele Menschen erwarteten und erhofften. Selbst der Anfang De9 Um die politische Ansätze der Opposition in den Jahren vor 1989 und dann auch 1989/90 zu verstehen, ist es hilfreich, zum einen die Originalquellen zur Hand zu nehmen [siehe z. B. die Auswahl bei: Ilko-Sascha Kowalczuk (Hrsg.), Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985 bis 1989, Berlin 2002], oder zum anderen theoretisch einflussreiche Texte, die den Diskurs grenzübergreifend markierten, als Interpretationshilfe heranzuziehen. Dabei handelt es sich meist um Arbeiten osteuropäischer Dissidenten wie etwa György Konrád, Adam Michnik, Václav Havel, Andrej Sacharow usw. usf., siehe als Beispiel nur: Jaroslav Langer, Grenzen der Herrschaft. Die Endzeit der Machthierarchien, Opladen 1988. 10 Vgl. Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989, 2. Aufl., Berlin 1998.
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zember ins Auge gefasste Wahltermin am 6. Mai 1990 schien den meisten Oppositionsgruppen, mit Ausnahme der SDP, viel zu früh. Sie befürchteten, innerhalb weniger Monate weder die nötige Infrastruktur aufbauen noch die erforderlichen Kompetenzen entwickeln zu können, um wählbar zu sein. Auch die SED setzte auf einen späteren Wahltermin, in der Hoffnung, dann bereits einige wirtschaftliche und gesellschaftliche Verbesserungen präsentieren zu können. Außerdem befürchtete sie, durch eine schnelle endgültige Machtabgabe keinen „geordneten Rückzug“ organisieren und das weitverzweigte Vermögen nicht sichern zu können. Der Wahlkampf begann am 19. Dezember. Kanzler Kohl hatte erfahren, dass Mitterrand am 20. Dezember zu einem offiziellen Staatsbesuch nach Ost-Berlin kommen werde. Mitterrands Besuch galt weniger Modrow und der DDR, sondern verdeutlichte seine kritische Haltung zur Wiedervereinigung. Es war eine Machtdemonstration, die sich an die Adresse von Kohl richtete. Der hatte das durchaus verstanden: die deutsche Einheit war zu haben, aber zugleich müsse Europa gestärkt daraus hervorgehen. Kohl eilte am 19. Dezember nach Dresden, um vor Mitterrand in der DDR politische Zeichen zu setzen. Immer wieder skandierte dort die Menge „Deutschland, Deutschland“ und feierte den Kanzler. Der zeigte sich tief bewegt und forcierte anschließend das Tempo zur Einheit. Auch er folgte dem Druck der Straße. Bereits am 18. Dezember hatte die CDU (West) erklärt, sie würde künftig mit der Ost-CDU zusammenarbeiten, weil diese als einzige klar auf Einheitskurs läge. Das war eine leichte Beugung der Tatsachen, aber durch die enge Zusammenarbeit der SPD mit der SDP war die CDU unter Zugzwang geraten. Intern galt die Ost-CDU in der CDU (West) als bloßes Anhängsel der SED – eine richtige Einschätzung, die aber bald vergessen gemacht wurde. Im Kern ging es der West-CDU allein darum, die Infrastruktur der Ost-CDU zu übernehmen, um gegen die SPD bestehen zu können. Wie wir heute wissen, war dies machttaktisch ein außerordentlich geschickter Schachzug, moralisch erschien er eher bedenklich. In dieser Phase begannen die politischen Akteure zu wechseln.11 Die Bürgerrechtsbewegung stand für die Machtabgabe des Regimes, den Kampf gegen die SED und die Auflösung des MfS. Für die Fragen nach politischen Handlungskonzepten und dem Weg zur Einheit rückten nun aber neben der Bundesregierung neue politische Akteure stärker in den Vordergrund, bis auf wenige Ausnahmen übrigens Akteure, die bis zum Herbst 1989 nicht als oppositionell zur SEDPolitik aufgefallen waren. Das blieb zwar bis zu den Wahlen noch schattenhaft, zeigte sich dann aber am Wahlergebnis überraschend deutlich. 11 Vgl. ders., Unsere Revolution. Die Geschichte der Jahre 1989/90, München/Zürich 2008; Kowalczuk, Endspiel.
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Die SED versuchte seit Januar, die Oppositionsgruppen in die Regierungsgeschäfte einzubinden. Als am 13. Januar bundesdeutsche Regierungspolitiker die Schaffung einer schnellen Wirtschafts- und Währungsunion forderten, bot Modrow Manfred „Ibrahim“ Böhme (SPD) an, sein Stellvertreter als Ministerpräsident zu werden. Der lehnte ab, wenige Wochen später wurde Böhme als IM des MfS enttarnt. Der Druck auf die SED nahm abermals zu. Die Problemfülle war kaum zu übersehen, zu bewältigen schon gar nicht. Kanzler Kohl forderte am 18. Januar, damit in der DDR kein Chaos ausbreche, müssten die Wahlen nochmals vorverlegt werden, um schnell stabile und legitimierte Regierungsverhältnisse zu erhalten. In der Ost-CDU erhoben sich am gleichen Tag Forderungen, aus der Modrow-Regierung auszutreten. De Maizière lehnte das ab. Modrow sei ein „authentischer Demokrat“. Eine Woche später kündigten die CDU-Blockflöten dennoch ihren Rückzug an, zu dem es de facto aber nicht kam. Die Bevölkerung demonstrierte unterdessen weiter und forderte die schnelle Einheit. Am 28. Januar kam es zu einem Gespräch aller am „Zentralen Runden Tisch“ vertretenen Parteien und Gruppen über die Bildung einer „Regierung der nationalen Verantwortung“. Die Sitzung dauerte über sieben Stunden.12 Modrow, die Blockparteien und die Opposition bewegten sich dabei aufeinander zu. Der Ministerpräsident malte ein überzeichnetes Schreckensbild von der inneren Lage. Mehrfach zogen sich die Oppositionsgruppen zurück, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Letztlich kam eine Einigung zustande, die die SED begünstigte. Durch den Eintritt von acht „Ministern ohne Geschäftsbereich“ (allesamt aus der Opposition kommend) in die Regierung erhielt das Modrow-Kabinett eine moralische Aufwertung. Für die SED war die Bildung dieser „Regierung der nationalen Verantwortung“ mit dem Scheinkompromiss verbunden, die Wahlen auf den 18. März vorzuziehen. Vor allem – abgesehen von den Blockflöten – die SED und SPD, mit unterschiedlichen Intentionen, machten sich für den 18. März als Wahltermin stark, auf den sich schließlich alle einigten. Modrow wartete noch mit zwei weiteren Überraschungen auf. Am 30. Januar weilte er in Moskau. Gorbatschow erklärte ihm gegenüber, niemand unter den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges bezweifle das Recht der Deutschen auf Selbstbestimmung. Gorbatschow verfügte über Informationen, dass auch London die Abwehrhaltung gegen die Einheit aufgebe. Denn öffentlich äußerte sich Thatcher erst am 8. Februar, dass sie nichts gegen den Gang der Geschichte einzuwenden habe. Kohl bekam am 10. Februar bei seinem Moskau-Besuch von 12 Regierung der Nationalen Verantwortung. Beratung am 28.1.1990, Johannishof, Berlin (inoffizielles Protokoll von Martin Ziegler), in: Der Platz der Kirchen an den Runden Tischen, Berlin 2000, S. 59–68.
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Gorbatschow grünes Licht für die Einheit. Der Kreml-Chef versicherte, es sei allein Sache der Deutschen, über das Ob, Wie und Wann zu entscheiden. Am 13. Februar vereinbarten die Siegermächte die 2+4-Gespräche, um die internationalen Voraussetzungen für die deutsche Einheit zu schaffen. Noch in Moskau, Gorbatschow hatte Wirtschaftshilfen abgelehnt, bekannte sich auch Modrow zur deutschen Einheit, was er nach seiner Rückkehr mit einem eigenen, aber wirkungslosen Konzept zur Einheit unter der Überschrift „Deutschland, einig Vaterland“ verkündete. Auch wenn sich die SED davon distanzierte und behauptete, Modrow handle im Auftrag der Regierung, was dieser in der Volkskammer bekräftigte, so war dies nicht nur Wahlkampftaktik, sondern auch mit Blick auf einen bevorstehenden Bonn-Besuch gesagt worden. Denn Modrow und seine neuen Minister reisten zu Kohl. Sie vereinbarten die Einsetzung von Expertenkommissionen zur Vorbereitung der Währungsunion. Die DDRSeite bat zudem um eine Soforthilfe von 10 bis 15 Milliarden DM. Kohl lehnte ab – nach unterschiedlichen internen Berichten hatte er dabei die Unterstützung der Mehrheit der DDR-Gesellschaft. Modrow und seine Minister erwiesen sich als schlecht beraten, überhaupt einen Monat vor den Wahlen nach Bonn zu reisen und dort um Milliarden zu betteln. Kohl hatte am 5. Februar die „Allianz für Deutschland“ geschmiedet. Da hätten Milliardengeschenke an den politischen Gegner falsche Zeichen aussenden können. Der Wahlkampf veränderte die DDR auf ganz unerwartete Weise: die grauen Häuserwände und eintönigen öffentlichen Plätze erhielten Farbe durch unzählige Plakate der Parteien und Gruppen. Die großzügige Unterstützung der „Allianz“ durch die West-CDU und der Ost-SPD durch die West-SPD spiegelte sich nicht nur in der deutlich höheren Anzahl von Plakaten, bei der nur die SED mithalten konnte. Mehrere größere Wahlkampfveranstaltungen mit Bundespolitikern wie Kohl, Rühe oder Waigel für die einen und Brandt, Vogel oder Lafontaine für die anderen Kandidaten, ließen schon im Vorfeld keine Zweifel aufkommen, dass bei diesen Wahlen über den Weg zur Einheit entschieden würde. Genscher unterstützte den „Bund Freier Demokraten“, eine Wahlliste von vier liberalen Parteien, mit Wahlkampfauftritten. Nur die SED schaffte es ohne bundesdeutsche Unterstützung mit ihren Zugpferden Gysi und Modrow ähnlich große Massenveranstaltungen zu organisieren. Der Wahlkampf war allein geprägt von der Frage, wie (schnell) die deutsche Einheit kommen solle. Alle am 18. März gewählten Parteien, außer der „Vereinigten Linken“, bekannten sich zur Wiedervereinigung. Die Konzepte unterschieden sich allerdings kräftig von einander.13 Die „Allianz“ von Kohl stand für den 13 Die aktuelle Programmatik von Parteien und politischen Vereinigungen in der DDR. Dokumentation, Berlin 1990.
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schnellsten Weg zur Einheit. Ihre Formel lautete: „Schnelle Einführung der DM.“ Mehr konnte niemand bieten, zumal sie den Kanzler aufzubieten hatte. Damit war der Wahlkampf praktisch auch entschieden. Das Kanzlerbündnis gewann, jedes andere Kanzlerbündnis in jeder anderen politischen Konstellation hätte ebenfalls gewonnen. Und doch war es ein historisches Glück mit Helmut Kohl einen Vertreter einer Generation an der Macht zu haben, für die das Grundgesetzgebot zur deutschen Einheit keine hohle Phrase darstellte. Ein Wahlkampfdauerbrenner war die umstrittene Frage, inwiefern bundesdeutsche Politiker im Wahlkampf auftreten dürften. Die SED wehrte sich dagegen ebenso heftig wie „Bündnis 90“. Es nützte nichts, selbst einen Aufruf des „Zentralen Runden Tisches“ ignorierten die bundesdeutschen Parteien und ihre DDRPartner. Etwas naiv war dieser Aufruf schon: Denn seit die deutsche Einheit auf der Tagesordnung stand, war den meisten klar, wer diese zu finanzieren hatte und dass die DDR auf der Habenseite nicht sehr viel einzubringen hatte. Die Wahlen fielen auch deshalb eindeutig aus, weil 75 Prozent der Wähler für die von CDU/CSU, SPD und FDP unterstützten Parteien stimmten.14 Nur die Wähler der SED galten als Einheitsgegner. Das ungläubige Staunen über das Ergebnis erfasste praktisch alle. Fassungslos schauten vor allem Anhänger und Wähler in die Fernsehröhre, die Protagonisten blieben eher gelassen. Der Alt-Oppositionelle Ludwig Mehlhorn brachte es auf den historischen Punkt: „Wir sind die Sieger dieser Wahl. Der Wahltag ist das Ende der Diktatur.“15 Der große Wahlverlierer war die SPD. Deren Vertreter rangen zunächst sehr um die richtigen Worte. SDP-Mitbegründer Steffen Reiche brachte eine in Ost wie West weit verbreitete Einschätzung vor, die auch historisch stimmt: „Die DDR-Bürger haben sich für die Bundesregierung entschieden, nicht für eine bestimmte Partei.“16 Das war auch der „Allianz“ an diesem Abend bewusst. Margret Thatcher gratulierte Kohl zum Wahlsieg, was den Nagel auf den Kopf traf. Neben der „Allianz“ war der zweite große Wahlsieger die SED. Fast zwei Millionen Wählerstimmen errang sie, das waren Hunderttausende mehr als sie noch Mitglieder hatte. Bündnis 90 hoffte noch einige Tage, dass die SPD mit ihnen in der Opposition bleibe. Die zögerte wegen der DSU, mit der sie auf keinen Fall auf einer gemeinsamen Regierungsbank sitzen wollte. Anfang April gab sie diese Haltung auf und machte den Weg frei für eine große Koalition. Jens Reich hatte bereits am Wahlabend gemahnt: „Wer bei Honecker Blockflöte gelernt hat, kann in keiner Demo14 Wahlkommission der DDR (Hrsg.), Wahlen zur Volkskammer der DDR am 18. März 1990. Endgültiges Ergebnis, Berlin 1990. 15 taz vom 20.3.1990. 16 taz vom 19.3.1990.
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kratie die und bitter glaublich, SED und winnt“.18
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erste Geige spielen.“17 Wolf Biermann zeigte sich ebenfalls „entsetzt enttäuscht“. Es sei „eine böse Ironie der Geschichte und geradezu undass ausgerechnet die CDU des Ostens, die ja eine absolute Filiale der Kretin des Stalinismus war, mit Kohl an der Spitze die Wahl ge-
Die Reaktionen der Bundesparteien fielen entsprechend aus. CDU/CSU-Vertreter feierten und lobten das demokratische Wahlverhalten der Ostdeutschen. Dieses stünde für ihren Freiheits- und Einheitswillen. Viele Sozialdemokraten glaubten, in der DDR würde beim Wahlvolk sehr schnell Ernüchterung einsetzen. Die Kommentare Egon Bahrs etwa zeigten einen tief enttäuschten Politiker, der sich in der Wahl historischer Parallelen peinlich vergriff.19 Willy Brandt zeigte sich dagegen nüchtern und realistisch. Die deutsche Einheit sei „rasch und ohne Wenn und Aber“ gewählt worden. Die Genossen im SPD-Parteivorstand allerdings verstanden die Botschaft des Wahltages nicht. Sie nominierten am 19. März Oskar Lafontaine einstimmig zum SPD-Kanzlerkandidaten.20 Nach der Bundestagswahl im Dezember 1990 mussten die Grünen ihre Abgeordnetensitze räumen. Dafür zogen mit einem Sonderstatus – Sperrklauseln nach getrennten Wahlgebieten – acht Vertreter des Bündnis 90 in den Bundestag ein. Joseph Fischer eröffnete 1993 ein Buch mit dem Satz: „Der Sozialismus ist seit fast vier Jahren dahin, und die Linke, zumindest in Deutschland, schweigt weiter anhaltend und nachdrücklich zu dieser Revolution von 1989.“21 Das war eine sehr gute Selbstbeschreibung für die West-Grünen seit dem Herbst 1989. An dem Satz stimmte eines nicht, aber das gehörte nach 1990 längst zu einer Selbstverständlichkeit: mit Deutschland meinte Fischer das Gebiet der Bundesrepublik in den Grenzen vom 2. Oktober 1990. Was sich im Wahlkampf angedeutet hatte, nahm nun Gestalt an: die ostdeutsche Gesellschaft hatte den Mauerfall, freie Wahlen und das hohe Tempo zur deutschen Einheit erzwungen, nach dem 18. März bestimmten weitgehend bundesdeutsche Akteure, wie die Einheit hergestellt würde. Die Volkskammerwahlen waren in dieser Hinsicht der krönende Höhepunkt einer revolutionären Entwicklung,22 die nun in demokratisch legitimierten Bahnen handfeste Ergebnisse wie die Währungs-, Wirtschaft- und Sozialunion und den Einigungsvertrag zu erbrin17
Ebd. taz vom 20.3.1990. 19 Nachdruck eines Prawda-Interviews mit Egon Bahr in: Neues Deutschland vom 20.3.1990. 20 Vgl. Ilse Fischer (Hrsg.), Die Einheit sozial gestalten. Dokumente aus den Akten der SPD-Führung 1989/90, Bonn 2009, S. 265–278. 21 Joschka Fischer, Die Linke nach dem Sozialismus, Hamburg 1993, S. I. 22 Vgl. Hans-Michael Kloth, Vom „Zettelfalten“ zum freien Wählen. Die Demokratisierung der DDR 1989/90 und die „Wahlfrage“, Berlin 2000. 18
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gen hatte.23 In der Literatur ist die Volkskammer oft verhöhnt worden. Bundesdeutsche Politiker bezeichneten sie als Laientheater. Andere wiederum sehen in ihr einen Höhepunkt der deutschen Parlaments- und Demokratiegeschichte. Man muss abwarten, was künftige Untersuchungen ergeben. Bislang ist diese 10. Volkskammer von der Forschung nicht entdeckt worden.24 Dabei könnte sich ein ambivalentes Bild ergeben. Einerseits finden sich demokratietheoretische und -praktische interessante Erscheinungsbilder, etwa wenn es um das Spannungsverhältnis von Fraktionszwang (den es theoretisch nicht gab und der praktisch ständig unterwandert wurde) oder wenn es um spannungsgeladene Debatten mit zunächst ungewissem Ausgang und dann ganz Deutschland betreffenden Entwicklungen geht (z. B. Fristenregelung oder Stasi-Unterlagengesetz, gegen beides gab es erhebliche Widerstände sowohl aus dem Westen wie aus den einstigen DDR-Parteien). Andererseits gibt die freie Volkskammer gerade in fundamentalen Grundsatzfragen nicht immer das Bild eines Souveräns ab. Die Verfassungsfrage etwa wurde nicht auf üblichen parlamentarischen Wegen beantwortet – also durch Überweisung in entsprechende Ausschüsse –, sondern einfach per Mehrheitsbeschluss als nicht relevant ohne vorherige Behandlung in den Ausschüssen „abgewählt“. Oder über den Einigungsvertrag – ein immerhin fundamentales Vertragswerk – wurde abgestimmt, ohne dass eine auch nur annähernd qualifizierte parlamentarische Mehrheit – weder in der Regierungskoalition noch in der Opposition – die Chance gehabt hätte, das Gesamtwerk lesen und studieren zu können. Auf künftige Arbeiten über diese Volkskammer kann man also sehr gespannt sein.25
23 Die beste Darstellung dieser Entwicklungen und der Folgen findet sich bei: Gerhard A. Ritter, Der Preis der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaates, München 2006. Als knappe, außerordentlich instruktive Zusammenfassung, vgl.: ders., Wir sind das Volk! Wir sind ein Volk! Geschichte der deutschen Einigung, München 2009. 24 Nicht nur für die Forschung nunmehr ergiebig, verdienstvoll und leicht handhabbar ist seit dem 18. März 2009 abrufbar: http://www.bundestag.de/kulturundgeschichte/ geschichte/parlamentarismus/10_volkskammer/index.html. 25 Bislang gibt es einige Publikationen, die eher die Innensichten spiegeln. Aufgrund der Ausgewogenheit zu empfehlen ist: Hans Misselwitz/Richard Schröder (Hrsg.), Mandat für Deutsche Einheit. Die 10. Volkskammer zwischen DDR-Verfassung und Grundgesetz, Opladen 2000.
Frieden mit Deutschland? Der Zwei-plus-Vier-Vertrag Von Reinhard Müller „Ich frage Sie: wer kann als ehrlicher Mann – ich will gar nicht sagen als Deutscher – nur als ehrlicher, vertragstreuer Mann solche Bedingungen eingehen? Welche Hand müsste nicht verdorren, die sich und uns in solche Fesseln legte? [. . .] Dieser Vertrag ist nach der Auffassung der Reichsregierung unannehmbar.“1
So sprach Philipp Scheidemann 1919 über den Versailler Vertrag. Gut 70 Jahre später fragte der Bundestagsabgeordnete Todenhöfer im Parlament, ob nicht die Gefahr bestehe, „dass eine derartige, auf Druck von außen zustande gekommene Grenzanerkennungserklärung als ,Super-Versailles‘ wieder auf Jahrzehnte die europäische Politik belasten könnte“2. Todenhöfer meinte den deutsch-polnischen Grenzanerkennungsvertrag, der zum Zwei-plus-Vier-Regelwerk gehört. Das ist jetzt 20 Jahre her, aber immer noch Gegenstand aktueller Politik – wie die Debatte über die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen und CDU-Bundestagabgeordnete Erika Steinbach zeigt. Die Weigerung der Bundesregierung, Frau Steinbach in den Rat der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ zu lassen, wurde mit ihrem Abstimmungsverhalten zum Grenzvertrag begründet. Angeblich von Polen, aber auch in Deutschland. Das stehe der Versöhnung entgegen, hieß es.3 Dabei sollte doch gerade der Grenzvertrag Versöhnung und Frieden bringen. Und ist nicht der Zwei-plus-Vier-Vertrag der lang herbeigesehnte Friedensvertrag gewesen? Sein offizieller Name lautet anders: ,Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland‘. Eine abschließende Regelung setzt eine offene Frage voraus. Aber inwieweit war die deutsche Frage nach 1945 eigentlich offen? War Deutschland 1945 nicht untergegangen?
1 Scheidemann am 12. Mai 1919, in: Verhandlungen der verfassungsgebenden Nationalversammlung. Stenographische Berichte, Bd. 327, S. 1084. 2 Siehe Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung des Bundestages, 11. WP, 217. Sitzung, 21. Juni 1990, Plenarprotokoll, S. 17291. 3 Vgl. nur Berthold Kohler, Armutszeugnis. In der Causa Steinbach lief früher Polen Amok. Das übernimmt nun der deutsche Außenminister, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 267, 17.11.2009, S. 1 und Konrad Schuller, Organisiertes Schweigen. In Polen sagt man zu Erika Steinbach nichts mehr, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 267, 17.11.2009, S. 3.
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I. Kein Untergang Deutschlands 1945 Deutschland lag am Ende des Zweiten Weltkriegs in jeder Hinsicht am Boden. „Von einer solchen Niederlage erholt man sich nicht wieder wie einst nach Jena oder nach Sedan“4, schrieb Ernst Jünger 1945 in sein Tagebuch. „Sie deutet eine Wende im Leben der Völker an, und nicht nur zahllose Menschen müssen sterben, sondern auch vieles, was uns im Innersten bewegt, geht unter bei diesem Untergang“5. Es war tatsächlich ein Untergang. Gleichwohl blieb der deutsche Staat auch nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht bestehen. Das überrascht auf den ersten Blick, doch es handelte sich eben lediglich um einen von Generälen im Namen des Militärs unterzeichneten Akt. Auch die Verhaftung des von Hitler zum Nachfolger als Staatsoberhaupt ernannten Großadmirals Karl Dönitz bedeutete nicht den Untergang des Deutschen Reiches. Dazu fehlte den siegreichen Alliierten auch schlicht der Wille. In ihrer Berliner Erklärung vom 5. Juni 1945 stellen sie zwar fest, dass es in Deutschland keine zentrale Regierung gebe, die in der Lage wäre, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Doch machten die Mächte zugleich deutlich: Deutschland wird nicht annektiert. Auch das berühmt-berüchtigte Potsdamer Abkommen geht vom Fortbestand Deutschlands aus. Aber bewirkte nicht spätestens die Gründung der beiden deutschen Staaten 1949 den endgültigen Untergang des alten Deutschland? Nein – und genau hier liegt der Grund für den Zwei-plus-Vier-Vertrag gut 40 Jahre später. Der „Deutschlandvertrag“ von 1955 beendete für die Bundesrepublik zwar formell das Besatzungsregime und gab ihr die „volle Macht eines souveränen Staates über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten“6. Doch war das nur die halbe Wahrheit. Denn die Westalliierten hielten fest an den von bisher ausgeübten „Rechten und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes einschließlich der Wiedervereinigung Deutschlands und einer friedensvertraglichen Regelung“7. Die Sowjetunion und die DDR schlossen einen ähnlichen Vertrag. Die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs behielten sich also Sonderrechte vor. Die Bundesrepublik und die DDR waren also keine vollkommen souveränen Staaten. Die festgeschriebenen Rechte der Alliierten in Bezug auf Deutschland als Ganzes sicherten damit wie eine Klammer den Fortbestand Deutschlands. Daran änderte sich auch durch die Ostverträge nichts. Sowohl im Moskauer als auch im Warschauer Vertrag aus dem Jahr 1970 erklärten die Parteien, dass frühere Vereinbarungen davon unberührt bleiben. Und die Außenminister der vier Mächte stimmten darin überein, dass ihre Sonderrechte 4
Ernst Jünger, Strahlungen II, München 1988, S. 401. Ebd. 6 Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten, Artikel 1 (2), in: Bundesgesetzblatt, Jg. 1955, Teil II, S. 305–320, hier: S. 306. 7 Ebd. 5
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„nicht berührt“8 werden können. Endgültige Regelungen waren also ohne die Mächte nicht möglich. An diese Sonderrechte knüpfte der Zwei-plus-vier-Vertrag an. Er war jene friedensvertragliche Regelung, bis zu der die Vorbehalte der Sieger gelten sollten.9 Das war die Ausgangslage, als in der Sowjetunion das Tauwetter begann. II. Tauwetter Nach den dramatischen Tagen der Grenzöffnung vom 9. November 1989 fand in Paris ein EG-Sondergipfel statt. Während die britische Premierministerin Thatcher sagte, die Grenzen sollten bleiben wie sie sind, sprach Kohl das Thema nicht an. Klar war aber: Die deutsche Frage ist zu dieser Zeit das zentrale Thema der großen Politik. Dafür legte Kohl während der Haushaltsdebatte am 28. November überraschend seinen Zehn-Punkte-Plan zur Deutschen Einheit vor. Er konnte sich insbesondere der Unterstützung durch die Vereinigten Staaten sicher sein: Präsident Bush senior hatte deutlich gemacht, dass er das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes achten werde, wie es schließlich die westlichen Verbündeten seit dem Deutschlandvertrag immer wieder zugesichert hatten. In seinem Plan, der ein lebhaftes Echo hervorruft, nennt der Kanzler die Wiedervereinigung als das politische Ziel der Bundesregierung. Sie werde kommen, „wenn die Menschen in Deutschland sie wollen“10. Bevor er die Zehn Punkte vortrug erinnerte Kohl daran, dass sein Ziel dem des westlichen Bündnisses aus dem Jahr 1967 entspreche: Damals hieß es, eine endgültige und stabile Regelung in Europa sei „nicht möglich ohne eine Lösung der Deutschlandfrage“11. Jede Regelung müsse die unnatürlichen Schranken zwischen Ost- und Westeuropa beseitigen, „die sich in der Teilung Deutschlands am deutlichsten und grausamsten offenbaren“12. Ende Januar 1990 ändert auch die Sowjetunion ihre Deutschlandpolitik. Gorbatschow wird mit den Worten zitiert, dass auch die vier Siegermächte des Zwei8
Ebd., S. 307. Siehe hierzu grundsätzlich Reinhard Müller, Der „2+4“-Vertrag und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, Frankfurt am Main 1997; ders., Das Ende des Krieges: Der Zwei-plus-vier-Vertrag, in: Klaus-Dietmar Henke (Hrsg.), Revolution und Vereinigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte, München 2009, S. 525–536, diese Darstellung wird hier übernommen; Christoph-Matthias Brand, Souveränität für Deutschland, Köln 1993 und Bernhard Kempen, Die deutsch-polnische Grenze nach der Friedensregelung des Zwei-plus-vier-Vertrages, Köln 1997. 10 Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas, vorgelegt von Bundeskanzler Helmut Kohl in der Haushaltsdebatte am 28. November 1989 (gekürzt), in: Europa-Archiv 44 (1989) 24, S. D 728–734, hier: S. D 733. 11 Bericht des Nordatlantikrates über die künftigen Aufgaben der Allianz vom 14. Dezember 1967 (Harmel-Bericht) (Auszug), Ziffer 8, in: Curt Gasteyger ,Europa zwischen Spaltung und Einigung. Darstellung und Dokumentation 1945 bis 2005, überarbeitete Neuausgabe, Bonn 2005 (= Schriftenreihe, Bd. 485), S. 208 f., hier: S. 209. 12 Ebd. 9
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ten Weltkriegs der Ansicht seien, die Wiedervereinigung werde niemals und von niemandem in Frage gestellt. Sogar Hans Modrow spricht von einem deutschen Vaterland. Die entscheidende Zustimmung gelang dann schließlich im Kaukasus, als Kohl in langen Gesprächen mit Gorbatschow Einigkeit vor allem über die Nato-Mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands erzielte. Die Alliierten fanden wieder zu ihrer Rolle als gemeinsam Verantwortliche für Berlin und Deutschland als Ganzes. Schon am 11. Dezember hatten sich die Botschafter der vier Mächte in West-Berlin erstmals seit 18 Jahren getroffen. Es zeichnete sich also ab, dass die Deutschen nicht allein über ihre Zukunft würden entscheiden können. Das war angesichts der Dimension dieser Frage klar. Es trat aber zudem zu jener Zeit die Vergangenheit in Gestalt der Vier-Mächte-Rechte wieder aus dem Schatten der Geschichte. Zumindest die im Vergleich zur DDR mächtige Bundesrepublik achtete aber sehr wohl darauf, dass die ehemaligen Siegermächte diese im Grunde doch urdeutsche Sache nicht unter sich ausmachten. Als Kohl im Januar 1990 davon erfuhr, dass die Sowjetunion angesichts der geplanten Vertragsgemeinschaft zwischen den beiden deutschen Staaten den Amerikanern ein Vier-Mächte-Treffen vorgeschlagen hatte, äußerte er: „Wir brauchen keine vier Hebammen“13. Er verlangte eine enge Abstimmung mit den Deutschen, schließlich gehe es um deren Selbstbestimmungsrecht. Das verdeutlicht die Formel „Zwei plus Vier“. Wann genau sie geboren wurde, ist genauso unklar wie ihre Urheberschaft. Wenn auch die beiden deutschen Staaten gleichsam an den Anfang gestellt wurden, so heißt das nicht, dass ihr Einfluss überschätzt werden darf. Der westdeutsche Berater von DDR-Außenminister Markus Meckel erinnert sich an eine Begegnung mit dem amerikanischen Außenminister Baker: „neben allen Zuckerstücken zur künftigen Souveränität die deutschen Ankündigungen: Die großen Vier agieren als ,steering group‘, wenn die beiden Deutschlands nichts Vernünftiges auf die Beine bringen. Uns beeindruckt besonders die Ankündigung, die geographische Definition dessen, was das vereinigte Deutschland ausmache, notfalls durch die Alliierten vornehmen zu lassen.“14 Jedenfalls erblickte die Zwei-plus-Vier-Idee auf der Open-skies-Konferenz in Ottawa das Licht der Öffentlichkeit. Die sechs Außenminister kamen überein, über die äußeren Aspekte der deutschen Einheit, einschließlich der Sicherheit der Nachbarstaaten zu sprechen. Außenminister Genscher bekräftigte, dass nicht etwa über Deutschland entschieden werde, sondern dass die Vertreter der beiden deutschen Staaten gleichberechtigt mit am Tisch sitzen würden; deswegen hießen die Gespräch auch nicht etwa „Vier-plus-Zwei“. Polen wollte wegen seiner Westgrenze an den Gesprächen beteiligt werden, was jedoch nicht gelang. Von der Bundesregierung wurde eine Garantie zum Bestand der Oder13 Zit. n. Horst Teltschik, 329 Tage. Innenansichten der Einigung, 4. Aufl., Berlin 1991, S. 105. 14 Ulrich Albrecht, Die Abwicklung der DDR, Opladen 1992, S. 42.
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Neiße-Grenze verlangt; Kohl verwies jedoch mehrfach darauf, dass das letztlich durch einen gesamtdeutschen Souverän geschehen müsse. Das sorgte für innenund außenpolitische Unruhe. Nachdem im März 1990 bei den ersten freien Wahlen auf dem Gebiet der DDR seit 1933 eine große Mehrheit letztlich für die Wiedervereinigung gestimmt hatte, fand im Mai die erste Zwei-plus-Vier-Außenministerkonferenz statt. Die Vereinigten Staaten hatten sich mit der Bundesregierung dahingehend geeinigt, dass ein förmlicher Friedensvertrag nicht nötig sei. Das war eine wichtiger Punkt: Kohl fürchtete – da in einem Friedensvertrag üblicherweise Reparationen geregelt werden –, dass dann zahlreiche Länder, die Deutschland kurz vor Toresschluss noch den Krieg erklärt hatten, Forderungen geltend machen würden. Die Sowjetunion warf diese Frage auf, war dann aber mit einer endgültigen völkerrechtlichen Regelung zufrieden. Zudem wollte die UdSSR anfangs die deutsche Einheit von ihren äußeren Aspekten trennen. III. Die abschließende Regelung nimmt Gestalt an In zahlreichen bilateralen Konferenzen sowie den Beamten- und Außenministertreffen nahm der Vertrag langsam Gestalt an. Die beiden deutschen Regierungen entfalteten eigene Reisetätigkeiten. So versicherte DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière in New York dem Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses, Edgar Bronfman, die Welt habe von der Wiedervereinigung nichts zu befürchten. Es zeigte sich freilich, dass die DDR keine allzu große Rolle spielte – das entsprach freilich nicht nur ihrer im Vergleich zur Bundesrepublik geringeren Größe und Wirtschaftskraft, sondern auch ihrem Wunsch, der Bundesrepublik beizutreten; in der amerikanischen Regierung wurde dieser Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes nüchtern als Annexion bezeichnet.15 Die wesentlichen Punkte standen schon auf dem ersten Treffen auf der Tagesordnung, doch bei jedem Punkt ging es keineswegs um Details: Wie stand es mit der Nato-Mitgliedschaft des vereinten Deutschland, wie viele Soldaten durfte es haben? Die Grenzfrage war dann vorrangiges Thema der dritten Außenministerkonferenz im Juli in Paris. Der hierzu geladene polnische Außenminister erklärte sich damit zufrieden, dass gleich nach der Vollendung der Einheit ein Grenz- und ein Nachbarschaftsvertrag mit seinem Land geschlossen werden sollte. Naturgemäß war es am schwierigsten, die sowjetischen Widerstände zu überwinden. Aber auch einige treue West-Alliierte überraschten die Deutschen. Bekannt ist die anfänglich starke Skepsis der britischen Premierministerin Thatcher. So hatte sie etwa in einem langen Telefonat mit Bush deutlich gemacht, dass Deutschland
15 Vgl. nur Philip Zelikow/Condoleezza Rice, Germany unified und Europe transformed, Cambridge 1995, S. 222.
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das Japan Europas sei, nur schlimmer als Japan. Und: Die Deutschen würden im Frieden das erhalten, was Hitler im Krieg nicht bekommen habe.16 Die amerikanische Regierung fürchtete eine Friedenkonferenz, auf der die Sowjets dann ein später wiedervereinigtes Deutschland vorschlagen würden, neutral und demilitarisiert, Mitglied der EU, aber nicht der Nato. Das würde dann die DDR unterstützen, womöglich andere westliche Verbündete ebenfalls; Bonn und Washington wären isoliert. Doch keine Verhandlungsposition, keine politische Linie hatte in jener Zeit eine lange Haltbarkeit. Konfliktlinien gab es nicht nur zwischen den Verbündeten, sondern auch heftige Kämpfe über den künftigen Weg innerhalb der Regierungen: Im Politbüro, innerhalb der amerikanischen Regierung, in Deutschland zwischen Kanzleramt und Auswärtigem Amt, und auch zwischen den beiden deutschen Regierungen – so wollte DDR-Außenminister Meckel, wie er später schrieb, ein „Versailles“17 für die Sowjetunion vermeiden. Die Amerikaner versuchten, den Deutschen die Furcht zu nehmen, sie wollten als ehemalige Siegermächte in der deutschen Frage intervenieren. Letztlich schien das Erreichte noch einmal auf der Kippe: Kohl hatte sich im Juli im Kaukasus mit Gorbatschow im Grundsatz auf die wesentlichen Punkte geeinigt, die zuvor durchaus noch umstritten waren: Die Sowjetunion wollte die Vier-Mächte-Rechte noch für eine Übergangszeit nach der Wiedervereinigung beibehalten, dem Abzug der sowjetischen Truppen aus der DDR nur bei gleichzeitigem Rückzug der westlichen Streitkräfte aus der Bundesrepublik zustimmen, und die UdSSR hatte weiterhin Vorbehalte gegen die volle Nato-Mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands. Kohl, der noch auf dem Hinflug mit Genscher über den künftigen Umfang der Bundeswehr focht, gelang mit Gorbatschow in dessen Geburtsstadt und freundschaftlicher Atmosphäre eine als sensationell empfundene Einigung. Der sowjetische Regierungschef sagte anschließend, sein Land könne dem deutschen Volk nicht bestreiten, was es anderen Völkern zubillige. Nur kurz vor der Unterzeichnung des Vertrages in Moskau gab es noch einmal Unruhe: Es ging um die Frage, inwieweit Manöver der westlichen Alliierten im östlichen Teil Deutschland zulässig sein sollten.18 Ein wichtiger Punkt, der schließlich zwischen Kohl und Gorbatschow persönlich geklärt werden musste, war gleichsam die Ablösesumme, die Bonn an Moskau für den Abzug der sowjetischen Streitkräfte zahlen sollte. Ohne das Vertrauen, dass etwa Kohl und Genscher bei ihren Verhandlungspartnern in Ost und West genossen, wäre der Zweiplus-Vier-Prozess – bei aller Bedeutung der Rolle der vier Mächte – jedenfalls nicht so zügig verlaufen. 16
Vgl. ebd., S. 206. Markus Meckel, Der Zwei-plus-Vier-Vertrag und das Ende der Spaltung Europas, in: Klaus Kinkel (Hrsg.): In der Verantwortung – Hans-Dietrich Genscher zum Siebzigsten, Berlin 1997, S. 460–473, hier: S. 466. 18 Vgl. Hans-Dietrich Genscher, Erinnerungen, Berlin 1995, S. 865 ff. 17
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IV. Keine Rede von einem Friedensvertrag Der Vertrag will die „Spaltung des Kontinents überwinden“19. Das ist ein Schlüsselsatz aus der Präambel der Regelung, die in dem Bewusstsein geschlossen worden sei, dass die Völker Europas seit 1945 in Frieden miteinander leben. Viel Selbstverständliches wird gesagt – so wird bekräftigt, dass von deutschem Boden nur Frieden ausgehen werde. Man kann ja nie wissen, und man weiß es auch nicht. Deshalb wird Artikel 26 des Grundgesetzes (Verbot des Angriffskrieges) nahezu wörtlich referiert und erklärt, Waffen werde Deutschland nur in Übereinstimmung mit der UN-Charta einsetzen. Daran waren auch beide deutsche Staaten als UN-Mitglieder schon gebunden. Gleiches gilt für den Verzicht auf atomare, biologische und chemische Waffen. Das steht schon in Verträgen, welchen sich die Bundesrepublik unterworfen hatte und die selbstverständlich durch den Beitritt der DDR ohnehin nicht ihre Gültigkeit verloren hätten. Um die Verringerung der deutschen Streitkräfte war hart gerungen worden, genauer gesagt, um ihre künftige Höchstgrenze; auch in diesem Punkt zeigten sich Unterschiede zwischen Kohl und Genscher. In dem Vertrag wurde letztlich die Zahl genannt, zu der sich die Bundesrepublik schon bei den Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Wien „in vollem Einvernehmen“20 mit der DDR-Regierung verpflichtet hatte: 370.000. Zudem verknüpfte man die deutsche Truppenreduzierung mit dem Abzug der sowjetischen Truppen aus Deutschland. An der Spitze der Regelungen steht die Grenzfrage: Das Staatsgebiet des vereinten Deutschlands umfasst nach dem Zwei-plus-Vier-Vertrag die Gebiete der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik und ganz Berlins. Dann wird noch einmal ausdrücklich hervorgehoben, dass diese Grenzen endgültig seien und dass Deutschland auf Gebietsansprüche verzichte. Solche Ansprüche hatte zwar lange kein verantwortlicher Politiker mehr öffentlich erhoben, doch die Furcht saß tief, die Oder-Neiße-Linie könne in Frage gestellt werden. Zusätzlich zu den im Zwei-plus-Vier-Vertrag mehrfach abgesicherten endgültigen Grenzen wird erwähnt, dass Deutschland und Polen die zwischen ihnen bestehende Grenze noch in einem eigenen, zweiseitigen Vertrag bestätigen – dessen Ziel schon vorgegeben ist. Für Polen war dieser Grenzvertrag freilich wichtig, der dem nicht an dem mulilateralen Vertrag beteiligten Land ein eigenes Recht gibt. Der Vertrag beendet ferner im Grundsatz die Sonderrechte der Alliierten in Bezug auf Deutschland: „Das vereinte Deutschland hat demgemäß volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten.“21 19 Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland vom 12. September 1990, Präambel, in: Europa-Archiv 45 (1990) 19, S. D 509–514, hier: S. D 509. 20 Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland vom 12. September 1990, Artikel 3 (2), in: Europa-Archiv 45 (1990) 19, S. D 509–514, hier: S. D 510. 21 Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland vom 12. September 1990, Artikel 7 (2), in: Europa-Archiv 45 (1990) 19, S. D 509–514, hier: S. D 512.
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Von „Friedensvertrag“ keine Rede. Die Vertragsstaaten waren sich einig, dass der Zwei-plus-Vier-Vertrag kein Friedensvertrag sein sollte. Ausdrücklich sollten Reparationsforderungen abgewehrt werden, die traditionell mit einem Friedensvertrag verbunden werden. Doch jeder Jurist weiß: Auf die Bezeichnung kommt es nicht an. Der Sache nach handelt es sich um einen Friedensvertrag. Doch auch eine „abschließende Regelung“ lässt Fragen offen – Geschichte lässt sich ohnehin nicht „abschließen“. Hat der Zwei-plus-vier-Vertrag also Frieden gebracht? V. Was bleibt Bei vielen war schon zur Zeit der Vertragsverhandlungen weitgehend in Vergessenheit geraten, dass Deutschland einmal größer war als Bundesrepublik und DDR zusammen.22 Es wurde bald klar, dass wohl kein rechter Wille vorhanden war, über die mit der Oder-Neiße-Linie verknüpften Probleme noch einmal ernsthaft zu verhandeln – und dass es auch nicht anders ging. Das Zeitfenster für die Wiedervereinigung war klein, aber der Preis für die schnelle Einheit war auch nicht gering. Immerhin gingen viele Jahre nicht nur alle wesentlichen deutschen Parteien und das Bundesverfassungsgericht, sondern auch zumindest die WestAlliierten davon aus, dass die lange Zeit unzweifelhaft zu Deutschland gehörenden Gebiete jenseits von Oder und Neiße nach dem Zusammenbruch von 1945 nur (zeitweise) unter polnische beziehungsweise sowjetische Verwaltung gefallen waren. So ist einem Memorandum des britischen Außenministeriums vom März 1990 noch eine Karte von Deutschland in den Grenzen von 1937 beigefügt („Zones of Occupation“). Das alles kam noch einmal hoch, als im Bundestag über den deutsch-polnischen Grenzvertrag abgestimmt wurde. 18 Abgeordnete stimmten dagegen, zehn enthielten sich. Ein Grund für viele waren widersprüchliche Angaben der Bundesregierung: Zum einen hieß es, der endgültige Verzicht auf die Oder-Neiße-Gebiete sei condition sine qua non für die Vereinigung von Bundesrepublik und DDR gewesen. Zum anderen hieß es, es sei keinerlei Druck ausgeübt worden, was wiederum mancher nicht glaubte. Der schon erwähnte Abgeordnete Todenhöfer fragte gar, ob nicht die Gefahr bestehe, „dass eine derartige, auf Druck von außen zustande gekommene Grenzanerkennungserklärung als ,Super-Versailles‘ wieder auf Jahrzehnte die europäische Politik belasten könnte“23. Die endgültige Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze war verbunden mit einem Gebietsverlust, der freilich politisch schon lange Wirklichkeit war. Ange22 Siehe hierzu und zum folgenden Reinhard Müller, Das Ende des Krieges: Der Zwei-plus-Vier-Vertrag, in: Klaus-Dietmar Henke (Hrsg.), Revolution und Vereinigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die Phantasie überholte, München 2009, S. 525–536. 23 Vgl. Reinhard Müller, Der „2+4“-Vertrag und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, Frankfurt am Main 1997, S. 134 ff.
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sichts der allgemeinen Tendenz, den Einzelnen an Gebietswechseln und auch allgemein an der Willensbildung zu beteiligen, ist allerdings die Art und Weise des Wechsels der territorialen Souveränität über die Gebiete jenseits von Oder und Neiße bemerkenswert. Die Menschen wurden nicht gefragt, weder Vertriebene noch die Wohnbevölkerung. Gewiss waren die alten Ostgebiete politisch schon lange abgeschrieben worden. Doch war die erst mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag besiegelte Abtrennung der Oder-Neiße-Gebiete verknüpft mit der gewaltsamen Vertreibung von Millionen von Deutschen aus ihrer Heimat – auf die es ein Recht gibt. Das ändert nichts an der Gültigkeit der Regelung. Doch hatten offenbar auch die Beteiligten am Ende ein schlechtes Gewissen, ein Gefühl für die besondere historische Lage. Warum sonst wäre abgesehen vom Grenzvertrag ein deutsch-polnischer (und auch ein deutsch-russischer) Nachbarschaftsvertrag geschlossen worden? Auch das gehört letztlich zu einer „abschließenden Regelung“ in Bezug auf Deutschland. Demnach sind Deutschland und Polen bestrebt, „die leidvollen Kapitel der Vergangenheit abzuschließen und entschlossen, an die guten Traditionen und das freundschaftliche Zusammenleben in der jahrhundertelangen Geschichte Deutschlands und Polens anzuknüpfen“24. Erstmalig wird die Existenz einer deutschen Minderheit erwähnt und damit anerkannt. Es hat sich allerdings als schwierig erwiesen, auch nur zweisprachige Ortsschilder zuzulassen – obwohl Polen das damals zumindest prüfen wollte. Dass in einer europäischen Friedensordnung solche Grenzprobleme bald von selbst gelöst würden, hat sich jedenfalls nicht bewahrheitet. Hat Deutschland nun wirklich die „volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten“? Ist es ein gleichberechtigtes Mitglied der Völkerfamilie? Zum einen gibt es noch immer die Feindstaatenklauseln in der UNCharta. Demnach sind „Maßnahmen“ nicht untersagt, „welche die hierfür verantwortlichen Regierungen als Folge des Zweiten Weltkriegs in bezug auf einen Staat ergreifen oder genehmigen, der während dieses Krieges Feind eines Unterzeichnerstaats dieser Charta war“25. Man kann das mit guten Gründen längst für obsolet halten, doch ist diese Regelung weiterhin Bestandteil der Charta der Vereinten Nationen. Zum anderen gibt es auch heute noch fortgeltendes Besatzungsrecht. Es handelt sich um Bestimmungen des Überleitungsvertrages aus dem Jahr 1953. Dieser Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen wurde durch einen Notenwechsel der Bundesregierung mit den ehemaligen Westmäch-
24 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit, unterzeichnet in Bonn am 17. Juni 1991, in: Europa-Archiv 46 (1991) 13, S. D 315–325, hier: S. D 315. 25 Charta der Vereinten Nationen, Artikel 107, in: Die Charta der Vereinten Nationen mit Völkerbundssatzung, IGH-Statut und zwei UNO-Resolutionen. Textausgabe, 7., neu bearbeitete Aufl., München 1979, S. 45.
