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German Pages 129 [67] Year 2020
NR. 1 / FRÜHJAHR 2020
A U F WÄ R T S
JENSEITS
JAC O B I N . D E
—Willy Brandt
Linke Zeitschriften eröffnen üblicherweise mit einer Aufzählung der vielen Krisen, die der Menschheit gerade bevorstehen – ökonomisch, ökologisch, jetzt auch virologisch – bevor sie überleiten zur Entschlossenheit der Redaktion, neue Diskurse darüber anzustoßen. Auf große Ankündigungen folgt dann Ausgabe um Ausgabe dieselbe Soße. Normalerweise fällt das niemandem auf – denn wer liest schon Editorials. Du aber bist hartnäckig. Wir auch. Deshalb setzen wir in dieser Ausgabe ein Thema, das scheinbar nicht in diese Tage passt. Als dieses Magazin in den Druck ging, sahen wir zu, wie eine Pandemie große Teile des öffentlichen Lebens lahmlegte und droht, Millionen Menschen in die Armut zu stürzen. Die Reaktionen des Staates – Rettungspakete in Milliardenhöhe, die Aufhebung der Schuldenbremse, und und und – zeigen, wie schnell Krisenlösungen bereit stehen, sobald das Gold der Reichen bedroht wird. Genau so ließe sich vieles, was an unserer Gesellschaft hässlich und ungerecht ist, schnell und entschlossen auflösen, wenn dies gewollt wäre. Ist es aber nicht. Der Schriftsteller Ronald M. Schernikau schrieb 1984 zum Beginn der HIV / AIDS-Pandemie, sieben Jahre, bevor ihn das Virus tötete: »Wer sich um die Welt kümmern will, kann eben an Politik nicht vorbei.« Meckern und Klagen reicht nicht und woran wir sterben, werden wir nie selbst entscheiden. Allein: »Aussuchen können wir uns, wovon wir leben.« Das Jacobin Magazin in Deinen Händen ist politisch. Hier wird nach dem Leben gesucht, wie es gerechter und klüger laufen könnte. Gerade in den Trümmern der Gegenwart wird sichtbar, wo statt Konkurrenz demokratische Planung und Kooperation nötig sind, um unser Überleben auf diesem Planeten zu gewährleisten. Wir machen keinen Hehl daraus, was wir uns darunter vorstellen: demokratischen Sozialismus. Wir sind dabei nicht allein, sondern Teil einer internationalen Magazinfamilie. 2011 in New York geboren, erscheint Jacobin heute auf drei Kontinenten in den Sprachen Englisch, Italienisch, Portugiesisch – und nun auch auf Deutsch. Wir fangen in diesem Heft an mit einer Obduktion der Sozialdemokratie – jener Kraft, die Jahrzehntelang in vielen Teilen der Erde für das Versprechen von Gerechtigkeit und sozialem Aufstieg stand. Doch statt in eine neue Zeit zu führen, schafften die Parteiführungen die Sozialdemokratie ab. Ihr letzter gewählter Kanzler, Gerhard Schröder, verkündete 2005 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos stolz: »Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt«. Von diesem Seitenwechsel hat sie sich nicht erholt – und eine Lücke im politischen System hinterlassen.
JENSEITS
Geschichte wiederholt sich nicht. Unsere Generationen werden andere, radikalere politische Wege gehen müssen. Aber wenn wir über die Sozialdemokratie hinaus kommen wollen, lohnt es sich zu verstehen, was sie in der Vergangenheit so erfolgreich machte. Ines Schwerdtner & Ole Rauch
Cover Illustration: Marvin Traber
EDITORIAL
»Es wird sich noch als geschichtlicher Irrtum erweisen, das dem demokratischen Sozialismus zugrundeliegende Ideal der Zusammenfügung von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität als überholt abtun zu wollen. Manche werden sich noch wundern, als wie abwegig sich ihre Grabgesänge erweisen.«
Über unsere visuelle Identität Politische Gruppen streiten oft genauso heftig über ihr Erscheinungsbild wie über den Inhalt ihrer Manifeste. Die Grafik des Schwarzen Jakobiners auf unserem Webseitenbanner ist da keine Ausnahme. Ich hatte der Redaktion von Jacobin ursprünglich vier Logo-Entwürfe zur Auswahl gestellt. Die Diskussion, die daraufhin entbrannte, schwankte jedoch zwischen zwei Optionen: dem Schwarzen Jakobiner, der schließlich die Kampfabstimmung für sich gewann, oder einem abstrakten Logo, wie es die anderen drei Entwürfe vorsahen.