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ten Ende September 1990 suspendiert – allerdings nicht in vollem Umfang.26 In Kraft bleiben alle Maßnahmen, die für „Zwecke der Reparation oder Restitution oder aufgrund des Kriegszustandes“27 gegen das „deutsche Auslands- oder sonstige Vermögen durchgeführt worden sind“28. Gegen diese Maßnahmen darf die Bundesrepublik Deutschland keine Einwendungen erheben. Klagen gegen Personen, die aufgrund solcher Maßnahmen Eigentum erworben haben, sowie Klagen gegen internationale Organisationen oder ausländische Regierungen „werden nicht zugelassen“29. Dieser Klageausschluss ist noch heute gültig – wie sich zuletzt am Bilderstreit mit dem Fürstentum Liechtenstein gezeigt hat. Dessen langjähriges Staatsoberhaupt Hans-Adam II. wollte verhindern, dass sein in der Tschechoslowakei unter Benes enteignetes Vermögen als deutsches Auslandsvermögen behandelt wurde. Er scheiterte vor deutschen Gerichten bis hinauf zum Bundesverfassungsgericht, vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg und schließlich vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag.30 Das hat seinen Grund letztlich im Überleitungsvertrag. Unter den Betroffenen weiterhin für Unmut sorgen zudem die Enteignungen in der sowjetischen Besatzungszone von 1945 bis 1949. Im Zusammenhang mit der Unterzeichnung des Vertrages sandten die beiden deutschen Außenminister einen gemeinsamen Brief an die Außenminister der Alliierten. Darin wird wiederum auf die gemeinsame Erklärung der beiden deutschen Regierungen zur Regelung offener Vermögensfragen Bezug genommen. Demnach waren sich beide Seiten einig, dass Enteignungen auf besatzungshoheitlicher Grundlage nicht mehr rückgängig zu machen sind. Dieser Brief ist nicht unmittelbar Bestandteil des Zweiplus-Vier-Vertrages, doch sein Inhalt hängt mit den äußeren Aspekten der deutschen Einheit zusammen. Vor dem Bundesverfassungsgericht hat nämlich die Bundesregierung vorgetragen, die Sowjetunion hätte der Wiedervereinigung ohne diesen sogenannten Restitutionsausschluss nicht zugestimmt. Andere haben dem
26 Bekanntmachung der Vereinbarung vom 27. und 28. September zu dem Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den drei Mächten (in der geänderten Fassung) sowie zu dem Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen (in der geänderten Fassung), in: Bundesgesetzblatt, Jg. 1990, Teil II, S. 1386–1389. 27 Vertrag zur Regelung aus Krieg und Besatzung entstandener Fragen (in der gemäß Liste IV zu dem am 23. Oktober 1954 in Paris unterzeichneten Protokoll über die Beendigung des Besatzungsregimes in der Bundesrepublik Deutschland geänderten Fassung), Sechster Teil, Artikel 3 (1), in: Bundesgesetzblatt, Jg. 1955, Teil II, S. 405–468, hier: 440. 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Vgl. Report of the International Court of Justice 1 August 2004–31 July 2005 General Assembly Official Records Sixtieth Session Supplement No. 4 (A/60/4), S. 6 ff. Abrufbar unter: http://www.icj-cij.org/court/en/reports/report_2004-2005.pdf (letzter Zugriff: 14.06.2010).
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widersprochen, darunter sogar Gorbatschow. Doch unabhängig von diesem Streit (und dem, was eine etwaige Lüge für rechtliche Auswirkungen hätte)31 hat diese Kontroverse nicht nur zu zahlreichen erbittert geführten Verfahren bis hin zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geführt. Es stellt sich auch die Frage, ob die Regelung die Rückgabe konfiszierten Eigentums überhaupt ausschließt. Die UdSSR wollte deutlich machen, dass die Enteignungen legitim gewesen seien, und die DDR-Regierung wollte ebenso wie die Bundesregierung, die auch fiskalische Interessen hatte, dass die Eigentumsordnung nicht noch einmal umgewälzt wird. Das gilt letztlich auch noch heute; eine Rückgabe ist möglich, aber es fehlt der politische Wille. VI. Gerechte Regelung? Es ist keinesfalls ausgeschlossen, dass die eine oder andere dieser offen gebliebenen Fragen dereinst wieder für Zündstoff sorgen wird. Gleichwohl beendete der Zwei-plus-Vier-Vertrag nicht nur den Kalten Krieg, sondern auch den Zweiten Weltkrieg. Zwar ruhten in diesem Krieg seit mehr als vier Jahrzehnten die Waffen. Doch die – in der Praxis meist kaum spürbaren, in Berlin am besten sichtbaren – Sonderrechte der Siegermächte waren ein Zeichen dafür, dass noch kein wahrer Frieden herrschte. Er war erst mit dem Ende der widernatürlichen deutschen Teilung erreicht. Sie hatten die Alliierten nach dem Sieg im Zweiten Weltkrieg durchgesetzt und lange aufrechterhalten. Die Überwindung der Spaltung Deutschlands und Europas lag letztlich auch in ihrem eigenen Interesse – und es war ihre Pflicht. Was für andere Aspekte der deutschen Einheit gilt, muss man sich freilich auch für den Zwei-plus-Vier-Vertrag in Erinnerung rufen: Es hätte auch ganz anders kommen können. So trat das Abkommen Mitte März 1991 mit der Hinterlegung der sowjetischen Ratifikationsurkunde in Kraft – wenige Monate später gab es einen Putschversuch gegen Gorbatschow. Der letzte russische Soldat verließ Deutschland offiziell Ende August 1994. Kein Zweifel: Der „Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland“ war ein Friedensvertrag. Er war das internationale Instrument nicht nur zur Lösung der deutschen Frage, sondern auch ein wichtiges zur Überwin31 Vgl. etwa die heftige Debatte über Constanze Paffrath, Macht und Eigentum, Köln 2004, in: Karl Feldmeyer, „Diese Geschichte ist nicht zu Ende“. Die Bestätigung der Enteignungen von 1945 bis 1949 – eine deutsch-deutsche Vereinbarung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 124, 29.05.2004, S. 4; Arnd Bauerkämper, Eine zwangslage nur vorgetäuscht? Constanze Paffraths brisantes Buch erhebt schwere Vorwürfe gegen die Kohl-Regierung, in: Die Zeit, Nr. 20, 06.05.2004, S. 46; Michael Stolleis, Empörung geht vor Erforschung. Constanze Paffrath verteidigt das Recht auf Eigentum der ostelbischen Grundbesitzer, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 62, 15.03.2004, S. 16; Johann Michael Möller, Verlorene Heimat. Waren sie rechtens? Constanze Paffrath mischt sich in den Streit um die sowjetischen Enteignungen ein. Und verbrennt sich dabei die Finger – Essay, in: Die Welt, Nr. 20, 15.05.2004, Literarische Welt, S. 7.
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dung des Ost-West-Konflikts. Schließlich war das geteilte Deutschland das potentielle Schlachtfeld eines Dritten Weltkriegs. Der Krieg ist zu Ende. Es bleibt ein Glanzstück der Diplomatie mit einigen Fragezeichen. Denn, wie Lincoln einst sagte: Nichts ist geregelt, solange es nicht gerecht geregelt ist.
Der deutsch-deutsche Vereinigungsprozess aus internationaler Sicht Vom Albtraum der deutschen Einheit vor 1989 zur Einheit Deutschlands als Fundament der Einheit Europas nach 1989 Von Hans-Georg Wieck Der Fall der Mauer am 9. November 1989 löste in Europa und der Welt nicht nur Freude und Genugtuung über den Sieg der Freiheit über die Unterdrückung aus. Plötzlich stand die deutsche Frage als brisantes Thema der internationalen Politik auf der Tagesordnung. Jahrzehnte hindurch war die Frage der Wiedervereinigung und der politischen Einheit des deutschen Volkes ein Nichtthema – ein Tabu. Angesichts dieser internationalen Situation konzentrierte sich die westdeutsche Politik in der Deutschlandfrage viele Jahre hindurch auf die Bemühungen um menschliche Erleichterungen für die Menschen im anderen Teil Deutschlands. Es fiel Frankreich und Großbritannien schwer, den Vereinigungsprozess hinzunehmen. Am 9. November 2009, also zwanzig Jahre später, veranstaltete Paris ein Feuerwerk auf der Place de la Concorde, um den Mauerfall zu feiern. Ähnliches, wenn auch nicht so Spektakuläres, ereignete sich in London. Und in diesem Jahr beabsichtigt Moskau, am 3. Oktober 2010, den zwanzigsten Jahrestag der Wiederherstellung der deutschen Einheit, auf besondere Weise zu begehen. Man kann, man muss das Resümee ziehen: Auf der internationalen Bühne hat die Vereinigung das Ende des Kalten Krieges, der ja ideologisch und militärisch um die Zukunft Deutschlands und Mitteleuropas geführt wurde, möglich gemacht und ebenso die Vereinigung aller freien Staaten in Europa, wenn sie es dann wollen und die Europäische Union es verkraften kann. Daher wird die Vereinigung auch im Ausland heute überwiegend positiv gewertet. Die Europäische Union braucht ein wirtschaftlich starkes, leistungsfähiges, innovatives Deutschland, das politische Stabilität auf der Basis einer freiheitlichen, demokratischen Verfassung besitzt und immer weder neu schafft. Gleichwohl, in vielen Hauptstädten Europas gibt es auch ein Unbehagen wegen einer möglichen wirtschaftlich und finanziell begründeten Dominanz Deutschlands im Verband der Europäischen Union. Daher hat sich die Union im Lissabonner Vertrag bei der Regelung der Abstimmungen um Gewichtungen bemüht, die diesem Bedürfnis im Interesse der Kohäsion Europas Rechnung tragen.
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Das Ende des Kalten Krieges hat das Tor weit geöffnet für eine Zukunft Europas in Frieden, Freiheit und Wohlstand – eine Perspektive, die durch die Entwicklung der Europäischen Union glaubwürdig vorgezeichnet ist. Man muss allerdings fragen, wie es zu dieser dramatischen Veränderung der politischen Landschaft Europas hat kommen können. Die Antwort ist in einer strategischen Kurskorrektur zu sehen, die auf verschiedene Weise, aber aus den gleichen Gründen, in den beiden kommunistischen Großmächten in den 70er und 80er Jahren vorgenommen wurde. I. Der Reformansatz von Moskau Die letzten Jahre der Breschnew-Ära waren durch die politische, wirtschaftliche und ideologische Stagnation des Landes in seiner Gesamtheit geprägt. Die Erfolglosigkeit der militärischen Intervention in Afghanistan (1979) machte diesen Zustand augenscheinlich. In China und in Moskau setzte die Reformpolitik ein – vor dem Hintergrund der Einsicht, dass, wie Gorbatschow später auf der Parteikonferenz 1986 ausführte, erkennbar geworden war, dass das kapitalistische System – entgegen den Annahmen von Marx und Engels – nicht an seinen eigenen Widersprüchen zugrunde geht und daher das sozialistische System historisch betrachtet nicht dessen Nachfolge antreten kann. Wenn das der Fall ist, muss sich das sozialistische System reformieren, um konkurrenzfähig zu werden. Die beiden Länder haben unterschiedliche Wege eingeschlagen. China ist dabei, eine der im globalen Rahmen leistungsfähigsten Volkswirtschaften zu entwickeln. Russland gründet seine internationale Stellung auf seinen Reichtum an Rohstoffen, vor allem an fossilen Energieträgern. In Moskau wurde erkannt, dass Länder wie die Bundesrepublik Deutschland und Schweden die soziale Frage in das kapitalistische System integriert hatten und dennoch auf dem Weltmarkt in eindrucksvoller Weise mit ihren innovativen Produkten konkurrenzfähig blieben, auf vielen Gebieten gar Weltmarktführer wurden. Die USA nutzten, wie die Sowjetunion erfahren musste, die technologische Innovationsfähigkeit des kapitalistischen Systems für innovative Militärtechnologie, die China und Russland immer wieder kopieren mussten, um mithalten zu können, aber nie die Kraft, die Motivation und die Fähigkeit zur eigenen technologischen Innovation entwickeln konnten. Diese dem Westen durchaus geläufige Lage der Sowjetunion und in China wurde durch geheime sowjetische Dokumente der militär-industriellen Kommission belegt. In jährlich auf den neuesten Stand gebrachten Listen wurde zusammengestellt, welche Technologien aus dem Westen beschafft werden mussten. Diese Listen kannte der Westen, auch die Dokumente, die belegten, dass ab 1996
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in der Sowjetunion ein paralleles Wachstum der Militärausgaben und des Lebensstandards der Bevölkerung nicht mehr möglich sein würde. Schon im Jahre 1980 konzedierte im vertraulichen Gespräch der Leiter des sowjetischen Amerika/Kanada-Instituts, Arbatow, dass man im europäischen Vorfeld den ideologischen Kampf verloren habe und im Jahre 1986 berichtete der BND, dass die als Breshnew-Doktrin bekannte Interventionsstrategie im Falle ideologisch-politischer Abweichungen im Vorfeld aufgegeben worden sei. Gorbatschow drängte das europäische Vorfeld (RGW, WP) zu Reformen und suchte die Verständigung mit den USA über Abrüstung (nuklear, konventionell), um die für die Wirtschaftsreformen erforderlichen Finanzen und Kräfte freizusetzen. Nach westlichen Berechnungen wandte die Sowjetunion mehr als zwanzig Prozent ihres Bruttosozialprodukts (BSP) für das Militär auf. Moskau hat die Wirtschaftskraft und das politische Regenerationspotenzial der Bundesrepublik Deutschland immer sehr hoch eingeschätzt. Ungeachtet des Kalten Krieges wurden Verträge über Gas- und Öllieferungen, sowie Gegenlieferungen der nahtlosen Rohre für die Pipelines, und ein Vertrag über den Bau des OSKOL Stahlwerks geschlossen. Es gab Versuche, deutsche Automobilfirmen zu Investitionen zu bewegen. Das hat dann FIAT, Italien, getan. Die DDR hat die Bedeutung der Bundesrepublik Deutschland für die SU stets unterschätzt, und das offizielle Bonn sowie die Medien haben die Wirtschaftskraft der DDR bis zum Ende der DDR überschätzt. Diese Fehleinschätzung geht auf die Entscheidung der sozial-liberalen Regierung vom Jahre 1969 zurück, die jährlich dem Deutschen Bundestag zu erstattenden Berichte zur Lage der Nation künftig in Bezug auf die DDR auf die statistischen Jahrbücher der DDR abzustellen. Danach war die DDR die „zehntstärkste Industrie-Nation“ der Welt! In der NATO wurden bei den jährlichen Bewertungen des sowjetischen Blocks nachrichtendienstlich gewonnene Erkenntnisse verarbeitet, und das Bild der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Sowjetblocks, einschließlich der DDR, fiel sehr viel bescheidener aus, als es die statistischen Publikationen der WP-Mitgliedstaaten vorgaben. Bei seiner Reformpolitik setzte Gorbatschow auch auf industrielle Zusammenarbeit mit der Bundesrepublik Deutschland zur Modernisierung der sowjetischen industriellen Basis, die, wie wir wissen, auch heute noch marode ist, weil die russische technologische und unternehmerische Mittelschicht nach 1917 beseitigt wurde und die heutige Mittelschicht in der Staatswirtschaft bzw. staatlich kontrollierten Privatwirtschaft groß geworden ist. Auch ist die Unabhängigkeit der Gerichte nicht gewährleistet. Über das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland und über das Ansehen Deutschlands in seiner Gesamtheit habe ich nach meinen Moskauer Jahren (1977–1980) in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik im November
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1980 vorgetragen, und im Jahre 1984 während meiner Zeit als NATO-Botschafter im „NATO-Brief“ über die sowjetische Entscheidung zur Reform berichtet. Ich sprach von dem sowjetischen aus Gründen der Wirtschaftsreform geäußerten Wunsch nach neuen Sicherheitsabsprachen mit den USA und NATO und von der sowjetischen Bereitschaft, dem europäischen Vorfeld mehr Autonomie einzuräumen.
II. Die Menschen in der DDR und ihr Wille zur deutschen Einheit 1. Wirtschaft
Im Jahre 1969 beschloss die Sozialliberale Koalition, die jährlichen, an den Deutschen Bundestag zu richtenden Berichte zur Lage der Nation in Bezug auf die DDR auf die statistischen Jahrbücher der DDR abzustellen, d.h. nicht mehr auf die Analyse der Geheimdienste. So verhielten sich auch die OECD und die Vereinten Nationen. So konnte sich das Bild der DDR-Wirtschaftskraft in das öffentliche Bewusstsein einprägen. Im NATO-Kontext erfolgte die Analyse des Sowjetblocks stets auf der Basis der Geheimdienstberichte. Und da sah das Bild ganz anders aus. Auch die DDR betrieb ihre technische Innovation auf dem Wege über Spionage. Die DDR verschaffte sich Währungseinnahmen auf dem Wege über die Verarbeitung des relativ preiswert aus der Sowjetunion importierten Erdöls zu kommerziellen Produkten, um sie im Westen zu verkaufen. Binnenwirtschaftlich (Wärme, Strom) stellte sie für den eigenen Energiebedarf auf die Nutzung der heimischen Braunkohle ab. 2. Frieden in Europa auf der Basis der Teilung Europas und Deutschlands?
Wegen des TABU für die deutsche Frage und wegen der Präferenz in weiten Teilen des politischen Establishments der Bundesrepublik Deutschland für die Hinnahme der Teilung im Interesse der Stabilität Europas auf der Basis der beiden Blöcke, aber auch wegen des Albtraums von 80 Millionen Deutschen in einem Staat und der Furcht vor einer Wiederaufnahme der kaiserlichen oder der NS-Außenpolitik, war die Suche nach menschlichen Erleichterungen der wesentliche Inhalt der westdeutschen DDR-Politik. 3. Die Stimmungslage in der DDR
Der BND berichtete dann auch über das in der DDR entstehende eigene Staatsbewusstsein. Das war die Lage, die ich 1985 bei meinem Dienstantritt vorfand. Daher entwickelte ich die Idee der regelmäßigen Befragungen der Besucher und Übersiedler über die mit der deutschen Einheit verbundenen Themen. Erstmals seit Menschengedenken wurde diese Fragestellung in die Fragebögen aufge-
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nommen. Auch die Alliierten fragten das nicht – das ist ja verständlich, aber im Falle Deutschlands eigentlich unverständlich. Alle sechs Monate („SPIEGEL“ hat darüber im Februar 2010 auf der Grundlage ihm vom BND [Bundesarchiv] überlassener Akten berichtet) wurde der Bericht zur politisch-psychologischen Lage in der DDR – an die Bundesregierung, an den Innerdeutschen Ausschuss des Deutschen Bundestages, aber auch an das Weiße Haus in Washington, Downing Street, London und an den Elysée-Palast, Paris, sowie an einige andere Partnerdienste geleitet. Ergebnis mit Abweichungen seit Anfang 1986 bis Ende 1989: – 75% für Vereinigung – wann, ungewiss, Grund: Lebensstandard; – 25% hälftig Nomenklatur und Dissidenten. Die Dissidenten wünschten die Demokratisierung der DDR; die Vereinigung stellte keine Priorität dar. Das war die These: „Wir sind das Volk“. Als Elemente der 75% zu den Protestaktionen kamen, wurde es die These „Wir sind das Volk – einig Vaterland.“ – Bundeskanzler Kohl erwähnt die Befragungsergebnisse in seinen Memoiren. – Bundesminister Genscher hatte diese Ergebnisse ebenfalls in seinen Händen. Beide stimmten in unseren Gesprächen dieser Wahrnehmung der Stimmungslage in der DDR durch den BND zu. Berichte über Gorbatschow-Honecker-Gespräche lagen vor: „Wir können Ihnen bei Ihrer Sicherheitslage nicht helfen. Das müssen Sie selbst erledigen.“ Das war sowjetischer Druck, dem Westen und dem innerem Druck nachzugeben. Das DDR-Regime befand sich am Abgrund. Die Schutzmacht, die 1953 militärisch intervenierte, hatte sich zurückgezogen. Schlüsselpersonen des DDR-Kulturlebens vereinigten sich mit den Dissidenten und der Volksbewegung. Die Ereignisse in Polen (Runder Tisch) beflügelten die Opposition zum Regime. Gleichwohl: Es bestand immer die Gefahr des Gebrauchs der Waffe in einer kritischen Situation. Daher lautete die erste Forderung der Bürger an das Regime: Verzicht auf Gewaltanwendung! Der friedfertige Verlauf, der zum Fall der Mauer, zum Runden Tisch und zu den ersten freien Wahlen in der DDR (18. März 1990) führte, hat die Wandlung der im Grunde ablehnenden Haltung vieler Nachbarstaaten Deutschlands zu einer positiven Einstellung nicht unwesentlich mitbestimmt.
IV. Einheit? Diktatur?
Die Stellung der Parteien, der Publizistik und der Wissenschaft zur deutschen Einheit in den achtziger Jahren Von Eckhard Jesse I. Einleitung Am 3. Oktober 2010 jährt sich zum 20. Mal die Wiederkehr der deutschen Einheit. Deren Geschichte ist eine Erfolgsgeschichte1, auch wenn die hohen, weil überhöhten Erwartungen in dieser Form nicht erfüllt worden sind. Die wirtschaftliche Angleichung etwa lässt zu wünschen übrig.2 Gleichwohl will niemand – bei aller Kritik an der Art der Wiedervereinigung – die Zeit der deutschen Teilung zurückhaben. So selbstverständlich die deutsche Einheit heute gilt, so war das in den achtziger Jahren keineswegs der Fall. Der folgende Beitrag will untersuchen, wie die Politik, die Publizistik und die (Politik-)Wissenschaft im Westen Deutschlands3 in den achtziger Jahren zur deutschen Einheit stand.4 Dabei ist vor vorschnellen Urteilen zu warnen. Nicht jeder, der vehement für die deutsche Einheit eintrat, lag richtig. Und nicht jeder, der seinerzeit die deutsche Einheit nicht propagierte, falsch. Die Konstellation ist komplizierter. Schließlich ist die deutsche Einheit unter neutralen Vorzeichen anders zu bewerten als unter westlichen, nicht zu reden von einer Einheit unter kommunistischen Auspizien. 1 Vgl. u. a. Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, München 2009. 2 Vgl. Karl-Heinz Paqué, Die Bilanz. Eine wirtschaftliche Analyse der Deutschen Einheit, München 2009. 3 Die Haltung zur deutschen Frage im Osten Deutschlands kommt nicht zur Sprache. Vgl. dazu u. a. Anne Köhler, Nationalbewusstsein und Identitätsgefühl der Bürger der DDR unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Frage, in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), hrsg. vom Deutschen Bundestag, Bd. V/2, Baden-Baden 1995, S. 1636–1675. 4 Die Haltung der Bevölkerung bleibt ausgespart. Vgl. dazu u. a. Manuela Glaab, Deutschlandpolitik in der öffentlichen Meinung. Einstellungen und Regierungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 1990, Opladen 1999; siehe auch dies., Die deutsche Frage im Bewusstsein der Deutschen. Einstellungen und Perzeptionsmuster der Bevölkerung in Ost und West, in: Peter März (Hrsg.), 40 Jahre Zweistaatlichkeit in Deutschland. Eine Bilanz, München 1999, S. 47–60.
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Eingangs wird die Position der Verfechter eines dritten, neutralen Weges in den achtziger Jahren geschildert – in der Politik, der Publizistik und der Wissenschaft. Danach geht es darum, gesondert die Haltung der Politik, der Publizistik und der (Politik-)Wissenschaft zu erfassen – mit Blick auf das Verfassungsgebot der Wiedervereinigung.5 Da Publizistik und Forschung oft auf die Politik reagiert haben, steht diese im Vordergrund. Vereinfachungen sind dabei unvermeidlich.6 Schließlich wird gefragt, wie diese Positionen vor dem Hintergrund der deutschen Einheit einzuordnen sind. Ein Vergleich zwischen Politik, Publizistik und (Politik-)Wissenschaft schließt den Beitrag ab. II. Der „dritte Weg“ in der deutschlandpolitischen Diskussion der achtziger Jahre In den achtziger Jahren entstand bei besorgten Zeitgenossen – zumal des Auslandes – der Eindruck, die Bundesrepublik Deutschland breche aus dem westlichen Bündnissystem aus, hatte es doch in Deutschland Strömungen gegeben, die angesichts einer drohenden (oder als solcher empfundenen) Kriegsgefahr auf deutschem Boden („Schlachtfeld Deutschland“) mehr oder weniger direkt ein neutrales Gesamtdeutschland vorschlugen, wie bereits in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre.7 Die Einheit sollte durch Neutralität ermöglicht werden. Allerdings herrschte in diesem Punkt kein Konsens in der breit gefächerten Friedensbewegung. Die meisten „Friedenbewegten“ forderten – nicht zuletzt aufgrund des starken Einflusses von Kräften, die mit der sowjetischen Politik sympathisierten8 – „bloß“ eine Ablehnung der westlichen Nachrüstung oder einen einseitigen Austritt der Bundesrepublik aus der NATO. Letzte Position wurde von „NationalNeutralisten“ scharf zurückgewiesen. Die „deutsche Unruhe“ ließ Kritiker nicht ruhen. Die Französin Brigitte Sauzay, etwa sprach von einem „deutschen Taumel“9, Arnulf Baring von einem 5 Vgl. Sören Roos, Das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes in der deutschen Kritik zwischen 1982 und 1989, Berlin 1996. 6 Der Verfasser hat sich zu dieser Thematik mehrfach geäußert. Vgl. Eckhard Jesse, Der „dritte Weg“ in der deutschen Frage Über die Aktualität, Problematik und Randständigkeit einer deutschlandpolitischen Position, in: Deutschland Archiv 22 (1989), S. 543–559; Die politikwissenschaftliche DDR-Forschung in der Bundesrepublik, in: Peter Eisenmann/Gerhard Hirscher (Hrsg.), Dem Zeitgeist geopfert. Die DDR in Wissenschaft, Publizistik und politischer Bildung, Mainz 1992, S. 13–58; Die DDR-Forschung vor und nach der „Wende“ 1989/90, in: Materialien der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit“ (13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), hrsg. vom Deutschen Bundestag, Bd. IV/2, Baden-Baden 1999, S. 11–28. 7 Vgl. Alexander Gallus, Die Neutralisten. Verfechter eines vereinten Deutschland zwischen Ost und West 1945–1990, 2. Aufl., Düsseldorf 2006. 8 Vgl. Udo Baron, Kalter Krieg und heißer Frieden. Der Einfluss der SED und ihrer westdeutschen Verbündeten auf die Partei ,Die Grünen‘, Münster u. a. 2003.
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„neuen Größenwahn“10, Wilfried von Bredow kritisierte den grassierenden „Apokalypse-Enthusiasmus“.11 Der deutschlandpolitische „Aufbruch“ irritierte (vor allem im Ausland), auch wenn die Maxime „Zurück zur Nation“12 sich mehr in den Spalten von Periodika abspielte und so gut wie ohne jede Massenbasis war. Der bekannte französische Politikwissenschaftler Pierre Hassner brachte die Brisanz lakonisch auf den Punkt: „Das deutsche Problem ist wieder da.“13 Was war für ihn das „deutsche Problem“? Auch als „wohlwohlender Ausländer“ komme er bei allen Übertreibungen zumal in Frankreich nicht umhin, vor den „Gefahren des deutschen Pazifismus, Neutralismus und Nationalismus“14 zu warnen. Er sah offenkundig die „Verbindung von Pazifismus, Neutralismus und Nationalismus“15 als kennzeichnende Entwicklung in der ersten Hälfte der achtziger Jahre an. Nicht zuletzt diese drei Reiz- und Schlagworte wurden vielfach aufgegriffen, riefen Angst vor dem Furor teutonicus hervor. Für ein pazifistisches Gesamtdeutschland unter neutralen Vorzeichen sprachen sich manche Repräsentanten der Friedensbewegung aus. Ihre Verfechter kamen häufig aus den Reihen der Grünen. Zu nennen ist etwa Rolf Stolz, Sprecher des Initiativkreises „Linke Deutschland-Diskussion“ mit seinem Materialbrief „Deutsche Probleme – Probleme mit Deutschland“.16 Verweisen ließe sich auch auf Herbert Ammon und Peter Brandt17, ebenso auf die von Herbert Ammon und Theodor Schweisfurth verfasste Denkschrift „Friedensvertrag, Deutsche Konföderation, Europäisches Sicherheitssystem“18, zu welcher der Friedensforscher Alfred Mechtersheimer ein Vorwort beigesteuert hatte. Die deutschlandpolitische Konzeption war in eine gesellschaftspolitische des „dritten Wegs“ eingebettet – sei es in expliziter, sei es in impliziter Form. Das galt ebenso für die nicht pazi9 Vgl. Brigitte Sauzay, Die rätselhaften Deutschen. Die Bundesrepublik von außen gesehen, Stuttgart 1986. 10 Vgl. Arnulf Baring, Unser neuer Größenwahn. Deutschland zwischen Ost und West, Stuttgart 1988. 11 Vgl. Wilfried von Bredow, Deutschland – ein Provisorium?, Berlin 1985, S. 100– 112. 12 Vgl. Arno Klönne, Zurück zur Nation? Kontroversen zu deutschen Fragen, Köln 1984. 13 Pierre Hassner, Was geht in Deutschland vor? Wiederbelebung der deutschen Frage durch Friedensbewegung und alternative Gruppen, in: Europa-Archiv 27 (1982), S. 517. 14 Ebd., S. 517. 15 Ebd., S. 521. 16 Vgl. etwa den folgenden Sammelband von Rolf Stolz (Hrsg.), Ein anderes Deutschland. Grün-alternative Bewegung und neue Antworten auf die Deutsche Frage, Berlin 1985. 17 Vgl. Herbert Ammon/Peter Brandt (Hrsg.), Die Linke und die nationale Frage. Dokumente zur deutschen Einheit seit 1945, Reinbek bei Hamburg 1981. 18 Vgl. Herbert Ammon/Theodor Schweisfurth, Friedensvertrag, Deutsche Konföderation, Europäisches Sicherheitssystem. Denkschrift zur Verwirklichung einer europäischen Friedensordnung mit 50 Seiten Dokumenten, Starnberg 1985.
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fistische Variante. Prototypisch hierfür ist die Konzeption Wolfgang Venohrs, der sich in der Tradition eines Ernst Niekisch sah. Wie bei Niekisch früher führte bei dem Publizisten Wolfgang Venohr ein beträchtliches Ressentiment gegenüber westlichen Ideen die Feder. Seine Sammelbände „Die deutsche Einheit kommt bestimmt“19 und „Ohne Deutschland geht es nicht“20 mit Autoren aus unterschiedlichen Lagern formulierten heftige Attacken gegen den Status quo der Westbindung der Bundesrepublik. Die Haltung zur freiheitlichen Lebensordnung spielte für Venohr keine Rolle. Hingegen war für ihn die Verfügung Deutschlands über eigene Waffen selbstverständlich. Diese Position machten sich die meisten Nationalneutralisten zu Eigen. Es muss nicht verwundern, dass Venohr noch 1989 – am Vorabend des Endes der DDR – ein Buch mit dem Untertitel „Vom wundersamen Aufstieg der DDR in Deutschland“ verfasst hat, in dem er recht unkritisch über das politische System DDR schrieb und unter Berufung auf eine geheime DDR-Umfrage von 1988 behauptete, die Zahl jener, die einen Anschluss der DDR an die Bundesrepublik wünschten, liege „seit der zweiten Jahreshälfte 1983 konstant bei 5 Prozent“21. Diese national-neutrale Konzeption, ob nun in pazifistischer oder in nicht-pazifistischer Variante, verkörperte keineswegs den Mainstream in der Politik, der Publizistik und der Forschung. Hingegen dominierte die Position, die Pazifismus, Neutralität und Einheit verwarf und die Bundesrepublik nicht als Provisorium sah.22 Hierzu gehörten sowohl diejenigen, für die die Westbindung Vorrang gegenüber einem wiedervereinigten Deutschland unter neutralen Vorzeichen besaß als auch diejenigen, die den Status quo bedingungslos festschreiben wollten. Zur letzten Position zählte etwa der Zeithistoriker Heinrich August Winkler mit seiner Absage an einen deutschen Nationalstaat angesichts der Last der Geschichte: „Die Furcht vor einer neuen Machtzusammenballung in der Mitte Europas ist in Ost und West zu groß, als dass die Deutschen selbst nochmals einen souveränen Nationalstaat wollen könnten.“23 Eine ähnliche Position vertrat ein renommierter Publizist wie Theo Sommer.24 Zu den wenigen, die weder die Bewaffnung der Bundesrepublik noch ihre Westbindung in Frage stellten (oder nur in eher marginalen Aspekten), gehörte 19 Vgl. Wolfgang Venohr (Hrsg.), Die deutsche Einheit kommt bestimmt, Bergisch Gladbach 1982. 20 Vgl. ders. (Hrsg.), Ohne Deutschland geht es nicht. 7 Autoren zur Lage der deutschen Nation, Krefeld 1985. 21 So ders., Die roten Preußen. Vom wundersamen Aufstieg der DDR in Deutschland, Erlangen 1989, S. 318. 22 Vgl. etwa Wilfried von Bredow (Anm. 11). 23 Heinrich August Winkler, Bismarcks Schatten. Ursachen und Folgen der deutschen Katastrophe, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 35 (1988), S. 121. 24 Belege finden sich zuhauf bei Jens Hacker, Deutsche Irrtümer. Schönfärber und Helfershelfer der SED-Diktatur im Westen, Berlin 1992, S. 280–324, S. 352–382.
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der CDU-Bundestagsabgeordnete Bernhard Friedmann mit seinen Wiedervereinigungsvorschlägen.25 In den achtziger Jahren forderte kaum jemand ein wiedervereinigtes Deutschland unter westlichen Vorzeichen.26 Die Position des Politikwissenschaftlers Dieter Mahncke stellte eine große Ausnahme dar: „Zuallererst heißt es, dass Wiedervereinigungspolitik Westpolitik ist. Die Einbindung der Bundesrepublik, die Aufrechterhaltung der Allianz und die Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft sind Voraussetzungen der Wiedervereinigung im oben skizzierten Sinne.“27 Die Auffassung war verbreitet, die deutsche Einheit könne nur eine Folge der europäischen Einheit sein. Der Ost-West-Konflikt wurde vielfach auf einen machtpolitischen Gegensatz der „Supermächte“ reduziert und damit der ideenpolitische Unterschied relativiert. Die verbreitete Annahme, geradezu der archimedische Punkt der Überlegungen, die Teilung Deutschlands sei für den Ost-West-Konflikt bzw. den Kalten Krieges verantwortlich, basierte auf einer Verwechslung von Ursachen und Folgen. Und bezeichnenderweise fand der Topos vom „besetzten Land“ in ideologisch ganz unterschiedlichen Lagern Zustimmung – bei Heinrich Albertz ebenso wie bei Hellmut Diwald. III. Parteien Nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der DDR im Jahre 1949 hatte es zwanzig Jahre lang deutsch-deutsche Beziehungen auf staatlicher Ebene so gut wie nicht gegeben. Die Bundesrepublik sah die Abhaltung freier Wahlen in ganz Deutschland als Voraussetzung der Wiedervereinigung an, während die DDR die „Wiedervereinigung“ – dieser Terminus wurde eigens gebraucht – auf der Grundlage von Verhandlungen anzustreben vorgab. Da der OstWest-Konflikt in den sechziger Jahren an Bedeutung verloren hatte, wollte die neue Bundesregierung den „Sonderkonflikt“ (Richard Löwenthal) zwischen der Bundesrepublik und der DDR reduzieren. Ansonsten bestand, so die Haltung der Bundesregierung, die Gefahr einer möglichen Isolierung der Bundesrepublik im westlichen Bündnis. Die sozial-liberale Bundesregierung stellte sich auf den Boden der durch den Zweiten Weltkrieg und den Kalten Krieg geschaffenen Tatsachen. Die sozial-liberale Regierung unternahm mit ihrer Ostpolitik nicht den Versuch, die DDR zu isolieren, sondern bezog sie in ihr Entspannungskonzept ein, hatte sich doch gezeigt, dass eine Ausklammerung der DDR zu keinen Erfol25 Vgl. Bernhard Friedmann, Einheit statt Raketen. Thesen zur Wiedervereinigung als Sicherheitskonzept, Herford 1987. 26 Vgl. etwa als einer der wenigen Rupert Scholz, Der Weg zur Einheit über den Nationalstaat ist nicht verboten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 16. Oktober 1985. 27 So Dieter Mahncke, Ein wiedervereinigtes Deutschland außerhalb der Militärallianzen in Europa?, in: Jens Hacker/Siegfried Mampel (Hrsg.), Europäische Integration und deutsche Frage, Berlin 1989, S. 64.
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gen führte. Die Existenz der DDR als zweiter deutscher Staat wurde in der Regierungserklärung 1969 nicht bestritten, wohl aber ihre völkerrechtliche Anerkennung abgelehnt. Der Grundlagenvertrag stellte fest, dass die beiden Staaten normale gutnachbarliche Beziehungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung entwickeln wollen und keiner den anderen international vertreten oder in seinem Namen handeln kann. Die beiden deutschen Staaten erklärten ihre Bereitschaft, im Zuge der Normalisierung praktische und humanitäre Fragen zu regeln (Reiseund Besuchserleichterungen). Als im Herbst 1982 die Union die SPD abgelöst hatte, erwarteten Beobachter eine Änderung. Es kam jedoch weder zu einer „Eiszeit“, wie von manchen Anhängern der SPD geargwöhnt, noch wurde gegenüber der DDR ein härterer Kurs eingeschlagen, wie von einigen Befürwortern der „Wende“ erhofft. Tatsächlich herrschte weitgehend Kontinuität vor, auch wenn sich dies in der Terminologie nicht niederschlug. Sprach die Union von „innerdeutschen“ Beziehungen, so bevorzugte die SPD den Terminus „deutsch-deutsche“ Beziehungen. Die Union setzte ab 1982 weithin die Deutschlandpolitik der Vorgängerregierung fort. Kohl hatte in seiner Regierungserklärung deutlich gemacht, alle von der Bundesregierung übernommenen Verpflichtungen würden gegenüber der DDR eingehalten und längerfristige Abmachungen getroffen. Allerdings: Die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten waren in das allgemeine Ost-West-Verhältnis eingebettet. Ebenso wie der „Sonderkonflikt“ zwischen der Bundesrepublik und der DDR bzw. der Sowjetunion nicht lange Bestand hatte, musste die Annahme unrealistisch sein, die beiden deutschen Staaten könnten sich durch eine Art „Sonderkonsens“ über die Spannungen der internationalen Lage hinwegsetzen. Es war schon viel gewonnen, wurden diese durch den Gegensatz zwischen der DDR und der Bundesrepublik nicht noch angeheizt. Und das ließ sich in der Tat erreichen. Wenig überzeugend sind nachträgliche Kritiken an der Nachgiebigkeit der westdeutschen Regierung gegenüber dem SED-Regime. Was den Honecker-Besuch betrifft, gab es „seinerzeit praktisch keine Opposition in dieser Frage.“28 Der Handlungsspielraum war vor 1989 weit begrenzter als danach, so dass angemessene Alternativen zur praktizierten Politik fehlten. Anders ist die Frage zu beurteilen, ob Politiker des Westens bei ihren internen Gesprächen mit „drüben“ manchmal zu viel Konzessionen gemacht haben – sei es des besseren Arbeitsklimas wegen, sei es wegen des gedanklichen Verzichts auf die Einheit Deutschlands.29 Der notorisch devisenschwachen DDR dürften manche Konzessionen 28 Wilhelm Bruns, Von der Deutschland-Politik zur DDR-Politik, Opladen 1989, S. 170. 29 Vgl. für Einzelheiten Detlef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan (Hrsg.), Von Hubertusstock nach Bonn. Eine dokumentierte Geschichte der deutsch-deutschen Beziehungen auf höchster Ebene 1980–1987, Berlin 1995.
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durch finanzielle Großzügigkeit der Gegenseite erleichtert worden sein. Für das Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen in beiden Teilen Deutschlands hing viel von der Aufrechterhaltung der persönlichen Kontakte ab. Diese hatten in den achtziger Jahren beträchtlich zugenommen, und zwar gleichermaßen für Reisen aus der DDR – auch für Personen, die noch nicht im Rentenalter waren – wie für Reisen in die DDR. Setzte die Union mit gewissen Akzentuierungen die Deutschlandpolitik der von den Sozialdemokraten geführten Regierung fort, so gingen diese in der Opposition deutlich darüber hinaus. Sie trieben eine Art „Nebenaußenpolitik“ und ließen sich als Opposition darauf ein, mit der SED Vereinbarungen zu schließen. Aus den Reihen von Sozialdemokraten war gelegentlich zu hören, die Wiedervereinigung sei nicht nur unrealistisch, sondern auch wenig wünschenswert. Allerdings war diese Position innerhalb der Sozialdemokratie nicht mehrheitsfähig. Das von der Grundwertekommission der SPD und der Akademie der Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED gemeinsam verabschiedete Papier „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“30 fällt in die Phase der „zweiten Ostpolitik“ der SPD. Die Partei wollte sich nicht mit ihrer eher passiven Rolle als Opposition bescheiden, sondern aktiv Einfluss auf die Deutschlandpolitik nehmen. In dem Papier bescheinigten sich beide Seiten Existenzberechtigung, Reformfähigkeit und Friedensfähigkeit. Kritiker argumentierten, die SPD habe mit ihrer „Nebenaußenpolitik“ die Position der SED im Westen salonfähig gemacht, Anhänger des Papiers meinten gerade umgekehrt, dies träfe vielmehr für sozialdemokratische Positionen im Osten zu. Auch wenn heutzutage die Kritik an der Naivität vieler Formulierungen im besagten Papier überwiegt (die Fixierung auf die Friedensfrage ging mit einer Vernachlässigung der Freiheitsfrage einher), so war in gewisser Weise die sozialdemokratische Position in der DDR aufgewertet worden. Der SED fiel es schwerer, den „Sozialdemokratismus“ zu verteufeln. Wie die Ostpolitik der sozial-liberalen Regierung der DDR nicht nur Vorteile, sondern durch die Vermehrung der Kontakte zum Teil auch Nachteile gebracht hatte, so geriet die SED durch dieses Dokument in die Defensive. Jede Form der Öffnung musste sich für die nicht demokratisch legitimierten Herrschaftsinteressen der SED nachteilig bemerkbar machen. Eine Auseinandersetzung mit gegnerischen Argumenten hatte sie zu scheuen. Feindbilder ließen sich jedenfalls dann schwerer reaktivieren. Gleichwohl war die gemeinsame Unterzeichnung eines Papiers durch eine demokra-
30 Zu diesem Thema liegen Publikationen aus der Feder zweier Beteiligter vor (und zwar auf der Seite der SED): Erich Hahn, SED und SPD. Ein Dialog. Ideologie-Gespräche zwischen 1984 und 1989, Berlin 2002; Rolf Reißig, Dialog durch die Mauer. Die umstrittene Annäherung von SPD und SED. Mit einem Nachwort von Erhard Eppler, Frankfurt a. M./New York 2002.
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tische Oppositionspartei in dem einen Teil Deutschlands und eine diktatorische „Einheitspartei“ in dem anderen Teil nur schwer verständlich. Der Reiseverkehr nahm in den achtziger Jahren beträchtlich zu, und zwar nicht nur von West nach Ost. Auf diese Weise wuchs die Kommunikation, wurden neue Bindungen geknüpft und alte aufrechterhalten. Die DDR schob in den achtziger Jahren immer mehr Ausreisewillige in den Westen ab (im Frühjahr 1984 allein 40.000) – in der Annahme, ein Unruhepotential loszuwerden. Diese Hoffnung trog. Übersiedler pflegten Kontakte zu ihren Angehörigen und Freunden. Der Besuch Honeckers in der Bundesrepublik im Jahre 1987 – er erwiderte damit den Besuch Helmut Schmidts in der DDR 1981 – erfüllte zwar den Wunsch des SED-Chefs nach protokollarischen Ehren; jedoch ließ Bundeskanzler Kohl keinen Zweifel an der Ablehnung der auf Abgrenzung bedachten deutschlandpolitischen Vorstellungen der DDR-Führung aufkommen.31 Offenkundig war keine politische Kraft von Bedeutung so recht an einer Destabilisierung der DDR interessiert,32 wenngleich, und das ist die Kehrseite, eine solche die Folge der vermehrten Kontakte gewesen ist. IV. Publizistik In der Publizistik der Bundesrepublik Deutschland wurde in den achtziger Jahren die Wiedervereinigung unter westlichen Vorzeichen so gut wie nicht mehr propagiert. Das war in den fünfziger Jahren gänzlich anders. Insofern hatte sich ein beträchtlicher Wandel vollzogen – bedingt nicht zuletzt durch die politische „Großwetterlage“. Was als unrealistisch galt, musste nicht vehement verfochten werden. Freilich konnte der Eindruck entstehen, dass das Unrealistische wünschenswert sei. Die normative Kraft des Faktischen schlug in eine faktische Kraft des Normativen um. Mit dem Verzicht auf die Wiedervereinigung schwächte sich auch die Kritik an der SED-Diktatur ab. Freilich lässt sich dies für die pluralistische „Presselandschaft“ nicht generell behaupten. Neben Positionen, die entschieden auf die Unfreiheit in der DDR hinwiesen (das gilt zum Beispiel für die Berichterstattung von Karl-Heinz Baum in der „Frankfurter Rundschau“), gab es anbiedernde Reaktionen, die schwer nachvollziehbar sind – als sei Kritik am DDR-System Kritik an den dort lebenden Menschen. Das trifft etwa auf „Zeit“Journalisten zu,33 die bei ihrer Berichterstattung von einer Reise in die DDR ein hohes Maß an Naivität an den Tag gelegt hatten. Nicht nur, dass die Frage der Wiedervereinigung tabuisiert wurde: Die Publizisten versäumten es ebenso, das 31 Vgl. Karl-Rudolf Korte, Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft – Regierungsstil und Entscheidungen 1982–1989, Stuttgart 1998. 32 Vgl. Heinrich Potthoff, Die „Koalition der Vernunft“. Deutschlandpolitik in den 80er Jahren, München 1994. 33 Vgl. Theo Sommer (Hrsg.), Reise ins andere Deutschland, Reinbek bei Hamburg 1986.
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politische System kritisch unter die Lupe zu nehmen. Sie gaben sich oft mit dem zufrieden, was ihre (ausgewählten) Gesprächspartner mitzuteilen wussten. Günter Gaus und Klaus Bölling waren herausragende Journalisten. Gaus fungierte als „Spiegel“-Chefredakteur, Bölling als WDR-Redakteur in herausgehobenen Positionen. Gaus avancierte 1974 zum Leiter der ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der DDR, Bölling – als sein Nachfolger – 1981 (bis 1982). Erfahrungsberichte der beiden gingen auf die Wiedervereinigungsthematik nicht ein. Im Bestreben, keine „Schwarz-Weiß-Klischees“ zu huldigen, kam die Kritik an der SED-Diktatur nur in abgefederter Form vor. Günter Gaus verklärte mit seinem Wort und seiner Interpretation der „Nischengesellschaft“34 die DDR-Gesellschaft, und Klaus Bölling, der mehr Distanz erkennen ließ, rechnete Günter Mittag, ausgerechnet ihn, zu den „Pragmatikern“35 in der SED-Führungsspitze. Solche Einschätzungen, die bisweilen Empathie mit Sympathie verwechselten, waren in der Publizistik der achtziger Jahre keine Ausnahme. V. (Politik-)Wissenschaft Die DDR-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland vor dem „Schlüsseljahr“ 1989 hatte mehrere Phasen erlebt. Kennzeichnend für die einschlägige Forschung ist eine gewisse Abhängigkeit vom jeweiligen Zeitgeist gewesen.36 Anfangs war „SBZ-Forschung“ weithin Wiedervereinigungswissenschaft, danach – nach einer Übergangsphase – dominierte zur Zeit der sozial-liberalen Regierung eine stärker empirisch ausgerichtete Sichtweise, die die Eigenständigkeit der DDR nicht in Frage stellte und überwiegend systemimmanent argumentierte. Der „Forschungsbeirat für Fragen der Wiedervereinigung Deutschlands“ wurde 1974 aufgelöst. Später, in den achtziger Jahren, schwächte sich das Übergewicht der „Immanenzler“ zwar ab, blieb jedoch gewahrt. Ausbalanciertere Sichtweisen gewannen an Bedeutung. Die 1978 gegründete Gesellschaft für Deutschlandforschung hielt am Verfassungsgebot der Wiedervereinigung fest. Sie hat damit Grund zur Genugtuung.37 34
Vgl. Günter Gaus, Wo Deutschland liegt. Eine Ortsbestimmung, Hamburg 1983. Vgl. Klaus Bölling, Die fernen Nachbarn. Erfahrungen in der DDR, Hamburg 1983, S. 218. 36 Vgl. die Belege bei Heinz Peter Hamacher, DDR-Forschung und Politikberatung 1949–1990. Ein Wissenschaftszweig zwischen Selbstbehauptung und Anpassungszwang, Köln 1991. 37 Vgl. Karl Eckart/Jens Hacker/Siegfried Mampel (Hrsg.), Wiedervereinigung Deutschlands. Festschrift zum 20jährigen Bestehen der Gesellschaft für Deutschlandforschung, Berlin 1998; siehe auch Günther Heydemann, 25 Jahre Gesellschaft für Deutschlandforschung. Das geteilte und vereinigte Deutschland im Spiegel einer wissenschaftlichen Vereinigung, in: ders./Eckhard Jesse (Hrsg.), 15 Jahre deutsche Einheit. Deutsch-deutsche Begegnungen, deutsch-deutsche Beziehungen, Berlin 2006, S. 361– 376. 35
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Der dominierende systemimmanente Ansatz zeichnete sich dadurch aus, dass die DDR nicht (mehr) an den Prinzipien des demokratischen Verfassungsstaates gemessen wurde. So hieß es bei Gert-Joachim Glaeßner, einem der führenden DDR-Forscher: „Die 1961 von Hartmut Zimmermann geforderte Analyse der Sozialistischen Systeme ,als eine neue Form der Organisation menschlichen Zusammenlebens‘, die eigenen Gesetzmäßigkeiten gehorcht und neuen Antagonismus produziert, hat sich weitgehend durchgesetzt. Die DDR wird von der Forschung als politisch-soziales System sui generis begriffen, als eine neben anderen möglichen Formen der Organisation hochindustrialisierter Gesellschaften. Es wird akzeptiert, dass der umfassende Regelungsanspruch dieses Systems nicht totalitärer Willkür [. . .] entspricht [. . .].“38
Vielfach beschränkten sich DDR-Forscher auf Deskription und verzichteten auf Wertung. Die Thematik der deutschen Einheit spielte keine Rolle. Kritikwürdiger als dieser Umstand ist die Vernachlässigung der Legitimitätsfrage. Für die DDR heikle Themen – der Repressionsapparat ebenso wie die Rolle der Staatssicherheit – wurden kaum mehr untersucht. Autoren wie Karl Wilhelm Fricke, die sich dieser Aspekte annahmen, gehörten zu den Ausnahmen. Der Hinweis auf die mangelnde Fähigkeit, den Untergang der DDR prognostiziert zu haben, lenkt vom eigentlichen Manko ab. Dafür steht Klaus von Beymes Wort vom „schwarzen Freitag“ der Sozialwissenschaften. Kritikwürdig ist weniger, das Ende der DDR nicht rechtzeitig erkannt zu haben, denn das gilt für alle Richtungen. Die Inhumanität des SED-Systems ist zu wenig zur Sprache gebracht worden. Wer sehen wollte, konnte sehen. Die DDR-Forschung vor 1989 hat zwar erschreckende Defizite offenbart, wie man nicht nur aus „aus heutiger Sicht“ weiß, jedoch ebenso beachtliche Ergebnisse zutage gefördert. Wer generell von einem „Versagen der DDR-Forschung“ spricht, vereinfacht stark. Das Thema Wiedervereinigung spielte allerdings in den achtziger Jahren keine Rolle mehr. VI. Wiedervereinigung in Einheit und Freiheit Die deutsche Einheit 1990 war die Folge der friedlichen Revolution von 1989. Diese wurde maßgeblich durch die politische Umorientierung in der Sowjetunion gefördert. Die DDR-Führung geriet immer stärker unter den Druck von Gorbatschows Reformpolitik.39 Durch den Abbau der ungarischen Grenzbefestigungen gegenüber Österreich im Mai 1989 entstand zwischen beiden Ländern eine 38 Gert-Joachim Glaeßner, Die Mühen der Ebene – DDR-Forschung in der Bundesrepublik, in: ders. (Hrsg.), Die andere Republik. Gesellschaft und Politik in der DDR, Opladen 1989, S. 114. 39 Vgl. Alexandra Nepit, Die SED unter dem Druck der Reformen Gorbatschows. Der Versuch der Parteiführung, das SED-Regime durch konservatives Systemmanagement zu stabilisieren, Baden-Baden 2004.
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„grüne Grenze“. Am 11. September schließlich, einem Schlüsseldatum, ließ Ungarn die Fluchtwilligen über Österreich in die Bundesrepublik ausreisen. Flüchtlinge, die in den bundesdeutschen Botschaften Polens, Ungarns und der CSSR waren, gelangten durch Absprache hinter den Kulissen ebenfalls in die Freiheit. Diese Fluchtwelle zog eine Demonstrationswelle der Zurückgebliebenen nach sich. Die Mauer wurde schließlich am 9. November 1989 aus demselben Grund geöffnet, aus dem sie am 13. August 1961 entstand: um die Macht der Herrschenden zu sichern. Was 1961 gelang (die DDR stabilisierte sich in der Folgezeit), misslang 1989: Zahlreiche Intellektuelle der DDR (aber auch aus der Bundesrepublik) sprachen sich für einen eigenen Weg zwischen dem bisherigen „Staatssozialismus“ der DDR und dem Kapitalismus der BRD aus. Die reformierte DDR sollte nicht der Bundesrepublik beitreten. Als beispielhaft hierfür mag der Aufruf „Für unser Land“ gelten, unterzeichnet u. a. von den Schriftstellern Stefan Heym und Christa Wolf, auch von manchen Bürgerrechtlern wie Friedrich Schorlemmer und Konrad Weiß. „Noch haben wir die Chance, in gleichberechtigter Nachbarschaft zu allen Staaten Europas eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln. Noch können wir uns besinnen auf die antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir einst ausgegangen sind.“40 Doch diese Vorstellungen erwiesen sich als Chimären von Intellektuellen, denen das Gros der Bevölkerung eine Absage erteilte.41 In dem Moment, in dem der Ost-West-Konflikt seine Bedeutung verlor (durch den Niedergang einer „Supermacht“), kehrte die „deutsche Frage“ auf die politische Agenda zurück. So ließe sich die überaus paradox anmutende These formulieren, das Ende der DDR sei bereits 1945 präjudiziert gewesen – zu einem Zeitpunkt, als es sie noch gar nicht gab. Doch war der Weg zur Einheit nicht von nationalistischem Furor getragen. Weder Nationalisten („Deutschland zuerst“) noch anti-deutsche Linke („Deutschland verrecke“) konnten aus dem Schlüsseljahr 1989 Honig saugen. Die deutsche Teilung war keine unmittelbare Folge des von Hitler angezettelten Zweiten Weltkrieges, sondern eine solche des Kalten Krieges. Hingegen sahen viele – in der DDR wie in der Bundesrepublik – sie als eine Art gerechte Strafe für den Zweiten Weltkrieg und für Auschwitz. Die Wiedervereinigung Deutschlands kam für alle Auguren überraschend. Das gilt für Anhänger und Gegner gleichermaßen. Der Vorwurf, sie nicht vorhergesagt zu haben, ist wohlfeil und betrifft – es kann nicht oft genug betont werden – sämtliche Richtungen. Offenkundig hat die Westbindung die Wiedervereinigung Deutschlands nicht ausgeschlossen, vielleicht sogar gefördert, was immer die In40 Der Aufruf „Für unser Land“ ist zitiert nach Charles Schüddekopf (Hrsg.), „Wir sind das Volk“. Flugschriften, Aufrufe und Texte einer deutschen Revolution, Hamburg 1990, S. 240 f. 41 Etwas anders setzt die Akzente Andreas H. Apelt, Die Opposition in der DDR und die deutsche Frage 1989/90, Berlin 2009.
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tention von Adenauer, der unerschütterlich an der Westbindung festgehalten hat, gewesen sein mag. Aber man muss sich davor hüten, den historischen Faden zwischen der Politik Adenauers und der Entwicklung 1989/90 zu eng zu knüpfen, wird doch so die komplexe Struktur der internationalen Politik über mehrere Jahrzehnte hinweg gleichsam ignoriert. Umgekehrt ist es ebenfalls nicht angängig, der Entspannungspolitik der sozial-liberalen Regierung das alleinige Verdienst zuzusprechen. Wer behauptet, die neue Ost- und Deutschlandpolitik sollte den Ostblock untergraben, leistet einer historischen Legende Vorschub. Auf den Status quo eingeschworene Friedenspolitik überlagerte lange andere Überlegungen. Eine Destabilisierung des Ostblocks wurde ausdrücklich zurückgewiesen, zumal in den achtziger Jahren, trat aber gerade durch die Entspannungspolitik ein. Wer in den achtziger Jahren so vehement die Wiedervereinigung gefordert hatte, gehörte, wie gezeigt, fast ausschließlich dem „neutralen Lager“ an. Die Wiedervereinigung vollzog sich dann jedoch bekanntlich in einer ganz anderen Form: Die Westbindung blieb aufgrund der Agonie des kommunistischen Herrschaftssystems, nachdem es eine kurze Zeit zunächst anders ausgesehen hatte, auf allen Gebieten unangetastet – sieht man einmal davon, dass auf dem Territorium der neuen Bundesländer keine NATO-Truppen stationiert werden dürfen. Außerdem kamen nationalistische Töne so gut wie nicht zur Geltung. Man hat sowohl bei den (einstigen) Befürwortern der Westbindung als auch bei den (früheren) Anhängern der Wiedervereinigung zu differenzieren: Wer in den achtziger Jahren für die Wiedervereinigung votierte, musste nicht notwendigerweise ein Gegner des „Westens“ sein. Und wer seinerzeit den Status quo verfocht, nicht notwendigerweise ein Gegner der Wiedervereinigung unter westlichen Vorzeichen. Schließlich gab es Kräfte, die die Neutralität lediglich als Mittel zum Zweck der Wiedervereinigung betrachteten, ohne mit dem Neutralitätskonzept irgendwelche gesellschaftspolitischen Intentionen zu verbinden. Und manche „Westler“ machten sich für die Wiedervereinigung nur deshalb nicht stark, weil sie eine Neutralitätskonzeption strikt ablehnten. Bloß unter dieser Voraussetzung schien die Einheit Deutschlands (geringe) Chancen zu haben.42 Zudem wurde bei einem Teil der „Westler“ ein freiheitliches Gemeinwesen in der DDR (ein „zweites Österreich“) wohl auch höher eingestuft als ein vereinigtes Deutschland unter demokratischen Vorzeichen. 42 Insofern ist der heftige Streit auch müßig, ob die sowjetische Note vom März 1952, die die Neutralität Deutschlands versprach, ernst gemeint war. Selbst wer die Ernsthaftigkeit der sowjetischen Initiative unterstellt (woran sich zweifeln lässt), kann die Annahme der Note wegen der Neutralitätsforderung trotzdem verwerfen. Daher fällt auch der Vorwurf in sich zusammen, die sowjetische Strategie nicht ausgelotet zu haben. Gleichwohl ist dies ein unerschöpfliches Thema für die Forschung. Vgl. zusammenfassend Jürgen Zarusky (Hrsg.), Die Stalin-Note vom 10. März 1952. Neue Quellen und Analysen, München 2002.
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Beiden Positionen, die trotz unterschiedlicher Prioritätensetzung gar nicht so weit auseinanderliegen, kann man eine gewisse Logik nicht absprechen. Für die einen war die Neutralität ein Mittel zum Zweck der Wiedervereinigung, für die anderen schloss die Westbindung die Wiedervereinigung in späterer Zeit nicht aus. Dieser Umstand hat auch Konsequenzen für die Einschätzung der gegenwärtigen Politik. Heute unterstützt ein Teil der früheren „Nationalneutralisten“ ebenso die Wiedervereinigung wie ein beträchtlicher Teil der „Verfassungspatrioten“, ohne dass man deren Repräsentanten als „Wendehälse“ bezeichnen könnte. Umgekehrt sind sowohl einige (frühere) Anhänger der Wiedervereinigung als auch einige (einstige) Befürworter der Westbindung mit der Wiedervereinigung des Jahres 1990 nicht so recht zufrieden. Die meisten bejahen jedoch den Status quo. Manche können sich allerdings mit der Wiedervereinigung und ihren Folgen nicht so recht abfinden, weil sie ein nationalistisches Großmachtstreben wittern (der Publizist Erich Kuby etwa meinte, das vereinigte Deutschland werde sich „nicht anders verhalten als das Bismarcksche, Wilhelminische und auch das nationalsozialistische Deutschland“43), die Vergangenheit wegen der leidigen Vergangenheit als gefährlich ansehen (wie etwa Günter Grass, für den die Teilung Deutschlands eine Reaktion auf Auschwitz darstellt44), eine „Entwestlichung“ Deutschlands befürchten (dies gilt etwa für die Bücher des liberal-konservativen Journalisten Wolfgang Herles45) oder, gerade umgekehrt, eine „Verwestlichung“ bekämpfen (wie der Nationalneutralist Wolfgang Venohr46). Ist zudem die Annahme ganz aus der Luft gegriffen, dass sich unter denjenigen im intellektuellen Milieu, die die mangelnde Realisierung der „inneren Einheit“ heftig attackieren, auch solche befinden, die die Messlatte bewusst hochhängen, um eine „Wiedervereinigungskrise“ zu behaupten? Jedenfalls mutet es merkwürdig an, dass ausgerechnet frühere Gegner der Wiedervereinigung so dezidiert das unzureichende Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten hervorkehren. Dabei wird viel zu wenig darauf hingewiesen, dass die jetzigen Probleme nicht zuletzt auch eine Folge der desaströsen SED-Politik sind.
43 So Erich Kuby, Der Preis der Einheit. Ein deutsches Europa formt sein Gesicht, Hamburg 1990, S. 102. 44 Vgl. Günter Grass, Deutscher Lastenausgleich. Wider das dumpfe Einheitsgebot. Reden und Gespräche, Frankfurt/Main 1990. 45 Vgl. Wolfgang Herles, Nationalrausch. Szenen aus dem gesamtdeutschen Machtkampf, München 1990; Geteilte Freude. Das erste Jahr der dritten Republik. Eine Streitschrift, München 1992; Wir sind kein Volk. Eine Polemik, München 2004; Neurose D. Eine andere Geschichte Deutschlands, München/Zürich 2008. 46 Vgl. Wolfgang Venohr, Der westdeutsche Separatismus lebt, in: Junge Freiheit, Nr. 12/1991, S. 9.
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VII. Fazit Zwischen Politik, Publizistik und Wissenschaft hat es bei der Einschätzung der Wiedervereinigung keine gravierenden Unterschiede gegeben. Das darf nicht verwundern. Kaum jemand konnte sich den Tendenzen des Zeitgeistes entziehen. Allein die Existenz der DDR führte in den achtziger Jahren zu mannigfachen Rücksichtnahmen. Diplomatie ist in der Politik vonnöten, weniger jedoch in der Publizistik und der Wissenschaft. In der Politik wollte jede Richtung zum Zusammenbruch der DDR beigetragen haben. Oft wurde dabei zwischen Intention und Auswirkung nicht angemessen unterschieden. Ein gewisses Maß an Selbstgerechtigkeit ist erkennbar. Der Streit, ob Konrad Adenauer oder Willy Brandt mehr zur deutschen Einheit beigetragen hat, erwies sich als müßig. Alle wollten schon immer für die Wiedervereinigung gewesen sein. Die Publizistik urteilt nun über die DDR weitaus negativer als vor 1989/90. Vielfach sind frühere Positionen stillschweigend aufgegeben worden. Die deutsche Einheit wird nicht mehr in Frage gestellt. Die meisten Autoren – wie etwa Peter Bender – sind in ihren neueren Publikationen nicht ausreichend auf ihre früheren Fehleinschätzungen eingegangen.47 Wer die Missstände in der DDR erkennen wollte, konnte sie erkennen. Nach dem überraschenden Zusammenbruch der DDR geriet die bisherige DDR-Forschung in heftige Kritik – zu Recht und zu Unrecht. Zu Unrecht insofern, als eine Pauschalschelte dieser Strömung nicht gerecht wird. Wer in den siebziger und achtziger Jahren nicht vehement für die deutsche Einheit eintrat, musste keineswegs deren Gegner sein. Die deutsche Einheit schien in weite Ferne gerückt zu sein. Zu Recht insofern, als ein großer Teil der DDR-Forschung bestimmte Themen systematisch ausgeblendet hat (etwa Mechanismen der Herrschaftssicherung wie die Staatssicherheit und die Bedeutung von Opposition). Offenbar waren viele Forscher nicht so wertfrei, wie sie sich gaben. Als wenig überzeugend müssen nachträgliche Rechtfertigungsversuche gelten, zumal deren zentrales Argument: Niemand habe den Untergang der DDR vorhergesehen, die Prognosefähigkeit der Sozialwissenschaften sei begrenzt. Damit wird der entscheidende Kritikpunkt verkannt: die Illegitimität des Herrschaftssystems in der DDR, unabhängig von seiner Stabilität, nicht hinreichend zur Sprache gebracht zu haben. Die Selbstkritik ist mitunter oberflächlich ausgefallen.48 Der „Streit“ 47 Vgl. Peter Bender, Episode oder Epoche? Zur Geschichte des geteilten Deutschland, München 1996; ders., Fall und Aufstieg. Deutschland zwischen Kriegsende, Teilung und Vereinigung, Hall 2002. 48 Vgl. beispielsweise Gert-Joachim Glaeßner, Kommunismus – Totalitarismus – Demokratie. Studien zu einer säkularen Auseinandersetzung, Frankfurt a. M. u. a. 1995, insbes. S. 37–79; ders., Das Ende des Kommunismus und die Sozialwissenschaften, in: Deutschland Archiv 28 (1995), S. 920–936. Anders Heinrich August Winkler, Der Staa-
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um die DDR-Forschung bis 1989 hält heute noch an, freilich in einer milderen Form als direkt nach 1989/90.49
tenbund als Bewährungsprobe. Das erreichbare Maß an Einheit verträgt keinen Aufschub mehr; Der unverhoffte Nationalstaat. Deutsche Einheit: Die Vorzeichen sind günstiger als 1871, jeweils in: Udo Wengst (Hrsg.): Historiker betrachten Deutschland. Beiträge zum Vereinigungsprozess und zur Hauptstadtdiskussion, Bonn/Berlin 1992, S. 33–38, S. 162–172. Siehe auch ausführlich ders., Der lange Weg nach Westen. Zweiter Band: Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung, München 2000, insbes. S. 315–657. 49 Vgl. Jens Hüttmann, DDR, Geschichte und ihre Forscher. Akteure und Konjunkturen der bundesdeutschen DDR-Forschung, Berlin 2008.
Der Umgang mit der SED-Diktatur: Versäumnisse, Möglichkeiten Von Ehrhart Neubert Dieses Thema steckt ein weites Feld ab. Die DDR ist vor zwei Jahrzehnten untergegangen. Das ist die Hälfte der Zeit, die dieser Staat vorher existierte. Dennoch ist die DDR nicht zur „Fußnote der Geschichte“ geworden, wie dies Stefan Heym 1990 vermutete. Im Umgang mit der SED-Diktatur zeigt sich nur allzu deutlich, dass sich dieser deutsche Staat einer abgeklärten und emotionslosen Historisierung nach wie vor entzieht. Die DDR existiert immer noch auf einer merkwürdigen Metaebene. Der gegenständliche Staat mitsamt seinen Apparaten und Grenzen ist verschwunden, aber er wirkt in den politischen Urteilen und Interpretationen weiter, und er muss in der Politik und der Kultur stets mitgedacht werden. Er drängt sich aus der abstrakten Erinnerung in das Konkrete und weist damit auf enorme Kontinuitätspotentiale hin. So hinterließ die DDR nicht nur gewaltige ökonomische und ökologische Probleme, deren Lösung nach wie vor Milliarden verschlingen. Auch die staatstragende Partei, die SED, konnte sich nach ihrer Fast-Katastrophe konsolidieren und im westlichen Teil des Landes System- und Kapitalismuskritiker integrieren. Kontinuitäten zeigen sich im Recht, in der Sprache, in den mentalen Prägungen und anhaltenden Konflikten, etwa dem zwischen Tätern und Opfern. Der Umgang mit der SED-Diktatur spielt sich deswegen in einem politischen und kulturellen Spannungsfeld ab, das weit in die Geschichte der DDR hineinreicht. Aber ebenso ist der Umgang mit der DDR durch Brüche gekennzeichnet, deren wichtigste die Revolution 1989 und die Vereinigung 1990 sind. Dies zeigte sich auch im politischen Sprachgebrauch. Bis in den November 1989 war die DDR Partner der bundesdeutschen Entspannungspolitik. Auf dem diplomatischen Parkett fiel die Bezeichnung „SED-Diktatur“ nie. Solche Rücksichten mussten nun nicht mehr genommen werden. Die Politik konnte sich schließlich auf das Votum der DDR-Bürger stützen, die völlig einverstanden waren, dass ihr Staat vertraglich abgewickelt wurde. Der Vereinigungsprozess stellte die Politik schließlich vor neue und beispiellose politische, ökonomische, juristische und gesellschaftspolitische Aufgaben. Noch aber machte sich die Politik kaum Gedanken über ein künftiges Geschichtsbild Deutschlands und den Platz, den die DDR darin einnehmen würde. Auffällig war, darauf komme ich noch zurück, dass die bundesdeutsche Politik
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keinesfalls mit dem Diktaturpersonal abrechnen wollte. Ein harmonischer Übergang sollte Störungen vom Vereinigungsprozess abwenden. Der Begriff „Geschichte“ spielte lediglich eine Rolle als eine Art „deus ex machina“. Michail Gorbatschow bemerkte in seinem Buch „Perestroika“ 1987 zur deutschen Frage: „Was in hundert Jahren sein wird, darüber entscheidet die Geschichte.“1 Das war nicht ungewöhnlich für einen Kommunisten, der in der Geschichte die Gesetze der Materie walten sah. Der Historiker Helmut Kohl gebrauchte den Begriff Geschichte ebenfalls gern. Für ihn war Geschichte eine Chiffre und diplomatische Verklausulierung einer günstigen Gelegenheit, seinen Plänen näher zu kommen. So sagte er am 19. Dezember 1989 in Dresden: „Mein Ziel bleibt – wenn die geschichtliche Stunde es zulässt – die Einheit unserer Nation.“2 Die „geschichtliche Stunde“ aber stand einhunderttausendfach zu Fleisch geworden auf dem Platz vor der Frauenkirche. Diese Menschen wollten die Einheit und hatten an den Zeigern der geschichtlichen Uhr so lange gedreht, bis ein Politiker vor ihnen stand, dem sie den Vollzug der Einheit zutrauten. Sie brauchten keine Genehmigung der Geschichte, sie schrieben sie. Und das war ihnen auch bewusst. Diese Episode in der Revolution 1989 zeigt, dass der Umgang mit der SEDDiktatur schon in der Vorgeschichte und in den Abläufen der Revolution Gestalt annahm. Vom Volk, besser aus der Gesellschaft, ging in der friedlichen Revolution nicht nur die kraftvolle politische Bewegung aus, sondern auch das Ringen um die Geschichte, den Umgang mit der DDR. Jene doppelte und widersprüchliche Wahrnehmung, nämlich Kontinuität und Bruch im Umgang mit der SEDDiktatur, ist aus dem revolutionären Prozess zu erklären. I. Kampf um die Geschichte in der Revolution Die Revolution wurde neben all ihren Schauplätzen im Machtkampf zur Bühne geschichtspolitischer Konflikte. Der Glaube an die Endgültigkeit des Kommunismus, die deterministische Evolutionstheorie und natürlich auch die Kontrolle der Geschichtswissenschaften hatten viele Geister gelähmt. In den geschichtspolitischen Kontroversen holte sich die ostdeutsche Gesellschaft, ebenso wie die Völker Ostmitteleuropas, ihre Geschichte, ihre Identität und ihre Handlungsfähigkeit zurück. In der DDR hatten Oppositionelle in den 1980er Jahren Initiativen gestartet, eine Neubewertung der Kommunismusgeschichte vorzunehmen und entsprechende Archive einzurichten. Auch die Neubewertung des 17. Juni 1953 war ein Thema: Als am 19. November 1988 das sowjetische Magazin „Sputnik“ verboten wurde, das die Massenverbrechen unter Stalin thematisiert hatte, kam es zu öf1 Gorbatschow, Michail, Umgestaltung und neues Denken für unser Land und die ganze Welt (Ausgabe für die DDR), Berlin 1987, S. 257–258. 2 Rede des Bundeskanzlers vor der Frauenkirche in Dresden, abgedruckt in Bulletin, Presseamt der Bundesregierung Nr. 150, S. 1261–1262.
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fentlichen Protesten. Ab September 1989 eskalierte die Protestbewegung. Die Kirchen nahmen eine kritische Haltung ein, die Opposition formierte sich neu und die Fluchtbewegung erschütterte die DDR. Nun kam auch eine spannende Geschichtsdebatte in Gang. Christoph Hein kreierte für die sozialistische Geschichtsschreibung die Metapher von der „fünften Grundrechenart“. Die ergebe sich aus der Methode, zuerst den „Schlussstrich“ zu ziehen und „das erforderliche und gewünschte Ergebnis“ darunter zu schreiben. Danach würden über dem Strich „die waghalsigen Operationen“ erfolgen, die mit „Auslassungen, Vernachlässigungen und scholastischen Rösselsprüngen“3 arbeiteten. Die systematische Geschichtsfälschung, die nicht nur die Verbrechen des Stalinismus und der DDR ignoriert hätte, würde auch jetzt die wahren Gründe der Massenflucht von DDR-Bürgern verleugnen. Die Schriftsteller müssten jetzt reden, sonst würde sie später „keine noch so kluge und geschickte Antwort vor der Scham schützen können . . .“4 Die Debatte ergriff im Oktober Betriebe, öffentliche Einrichtungen, Theater und Schulen. Bei einer Veranstaltung erklärte Christoph Hein: Diese Aufklärung „hilft uns, eine Weltsicht zu zerstören, die viele, die wir alle hingenommen haben, mehr oder weniger wissend, dass sie verlogen ist, dass sie sich gegen uns richtete, da sie uns zu disziplinieren suchte. Sie wollte unser Gedächtnis und unsere Erinnerung töten, um unsere Seelen zu gewinnen.“ Rasch entstehen zahlreiche lokale Geschichtsvereine des Neuen Forums, die zumeist die Repression gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen aufarbeiten. Auch die im März frei gewählte Volkskammer revidierte mit ihrer Israel-Deklaration das Geschichtsbild der SED über Palästina. Der neue Umgang mit der Geschichte richtete sich nicht nur gegen die Manipulation der Wirklichkeit. Indem die Geschichtsstoffe neu sortiert wurden, veränderten sie auch die politischen Handlungsmuster. Und am 5. Oktober 1989 wurde im Lagefilm der Volkspolizei im Bezirk Erfurt ein Verbrechen vermerkt: „In Stadtilm Ilmbrücke über L 10 48 Schmiererei mit weißer Farbe: ,Dieser Staat, Ihr werdet sehen, wird noch im Museum stehen.‘“ Der Vers war als Selbstermutigung, auch als Drohung, gedacht und liest sich nachträglich fast wie eine Weissagung. Der Motor einer solchen Zukunftsschau war wohl kaum das bloße Interesse an historischen Fakten und Konstellationen. Vielmehr drückt sich darin ein physisches und psychisches Freiheitsverlangen aus, das Teil der Identitätssuche ist und sich in einer vorwegnehmenden Selbstermächtigung äußert. Freiheit heißt hier schlicht das Entkommen aus den Ansprüchen und Zumutungen des SED-Regimes. Die Neuformulierung der Geschichte 3 Hein, Christoph, Die fünfte Grundrechenart. Rede auf dem Treffen Berliner Schriftsteller am 14.9.1989, abgedruckt in: Sonntag. 29.10.1989, S. 3 (Titel hier: Gutgemeint ist das Gegenteil von wahr.). 4 Ebd.
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war das existenzielle Bedürfnis der Menschen, wieder selbst über ihre Zeit, ihre Handlungsräume und auch über die Zukunft der Nation zu bestimmen. Bis zu diesem Zeitpunkt durfte Deutschland nicht die Geschichten hervorbringen, die „von den Ursprüngen, dem Sinn und der geschichtlichen Mission politischer Gemeinschaften handeln, um Orientierungen und Handlungsoptionen zu ermöglichen“, die die Bürger zusammenführen und ihnen eine Geschichte zur Verfügung stellen, die „für die Herstellung kollektiver Handlungsmacht“5 befähigt. Jetzt, zunächst sinnfällig in der vergehenden DDR, wurden die politischen Räume neu geordnet, Länder gegründet, um Gebietszuordnungen gekämpft, Städte erhielten ihren alten Namen, wie etwa Chemnitz. Das Ende der kommunistischen Macht mit Ewigkeitsanspruch hat auch das Ende der „Nichtgeschichte“ gebracht. Das ist das Gegenteil zur These von Francis Fukuyama, nach der mit dem Zusammenbruch des Kommunismus das „Ende der Geschichte“ gekommen sei. II. Institutionelle Aufarbeitung Das klassische Beispiel für die Aufarbeitung der DDR aus der Bewegung der Revolution heraus ist die Gründungsgeschichte des Amtes des/der Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen (BStU). Der Kampf der Bürgerrechtsbewegungen gegen das MfS, der auf jahrelangen Erfahrungen beruhte, zielte zunächst auf dessen Auflösung. Auch die Demonstranten forderten dies seit Oktober 1989 öffentlich. In den Vorverhandlungen zum Runden Tisch im November wurde diese Forderung als Grundbedingung für weitere Kontakte gestellt. Ab Anfang Dezember 1989 kam es zu den teilweise spontanen Besetzungen der MfS-Zentralen durch die Opposition und durch Bürgerkomitees. Am Runden Tisch wurde gleichzeitig die Auflösung des Geheimdienstes ein zentrales Thema. Im Januar 1990 wurde dieses Ziel nach dem Sturm auf das Ministerium in Berlin erreicht. Unter der letzten kommunistischen Regierung von Hans Modrow und der ersten am 18. März 1990 frei gewählten Regierung mussten die Aktenbestände gesichert und der Zugriff auf sie geregelt werden. Wegen anhaltender Aktenvernichtungen kam es zu Hungerstreiks, neuerlichen Demonstrationen und schweren Auseinandersetzungen im Parlament, da Innenminister Peter Michael Diestel der Aktenvernichtung zustimmte. Die Volkskammer traf erste Regelungen für den Umgang mit den Akten. Im Kampf um die Sicherung und Öffnung der Stasiakten ging es immer auch um die historische Aufarbeitung. Bundesdeutsche Politik sprach sich schon seit dem Frühjahr 1990 gegen die Öffnung der Akten aus. Sie argumentierte mit dem Hinweis auf den sozialen Frieden. Aber sie befürchtete wohl auch, dass das MfS kompromittierende Informationen über westliche Politiker gesammelte hatte. Sie musste schließlich nach 5 Zimmering, Raina, Mythen in der Politik der DDR. Ein Beitrag zur Erforschung politischer Mythen, Opladen 2000, S. 13.
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der zweiten Besetzung der MfS-Zentrale im September 1990 durch die Bürgerbewegung nachgeben, da es ansonsten nicht zur Ratifizierung des Einigungsvertrages gekommen wäre. Nach der Wiedervereinigung verabschiedete, gemäß der Vereinbarung im Einigungsvertrag, am 20.12.1991 der Bundestag das Stasiunterlagengesetz (StUG), auf dessen Grundlage die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des MfS (BStU) arbeitet. Der schnelle politische Systemwechsel, der auch durch die Übernahme des Wirtschafts- und Rechtssystems der Bundesrepublik radikalisiert wurde, schlägt sich in diesem Gesetz nieder. Das StUG legte als Prinzipien fest, dass 1. dem Bürger Zugang zu den vom MfS gespeicherten Informationen und damit Aufklärung über dessen Einfluss auf sein Schicksal gewährt werden müsse; 2. der Schutz der Persönlichkeitsrechte des Bürgers vor fremder Nutzung dieser Informationen gewährleistet sein sollte; 3. die historische, politische und juristische Aufarbeitung der MfS-Tätigkeit ermöglicht würde und 4. den öffentlichen und nichtöffentlichen Stellen die erforderlichen Informationen für Überprüfungen, einschließlich eigener Forschungen, zu geben seien. Die Behörde ist damit auch ein Instrument der Perpetuierung des Umbruchs. Die Behörde der BStU war und ist in Deutschland allerdings nicht unumstritten. Die Vorbehalte kamen und kommen aus allen politischen Lagern. Streitpunkt ist immer wieder deren einzigartige Rechtskonstruktion, die für Deutschland völlig neuartig ist. Das StUG und die Rechtspraxis der BStU müssen die Aufklärungsverpflichtung mit dem Datenschutzrecht und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung sorgfältig austarieren. Dennoch wird der Vorwurf, etwa von Michael Kleine-Cosack, erhoben, dass das Rückwirkungsverbot beschädigt und verfassungswidrig illegal erlangte Daten veröffentlicht würden. Durch ein solches „Sonderrecht“ entstünde die Gefahr, dass „die Gesamtrechtsordnung von einer Stasiinfektion befallen“ würde. Kleine-Cosack gibt aber auch den Grund seiner Besorgnis an, die keineswegs allein rechtspolitischer Natur ist: „Es sollte Aufarbeitungseuphoriker nachdenklich stimmen, dass in der Geschichte von den Griechen über die Römer bis hin zur Französischen Revolution oder das vom Bürgerkrieg geplagte Spanien die Erinnerung die Ausnahme und das Vergessen die Regel waren. Die in den Satz Ciceros: ,omnem memoriam discordiam oblivione semperiterna delendam‘ liegende Weisheit wurde in dem Bewusstsein beherzigt, dass ein öffentliches Erinnern fürchterliche Folgen für den Fortbestand der politischen Gemeinschaft haben kann.“6 6 Kleine-Cosack, Michael, Der Rechtsstaat im Stasistrudel, in: Frankfurter Allgemeine, 11. Mai 2000, S. 52; vgl. auch ders., Rechtsstaat und freie Advokatur im StasiStrudel, in: Neue Justiz 46/1992/8, S. 329–335.
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Diese Befürchtung um das Auseinanderfallen der „politischen Gemeinschaft“ durch Erinnern ist ein Grundmuster in der Debatte über den Umgang mit den Akten, das von Theologen, Ethikern, Philosophen, Konservativen, Linken, ehemaligen Dissidenten und natürlich auch von ehemaligen Vertretern der kommunistischen Macht bis heute geäußert wird. Nach diesem Muster wird ein übergeordnetes Interesse über die aus der Vergangenheit in die Gegenwart reichenden Konflikte gestellt. Und dieses Interesse bezieht sich stets auf eine irgendwie ideal gedachte Gemeinschaft, ein Kollektiv der Versöhnten, eine den Ausgleich der Gegensätze praktizierende Großgruppe. Hier drückt sich eine alte deutsche Sehnsucht aus. Die Deutschen schafften es bis ins 20. Jahrhundert nicht, ein Zusammengehörigkeitsgefühl auf der Grundlage einer demokratischen Verfassung zu entwickeln. Als Ersatz haben sie stets versucht, eine politisch-metaphysische Gemeinschaft zu konstruieren. In der deutschen politischen Kultur wurde die Volksgemeinschaft in allen Varianten bemüht. Obwohl diese Fiktionen gescheitert sind, hält sich die im Grunde unpolitische Vision der Volkseinheit. Sie ist ein Gegenkonzept zur konfliktträchtigen Aufarbeitung und wird häufig ethisch unter dem Stichwort Versöhnung aufgebessert. Die Versöhnungsidee gehört in den vorpolitischen Raum und kleine Gruppen können sie für therapeutische Ansätze fruchtbar machen. Politik, die nach dem demokratischen Prinzip betrieben wird, artikuliert gegensätzliche Interessen und Konflikte, die öffentlich in geregelten Verfahren ausgetragen werden. Bei soviel deutscher Harmoniesucht und Unlust am demokratischen Streit ist es schon außergewöhnlich, dass es zur Einrichtung der BStU kam und dass nicht die Akten ins Feuer geworfen wurden, wie dies mehrfach hervorragende Vertreter der beiden großen Volksparteien öffentlich gewünscht hatten. Bisher konnte die Behörde aber nicht zerschlagen werden. Ein Grund ist ihre Legitimation, die zur Gründungsgeschichte des wiedervereinigten Deutschland gehört. Ebenfalls entstanden aus der politischen Debatte heraus weitere Institutionen. Dazu gehörten bis 1998 die beiden Enquetekommission des Deutschen Bundestages zur Aufarbeitung der DDR. Aus diesen Kommissionen ging schließlich 1998 die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur hervor, die bis heute erfolgreich Aufarbeitungsinitiativen unterstützt. Erwähnt werden müssen hier auch die Landesbeauftragten für die Stasiunterlagen und eine Reihe von Stiftungen, etwa in Sachsen und Thüringen.
III. Gesellschaftliche Aufarbeitung Aus dem bürgerschaftlichen Engagement in Ostdeutschland während der Revolution ging eine Vielzahl von Vereinen, Archiven, Museen und Gedenkstätten hervor. Häufig ging es ihnen zunächst um die Sicherung von authentischen Or-
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ten, Haftanstalten, Befehlszentren des MfS oder Resten der Grenzanlagen und der Berliner Mauer. Unmittelbar nach 1989 begannen sie auch Material zu veröffentlichen. Am Anfang ging angesichts der von diesen Gruppen herausgegebenen grauen Literatur das Wort von den „Barfußhistorikern“ um. Viele haben sich inzwischen zu respektablen, auch wissenschaftlich anerkannten, Einrichtungen entwickelt. Manche sind in Stiftungen unterschiedlicher Rechtsformen umgewandelt worden. Hinzu kommen zahlreiche Verbände von ehemals Repressierten, die sich ebenfalls auf unterschiedliche Weise mit der Aufarbeitung der Vergangenheit auseinandersetzten und dies bis heute tun. Dies reicht von Opferverbänden, die in den 1950er Jahren von Flüchtlingen und Haftentlassenen gegründet wurden, bis zu Vereinen, die eine bürgerrechtliche Tradition haben. Sie beraten fast alle die Opfer der Diktatur. Sie alle gehören zu den Motoren der Aufarbeitung. IV. Akademische Wissenschaften Die bundesdeutsche akademische Wissenschaft war von der DDR-Revolution nicht weniger überrascht als die Politik. Dort hatte die Idee der systemimmanenten Betrachtung folgerichtig die Wege für Irrwege aller Art geebnet. Um nur ein Beispiel zu nennen: Volker Gransow, der die Totalitarismus- und die gängigen Modernisierungstheorien als ideologische Produkte des westlichen Antikommunismus oder der entspannungspolitisch motivierten Konvergenzannahmen kritisiert, hat 1980 ernstlich gefordert, in der Kommunismusforschung von der These einer „Gesellschaft sui generis“ oder der „Herrschaft der Arbeiterklasse“7 auszugehen. Damit war die Erklärung des Kommunismus zum Reflektor der kommunistischen Selbsterklärung degeneriert. Der für ideologische Einträge offene modernisierungstheoretische Ansatz im Rahmen der systemimmanenten DDR-Forschung brach folgerichtig mit dem Untergang des Kommunismus „wie ein Kartenhaus zusammen“8. Für die historischen und politischen Wissenschaften der Bundesrepublik waren Opposition und Widerstand ebenso wie die politisch motivierte Repression seit den 1970er Jahren nur noch ein Randthema. Vereinzelte Dokumentationen sowie Veröffentlichungen der Ausnahmeerscheinungen, wie etwa Hermann Weber9
7 Gransow, Volker, Konzeptionelle Wandlungen der Kommunismusforschung. Vom Totalitarismus zur Immanenz, Frankfurt/M. 1980, S. 204. 8 Lindenberger, Thomas/Sabrow, Martin, Das Findelkind der Zeitgeschichte. Zwischen Verinselung und Europäisierung: Die Zukunft der DDR-Geschichte, in: Frankfurter Rundschau v. 12.11.2003. 9 Weber, Hermann, DDR – Grundriß der Geschichte 1945–1990, Hannover 1976, vollst. überarb. u. erg. Neuaufl. 1991; ders., Aufbau und Fall einer Diktatur: kritische Beiträge zur Geschichte der DDR, Köln 1991.
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oder der Journalist Karl Wilhelm Fricke10, einige jüngere Autoren11, kritische Kirchenleute12 oder geflüchtete und ausgebürgerte Oppositionelle13, konnten diesen Mangel nicht ausgleichen. An dieser Stelle muss natürlich auch das Wirken der „Gesellschaft für Deutschlandforschung“ hervorgehoben werden. Mit den unverhofften Revolutionen 1989 in Mittelosteuropa stieg der Wissensund Erklärungsbedarf sprunghaft an. Nun kam das politische Vorspiel der Revolutionen in den Blick der Forschung. Seit 1990 erschien eine große Anzahl von Forschungsarbeiten. Auffällig ist, dass die Autoren überwiegend selbst ostdeutsche Akteure der Opposition waren. Die Bandbreite dieser Arbeiten reicht von der typischen Betroffenheitsliteratur bis hin zu wissenschaftlichen Arbeiten. Die etablierten Wissenschaften haben allerdings nur zögerlich das Thema aufgenommen. Wohl aber gab es bald akademische Förderer, die inzwischen auch mit eigenen Arbeiten hervortraten. Die Gründe für die Zurückhaltung sind vielfältig. Die Wahrnehmungsdefizite der früheren Jahre konnten insgesamt nicht so schnell überwunden werden. Außerdem verlangt der Gegenstand Sprachweisen zu überprüfen, die aus der westdeutschen Erfahrung herrühren. Geradezu exemplarisch war die bis heute nicht ausgestandene Debatte über das Totalitarismustheorem. Um diesem zu entgehen wichen die bundesdeutschen Forscher auf meist „weichere“ Definitionen oder Typisierungen aus. So wurde mit ganzen Kaskaden von spezifischen Definitionen von Diktaturtypen operiert, die jedoch stets neuen Erklärungs- und Präzisierungsbedarf erzeugen.14 In der DDR-Forschung nach 1990, als der Totalitarismusansatz wieder Verbreitung fand, wurde deswegen ein bemerkenswerter Adjektiv-Totalitarismus erfunden. Jürgen Kocka schrieb in einer Bilanz der neuen DDR-Forschung: „Am DiktaturCharakter der DDR besteht kein Zweifel, wenn auch die näher kennzeichnenden Adjektive variieren: von ,spättotalitär‘ oder auch ,autoritär‘ bis ,modern‘ oder ,fürsorglich‘.“15 Auch Kockas Definition von der DDR als „durchherrschter Gesellschaft“ gehört zu diesen Modifizierungsversuchen, die je auf ihre Weise be10 Fricke, Karl Wilhelm, Politik und Justiz in der DDR. Zur Geschichte der politischen Verfolgung 1945–1968, Bericht und Dokumentation, Köln 1979; ders., Opposition und Widerstand in der DDR, Köln 1984. 11 Unter anderen Büscher, Wolfgang/Wensierski, Peter/Wolschner, Klaus (Hrsg.), Friedensbewegung in der DDR, Texte 1978–1982, Hattingen 1982; Ehring, Klaus (Pseudonym Hubertus Knabe)/Dallwitz, Martin (Pseudonym Ulrich Mickan), Schwerter zu Pflugscharen: Friedensbewegung in der DDR, Reinbek bei Hamburg 1982. 12 Linke, Dietmar, Niemand kann zwei Herren dienen. Als Pfarrer in der DDR, Hamburg 1988; Falcke, Heino, Mit Gott Schritt halten: Reden und Aufsätze eines Theologen in der DDR aus 20 Jahren, Berlin 1986. 13 Klier, Freya, Abreißkalender, Versuch eines Tagebuches, München 1988; Hirsch, Ralf/Kopelew, Lew (Hrsg.), Initiative Frieden & Menschenrechte. Grenzfall, vollständiger Nachdruck aller in der DDR erschienenen Ausgaben (1986/87), erstes unabhängiges Periodikum, Berlin 1989. 14 Vgl. Linz, Juan J., Typen politischer Regime und die Achtung der Menschenrechte, in: Jesse (Hrsg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert, Bonn 1999, S. 485–537.
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rechtigt auf die Begrenzung totalitärer Herrschaft aufmerksam machen möchten. Im Konflikt „zwischen Lebenswelt und System“, in dem sich in der Regel die Herrschaft behauptete, waren „faktische Grenzen der Durchherrschung im Alltag“16 gesetzt. Dabei ist jedoch auch zu bedenken, dass der Begriff „durchherrschte Gesellschaft“ lediglich ein „Alternativbegriff“ für eine totalitär verfasste Gesellschaft darstellt und aus „taktisch-wissenschaftlichen“ 17 Gründen gebraucht werden kann, um die Totalitarismustheorie nicht bemühen zu müssen. Unter diesen Aspekten kann auch das gegenwärtige große Interesse an der Alltagsforschung gesehen werden. Zweifellos gibt es hier interessante und weiterführende Arbeiten.18 Aber im Schlagschatten dieses Themas halten sich viele Autoren auf, die den Diktaturcharakter der DDR in Frage stellen. Karl Dietrich Bracher, der zu den wenigen gehörte, die am Totalitarismuskonzept festgehalten hatten, ist wohl zuzustimmen, dass sich die „totalitäre Natur“ des Kommunismus „entgegen den Bagatellisierungen und Konvergenzprognosen falscher Entspannungsideologen schließlich im Zusammenbruch der kommunistischen Systeme noch einmal bestätigt“19 hätte. Jeder, der in den alten bzw. westlichen Bundsländern mit DDR-Themen in der politischen Bildung arbeitet, muss zur Kenntnis nehmen, wie ahnungslos eine übergroße Mehrheit über den nahen fernen Osten ist. Wohl gibt es Interessen, auch unter jungen Leuten und Schülern. Aber auf diese Interessen wird wenig eingegangen. Erfreulicherweise gibt es solches zur NS-Zeit nicht. Multiplikatoren und Lehrer haben zum Nationalsozialismus eine klare Orientierung und können sich auf einen breiten Konsens stützen. Über die DDR und den Kommunismus gibt es dagegen keine Orientierung und keinen Konsens. Selbst der Diktaturcharakter des SED-Staates ist fraglich. Und es gibt eben auch noch viele Lehrer, für die die DDR irgendwie eine legitime Alternative zum westlichen Verfassungsstaat war. Doch Lehrerschelte ist unangebracht. Versagt haben die Historiker, die die Lehrer ausgebildet haben und die für die Erinnerungskultur verantwortlichen Ge15 Kocka, Jürgen, Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung, in: DA 36(2003)5, S. 765. 16 Ders., Eine durchherrschte Gesellschaft, in: Kaelble, Hartmut/Kocka, Jürgen/ Zwahr, Hartmut (Hrsg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 552. 17 Diskussionsbeitrag von Ilko-Sascha Kowalczuk vor der Enquete-Kommission: Materialien der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit“. 13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages hrsg. vom Deutschen Bundestag, Bd. V, Baden-Baden 1999, S. 41. 18 Vgl. Lindenberger, Thomas, Die Diktatur der Grenzen, in: ders. (Hrsg.), Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur, Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR, Köln/Weimar/Wien 1999. 19 Bracher, Karl Dietrich, Zeitgenössische Gedanken zum Revolutionsjahr 1989, in: ders., Wendezeiten der Geschichte. Historisch-politische Essays 1987–1992, Stuttgart 1992, S. 31.
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schichtspolitiker. Das gilt für die Jahre vor 1989 und ist bis heute nicht besser geworden. An den Hochschulen gingen DDR-Themen nach einem kurzen Boom Anfang der 1990er Jahre wieder zurück.20 Und die Lehrpläne für die Schulen sprechen für sich, auch wenn es neuerdings einige gute Ansätze gibt.21 So gab es Lehrpläne in einigen Bundesländern, die 1991 in Kraft gesetzt wurden und noch von der Existenz der DDR ausgingen. V. Zum juristischen Umgang mit der DDR Ein Vehikel für die nachhaltige Wirkungskraft des kommunistischen Staates im wiedervereinten Deutschland ist das Recht. Im Recht wurde die DDR nie ganz beseitigt. Das begann schon mit dem Einigungsvertrag. Entgegen internationalem Recht hat die Bundesrepublik das Rückwirkungsverbot für politische Straftaten auch bei schweren Menschenrechtsverletzungen angewendet. Außerdem war im Einigungsvertrag festgelegt worden, dass sowohl bundesdeutsches Strafrecht, wie auch DDR-Strafrecht herangezogen werden müsse. Damit wurde das politische Recht der DDR rechtsstaatlich legitimiert. Eine nennenswerte Strafverfolgung blieb deswegen aus. So unvermeidbar es aus politischen Gründen gewesen sein mag, bestimmte Bereiche des DDR-Rechts weiter gelten zu lassen, können die Folgen nicht übersehen werden. „Problematisch sind die Einflüsse, die die Anpassung an den Rechtszustand in der DDR direkt oder indirekt im Grundgesetz hinterlassen haben, insbesondere in der Frage des Schutzes des Eigentums und des Lebens.“22 In der Einheitseuphorie 1990 glaubte so mancher, dass die politische Einheit eine Art Verbrüderung von Opfern und Tätern, von Rechtstreuen und Rechtsbrechern, von Diktaturpersonal und Demokraten, sein müsse. Manche wollten schon 1990 „teilungsbedingte Straftaten“ amnestieren und nicht verfolgen, etwa auch die Spionagetätigkeiten des MfS. Ungeachtet dessen betrieb die bundesdeutsche Justiz bis in die Gegenwart eine Art Rechts-Revisionismus. Zahlreiche politische Akte der Revolution wurden später als rechtsstaatswidrig oder als verfassungsfremd deklariert. Dazu gehören die Urteile, die die von der frei gewählten Volkskammer beschlossene Rentenkappung der Systemnahen für rechtswidrig erklärten.23 20 Vgl. Pasternack, Peer, Gelehrte DDR. Die DDR als Gegenstand der Lehre an deutschen Universitäten 1990–2000, hrsg. vom Institut für Hochschulforschung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Wittenberg 2001. 21 Zu den Lehrplänen vgl. Arnswald, Ulrich, Zum Stellenwert des Themas DDR-Geschichte in den Lehrplänen der deutschen Bundesländer. Eine Expertise im Auftrag der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Berlin 2004. 22 Ress, Georg, Grundgesetz, in: Weidenfeld, Werner/Korte, Karl-Rodolf (Hrsg.), Handbuch zur deutschen Einheit 1949 – 1989 – 1999, Bonn 1999, S. 416. 23 Vgl. Achim Beyer, Die Täter verwöhnt – die Opfer verhöhnt, in: Weber, Jürgen (Hrsg.), Illusionen, Realitäten, Erfolge, München 2006, S. 103–134.
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Eine Folge dieses Rechtsklimas ist, dass sich zahlreiche inoffizielle Mitarbeiter des MfS nach anfänglicher Entlassung wieder in ihre Arbeitsstellen zurück geklagt haben. Auch untersagen Gerichte das Nennen der Klarnamen von Spitzeln.