Der schwarze Jakobiner
Text: Remeike Forbes Übersetzung: Joachim Jachnow
Ich kann die Motive meiner Mitstreiterinnen und Mitstreiter, die lieber ein abstraktes Logo gehabt hätten, gut verstehen. Der Wunsch nach etwas Neutralem und Nüchternem liegt nahe, wenn man sich vor Augen hält, wie die meisten Linken verzweifelt jeden Flyer mit Bildern zuballern, die Rebellion signalisieren sollen: Ein kräftiger Arm, der einen anderen kräftigen Arm hält; eine Faust, die irgendetwas umschließt; Angela Davis, die klagend in irgendetwas hineinruft und so weiter. Doch kein Bild ist wirklich neutral. Und es ist keine Designlösung, eine visuelle Identität im Säurebad der abstrakten Hochmoderne aufzulösen. Aber warum sollten sich Linke zwischen authentischem, leidenschaftlichem Design und nüchterner politischer Analyse entscheiden müssen? Ironischerweise begehen jene Linken, die sich über die verwegenen Revolutionsbilder lustig machen, im Grunde den gleichen Irrtum wie die Fraktion mit den Anonymous-Masken. Sie entscheiden sich für den faden Neuaufguss eines vorgefundenen Stils und gegen den Versuch, sich mit einer Welt von Bedeutungen auseinanderzusetzen. Denn auch ein schlichtes Design hat semantische Folgen: Wie die Fäuste schwingenden Aktivistinnen und Der schwarze Jakobiner
Aktivisten, die der Welt ihren Aufstand verkünden, offenbaren simple Abstraktionen oder ideenloses Design einen lauen Intellektualismus. Entgegen dieser beiden Ansätze muss grafische Gestaltung mehr sein als reine Oberflächenbehandlung. Diejenigen, die »einfachen«, »abstrakten«, »nicht zu buchstäblichen« Designs den Vorzug gaben, begründeten das mit einer Vorliebe für »die Moderne«. Doch hier zeigte sich ein Missverständnis des Modernismus und seiner Geschichte im Grafikdesign. Die Moderne fasst sehr unterschiedliche Traditionen zusammen—von den hochgradig expressiven Werken der 1920er und 30er Jahre bis hin zum Funktionalismus der Mitte des Jahrhunderts; von den starren Entwürfen der Schweizer Moderne bis hin zu den eher lockeren und verspielten Formen der New Yorker Schule. Die Beweggründe der Moderne waren stets komplexer als das Klischee von »Weniger ist mehr«. Man macht es sich zu einfach, wenn man den Begriff der Abstraktion mit dem der Moderne zusammenwirft. Schon Jahrhunderte vor dem Beginn der Moderne nutzten Menschen abstrakte Geometrie in der künstlerischen Gestaltung. Die Moderne aber war ein ideengeschichtliches Projekt, das konkrete historische, technologische und praktische Realitäten zur Voraussetzung hatte. Von daher verraten Versuche, modernistische Bildfiguren in Absehung von ihrer Geschichte einfach zu recyceln, den Geist dieses Projekts. Steven Heller, Art Director der New York Times Book Review, beschrieb die Moderne als die Ergründung »der äußeren Grenzen und der Universalität visueller Kommunikation«. Das ist eine Tradition, hinter der ich stehen kann, und deren Bedeutung weit über leichtfertige Fingerübungen in formaler Abstraktion hinausgeht. 5
Bei Jacobin waren wir in der glücklichen Lage, unsere Logos eher nach ihren semantischen als nach formalen Vorzügen auszuwählen. Doch einige der stärksten visuellen Markenzeichen sind eigentlich formale Katastrophen. Nehmen wir zum Beispiel die geballte Faust, möglicherweise das produktivste Werkzeug im grafischen Handwerkskoffer der Linken. Die Linienführung ist unübersichtlich und auf kleineren Skalen schwer zu erkennen. Und semantisch versinkt die Faust bei unüberlegter Platzierung leider viel zu oft im Brei der Bedeutungslosigkeit. Aber wie die blaue Faust aus Wisconsin beweist, kann selbst die fürchterliche