VI. Offene Felder Sollte ich eine Bilanz zum Umgang mit der SED-Diktatur ziehen, fiele diese, trotz der kritischen Einlassungen insgesamt überwiegend positiv aus. Gemessen an dem, was alles nicht gesagt und geschrieben sein könnte, ist das Vorhandene sehr viel. Gott sei Dank gibt es heute kein vom Staat oder einer anderen Instanz vorgeschriebenes und kontrolliertes Geschichtsbild mehr. Darum muss auch in Kauf genommen werden, dass in den Geschichtsdebatten die DDR noch sehr lebendig ist. Die Postkommunisten verfügen über ein breites Feld von Organisationen, über ein Netzwerk zur Verbreitung ihrer Schriften und geben sich alle Mühe nostalgische Rückblicke zu Gunsten einer angeblich positiv zu sehenden DDR zu politisieren. Aber niemandem wird es auf Dauer gelingen, die DDR gegenüber dem demokratischen Verfassungsstaat als gleichwertiges Staats- und Gesellschaftsgebilde wieder in die Köpfe zu bringen. Die öffentlichen Bekundungen einer geschönten DDR sind allerdings nur die Spitze eines Eisberges. Unter Wasser schwimmt eine gewaltige Masse von mentaler und gesellschaftlicher Ignoranz gegenüber der DDR-Diktatur, vor allem gegenüber dem Hauptproblem, den eigentlichen menschlichen Kosten der Diktatur, den Opfern. Zweifellos hat die Bundesrepublik für die Opfer der DDR viel getan. Dazu gehören die Rehabilitierungs- und Entschädigungsgesetze oder auch die Renten für sozial schwache Opfer. Die Opferfrage erschöpft sich aber nicht in der Fürsorge für Betroffene. Auch vor 1989 hat die Bundesrepublik viele menschliche Erleichterungen geschaffen oder Häftlinge frei gekauft. Damals konnte an den Ursachen der Menschenrechtsverletzungen nichts verändert werden. Heute ist das anders. Der milde Umgang mit den Tätern darf nicht bedeuten, dass die Opfer als bedauerliche Kollateralschäden widriger Umstände betrachtet werden. Vielmehr müssen die Opfer institutionell und inhaltlich an den Aufarbeitungsprozessen beteiligt werden. Zudem sollten bürgerschaftliche und zivilgesellschaftliche Aktivitäten als Grundlage einer breiten Aufarbeitung verstanden werden. Die akademische Aufarbeitung sollte sich nicht in einen Elfenbeinturm zurückziehen. Leider gibt es gerade im Osten zu viele Geschichten, die vermuten lassen, dass sich die akademische Forschung im latenten Kampf um Einfluss, Ressourcen und Personalbesetzungen befindet. Das Buch dazu ist noch nicht geschrieben. Berlin würde einige Kapitel füllen, auch Dresden und neuerdings Er-
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furt. Das ist nicht nur peinlich, es ist für die Aufarbeitung schädlich. Die Wissenschaft, die Geschichts- und Erinnerungspolitik braucht eine strikte Orientierung an den menschlichen Kosten, die die Diktaturen verursacht haben. Die Qualität des Umgangs mit dem SED-Staat zeigt sich exemplarisch im Umgang mit den Opfern dieser Diktatur.
Ingenieure der Seele Von Barbara Zehnpfennig Die Dauer des Vereinigungsprozesses hatten viele unterschätzt. Das war kein Wunder: Im Vordergrund der öffentlichen Debatte und des politischen Tuns nach der deutschen Wiedervereinigung standen wirtschaftliche, rechtliche und soziale Aspekte. An die mentale Seite, an die Kluft zwischen den Lebenserfahrungen von Ost und West, dachte man zunächst kaum. Als sich dann zeigte, dass die Anfangseuphorie sehr schnell verflog und sich ein Gefühl der Fremdheit zwischen dem alten und dem neuen Teil der Republik breitmachte, bemühte man vor allem die Sozialpsychologie, um das verstörende Phänomen zu erklären. Doch eine rein psychologische Erklärung für die Andersartigkeit der jeweiligen Einstellungen und Verhaltensweisen greift womöglich zu kurz. Die Wurzel der Probleme liegt, wie zu zeigen sein wird, im Denken, in der unterschiedlichen geistigen Ausrichtung beider Systeme.1 Hier sollte man also noch einmal genauer hinsehen. Welche geistige Wirklichkeit prägte die DDR? Was war die DDR, unter dem Gesichtspunkt der ihr zugrunde liegenden Ideologie betrachtet? I. Die Rolle des Zentralismus Man hat sich lange schwer damit getan, der DDR überhaupt den Status eines Unrechtsregimes zuzuerkennen.2 Was für die Opfer des Regimes auf der Hand lag, wurde in der öffentlichen Debatte z. T. sehr kontrovers diskutiert. Als sich die Aufmerksamkeit auf die Mechanismen der Repression verschob, wurde der Staatsicherheitsdienst oft als quasi-autonome Instanz behandelt, so als habe er gegenüber der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands eine Eigenexistenz fristen können. Inzwischen hat sich die Perspektive wiederum verändert, die in allem führende Rolle der Partei wird nicht mehr ernsthaft geleugnet.3
1 Es handelt sich also um eine Frage der politischen Kultur. Vgl. dazu das „Jahrbuch Politisches Denken 2009“ (Berlin), das sich dem Thema „Aufarbeitung totalitärer Erfahrungen und politischer Kultur“ widmet. 2 Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang bspw. an Günter Grass’ Diktum, bei der DDR habe es sich um eine „kommode Diktatur“ gehandelt. 3 Die Stiftung zur Aufarbeitung der DDR-Diktatur hat übrigens jetzt, d. h. zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung (!), bekundet, sich stärker der Erforschung der Rolle der SED zuwenden zu wollen.
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Um die tatsächliche Position der SED festzustellen, hätte aber auch ein Blick in die Verfassung der DDR von 19684 genügt. Dort ist in Artikel 1, Absatz 1 die Führungsrolle der SED festgelegt, und auch hinsichtlich ihrer Programmatik wird kein Zweifel gelassen: Der Marxismus-Leninismus ist Partei- und damit ebenfalls Staatsdoktrin. Denn von anderen Parteien ist nur im Zusammenhang mit der „Nationalen Front“5 der DDR die Rede, und jene „Nationale Front“ ist ein Bündnis aller Parteien und Massenorganisationen der Werktätigen, die natürlich wieder der Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei bedürfen6 usw. Auch das Selbstverständnis der Stasi, „Schild und Schwert“ der Partei zu sein,7 ist ein eindeutiges Indiz, wie die tatsächlichen Machtverhältnisse waren, abgesehen davon, dass das interne Statut des MfS das Programm der SED zur Grundlage seines Wirkens erklärte.8 So ist der im Parteiprogramm zu findende Begriff des „demokratischen Zentralismus“ durchaus ernst zu nehmen, zumindest, was den Zentralismus angeht; was das Epitheton des „Demokratischen“ betrifft, so ließe sich damit höchstens ein Demokratieverständnis verbinden, bei dem sich das demokratische Prinzip in einer Bewusstseinselite materialisiert, die dazu ausersehen ist, das Volk über seinen eigenen Willen aufzuklären. Das Volk ist noch nicht reif für die ihm zugedachte Selbstregierung. Das eigentliche Volk wird durch eine Minorität vertreten, welche die Majorität erst zu ihrem Bewusstseinsstand emporläutern muss.9 Wie wirken sich derartige Strukturen auf das Leben der Menschen aus? Was bedeutet es in mentaler Hinsicht, in einem System zu leben, in dem alles auf ein Machtzentrum zuläuft, und zwar auf ein Machtzentrum, das sich nach seinem Selbstverständnis nicht per Gewalt legitimiert, sondern per Ideologie, also per überlegener Weltdeutung? Zunächst einmal bedeutet es, dass die Wahrheit bereits gefunden ist. Die grundlegenden Fragen sind alle geklärt. Was noch offen ist, ist, wie die nicht mehr bestreitbaren Einsichten in praktische Maßnahmen umzusetzen sind. Hier hatte die SED immer wieder einmal eingeräumt, dass die sozialistische Realität durchaus noch nicht dem kommunistischen Ideal entspreche. Man befinde sich auf dem Weg. An der Richtigkeit des Ziels war hingegen nicht zu deuteln. 4 Diese Verfassung wurde durch das Gesetz vom 7. Oktober 1974 geändert. In der Neufassung des Artikel 1, Absatz 1 tritt der Führungsanspruch der Partei aber eher noch deutlicher zutage. 5 Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, Art. 3. 6 Ebd., Art. 1, Abs. 1. 7 Vgl. dazu Klaus Schröder, Der SED-Staat, München 21999, S. 430 f. 8 Ebd., S. 439 f. 9 So wie es etwa Lenin in seiner Schrift „Staat und Revolution“ beschrieben hatte: „Durch die Erziehung der Arbeiterpartei erzieht der Marxismus die Avantgarde des Proletariats, die fähig ist, die Macht zu ergreifen und das ganze Volk zum Sozialismus zu führen“ (Hervorhebung durch Lenin). Lenin, Staat und Revolution, Berlin 1970, S. 28.
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Nun gab es zwei Möglichkeiten, auf den Wahrheitsanspruch der Partei zu reagieren. Man konnte ihn bezweifeln, was den, der dies tat, zum Leben in der Lüge verdammte. Denn diesen Zweifel konnte man nur unter äußerster Selbstgefährdung äußern; man musste also anders leben als man dachte – ein zerrissenes Dasein. Wenn man den Wahrheitsanspruch aber ernst nahm, gab man sein Eigenleben im Grunde aus der Hand. Dass die Partei immer recht hat, bedeutet, dass man selbst über die entscheidenden Fragen gar nicht mehr nachdenken muss, ja gar nicht mehr nachdenken darf, um ein Abweichen von den richtigen Antworten zu vermeiden. Solch ein Ende des Fragens kann Geborgenheit vermitteln, es ist aber die Geborgenheit des Gefängnisses – der Horizont ist abgeschlossen. Auf jeden Fall züchtet es Unselbstständigkeit. Eine andere Instanz als man selbst hat die Führung des eigenen Lebens übernommen. Darin scheint eine Ähnlichkeit mit dem religiösen Glauben zu liegen; es gibt aber einen wesentlichen Unterschied, auf den weiter unten noch einmal zurückzukommen ist. Ob man in diesem System einer zentralisierten Wahrheit nun zu den Gläubigen oder zu den Zweiflern zählte – dem gesellschaftlichen Klima, das ein solcher geistiger Monismus erzeugt, konnte sich wohl niemand ohne weiteres entziehen. Dissens muss in einer derartigen Gesellschaft Abweichung signalisieren; Streit ist Leugnung der Wahrheit. Wer etwas anderes will als das Vorgegebene, hat sein Ich wichtiger genommen als die gemeinsame Sache, er hat seine Individualität auf Kosten der Gemeinschaft behauptet. Der Gebrauch des Wortes „Individualismus“ war in der DDR zeitweise verboten – so als könne man mit dem Begriff auch die Sache ausrotten. Der Unterschied einer derartigen Einstellung zum Selbstverständnis der westlichen liberalen Demokratie könnte größer nicht sein. Der Pluralismus der Meinungen wird hier nicht nur hingenommen, er ist geradezu das demokratische Lebenselixier: Um die Wahrheit muss gerungen werden; der Streit der Meinungen ist etwas Fruchtbares, nicht etwas Harmonie-Zerstörendes; die Gesellschaft setzt sich aus Individuen zusammen, die ihre Individualität gerade in der Suche des je eigenen Weges entwickeln, und das Gemeinsame ist der Ermöglichungsgrund dieses Entwicklungsprozesses. Dass dieser westliche Individualismus seinerseits Probleme birgt, dass Individualisierung zu gesellschaftlicher Atomisierung führen kann, steht auf einem anderen Blatt. Was in dem jetzt interessierenden Zusammenhang festzuhalten ist, ist die Tatsache, dass die beiden Systeme, das westliche und das östliche, von völlig unterschiedlichen Wahrnehmungen und Bewertungen desselben Phänomens ausgehen. Pluralität ist in dem einen System Motor und letztlich auch wieder Ziel, in dem anderen Störfaktor und damit Gefährdung der Verwirklichung des Ziels. Geprägt vom sozialistischen Monismus muss der Streit der politischen Parteien als Ziel- und Orientierungslosigkeit erscheinen, ja schlimmer noch: als purer Gruppenegoismus, der dem Gemeinwohl im Wege steht. Und im individuellen Bereich muss das Anders-Sein-Wollen als die anderen wie eine Kriegser-
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klärung an die Gemeinschaft wirken – wie kann ein Einzelner glauben, es besser zu wissen als die Vielen, wie kann er sich erlauben, mit seiner Lebensweise die der anderen in Frage zu stellen? Wer darauf getrimmt wird, ständig in Kollektivkategorien zu denken, verbindet mit Gemeinschaft sehr schnell Homogenität. Und es war auch das Ziel der Ideologie, den bürgerlichen Individualismus zu überwinden und das Denken grundlegend zu verändern. Denn letztlich ging es um die Hervorbringung des „neuen Menschen“10. Schließlich hatte der alte Mensch jene Verhältnisse verursacht, auf deren vorgebliche Unmenschlichkeit Marx, Engels und Lenin mit ihren Theorien reagierten. II. Der Mensch im Kommunismus Das Werk, das die sozialistische Gesellschaft an den von ihr übernommenen Menschen zu tun hatte, war wohl nicht nur nach Stalins Meinung ein grundstürzendes. Die Revolutionäre, so Stalin, hätten sich als „Ingenieure der Seele“11 zu betätigen, ein Diktum, das die Assoziation eines zusammengeschraubten neuen Menschen heraufbeschwört. Geschraubt werden musste, das hatte Stalin klar erkannt, vor allem an der Seele. Das passte zwar nur bedingt zum materialistischen Ansatz, dem gemäß alles Seelisch-Geistige nur ein Epiphänomen ist und der Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse daher quasi-automatisch nachfolgt. Aber die Dinge zu beschleunigen und das Seine zu tun, um neue Realitäten zu schaffen, konnte in der konkreten historischen Situation nicht schaden. Nun lässt sich lange darüber streiten, ob die Praktiker der Revolution die Theoretiker der Revolution richtig verstanden haben. Berufen haben sie sich je10 So sprach Werner Dorst in seiner Funktion als Direktor des Deutschen Pädagogischen Zentralinstituts der DDR unter Berufung auf Marx von der „bewußten planmäßigen Hervorbringung (des) neuen Menschen“ als sozialistisches Erziehungsziel (Werner Dorst, Die Erziehung der Persönlichkeit – eine große humanistische Aufgabe, Berlin 1953). In der Präambel des Gesetzes über das sozialistische Bildungssystem vom Februar 1965 hieß es dann, das Bildungssystem der DDR diene „dem Wachsen und Werden allseitig gebildeter, das heißt sozialistisch bewußter, hochqualifizierter, gesunder, geistig und körperlich leistungsfähiger, kulturvoller Menschen, die fähig und bereit sind, die historischen Aufgaben unserer Zeit zu erfüllen.“ 11 Genau genommen, waren damit zunächst die Schriftsteller angesprochen. Doch der Zusammenhang, in dem Stalin den Begriff gebrauchte, macht deutlich, dass diese Art von Ingenieurswesen eine Aufgabe der gesamten sozialistischen Elite sein sollte. Stalin sagte nämlich: „Unsere Panzer sind wertlos (), wenn die Seelen, die sie lenken müssen, aus Ton sind. Deshalb sage ich: Die Produktion von Seelen ist wichtiger als die von Panzern . . . Jemand merkte an, daß Schriftsteller nicht stillsitzen dürfen, daß sie das Leben in ihrem Land kennen müssen. Der Mensch erneuert sich durch das Leben, und ihr müßt behilflich sein bei der Erneuerung seiner Seele. Das ist wichtig, die Produktion menschlicher Seelen. Und deshalb erhebe ich mein Glas auf euch, Schriftsteller, auf die Ingenieure der Seele.“ Zitiert nach: Frank Westermann, Ingenieure der Seele. Schriftsteller unter Stalin. Eine Erkundungsreise, Berlin 2005, S. 40.
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denfalls alle auf die sozialistischen Gründerväter Marx und Engels, und die DDR nahm in ihre Ahnenreihe außer ihnen noch Lenin und Stalin auf. Von Letzterem musste man sich allerdings wieder trennen, als die Nibelungentreue gegenüber der Sowjetunion 1956 dazu nötigte, den mit der Rede Chruschtschows auf dem XX. Parteitag der KPDSU eingeleiteten Entstalinisierungsprozess mitzumachen. Aber Marx, Engels und Lenin blieben die Säulenheiligen des Systems. Da Lenin sich wiederum als Marx-Exeget verstand, führt am Ende alles wieder zu Marx zurück. Deshalb sollte man sich noch einmal das Marxsche Weltbild vergegenwärtigen, um beurteilen zu können, inwieweit die sozialistische Praxis der Theorie korrespondierte. Alles Elend liegt für Marx in den ökonomischen Verhältnissen; die Erfindung des Privateigentums an den Produktionsmitteln hat die Menschen einander entfremdet, Herrschaftsverhältnisse geschaffen, Ausbeutung hervorgerufen. Die normale Situation ist die Kampfsituation. Nach Marxens Sicht – die er besonders markant in den „Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten“ entwickelt – verfällt die gesamte bisherige Welt dem Verdikt: „Religion, Familie, Staat, Recht, Moral, Wissenschaft, Kunst“12; all diese zivilisatorischen Errungenschaften sind Produkte der Ungleichverteilung des Eigentums, somit letztlich Erzeugnisse der Habsucht. Wird diese durch die Abschaffung des Privateigentums hinfällig, so werden nach und nach auch ihre Erzeugnisse verschwinden bzw. sich transformieren. Verschwinden werden auf jeden Fall Religion, Staat, Recht und Moral. In der Religion hat der Mensch seine eigenen Kräfte auf einen selbstgeschaffenen Gott projiziert; diese Selbstvergessenheit muss ein Ende haben, damit der Mensch erkennt, dass in Wahrheit er der Schöpfer der Wirklichkeit ist. Der Staat hat ebenso wie das Recht nur der Durchsetzung von Eigentumsinteressen gedient. Im Kommunismus wird der Staat absterben und sein Rechtssystem mit sich ziehen. Was die Moral angeht, so wird sie unter den richtigen gesellschaftlichen Verhältnissen überflüssig. Denn wenn sich der Einzelne nur noch als gesellschaftliches Wesen versteht, gibt es gar keinen Gegensatz mehr zum Mitmenschen, der individualmoralisch zu regeln wäre. Dass die Familie überleben wird, ist unwahrscheinlich, sieht Marx doch in ihr, wie er es mit Engels zusammen im „Kommunistischen Manifest“ darlegt, nur eine Institution, in der der Mann sich die Frau als Produktionsinstrument hält.13 Ob an die Stelle der bürgerlichen Familie die „Weibergemeinschaft“ treten soll, wird nicht ganz deutlich, deutlich ist hingegen, dass die Kindererziehung künftig gesellschaftlich erfolgen wird. Und die Wissenschaft ist nur noch als materialisti12 Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, hrsg. v. Barbara Zehnpfennig, Hamburg 2005, S. 87. 13 Vgl. Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, Marx Engels Werke, Bd. 4, 6, Berlin 61972, S. 478.
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sche denkbar, nachdem nun doch erkannt ist, dass die Sinnlichkeit die eigentliche Wirklichkeit darstellt.14 Der Kunst, so ist zu vermuten, obliegt es im Kommunismus dann wohl, jene sinnliche Wirklichkeit auf ihre Weise sinnlich abzubilden – sozialistischer Realismus eben. Auch wenn Marx den Kommunismus in späteren Jahren mit weniger Emphase schilderte als in seiner Frühschrift, eine grundlegende Revision gab es nicht. Das Entscheidende blieb also verbindlich: Das Schicksal der Menschen liegt in der Ökonomie. Unter den richtigen ökonomischen Verhältnissen, das heißt, wenn sich das Privateigentum nicht mehr trennend zwischen die Menschen stellt, haben Habsucht, menschliche Gemeinheit etc. keinen Raum mehr. Aller Kampf hat ein Ende, alle Einrichtungen, die in irgendeiner Weise Herrschaftsverhältnisse zementieren – und das betrifft nahezu alle Hervorbringungen der Zivilisation – werden überflüssig. Der Mensch existiert nur noch als gesellschaftliches Lebewesen, d. h. er will nichts mehr, was im Gegensatz zur Gemeinschaft stehen könnte. Der Mensch braucht auch kein Jenseits mehr, in dem ihm das Absolute begegnet. Seine Gattung ist das Höchste, was es gibt, und sogar sein individueller Tod wird bedeutungslos, da er ja in der Gattung weiterlebt.15 Was also ist der Mensch im Kommunismus? Was ist der „neue Mensch“? Es ist der Mensch, der eine radikale Diesseitigkeit lebt und somit keinen Bezugspunkt mehr außerhalb seiner selbst hat, der ihm als Maßstab vor Augen stünde. Das ist auch nicht mehr nötig, da ihm keine Entscheidung, wonach er sein Leben ausrichten soll, abverlangt wird. Er ist Teil der Gattung, ihr Wollen ist sein Wollen. So hat der neue Mensch das Böse besiegt, das im Für-Sich-Haben- und FürSich-Sein-Wollen liegt. Allerdings geschah das nicht aus eigener Kraft, denn nicht der Geist bewegt die Materie, sondern die Materie bringt den Geist hervor. Die richtigen – materiellen, gesellschaftlichen – Verhältnisse führen auch zum richtigen Leben. Das Heil, wenn man so will, kommt von außen. Es mag Menschen geben, denen die kommunistische Utopie als das Paradies auf Erden erscheint. Man kann sie aber auch schlicht trostlos finden. Die Welt ist entgöttlicht; die ganze bisherige Geschichte, einschließlich der großartigen geistigen Leistungen der Menschen wie ihre Rechtssysteme, ihre politischen Ordnungen, ihre Philosophie und Wissenschaft, ist entwertet; Individualismus als SichAbgrenzen von den anderen darf es nicht mehr geben; die Welt ist erklärt, und zwar materialistisch, weiterer Forschungsbedarf besteht nicht. Grundlegendes zu entscheiden gibt es nicht mehr, also auch nicht mehr zu verantworten. Von einem „inneren Menschen“ ist hier nirgends die Rede; er würde geradezu stören. Marx behandelt den Menschen wie einen Faktor in einer Gleichung, die vom Geschichtsprozess gelöst wird. Darüber kann alle Rede vom „Humanis14 15
Vgl. Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, a. a. O. (Fn. 12), S. 95 f. Vgl. ebd., S. 90.
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mus“, der im Kommunismus nun endlich verwirklicht werde, nicht hinwegtäuschen. Wie sah in Anbetracht des theoretischen Entwurfs nun der real existierende Sozialismus aus? Von dem Genannten, der geistigen und sozialen Konformität, der Befreiung von eigener Verantwortung, dem monistischen Weltbild, fand sich in ihm viel. Von einem Absterben des Staates war allerdings nichts zu bemerken. Im Gegenteil: Mit Zähnen und Klauen bewehrt, zwang der Staat die Menschen zu dem, was die meisten freiwillig wohl nicht zu erbringen bereit waren. Liegt in dieser Praxis ein Verrat an der Theorie, sodass von dorther die Ideologie von ihren Folgen zu entlasten wäre? Doch auch für diese Praxis gibt es ein theoretisches Vorbild, und zwar nicht nur bei Lenin, sondern schon bei Marx/Engels. Dass Lenin, der die Revolution umsetzen wollte, auf die dominante Rolle der Partei und des Staates, dessen sie sich bemächtigt hatte, drängte, ist kein Wunder. Er wollte nicht abwarten, bis die Geschichte selbst als Akteur bereitstand. Doch jene Führungsrolle der Partei, die als Bewusstseinselite der proletarischen Bewegung konzipiert ist, findet sich bereits im „Kommunistischen Manifest“. Hier ist auch von „despotischen Eingriffen in das Eigentumsrecht“, von allgemeinem Arbeitszwang, Zentralisierung des Kredits und sonstiger wichtiger Bereiche in den Händen des Staates und vielem anderem mehr die Rede.16 Schließlich steht vor der klassenlosen Gesellschaft die Diktatur des Proletariats. Und da sich das Proletariat nicht selbst zu organisieren versteht, bedarf es kluger Funktionäre, die das freundlicherweise an seiner Stelle erledigen. Auch Marx ging also nicht davon aus, dass das Tor zum Paradies sich unmittelbar nach der Revolution öffnen werde. Für die erste nachrevolutionäre Zeit sah er vielmehr ein blindwütiges Wirken von „Neid und Nivellierungssucht“ voraus, ein Sich-Austoben des Mobs, das in der zweiten Phase auf dem Weg zum Kommunismus wohl mittels Diktatur zu beenden ist.17 Und wer übt diese Diktatur wohl aus? Nun – siehe oben. Bis der Bewusstseinsprozess, der von der Abschaffung des Privateigentums angestoßen wird, bei den Massen angekommen ist, bedarf es ganz offensichtlich einer Führungselite, die hier schon weiter ist. Wie es angesichts der für alle gleichen historischen Ausgangsbedingungen zur Bildung einer solchen Bewusstseinselite kommen kann, wie Marx unter kapitalistischen Bedingungen den Kommunismus überhaupt denken konnte, hat er nie erklärt. Aber vielleicht hatte bei ihm der Hegelsche Weltgeist noch ein letztes Mal gewirkt, bis er sich in Marx als Selbstbewegung der Materie erkannte. Der neue Mensch, auf den die Theoretiker wie die Praktiker der Revolution zusteuerten, stand erst am Ende der Geschichte, wenn das Privateigentum nicht 16 Karl Marx/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, a. a. O. (Fn. 13), S. 480 ff. 17 Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, a. a. O. (Fn. 12), S. 84 ff.
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einmal mehr als Erinnerung präsent sein würde und der menschlichen Seele, von allen Eindrücken der Vorgeschichte gereinigt, das ganz Neue ein- und aufgeprägt werden konnte. Auf dem Weg zum Ziel aber bedurfte es einer starken Zentralmacht, die alles auf dieses eine Ziel hin ausrichtete. Was es in den sozialistischen Systemen einschließlich der DDR an Zwang und Gewalt gab, war also nicht bloß ein zufälliges Produkt der historischen und personellen Konstellationen. Der Praxis ging ein Denken voraus, und sie prägte das Denken auch wieder. So war es mit einer Änderung der äußeren Lebensverhältnisse nach der Wiedervereinigung nicht getan. Das zu glauben, hieße, den Glauben an den Marxschen Determinismus fortzusetzen. III. Der Mensch im real existierenden Sozialismus Um ermessen zu können, welchen Weg die Menschen, die der DDR-Wirklichkeit ausgesetzt waren, mental zurücklegen mussten und weiterhin müssen, wenn sie sich in der liberalen Demokratie heimisch fühlen wollen, sollte man noch einmal einen Blick zurückwerfen. Wie sah das Leben im Sozialismus aus? Es gab keine Trennung zwischen Politik und Gesellschaft, es gab überhaupt keinen nicht-politisierten Bereich. Was in der liberalen Demokratie als quasiautonome Sphäre existiert, stand in der DDR mit größter Selbstverständlichkeit unter der Ägide der Partei und ihrer Ideologie. Wirtschaft, Recht, Kultur, Kirche, Wissenschaft, Erziehung, Medien, selbst das Privatleben – nichts konnte dem staatlichen Reglement entgehen. Dass sich die Menschen durch Ausweichen in die „Nischengesellschaft“ doch private Freiräume zu schaffen versuchten, änderte nichts am System. Es war vielmehr Ausdruck des Systems. Das Private musste dem Staatlichen abgerungen werden, es stand als solches also immer im Gegensatz zur Politik. Es ist nicht unproblematisch, wenn eine solche Erfahrung in ein demokratisches System mitgenommen wird. Denn dann bleibt der Staat das Fremde, und nur das Private ist das Eigene. Bürgerliches Bewusstsein prägt sich so nicht aus. Die Politik selbst war durch und durch verlogen. Ständig wurden durch die staatlich gelenkten Medien Erfolge verkündet, die es größtenteils nur auf dem Papier gab; der Repressionsapparat blieb als unausgesprochene Drohung stets im Hintergrund präsent, ohne wirklich publik gemacht zu werden. Bei vielen ehemaligen DDR-„Bürgern“ mag ein Grund für die Verklärung der Vergangenheit darin liegen, dass ihnen, sofern sie mit der Staatsmacht nicht in Konflikt gerieten, das Ausmaß des staatlichen Terrors gar nicht bekannt war. Es wussten z. B. keineswegs alle in der DDR vom Stasi-Untersuchungsgefängnis Berlin-Hohenschönhausen mit seinen Folterzellen18; Jugendwerkhöfe wie der in Torgau, in dem an18 Vgl. die entsprechenden Erlebnisberichte in: Hubertus Knabe, Gefangen in Hohenschönhausen, Berlin 32008.
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geblich schwer erziehbare junge Menschen durch sadistische Quälereien systematisch gebrochen werden sollten,19 waren geheime Kommandosache. Wer von dem Gewaltpotential des Staates wusste und nicht außerordentlich mutig war, lebte geduckt; wer nicht davon wusste, konnte versuchen, neben der staatlichen Wirklichkeit zu leben und sich in dieser geistigen und physischen Abgeschlossenheit ein doch irgendwie erträgliches oder sogar gemütliches Dasein einzurichten; wer im Einklang mit der Partei lebte und das Terrorsystem kannte, fuhr am besten, fest an die Richtigkeit aller Parteimaßnahmen zu glauben und das Ganze nicht als eine Frage zu behandeln, die man für sich selbst zu klären hätte. Alle diese Reaktionsweisen können kaum ohne mentale Folgen bleiben. In allen ist man bloßes Objekt der Politik, wie immer man diese bewertet. Öffentlichkeit war in der DDR nicht Forum, sondern Ort offizieller Verlautbarungen. Es konnte also keine Diskussion geben, und die Medien waren, als Quasi-Staatsorgane, Teil des Systems der Lüge. Wahrscheinlich ist es schwer, in einem neuen System Vertrauen in Politik und Medien zu gewinnen, wenn man beides zuvor nur in der Funktion einer Erzeugung falschen Scheins kennengelernt hat. Selbst in die Öffentlichkeit zu gehen, an der politischen Debatte teilzunehmen, setzt jedenfalls voraus, dies überhaupt als ein jeden Bürger betreffendes demokratisches Angebot zu begreifen und Zutrauen in die Wege demokratischer Willensbildung zu haben. Das bedeutet nicht, sich unkritisch zu Politik und Medien zu verhalten. Es geht um das rechte Maß an Kritik, die etwas anderes ist als generelles Misstrauen. Die DDR-Wirtschaft konnte, so wie sie angelegt war, nicht funktionieren. Alles einem zentralen Plan zu unterwerfen, heißt, auch die Bedürfnisse im Voraus zu planen (bzw. sie zu ignorieren) und jede Form von Kontingenz auszuschalten, was natürlich nicht möglich ist. Außerdem ist ein Wirtschaftssystem ein so komplexes Gebilde, dass die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Bereichen auf keinen Fall vorhersehbar oder gar festlegbar sind; es zu versuchen, ist fast so, als wollte man alle Funktionen des menschlichen Organismus mit seinem Willen steuern. Die Menschen bemerkten die Misswirtschaft zwar an den ständigen Versorgungsengpässen und der Camouflage bei der Erfüllung des Plansolls, die sie in den Betrieben miterlebten; das ganze Ausmaß des ökonomischen Debakels blieb ihnen aber verborgen, weil der Westen durch Gewährung großzügiger Kredite, Bezuschussung der Ost-Wirtschaft via Lösegeldzahlungen für DDR-Häftlinge etc. das marode System aufrechtzuerhalten half. Vor dem Zusammenbruch des Wirtschaftsystems brach das politische System zusammen, sodass die Erfahrung des Scheiterns der Staatsökonomie nicht gemacht werden konnte. Aufgrund dessen konnte das Ressentiment gegen die privat organisierte Wirtschaft, der univer19 Vgl. dazu: Andreas Gatzemann, Die Erziehung zum „neuen“ Menschen im Jugendwerkhof Torgau, Berlin 2008.
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selle Verdacht, es mit einem System unbegrenzter Habsucht, eines brutalen Verdrängungswettbewerbs und asozialer Ausbeutung zu tun zu haben, bei vielen ungebremst weiterwirken – schien doch das sozialistische Wirtschaftssystem das „menschlichere“ zu sein. Dass die Ökonomie im Grunde eine staatliche Obliegenheit zu sein hat, ist eine mentale Prägung, die nicht so leicht aus den Köpfen zu verbannen ist. Das Rechtssystem, das die Bewohner der DDR erleben durften, verdient diesen Namen selbstredend nicht, denn auch im justiziellen Bereich galt der Primat der Politik. Was im liberalen Rechtsstaat dem Bürger Schutz vor unberechtigtem staatlichen Zugriff gewährt, die unabhängige Justiz, war in der DDR schlicht nicht existent; die dort vorhandene Justiz lieferte den Bürger diesem Zugriff aus. Noch dazu wurden die Mitbürger zum Komplizen staatlichen Tuns gemacht: In Gestalt des „gesellschaftlichen Anklägers“ durften sich die Kollegen aus dem jeweiligen Betriebskollektiv oder ähnlicher Einrichtungen an der Demontage des Angeklagten vor Gericht beteiligen.20 Wenn der Rechtsbeistand nicht Stasi-Informant war oder sonst irgendwie mit staatlichen Stellen kooperierte, war er machtlos; das Gerichtsurteil wurde ohnehin oft von politischer Seite vorgegeben, zumindest in den Fällen, die die Partei für relevant erachtete. Das entsprach der Systemlogik. Im Grunde konnte es im Sozialismus gar keinen legitimen Gegensatz zwischen Staat und Bürger geben – wollte man sich in der besten aller möglichen Welten ernsthaft über die Agenten des menschheitsgeschichtlichen Heils beschweren? Eine unabhängige Justiz konnte man so jedenfalls nicht kennenlernen. Der Glaube, dass es so etwas geben kann, wurde durch manche Erlebnisse in der wiedervereinigten Bundesrepublik dann nicht eben gestärkt. Z. B. zu sehen, wie sich Leute wie Gregor Gysi mittels Instrumentalisierung der westlichen Justiz immer wieder der Verantwortung für ihr Tun entziehen konnten, war gerade für die Opfer des DDR-Regimes tief verstörend. Die intrinsische Logik der Justiz im Rechtsstaat ist auch nicht einfach zu verstehen, selbst für diejenigen nicht, die in ihm aufgewachsen sind. Wer erst in späteren Lebensjahren mit dem westlichen Rechtssystem konfrontiert wird, mag aufgrund des Nichtverstehens, möglicherweise aber ebenso aufgrund der Überbewertung tatsächlich bestehender Mängel in diesem System sein mitgebrachtes Vorurteil von der „Klassenjustiz“ durchaus bestätigt finden – selbst wenn diese „Klassenjustiz“ Ex-Kommunisten zugute kommt. Was den kulturellen Bereich angeht, so war es für die systemtreuen Künstler in der DDR eine herbe Erfahrung, im Westen um den Lebensunterhalt kämpfen zu müssen und die eigene Position nicht mehr staatlich garantiert zu bekommen, während es den systemkritischen Künstlern schwerfiel, ihren Bedeutungsverlust 20 Eine plastische Schilderung derartiger Prozessabläufe findet sich z. B. bei Dieter Gräf, Im Namen der Republik. Rechtsalltag in der DDR, München 2009.
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zu verkraften: Die Funktion, die sie in der DDR hatten, gibt es so in der Bundesrepublik nicht. Systemkritik ist hier allen gestattet, es bedarf dazu keines besonderen Berufsstandes. So wurden beide Gruppen von Künstlern in gewisser Weise ortlos. Für die „Bürger“ der DDR war die Erfahrung mit der Kultur die einer Fortsetzung der Indoktrination mit anderen Mitteln. Es gab zwar seitens der Partei auch Phasen der Einräumung größerer Liberalität21, doch am Sinn und Zweck kultureller Betätigung änderte das letztlich nichts: In allem ging es um die Erziehung zur „sozialistischen Persönlichkeit“. Wie umfassend dieses Erziehungsziel verfolgt wurde, zeigt sich daran, in welche Bereiche es überall hineinwirkte. Natürlich begann das mit der Kindererziehung, die man wohlweislich in nur sehr geringem Umfang den Eltern überließ. Die frühe Unterbringung in Kinderkrippen, die fortlaufende weitere staatliche „Betreuung“ in der Schule, den Jugendorganisationen, den Freizeitgruppen etc. gewöhnte an das Dasein im Kollektiv, verminderte den Raum des Privaten, eröffnete die Möglichkeit fortgesetzter Überflutung mit Propaganda und sollte wohl zu einem distanzierten Verhältnis zum eigenen Elternhaus führen, das die Kinder in aller Unschuld auch noch auszuspionieren halfen, wenn sie sich von ihren Erziehern über häusliche Lebensgewohnheiten befragen ließen.22 Dem Kindheitsalter entwachsen, übernahmen die NVA, die Berufsausbildungsstätten, die Universitäten, die Betriebsorganisationen die weitere „Erziehung“. Dabei war stets die Indoktrination durch direkte propagandistische Schulung mit dem Erleben kollektivistischer Denk- und Verhaltensweisen verbunden. Ersterem konnte man sich mental sicher sehr viel leichter entziehen als Letzterem, bei dem Zwang und Fürsorge ineinander verschmolzen. War es nicht ein Akt mitmenschlicher Zuwendung, wenn das Betriebskollektiv nachsehen kam, wieso der Kollege nicht zur Arbeit erschienen war? Man konnte das staatlich organisierte Kontrollsystem in Teilen auch als soziales Netz empfinden; hier hatten die „Ingenieure der Seele“ erfolgreich geschraubt, was manche retrospektive Verklärung der DDR als die „menschlichere Gesellschaft“ erklären mag. Vollends deutlich wird der staatliche Anspruch, der Bevölkerung notfalls per Brachialpädagogik zum richtigen Bewusstsein zu verhelfen, an der Tatsache, dass sich die Vernehmer in den Stasi-Gefängnissen als „Erzieher“ bezeichneten. Wer sich in offenen Gegensatz zum System begab, musste einen Denkfehler gemacht haben, den es zu bereinigen galt. Bei ganz Uneinsichtigen musste man 21 So z. B. nach dem Wechsel von Ulbricht zu Honecker Anfang der 70er Jahre. Der VIII. Parteitag der SED im Juni 1971 und die 4. Tagung des Zentralkomitees im selben Jahr ließen in ihren Beschlüssen eine größere Toleranz im Hinblick auf künstlerische Freiheit erkennen. Die daraufhin einsetzende freiere gesellschaftliche Debatte über die Rolle der Kunst im Sozialismus wurde aber spätestens Mitte der 70er Jahre wieder abgewürgt. 22 Beliebt war z. B. die Frage nach dem Aussehen der Fernsehuhr; an den Antworten konnte man erkennen, ob Ost- oder Westfernsehen gesehen wurde.
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dann wohl von einem psychischen Defekt ausgehen, dem nur psychiatrisch beizukommen war. So wurde eine obstinat ausreisewillige Frau noch in den 80er Jahren mit Luminal – dem Mittel, das die Nazis zur Euthanasie benutzt hatten – gequält, um sie zu einer Änderung ihrer Haltung zu bewegen. Begründet wurde dies mit der Einschätzung, wer wie sie in der DDR aufgewachsen ist, könne doch zu solch falschen Konsequenzen wie der Republikflucht eigentlich gar nicht gelangen und sei insofern ein Fall für die Psychiatrie.23 Hier wird ganz klar erkennbar, dass der Herrschaftsanspruch sich vor allem auf das Denken bezog. Daraus ergab sich der Erziehungsauftrag der Partei. Man hatte es also schlicht mit einem staatlichen Entmündigungsprogramm zu tun. Es blieb auch nichts anderes übrig als dies, wenn doch die Wahrheit erkannt war, aber noch nicht alle sie begriffen hatten. Gerade in der Gesellschaft der Gleichen gab es somit eine unüberwindliche Hierarchie: die Hierarchie zwischen den Wissenden und denen, die zu den höheren Weihen nicht durchgedrungen waren. Natürlich gibt es in der liberalen Demokratie trotz des demokratischen Gleichheitsanspruchs ebenfalls Hierarchien. Doch hier bezieht sich das hierarchische Element auf die verschiedensten Lebensbereiche, man denke z. B. an das Gefälle zwischen Fachmann und Laie, Eltern und Kindern, Vorgesetztem und Untergebenem etc. Nirgends geht es um eine Fundamental-Dichotomie; niemand kann in allen Bereichen des Lebens Dominanz behaupten, weil es im pluralistischen System eben keine gemeinsame Basis aller Bereiche gibt. So macht jeder die Erfahrung, sich in mancher Beziehung oben, in mancher unten in der Hierarchie zu befinden, auf jeden Fall aber niemals stets nur Objekt von oben ausgehender Direktiven zu sein. Diese Erfahrung war den Menschen im Sozialismus verwehrt. Weil es unterhalb der Parteiebene, genau genommen sogar unterhalb der Führungsebene der Partei keine autonomen Bereiche gab, konnte es auch keine autonomen Subjekte geben, die auf sie prägend einwirkten. Die Institution, die vor allen anderen Autonomie gegenüber staatlichem Wirken beanspruchen muss, wurde im Sozialismus natürlich nur zähneknirschend geduldet, mit Spitzeln durchsetzt und zur Kooperation genötigt: die Kirche. Sie musste als eine der größten Bedrohungen des Erfolgs staatlicher (Um-)Erziehung gelten, weil sie genau das hochhält, was es im Sozialismus auszuschalten galt: den individuellen Gewissensentscheid und die Verantwortung des eigenen Tuns vor einer Instanz, die deutlich über dem Staat steht. Der religiöse Glaube ist ganz anders als der Glaube an den Sozialismus ein Angebot an den Einzelnen; schon die Tatsache der Freiwilligkeit musste wie ein Affront wirken, zeigte es doch, 23 Dokumentiert ist das Schicksal der Genannten in: Hubertus Knabe, a. a. O. (Fn. 18), S. 303 ff. Der behandelnde Arzt wies noch darauf hin, dass man in der DDR – anders als im kapitalistischen Westen – Verantwortung füreinander trage; das Ganze war also als Fürsorge zu verstehen.
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dass es Alternativen zum Zwang gibt, dass es auf den Einzelnen und nicht auf das Kollektiv ankommt und dass man an ein Heil glauben kann, das sich nicht gesellschaftlich, ja nicht einmal notwendig irdisch realisieren muss. Nicht umsonst führt Marx bei seiner Schilderung der kommunistischen Zukunft das Owen-Zitat an: „Der Kommunismus beginnt sogleich mit dem Atheismus“.24 Marx wusste, wer der eigentliche Gegner ist – eben jenes Denken, das sich an den inneren Menschen richtet und die entscheidende Wirklichkeit im Geistigen sucht. Deshalb kämpfte Marx gegen die Religion, deshalb waren die sozialistischen Staaten konsequent kirchenfeindlich. Und darin konnte die DDR wohl auch einen ihrer wenigen Erfolge verbuchen: Den Atheismus hat sie als Geisteshaltung tatsächlich zu etablieren vermocht, nicht zuletzt dadurch, dass der Schulunterricht keine Kenntnisse von der christlichen Religion vermittelte. Umso trostloser musste der real existierende Sozialismus erscheinen, wenn nicht einmal die Hoffnung auf ein anderes Leben, auf eine höhere Daseinsform blieb. Der verordnete Materialismus fand in der DDR jedenfalls wenig, woran er ansetzen konnte. Dazu war die Lebenswirklichkeit zu ärmlich. Deutlich mehr Anknüpfungspunkte gab es dann allerdings im Westen. Dass die Frage der materiellen Lebensbedingungen, dass das Streben nach Wohlstand sich nach der Wiedervereinigung so schnell in den Vordergrund schob, obwohl die größte Errungenschaft der Einheit doch wohl die Freiheit war, ist sicherlich der sozialistischen Prägung geschuldet. Wenn dem Geistigen nur eine abgeleitete Wirklichkeit zuerkannt wird und der Mensch nicht mehr ist als das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, dann kommt in der Tat alles darauf an, über welche Konsummöglichkeiten er verfügt; jedes höhere Ziel scheint untrennbar mit den materiellen Umständen als Bedingung seiner Möglichkeit verknüpft. IV. Altes Denken – neue Wirklichkeit Die DDR hat bei den Menschen, die sie erleiden mussten, nicht nur die üblichen Spuren der Diktatur hinterlassen. Willkürlicher Gewalt ausgesetzt zu sein, allen mit Misstrauen begegnen zu müssen, nicht sagen zu dürfen, was man wirklich denkt – all dies sind Phänomene, die auch bei Gewaltherrschaften auftreten, wie man sie bisher kannte. Ideologisch begründete Gewaltherrschaft greift aber viel tiefer in das Innere des Menschen hinein: Die Ideologie erhebt Anspruch auf den ganzen Menschen, nicht nur auf die Regulierung seines äußeren Verhaltens. Er soll anders denken, er soll sich innengesteuert anders verhalten, aber eben nicht aufgrund eigener Entscheidung, sondern durch Neuprogrammierung. Dazu muss zunächst die alte „Festplatte“ gelöscht werden; die Schaffung einer tabula rasa in Bezug auf die Vorprägungen ist die Voraussetzung dafür, das neue 24
Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, a. a. O. (Fn. 12), S. 88.
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Programm einspeisen zu können. Deshalb galt aller Hass der Vorgeschichte, was wiederum erklärt, wieso sowohl die Theoretiker als auch die Praktiker der Revolution sich überproportional mit dem Übel des Kapitalismus und der hässlichen Fratze des Klassenfeindes beschäftigten. Natürlich kam hinzu, dass das bestehende Böse viel klarer vor Augen stand als das künftige Heil. Sich auf dies Böse zu konzentrieren, erlaubte es Marx, sich nicht allzu sehr festzulegen, wie der Kommunismus denn genau funktionieren sollte; und die DDR konnte durch Hinweis auf die feindliche kapitalistische Umwelt davon ablenken, welchen Anteil sie selbst daran trug, dass man sich noch immer nicht im Arbeiter- und Bauernparadies befand. Auf jeden Fall war der angeblich menschenfeindliche und aggressiv antikommunistische Kapitalismus für die sozialistischen Staaten sehr hilfreich, um den Menschen im Feindbild den geistigen Fixpunkt zu geben, den der Sozialismus aufgrund seiner offensichtlichen Defizite im Positiven nicht zu liefern vermochte. Und nun, nach der Wiedervereinigung, sollten sich die Menschen in eben jenes System einfügen, das ihnen stets als der Inbegriff des Bösen vorgeführt wurde! Auf einmal war das neue Denken, das ihnen eingeimpft worden war, altes Denken angesichts der neuen Wirklichkeit, auf die sie sich jetzt einstellen mussten. Die geforderte Anpassungsleistung ging damit weit über das hinaus, was man bspw. zu leisten hat, wenn man sich in einen neuen Kulturkreis eingewöhnen muss. Von der DDR in die Bundesrepublik zu wechseln, bedeutete nach der bisher gültigen Lesart, in ein System zu kommen, das nicht nur anders, sondern radikal schlecht, historisch überlebt und das größte Hemmnis auf dem Weg zur endgültigen Auflösung aller menschheitsgeschichtlichen Widersprüche war. Natürlich wollten viele Menschen in der DDR diesen Wechsel trotzdem, und sie haben ihn durch ihre Massenproteste schließlich auch erzwungen. Doch die schnell einsetzende und so tiefgreifende Enttäuschung, dass der Westen nicht so golden ist wie erhofft, hat möglicherweise ebenfalls mit der früheren Indoktrination zu tun. Selbst wenn man damals nicht glaubte, bereits in der besten aller möglichen Welten zu leben – die Verknüpfung von Politik und Heilserwartung kann sich dennoch in die Seele eingegraben haben. Die Ideologie versprach das irdisch zu realisierende Absolute: ein Glück, das wunschlos ist und sozusagen frei Haus geliefert wird. Im Verhältnis zu solcher Verheißung muss jede Realität versagen. Ein System wie das westlich liberale, das sich jeden Absolutheitsanspruch verbietet, an die Stelle des Monismus den Pluralismus setzt und die Lösung deshalb meist im Kompromiss findet, kann dem sozialistisch geprägten Bewusstsein sehr leicht wie eine Kapitulation vor dem eigentlich zu realisierenden Ziel erscheinen. Wenn dann auch noch der erhoffte materielle Status nicht erreicht wird, schlägt die Hoffnung schnell in die Verdammung um, beides in der erlernten Absolutheit, die sich auf die Realität, wie sie ist, nur ungern einlassen mag.
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Eines ist allerdings nicht von der Hand zu weisen. Dem Glauben, das Glück liege in den materiellen Verhältnissen, diesem komme geradezu Erlösungsfunktion zu, wird im westlichen Alltagsleben wenig entgegengesetzt. Der Pluralismus bietet zwar auch geistige Alternativen. Wirkmächtig aber ist die einfache, ganz und gar säkulare Daseinsorientierung, die sich auf den Erwerb konzentriert und die Selbstvergewisserung durch den sozialen Statusvergleich vollzieht. Auch in der Politik ist von großen ideellen Zielen wenig, von der Regelung politischer Probleme mittels der Verteilung von Finanzen dagegen viel die Rede. Wenn sich die Überlegenheit des Westens darin erschöpfte, den effizienteren Weg zur Erfüllung materieller Bedürfnisse versprechen zu können, wäre das als Alternative zum sozialistisch zusammengeschraubten Glauben etwas zu wenig. Die „Ingenieure der Seele“ haben ein letztlich sehr simples Weltbild vermittelt. Dass die Wirklichkeit komplexer, reicher, anspruchsvoller ist, ist eine Einsicht, die in einem geistig offenen System jederzeit möglich ist. Wenn man von diesem System überzeugen will, muss man vorleben, dass die geistige Freiheit, auch wenn sie zu solch unbequemen Einsichten wie der genannten führt, ein Wert ist, der der vermeintlichen Sicherheit geschlossener Denksysteme unendlich überlegen ist. So ist die Wiedervereinigung, was das Umdenken angeht, keineswegs nur ein Auftrag an die Ostdeutschen. Vielmehr ist gerade das Nachdenken über das Versagen der östlichen Systeme die Chance für den Westen, das zu verwirklichen, was er zunächst immer nur seiner Möglichkeit nach ist.