Neuauflage einer sowieso schon hässlichen Form auf eine brillante Weise wirkmächtig werden, wenn sie nur richtig gemacht ist. Anstatt also an irgendwelchen Formen herumzutüfteln, sah ich mir mal wieder Queimada! an und griff zu C. L. R. James’ Buch Die schwarzen Jakobiner. Meine Suche war im Grunde abgeschlossen, nachdem ich die Szene in Queimada gesehen hatte, in der der schwarze Revolutionsführer José Dolores von britischen Truppen gefangen genommen wird. Marlon Brando, der einen imperialen Agenten spielt, erzählt Dolores’ Geschichte einem britischen Offizier: »Ein Musterexemplar, nicht wahr? Eine beispielhafte Geschichte: Am Anfang war er ein Nichts, ein Wasserträger. Aber England macht ihn zu einem revolutionären Führer. Und sobald er keinen Nutzen mehr hat, wird er beiseite geschoben. Doch jetzt, wo er wieder im Namen derselben Ideale rebelliert, die England ihm beigebracht hat, beschließt England, ihn zu eliminieren. Findest du nicht, dass das ein kleines Meisterwerk ist?« Als ich der Redaktion den Schwarzen Jakobiner vorschlug, gab es einige Befürchtungen. Sie hatten Einwände dagegen, eine schwarze Person zu unserem Maskottchen zu machen, da das als Anmaßung empfunden werden könnte. Eine berechtigte Sorge angesichts der problematischen Geschichte von Schwarzen auf Logos vom Typ »Uncle Ben’s« und »Aunt Jemima«. Mir bereitete das Kopfzerbrechen, schließlich bin ich selbst ein schwarzer Immigrant aus Jamaika. Doch gerade dieses Unbehagen zeigte, wie wichtig es war, genau dieses Bild zu nehmen. Denn der Kniff bestand darin, einen Schwarzen als universelles Subjekt darzustellen—eine Ehre, die normalerweise nur weißen Visagen zuteil wird. Und das war kein sinnloser Versuch der Subversion, eine Gegenmythologie durch einfache Umkehrung zu schaffen, wie bei Bildern von Jesus mit Dreadlocks, wo er aussieht wie ein Statist aus einem Tyler Perry-Film. Kulturpalast
»Denn der Kniff bestand darin, einen Schwarzen als universelles Subjekt darzustellen – eine Ehre, die normalerweise nur weißen Visagen zuteil wird.«
Alle Illustrationen aus der ersten Ausgabe von The Black Jacobins: Toussaint Louverture and the San Domingo Revolution von C. L. R. James, 1938, © Estate of C. L. R. James
Die Verwendung abstrakter Logos ist zentrales Element von Unternehmensidentitäten. Sie war nicht nur die Folge des schweizerischen Einflusses auf die Designschulen in der Nachkriegszeit, sondern entsprach auch den Bedürfnissen großer, hierarchisch organisierter multinationaler Institutionen. Für solche Institutionen ist es von Vorteil, aus einfachen Formen zusammengesetzte visuelle Identitäten zu haben, die dann an verschiedene Unterabteilungen angepasst, auf alle möglichen Flyer und Prospekte gedruckt, zu Skulpturen verarbeitet, an Flugzeugen, Lastwagen und Gebäudefassaden angebracht werden können und für verschiedenste kulturelle Kontexte geeignet sind. Diese Institutionen verfügen über riesige Budgets und können so ihre Markenidentität allgegenwärtig machen. Sie müssen sich nicht so sehr darum kümmern, ob ihre Logos einprägsam sind, weil sie durch schiere Masse Wiedererkennungswert erzeugen können. Doch die sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen seit den 1970er Jahren haben sich auch in der Gestaltung visueller Identität niedergeschlagen. Das Imperium der Designagentur Unimark International brach zusammen, Helvetica—der Schrifttyp des sozialdemokratischen Klassenkompromisses—veraltete.