V. Der Vereinigungsprozess nach 20 Jahren
Die wirtschaftliche Entwicklung nach 20 Jahren Wiedervereinigung: Bilanz 2010* Von Karl-Heinz Paqué Aufbau Ost: An ihm scheiden sich die Geister. Er ist der kritische Punkt, wenn es darum geht, die politische Gesamtbilanz der Wiedervereinigung Deutschlands zu bewerten. Für ihn sind kraftvolle Bilder gefunden worden: Super-Gau Deutsche Einheit, Mezzogiorno ohne Mafia, Subventionsloch und Milliardengrab. Ich halte diese Bilder nicht nur für polemisch, sondern für falsch. Ich werde im Folgenden begründen, warum. Mein Beitrag wird drei Teile haben: – In Teil I. rekapituliere ich die zentralen wirtschaftspolitischen Weichenstellungen der Deutschen Einheit. Mein Ergebnis wird sein: Sie waren richtig. Und es gab keine Alternative. Der Hauptgrund: die Mobilität der Menschen in unmittelbarer Nähe zum westlichen Wohlstand. Deren Folgen sind oft unterschätzt worden, auch von der Wirtschaftswissenschaft. – In Teil II. fasse ich zusammen, wo wir heute stehen – nach 20 Jahren Aufbau Ost. Mein Ergebnis wird sein: Wir haben viel erreicht, aber auch manches nicht. Vor allem: keine West/Ost-Angleichung. Die ostdeutsche Industrie ist noch immer eine verlängerte Werkbank. Aber: eine Werkbank mit hoher Wettbewerbsfähigkeit. Daran ist niemand schuld. Oder salopp formuliert: Mehr war nicht drin. – In Teil III. blicke ich in die Zukunft, allerdings nur kurz, knapp und kursorisch. Was ist noch zu tun? Und wie kann es gelingen? Was ist die politische Aufgabe, die noch bleibt? Und was ist die Aufgabe für die Wissenschaft? Mein Beitrag liefert in äußerst geraffter Form die Kernthesen eines Buches, das ich jüngst veröffentlicht habe. Sein Titel: „Die Bilanz. Eine wirtschaftliche Analyse der Deutschen Einheit.“1
* Vortrag gehalten bei der Gesellschaft für Deutschlandforschung im März 2010. 1 Karl-Heinz Paqué, Die Bilanz. Eine wirtschaftliche Analyse der Deutschen Einheit, Carl Hanser Verlag, München 2009.
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I. Der Weg Der Mauerfall am 9. November 1989 war nicht nur ein großartiger Sieg der Freiheit. Er war auch ein lautes Startsignal der Mobilität. Ab diesem Tag konnte jeder ostdeutsche Arbeitnehmer als deutscher Staatsbürger in den nahe gelegenen Westen abwandern. Die Verlockung war sehr groß, denn es gab kaum natürliche Hindernisse: gleiche Sprache, gleiche Kultur, gleiche industrielle Tradition, aber im Westen ein hochmoderner Kapitalstock, eine im Weltmarkt bewährte Produktpalette, recht sichere Arbeitsplätze und vor allem hohe Löhne, die im globalen Vergleich mit an der Spitze lagen. Ohne Frage: Der kapitalistische Westen war für Millionen Ostdeutsche attraktiv – vor allem für die Fachkräfte und Leistungsträger unter ihnen. Genau dies schränkte das politisch Mögliche nach dem Mauerfall stark ein. Theoretisch war es natürlich vorstellbar, eine Massenwanderung zuzulassen. Dies hätte bedeutet: „Erweiterung West“ statt „Aufbau Ost“. Es hätte vielleicht sogar recht gut funktioniert, so wie die Integration der Vertriebenen in Westdeutschland in den 1950er Jahren, die ja ein Wirtschaftswunder befeuerte. Es wäre im Westen zu einem Investitions- und Bauboom gekommen – bei vorübergehendem Druck auf die Reallöhne, aber mit schneller Erweiterung der bereits vorhandenen leistungsfähigen Industrieanlagen. All dies war ökonomisch denkbar. Politisch lag es aber jenseits aller Vorstellungskraft: Ein „Morgenthauplan Ost“ mit den ehemals stolzen mitteldeutschen Industrieregionen als Rentnerparadies, grünem Biotop und landwirtschaftlicher Nutzfläche, das wäre eine historische und moralische Bankrotterklärung der Nation gewesen. Es gab deshalb für die deutsche Politik ein Ceterum Censeo, und das lautete (frei nach Cato dem Älteren): „Und im Übrigen muss eine massive Abwanderung von Ost nach West verhindert werden!“ Damit hätte eigentlich jedem klar sein müssen: Die Deutsche Einheit wird extrem schwierig und sehr teuer. Denn jede wichtige politische Entscheidung hatte fortan drei Grundbedingungen zu erfüllen: Sie musste schnell sein; sie musste Vertrauen schaffen; und sie musste Löhne in Aussicht stellen, die nicht allzu weit unter dem westdeutschen Niveau liegen. Nur so lassen sich die drei großen wirtschaftspolitischen Weichenstellungen verstehen, die das Jahr 1990 mit sich brachte: die Wirtschafts- und Währungsunion, die Einrichtung der Treuhandanstalt und der Beginn einer massiven Wirtschaftsförderung. Mitte 1990 wurde im Osten die DM eingeführt. Von nun an gab es eine überaus stabile Währung. Dies war ein wichtiger Schritt der Vertrauensbildung, was inzwischen weithin anerkannt ist. Kritisiert wird die Währungsunion allerdings bis heute dafür, dass sie angeblich durch den Umstellungskurs von Mark (Ost) zu D-Mark von eins zu eins zu einer drastischen Erhöhung der Lohnkosten im Osten führte – und damit zu einem ruckartigen Verlust der Wettbewerbsfähigkeit der ostdeutschen Industrie. Tatsächlich betrug das Lohnniveau des Ostens nach der
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Umstellung etwa ein Drittel des Westens. Ohne Zweifel hätte ein Umrechungskurs von, sagen wir, zwei Mark (Ost) für eine D-Mark rein arithmetisch die Arbeit im Osten verbilligt, auf ein Sechstel des Westniveaus. Die Frage ist allerdings: für wie lange? In Magdeburg, Erfurt und Chemnitz ein Lohn von einem Sechstel des Niveaus von Hannover, Kassel und Nürnberg? Das ist, wenn Arbeitnehmer mobil sind, bestenfalls Träumerei. Selbst das Drittel des Westniveaus erwies sich ja schnell als unhaltbar. Nur mit staatlichen Lohnkontrollen und massiven Mobilitätsbarrieren wären ein Anstieg der Löhne und ein Anschwellen der Abwanderung zu verhindern gewesen. Dies hätte eine neue Mauer bedeutet, und das kam nicht in Frage. Insofern ist die Kritik an dem Umstellungskurs der Währungsunion auch im Rückblick realitätsfern. Ähnliches gilt für die Politik der zügigen Privatisierung. Die Treuhandanstalt als Wirtschaftsholding des Ostens wurde nach der staatlichen Wiedervereinigung mit einem Mandat zum möglichst schnellen Verkauf der staatlichen Betriebe und Vermögen ausgestattet. Sie arbeitete dann auch in Rekordgeschwindigkeit. Bei ihrer Auflösung Ende 1994 war der Großteil der 14.000 Unternehmen bzw. Unternehmensteile privatisiert. Es war ein gigantischer Kraftakt und nicht ohne Erfolg. Es gelang ihr, einen industriellen Kern zu schaffen, der zukunftsfähig war. Die Investitions- und Beschäftigungszusagen wurden im Wesentlichen eingehalten, zum Teil sogar übererfüllt. Die Geschäftsmodelle der Erwerber – ob auswärtige Firmen oder frühere Manager – erwiesen sich in der großen Mehrzahl der Fälle als tragfähig. Ein beträchtlicher Teil der ostdeutschen Industriebetriebe, die heute rentabel arbeiten, stammt aus ehemaligen Unternehmen der Treuhandanstalt. Hinzu kommt eine Leistung, die heute oft übersehen wird: Es gab keine massenhafte Dauersubventionierung von maroden Industriestätten. Genau vor dieser Horrorvision hatten viele Ökonomen zu Recht gewarnt. Auf der Negativseite der Treuhandbilanz standen schließlich ein Defizit von über 200 Milliarden D-Mark zu Lasten des Steuerzahlers und der Abbau von etwa 2,5 Millionen industriellen Arbeitsplätzen. Hinzu kamen kriminelle Machenschaften und eine schwere Diskreditierung in Teilen der ostdeutschen Bevölkerung. Emotional war dies verständlich, denn es lag nahe, dem wirtschaftlichen Aufräumkommando die Schuld für verlorene Arbeitsplätze anzulasten, zumal die Praktiken der Treuhandanstalt vor Ort nicht immer den nötigen Respekt vor der Lebensleistung der Menschen im Sozialismus erkennen ließen. Volkswirtschaftlich sehen die Dinge allerdings anders aus. Die Treuhandanstalt übernahm einen industriellen Kapitalstock, der sich fast durchweg als marode, verschlissen und veraltet herausstellte. Viel schlimmer noch war die Tatsache, dass nur wenige Industrieunternehmen Markenprodukte vorweisen konnten, die bei radikaler Modernisierung des Kapitalbestandes auf dem nationalen und globalen Markt noch eine Absatzchance hatten, und zwar zu einem Preis, der die Deckung der Kosten und einen angemessenen Gewinn erlaubte. Dort, wo es solche Produkte gab, lief der Prozess recht reibungslos. So konnten zum Beispiel in
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der Ernährungswirtschaft Brauereien mit berühmten Marken aus der Vorkriegszeit („Radeberger Pils“, „Köstritzer Schwarzbier“) zügig verkauft werden, und die Biere tauchten sehr schnell und erfolgreich in modernisiertem Gewand auf dem gesamtdeutschen Markt wieder auf. In den Investitionsgüter- und Grundstoffindustrien – von Fahrzeug- und Maschinenbau über die Feinmechanik und Elektrotechnik bis hin zur Chemie – war dies sehr viel schwieriger. Hier zeigte sich der Flurschaden des Sozialismus in seiner ganzen Tragweite: In den vier Jahrzehnten der Abschottung vom Weltmarkt hatten längst westliche Konkurrenten alle Marktnischen der technischen Spezialisierung besetzt, und selbst die besten Ingenieure waren nur selten in der Lage, aus dem Bestand der Produkte in absehbarer Zeit Neues und Innovatives zu entwickeln. Tatsächlich liegt es im Rückblick nahe, das Ausmaß von Treuhanddefizit und Personalabbau als jenen Preis des Sozialismus zu interpretieren, den die Wirtschaft Ostdeutschlands entrichten musste, um in der laufenden Globalisierung überhaupt noch einmal am Weltmarkt Fuß zu fassen. Weil die ostdeutschen Arbeitnehmer stets die Alternative hatten, im Westen zu arbeiten, war es nicht möglich, in gelassener Ruhe jenen Teil der Industrie zu erhalten, dessen Produktpalette am Weltmarkt nur einen sehr kleinen Bruchteil der westdeutschen Wertschöpfung pro Arbeitsplatz erwirtschaftete. Dieser Teil der Industrie musste – anders als in Mittel- und Osteuropa – unter dem Druck der Verhältnisse verschwinden. Es gab einfach nicht die Option des evolutionären Wandels, mit Industrielöhnen wie in Tschechien, der Slowakei, Ungarn und Polen, die damals bei unter 20 Prozent des westdeutschen Niveaus lagen und selbst heute noch 30 Prozent nicht überschreiten. Stattdessen musste ein revolutionärer Umbruch stattfinden, und die Treuhandanstalt wurde der Agent dieser Revolution. Wahrlich eine undankbare Aufgabe. Sie bescherte der Treuhandanstalt nicht nur die Feindschaft entlassener Industriearbeiter im Osten, sondern auch herbe Kritik von Ökonomen im Westen. Diese bemängelten vor allem, dass es in den frühen 1990er Jahren noch vor der Privatisierung zu massiven Lohnerhöhungen kam – auf Druck der westdeutsch dominierten Gewerkschaften und auf Kosten des Steuerzahlers. Tatsächlich hatte die Treuhandanstalt als Staatsholding am Subventionstropf keinerlei Anreiz, wirklich harte Tarifverhandlungen zu führen. Die Löhne kletterten deshalb schnell weit über 50 Prozent des Westniveaus, bis hin zum erklärten Ziel von Tariflöhnen von 100 Prozent West in wenigen Jahren. Im Rückblick hat dies fast surreale Züge. Die längerfristigen Aussichten der Betriebe wurden dadurch allerdings kaum berührt, denn die meisten Treuhandunternehmen verließen mit der Privatisierung ohnehin den Tarifverbund und zahlten Löhne nach Gesichtspunkten der betrieblichen Effizienz. Und jeder potentielle Erwerber konnte dies voraussehen. Was er schließlich an Löhnen bezahlen musste und von vornherein in Rechnung stellte, hatte viel zu tun mit der Motivation der Belegschaft und deren latenter Bereitschaft zur Mobilität, aber wenig mit der Macht eines Flächentarifvertrags.
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Parallel zur Treuhandaktivität lief die Wirtschaftsförderung an, und zwar massiv: Ausbau und Renovierung der Infrastruktur sowie Förderung von Neuansiedlungen und Erweiterungsinvestitionen der Industrie. Die Förderung wirkte. Es gab zunächst einen Boom der Bauwirtschaft, der zügig zur Erneuerung des Baubestands führte, dabei allerdings auch längerfristig zu hohen Leerständen, weshalb die Förderung zu Recht immer stärker auf das verarbeitende Gewerbe konzentriert wurde. Ökonomen übten wiederholt Kritik an Einzelheiten der Förderung. Vor allem die starke Fixierung auf Investitionen wurde bemängelt, weil sie zu einem überhöhten Kapitaleinsatz pro Arbeitsplatz verleitete. Ob sie tatsächlich zu Fehlentwicklungen führte, ist bis heute strittig; die empirische Evidenz bleibt unklar. Andererseits gab es gewichtige praktische Argumente für die Beschränkung auf die Investitionsförderung, denn nur sie erlaubte eine scharfe Trennung zwischen einmaliger Förderung und der anschließend folgenden Produktion, die unsubventioniert blieb. Dies half, den politischen Druck in Richtung Dauersubventionen (die Horrorvision!) in Grenzen zu halten. Dem Bauboom folgte ein kräftiges Wachstum der industriellen Wertschöpfung, das bis 2008 anhielt und seit einigen Jahren sogar wieder die Beschäftigung ein Stück weit nach oben zog. Die Ergebnisse sind heute in der Statistik ablesbar. Damit sind wir aber schon beim zweiten Teil meines Beitrages angelangt: Was ist erreicht worden? Wo stehen wir heute 20 Jahre nach der Wiedervereinigung? Was hat der Aufbau Ost gebracht? II. Das Erreichte Zunächst ganz klar: eine Re-Industrialisierung des Ostens. Im Jahr 1992 wurden gerade 3,5 Prozent der gesamtdeutschen Industrieproduktion im Osten erstellt, und dies weitgehend von hoch subventionierten Treuhandbetrieben. Im Jahr 2008 lag der Anteil Ostdeutschlands an der gesamtdeutschen Industrieproduktion wieder bei fast 10 Prozent. Während die Bauwirtschaft seit Mitte der 1990er Jahre kontinuierlich schrumpfte, gewann das verarbeitende Gewerbe wieder einen prominenten Platz. Auch in der wirtschaftlichen Leistungskraft gab es deutliche Fortschritte. Ein ostdeutscher Industriebeschäftigter erwirtschaftet heute pro Jahr fast 80 Prozent der Wertschöpfung seines westdeutschen Kollegen; 1991 waren es weniger als ein Viertel, um die Jahrtausendwende etwa Zweidrittel. Von einer Stagnation des Aufholprozesses, die oft behauptet wird, kann also nicht die Rede sein, zumindest nicht für die Industrie. Gesamtwirtschaftlich dagegen verlief der Zuwachs der Produktivität in jüngerer Zeit, nach anfänglich rasantem Tempo, schleppend. Dies liegt aber vor allem an der Schrumpfung der Bauwirtschaft, der Stagnation der Dienstleistungsgewerbe und dem Rückgang staatlicher Aktivität. Dabei handelt es sich um notwendige Anpassungen: Nur durch einen Strukturwandel weg von der binnenmarktorientierten Produktion von Bauleistungen und Diensten hin
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zum exportfähigen verarbeitenden Gewerbe kann der Osten aus seiner Transferabhängigkeit herauswachsen. Der Motor des Wachstums muss die weltmarktorientierte Industrie sein. Die Entwicklung der letzten Jahre geht deshalb volkswirtschaftlich in die absolut richtige Richtung. Die Folgen dieser Entwicklungen zeigen sich seit einigen Jahren auch sehr deutlich in dem, was man die gesamtwirtliche „Leistungsbilanz“ Ostdeutschlands nennen könnte, also die Differenz zwischen dem Wert der Produktion und des Verbrauchs. Diese „Leistungsbilanz“ wies in den 1990er Jahren riesige Defizite auf, und zwar jährlich in der Größenordung von 100 Milliarden Euro. Im Jahr 2006, derzeit das letzte Jahr mit vollständig verfügbaren Daten, betrug das Defizit noch 31 Milliarden Euro, seither ist es wahrscheinlich auf 20 bis 25 Milliarden Euro geschrumpft. Dieser nachhaltige Fortschritt erklärt sich in erster Linie aus der kräftigen Zunahme der industriellen Produktion, aber auch aus der Konsolidierung der öffentlichen (und privaten) Ausgaben in den ostdeutschen Ländern. Was an Defizit derzeit noch übrig bleibt, resultiert aus den West-Ost-Transfers innerhalb des Renten- und Sozialsystems, die auf Rechtsansprüchen beruhen. Bei allen Fortschritten der Industrie verbleibt derzeit noch ein zählebiges innerdeutsches Produktivitätsgefälle. Im Jahr 2008 betrug die Bruttowertschöpfung pro Erwerbstätigen 78,3 Prozent des Westens; pro Arbeitsstunde waren es 71,0 Prozent, da die Arbeitszeit in der ostdeutschen Industrie rund 10 Prozent höher liegt als im Westen. Wie lässt sich dieser Rückstand erklären? Alle Indizien sprechen dafür, dass der Hauptgrund in der Art der Produkte liegt, die im Osten hergestellt werden. Diese haben offenbar Charakteristika, die im Durchschnitt eine niedrigere Wertschöpfung pro Arbeitseinsatz erzielen als ihre westlichen Gegenstücke. So bleibt die industrielle Forschung und Entwicklung (F&E) immer noch sehr stark auf den Westen Deutschlands konzentriert. Im Jahr 2006 lag der Anteil der Erwerbstätigen, die in F&E tätig sind, in Ostdeutschland mit 0,43 Prozent nur etwa bei der Hälfte des westdeutschen Niveaus von 0,88 Prozent. Diese Anteile haben sich seit Mitte der 1990er Jahre kaum verändert. Die Re-Industrialisierung des Ostens war also bisher nicht mit einer stärkeren Forschungsorientierung verbunden. Auch die Exportausrichtung ist in Ostdeutschland noch immer schwächer als im Westen, wenngleich sich der Abstand in den letzten Jahren deutlich verringert hat. Im Jahr 2008 lag die Exportquote im Westen bei fast 46 Prozent, im Osten bei etwa 33 Prozent, nach nur 12 Prozent noch Mitte der 1990er Jahre. Schließlich arbeitet die ostdeutsche Industrie im Durchschnitt in außerordentlich kleinen betrieblichen Einheiten. So waren 2005 fast die Hälfte aller Industriebeschäftigten in Unternehmen mit maximal 12 Mitarbeitern tätig. Es wundert nicht, dass es ein solcher Mittelstand nicht leicht hat, in der Forschung und im Export die nötige innovative Schlagkraft zu entwickeln. All dies führt zu einer einfachen Schlussfolgerung: Die ostdeutsche Industrie ist eben doch noch immer zum Großteil eine verlängerte Werkbank des Westens. Die Direktinvestitionen westlicher Firmen haben viel gebracht an Modernität und
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Effizienz, aber wenig an Brutstätten des Wissens und industrieller Innovationskraft. Obendrein ist die ostdeutsche Industrie noch nicht groß genug, um den Produktivitäts- und Einkommensabstand zum Westen auch in den Bereichen lokaler Dienstleistungen deutlich zu verringern. Kurzum: Sie hat Fortschritte gemacht, aber der Weg ist noch lange nicht zu Ende. Ein Teilerfolg – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Dabei bedeutet die strukturelle Schwäche der ostdeutschen Industrie keineswegs einen Mangel an Wettbewerbsfähigkeit. Allerdings liegt dies vor allem an einem Lohnniveau, das seit über zehn Jahren bei 67–68 Prozent des Westniveaus verharrt. Die ostdeutschen Industrielöhne sind also fast exakt dem westdeutschen Trend gefolgt – und nicht dem sehr viel steileren Aufwärtstrend der Arbeitsproduktivität im Osten. Entsprechend sind die Lohnstückkosten, definiert als das Verhältnis von Arbeitskosten zu Arbeitsproduktivität, relativ zum Westen kontinuierlich gesunken. Im Jahr 2008 lagen sie im verarbeitenden Gewerbe bei 86 Prozent des Westniveaus. Industriell ist also der Osten – was die Lohnstückkosten betrifft – ein überaus wettbewerbsfähiger Standort geworden, trotz des fortdauernden Rückstands der Produktivität. Der Hauptgrund für diese Entwicklung liegt in der Erosion des Flächentarifvertrags: Wegen der hohen Arbeitslosigkeit gelang es im Osten weder den Arbeitgeberverbänden noch den Gewerkschaften, einen hohen Organisationsgrad zu erreichen. Tatsächlich ist der Anteil der Industrieunternehmen, die tarifvertraglich gebunden sind, nach allen Maßstäben extrem niedrig und allemal weit niedriger als im Westen. Offenbar haben sich auf breiter Front betriebsnahe Lösungen durchgesetzt, die ein hohes Maß an Flexibilität gewährleisten und die Löhne auf einem wettbewerbsfähigen Niveau halten. Erst diese Entwicklung öffnete die Tür zur Re-Industrialisierung des Ostens. Was ist der Aufbau Ost wirtschaftlich wert? Zweifellos hat er geholfen, das Ausbluten des Ostens durch Abwanderung drastisch einzudämmen, wenngleich auch heute noch pro Jahr rund 50.000 Menschen mehr die Region verlassen als zuwandern. Ansonsten hilft ein Seitenblick zu den mitteleuropäischen Nachbarländern, um die Leistung des Aufbaus Ost zu ermessen. Vor allem nach Tschechien, einem Land, das als hochentwickelte Industrieregion sowohl in der Zwischenkriegszeit als auch in den 40 Jahren der sozialistischen Abschottung die größte strukturelle Ähnlichkeit mit Ostdeutschland hatte. Wo steht die tschechische Industrie heute? Die Antwort lautet für 2007: bei etwa 31 Prozent der Arbeitsproduktivität von West- und 41 Prozent von Ostdeutschland, und damit wohl viel niedriger als in der Zwischenkriegszeit. Klar ist: Tschechien hatte keinen „Aufbau Ost“ im Sinne eines massiven staatlichen Programms und privater Direktinvestitionen durch einen benachbarten kapitalistischen Westen innerhalb derselben Nation. Insofern ist der Rückstand nicht verwunderlich. Allerdings zeigt er auch, wie schwierig die postsozialistische Aufgabe des Aufholens gegenüber dem Westen offenbar ist. Viel schwieriger jedenfalls, als Anfang der 1990er
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Jahre erwartet wurde. Der Flurschaden des Sozialismus wirkt überall lange und tief. Ostdeutschland hat einen guten Mittelfeldplatz erobert – ein Stück weg noch vom Westen, aber ein großes Stück vor den postsozialistischen Nachbarländern aus Mitteleuropa. Vor allem hierin liegt der Wert des Aufbau Ost. III. Was ist noch zu tun? Die Frage, die bleibt, lautet heute: Was kann die Wirtschaftspolitik tun, um Ostdeutschland weiter voranzubringen? Sie muss versuchen, die Industrie im Osten zu stärken, und zwar in Größe und Produktivität. Dies muss die Priorität der Politik werden. Dabei bedarf es einer Umschichtung von Mitteln: weg von Projekten der Infrastruktur und Arbeitsbeschaffung und hin zu Maßnahmen, die der ostdeutschen Industrie zu mehr Innovationskraft verhelfen. Es geht dabei vor allem um das Entstehen neuer Zentren der privaten Forschung im Zusammenspiel mit öffentlichen Wissenschaftseinrichtungen, die sich zu industriellen Ballungszentren verdichten können. Erste Ansätze dazu gibt es, zum Beispiel in der Mikroelektronik im Raum Dresden und in der Photovoltaik im Raum BitterfeldWolfen. Erheblich mehr muss folgen. Bei dieser Umorientierung sind alle politischen Ebenen des bundesdeutschen Föderalismus gefordert. Die Bundespolitik muss darauf hinwirken, dass wissenschaftspolitische Exzellenzprogramme keine negativen regionalpolitischen Nebeneffekte haben. Der Osten – und im Übrigen auch der Norden – dürfen nicht wegen ihrer weit schwierigeren Startposition von der Entwicklung neuer Schwerpunkte öffentlicher und privater Forschungszusammenarbeit abgehängt werden. Daneben muss das hohe Maß an Flexibilität und Betriebsnähe, das die ostdeutsche Industrie auszeichnet, als besonderer Standortvorteil erhalten bleiben. Jede Form der Re-Regulierung des Arbeitsmarkts (z. B. durch flächendeckende Mindestlöhne) ist dabei schädlich. Die Landes- und Kommunalpolitik muss weiter standortpolitische Schwerpunkte setzen, die vielversprechende Ballungsvorteile von Industrien gewährleisten, ohne die Chancen für neue Entwicklungen zu verschließen. Und sie muss die Förderung darauf richten, die private Forschung und Entwicklung in der Region zu stärken. Die kommunalen Entscheidungsträger brauchen Freiräume, um bei der Anwerbung von Investoren mit westdeutschen und ausländischen Städten und Gemeinden konkurrieren zu können. Es geht also um eine Mischung von anspruchsvoller Innovationsförderung, einfacher Anwerbung von Investoren und pragmatischer Stärkung des vorhandenen industriellen Mittelstands. Es ist eine moderne Industriepolitik – nicht branchenspezifisch, aber branchenbewusst und zukunftsorientiert. Auch von dieser Mischung darf man sich natürlich keine Wunder versprechen. Es ist eben eine sehr langwierige Aufgabe, die Flurschäden des Sozialismus zu beseitigen. Aber nur wenn dies irgendwann gelingt, wird die Wanderung von Ost nach West zum Stillstand kommen.
Die demographische Entwicklung im vereinten Deutschland zwischen Bevölkerungswachstum und -schrumpfung Von Günther Heydemann Wichtige Nachrichten verstecken sich manchmal im Kleingedruckten. So stellte der Präsident des Bundesverbandes deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen vor weniger Tagen fest, dass wegen des demographischen Rückgangs in den neuen Bundesländern bis zum Jahre 2020 mit einem Wegfall von 430.000 Haushalten zu rechnen sei. Obwohl durch den Stadtumbau Ost seit 2002 bereits 250.000 Wohnungen abgerissen worden seien, müssten bis 2016 jährlich noch einmal 200 Millionen Euro für den Abriss aufgewendet werden, um den massiven Bevölkerungsschwund in den neuen Bundesländern am Wohnungsmarkt kompensieren zu können. Nach gegenwärtigen Hochrechnungen dürften im Jahr 2060 rund 37% weniger Menschen in Ostdeutschland leben als zurzeit. In der Tat weist kein anderes europäisches Land in den letzten zwanzig Jahren „großflächig so starke regionale, demographische und wirtschaftliche Verwerfungen auf wie Deutschland“.1 Aber auch die Mikroperspektive ergibt ein ähnliches Bild, insbesondere, wenn der Fokus auf einige Städte in den neuen Bundesländern gerichtet wird: Seit der Wiedervereinigung hat z. B. Dessau, das noch zu DDR-Zeiten über 100.000 Einwohner zählte, mehr als 23.000 Bürger verloren. Allein zwischen 2000 und 2004 haben Stadt und Region 6,4% der Bevölkerung eingebüßt. Noch in den 1920er Jahren eine aufstrebende Stadt mit hoch entwickelter Industrie (Chemie; Flugzeugbau) und weltweit führend in Architektur und Design, gelten Stadt und Region inzwischen als Negativ-Beispiele für den massiven demographisch-ökonomischen Wandel, der sich seit der „Wende“ in Ostdeutschland vollzogen hat.2 Doch die drittgrößte Stadt Sachsen-Anhalts und ihre z. T. desaströse Entwicklung stellt noch nicht einmal das schlimmste Beispiel jüngster, ostdeutscher Stadtgeschichte dar. Noch stärker als Dessau wurde das sächsische Weißwasser vom fundamentalen sozioökonomischen Wandel betroffen, der nach 1989/90 erfolgte. Zählte der ehemalige industrielle Vorzeigestandort der DDR im Jahre
1 Vgl. Steffen Kröhnert/Iris Hoßmann/Reiner Klingholz, Die demografische Zukunft von Europa. Wie sich die Regionen verändern, München 2008, Artikel: Deutschland. Vorreiter in Sachen demografischer Wandel, S. 156–171; dort S. 157. 2 Vgl. ebd., S. 156.
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1987 noch mehr als 37.000 Einwohner, so wies die ostsächsische Stadt 2003 nur noch 23.000 Menschen auf. Ist dieser Aderlass schon rein quantitativ kaum mehr kommunalpolitisch lösbar, so schlägt weiter erschwerend zu Buche, dass es vor allem die jüngeren Personengruppen sind, welche die Stadt inzwischen zu Tausenden verlassen haben und weiter verlassen. Jährlich verliert Weißwasser rund 4% seiner Einwohner, wobei diese hohe Durchschnittszahl zu vier Fünftel durch Abwanderung bedingt ist.3 Eine Folge ist die sukzessive Überalterung der Stadt, so dass immer mehr Rentner in ihr leben; ebenso bleiben aber auch eine hohe Zahl von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern zurück. Daher hat man im Verwaltungsdeutsch inzwischen den Begriff „A-Gruppe“ eingeführt, nämlich für „Arbeitslose, Arme und Ausländer“.4 Doch die hohe Abwanderung zeitigt auch in technisch-infrastruktureller Hinsicht ganz unvorhergesehene, bislang unbekannte Folgen: So verringert(e) sich durch den geringeren Verbrauch von Abwasser auch dessen Abflussgeschwindigkeit in den Röhren, was wiederum zur Folge hat, dass dies im bestehenden Leitungssystem zu Ablagerungen und Verstopfungen führt, die kostenaufwändig beseitigt werden müssen. Wird die einstige Energiehochburg wieder zum Heidedorf?5 Diese (Rück-)Entwicklung ist nicht völlig ausgeschlossen. In anderen, ehemaligen Industriezentren des Arbeiter- und Bauernstaates, die zu DDR-Zeiten mit hohem Aufwand zu solchen ausgebaut wurden, wie Eisenhüttenstadt, Hoyerswerda und Wolfen, ist die Situation kaum anders. Doch nicht nur dort. Bis 2020 werden den Prognosen zufolge zahlreiche ostdeutsche Landkreise gegenüber 1990 über die Hälfte ihrer Einwohner verloren haben.6 Was sind die Ursachen für diesen dramatischen demographischen und sozioökonomischen Wandel in den neuen Bundesländern, von dem indes nicht nur die Städte, sondern vor allem auch ländliche Regionen betroffen sind? Sind hier seit dem „annus mirabilis“ neue Ungleichheiten entstanden? Wie zumeist, liegt dem ein ganzes Bündel von Faktoren zugrunde, die keineswegs nur auf den seit der Friedlichen Revolution von 1989/90 einsetzenden Transformationsprozess zurückgeführt werden können. Tatsächlich hat sich die demographische Entwicklung in West- und Ostdeutschland schon seit dem Kriegsende 1945 unterschiedlich entwickelt.7 Insgesamt waren es im Jahr 1949 68 Millionen Menschen, welche in den beiden neu 3 Vgl. Matthias Bernt/Andreas Peter, Bevölkerungsrückgang und Alterung als maßgebliche Entwicklungsdeterminanten: der Fall Weißwasser, in: Raumforschung und Raumordnung 3 (2005), S. 216–222, siehe S. 217 f. Vgl. dazu auch Ulrike Biehounek, Schrumpfen statt sterben, in: Bild der Wissenschaft 8 (2006), S. 72–76. 4 Biehounek, ebd., S. 76. 5 Vgl. ebd., S. 72. 6 Vgl. Kröhnert/Hoßmann/Klingholz, S. 157. 7 Zur deutsch-deutschen Bevölkerungsentwicklung in den 1950er und 1960er Jahren siehe jüngst auch Jörg Roesler, Das Zusammenspiel von innerdeutscher und transnatio-
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gegründeten, deutschen Staaten lebten, davon 19 Millionen in der DDR. Schon bei der Zuwanderung von Vertriebenen aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches mit insgesamt 12 Millionen hatte die junge Bundesrepublik stärker profitieren können als die DDR.8 Der nachkriegsbedingte Baby-Boom bis Mitte der 60er Jahre mit einer hohen Fertilitätsrate von über 2,1 Kindern pro (Durchschnitts-)Frau, die für eine stabil bleibende Bevölkerungszahl entscheidend ist, brach jedoch ab 1964 ein, sodass „bereits ab 1970 der Schwellenwert für eine stationäre Bevölkerung, das Bestandserhaltungsniveau, unterschritten wurde. Die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland erreichte damit als eine der ersten weltweit das Stadium des sog. Zweiten Demographischen Übergangs. Ab 1975 pendelte sich die durchschnittliche Kinderzahl bei etwa 1,4 ein.“9 Weil inzwischen jede Müttergeneration etwa um ein Drittel kleiner ist als die vorherige, d. h. seit ca. 30 Jahren 100 Frauen nur noch 60–70 Töchter bekommen, sind die Bedingungen für einen „exponentiellen Schrumpfungsprozess der Bevölkerung“ erreicht.10 Der seither einsetzende demographische Rückgang der westdeutschen Bevölkerung ist jedoch auch deshalb von der Politik übersehen worden, weil die Menschen in der alten Bundesrepublik in quantitativer Hinsicht nicht ab-, sondern zunahmen. So ist es insbesondere auf drei Gründe zurückzuführen, dass z. Zt. fast 10% mehr Menschen in den alten Bundesländern leben als 1970. Dies war zunächst bedingt durch eine günstige fertile Zusammensetzung der Bevölkerung, sodann durch eine steigende Lebenserwartung und schließlich durch den Umstand, dass die Bundesrepublik über Jahrzehnte hinweg faktisch ein Einwanderungsland war. Erst „seit 2003 sind die Wanderungsgewinne nicht mehr hoch genug, um die Sterbeüberschüsse ausgleichen zu können“.11 Anders verlief die Bevölkerungsentwicklung in der DDR. Auch nach dem Auslaufen der Immigration der Vertriebenen aus den ehemaligen Ostgebieten hielt die innerdeutsche Ost-West-Wanderung bekanntlich weiter an. Bis zum Mauerbau verließen 2,6 Millionen Menschen die DDR. Um den bereits eingetretenen, demographischen Schwund zu kompensieren, entwickelte die SED zwar ein breites sozialpolitisches Programm, allerdings mit wenig Erfolg: „Obwohl in der DDR in fast jedem Jahr mehr Personen geboren wurden als verstarben und das Land insgesamt einen Geburtenüberschuss erzielte, hatte es zum Fall der Mauer etwas weniger Einwohner als bei deren Bau. (. . .) Der Rückgang der Bevölkerung in Ostdeutschland ist somit ein Prozess, der seit über einem halben Jahrhundert
naler Migration nach Deutschland. Von der Mitte der 1950er- bis Mitte der 1960er Jahre, in: DA 41 (2008), H. 3, S. 447–455. 8 Vgl. ebd., S. 161, da sich 8 Millionen der Vertriebenen in der Bundesrepublik und 4 Millionen in der DDR niederließen. 9 So Hansjörg Bucher, Raumordnungsprozesse und demographischer Wandel, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 32 (2007), H. 1–2, S. 123–136, dort S. 126. 10 Vgl. ebd. 11 Ebd., S. 126 f.
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andauert. Die DDR war das einzige Land der Welt, das in diesem Zeitraum durchgängige Bevölkerungsverluste zu verzeichnen hatte.“12
Diese sollten sich bald nach dem Fall der Berliner Mauer noch einmal dramatisch steigern: Seit 1990 beträgt der ostdeutsche Nettoverlust der dort bisher ansässigen Bevölkerung bis zum Jahre 2006 insgesamt 1,74 Millionen Menschen; im Schnitt haben jährlich ca. 50.000 Bürger die neuen Bundesländer verlassen. Während die dortige Abwanderung der Bevölkerung „die Schrumpfung insgesamt verstärkte[n], trug sie in Westdeutschland zum Wachstum der Bevölkerung bei“.13 Auch der Zuzug von Westdeutschen nach Ostdeutschland während dieses Zeitraums hat den eingetretenen Bevölkerungsschwund nicht ausgleichen können. Stellt man ihn in Rechnung, verbleibt noch immer ein Verlust an Menschen in den neuen Bundesländern von knapp einer Million.14 Da die innerdeutsche Migration von Ost- nach Westdeutschland jedoch nicht gleichmäßig über alle Alterskohorten erfolgt(e), sondern vor allem von den sog. „Berufs- und Bildungswanderern“ im Alter zwischen 18 und 30 Jahren getragen wird, ist der Bevölkerungsverlust in den neuen Bundesländern um so gravierender, da gerade jene Generation ihrer Heimat den Rücken kehrt, die in physischbiologischer Hinsicht die größte Fertilität aufweist. So geht die negative Wanderungsbilanz Ostdeutschlands seit 1991 zu 54% auf die Verluste gerade dieser Generation zurück.15 Da es in dieser jungen Alterskohorte aber wiederum vor allem junge Frauen im Alter zwischen 18 und 30 Jahren sind, die stärker als Männer im gleichen Alter die neuen Bundesländer verlassen,16 stellen sie „als potentielle Mütter eine besonders kritische Gruppe im Hinblick auf die langfristige demographische Entwicklung einer Region“ dar.17 So sind in absoluten Zahlen in geschlechtsspezifischer Hinsicht zwischen 1991 und 2004 aus den neuen Bundesländern rund 364.000 Männer abgewandert, im gleichen Zeitraum jedoch 536.000 Frauen.18 Insgesamt hat die Ost-West-Binnenmigration nicht nur zu ei12
Kröhnert/Hoßmann/Klingholz, S. 161. So Ralf Mai, Die altersselektive Abwanderung aus Ostdeutschland, in: Raumforschung und Raumordnung 5 (2006), S. 355–369, dort S. 355. 14 Vgl. die Angaben bei Alexander Kubis/Lutz Schneider, im Fokus: Wanderungsverhalten der Ostdeutschen, in: Wirtschaft im Wandel 14 (2008), H. 4, S. 128–131, dort S. 128. 15 Vgl. ebd., S. 129. 16 Gründe hierfür sind u. a., dass viele junge Frauen bereits nach der Schulausbildung, junge Männer hingegen erst nach der Berufsausbildung ihre Regionen verlassen; hinzu kommt, dass für junge weibliche Erwerbstätige eine höhere Migrationsbereitschaft aufgrund der schlechteren Lehrstellensituation besteht, vgl. Günter Herfert, Regionale Polarisierung der demographischen Entwicklung in Ostdeutschland – Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse?, in: Raumforschung und Raumordnung 5 (2007), S. 435–455, dort S. 449. 17 Vgl. Aexander Kubis/Lutz Schneider, „Sag mir, wo die Mädchen sind . . .“ Regionale Analyse des Wanderungsverhaltens junger Frauen, in: Wirtschaft im Wandel 13 (2007), H. 8, S. 298–307; Zitat S. 298. 13
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ner Schrumpfung, sondern auch zu einer Erhöhung des Alters der Bevölkerung und damit auch des Erwerbspotentials in den neuen Bundesländern geführt. Entsprechend ist der Altersdurchschnitt der dort lebenden Menschen von 38,6 Jahren im Stichjahr 1991 auf 42,6 Jahren im Jahr 2002 angestiegen.19 Von der Abwanderung besonders junger Ostdeutscher, die eine klare Präferenz in die alten Bundesländer aufwiesen, profitierten diese „mit einem Anteil von 84% weit überproportional an den Wanderungsgewinnen“ innerhalb Gesamtdeutschlands.20 Auch wenn diese jüngsten demographischen Prozesse sich auf die Regionen Gesamtdeutschlands sehr unterschiedlich auswirken, so haben sich grundsätzlich zwei Entwicklungen vollzogen: Einerseits eine großräumige Migration von den neuen in die alten Bundesländer seit 1990; andererseits haben sich in Ostdeutschland seither kleinräumige siedlungsstrukturelle Gefälle zwischen den Kernstädten und ihrem Umland herausgebildet.21 Zur kurzen Historie dieser Vorgänge: Schon bald nach 1990 wies das gerade wieder vereinte Deutschland eine Zweiteilung in Boom- und Schwundregionen auf – und zwar in demographischer wie in sozioökonomischer Hinsicht. Und das hat sich bis heute nicht verändert, sondern eher noch verstärkt: So zählen die neuen Bundesländer im regionalen Vergleich fast ausnahmslos zu den Schwundregionen, da vor allem die wirtschaftsstarken Gebiete im Süden und Südwesten Deutschlands, in Bayern und Baden-Württemberg, aber auch im Norden und Nordwesten, in Hamburg, im westlichen Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, einen kontinuierlichen Zuzug junger Menschen, vornehmlich aus Ostdeutschland, erfahren und dadurch in jeder Hinsicht profitieren. Für die neuen Bundesländer wiederum bedeutet das im Gegensatz dazu nicht nur eine schrumpfende Fertilität, verbunden mit sukzessiver Überalterung der dort verbleibenden Menschen, sondern Kommunen und Gemeinden werden dort auch zunehmend mit einer reduzierten Steuerleistung und nachlassender Kaufkraft zu kämpfen haben – z. T. ist das jetzt schon der Fall. Hält dieser Trend an, wobei der Alterungseffekt hinzukommt, wird die Bevölkerung in den neuen Bundesländern im Jahre 2020 nur noch bei 14,5 Millionen statt bei gegenwärtig 15,1 Millionen liegen. Das bedeutet, dass sich die Abhängigkeit Ostdeutschlands von finanziellen Transferleistungen aus Westdeutschland nicht vermindert, wobei offen bleibt,
18 Siehe Mai, S. 360. Die Abwanderung aus ostdeutschen Regionen lief dabei nach Mai in drei Phasen ab: 1991–1993, 1994–1997 und 1998–2001. Insgesamt setzt sie sich, wenn auch vermindert, weiter fort; vgl. ebd., S. 364 f. 19 Vgl. Joachim Ragnitz/Lutz Schneider, Demographische Entwicklung und ihre ökonomischen Folgen, in: Wirtschaft im Wandel 6 (2007), S. 195–202; dort S. 195. Entsprechend wird auch „die Größe der Altersgruppen der 15–20-Jährigen und der 20– 40-Jährigen . . . bis 2020 mit 46% bzw. 28% dramatisch abnehmen“, ebd. 20 So Bucher, S. 128. 21 Vgl. ebd., S. 129.
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was nach dem Ende von Solidarpakt II im Jahre 2019 sein wird. Nach wie vor hängen davon rund 850.000 Arbeitsplätze in den neuen Bundesländern ab. Im gleichen Zeitraum haben sich in den neuen Bundesländern, bedingt durch die Abwanderung von Bevölkerungsteilen in den Westen, „zwei polarisierte Raumtypen“ herausgebildet, nämlich „die Wachstumsinseln Berlin/Potsdam, Dresden, Leipzig und die thüringische Städtereihe mit Jena, Weimar und Erfurt einerseits und großflächige Regionen mit sehr stark schrumpfender Bevölkerung andererseits“.22 Trotz einer leicht abgeschwächten Abwanderung in den Jahren 2003–2005 blieben diese regionalen Raummuster bestehen, d.h. die bereits genannte Polarisierungstendenz hat sich weiter stabilisiert.23 Im Rahmen dieser sich fortsetzenden Polarisierung unterscheidet die soziodemographische Raumforschung in den neuen Bundesländern zwischen drei geographisch-demographischen Grundmustern: – Wachstumsräume, in denen Kernstädte mit Wanderungsgewinnen dominieren, im Umland nach dem Auslaufen der Suburbanisierungswelle jedoch zunehmend Sterbefallüberschüsse zu registrieren sind; – stark schrumpfende Räume, in welchen sowohl in den Kernstädten als auch im peripheren Raum hohe Wanderungsverluste zu verzeichnen sind (Neubrandenburg, Frankfurt/Oder, Dessau, Gera, Cottbus); – Übergangsräume, hier dominiert in den Kernstädten (Greifswald, Stralsund, Chemnitz, Zwickau, Magdeburg, Halle) infolge zurückgehender Wanderungsverluste ein Sterbefallüberschuss, während in den peripheren Räumen Wanderungsverluste dominant bleiben.24 Obwohl die Entwicklung noch keineswegs abgeschlossen ist, hat sich in der Raumforschung gegenwärtig folgender Forschungsstand herauskristallisiert: Vor dem Hintergrund massiver Wanderungsverluste aus den neuen Bundesländern wird davon ausgegangen, „dass Reurbanisierungsprozesse in Ostdeutschland aktuell nur in den Wachstumsinseln stattfinden“.25 Dieser Reurbanisierungsprozess wird vornehmlich von sehr mobilen, jungen Altersgruppen getragen, das bedeutet vorwiegend von Singles und kinderlosen Partnerschaften, während Familien eher eine untergeordnete Rolle spielen.26 Im Unterschied dazu bleibt in den stark schrumpfenden Räumen hingegen eine demographische Entwicklung des „kollektiven Abgleitens“ in allen Gemeindegrößengruppen erhalten. Hier ist kaum eine Abschwächung der Abwanderung zu 22 23 24 25 26
So Herfert, S. 441. Vgl. ebd., S. 443. Vgl. ebd. Ebd., S. 445. Vgl. ebd., S. 446.
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konstatieren; erschwerend kommt hinzu, dass der Anteil der jungen, zwischen 19 und 35 Jahre alten Menschen daran in einigen Randgebieten zwischen 70 und 80% beträgt.27 Besonders hoch bleibt der Wanderungsverlust in jenen bereits genannten Städten wie z. B. Weißwasser, Hoyerswerda, Wolfen, Guben und Wittenberge, die vom ökonomischen Transformationsprozess besonders stark betroffen wurden. Hier verlassen „neben den jungen Mobilen auch Familien mittlerer und höherer Altersgruppen die Stadt“.28 In den Übergangsräumen schließlich ist die demographische Schrumpfung zwar reduziert, bleibt aber problematisch.29 Ihre weitere Bevölkerungsentwicklung hängt von ihrer Lage zu Wachstumsinseln, auch und nicht zuletzt zu westdeutschen ab, etwa Hamburg, Lübeck oder Hannover. In der Tat konnte der bisherige sozioökonomische Transformationsprozess auf dem Gebiet der ehemaligen DDR bisher nur in einigen Wachstumsinseln und dem dazu gehörigen Umland, aber nicht flächendeckend, Erfolge zeitigen. Die enorme staatliche und privatwirtschaftliche Wirtschafts- und Infrastrukturförderung in Ostdeutschland30 hat zwar beträchtliche Erfolge aufzuweisen, die nicht leichtfertig unterschätzt werden sollten, in der Fläche ist sie aber bisher gescheitert. Strukturschwache, bevölkerungsarme und zugleich überalterte Regionen auf dem Lande und an der Peripherie werden einigen ökonomisch starken Regionen in Ostdeutschland gegenüberstehen, die zukünftig die Funktion von „Wachstumskernen“ ausüben (sollen). Das heißt auch, dass 1989/90 sowohl der tatsächliche Zustand der DDR-Wirtschaft als auch die Leistungsfähigkeit der westdeutschen Wirtschaft überschätzt worden sind.31 Stichwort „Ungleichheiten“ – tatsächlich gleichwertige Arbeits- und Lebensbedingungen konnten im vereinten Deutschland bislang noch nicht realisiert werden, trotz massiver Finanz- und Investitionsleistungen von West- nach Ostdeutschland seit fast zwei Jahrzehnten. Daraus resultieren die eigentlichen Ursachen für den bisher nicht gestoppten innerdeutschen Migrationsprozess von Ost nach West, der fast ausschließlich in den neuen Bundesländern negativ zur Auswirkung kommt und dort in demographischer Hinsicht bereits eine Situation „30 Jahre nach 12“ geschaffen hat. Es sind zunächst die noch immer nachwirkenden Folgen der von der SED geschaffenen zentralen Planverwaltungswirtschaft und ihrer verfehlten Wirtschaftsund Sozialpolitik, die von den politischen und wirtschaftlichen Eliten der alten Bundesrepublik offenkundig unterschätzt worden sind. Schlagwortartig zusam27
Vgl. ebd., S. 448. Ebd., S. 449. 29 Vgl. ebd. 30 Schon seit längerem gibt es daher eine Diskussion über die „Fehlfinanzierung Ost“; vgl. jüngst Manfred Schweres, Fehlfinanzierung Aufbau Ost. Für eine offene Diskussion der Abgrenzung von Förderregionen in der Arbeitsmarkt- und Regionalpolitik, in: DA 41 (2008), H. 3, S. 408–415. 31 Vgl. ebd. S. 408. 28
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mengefasst gehören dazu i. E. vor allem folgende Faktoren: Der weiter bestehende Mangel an Arbeitsplätzen, i. d. R. ist die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern doppelt so hoch wie in den alten; der teilweise noch immer bestehende Produktivitätsrückstand, der auch auf eine zu geringe Forschungs- und Humankapitalintensität zurückgeht, der zu langsam wachsende Industrieanteil der Wirtschaft, die Kleinteiligkeit der Produktionsstätten, sowie fehlende Konzernzentralen.32 Diese Probleme haben sich nach der Transition der zentralen Planverwaltungswirtschaft in eine soziale Marktwirtschaft teilweise verschärft oder konnten auf makro- und mikroökonomischer Ebene bisher nicht oder nur partiell gelöst werden. Diese Feststellungen behalten grundsätzlich an Gewicht, obwohl sich in den neuen Bundesländern bereits auf volks- wie betriebswirtschaftlicher Ebene ein umfassender Modernisierungsprozess vollzogen hat: Bereits nach der Jahrtausendwende befand sich die Wirtschaft in Ostdeutschland auf dem Weg zu einer modernen, postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft. Erstmals nach fast zwei Jahrzehnten zeigt sich jedoch Licht am Ende des Tunnels: Hatte die Arbeitslosigkeit in Gesamtdeutschland im Februar 2005 ihren Höhepunkt mit 5,3 Millionen erreicht, so fiel sie im September 2008 auf ihren bisher niedrigsten Stand von 3,08 Millionen, d. h. mehr als 2,2 Millionen Deutsche haben seither wieder einen Arbeitsplatz erhalten. Das reicht jedoch noch immer nicht aus, zumal die Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern im Schnitt doppelt so hoch ist wie in den alten. Dabei ist die Anpflanzung hochmoderner Industrien keineswegs ein Allheilmittel zur Schaffung von Arbeitsplätzen. So führte die grundlegende Modernisierung des traditionellen Chemiestandorts der DDR in den Landkreisen Merseburg-Querfurt und Bitterfeld zwar zu international konkurrenzfähigen Arbeitsplätzen. Diese hoch modernen Arbeitsplätze sind jedoch so produktionseffizient, dass sie „die Freisetzung nicht mehr benötigten Personals nicht kompensieren“ können.33 Zum Abbau von sozioökonomischen Ungleichheiten kann eine differenziertere Förderung einzelner Regionen beitragen, wozu auch der „Stadtumbau Ost“ gehören dürfte. Inwieweit das Erfolge zeitigt, bleibt abzuwarten. Letztlich stellt weiteres Wachstum den sichersten Garanten für die Schaffung von Arbeitsplätzen, auch und nicht zuletzt in den neuen Bundesländern, dar; das hängt aber stark vom weiteren Verlauf der Konjunktur ab, über der allerdings noch immer der dunkle Schatten einer weltweiten Finanzkrise liegt.
32 Vgl. Udo Ludwig, Mittel- und langfristige Wachstumsprojektionen für Ostdeutschland, in: Wirtschaft im Wandel 6 (2007), S. 210–218, dort S. 210. 33 Vgl. Alexander Kubis/Mirko Titze/Matthias Brachert, Leuchttürme und rote Laternen – Ostdeutsche Wachstumstypen 1996 bis 2005, in: Wirtschaft im Wandel 4 (2008), S. 144–153, dort S. 145 f.
20 Jahre BStU – Eine Zwischenbilanz Von Lars Normann I. Einleitung Die BStU1 feiert im Jahr 2010 ein weitgehend unbeachtetes Jubiläum. Es scheint, dass die einzigartige Behördengründung im Jahr 1990 aus der friedlichen Revolution heraus immer weiter historisierend in den Hintergrund gerückt wird. Demgegenüber kann ein fortwährend großer Einfluss der Behörde auf die politische Kultur2 der Bundesrepublik und darüber hinaus beobachtet werden. Eine unüberschaubare Menge an medialer Berichterstattung und eine große Zahl von Fachveröffentlichungen (Deutschland Archiv), ein fortwährender politischer Diskurs im Deutschen Bundestag und eine beachtliche und nicht immer unumstrittene Rechtsprechungspraxis3 lassen sich über die BStU identifizieren. Wohingegen lediglich wenige Monographien zumeist von Behördenmitgliedern oder dezidierten Kritikern bislang vorliegen. Grund genug, dieser im Zusammenhang mit offiziellen Jubiläumsfeierlichkeiten wenig ge- und bedachten Behörde mit ihren vielfältigen Funktionen eine analytische Zwischenbilanz im Sinne einer politikwissenschaftlichen Organisations-/Akteursuntersuchung zu widmen. Nach der Darstellung einer thematisch einführenden Vorgeschichte der Behörde fokussiert der Beitrag die bislang zweigeteilten, mit der Behördenleitung 1 Der Verfasser verwendet in diesem Beitrag durchgehend die offizielle Abkürzung für die/den „Bundesbeauftragte(n) für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“. Die personifizierten Abkürzungen: „Gauck-/Birthler-Behörde“ nach dem Namen der jeweiligen Behördenleitung oder gar eine Verengung auf ein „Stasi-Archiv“ hält der Verfasser vor dem Hintergrund einer wissenschaftlichen Analyse für nicht geeignet. 2 Zum Begriff „Politische Kultur“: Unter dem deskriptiv-neutralen Begriff der „politischen Kultur“ versteht man im engeren Sinne die Gesamtheit der Werte, Glaubensüberzeugungen und Einstellungen eines Volkes gegenüber dem politischen Handeln, siehe zu diesem Begriff ausführlich: Gunnar Folke Schuppert, Politische Kultur, Baden-Baden 2008. 3 Siehe zur Rechtsprechungspraxis im Lichte des Rückwirkungsverbotes: Helmut König, Aufarbeitung oder Integration? Zum Umgang mit den Erbschaften von Diktaturen, in: Merkur, Nr. 4, Stuttgart 2010, S. 291–298, hier: S. 291–294. König schließt sich im Ergebnis dem eingeschlagenen Aufarbeitungsweg bzgl. der SED-Diktatur in der Bundesrepublik an. Zur Entwicklung der Rechtsprechung in Bezug auf die BStU allgemein, siehe auch die ausführlichen Darstellungen in den Tätigkeitsberichten der Behörde.
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gemeinhin verbundenen und chronologisch unterteilten jeweiligen Amtsdezennien. Anhand der Fragestellung, wie und mit welchen Mitteln die BStU Einfluss auf die politische Kultur genommen hat und welche Kritik hauptsächlich von wem geäußert wurde, sollen in dieser Zwischenbilanz ein Ausblick gegeben und Chancen der Behörde für die Zukunft thematisiert werden. Eine Darstellung der medial begleiteten bzw. zuweilen auch erst beförderten Enttarnung (Dekonspiration) von „prominenten“ Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) in den zurückliegenden zwanzig Jahren wird hingegen nicht angestrebt. II. Die BStU – eine besondere Behörde Es stellt Allgemeinplätze dar, Bibliotheken und im Besonderen Archive als „Hefe der Demokratie“ oder „Gewissen der Menschheit“ zu bezeichnen. Letztere Erkenntnis auf die BStU angewandt, heißt die Antithese zu denken, handelt es sich doch vielmehr bei den hier verwalteten Archivbeständen, dem „Herzstück“ der Behörde, um die Materialien eines Teils des Unterdrückungsapparates („Schwert und Schild der Partei“, Feliks Dzierzynski) der kommunistischen SED-Diktatur.4 So erscheint in diesem Fall ein Vorschlag für eine deskriptive Formel von Joachim Gauck besser zu passen; er bezeichnet die öffentlich nutzbar gemachten MfS-Aktenbestände als eine „Apotheke gegen Nostalgie“.5 20 Jahre BStU bedeuten aber auch gerade für die ehemalige DDR-Bevölkerung, dass die Wahrheit ein zuweilen schwieriger Prozess ist. Die „alte“ Bundesrepublik hat diesen schmerzlichen Prozess in ganzer Breite6 erst durch eine radikale Kulturrevolution in den sechziger Jahren mit den bekannten Auswirkungen für die politische Kultur7 durchlebt. Gleiches gilt für einen (Teil-)Nukleus des nachfolgenden deutschen Terrorherbstes in den siebziger Jahren, welcher auch 4 Zur Verantwortung der SED und der verschmolzenen Einheit von Staats-, Parteiund Sicherheitsapparat, siehe: Joachim Gauck, Die Stasi-Akten. Das unheimliche Erbe der DDR, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 69–75. 5 Joachim Gauck, Rückblick auf die Anfänge der Behörde des Bundesbeauftragten, in: Siegfried Suckut/Jürgen Weber (Hrsg.), Stasi-Akten zwischen Politik und Zeitgeschichte. Eine Zwischenbilanz, München 2003, S. 17–26, hier: S. 23. 6 Der Aufarbeitungsvergleich zwischen den fünfziger und den neunziger Jahren bzw. der Begründungszusammenhang zwischen Kulturrevolution und Gründung der BStU hinkt in dieser Kürze der Darstellung bei Joachim Gauck et al. Es sind nicht nur die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen nicht deckungsgleich, zudem scheiterten die alliierten Besatzungsmächte in Westdeutschland mit der „Entnazifizierung“ und der Implementation ihres Reeducation-Ansatzes für die breite Masse. Die passive Renitenz in der Bevölkerung lässt sich mit einer allgemeinen Entpolitisierung, der Konzentration auf den wirtschaftlichen Wiederaufbau und einem Pragmatismus der Adenauer-Regierung erklären. Die West-Alliierten änderten ihr Konzept in ein Reorientation-Programm, das auf die intellektuelle Führung abzielte und sich somit zeitlich verzögerte und sui generis in der Protestbewegung entlud. 7 Zum Beispiel die Ersetzung des antitotalitären Konsenses durch einen „antifaschistischen“, der ab den neunziger Jahren Einzug in die Verfassungswirklichkeit fand.
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im Lichte des „kommunikativen Beschweigens“ (Hermann Lübbe) der fünfziger Jahre zu spiegeln ist. Diese zeitgeschichtlichen Betrachtungen bilden die maßgeblichen, stark verkürzten Begründungszusammenhänge für die am Aufbau der BStU verantwortlichen Vertreter der ehemaligen DDR-Bürgerbewegung auch in der Auseinandersetzung mit der Politik-West, einen anderen Aufarbeitungsweg einzuschlagen, nämlich nach 1989 die MfS-Akten schnellstmöglich zu öffnen und die Arbeit der BStU auf unbestimmte Zeit zu verstetigen. Auch steht die Aufarbeitung der Einflussnahme des MfS und der SED auf Westeuropa immer noch am Anfang. Von einer systematischen Aufarbeitung kann wegen der Ausgestaltung der BStU und des Stasi-Unterlagen-Gesetzes (StUG) nicht gesprochen werden. Hervorzuheben ist Hubertus Knabe, der Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, der auf diesem Gebiet als Einzelperson Kärrnerarbeit leistete, was letztlich zu seiner vorzeitigen Entlassung aus dem Dienstverhältnis der BStU führte, weil er gegen die internen Forschungsveröffentlichungsregeln der Behörde verstoßen habe.8 Knabe, der sich nie mit der Unterscheidung zwischen interner und externer Forschung abfinden konnte, entwickelte sich in der Folge zu einem der schärfsten Kritiker9 der BStU und fordert seitdem die Eingliederung der MfS-Akten in das Bundesarchiv. Für den inneren Frieden und das Zusammenwachsen Deutschlands hat es sich positiv ausgewirkt, dass sich schnell ein differenzierteres Bild über die DDRBevölkerung durchsetzte. Dieses besteht zum einen in den subjektiven Wahrnehmungen hinsichtlich der einzelnen Familiengeschichten, Lebensläufe und Lebensleistungen. Zum anderen unterscheiden sich hiervon eine allgemeine Wertung der objektiven Betrachtungsebene des SED-Diktatursystems und letztendlich auch die Irrealität des kommunistischen Utopieprojektes. An dieser differenzierten und weit verbreiteten Wahrnehmung besitzen auch die Arbeit und der Entwicklungsprozess der BStU selbst einen großen Anteil. Während einige Bürgerrechtler und Intellektuelle noch an Konzepten für eine „bessere“ DDR schrieben,10 wurden sie 1989 von der Masse überrannt. Ähnlich ging es den Bürgerrechtlern, die mit der MfS-Leitung zunächst noch über eine Auflösung der Behörde verhandeln wollten, sowie einigen Protagonisten in WestDeutschland, die eine Karenzzeit von 20 Jahren forderten, bevor mit der Aufarbeitung der Geschichte der DDR begonnen werden sollte.11 In einem wohl einmaligen friedlich-revolutionären Transformationsvorgang erzwang der Bür8 Norbert Robers, Joachim Gauck. Die Biografie einer Institution, Berlin 2000, S. 186–190. 9 Zu Knabes BStU-Kritik, siehe: Richard Schröder, Denn einer hat’s geflüstert . . ., in: Die Zeit, Nr. 36 vom 30.08.2007, S. 6. 10 Martin Sabrow, Der vergessene „Dritte Weg“, in: APuZ, (2010) 11, S. 6–13. 11 Manfred Wilke, Gedenkjahr 2009, in: Tilman Mayer (Hrsg.), Unrechtsregime, oder: Wie im Jahr 2009 über totalitäre Vergangenheiten sprechen?, in: gfd – beiträge zur deutschlandforschung, Nr. 2, Bonn 2009, S. 10–17, hier: S. 16 f.
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gerwille die kontrollierte Öffnung und die Nutzung der MfS-Akten. Eine (am 15. Januar 1990),12 genaugenommen zwei Besetzungen (4. September 1990), bildeten letztlich die Keimzellen der am 3. Oktober 1990 gegründeten BStU. Der hauptsächliche Grund für die zweite Protestwelle mit Hungerstreik kann in der politischen Unsicherheit seinerzeit verortet werden, die sich unmittelbar aus dem Einigungsvertragsentwurf ergab. Denn dieser Entwurf enthielt keine Aussagen über die MfS-Akten, so dass viele Bürger eine sofortige Überführung der Akten nach Koblenz, in das Bundesarchiv, befürchteten.13 Diese Befürchtungen waren auch aufgrund der West-Initiativen des Bonner Innenministeriums nicht unbegründet. Eckart Werthebach, damals Berater des Innenministers in Ost-Berlin, forderte in einem Fax an den Leiter der Abteilung Recht im DDR-Innenministerium eine „differenzierte Vernichtungsregelung“ von einigen Akten, die der Bonner Regierung zum Kauf angeboten worden waren und eine Überführung der restlichen Aktenbestände in das Bundesarchiv.14 Die Proteste im Osten führten schließlich zu einer Zusatzklausel im Einigungsvertrag, die die Einrichtung eines neuen Gesetzes über die MfS-Akten, eine föderale Struktur von Außenstellen für die regionalen Aktenbestände und vor allem die transparente Umwidmung des gesamten Archivguts vorsah. Dieses Stasi-Unterlagen-Gesetz, das in den letzten 20 Jahren insgesamt sieben Novellierungen15 erfuhr, verlieh dem Bürgerwillen, zuallererst den Opfern der SED-Diktatur wieder ihre Würde und Selbstbestimmung zurück, gesetzlichen Ausdruck. Da mit dieser Entscheidung – auch international – vergangenheitspolitisches und juristisches Neuland betreten wurde (was auch die zum Teil sehr harten und intensiven Diskussionen um die Behörde zeigen), ist es rückblickend durchaus gerechtfertigt, an dieser Stelle von einer mutigen Entscheidung der ersten frei gewählten Volkskammer von 199016 und der Bundesregierung zu sprechen.17 12 Barbara Szkibik, Macht das Tor auf. Augenzeugenbericht über die Erstürmung der Berliner Stasi-Zentrale in der Normannenstraße vor 20 Jahren, in: Freiheit und Recht, Nr. 1, 3/2010, S. 9–10. 13 Michael Beleites, Stasi-Akten in Bundes- und Landesarchive? Zur Kontroverse um die Perspektiven der Stasi-Unterlagen-Verwaltung, DA 1/2005, S. 102–107, hier: S. 102; Marianne Birthler, Die Bedeutung der BStU für die politische Kultur in Deutschland, in: Hendrik Hansen/Hans-Joachim Veen (Hrsg.), Aufarbeitung totalitärer Erfahrungen und politischer Kultur, Politisches Denken, Berlin 2009, S. 145–153, hier: S. 146 f.; hierzu sehr detailliert auch die West-Vorbehalte darstellend: Norbert Robers, Joachim Gauck. Die Biografie einer Institution, Berlin 2000, S. 120–163. 14 Joachim Gauck, Winter im Sommer – Frühling im Herbst, München 2009, S. 242. 15 Letzte Novellierung: Siebtes Gesetz zur Änderung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes (7. StUÄndG) vom 21. Dezember 2006 (BGBl. I S. 3326). 16 Joachim Gauck, Rückblick auf die Anfänge der Behörde des Bundesbeauftragten, in: Siegfried Suckut/Jürgen Weber (Hrsg.), Stasi-Akten zwischen Politik und Zeitgeschichte. Eine Zwischenbilanz, München 2003, S. 17–26, hier: S. 20; zur Vorgeschichte dieser Entscheidung, die bereits vor dem ersten Treffen des ZRT einsetzte, siehe: Wolfgang Ullmann, Das Stasi-Unterlagen-Gesetz. Eine Demokratieinitiative der Friedlichen
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Erst in den nachfolgenden Jahren differenzierten sich die vier Aufgabenbereiche der BStU, die grundsätzlich noch auf ihre Anfangszeit zurückgehen,18 immer genauer aus.19 Ihre Perzeption ist sehr ausführlich ab 1993 in den alle zwei Jahre erscheinenden Tätigkeitsberichten der BStU dokumentiert. Zu ihnen gehören: 1. die bis heute nicht abgeschlossene Erschließung und Rekonstruktion der hinterlassenen Aktenbestände; 2. die immer noch überdurchschnittlich gut nachgefragte Akteneinsicht einzelner Bürger sowie externe Forschungs- und Medienanfragen; 3. die interne Forschungstätigkeit, die maßgeblich auf die Offenlegung und Analyse des MfS-Unterdrückungsapparates gerichtet war und auf diesem Gebiet Maßstäbe in der internationalen Geheimdienst-, Diktatur- und Widerstandsforschung gesetzt hat; 4. ein vielfältiges Bildungsangebot, das über das eigentliche Thema der BStU hinausgeht und auch in die Alltagskultur der DDR hineinspiegelt.20 Diese nüchterne Aufzählung lässt einen wichtigen Aspekt unbeleuchtet. Die Existenz der BStU stellt aus ihrer speziellen Manifestation des revolutionären Bürgerwillens eine Gedenkstätte für die deutsche Einheit sui generis dar, die für die an dieser friedlichen Revolution beteiligten Menschen ein nicht unwichtiges Identifikationssymbol darstellt und im Kontext der Gesamtgeschichte Deutschlands geschichtspolitisch positive Wirkung entfaltet. Dieser erinnerungspolitische Reflex, der sich durchaus als gesamtdeutsche Behörde verstehenden BStU, wird weder in der politischen Öffentlichkeit noch in der Wissenschaft intensiver beleuchtet oder gewürdigt. Diese Wirkung ist wie betont den Besonderheiten der einmaligen Behördengeschichte geschuldet, die immer wieder bei den unterschiedlichsten Gruppen für Diskussionen, auch für Kritik, sorgte. Ein Schlüsselbegriff für den Fall des „Eisernen Vorhangs“ insgesamt war Michail Gorbatschows politische Botschaft: Revolution, in: Siegfried Suckut/Jürgen Weber (Hrsg.), Stasi-Akten zwischen Politik und Zeitgeschichte. Eine Zwischenbilanz, München 2003, S. 45–66, hier: 46 f. 17 Marianne Birthler, Die Bedeutung der BStU für die politische Kultur in Deutschland, in: Hendrik Hansen/Hans-Joachim Veen (Hrsg.), Aufarbeitung totalitärer Erfahrungen und politischer Kultur. Politisches Denken, Berlin 2009, S. 145–153, hier: S. 147. 18 Karl Wilhelm Fricke, Interview mit Joachim Gauck, DA 4/1992, S. 437–445, hier: S. 438. 19 Vergleicht man hierzu alle bisher erschienenen Tätigkeitsberichte der BStU, so lässt sich nicht nur feststellen, dass sich die einzelnen Tätigkeitsschwerpunkte diversifizierten, sondern dass die Bildungsarbeit von Beginn an ein immanenter Bestandteil der BStU war, der sukzessiv thematisch ausgebaut wurde. Ähnlich verhält es sich mit der internen Forschungstätigkeit und Behördenpublikationen. Letztere ermöglichen erst die sachverständige Würdigung von MfS-Akten (siehe aktuelle Publikationsliste: BStU [Hrsg.], Neunter Tätigkeitsbericht, Berlin 2009, S. 141–146, Anhang 17). Neu hinzu trat bereits ab dem Berichtszeitraum des dritten Tätigkeitsberichts (1997) der Aufbau auch internationaler Kontakte, siehe: BStU (Hrsg.), Erster bis Neunter Tätigkeitsbericht, Berlin 1993–2009. 20 Hans Altendorf, Zur Perspektive der Stasi-Unterlagen und der Behörde der Bundesbeauftragten, DA 2/2006, S. 299–307, hier: S. 300 f.
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Glasnost! Übersetzt als Transparenz, Publizität oder Öffentlichkeit steht diese Botschaft auch für die Arbeit und Aufgaben der BStU, die sich durch ihren bürgernahen, sachlich-kooperativen Umgang und ihre Unabhängigkeit auch auf bundespolitischer Bühne nicht überall Freunde machte. Besonders die Unabhängigkeit der Behörde, die sich bis zur Eingliederung im Jahr 2004 in das Ressort des am institutionellen Datenschutzbeauftragten orientierte, war auch ein Garant für eine weitestgehend politisch unbeeinflusste21 Aufklärungsarbeit. Die unterschiedlichsten politischen Arenen diskutierten nicht immer nur sachlich in den vergangenen 20 Jahren die Arbeit, die gesetzliche Ausgestaltung und die Behördenstruktur der BStU. Die beachtlichsten Entwicklungsprozesse und Diskurse werden in den nachfolgenden beiden Abschnitten analytisch beleuchtet. III. Zehn Jahre „Gauck-Behörde“ Ein „Fehler“, der noch vor Amtsantritt Joachim Gaucks von der restaurativen22 Modrow-Regierung unter Zustimmung des nicht gänzlich unbelasteten23 „Zentralen Runden Tisches“ (ZRT) bei der Auflösung des MfS/AfNS24 gemacht wurde, war die Aktenzerstörung der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA), die im „Operationsgebiet“ tätig gewesen ist und somit der diesbezüglichen Aufarbeitung bis heute enge Grenzen setzt. Mit vernichtet wurden auch Daten über (MfS-) Offiziere im besonderen Einsatz (OibE), die im Ernstfall das Überleben des MfS garantieren und in wesentliche Bereiche von Wirtschaft, Verwaltung, Wissenschaft, Polizei und Armee einsickern sollten. Rückwirkend konnte dann doch noch eine Liste über 2000 OibE vom „Sonderausschuss der Volkskammer zur Auflösung der Stasi“ erstellt werden. Der Sonderausschuss setzte parlamentarisch legitimiert die Arbeit der Bürgerkomitees fort.25 Der ZRT nahm an, dass die magnetischen Datenträger der HVA zusätzlich auch in Papierform vorhanden waren – zumindest in Deutschland war dies nicht der Fall.26 Einige Daten ließen 21 Wie wichtig eine unabhängige geschichtspolitische Aufarbeitung ist, zeigt z. B. die Beeinflussung der Politik in der Stiftung der Gedenkstätten des Landes Sachsen-Anhalts, siehe: Kilian Trottier, Zeithistorie als Dampfmaschine. Verdacht auf Immunitätsölung: Wie in Halle eine Fortbildung für Geschichtslehrer in die Mühlen der Politik geriet, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 31.03.2010, S. N 5. 22 Ministerpräsident Hans Modrow weitete unter der „Aktion Reißwolf“ einen der letzten Befehle von Erich Mielke sogar noch aus, siehe: Norbert Robers, Joachim Gauck. Die Biografie einer Institution, Berlin 2000, S. 93 ff. 23 Wie sich später herausstellte, waren eine ganze Reihe von Mitgliedern des ZRT „hoch belastete Stasispitzel“, siehe: Norbert Robers, Joachim Gauck. Die Biografie einer Institution, Berlin 2000, S. 96. 24 Hans Modrow gab am 17. November 1989 die Umbenennung des MfS in „Amt für Nationale Sicherheit“ (AfNS) bekannt. Modrow plante eine Überführung des MfS in einen Verfassungsschutz. 25 Joachim Gauck, Winter im Sommer – Frühling im Herbst, München 2009, S. 239. 26 Siehe hierzu: Wolfgang Stock, Spannende Akten aus Moskau. Die Gauck-Behörde ist verärgert, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Nr. 155 vom 08.07.1993, S. 4.
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sich durch das im August 1995 gefundene Datenverarbeitungsprojekt „SIRA“27 und die ab dem Jahr 2000 aus den USA in mehreren Tranchen zurückgegebenen sogenannten „Rosenholz“-Akten verknüpfend rekonstruieren.28 Diese und andere Unsicherheiten, die den kooperativen, milden Umgang bei der Auflösung des MfS beschreiben, waren auch auf fehlende rechtliche Normen zurückzuführen. Als weitere Beispiele können hierzu das anfänglich naive Leitmotiv einer „Sicherheitspartnerschaft“29 und die bis heute nicht zu beziffernde HVA-Aktenlücke30 genannt werden. Nach dem Inkrafttreten des StUG professionalisierte sich die Arbeit der BStU im Großen und Ganzen, und die Aufarbeitung und Erschließung wurde in geordnete Bahnen gelenkt. Joachim Gauck, ehemals Mitglied des „Neuen Forums“ und vehementer Anhänger des Rechtsstaates, setzte sich bereits früh für eine gesetzliche Regelung für die MfS-Aktenauswertung ein, für die ein Bürgerkomitee31 den Gesetzentwurf entwickelte und der bis heute im Kern seine Gültigkeit besitzt.32 In den nachfolgenden Novellierungen des StUG ging es maßgeblich „nur“ noch um den § 1433 und § 32 StUG, der die Verwendung von Unterlagen für die politische und historische Aufarbeitung normiert. Gauck machte sich weiter stark für sein ambitioniertes Konzept der „dreidimensionalen Aufarbeitung“, das sich aus der histo27 Zur Entschlüsselungsgeschichte der Magnetbänder siehe: Ulrich Clauss, Der Mann, der den Stasi-Code knackte, in: Die Welt, vom 08.05.1999, unter: http://www. welt.de/print-welt/article571265/Der_Mann_der_den_Stasi_Code_knackte.html [18.03. 2010]. 28 BStU (Hrsg.), Dritter Tätigkeitsbericht, Berlin 1997, S. 25; dies. (Hrsg.), Vierter Tätigkeitsbericht, Berlin 1999, S. 53 f.; dies. (Hrsg.), Fünfter Tätigkeitsbericht, 2001, S. 94–97. 29 Joachim Gauck, Die Stasi-Akten. Das unheimliche Erbe der DDR, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 80. 30 Daneben versuchten hauptamtliche Mitarbeiter ab November/Anfang Dezember 1989 Akten zu zerstören, schwarze Rauchwolken lagen über den Bezirksverwaltungen der Bezirksverwaltungen in Erfurt, Dresden, Leipzig und anderen Städten. In diesem Zusammenhang konnten von den Bürgerkomitees 25 Kilometer zerrissene Akten in 17.200 Säcken sichergestellt werden, siehe: BStU (Hrsg.), Erster Tätigkeitsbericht, Berlin 1993, S. 5. 31 Bürgerkomitees bildeten sich maßgeblich, um die Akten vor der Zerstörung durch das MfS zu schützen, sie bilden in personeller Kontinuität den Personalstamm der BStU, siehe: Joachim Gauck, Rückblick auf die Anfänge der Behörde des Bundesbeauftragten, in: Siegfried Suckut/Jürgen Weber (Hrsg.), Stasi-Akten zwischen Politik und Zeitgeschichte. Eine Zwischenbilanz, München 2003, S. 17–26, hier: S. 22; David Gill, Von den Bürgerkomitees zur Gauck-Behörde, in: Siegfried Suckut/Jürgen Weber (Hrsg.), Stasi-Akten zwischen Politik und Zeitgeschichte. Eine Zwischenbilanz, München 2003, S. 67–80, hier: S. 67. 32 Joachim Gauck, Die Stasi-Akten. Das unheimliche Erbe der DDR, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 9 f. und 117 ff. 33 § 14 StUG wurde am 4. Juli 2002 mit der Verabschiedung der fünften Novelle zum StUG ersatzlos gestrichen. Er normierte eine ab 2003 möglich gewordene Schwärzung oder Vernichtung von Originalakten auf Antrag der darin genannten Personen.
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rischen Volkskammerentscheidung vom 24. August 1990 ableitete.34 Gemäß diesem Entscheid verstand Gauck eine Aufarbeitung der MfS-Akten auf politischer, juristischer und historischer Ebene. Probleme in den Arbeitsabläufen der neu geschaffenen Behörde ergaben sich, neben einer „kreativen“ Aufbauleistung,35 in den ersten Jahren zunächst aus falschen Nutzungseinschätzungen der Behörde. In den ersten 100 Tagen stellten 420.000 Bürger Anträge auf Akteneinsicht, und zusätzlich gingen 130.000 Anträge auf Überprüfung von Personen aus öffentlichen Stellen ein. Bis zum Jahresende 1992 betrug die Gesamtzahl der eingegangenen Anträge 1,6 Millionen.36 Die ungeheure und nicht vorhersehbare Nachfrage von Opfern der SED-Diktatur nach Offenlegung ihrer Unterdrückung, aber auch die Öffnung der Aktenbestände für Wissenschaftler, Staatsanwälte und Medien wurde weiterhin unterschätzt. Erschwerend stellte sich die totale Überlastung der Behörde durch die schier unermessliche Erfassungs- und Rekonstruktionsarbeit der „kafkaesken“ MfS-Aktenflut (ca. 185 Kilometer Schriftgut) ein, die sehr schnell zu Anfragerückständen und der Forderung nach mehr Zeit für die Aufarbeitung führte. Trotz dieser Widrigkeiten bekam der BStU, der auch im internationalen Vergleich eine Behördenneuheit in der Diktaturaufarbeitung darstellt, keinen Vertrauensvorschuss für seine Arbeit. Es folgten bereits in den ersten Jahren des BStU massive Angriffe gegen die Behörde aus unterschiedlichsten Richtungen und Motivationslagen, die sich im Grunde bis zum heutigen Tag erhalten haben bzw. kampagnenartig37 und in Wellen, teilweise inhaltsgleich, wiederholen. Im Kern ging es hierbei überwiegend um die Konfliktlinie zwischen Selbstbestimmung/Informationsfreiheit versus Persönlichkeitsrecht/Datenschutz. Im Vierten Tätigkeitsbericht (1999) reagierte der BStU Joachim Gauck erstmalig auf die öffentliche Wahrnehmung „seiner“ Behörde. Der inhaltliche Umgang mit dieser Kritik ist gekennzeichnet von einer erfreulich sachlich-nüchternen Tonalität.
34 Joachim Gauck, Rückblick auf die Anfänge der Behörde des Bundesbeauftragten, in: Siegfried Suckut/Jürgen Weber (Hrsg.), Stasi-Akten zwischen Politik und Zeitgeschichte. Eine Zwischenbilanz, München 2003, S. 17–26, hier: S. 20. 35 Joachim Gauck, Winter im Sommer – Frühling im Herbst, München 2009, S. 249 ff.; der erste Tätigkeitsbericht spricht in diesem Zusammenhang von „teilweise unzumutbaren äußeren Bedingungen“, BStU (Hrsg.), Erster Tätigkeitsbericht, Berlin 1993, S. 4. 36 Joachim Gauck, Rückblick auf die Anfänge der Behörde des Bundesbeauftragten, in: Siegfried Suckut/Jürgen Weber (Hrsg.), Stasi-Akten zwischen Politik und Zeitgeschichte. Eine Zwischenbilanz, München 2003, S. 17–26, hier: S. 22. 37 Zur Methode der Kampagnenkommunikation: Klaus Kamps, Politisches Kommunikationsmanagement. Grundlagen und Professionalisierung moderner Politikvermittlung, Wiesbaden 2007, S. 237–291; bereits in den ersten Monaten nach Gründung der BStU präsentierte Der Spiegel den ersten vermeintlichen politischen Skandal (Manfred Stolpe), siehe: Norbert Robers, Joachim Gauck. Die Biografie einer Institution, Berlin 2000, S. 164.
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Die Kritik der öffentlichen Wahrnehmung lässt sich in drei große Akteursdimensionen zusammenfassen: die bundespolitische Politikbühne (Bonn/Berlin), Forschung/Medien und die Politikdimension „Ost“.38 Letzterer Bereich lässt sich unterteilen in die Funktionseliten aus der (Partei-)Politik (SED-PDS, PDS, DIE LINKE), Altkader aus dem Militär/MfS, „Westintellektuelle“ und mediale Unterstützung seitens des ehemaligen SED-Zentralorgans Neues Deutschland oder der ehemaligen FDJ-Zeitung Junge Welt. Diese Politikdimension „Ost“ hat sich bereits kurz nach der Vereinigung in mehrere bis heute existierende sektiererische Organisationen und Plattformen mit überwiegend neutralen Namen zusammengefunden, um das Geschichtsbild der DDR mitsamt dem SED-Unterdrückungsapparat weichzuzeichnen. Die wichtigsten untereinander vernetzten Vereine mit einer eigenen Internetseite sind: Gesellschaft zur rechtlichen und humanitären Unterstützung e. V. (GRH e. V., gegründet 1993),39 Initiativgemeinschaft zum Schutz der sozialen Rechte ehemaliger Angehöriger bewaffneter Organe und der Zollverwaltung der DDR e. V. (ISOR e. V., gegründet 1991),40 Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde e. V. (GBM e. V., gegründet 1991),41 Ostdeutsches Kuratorium von Verbänden e. V. (OKV e. V., gegründet 1993)42 und Insiderkomitee zur Förderung der kritischen Aneignung der Geschichte des MfS (IK, gegründet 1992 bzw. 1997–2008 als Arbeitsgemeinschaft der GBM).43 Parteipolitische Verknüpfungen dieser Organisationen bestehen u. a. zu den Parteien DIE LINKE, DKP und zu „antifaschistischen“ Gruppierungen wie der VVN/BdA.44 Den Vereinen GRH und ISOR stehen für ihre Geschäftsstellen bezeichnenderweise Räumlichkeiten im Verlagshaus des Neuen Deutschlands zur 38 Zur Politikdimension „Ost“ siehe: Hubertus Knabe, Die Täter sind unter uns. Über das Schönreden der SED-Diktatur, Berlin 2007, hier besonders: S. 43 ff. u. S. 253–339; BStU (Hrsg.), Vierter Tätigkeitsbericht, Berlin 1999, S. 6–8. 39 Siehe unter: http://www.grh-ev.org [14.04.2010]. 40 Siehe unter: http://www.isor-sozialverein.de [14.04.2010]. 41 Siehe unter: http://www.gbmev.de [14.04.2010]. 42 Siehe unter: http://www.okv-ev.de [14.04.2010]. 43 Siehe unter: http://www.mfs-insider.de [14.04.2010]; hierzu: Sven Felix Kellerhoff, Der unheilige Zorn der roten Spione. Nach der Absage einer Tagung in Berlin klagen alte Stasi-Kader über „Gesinnungspolizisten“ in der Wissenschaft, in: Die Welt vom 13.06.2007, unter: http://www.welt.de/welt_print/article941918/Der_unheilige_ Zorn_der_roten_Spione.html [18.03.2010]. 44 Zu den parteipolitischen Verbindungen dieser Organisationen siehe: Eckhard Jesse/Jürgen P. Lang, Die Linke – der smarte Extremismus einer deutschen Partei, München 2008, S. 39 f.; Hubertus Knabe, Die Täter sind unter uns. Über das Schönreden der SED-Diktatur, Berlin 2007, S. 321–327; zur VVN/BdA siehe: Rudolf van Hüllen, Die VVN-BdA: ein trojanisches Pferd für das Engagement gegen Rechtextremismus, in: Freiheit und Recht, 2009/3+4, unter: http://www.bwv-bayern.org/component/con tent/article/3-suchergebnis/79-die-vvn-bda-ein-trojanisches-pferd-fuer-das-engagementgegen-rechtextremismus.html [14.04.2010].
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Verfügung. Als Ikonen dienen diesen Gruppierungen der ehemalige SED-Generalsekretär und Staatsratsvorsitzende der DDR, Egon Krenz, sowie der langjährige Leiter der HVA, Markus („Mischa“) Wolf. Unter ihren Mitgliedern findet sich ein Sammelsurium von ehemaligen SED-Kadern, wie DDR-Militärs, -Politikern und -Wissenschaftlern. Neben der Organisation von Veranstaltungen und juristischer Unterstützung ihrer Mitglieder publizieren diese Verbände Zeitschriften (z. B. Icarus, Akzente und RotFuchs45) und Buchpublikationen. Letztere erscheinen überwiegend in der zur Berliner Eulenspiegel Verlagsgruppe zählenden edition ost,46 Spotless oder der „antifaschistischen“ Verlagsgruppe GNN. Im GNN-Verlag werden neben den Publikationen der GBM auch die Publikationen der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen, der Rosa-Luxemburg-Stiftung Brandenburg und die Schriften des vom Bundesamt für Verfassungsschutz als ein offen linksextremer Zusammenschluss47 bezeichneten Marxistischen Forums (MF) innerhalb der Partei DIE LINKE verlegt.48 Als gesellschaftspolitisches Korrektiv mit DDR-bürgerrechtlicher Ausprägung zu diesem „Stasi-Establishment“ versucht z. B. die Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG e. V., gegründet 1992)49 das Angebot der BStU und anderer institutioneller Träger (z. B. Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig und mehrere Gedenkstätten) um eine demokratische Würdigung der SED-Diktatur mit Veranstaltungen, Beratungsangeboten und einer Publikation (Der Stacheldraht) zu ergänzen. Die kommunistischen SED/MfS-Verbände verschaffen sich ihrerseits Schützenhilfe über Sammelbände, in denen sich linke Kritiker der BStU aus Ost und West versammeln. Grundtenor eines dieser Bände50 ist die Negation der Totalitarismustheorie51 und eine grundsätzliche Kritik an einer angeblichen „Sieger45 Siehe z. B. eine aktuelle BStU-Kritik: Karl Rehbaum, Metastasen der Lüge. Wie die Birthler-Behörde jetzt auch weltweit Giftweizen sät, in: RotFuchs, Nr. 147, April, Berlin 2010, S. 7, unter: http://www.rotfuchs.net/Zeitung/Aktuell/RF-147-04-10.pdf [14.04.2010]. 46 Michael Lühmann, Rosa-rote Scheinwelt, in: Die Zeit, 17. August 2007, unter: www.zeit.de/online/2007/34/ddr-geschichte [09.04.2010]; Literaturbeispiele aus der edition ost, die sich explizit mit der BStU beschäftigen, sind: Matthias Wagner, Das Stasi-Syndrom. Über den Umgang mit den Akten des MfS in den 90er Jahren, Berlin 2001; Herbert Kierstein/Gotthold Schramm, Freischützen des Rechtsstaates. Wem nützen Stasiunterlagen und Gedenkstätten?, Berlin 2009. 47 Bundesamt für Verfassungsschutz (Hrsg.), Verfassungsschutzbericht 2008, Berlin 2009, S. 169 f. 48 Siehe unter: http://gnnverlag.de/products-page?view_type=default&product_search =b%C3%BCrgerrecht&search=Suche, [14.04.2010]. 49 Siehe unter: http://www.uokg.de [15.04.2010]. 50 Jochen Zimmer (Hrsg.), Das Gauck-Lesebuch. Eine Behörde abseits der Verfassung?, Frankfurt am Main 1998, vgl. hierzu: Klaus Schroeder, Projektgruppe moralische Entsorgung. Linke Gesinnungswächter denunzieren die Gauck-Behörde, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Nr. 162 vom 16.07.1999, S. 7.
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mentalität der Bonner Republik gegenüber der DDR“ bzw. an einer konstruierten „Festung Deutschland als Sicherheits- und Kontrollstaat“. Zuletzt geht es in diesem Band ebenfalls darum, die SED-Diktaturgeschichte in einen Versuch eines besseren, friedliebenderen und sozial gerechteren Deutschlands umzudeuten und die SED, nebst MfS, zu verklären. Neben Daniela Dahn, Eckart Spoo, Barbara Thalheim, Horst Winterstein, Gregor Gysi und Lothar Bisky kann hier auch Peter-Michael Diestel, ehemaliger stellvertretender Ministerpräsident und Innenminister der DDR, seine harten persönlichen Auslassungen über Joachim Gauck platzieren, deren inhaltliche Nähe offensichtlich bei den oben aufgezählten Organisationen liegt. Peter Michael Diestel wird von dem/der BStU vorgeworfen, MfS-Mitarbeiter im Staatlichen Komitee zur Auflösung der Staatssicherheit und die Vernichtung von MfS-Unterlagen gedeckt zu haben.52 Neben Heiner Geißler, der bereits früh die Schließung der BStU forderte,53 übten auch Bonner Politiker zunächst Kritik an dem sich als politische und unabhängige Person verstehenden Joachim Gauck. Diesen Anwürfen konnte durch eine mediale Öffentlichkeitsoffensive von Joachim Gauck, in der er sein Selbstverständnis und das der ihm anvertrauten Behörde darlegte, begegnet werden.54 Wichtige Stichworte für diese positive Vertrauenskampagne waren hier: Stärkung der Selbstbestimmung, keine blinde Aktengläubigkeit, keine moralische Instanz und „Demokratisierung statt Traumatisierung“. Dem entgegen standen die nachhaltigen Angriffe aus der Politikdimension „Ost“, die zum einen in Korrelation mit den juristischen Dauerfällen in den neunziger Jahren (Gregor Gysi55 und Manfred Stolpe56) zu sehen waren und, weniger wichtig in diesem Kontext, mit der juristischen Aufarbeitung bis hoch in die Sportfunktionärsebene von Dopingfällen57 zu tun hatten (Stichwort: Identität/Ostidole). In Gauck wurde der „moderne Großinquisitor“ gesehen, „[. . .] der nach Gutdünken Karrieren beenden 51 Hier besonders: Wolfgang Wippermann, Gauck und das „Schwarzbuch“, in: Jochen Zimmer (Hrsg.), Das Gauck Lesebuch. Eine Behörde abseits der Verfassung?, Frankfurt am Main 1998, S. 112–120. 52 Joachim-Gauck, Winter im Sommer – Frühling im Herbst, München 2009, S. 239; Marianne Birthler, Freiheit ist Einsicht in die Akten, in: Siegfried Suckut/Jürgen Weber (Hrsg.), Stasi-Akten zwischen Politik und Zeitgeschichte. Eine Zwischenbilanz, München 2003, S. 27–44, hier: S. 41. 53 Karl Wilhelm Fricke, Interview mit Joachim Gauck, DA 4/1992, S. 437–445, hier: S. 437. 54 Joachim Gauck, Die Stasi-Akten. Das unheimliche Erbe der DDR, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 89–100. 55 Siehe BVerfG, Beschluss vom 21. Mai 1996, Az. 2 BvE 1/95 = NJW 1996, S. 2720 bis 2722, Urteil vom 20. Juli 1998 BvE 2/98, BT-Drs. 13/10763 u. 13/10893; vgl. hierzu: Norbert Robers, Joachim Gauck. Die Biografie einer Institution, Berlin 2000, S. 175–179. 56 OVG Berlin, Beschluss vom 7. Juli 1997, Az. 8 B 91/93 = NJW 1998, S. 257 bis 259. 57 Siehe BStU (Hrsg.), Zweiter Tätigkeitsbericht, Berlin 1995, S. 36.
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und Köpfe rollen lassen konnte“.58 Das „Gaucken“ entwickelte sich im Zusammenhang mit Überprüfungsverfahren zum geflügelten Wort. Mitte bis Ende der 90er Jahre bildete sich auch wegen dieser Überprüfungspraxis von Einzelfällen, es handelte sich schließlich nicht um eine „Entstasiierung“, eine breite, prominente Phalanx von westlichen und östlichen Verfechtern (z. B. Marion Gräfin Dönhoff, Egon Bahr, Lothar de Maizière, Lothar Bisky, Friedrich Schorlemmer und Manfred Stolpe), die einer „Generalamnestie“ das Wort redeten.59 Die politischen Instrumentalisierungswogen schlugen in diesem Zusammenhang hoch und höher,60 man sprach, maßgeblich medial, von einer geschürten Atmosphäre, von Verfolgung, Rache, Denunziation, Hass und Angst – ein Vokabular, das selber an eine Diktatur erinnert und im Neuen Deutschland seinerzeit Verwendung fand. Den wiederholten Rufen nach dem Aufarbeitungsschlussstrich konnte mit dem Bedürfnis der ehemaligen DDR-Bürger auf Selbstbestimmung aber letztlich immer wieder erfolgreich begegnet werden, und die steigenden Aktenanfragen gaben dieser Vorgehensweise eindrucksvoll Recht. Prominente Unterstützung gegen eine Schlussstrichdebatte bekamen die Aufarbeitungsbefürworter zum zehnten Jahrestag der Wiedervereinigung von Helmut Kohl, der solche Forderungen vehement verwarf.61 So erfolgte die reibungslose Neubesetzung des BStU durch Parlamentswahl und eine zuvor erzielte fraktionsübergreifende Einigung auf die frühere Bürgerrechtlerin Marianne Birthler. IV. Zehn Jahre „Birthler-Behörde“ Im Unterschied zur zweimaligen Amtszeit von Joachim Gauck stand ab dem 3. Oktober 2000 nicht die Person Marianne Birthlers im Vordergrund der Auseinandersetzung zwischen Behörde und politischer Öffentlichkeit. Dies lag nicht so sehr an einem grundsätzlich anderen Verständnis von Marianne Birthler als unabhängige, sich auch politisch äußernde Behördenleiterin, sondern auch an einer weiteren Professionalisierung62 der Behörde selbst. Zum Beispiel entwickelte 58 Norbert Robers, Joachim Gauck. Die Biografie einer Institution, Berlin 2000, S. 166. 59 Joachim Gauck, Wut und Schmerz der Opfer, in: Die Zeit, Nr. 4 vom 20.01.1995; O.V., Bisky will „einen Schluss-Strich unter die Vorgänge in der DDR“. SPD-Politiker für Schließung der Gauck-Behörde/Schorlemmer fordert Amnestie der Funktionärselite, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Nr. 194 vom 23.08.1999, S. 6. 60 Vgl. die Kritik-Suada von: Sven Dorlach, Der Fall Gauck, Berlin 1996; ders., In alle Ewigkeit Stasi? Berlin 2003. 61 O.V., „Stasi-Akten sollten bald geschlossen werden“. De Maizière fordert Generalamnestie/Jahrestag Mauerfall, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS), Nr. 44 vom 07.11.1999, S. 2. 62 Bereits ab dem Dritten Tätigkeitsbericht wurden z. B. mit einer Änderung der Organisationsstruktur die langen Wartezeiten auf Akteneinsicht reduziert, siehe: BStU (Hrsg.), Dritter Tätigkeitsbericht, Berlin 1997, S. 32–34; dies. (Hrsg.), Vierter Tätigkeitsbericht, Berlin 1999, S. 11 f.
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die BStU ein Organisationsentwicklungskonzept „Futura“, unter dem eine selbstkritische Bestandsaufnahme und belastbare Prognose, auch unter Beteiligung aller Mitarbeiter, erstellt wurde. Weiterhin führte die BStU im Jahr 2003, 2005 und 2007 „Nutzerforen“ zum Gedanken- und Erfahrungsaustausch durch und bemühte sich um einen Ausbau der elektronischen Datenbanken, Digitalisierung von Beständen und eine stets dem Wissensstand entsprechend aktuelle Internetpräsenz mit Aktendokumentationen und Findmitteln.63 Die sich zunehmend als Dienstleistungsbehörde verstehende, mit vielfältigen anderen Forschungs- und Partnereinrichtungen vernetzte Institution, entwickelte sich zum festen, aber weiterhin nicht unumstrittenen Bestandteil der bundesdeutschen Demokratie. Die rechtlichen und organisatorischen Probleme der Anfangszeit konnten aufbauend auf die Arbeit der zweiten Amtsperiode Joachim Gaucks weiter überwunden werden. Trotzdem: Mehr als die erste Hälfte der Amtszeit von Marianne Birthler wurde thematisch dominiert von den sogenannten vier „Kohl-Urteilen“.64 Im Kern ging es für die Befürworter des letzten Urteils dieser Rechtsstreitigkeitenserie auch um den Versuch, politisches und staatliches Handeln zu privatisieren. Die zumeist westlichen Politiker argumentierten mit der Berücksichtigung des Opferschutzes. Maßgeblich ging es ihnen aber, bei Anerkenntnis einer grundsätzlichen Sinnhaftigkeit der zeitnahen politischen Aufarbeitung der diktatorischen Vergangenheit für die Bürger der DDR, um eine Annäherung an die Regelungen des Archivgesetzes.65 Eine Gratwanderung und ein demokratischer Kompromiss, der den schwierigen Prozess der zeitnahen Aufarbeitung einer Diktatur offenbart. Im Lichte dieser letztgenannten Interpretation, eine Annäherung an die archivgesetzlichen Regelungen zu finden, sind auch die in diesem Kontext geäußerten Überführungsforderungen in das Bundesarchiv zu würdigen. Die durch diese Urteile nötig gewordenen Novellierungen schränkten die externe Forschung und Medienanfragen weiter ein und vergrößerten den systematischen Unterschied zwischen StUG und dem Archivgesetz. Die BStU reagierte mit den bereits erwähnten „Nutzerforen“. Diese neue Veranstaltungsart diente 63
BStU (Hrsg.), Sechster Tätigkeitsbericht, Berlin 2003, S. 7 f.; S. 19 u. 27. VG Berlin, Az. 1 A 389/00 = NJW 2001, S. 2987 bis 2993; Az. 3 C 46.01 = NJW 2002, S. 1815 bis 1817 = BVerwGE 116, 104 ff.; Az. 1 A 317/02 = NJW 2004, S. 457 bis 461; Az. 3 C 41.03 = NJW 2004, S. 2462 bis 2469; siehe hierzu Jörg Pietrkiewicz, Stasi-Akten im Spannungsverhältnis zwischen Öffentlichkeit und Datenschutz. Der Rechtsstreit Dr. Kohl gegen die Bundesrepublik Deutschland, in: Siegfried Suckut/ Jürgen Weber (Hrsg.), Stasi-Akten zwischen Politik und Zeitgeschichte. Eine Zwischenbilanz, München 2003, S. 140–149. 65 Zur groben Unterscheidung zwischen den Regelungen: Das StUG ist Ausdruck für ein Nutzungsverbot mit gesetzlichem Erlaubnisvorbehalt, das gerichtlich voll überprüfbare und gebundene Entscheidungen ohne Schutzfristen normiert. Das Archivgesetz regelt hingegen grundsätzlich ein Nutzungsrecht mit gesetzlich verankerten Einschränkungen und einer Ermessenentscheidung des Archivars mit Schutzfristen, die verlängerbar sind. 64
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dem Austausch von Wissenschaftlern, Medienvertretern bzw. Behördenmitarbeitern und -leitung.66 Die wichtigsten Ergebnisse für die Forschung waren die Forderung nach Verbesserungen bezüglich Findmitteln, nach transparenten Rechercheschritten und die Notwendigkeit der Anonymisierung/Pseudonymisierung. Gleichzeitig erging aber auch der einschränkende Hinweis, dass ein maßgeblicher Schwerpunkt der BStU-Arbeit noch lange nicht abgeschlossen sei, nämlich die Erschließung der Akten, was somit die Sonderstellung der BStU im Vergleich zu normalen Archiven weiter perpetuieren sollte. Die Auswirkungen des zweiten „Kohl-Urteils“ vom 23. Juni 2004 führten zu einer Zweckbindung der Aktenfreigabe im Zusammenhang der MfS-Aufarbeitung, einer strengeren Kontrolle der wissenschaftlichen Anträge und einer Beweislastumkehr für die juristische Verantwortung bei wissenschaftlichen Publikationen.67 Zwar wurde die Aufarbeitung mit diesen Urteilen lediglich erschwert und der Diskurs über andere Themen wie DDR-Alltagskultur und politische Bildung fast zum Erliegen gebracht, aber dieser Rechtsstreit öffnete das Fenster für die Beschneidung der Unabhängigkeit der BStU grosso modo, eine Wiederbelebung der existenziellen Grundsatzdebatte und eine weitere Politisierung der Aufarbeitung. Ausgangspunkt bildete das erinnerungspolitische Konzept zu den Gedenkstätten der SED-Diktatur in Berlin, welches zu heftigem Protest führte und in dieser Form nicht haltbar war.68 Ausfluss dieses Gedenkstättenkonzeptes war aber ein für die BStU einschneidender Organisationsbeschluss der damaligen rot-grünen Bundesregierung. Durch einen Bundeskanzlererlass vom 28. Dezember 2004 wurde die BStU mit Wirkung zum 1. Januar 2005 der Zuordnung des BMI entzogen und der Staatsministerin für Kultur im Kanzleramt zugeordnet. Weiterhin wurde die Einbettung in einen „Geschichtsverbund“ forciert, obwohl die Schneisen der SED-Diktatur noch bis in den heutigen Alltag politisch und gesellschaftlich überdeutlich weiterwirken.69 Trotz weiterer Aktenerschließungsarbeit und 66 Marianne Birthler, Der Zugang zu den Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR für Forschung und Medien, DA 3/2003, S. 376–379; siehe Bericht: BStU (Hrsg.), Sechster Tätigkeitsbericht, Berlin 2003, S. 84 f. (Anhang D 9). 67 Johannes Beleites, Kein Ende der Aufarbeitung. Die Auswirkungen des zweiten Kohl-Urteils auf den Umgang mit den Stasi-Akten. Interview mit der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Marianne Birthler, DA 5/2004, S. 776–782, BStU (Hrsg.), Siebenter Tätigkeitsbericht, Berlin 2005, S. 16–20. 68 Alexander Weinlein, Birthler-Behörde soll schrumpfen, in: Das Parlament, Nr. 28 vom 09.07.2007; Winfried Sträter, Bestandsaufnahme und Neujustierung. Anmerkungen zur Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes, DA 4/2008, S. 581–586, hier: S. 582–584; BStU (Hrsg.), Neunter Tätigkeitsbericht, Berlin 2009, S. 9; Abschrift eines „Erinnerungspolitischen Konzeptes zu den Gedenkstätten der SED-Diktatur in Berlin“. Das Konzept wurde am 1.12.2004 vorgelegt von Knut Nevermann (Staatssekretär bei der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien Christina Weiss), unter: http://www.havemann-gesellschaft.de/index.php?id=246&no_cache=1& sword_list[0]=konzept [16.04.2010]. 69 Siehe hierzu die sehr ausführlich dokumentierte „Empfehlung der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes, Aufarbeitung der SED-Diktatur“,
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wichtiger politischer Überprüfungen, die Mitte 2006 beendet wurden, sowie Aktenaufarbeitungen70 wurde das Bemühen nach einer vorzeitigen institutionellen Historisierung und einer Relativierung der Sonderstellung der BStU durch die rot-grüne Bundesregierung offensichtlich. Weiterhin sah ein Außenstellenkonzept eine neue, verkleinerte regionale Behördenstruktur an nur noch fünf Archivstandorten vor. Zurzeit bestehen noch 13 Außenstellen, die sich explizit nicht als Zweigstellen der Berliner Zentrale verstehen. Vor Ort können nicht nur spezielle regionale Fragestellungen beantwortet werden; sie sind auch Ausdruck von Bürgernähe hinsichtlich Akteneinsicht, Beratung und politischer Bildung. Durch die Arbeit der Außenstellen konnten trotz vernichteter HVA-Magnetbänder in der „Wendezeit“ (siehe III.) dank elektronischer Mehrfachablegung in Bezirksverwaltungen des MfS viele der im Westen eingesetzten IM enttarnt werden.71 Eine weitere Zusammenlegung oder Schließung von Außenstellen könnte zudem als ein Signal für den Ausstieg aus der SED-Diktaturaufarbeitung verstanden werden. Das Vermächtnis der Willenskundgabe für ein vereintes Deutschland und die Aufarbeitung der Vergangenheit der kommunistischen SED-Diktatur verblasst. Gleichzeitig korrespondieren Verharmlosungen und Polemiken gegen die Charakterisierung der SED-Diktatur mit einem allgemein gestiegenen Interesse der Bevölkerung an der Geschichte der DDR, z. B. durch erfolgreiche (Kino-)Filmprojekte. Ebenfalls zeigen diese Behördenentwicklungen und Diskussionen den schwindenden politischen Einfluss der ehemaligen Bürgerrechtsbewegung auf die Bundespolitik. Dabei deuteten die Aufgabenentwicklung, die Organisationsreform und die aufarbeitungspolitische Dimension darauf hin, dass der Grundimpetus von 1990 noch nicht verbraucht war und ist.72 Dies vor allem vor dem Hintergrund einer zunehmenden Verklärung der DDR in schulischer Bildung73 und Politik. nach der die BStU für die zukünftige Aufarbeitung der SED-Diktatur nicht hinweggedacht werden kann, in: Martin Sabrow et al. (Hrsg.), Wohin treibt die DDR-Erinnerung? Dokumentation einer Debatte, Bonn 2007. 70 Die sogenannte „kleine DDR“ Brandenburg hat erst 2010 mit einer umfassenden politischen Aufarbeitung begonnen; siehe hierzu: Matthias Schlegel, „Versöhnung kann man nicht anordnen.“ Die Bundesbeauftragte Marianne Birthler fordert, die Stasi-Überprüfungen noch länger fortzusetzen. Und sie bemängelt die Aufarbeitungsversuche in Brandenburg, in: Die Zeit-Online vom 15.01.2010, unter: http://www.zeit.de/politik/ 2010-01/stasi-behoerde-birthler [18.03.2010]; von Mecklenburg-Vorpommern sind ebenfalls, im Vergleich zu den anderen Bundesländern, wenige Überprüfungen eingegangen, was ebenfalls auf eine nachhinkende Aufarbeitung schließen lässt. 71 BStU (Hrsg.), Fünfter Tätigkeitsbericht, Berlin 2001, S. 88. 72 Silke Stokar, Testfall für den Umgang mit der Vergangenheit. Zur Diskussion um die Perspektiven der Stasi-Unterlagen-Behörde, DA 1/2005, S. 108–112; Hans Altendorf, Zur Perspektive der Stasi-Unterlagen und der Behörde der Bundesbeauftragten, DA 2/2006, S. 299–307. 73 Monika Deutz-Schroeder/Klaus Schroeder, Soziales Paradies oder Stasi-Staat? Das DDR-Bild von Schülern – ein Ost-West-Vergleich, Stamsried 2008. Diese asymme-
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Im internationalen Diskurs über die Diktaturaufarbeitung konnte die BStU ihre spezifischen Erfahrungen vielfältig einbringen. So nutzten zunächst die Staaten des ehemaligen Ostblocks die Erfahrungen der BStU für ihre individuelle Aufarbeitung.74 Aber auch Institutionen und Initiativen aus Albanien, Spanien, Portugal, Griechenland und dem Baltikum, wie sogar von anderen Kontinenten, aus Südafrika,75 Argentinien, Kambodscha, Südkorea und dem Irak, suchten bei der BStU bislang um Rat. Diese Auslandsexpertise machte diese Behörde zu einem „Schatz“ und „Exportartikel“ für die Demokratieentwicklung (Hans Altendorf) jenseits ihrer ursprünglichen Aufgabenstellung. Dessen ungeachtet setzten sich die Angriffe gegen die Behörde, trotz des bis heute76 steten Personalabbaus, fort. Sie zielten nun hauptsächlich auf das Innenleben und die Fortexistenz der Behörde. Ausgangspunkt dieser Kritik war nicht nur eine Medienkampagne,77 sondern auch die sich hiermit überschneidende Bekanntgabe eines Regierungsgutachtens über die Beschäftigung von ehemaligen MfS-Angehörigen78 aus der Feder des Verfassungsrechtlers Hans Hugo Klein und des Historikers Klaus Schroeder. Da sich ein konkreter Missbrauch auf den einzelnen Arbeitsplätzen der BStU nicht nachweisen ließ,79 wurde das Gutachten trotz schwerer Vorwürfe von Seiten der CDU, der Linksfraktion80 und auch einer diesbezüglichen medialen Begleitung schnell entkräftet. Fast zeitgleich veröffentlichte die SPD-Fraktion, Arbeitsgruppe Kultur und Medien, ein Positionspapier mit dem Titel: „Verantwortung des Bundes für die Erinnerung und Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur in der DDR“, das lediglich, ähnlich wie das überarbeitete „Neumann-Papier“, eine „mittelfristige“ (2019) Überleitung der Akten in das Bundesarchiv vorsieht.81 trischen Erfahrungen werden auch von Joachim Gauck bei seiner Tätigkeit in der politischen Bildung an Schulen bestätigt, siehe: Stefan Locke, Opa Achim erzählt vom Krieg, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS) vom 14.03.2010, S. 51. 74 BStU (Hrsg.), Dritter Tätigkeitsbericht, Berlin 1997, S. 7 f. 75 BStU (Hrsg.), Vierter Tätigkeitsbericht, Berlin 1999, S. 99 f. 76 BStU (Hrsg.), Neunter Tätigkeitsbericht, Berlin 2009, S. 9. 77 Roger Engelmann, Die herbeigeschriebene „Legitimationskrise“. Anatomie einer Kampagne gegen die Stasi-Unterlagen-Behörde, DA 6/2007, S. 1071–1078. 78 Siehe hierzu bereits: Joachim Gauck, Die Stasi-Akten. Das unheimliche Erbe der DDR, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 16 u. 104; Joachim Gauck, Winter im Sommer – Frühling im Herbst, München 2009, S. 253. 79 BStU (Hrsg.), Achter Tätigkeitsbericht, Berlin 2007, S. 18 f. 80 Deutscher Bundestag (Hrsg.), Unterschiedliche Bewertung des Gutachtens über Stasi-Unterlagenbehörde. Ausschuss für Kultur und Medien – 21.06.2007, unter: www. bundestag.de/presse/hib/2007_06/2007_173/01.html [15.03.2010]. 81 Karl-Heinz Baum, Eine Art Schlussstrich. Zur Debatte um die Zukunft der BStU, DA 4/2007, S. 585–589; vgl. hierzu die Position des Bundesarchivs, siehe: Uwe Müller/Sven Felix Kellerhoff, Bundesarchiv könnte Stasi-Akten übernehmen. Kein Grund, Birthler-Behörde bis 2019 zu erhalten – Präsident Hartmut Weber kündigt an: „Die Forschung wird wesentlich erleichtert“, in: Die Welt vom 13.07.2007, unter: http://www. welt.de/welt_print/article1023173/Bundesarchiv_koennte_Stasi_Akten_uebernehmen.html
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Problematischer erscheint weiterhin die vorzeitig geforderte Eingliederung bzw. Auflösung der Abteilung Politische Bildung und Forschung der BStU in die Bundeszentrale und die Landeszentralen für Politische Bildung, welche von Eckhard Jesse als eines der wichtigsten Zentren der neueren DDR-Forschung bezeichnet wird.82 Die Bildungsarbeit vor Ort in der „Gedenkstätte“ BStU mit ihren unabhängigen Außenstellen würde nicht nur ihren spezifischen, unabhängigen Status verlieren, sondern auch rein quantitativ verlöre die Aufarbeitung der SED-Diktatur eine weitere Institution mit positivem Symbolwert für die gesamte Bundesrepublik. Weiterhin geschwächt würde die wissenschaftliche Pluralität der DDR-Forschung mit unterschiedlichen methodischen, politischen Zugängen und inhaltlichen Schwerpunktsetzungen einer Vielfalt von Instituten. Aktuell werden solcherart Forderungen, zumindest in der Breite des etablierten Politikspektrums, wieder seltener diskutiert. Weiterhin übertrifft, wie in jedem Jahr seit Gründung der BStU, die Nachfrage nach Akteneinsicht die Erwartungen. Auch die Erschließung/Rekonstruktion83 von Akten ist noch lange nicht abgeschlossen, was auch Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrem Besuch der BStU am 15. Januar 2009 überzeugt haben mag und dazu bewogen hat, sich für einen Bestandsschutz der Behörde in Abhängigkeit von Nachfrage und Notwendigkeit einzusetzen.84 Im Bundestag deutet sich im Frühjahr 2010 eine Verstetigung der BStU „mindestens“ bis 2019 an. Diese neueste Entwicklung wird eine Neuwahl der Behördenleitung im Jahr 2011 nötig machen, wenn die nicht verlängerbare zweite Amtszeit von Marianne Birthler endet. Nach Wolfgang Börnsen (MdB, CDU), Vorsitzender der Arbeitsgruppe Kultur und Medien, gebe es „kein Ende der Aufklärung“.85 Damit besteht, zumindest zurzeit, keine weitere regierungspolitische Planung, die MfS-Akten in das Bundesarchiv zu überführen.
[18.03.2010] und die Position der BStU, siehe: Thomas Schmid/Ulrich Clauß, Birthler übernimmt Verantwortung für Fehler. Stasi-Schießbefehl, in: Die Welt vom 17.08.2007, unter: http://www.welt.de/politik/article1111741/Birthler:uebernimmt_Verantwortung_ fuer_Fehler.html. [18.03.2010]. 82 Eckhard Jesse, Die DDR-Forschung vor und nach der „Wende“ 1989/90, in: Eckhard Jesse, Diktaturen in Deutschland. Diagnosen und Analysen, Baden-Baden 2008, S. 424–448, hier: S. 434 u. 437. 83 Julia Rosch, Autopsie der Schnipsel. Vor zwanzig Jahren besetzten Bürger die Stasi-Zentrale in Berlin und retteten Tausende zerrissener Akten. Ein Computerprogramm soll die Papiere wieder zusammensetzen, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS), Nr. 1 vom 10.01.2010, S. 46. 84 BStU (Hrsg.), Neunter Tätigkeitsbericht, Berlin 2009, S. 6. 85 O.V., Aufarbeitung mit Zukunft, in: Der Spiegel, Nr. 13 vom 29.03.2010, S. 15.
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V. Die BStU: Zwischen Unabhängigkeit und Politisierung Die 20-jährige Arbeit der BStU hat trotz der vielfältigen Kritik aus den unterschiedlichsten Richtungen und den kampagnenartigen medialen Scoops,86 einen zentralen institutionellen Anteil an der grundsätzlichen Erfolgsgeschichte der SED-Diktaturaufarbeitung. Entstanden aus einem einmaligen Transformationsprozess eines politischen Systems, initiierten zunächst Bürgerrechtler, dann die Volkskammer und im Anschluss die Bundesregierung in mutigen Handlungen und Entscheidungen eine einzigartige Behörde und einen rechtlichen Rahmen, der weiterhin auch international beispielgebend für einen möglichen Weg einer Diktaturaufarbeitung bleibt. Einerseits bemühte sich die Behördenleitung, namentlich Joachim Gauck und Marianne Birthler, um eine bürgernahe und menschliche Ausgestaltung „ihrer“ Behörde, andererseits strebten sie nach einer gesamtdeutschen Legierung. In der Tat ist der Einfluss der SED-Diktaturaufarbeitung, nicht nur wegen der bislang rudimentär ausgeleuchteten MfS-Einflussnahme auf den Westen, ein gesamtdeutsches- oder gar gesamteuropäisches Moment; die Transformation als solche, mitsamt ihrem Entschluss zu einer frühen Aufarbeitung, veränderte die gesamte Nation in den letzten 20 Jahren nachhaltig und bildet u. a. eine positiv konnotierte Identifikationsmöglichkeit aus. Eine friedlich-revolutionär entstandene „Apotheke gegen das Vergessen“ mit einem Arbeitsarchiv als „Herzstück“ erscheint als Identitätsreservoir deutscher Freiheitstradition, wenn auch in der heutigen Form nur auf Zeit, gut geeignet, dass weitere Zusammenwachsen zu befördern. Trotz der dargestellten Konfliktlinien, die wie immer in Deutschland, wenn es um Fragen der Vergangenheit geht, nicht entlang der Parteigrenzen, sondern quer durch die Parteien und politischen „Lager“, häufig eine (mediale) Eigendynamik entwickelnd und sich vom ursprünglichen Thema immer weiter entfernend, verlaufen, bewiesen sich die BStU und das StUG – bei sieben Novellierungen – in ihrem Kern als wetterfest. Erwähnt seien an dieser Stelle lediglich die frühe Generalamnestie-Debatte, die „Kohl-Urteile“ und das Gedenkstättenkonzept mit Grundsatzdebatte im Sommer 2007, welche die ursprünglich sehr weitreichende Unabhängigkeit der Behörde immer weiter einschränkten und zugleich auch politisierten. Zeigte besonders die Grundsatzdebatte den bundespolitisch nachlassenden Einfluss der Bürgerrechtsbewegung, kann dem Generalvorwurf, die BStU würde den Blick auf das MfS verengen – maßgeblich ein Ausfluss aus dem 86 Unzählige, in diesem Beitrag nicht thematisierte mediale Aufdeckungen begleiteten die BStU bislang; zuletzt der „Skandal“ um ein politisches Engagement im Jahr 1971 (!) von Direktor Hans Altendorf, siehe: Constanze von Bullion, „Ein grober politischer Fehler“. Der Direktor der Stasiakten-Behörde wird von seiner eigenen Biographie eingeholt, in: Süddeutsche Zeitung vom 09.03.2010, S. 6, und der das MfS mit dem rechtstaatlichen BND und Verfassungsschutz gleichsetzende Günter Grass, siehe: Stefan Alberti, Der Feind Nummer eins, unter: taz.de, http://www.taz.de/1/leben/buch/artikel/ 1/der-feind-nummer-eins [19.04.2010].
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Kohl-Urteil, aber auch mancher Organisation aus der Politikdimension „Ost“ – nicht in dieser Breite entsprochen werden. Denn positiv ausgedrückt hat die BStU die Aufarbeitung, zunächst aus Opferperspektive verständlicherweise, auf den unmittelbaren Unterdrückungsapparat gerichtet, was das Bundesarchiv qua Archivgesetz und personeller Struktur gar nicht hätte leisten können. „Stasi in die Produktion!“ war eine der bürgerbewegten Parolen, die von Joachim Gauck in seiner Behördenaufbauarbeit dann auch berücksichtigt wurde und die, neben vielen anderen Aspekten, auch für den inneren Frieden verantwortlich gewesen ist. Weiterhin war dem BStU bereits die politische Bildung in die Wiege gelegt, die den behördlichen Blick, wie anhand von Publikationen, Ausstellungen und Vortragsveranstaltungen eindrucksvoll nachgewiesen werden kann, auch auf die Aufarbeitung der DDR-Alltagskultur richtet. Der Grundimpuls der friedlichen Revolution: Wahrheit, Transparenz und Selbstbestimmung ist auch 20 Jahre nach der „Wende“ noch nicht aufgebraucht. Das Beispiel BStU zeigt, dass hier noch eine ungewisse Zeit weitere Arbeit getan werden muss, eventuell noch über das Jahr 2019 hinaus. Konkret heißt das für die BStU unter weiter zu prognostizierendem Stellenabbau und Kostendruck die immer noch hohen Aktenanfragen zu bearbeiten, Akten zu erschließen, die Rekonstruktion, die erst am Anfang steht, zu forcieren und weiterhin die politische Bildung in Zusammenarbeit mit anderen Institutionen gegen eine zunehmende DDR-Verklärung in Stellung zu bringen. Diese Aspekte zeigen zudem, dass auch die ernstzunehmende politische Kritik, die jeweils eine Überführung der Aktenbestände und Historisierung der DDR-Aufarbeitung zum Ziel hatte, an der Behörde bislang verfrüht (Brandenburg!) war und überwiegend Selbstzwecken diente und deshalb auch nicht treffsicher gewesen ist. Als eindrucksvolle Belege der erfolgreich zurückliegenden Arbeit beeindrucken weniger die absoluten Zahlen der über sechs Millionen Eingänge von Anträgen und Ersuchen, sondern die erfreuliche Botschaft, dass lediglich nur zwei Prozent der DDR-Bevölkerung mit dem MfS konspirativ zusammengearbeitet haben, so dass die These stichhaltig widerlegt werden konnte, die Arbeitsakten des MfS wären grundsätzlich unglaubwürdig und letztens, dass die MfS-Zersetzung und -Desinformation beide Teile Deutschlands betrafen und insofern von einer gesamtdeutschen Institution gesprochen werden muss. Dies zu einigen wenigen innenpolitischen Bereicherungen der politischen Kultur. Die BStU wirkte aber, wie gezeigt, auch außenpolitisch als „Demokratieexport“, sogar in anderen Kontinenten. Da die Rahmenbedingungen wie stabile politische Strukturen, finanzielle Mittel und mündige, verantwortungsbewusste Bürger, die die Grundsätze einer Rechtsordnung achten, auch auf den Vereinigungsfall Korea zutreffen, drängt sich die Vorbildnahme einer solchen Behörde und eine Aufarbeitung ohne Sperrfristen geradezu auf. Durch die institutionelle Stärkung der Persönlichkeitsrechte der Opfer gegenüber den Tätern lässt sich die
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Tendenz moderner Diktaturen, ihre Delikte zu verrechtlichen, erfolgreich unterminieren. Zuletzt sei noch, freilich ohne Zynismus hinsichtlich der SED/MfS-Opfer, angemerkt, dass es sich trotz der Behinderungen, die sich aus dem novellierten West-Ost-Kompromissgesetz (StUG) ergeben haben, bei der BStU und dem Prinzip der frühen Aktenöffnung um einen Glücksfall für die gesamte geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung handelt. Kaum eine seriöse Arbeit der Deutschlandforschung und darüber hinaus kommt ohne eine Anfrage bei der BStU aus. Denn der Einfluss der SED und des MfS dürfte in Zukunft die eigene Nabelschau durch das Brennglas eines diktatorischen Geheimdienstes um erhebliche Dimensionen erweitern. Der politische und wissenschaftliche Pluralitätsgewinn, der über die interne wie externe Forschung verläuft, wird in Zukunft noch für manche interessante Forschungsergebnisse und Neubewertungen (Karl-Heinz Kurras) sorgen.
Die Herstellung der Einheit Deutschlands und das Schul- und Bildungswesen in den neuen Bundesländern in den Jahren zwischen 1990 und 2010 Skizzen einer Zwischenbilanz und Perspektiven Von Dieter Schulz I. Vorbemerkung Die Begeisterung über die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten als Ergebnis der „Friedlichen deutschen Revolution“ des Jahres 1989 erfasste nahezu ausschließlich die Staats-, Wirtschafts- und Währungsunion. Der Bereich der „Bildungsunion“ blieb dabei weitestgehend unbeachtet, obwohl er ein zentraler Punkt im Forderungskatalog der Mitglieder der Bürgerrechtsbewegungen in der ehemaligen DDR war. Der „Vertrag zur deutschen Einheit“ formuliert zu den Stichworten „Bildung“ und „Schulwesen“ nur äußerst allgemein, indem er feststellt: „Die bei der Neugestaltung des Schulwesens erforderlichen Regelungen“ seien Angelegenheit der Länder. Der Komplex „Lehrerbildung“ wurde sogar völlig ausgeklammert.1 Auch in der „Denkschrift“ zum Einigungsvertrag findet sich keine weitergehende Detaillierung, lediglich der erneute allgemeine Hinweis, dass das „Bildungswesen einen wesentlichen Beitrag zum politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erneuerungsprozess in dem beitretenden Gebiet“ zu leisten habe.2 Wenn auch in zahlreichen offiziösen und offiziellen Verlautbarungen immer wieder die besondere Bedeutung des Schul- und Bildungswesens angesprochen, ja ihm sogar deklamatorisch eine Schlüsselfunktion zugeordnet wurde, so zeigt sich in einer bilanzierenden Rückschau, dass marktwirtschaftliche Strukturfragen und der mit Tageserfolgen verbundene ökonomische, technische und soziale Erneuerungsprozess letztendlich höher eingestuft wurden. Gemäß dem föderalistischen Verständnis und der damit verbundenen Kulturhoheit der Länder wurde die Lösung der drängenden Aufgaben in neu zu schaffende Strukturen verlagert, die 1 Vgl.: Der Vertrag zur deutschen Einheit. Frankfurt am Main, Leipzig 1990, S. 84 ff. 2 Denkschrift zum Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands, in: Grieger, Helmut (Hrsg.), Sammlung Deutsche Gesetze, Bd. 1: Wiedervereinigungsrecht, Berlin 1990, S. 943.
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erst allmählich selbst zu ihrer Eigenständigkeit fanden.3 Eine Leit- und Orientierungsfunktion erhielten dabei die Beschlüsse und Empfehlungen der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder (KMK) sowie die in den Jahren zwischen 1949 und 1990 getroffenen Vereinbarungen der „alten Bundesländer“ untereinander.4 Welche z.T. extrem unterschiedlichen Rahmenbedingungen und Organisationsstrukturen gegeben waren, belegt ein umfangreicher und äußerst detaillierter „Vergleich von Bildung und Erziehung in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik“, der von einer wissenschaftlichen Kommission unter der Leitung von Professor Dr. Oskar Anweiler erarbeitet und 1990 in der Reihe „Materialien zur Lage der Nation“ veröffentlicht wurde.5 Die hier getroffenen Feststellungen deuten das Ausmaß an Aufgaben an, das zu berücksichtigen war und ist, um ein leistungsfähiges Bildungssystem in allen Bundesländern zu entwickeln. II. Schulreform im Spannungsfeld von Erwartung und Realität Die Aufbruchstimmung zum Zeitpunkt der deutschen Einheit war von einer Fülle von Visionen gekennzeichnet, die in ihrer unverbundenen Addition jedoch kein Gesamtkonzept bildeten. Sie umfassten u. a. die Stärkung des elterlichen Erziehungsrechts, Rücknahme des Staates im Rahmen seiner subsidiären Pflichten, Entideologisierung, Demokratisierung, Pluralität des Schulsystems, Selbständigkeit des Lehrers und des Schülers, Öffnung von Schule, Autonomie und Kreativität. Diese Forderungen waren Ausdruck von zahlreichen Reforminitiativen, wie sie bis weit vor die Zeit des „IX. Pädagogischen Kongresses“ der DDR (13.6. bis 16.6.1989) zurückreichten.6 Sie kennzeichnen einen „Reformstau“ aus der Zeit vor der „Friedlichen Revolution“, der insonderheit den Wunsch nach einem inneren Wandel der Schule umschreibt. Die seit dem Herbst 1989 auf allen gesellschaftlichen und politischen Ebenen lawinenartig rollenden Reformprozesse und Veränderungen orientierten sich – nach Perspektiven suchend – an den Schulsystemstrukturen der alten Bundesländer. Es war vor allem immer wieder die Frage nach der Vergleichbarkeit und der Anerkennung von Schulabschlüssen, die die weitere öffentliche Diskussion und den argumentativen Handlungsbedarf nahezu ausschließlich auf die Ebene der äußeren Schulreform führte. 3 Die Währungs- und Wirtschaftsunion wurde mit dem 1. Juli 1990 vollzogen; die fünf neuen Bundesländer wurden in ihren Zuständigkeiten am 14.10.1990 gebildet. 4 Eine zentrale Bedeutung bekamen die differenzierten Regelungen des „Hamburger Abkommens“ vom 28. Oktober 1964. 5 Anweiler, Oskar u. a. (Hrsg.), Vergleich von Bildung und Erziehung in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik, Köln 1990. 6 Vgl. Birthler, Marianne: Erwartungen und Visionen 1989, in: Schmitt, K. (Hrsg.), Fünf Jahre Neugestaltung des Bildungswesens in den neuen Bundesländern, Berlin 1996, S. 9–18.
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Die unbestritten zahlreichen Versuche engagierter Lehrer und Lehrergruppen, Schule in Eigeninitiative neu und anders zu gestalten, dokumentieren die Sehnsucht, die (wieder-)gewonnene pädagogische Freiheit verantwortungsvoll zu gestalten. In diesem Zusammenhang sei stellvertretend auf eine Leipziger Bürgerinitiative und ihr Wirken aufmerksam gemacht: „. . . Ende November 89 hatte ich schon etliche Bettlaken für Transparente verbraucht. Deshalb trug ich nun immer wieder dasselbe Pappschild mit der Aufschrift ,WIR WOLLEN FREIE SCHULEN‘. Niemand wusste damals, was das war. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt immerhin eine etwas unbestimmte Ahnung davon und wusste ziemlich sicher, was ich nicht mehr wollte. Wer die größten Wohnzimmer hatte, versammelte wöchentlich mindestens eine der vielen Bürgerinitiativen bei sich zu Hause. Ich war fasziniert von der Initiative Freie Pädagogik. Im Januar und im April 1990 veranstalteten wir mit dieser Initiative, einem kleinen Häuflein von Künstlern und Ärzten, zwei große Pädagogische Symposien in der Leipziger Universität mit mehr als fünftausend Teilnehmern aus allen Ecken und Enden der DDR und mit einigen hoch angesehenen, überwiegend westdeutschen Schulreformern. Wir nannten die Veranstaltung an den beiden Wochenenden ,Forum Freie Pädagogik‘. Die Deutsche Lehrerzeitung veröffentlichte ein halbes Jahr später einige Vorträge in einer Sonderausgabe.7 Die Westmedien hatten das Thema noch nicht entdeckt. Aber wir hatten die Westmedien auch noch nicht für uns entdeckt. So hatten diese beiden pädagogischen Fachkonferenzen zunächst nur Folgen für die Beteiligten selbst. Es kamen Schulgründer wie Hartmut von Hentig von der Laborschule Bielefeld, Dietmar Rose von der Glockseeschule Hannover, Otto Herz von der Odenwaldschule und Ingo Krampen vom Verband der Freien Waldorfschulen zu uns nach Leipzig. Hartmut Schrewe vom Schulamt Wetzlar vertrat die Perspektive der Schulaufsicht und Hans Christoph Berg die Erziehungswissenschaften. Johann Peter Vogel von der Bundesarbeitsgemeinschaft Freier Schulen klärte uns über die schulrechtlichen Möglichkeiten auf und ermunterte uns zu Vorschlägen für eigene Schulgesetze. Unser Enthusiasmus war grenzenlos! Einige Waldorflehrer aus dem Westen brachten Schülerarbeiten ihrer Kinder mit und dekorierten damit die Vitrinen und Innenräume der Karl-Marx-Universität. Der hässliche Hörsaalbau schien damit völlig verwandelt. Schon an diesen Äußerlichkeiten spürte jeder Forumsteilnehmer, dass Schule auch ganz anders sein kann. Voller Neid blickten wir zum ersten Mal nach Holland und Dänemark, wo seit Jahrzehnten Schulsysteme entstanden waren, die auf dem Vertrauen zwischen Zivilgesellschaft und Staat beruhen. Mehr als zwei Drittel der Schulen in Bürgerhand! Das war völlig unvorstellbar in der DDR, wo seit sechzig Jahren – auch die Nazidiktatur hatte irgendwann Freie Schulen verboten – allein der Staat über alle Schulen herrschte. Die nachfolgend abgedruckte ,Leipziger Erklärung zur Schulfreiheit‘ schickten wir mit sage und schreibe 5.000 Unterschriften im April 1990 an das Berliner Bildungs7 Deutsche Lehrerzeitung. Hier: FORUM FREIE PÄDAGOGIK. DLZ-Sonderdruck in Zusammenarbeit mit der „Initiative Freie Pädagogik Leipzig“, Neubrandenburg 1990.
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ministerium. Ob sie dort gelesen wurde und was damit passiert ist, weiß ich nicht. Aus Berlin gab es jedenfalls keine Reaktionen. Vielleicht sollte noch einmal danach gesucht werden?“8
Tabelle 1 „Initiative Freie Pädagogik, Leipzig im April 1990“ Leipziger Erklärung zur Schulfreiheit I. Mehr Freiheit für alle Schulen – warum? Zivilcourage hat den staatlichen Rechtsrahmen gesprengt. Auch Bildung und Erziehung sind im Aufbruch. Jetzt wollen wir als Bürger die Schulen umgestalten. Aus der Krise der Staatsschulen können neue Konturen erwachsen. Ursprünglich mag die Verstaatlichung des Schulwesens ein Fortschritt in Richtung „Bildung für alle“ gewesen sein. Am Recht auf Bildung für alle und an der allgemeinen Schulpflicht soll nicht gerüttelt werden. Aber Schulpflicht darf erstens nicht länger zur Staatsschulpflicht verengt werden. Schulpflicht darf zweitens nicht länger zur Indoktrination des Volkes missbraucht werden. Schulen gedeihen besser in Bürgerhand als in Staatshand. Schaffen wir mehr Freiheit für alle Schulen. II. Mehr Freiheit für alle Schulen – aber wie? 1. Jeder Mensch hat das Recht auf Entfaltung seiner Persönlichkeit. Jeder Mensch hat das Recht auf Bildung. 2. Im Interesse der Kinder haben die Eltern das Recht auf freie Wahl der Schule. 3. Der Staat muss eine Vielfalt von Schulen in staatlicher, kommunaler und freier Trägerschaft gewährleisten. Wir fordern Schulchancengleichheit – rechtlich und finanziell. 4. Jede Schule erhält das Recht auf demokratische Selbstverwaltung und auf Verwirklichung eigener pädagogischer Konzepte. Sie gestaltet Unterricht, Erziehung und Schulbetrieb in eigener Verantwortung. Lehrer und Erzieher brauchen mehr pädagogische Freiheit. Sie müssen ihr Konzept offen legen, damit die Eltern begründet wählen können. 5. Eine neu zu schaffende, öffentliche und unabhängige Schulaufsicht überwacht Chancengleichheit, Mindeststandard und Gleichwertigkeit (nicht Gleichartigkeit) der vielfältigen Bildungsgänge, -einrichtungen und -abschlüsse. Schulverwaltung und Schulaufsicht müssen getrennt werden. 6. Auch in der Lehrerbildung müssen Freiheit und Vielfalt rechtlich und finanziell gewährleistet werden. Die gegenwärtige Situation ermöglicht und erfordert den Aufbau eines zweiten Bildungsweges für Lehrer. Quelle: Urban, Elke (Fn. 8).
8 Urban, Elke, Neue Schulen in Sachsen – was ist aus dem Reformaufbruch vor zwanzig Jahren geworden?, in: Dresdner Hefte, Heft 97/2009: „Zwischen Reform und Restriktion – Sächsische Schulgeschichte im 20. Jahrhundert“.
Das Schul- und Bildungswesen in den neuen Bundesländern
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Die überwiegende Mehrzahl der Versuche verebbte in sich schnell auflösenden Aktionismen, die von einer nicht mehr bzw. noch nicht wieder gefestigten Schuladministration lediglich zeitlich toleriert, nicht jedoch gefördert wurden. Die Öffentlichkeit als solche war aufgrund der Problemvielfalt, vor allem in ökonomischen und sozialen Bereichen, nur marginal interessiert. Nach der am 3. Oktober 1990 vollzogenen deutschen Einheit wurden deshalb bildungspolitische Diskussionen eher am Rande geführt. Politische sowie personelle Umschichtungen verlagerten die Handlungsfelder. Nachdrücklich muss betont werden, dass „Schule“ ohne jede zeitliche Unterbrechung weiter gestaltet wurde, und zwar von den gleichen Lehrern, deren wesentlicher Berufsauftrag sich bislang u. a. in einer System stabilisierenden und Ideologie verstärkenden Aufgabenstellung formulierte. Persönliche und allgemein politische Verunsicherung, verstärkt durch existentielle Sorgen, waren jedoch nicht der geeignete Nährboden für die erforderlichen Innovationen. Zwar war man seitens der Gesetzgeber in den sich neu konstituierenden Bundesländern bemüht, punktuell Zeit zu gewinnen. Aber auch mit den sog. „Vorläufigen Gesetzen“ wurden bereits strukturelle Grundsatzentscheidungen getroffen, die zeitversetzt nicht mehr beliebig verändert werden konnten. Ein wesentlicher Einfluss ging bei der Neugestaltung des Schul- und Bildungswesens von den „Patenschaften“ aus, die einzelne Länder der alten Bundesrepublik für die fünf neuen Länder übernahmen: • Brandenburg
Nordrhein-Westfalen
• Mecklenburg-Vorpommern
Schleswig-Holstein
• Sachsen
Baden-Württemberg
• Sachsen-Anhalt
Niedersachsen
• Thüringen
Rheinland Pfalz/Hessen.
Zunächst war nur an eine administrative Aufbauhilfe gedacht, um die erforderlichen Verwaltungsstrukturen gemäß den veränderten Bedingungen zu schaffen. Diese Unterstützungen haben auch unbestritten zur Beschleunigung der Neustrukturierung beigetragen. Sie haben aber auch den Vorgang der im Einzelfall unreflektierten Adaptation forciert und innovative Akzente, die die neuen Länder durchaus mit ihrer Autonomie in der Gesetzgebung zur Verfügung hatten und haben, in ihrer Wirkung mehr oder minder bewusst wieder aufgehoben. Oder anders formuliert: das Vakuum an fehlenden Rechtsverordnungen und Verfahrensvorschriften für die neuen Strukturen wurde durch simples Angleichen und oftmals durch schlichtes Abschreiben scheinbar vergleichbarer Regelungen der Patenländer „geflutet“. Das gilt auch für die Bereiche, wo sich Neuentwicklungen abzeichneten.9
250
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Es ist festzuhalten: die emotionale Befindlichkeit der Bürger in den neuen Ländern ist im Bildungsbereich nicht ernsthaft wahrgenommen und berücksichtigt worden. Oder anders formuliert: Es konnte auch nicht dadurch alles automatisch besser werden, indem es so „umgestellt“ wurde wie es zu diesem Zeitpunkt in den alten Ländern war. Denn es ist in diesem Zusammenhang auch kritisch zur Kenntnis zu nehmen, dass die scheinbar „fürsorglichen Patenschaften“ zu einer Zeit installiert worden waren und griffen, als man sich in den alten Bundesländern aus differenzierten (gesellschaftlichen und demografischen) Gründen anschickte, die Bildungspolitik neu zu vermessen. Hierauf wird nochmals zurück zu kommen sein. Und doch: So negativ sich diese Vorgehensweise einerseits darzustellen scheint, so muss zugleich mit Nachdruck betont werden, dass es keine chancenreiche Alternative gab. Die aus der inzwischen bestehenden „historischen Distanz“ punktuell vorgetragenen Einlassungen, man hätte alles viel mehr bedenken und zugleich die Chance wahrnehmen müssen, die zahlreich angestauten und offenen Fragestellungen und Probleme im Schul- und Bildungssystem der alten Bundesländer zu revidieren, taugen nicht. Sie formulieren politisch ein situativ Beifall heischendes, aber letztlich völlig unrealistisches Szenario. Der deutschdeutsche Vereinigungsprozess kann zwar heute aufgrund einer sorgfältig geleisteten Analyse der einzelnen Handlungsfelder mittel- und langfristig sicherlich ein gemeinsames Problembewusstsein der 16 Bundesländer schärfen und somit politisches Handeln möglicherweise neu vermessen. Er konnte aber unter den historischen Entscheidungserfordernissen nicht zugleich der geeignete Zeitpunkt sein, den facettenreichen, äußerst unterschiedlich begründeten Reformstau im Schulund Bildungswesen aller Bundesländer zugleich aufzulösen. III. Zur Strukturierung des Schulwesens Im Bereich des Allgemeinbildenden Schulwesens hatten alle fünf neuen Bundesländer sich dafür entschieden, an die Stelle der früheren Einheitsschule (POS/ EOS) die vierjährige Grundschule zu setzen. Eine Ausnahme bildete das Land Brandenburg. Hier erfolgte eine Anlehnung an die Berliner Strukturentscheidung für eine sechsjährige Grundschule, da man zu diesem Zeitpunkt davon ausging, dass es kurzfristig zu einer Zusammenführung der beiden Bundesländer kommen
9 Es darf auch nicht verschwiegen werden, dass die Patenländer bei der Auswahl der Helfer und „Leihbeamten“ nicht immer besonders qualitativ hoch einzuschätzende Personalentscheidungen getroffen haben. Im Einzelfall durchschauten diese die rechtlichen Regelungen des „Entsendelandes“ selbst nicht. So wurden z. B. im Freistaat Sachsen Entwürfe von Rechtsverordnungen aus dem Kultusbereich des Landes Baden-Württemberg abgeschrieben und mit Rechtskraft versehen, obwohl sie im „Patenland“ noch nicht einmal den Entwurfsstatus überschritten hatten.
Das Schul- und Bildungswesen in den neuen Bundesländern
251
werde. Auf die vierjährige Grundschule baut ein jeweils mehrgliedriges Sekundarschulwesen auf: So „stimmig“ sich nach zehn Jahren deutscher Einheit das erreichte differenzierte Schulsystem aus den fünf Strukturskizzen in den neuen Bundesländern darstellt, so heftig war der Parteienstreit, der die gesetzgeberischen Entscheidungen begleitete. Die bildungspolitischen Konfliktlinien verliefen vorrangig im außerparlamentarischen Raum. Dabei ging es vor allem um die seit Jahren geführte Kontroverse zwischen Befürwortern und Gegnern der gegliederten bzw. integrierten Sekundarstufe I, wie sie bereits seit Jahren in den alten Bundesländern geführt wurde. Obwohl die zahlreichen Regelungen der KMK gewisse Handlungsspielräume einengten, ist es überraschend, welche Gestaltungsvariationen innerhalb der Schulstrukturen dennoch gewählt wurden. So hatten sich die Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen dafür entschieden, eine zweigliedrige Struktur der Sekundarstufe I einzuführen.10 Die Diskussionen bezüglich einer aktualisierenden Revision in den „alten“ Bundesländern konnten bis in die aktuellen Entscheidungen davon profitieren.11 IV. Elternrecht und Wahl des Bildungsganges Ohne dass im Weiteren zu den Schulstrukturfragen in den neuen Bundesländern Details dargelegt werden sollen, muss auf besondere Rückkopplungseffekte hingewiesen werden, die von der grundsätzlichen Neufassung des Elternrechts ausgingen. Ab sofort spielten nicht mehr volkswirtschaftliche Planungsdaten, Parteilichkeit und systemkonforme bzw. klassenmäßige Verbundenheit bei der Vergabe des Zugangs zu weiterführenden Bildungseinrichtungen die entscheidende Rolle. In den schulgesetzlichen Regelungen aller neuer Bundesländer wurde jetzt das Recht der Eltern auf die freie Wahl des Bildungsganges ihrer Kinder aufgenommen und umgesetzt. Hiermit wurde einer zentralen Forderung der „Runden Tische Bildung“ uneingeschränkt entsprochen. Zunächst gab es vor allem in den ersten drei Jahren Entscheidungshäufungen zugunsten des Gymnasiums, die einerseits aus der Sicht bislang bildungsbenachteiligter Bevölkerungsschichten mehr als verständlich waren. Sie stellten aber andererseits die Schuladministration und den einzelnen Schulträger vor allem in städtischen Ballungszentren vor gewaltige Aufgaben. Wenn sich auch diese Ungleichverteilungen gegen Ende des ersten Jahrzehnts der Vollendung der deutschen Einheit wieder einpendelten, gibt es durch die fa10 Geringfügige Veränderungen ergaben sich jedoch durch Landtagswahlen bedingte neue Parteienkonstellationen. Konsequent eindeutig verhält sich bis zur gegenwärtigen Situation der Freistaat Sachsen. 11 Vgl. u. a. Rösner, Ernst, Neue Schulformen zwischen Dreigliedrigkeit und Integration. Strukturen, Akzeptanz und Entwicklungsperspektiven, in: Forum E, 47 (1994) 2, S. 7–10.
252
Dieter Schulz
cettenreichen Diskussionen um die Ergebnisse und Schlussfolgerungen aus den internationalen Schulleistungsstudien, wie TIMSS12 und PISA13 sowie aus der nationalen Studie IGLU14 und den im Zweijahresrhythmus erscheinenden Berichten „Bildung in Deutschland“15 eine erforderlich lebhafte und weitestgehend konstruktive Diskussion. V. Durchlässigkeit und Differenzierung In besonders großzügiger Form wurde in der ersten Konsolidierungsphase nach der „Friedlichen deutschen Revolution“ das Schlagwort „Chancengleichheit“ interpretiert, um aus der Sicht der Eltern Bildungsgänge auch für Kinder und Jugendliche zu reklamieren, die dem gegebenen Leistungspotential zum aktuellen Zeitpunkt des Schulwechsels noch nicht entsprechen. Oder anders formuliert: die Sorge der Eltern, einen scheinbar höheren Bildungsgang für ihre Kinder nicht rechtzeitig in Anspruch zu nehmen, führte zu einer zeitweiligen Überfrequentierung des historisch scheinbar so bekannten und doch zugleich inhaltlich weitestgehend unbekannten Gymnasiums. Tatsächlich ist aber die Durchlässigkeit eines der wesentlichen Kriterien eines gegliederten Schulwesens, an dem das Postulat „Chancengleichheit“ im Verständnis von „Chancengerechtigkeit“ gemessen werden kann. Die gesetzgeberischen und administrativen Vorgaben waren zwar auf der Grundlage der KMK-Vereinbarung über die „Anerkennung mittlerer Schulabschlüsse“ vom 26. Juni 1992 bereits in allen neuen Bundesländern in zahlreichen Variationen geschaffen worden. Aber aufgrund der u. a. fehlenden Beratungserfahrungen von Lehrern des Primarbereichs und des Sekundarbereichs und der Irritationen von Eltern wurde diesen Formen des zeitlich versetzten Beginns eines individuum-adäquaten Bildungsganges mit großer Skepsis begegnet. 12 Third International Mathematics and Science Study. Hier handelt es sich um eine international vergleichende Schulleistungsuntersuchung, die seit 1995 im vierjährigen Turnus von der International Association for the Evaluation of Educational Achievement (IEA) durchgeführt wird. Es werden Mathematik- und Naturwissenschaftsleistungen in der Grundschule, in der Sekundarstufe I und II untersucht. 13 Programme for International Student Assessment. Hier handelt es sich um internationale Schulleistungsuntersuchungen, die seit dem Jahr 2000 im dreijährigen Turnus in den meisten Mitgliedstaaten der OECD und einer zunehmenden Anzahl von Partnerstaaten durchgeführt werden. Sie haben zum Ziel, Alltags- und berufsrelevante Kenntnisse und Fähigkeiten von 15-Jährigen zu messen. 14 IGLU ist die deutsche Abkürzung für die Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung. Die internationale Bezeichnung ist PIRLS (Progress in International Reading Literacy Study). Mit dieser Studie wird seit 2006 das Leseverständnis von Schülern der vierten Jahrgangsstufe international vergleichend getestet. 15 „Bildung in Deutschland“ erscheint seit 2006 alle zwei Jahre als umfassende und empirisch fundierte Bestandsaufnahme des deutschen Bildungswesens, und zwar von der frühkindlichen Bildung, Betreuung und Erziehung über die allgemeinbildende Schule und die non-formalen Lernwelten im Schulalter, die berufliche Ausbildung und die Hochschulbildung bis hin zur Weiterbildung im Erwachsenenalter.
Das Schul- und Bildungswesen in den neuen Bundesländern
253
Die Ursachen sind nachvollziehbar, denn die im DDR-Einheitsschulsystem erworbene berufliche Sozialisation von Lehrern, aber auch die eigenbiographischen Erfahrungen der Eltern und Großeltern der Kinder und Jugendlichen gestatteten in der Geschwindigkeit der Veränderungen nur eine begrenzte Einsicht. Verstärkt wurde das wenig differenzierende Wahlverhalten durch eine voreilige Extrapolation des zukünftigen Arbeitsmarktes. Die einseitige Interpretation des Begriffes „Leistungsgesellschaft“ vor dem Hintergrund individuell und situativ erfahrener „beruflicher Freisetzungen, Umschichtungen und Abwicklungen“ bewirkte zusätzlich ein Übriges. Ohne dass 20 Jahre danach von einer tatsächlichen Ausbalancierung gesprochen werden kann, scheinen die differenzierten Bildungsangebote des gegliederten Schulsystems aber inzwischen zu greifen; die deutlich veränderten Übergangsfrequenzen sind ein wesentlicher Indikator dafür. Die im Zusammenhang wahl- und machtpolitischer Auseinandersetzungen wenig tiefgründige „Erinnerungsdiskussion“ kann darüber nicht hinwegtäuschen. Einen in der Tat zielführenden Qualitätsimpuls erfährt jedoch die seriöse bildungspolitische Auseinandersetzung durch die verantwortliche Aufarbeitung der Ergebnisse nationaler und internationaler Schulleistungsstudien. Auch hier ist ein aufmerksames Hinschauen geboten, da die sich als erforderlich erweisenden Änderungen strategisch auch als „trojanisches Pferd“ nutzen lassen. „Schulen in freier Trägerschaft“ und „freie Schulversuche“ zählen zu den herausragenden Kennzeichen eines gegliederten Schulsystems. Sie waren in den Jahren 1989/90 auch ein wesentlicher Punkt des Forderungskatalogs der „Runden Tische Bildung“. Zwar gab es von Einzelschulen in Berlin und Magdeburg abgesehen (beide Schulen befanden sich in kirchlicher Trägerschaft) auf dem Gebiet der ehemaligen DDR keinerlei Schulen in freier Trägerschaft. Aber nach der Verabschiedung der länderspezifischen Schulgesetzregelungen und Verwaltungsvorschriften entwickelte sich die Zahl der allgemeinbildenden Schulen in den neuen Bundesländern rasant. Im Vergleich zu den öffentlichen Schulen in staatlicher Trägerschaft überschreitet ihr prozentualer Anteil das „frühere Bundesgebiet um nahezu 20 %. Ohne dass im vorliegenden Zusammenhang die länderspezifischen Ergänzungsfinanzierungen u. a. durch das Elternhaus dargelegt werden können, darf jedoch festgehalten werden, dass seit 2006 die Nachfrage um Schulen in Freier Trägerschaft in den neuen Ländern deutlich über dem Bundesdurchschnitt liegt. Dieses ist umso erstaunlicher, da die immens hohe Arbeitsmarktmigration eine stetig sinkende Gesamtschülerzahl zur Folge hat. Differenzierte und emotional durchaus bedrückende Zahlen und hoch auflösende Analysen wurden in jüngster Zeit von Professor Günther Heydemann (Leipzig) vorgelegt.16 16 Heydemann, Günther, Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung im vereinten Deutschland zwischen Wachstums- und Schrumpfungsprozessen, in: Historisch-Politische Mitteilungen. Archiv für Christlich-Demokratische Politik. Im Auftrag der Konrad-
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Dieter Schulz Tabelle 2 Private Allgemeinbildende Schulen 1992 bis 2008 Deutschland, gesamt in %
1992
1995
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
4,5
4,9
5,5
5,8
6,2
6,4
6,9
7,5
7,9
8,5
8,8
Früheres Bundesgebiet, gesamt in % 1992
1995
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
5,8
6,0
6,3
6,4
6,7
6,8
7,2
7,5
7,8
8,2
8,3
Neue Länder, einschl. Berlin, gesamt in % 1992
1995
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
1,4
1,9
3,3
3,8
4,6
4,9
5,8
7,3
8,5
9,9
10,7
Quelle: Statistisches Bundesamt. Fachserie 11 Reihe 1.1 Bildung Kultur. Private Schulen. Schuljahr 2008/09. Veröffentlicht am 29.10.2009. Statistisches Bundesamt, Wiesbaden 2009. Internet: www.destatis.de/ Kontakt.
VI. Veränderte Akzente im Berufsverständnis des Lehrers Die massive Herausforderung, der sich Lehrer in den neuen Bundesländern gegenübergestellt sahen, war immens, zumal ihre eigene Berufswahl und Ausbildung insbesondere von einer staatstragenden bzw. System stabilisierenden Erwartungshaltung bestimmt waren.17 Vor allem zeigten und zeigen sich gravierende Unterschiede in der Mitwirkung und in der Wahrnehmung der Verantwortung bei der Stoffauswahl, der Methodenfreiheit, der Schülerbeurteilung und im individuellen „Stil“ des Umgangs mit den Schülern und den Eltern. Hier hatte der Lehrer in der alten Bundesrepublik wesentlich mehr Spielraum als sein Kollege in der Deutschen Demokratischen Republik. Die „didaktische Verantwortung des Lehrers“ war in den alten Bundesländern geradezu ein gewichtiger Komplex der Ausbildung, wenn er auch in der zu gestaltenden Schulrealität recht unterschiedlich eingelöst wurde. Besondere Irritationen zeigten sich in dem grundsätzlich anders gegebenen Verhältnis zwischen dem Pädagogen und dem Kind: statt einer normativen Setzung („ich weiß, was für Euch gut ist!“) wurde dem Lehrer ohne Zwischenschritte ein plurales Verständnis vom Interesse des Kindes abverlangt, das sich einem individualisierenden Ansatz verpflichtet sieht und auf dem BeAdenauer-Stiftung e. V. herausgegeben von Günter Buchstab/Hans-Otto Kleinmann, 16. Jahrgang 2009, S. 19–35. 17 Vgl. Schmidt, Gerlind/Schulz, Dieter, Zur Situation des Lehrers in beiden deutschen Staaten, in: Bildung und Erziehung, 43 (1990) 1, S. 51–78.
Das Schul- und Bildungswesen in den neuen Bundesländern
255
wusstsein von „pädagogischer Autorität“ beruht, d. h. nicht allein Amts- und Fachautorität als die entscheidend stabilisierenden Faktoren reklamiert. Damit deutet sich bereits an dieser Stelle das weite Aufgabenspektrum der Lehrerfortbildung an, was in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten zu gestalten und zu leisten war: Sie hatte und hat nicht nur auf neue bzw. auf andere Vermittlungsformen aufmerksam zu machen. Vielmehr muss schrittweise die den Berufsstand konstituierende „Emanzipation des Lehrers“ erreicht und vollzogen werden: denn Pädagogik darf nicht nur eine „dienende Funktion“ erfüllen – womöglich noch im Verständnis eines juristisch vorauseilenden Gehorsams – und sich somit erneut instrumentalisieren lassen. Wenn die „Mündigkeit des Schülers“ das wesentliche Ziel der Erziehung ist, dann setzt dieses immer den mündigen Erzieher, den mündigen Lehrer voraus. Hiermit zeichnen sich weitere Gegenstandsfelder für die Lehrerfortbildung ab. Sie stellen zugleich eine Leitlinie für den Ziel- und Aufgabenkatalog einer grundständig neu zu gestaltenden Lehrerausbildung dar, der sich die Universitäten seit 1991 in allen fünf Ländern mit den veränderten Ausbildungscurricula stellen. Leider kommen die facettenreichen spezifischen Bemühungen in der Schulpraxis bislang nur sehr begrenzt an: So idealtypisch es erscheinen mag, die Neuansätze im Sinne eines gleitenden Übergangs zu fixieren, so vielschichtig war und ist die Gesamtsituation. In Auswahl sei auf einige Kernprobleme verwiesen: Aufgrund der im Einigungsvertrag getroffenen Vereinbarungen sollten alle Lehrer politisch und fachlich evaluiert werden. Dieses bezog sich insonderheit auf die Fachbereiche Fremdsprachen, Geschichte, Sozialkunde/Politik, Religionsunterricht/Ethik.18 Durch das Zurücknehmen u. a. der Unterrichtsfächer „Staatsbürgerkunde“, „Einführung in die sozialistische Produktion“, „Produktive Arbeit“ und „Wehrerziehung“ und die zugleich quantitativ beachtlich rückläufige Nachfrage des Russischunterrichts19 verschoben sich die Lehrerbedarfsquoten beträchtlich. Die Rückgliederung von arbeitsbereichsspezifisch fachfremd eingesetzten Lehrern in den aktiven Schuldienst20, die zu konstatierenden massiven Wanderungsbewegungen von Eltern mit schulpflichtigen Kindern in das Gebiet der alten Bundesrepublik in den Jahren 1989/90,21 die dramatisch einsetzenden 18 Die Evaluierungsmodalitäten wurden durch die sich neu konstituierenden Bundesländer Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen in Übereinstimmung mit dem Einigungsvertrag jeweils eigenständig getroffen. 19 Im Schuljahr 1990/91 wählten bereits 90,8% der Schüler der Klasse 5 Englisch als erste Fremdsprache; lediglich 9,2% wählten Russisch als erste Fremdsprache. 20 Die Rückgliederung betraf ca. 19.000 Lehrer; eine gesicherte Statistik hierüber existiert nicht; die Zahl beruht auf einer persönlichen Telefonabfrage bei den Kultusministerien der fünf neuen Länder im Jahre 1999. 21 Im Jahre 1989 wurden offiziell 343 853 Übersiedler aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland registriert (Quelle: Angaben des Parlamentarischen Staatssekretärs beim Bundesminister des Innern, Horst Waffenschmidt, am 05. Januar 1990).
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demografischen Verwerfungen,22 die deutlich nach oben korrigierte Lehrer-Schüler-Relation und die parallel verlaufende veränderte Besoldungserwartung brachten eine Fülle nicht kalkulierbarer Begleitprobleme. Die „berufliche Entpflichtung“ von besonders politisch involvierten Pädagogen in das Staatssystem der DDR erfolgte durch Personalkommissionen, die ausnahmslos mit Kolleginnen und Kollegen aus den eigenen Reihen und Berufsgruppen zusammengesetzt waren. Es zeigte sich aber, dass das verschiedentlich genutzte Mittel von Arbeitsgerichtsklagen und entsprechender Prozesse ein absolut untaugliches Mittel war und ist, politische Indoktrination zu einem wirksamen Kündigungsgrund zu führen. Mit anderen Worten: die Mehrzahl der gegen ihre Entlassung Klagenden wurden wieder in den Schuldienst oder vergleichbare Ämter eingestellt. Diese Erfahrungen haben bei sehr vielen Lehrern und Eltern zu Enttäuschungen, zu Verbitterungen und zu einer Abkehr vom soeben gefassten demokratischen Engagement geführt. Obwohl vom wiedergefundenen Selbstverständnis des Lehrerberufs her begründet eigentlich Neueinstellungen in erheblichem Ausmaß erforderlich geworden wären, wurden im Sinne von z.T. verständlicher Besitzstandswahrung nicht unumstrittene Solidaritätsaktionen unter (verpflichtender) Reduzierung von Stundendeputaten und Gehältern zwischen einer im Prinzip unerfahrenen Kultusadministration und einer durchaus zielbewussten Lehrergewerkschaft vereinbart (= „Zwangsteilzeitarbeit“). Mit anderen Worten: Während im Zusammenhang der politischen Veränderungen in nahezu allen Bereichen des wirtschaftlichen Lebens in den einzelnen Arbeitsmarktsparten gewaltige Einbrüche zu verzeichnen waren, gab es im Berufsstand des Lehrers nur relativ geringfügige Veränderungen. Aktuell laufen die angesprochenen Vereinbarungen der Tarifpartner aus; die vereinbarte Frist, von dem arbeitsmarktpolitischen Steuerungsinstrument „Bedarfskündigung“ aufgrund der weiterhin rapide sinkenden Schülerzahlen jetzt Gebrauch zu machen, bringt gewaltige innere Spannungen mit sich. Nur relativ wenige Lehrer sind bereit, die ihnen zwangsweise abverlangte Zwangsteilzeitarbeit fortzuführen. Sie reklamieren mit dem Schuljahr 2010/11 in ihre alten Rechte wieder eingesetzt zu werden. Das wiederum hat extreme Rückwirkungen auf die Absolventen der 1. und 2. Lehrerausbildungsphase: einerseits besteht ein eklatanter Fachlehrerbedarf, der mit qualifiziert nachrückenden jungen Kollegen rein rechnerisch besetzt werden könnte und verstandesmäßig auch besetzt werden müsste. Andererseits und stattdessen lehnt es die Kultusadministration aus fiskalischen Gründen ab, Neueinstellungen vorzunehmen. Die Konsequenz ist, dass junge und hochqualifizierte Absolventen sich in den alten Bundesländern bewer22 Die Geburtenzahlen sanken auf dem Gebiet der neuen Bundesländer allein zwischen 1989 (181.985) und 1993 (72.252) auf 39,7% bei weiterhin dramatisch fallender Tendenz.
Das Schul- und Bildungswesen in den neuen Bundesländern
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ben und quasi per Telefonanruf eine verbeamtete, zu 100 % besoldete Lebenszeitstelle zugesagt erhalten. Die scheinbar vorsorglich und fürsorglich getroffenen Vereinbarungen des Sächsischen Staatsministers für Kultus und Sport mit den Amtskollegen in den alten Bundesländern mit der „Zusage einer Rückkehrgarantie ohne Auflagen“ dürften sich als Fehleinschätzung der Gesamtlage erweisen, wie insgesamt die Entscheidung schon kurzfristig einen „Bumerangeffekt“ erkennen lässt. Die Alterspyramide des aktuell tätigen Lehrerstandes dokumentiert, dass man mit Blick auf das hier gewählte Referenzland, dem Freistaat Sachsen, bereits in zwei Jahren bis zu 40 % der Lehrer aus Altersgründen ersetzen muss. Darüber können auch die weiterhin standortbezogen sich verheerend auswirkenden Arbeitsmarktbewegungen nicht hinwegtäuschen. Es ist eine simple Weisheit, dass den grundsätzlichen Lehrerbedarf bereits der Standesbeamte erfasst, wenn er die Säuglinge ins Geburtsregister seiner Gemeinde einträgt. Man ist in diesem Zusammenhang geneigt, zynisch zu konstatieren: für welchen Berufsstand gibt es derartig lange Planungszeiten und Planungssicherheiten! Mit Blick auf die Erwartung und die Notwendigkeit, mittels einer innovationsfreudigen neuen Lehrergeneration Schule gemäß ihrem Auftrag als einen entscheidenden Teilbereich eines demokratischen Staates zu verändern, ließ sich bislang nur völlig unzureichend und unbefriedigend einlösen. VII. Paradigmenwechsel und Lehrerpersönlichkeit Im Gegensatz zu den Berufen in Industrie, Wirtschaft und Verwaltung hat der Beruf des Lehrers nur sehr begrenzt Konsequenzen aus den vielfältigen Wandlungsprozessen ziehen müssen. Ergänzend zu dem bereits Ausgeführten sei nochmals darauf verwiesen: Das sich neu strukturierende Schulsystem wurde von Lehrern gestaltet, die von einer sich völlig anders definierenden Gesellschaftsform beruflich sozialisiert wurden. In der Mehrzahl haben diese Lehrer die neue Struktur nicht gewollt. Ihre bisherigen beruflichen Erfolge leiteten sich aus einem anders definierten Berufsverständnis ab, aus einer anderen pädagogischen Routine. Maßnahmen der Lehrerfortbildung – so wichtig sie sind – greifen bei dieser Ausgangslage trotz immenser Nachfrage nicht in allen Belangen. Die vom Verfasser hier vorgetragenen kritischen Positionen formulieren keine populistischen Anklagen. Sie begründen sich einzig und allein aus dem dramatischen Paradigmenwechsel, der sich durch die „Friedliche deutsche Revolution“ von 1989 für die ehemaligen DDR-Lehrer ergab. Aus der Fülle der hier maßgeblichen Teilelemente sei in Auswahl auf folgende sieben Faktoren verwiesen: • An die Stelle der führenden Rolle der SED und der Ideologie der Arbeiterklasse tritt nun die Pluralität in der Weltanschauung, Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt.
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• Die Familienerziehung wird ab sofort der institutionellen Erziehung durch Staat und Schule vorgeordnet. • Die spezifische Lehrerkompetenz steht über der formalen Lehrplanerfüllung. • An die Stelle eines einheitlichen Schulmodells tritt zunehmend die Vielfalt, die zudem auch durch „freie Träger“ gestaltet wird. • Fremdbestimmtes Lernen wird durch selbstbestimmtes Lernen der Schüler abgelöst. Dabei dominiert der Gedanke der Eigenverantwortung. • Die sozialistische Wehrerziehung mit dem ausdrücklichen Ziel, „(. . .) die Feinde unseres Volkes, insbesondere die westdeutschen und die USA-Imperialisten, und deren Handlanger zu hassen“,23 findet nicht mehr statt. Aber als „ordentliche Unterrichtsfächer“ werden neu Religion und Ethik definiert, obwohl der Atheismus bei mehr als 70 % der Bevölkerung nachhaltig gegriffen hat. • Es gibt ab sofort eine klare Trennung zwischen Schule und außerschulischem Freizeitbereich. Der „dramatische Paradigmenwechsel“ rief auch tief greifende Auswirkungen im Schülerverhalten hervor. Es spricht Vieles dafür, dass die Kinder und Jugendlichen in den ersten zehn Jahren nach der „Friedlichen deutschen Revolution“ die rasanten gesellschaftlichen Veränderungen besonders intensiv und als persönlich bedeutsamen Einschnitt in ihr bisheriges Leben empfunden haben. Sie haben unstrittig abrupte Veränderungen der Lebensverhältnisse im Alltag erfahren, in der Schule und im Elternhaus. Die inzwischen kontinuierlich nachrückenden Schülergenerationen kennen die politischen und ökonomischen Verhältnisse in der DDR jedoch allenfalls vom Hörensagen – wenn überhaupt. Denn es ist zu konstatieren, dass weder in der Mehrzahl der Elternhäuser noch durch die Lehrer in den Schulen eine verantwortliche Aufarbeitung der jüngsten deutschen Zeitgeschichte erfolgt. Es greift zunehmend eine oberflächliche (N)ostalgie, die durch Weglassen und Nichtbenennen im persönlichen Gespräch, aber auch durch „herzwärmende Medienberichte“ die Jugendlichen bewusst nicht an eine Auseinandersetzung mit der zweiten deutschen Diktatur des 20. Jahrhunderts heranführt bzw. zu dieser anleitet.24 Die neuen Chancen und Möglichkeiten der demokratischen Gesellschaft müssen die Kinder und Jugendlichen häufig als zwiespältig erkennen. Sie können 23 „Lagerordnung für die Lager für vormilitärische Ausbildung der Studierenden“, hrsg. vom Pädagogischen Institut Leipzig am 8.7.1969 (hier: „Allgemeine Pflichten“, Punkt 2, Abschnitt 4). Quelle: Universitätsarchiv Leipzig. ZM 78. 24 Die Aussagen basieren auf intensiven Beobachtungen und Studien des Autors, die er u. a. während seines intensiven Mitwirkens bei der der Gestaltung und Fortschreibung des Konzeptes „Schulmuseum Leipzig – Werkstatt für Schulgeschichte Leipzig“ in mehr als zehn Jahren systematisch beobachtet und analysiert hat.
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jetzt stärker mitbestimmen – und sie haben es doch (noch) nicht hinreichend gelernt. Sie können alles sagen, was sie denken – aber es ändern sich angesprochene Dinge nur begrenzt. Reisemöglichkeiten in nie gekanntem Ausmaß nützen ihnen wenig, wenn die Eltern ihren Arbeitsplatz verloren haben oder nur über geringfügige Einkommen verfügen. Die Verunsicherung und Ungewissheit ist oft darin spürbar, dass Kinder und Jugendliche in den neuen Bundesländern Erwachsenen heute häufig in ungewohnt provozierender Weise gegenübertreten. Insbesondere in den größeren Städten spüren Lehrer dieses sehr deutlich. Sie treffen auf Ablehnung von Schulnormen, auf Proteste und Gewaltandrohungen. Schüler und Jugendliche sind zudem ökonomisch in der Lage, sich sehr früh Ungeahntes leisten zu können. Nicht selten wird der Schulalltag von einer aggressiven Grundstimmung unter den Schülern – und teilweise auch zwischen den Lehrern und Schülern – beherrscht. Lehrer stehen mit ihrem einst scheinbar bewährten Instrumentarium der Verhaltenssteuerung den neuen Problemfällen oftmals machtlos gegenüber. Auch das Mittel der „ultima ratio“ – das Durchstellen und Einmahnen des Schülerverhaltens bis hin zu Sanktionen am Arbeitsplatz der Eltern – greift nicht mehr. Unbestritten pendelt sich eine neue Welt ein; aber keineswegs eine heile Welt. VIII. Grundpositionen einer „sozialen Leistungsschule“ Obwohl die gesetzgeberischen Strukturentscheidungen für das Schul- und Bildungswesen in allen fünf neuen Bundesländern eindeutig zugunsten eines differenzierten Schulsystems gefallen sind, ranken sich die variantenreichen Diskussionen zur inneren Schulreform nach wie vor um die Antinomie von „Einheit und Vielfalt“. Begriffe wie „Chancenausgleich und Chancengerechtigkeit“ bilden seit 1990 im weitesten Sinne den Rahmen für die Neugestaltung der Bildungswege. Sie entsprechen dem Grundverständnis einer demokratischen Schule und damit den Ansprüchen des Einzelnen und der Gesellschaft gleichermaßen. Es erweist sich aber dabei als eine nicht leicht auszubalancierende Aufgabenstellung, die Individualrechte und das öffentliche Mitwirkungsrecht aufeinander abzustimmen. Dieses betrifft die strukturellen Entscheidungen ebenso wie die curricularen Vorgaben. Oder anders formuliert: Es ist sicherzustellen, dass der einzelne im Rahmen seines Bildungsganges/Bildungsweges ein breit gefächertes Angebot vorfindet, das der Entfaltung seiner Fähigkeiten und Interessen dient und ihm zugleich weitere Entscheidungsspielräume garantiert. Um jedoch jedem Missverständnis vorzubeugen, sei festgehalten: bei aller Ausrichtung an den Bedürfnissen des einzelnen bleibt Schule immer in einen engen Bezugsrahmen eingebunden, der die Erfordernisse der sozialen Gemeinschaft, des Staates und des Berufes einschließt. In diesem Wechselspiel von Verpflichtungen und Erwartungen wird das Schulwesen in den neuen Bundesländern nach und nach seinen Standort finden. Das
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kann nicht allein durch Setzungen und rechtliche Verpflichtungen geschehen. Es ist ein rollender Prozess, der in seinem Verlauf immer wieder Anregungen, Korrekturen und neue Perspektiven erfährt. Administration und gestaltende Lehrerschaft müssen dabei stets bemüht sein, zwischen zwei Extremen die Mitte zu halten, und zwar zwischen dem Extrem „Jedem einzelnen seine Schule“ und dem zweiten Extrem „eine Schule für alle“. Hier definiert sich der Standort der „sozialen Leistungsschule“. Sie wird formal durch ein differenziertes Schulwesen repräsentiert, das auf einer gemeinsamen Grundschule aufbaut.25 Insofern sind – wie bereits skizziert – die strukturellen und generellen Ausgangsvoraussetzungen geschaffen worden. Dennoch bleibt es erforderlich, über weitere Grundaufgaben und Wesensmerkmale einer sozialen Leistungsschule im vorliegenden Zusammenhang, gleichsam Perspektiven verstärkend, zu reflektieren: Aufgabe der Schule ist es u. a., Kinder und Jugendliche auf ein verantwortetes Leben in einem freiheitlichen Rechts- und Sozialstaat und in einer „sozialen Leistungsgesellschaft“ vorzubereiten. Wenn dieses akzeptiert wird, muss den jungen Menschen in der Schule die Entfaltung ihrer Persönlichkeit ermöglicht und eine ihren persönlichen Fähigkeiten, Neigungen und Interessen entsprechende Förderung gegeben werden. Zugleich müssen sie erfahren und somit lernen, dass ein freiheitlicher Rechts- und Sozialstaat ohne die Leistungen des einzelnen nicht bestehen kann; denn „Sozialstaat heißt Leistung auf Gegenseitigkeit!“ Konsequenterweise bedeutet dann Sozialpflichtigkeit, dass die, die mehr leisten können, auch mehr leisten müssen, damit sie für diejenigen Leistungen miterbringen, die dazu nicht oder nur begrenzt in der Lage sind. Auf die Schule übertragen, ergibt sich für den Leistungsbegriff, dass er grundsätzlich sowohl für das individuelle Potential gilt als auch eine soziale Verantwortung einschließt. Unabhängig von punktuell und situativ gültigen Einwendungen muss mit Blick auf die Leistung von Schule als Ganzes an dieser Kette festgehalten werden. Ein differenziertes Schulsystem muss den individuellen Belangen entgegenkommen. Das gilt für den „hochbegabten“, den „mittelprächtigen“ und den „anders lernenden“ Schüler ebenso und ohne Einschränkungen.26 Der Anspruch auf optimale Förderung ist immer gekoppelt mit dem Anspruch auf gleiche soziale Lebenschancen. 25 Es ist keine ideologische Kernfrage, ob die Grundschule vier oder sechs gemeinsame Jahre umfasst. Hier werden aktuell scheinbare „Richtungskämpfe mit Grundsatzcharakter“ geführt, wie sie zugleich unergiebig sind. In diesem Zusammenhang sei an die einschlägigen Bemühungen der Reichsschulkonferenz vom 11. bis 20. Juni 1920 verwiesen. Ein Hauptstreitpunkt war die Dauer der Grundschulzeit (vier oder sechs Jahre). Das Reichsgrundschulgesetz vom 28. April 1920 legte bereits vor der Konferenz die vierjährige Grundschule für alle verbindlich fest. Die Diskussionen wurden nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialistischen Regimes im Zusammenhang der weiteren Demokratisierung der Schule wieder aufgenommen. Berlin (Ost) und die Stadtstaaten Bremen und Hamburg verständigten sich auf die sechsjährige Grundschule. Die beiden letztgenannten verhielten sich jedoch nur halbherzig, indem sie einen Übergang zum Gymnasium auch nach dem vierten Schuljahr gestatteten.
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So stimmig die Argumentation zum Verständnis von „Leistung“ aus der übergreifenden Sicht einerseits und mit Blick auf die Verortung in der sozialen Leistungsschule andererseits auch sein mag, so verdient die Vielfältigkeit der Diskussionen und Denkrichtungen innerhalb des mental noch immer nicht abgeschlossenen Transformationsprozesses von zwei völlig divergierenden Schul- bzw. Bildungssystemen besondere Aufmerksamkeit. In der gebotenen Kürze muss in diesem Zusammenhang auf eines verwiesen werden: Die schulische Leistung – auch in der „sozialen Leistungsschule“ – steht immer unter der Spannung von Fremd- und Selbstbestimmung. Aufgabe der Erziehung ist es, den jungen Menschen zur Selbstbestimmung zu führen – und damit zur selbst abverlangten und verantworteten Leistung. Je früher dieses erreicht wird, desto eher wird der Erzieher entbehrlich – und er muss entbehrlich werden! Die Diskussionen um die Leistungsanforderungen in einem differenzierten und vielfältigen Schulsystem verlaufen selten emotionslos. Besonders fragwürdige Schleifen nehmen sie stets dann, wenn es um eine einseitige Betonung des Wettbewerbs- und Konkurrenzdenkens geht. Es hat sich auch in den Schulen der alten Bundesländer immer wieder gezeigt, dass Lehrer, die mit dieser Akzentuierung Leistungsforderungen stellen – überspitzt formuliert – asozial im Sinne von verantwortungslos handeln. Leistung impliziert immer auch eine ethische Dimension. Sie kann nur unter Zustimmung des Mitmenschen erbracht werden; sie ist nicht Selbstzweck. Dieses zu vermitteln und erfahrbar werden zu lassen, gehört zu den wesentlichen Aufgaben des sich entwickelnden neuen Schulverständnisses. Wenn jedoch Leistung ausschließlich der individuellen oder gruppenbezogenen Gewinnmaximierung dient, besteht anderenfalls die berechtigte Sorge, dass der im sozialistischen Schulsystem als abschreckendes Beispiel vermittelte „Manchester-Kapitalismus“ als besonderes, als typisches Charakteristikum für den „Westdeutschen“ sich urplötzlich „endlich“ doch bestätigt. Es ist selbstverständlich, dass sich der einzelne über erbrachte Leistungen freut. Aber dieses gebietet geradezu, auch die Leistungen des anderen anzuerkennen. Das gilt für den besonders Begabten ebenso wie für den bereits zitierten „anders Lernenden“ und entsprechend umgekehrt. Auf dem Weg zur sozialen Leistungsschule muss ein wesentliches Erziehungsziel erreicht werden: den anderen zu sehen und – so erforderlich – ihm zu helfen. Nicht an den Strukturen definiert sich „die neue Schule“. „Die Schule zur Gestaltung der Zukunft unserer Kinder“ definiert sich an dem Verhalten ihrer Beteiligten.
26 Diese „Leistungsgruppen“ gibt es nicht nur als „Repräsentanten“ eines dreigliedrigen Schulwesens; sie finden sich in dieser Abstufung in allen einzelnen Schulformen wieder.
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IX. Perspektiven der Schulentwicklung für das dritte Jahrzehnt 1. Demografische Veränderungen
Aktuell werden im Wetteifer von neuen Konstellationen der politischen Parteien in den einzelnen Bundesländern und auf Bundesebene in der Zahl kaum noch zu überschauende „Erklärungen zur nachhaltigen Bedeutung von Bildung für die zukünftigen Generationen“ veröffentlicht. Das ist prinzipiell begrüßenswert, wenngleich sie aufgrund des jeweils situativen und spezifisch politischen Wirkungsverständnisses besonders aufmerksam zu prüfen sind. Schule ist grundsätzlich ein Teilbereich der Gesellschaft; sie steht zu ihr in einer mehrfach disponierten Wechselbeziehung. Die „Fürsorgepflicht“ begründet sich vor allem aus dem „naturgegebenen Generationenvertrag“. Seine Kernsubstanz ist es, Kinder und Jugendliche u. a. mit der Vielfalt des sozialen, des kulturellen und ökonomischen Lebens vertraut zu machen und ihnen den Erwerb der facettenreichen Kompetenzen in den unterschiedlichen Handlungsfeldern für eine erfolgreiche individuelle, aber in sozialer Verantwortung mitgestaltete Zukunft zu ermöglichen. In den zurückliegenden Jahren ist mit der inzwischen grundgesetzwirksamen „Föderalismusreform“ aus dem Jahr 2006 die „Kulturhoheit der Länder“ nachdrücklich bestätigt und auch zusätzlich gefestigt worden. Der damit verbundene Diskussionsprozess wurde mit seinen mehrdimensionalen Auswirkungen auf das föderale Strukturverständnis der Bundesrepublik Deutschland von der Öffentlichkeit jedoch nicht hinreichend wahrgenommen. Hieraus abgeleitet und zusätzlich durch die politisch erwarteten Konsequenzen aus den Ergebnissen der unterschiedlichen nationalen und internationalen Schulleistungs- und Schulvergleichsstudien untersetzt, leiten sich aus der Sicht des Autors für den Komplex „Schulentwicklung“ eine Fülle von Handlungs- und Entscheidungsfeldern ab. Die Eigendynamik der gesellschaftlichen Veränderungen und Entwicklung erfordert prinzipiell eine Rückkopplung zum Schul- und Bildungswesen. Dabei handelt es sich stets um eine „rollende Reform“. Um Missverständnissen sogleich zu begegnen, geht es hierbei nicht um ein chamäleonartiges Anpassen an populistische oder modernistische Tagesdiskussionen, denn: Entscheidungen im Schul- und Bildungswesen haben sich prinzipiell in ihrer intendierten Effizienz immer an „Bildungsgenerationen“ und nicht an parteipolitischen Setzungen oder an der zeitlich begrenzten Dauer von Legislaturperioden zu orientieren.27 27 Entscheidungen im Bildungsbereich unterliegen ob ihrer inneren Vielschichtigkeit immer einer Langzeitdimension. Oder anders formuliert: grundsätzliche Entscheidungen sind an der Dauer von Bildungsgenerationen zu messen. Dabei wird eine Bildungsgeneration mit 15 bis 18 Jahren angesetzt – also der Zeitraum, den die betroffene Zielgruppe erfolgreich durchlaufen haben muss, in der sich die Richtigkeit der Reform in ihren intendierten Zielsetzungen als fundiert erweist. Tatsächlich aber ist die Entschei-
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Aus der Sicht des Autors verlangen aufgrund der Nachhaltigkeit ihrer Wirkung folgende Dimensionen im Prozess der Schulentwicklung – länderübergreifend (!) – eine differenzierte aufmerksame Wahrnehmung, vor allem mit Blick auf die erforderlichen Entscheidungsprozesse. Für diesen Bereich zeichnen sich seit Jahren bereits Folgerungen für das Schul- und Bildungswesen ab, die für die Organisation und Gestaltung von Schule im speziellen sowie für Wirtschaft und Gesellschaft im besonderen Maße gravierende Veränderungen bewirken. Die Konsequenzen sind organisations- und handlungspolitisch bislang nur begrenzt wahrgenommen wurden.28 Neben der grundsätzlich negativen demografischen Kurve gibt es zusätzlich heftige lokale und regionale Verwerfungen, die auf die äußere und innere Schulstruktur und Schulgestaltung vor allem in den neuen Bundesländern gravierende Auswirkungen haben und verstärkt haben werden.29 Insbesondere sei hier auf die Rückwirkungen im Bereich der schulischen Infrastruktur in den Ländern Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und im Freistaat Sachsen verwiesen. Dieses sich vergrößernde, jedoch bereits bestehende Vakuum wird auch nicht durch die inzwischen von Industrie und Handwerk sehnsüchtig erwartete Freizügigkeit der Arbeitsplatzwahl u. a. der neuen EU-Staaten ausgeglichen werden können. Hier bedarf es einer nachhaltigen Strukturpolitik, so dass für die Wanderungsüberlegungen der Arbeitskräfte gilt: „Dableiben bzw. Wiederkommen statt weggehen!“30 2. Ausgleich sozialer Benachteiligung
In den angesprochenen Analysen zum Schul- und Bildungswesen in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland wird – empirisch belegt – eine soziale Benachteiligung nachgewiesen, insbesondere für die Gruppe der Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Das spiegelt nicht zwingend die reale Sidungsfreudigkeit von Bildungspolitikern in der Regel jedoch an der Dauer von Legislaturperioden orientiert, dabei ist sie oftmals aufgrund der öffentlichkeitswirksamen „bildungspolitischen Initiative“ an die persönlichen Interessen einer Wiederwahl gekoppelt. 28 Vgl. Heydemann, Günther, a. a. O.; vgl. auch Paqué, Karl-Heinz, Die Bilanz. Eine wirtschaftliche Analyse der Deutschen Einheit, München 2009. 29 Eine aktuell hoch auflösende Studie zum Komplex „Perspektiven des Bildungswesens im demografischen Wandel“ liegt seit dem 17. Juni 2010 mit dem Bericht „Bildung in Deutschland 2010“ vor. Dieser indikatorengestützte Bericht zu einer Analyse der Perspektiven des Bildungswesens im demografischen Wandel wurde von der Autorengruppe Bildungsberichterstattung im Auftrag der KMK und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung erstellt, Bielefeld 2010. 30 Die Übergangsregelungen bzw. Begrenzung der Freizügigkeit zum deutschen Arbeitsmarkt gelten für die am 01.05.2004 zur EU beigetretenen Staaten noch bis zum 30. April 2011. – Entgegen dem großpolitischen Trend, Euro-Regionen vor Zuwanderungen durch scheinbar fürsorglich fixierte Übergangsfristen zu schützen, warten die in der Region agierenden Industrie- und Handelskammern gleichsam sehnsüchtig auf das Ende der Sperrfristen.
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tuation in den neuen Bundesländern, denn deren grundsätzliches Bekenntnis zu einer zweigliedrigen Struktur im Sekundarbereich I konnte über die integrative Zusammenführung von Haupt– und Realschule in der „Differenzierten Mittelschule“ bereits zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Schulgesetzes (1992) erkennbare Verwerfungen strukturell und curricular ausgleichen. Insonderheit die Länder Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, die von ihren Patenländern mehr oder minder ungeprüft deren schon seinerzeit problematische Schulgliederung übernommen bzw. übergestülpt bekommen haben, müssen die konstatierten Probleme klären. Alle Vergleichsstudien haben ausnahmslos ergeben, dass eine gezielte Engführung zwischen dem vorschulischen Bereich zwingend geboten ist. Die unterschiedliche Zuständigkeit zwischen den politischen Verantwortlichen im Ministerium für Soziales und Arbeit (Vorschulbereich) und dem jeweiligen Kultusressort (Schulbereich) muss umgehend aufgegeben werden, und zwar aus curricularen und organisatorischen Gründen. Als einziges Bundesland hat mit allen damit verbundenen Konsequenzen der Freistaat Sachsen bereits die erforderlichen administrativen Entscheidungen getroffen. Entsprechend muss als nächstes die Ausbildung des vorschulischen Fachpersonals qualitativ dringend neu geregelt und mit dem Schuleingangsbereich eng verzahnt werden. Die in den Vergleichsstudien erfolgten nachdrücklichen Hinweise, dass die eingeschränkte Leistungsfähigkeit der Schulen in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland vor allem in der Gestaltung als Halbtagsschule begründet sei, setzte in der breiten politischen Diskussion eine Aufbruchstimmung in Gang mit dem Ziel einer schrittweisen Einführung der Schule in Ganztagsform. Hier müssen aus der Sicht des Autors für die aktuell voreilig als bereits gegeben behauptete qualitative Schulentwicklung mindestens vier „Warnzeichen der Beobachtung“ gesetzt werden: • Eine wirkliche Ganztagsschule ist bislang in keinem Bundesland geschaffen worden, wenngleich Schulen mit ergänzender ganztäglicher Betreuung inzwischen in einer beachtenswerten Größenordnung existieren; die quantitativen Erfolge lösen allenfalls einen Argumentationsstrang ein. Der Terminus „Ganztagsschule“ meint qualitativ aber mehr und nicht nur die Gestaltung der Schule in bisheriger Form (bis 13 Uhr) und mit „anschließendem Sozial-Camping“ im Grundverständnis von öffentlich finanzierter Sozialversorgung (bis 16 Uhr). • Eine Ganztagsschule verlangt auch eine darauf abzielende neue Form der Lehrerbildung. Hierzu gibt es in keiner Universität – gleich in welchem Bundesland – Ausbildungskonzepte bzw. curriculare Konsequenzen. • Eine Ganztagsschule verlangt eine grundsätzliche Umstellung des Arbeitsplatzes von Lehrern. M. a.W.: es sind seitens aller Schulträger in den Schulen ge-
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eignete Arbeitsräume für die Unterrichtsvorbereitung der Lehrer und andere Aufgaben zu schaffen. • Eine Ganztagsschule, die auch auf die sich verändernden Familienstrukturen und das sich verändernde Schülerverhalten Einfluss nehmend zu reagieren hat, erfordert eine enge Kooperation mit den Tätigkeitsfeldern von Schulpsychologen, Sozialarbeitern und Sozialpädagogen. Dieses muss „ausbildungsstrategisch“ jedoch noch differenziert geregelt werden. Kurzum: aktuell gibt es hierzu nichts. 3. Gegliedertes Schulsystem versus Einheitsschule
Die Argumentation, eine „Einheitsschule“ sei in ihrer Effizienz bildungswirksamer, kann nur als populistisch eingestuft werden. Schließlich gibt es nichts Ungerechteres, als von Ungleichen Gleiches zu verlangen. Das „Prinzip Rasenmäher“ mag für den Tag des Rasenschnitts – um im Bild zu bleiben – eine durchaus beeindruckende Gleichheit darstellen. Aber das ist schlichter optischer Betrug und nicht zielführend, was die Notwendigkeit einer individuellen Förderung betrifft. Vielmehr belegen die bereits mehrfach angesprochenen Vergleichsstudien, dass die Bundesländer, in denen die Einheitsschule im Modell der Integrierten Gesamtschule über inzwischen fast 40 Jahre ausprobiert wird, im Leistungsranking der Länder die letzten Plätze einnehmen. Wer mit dem Versprechen antritt „Gesamtschule ist besser!“ – und das war seinerzeit nicht nur ein politisch zu wertender Slogan! – muss seine begrenzten Erfolge bzw. sein Versagen nicht damit zu erklären versuchen, dass die „Anderen“ ihn nicht seine vermeintlichen Stärken haben ausspielen lassen. Die Tatsache, dass man bemüht ist, die „internationalen Erfahrungen“ von so genannten „Erfolgsländern“ (Finnland, Schweden, Dänemark) einzubinden, ist allenfalls darauf gerichtet, von eigenen Grundfehlern abzulenken. Es sei kurz begründet: • Die Gesamtschulen kennen im Prinzip ein in sich überzeugendes und stimmiges, an der Schülerklientel orientiertes Differenzierungsmodell. Es ist als „Planspiel“ absolut richtig; aber es fehlt an den erforderlichen Lehrerstellen, dieses mit Blick auf die Zielsetzung der Schulform umzusetzen. • Die Gesamtschulen sind ursprünglich zu „groß-zügig“ definiert worden, d. h. Systeme, die zwischen 9 und 12 parallele Jahrgangsklassen mit den entsprechenden Differenzierungsformen zu realisieren versuchen, überschreiten die Grenzen pädagogischer Arbeit. Ein wesentliches Problem liegt in der auf Seiten der Lehrer und der Schüler greifenden Anonymität, dem „Grundfeind“ jeder erfolgreichen Pädagogik. Unstrittig gibt es hier im Zusammenhang der demografischen Veränderungen zaghafte, durchaus auch erkenntnisgesteuerte Änderungsversuche. Aber die Tatsache, dass eine Gesamtschule grundsätzlich immer nur als eine Schule des Sekundarbereichs I definiert ist, verleitet mit Blick auf das Einrichten einer „eigenen gymnasialen Oberstufe“ dazu, in der
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Umsetzung die Bewertungsmaßstäbe dem Niveau der Schüler und nicht den gesetzten Bildungsstandards anzugleichen. Auch hier ist zu konzedieren, dass es ein Umdenken gibt; es greift allmählich, jedoch erst zögerlich. • Differenzierung ist aufgrund der (zunehmenden) Heterogenität der Schüler zwingend. Die erforderlichen methodischen Maßnahmen verlangen aber einen weit höheren Ressourcenaufwand, den die gleichen Vertreter der Politik, welche eine Veränderung der Schulstruktur programmatisch wollen, auch bereitstellen müssten – aber in der Praxis lassen sie die Gesamtschule allein. • Die vorrangig mit Verweis auf internationale Erfahrungen gründende Diskussion um die Einheitsschule nimmt keinen Bezug auf die weit zurückreichende historische Entwicklung des Schulwesens in Deutschland. Schließlich hat sich auch die Dreigliedrigkeit des Schulsystems seit den großen Schulstrukturreformen im Zusammenhang der differenzierten Arbeiten des Deutschen Bildungsrates von einer simplen Abbildung der Ständegliederung des 19. Jahrhunderts nachdrücklich verabschiedet. • Eine schulformgebundene Lehrerbildung, die auf die Erfordernisse der Gesamtschule adäquat Bezug nimmt, fehlt. 4. Resümee
„20 Jahre deutsche Einheit – Erfolge, Ambivalenzen, Probleme“ waren und sind ein hinreichender Anlass, die Veränderungen, Entwicklungen und weiterführenden Impulse für das Schul- und Bildungswesen in den Mittelpunkt der öffentlichen Betrachtung zu rücken. Unstrittig ist es den fünf neuen Bundesländern mittels Unterstützung, aber auch in durchaus selbstbewussten Entscheidungen und eigenständigen Wegen gelungen, sich aus der Ideologisierung und politischen Instrumentalisierung des bisherigen „Einheitlichen sozialistischen Schulsystems“ zu befreien. Dass der Weg zu einem pluralen, auf die Förderung und Entwicklung des in sozialer Verantwortung handelnden Individuums ein langwieriger sein werde, war den Akteuren des Erneuerungsprozesses im Prinzip klar. Dennoch wird in der Retrospektive auch deutlich, dass der Prozess noch nicht abgeschlossen ist und abgeschlossen sein kann. Schließlich sind unzählige mentale Verwurzelungen und eigenbiographische Erfahrungen zu bedenken, zu berücksichtigen und neu in die gesamtgesellschaftlichen Veränderungen mit einzubeziehen. Nach einem rasanten Beginn, der in nachvollziehbarer Euphorie zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten führte, wurde mit Blick auf das Schulund Bildungssystem sehr bald deutlich, dass für die fünf neuen Bundesländer auch dadurch nicht alles automatisch besser wurde, wenn es so wird wie in den alten Ländern. Alles Handeln muss darauf gerichtet sein, etwas Neues zu entwickeln, das als glaubwürdige, attraktive und überzeugende Alternative verstanden
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wird. Der sich so gestaltende Wandel muss fair und korrekt erfolgen und er ist noch nicht abgeschlossen, denn er erfordert Zeit! Er erfordert Zeit, in der die Ziele einer Demokratisierung des Bildungswesens kontinuierlich verfolgt werden und ihre Richtigkeit beweisen müssen. Der Wandel ereignet sich zugleich in einer Zeit, in der man sich auch in den alten Bundesländern aus differenzierten (gesellschaftlichen und demografischen) Gründen anschickt, die Bildungspolitik neu zu vermessen. Hier haben die jungen Länder ein Anrecht darauf, gleichberechtigt handelnde Partner zu sein.31
31 Vgl. hierzu Pöggeler, Franz, Bildungsunion im vereinten Deutschland. Perspektiven einer grundlegenden Reform, in: Studien zur Pädagogik, Andragogik und Gerontagogik, Bd. 13, Frankfurt am Main 1992.
Herausgeber und Autoren Hacke, Christian: Dr., Prof. em. für Wissenschaft von der Politik und Zeitgeschichte am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn Heydemann, Günther: Dr., Prof. für Neuere und Zeitgeschichte an der Universität Leipzig, Direktor des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung (HAIT) Dresden und Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Deutschlandforschung Jesse, Eckhard: Dr., Prof. für Politische Systeme, Politische Institutionen an der Technischen Universität Chemnitz und Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Deutschlandforschung Kowalczuk, Ilko-Sascha: Dr., Wissenschaftlicher Mitarbeiter mit Leitungsfunktionen in der Abteilung Bildung und Forschung bei der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR de Maizière, Thomas: Dr., Bundesminister des Innern der Bundesrepublik Deutschland Mayer, Tilman: Dr., Prof. für Politische Theorie, Ideen- und Zeitgeschichte am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn. Vorsitzender der Gesellschaft für Deutschlandforschung Merkel, Angela: Dr., Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland Mitter, Armin: Dr., Historiker und Publizist, Berlin Müller, Reinhard: Dr., politischer Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Dort ist er zuständig für die Seite „Staat und Recht“ und für die Innenpolitik Neubert, Ehrhart: Dr., Vorsitzender des Bürgerbüros Berlin e.V., Verein zur Aufarbeitung von Folgeschäden der SED-Diktatur Normann, Lars: Dr., Politikwissenschaftler und Publizist, Bonn Paqué, Karl-Heinz: Dr., Prof. für Internationale Wirtschaft der Fakultät für Wirtschaftswissenschaft der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg Rödder, Andreas: Dr., Prof. für Neueste Geschichte an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz Scholtyseck, Joachim: Dr., Prof. für Geschichte der Neuzeit am Institut für Geschichtswissenschaft der Universität Bonn Schulz, Dieter: Dr., Prof. em. für Schulpädagogik und Allgemeine Didaktik an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Leipzig Schwarz, Hans-Peter: Dr., Prof. em. für Wissenschaft von der Politik und Zeitgeschichte am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn Seebacher, Brigitte: Dr., Hon.Prof. für Politische Wissenschaft am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn
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Herausgeber und Autoren
Stürmer, Michael: Dr., em. o. Professor der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg, em. Direktor Stiftung Wissenschaft und Politik. Chefkorrespondent WELT-Gruppe, Berlin Wieck, Hans-Georg: Dr., Präsident des Bundesnachrichtendienstes a. D. und Botschafter der Bundesrepublik Deutschland a. D. Zehnpfennig, Barbara: Dr., Prof. für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Passau und Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung des politischen Denkens