Wenn auch die Geschichte Haitis oft übersehen wird, gibt es kaum ein größeres Symbol des Universalismus als die Haitianische Revolution. Die Ereignisse, die sich in einem dreizehnjährigen Epos auf der Insel Saint-Domingue abspielten, hatten weltgeschichtliche Bedeutung. Der dortige Sklavenaufstand am Ende des 18. Jahrhunderts traf die inneren Widersprüche der westlichen Aufklärung ins Mark. Indem sie das Banner der Aufklärung aufhoben und sie in ein echtes Emanzipationsprojekt verwandelten, verblüfften, verängstigten und besiegten die schwarzen Revolutionäre eine Kolonialmacht nach der anderen: vom wütenden Napoleon Bonaparte, der danach trachtete, sämtlichen Aufständischen auf der Insel die Schulterklappen von der Uniform zu reißen, bis zu den Plantagenbesitzern in den Südstaaten der USA, die sich weigerten, den unabhängigen haitianischen Staat anzuerkennen. Mit ihrer Zurschaustellung eines tiefgreifenden Internationalismus verärgerten sie also ebenso viele, wie sie auf der Gegenseite inspirierten: von den radikalen französischen Republikanern, die den freien Schwarzen beistanden, bis hin zum lateinamerikanischen Revolutionär Simón Bolívar, der in Haiti Zuflucht fand.
treiben können. Als nach der Machtergreifung Napoleons Gerüchte aufkamen, die Sklaverei könnte wieder eingeführt werden, brannten sie einfach alles nieder.
Wie groß muss die Verwirrung der Soldaten Napoleons gewesen sein, als sie haitianische Truppen die Marseillaise singen hörten? »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit— oder Tod« war nun das rechtmäßige Motto der schwarzen Soldaten, gegen die sie kämpften. Und auch mit dessen viertem Teil meinten sie es ernst. Schon vor der Revolution hatten die Versklavten auf Haiti das politische Mittel entdeckt, einfach alles und jeden zu vergiften, solange sie in Knechtschaft gehalten wurden: Sie vergifteten sich selbst, sie vergifteten ihre Kinder, sie vergifteten Herrn und Herrin und den ganzen verdammten Rest der Plantagenbande gleich mit. Keine Macht der Welt hätte sie nach ihrer Selbstbefreiung wieder in die Sklaverei
Die Geschichte der Haitianischen Revolution sollte jenen in der Linken als Denkzettel dienen, die sich von nuancierter Kritik verabschiedet haben und so keine andere Antwort auf die Widersprüche der Aufklärung wissen als absolute Ablehnung. Denkt an die Zeile aus der englischen Fassung der Internationale: »Reason in revolt now thunders«, das Recht drängt zum Durchbruch. Das war nicht der Schrei einer Revolte gegen die Vernunft, sondern der Vorbote einer revoltierenden Vernunft, einer Vernunft in Aufruhr.
Der schwarze Jakobiner
Die Haitianische Revolution fasst die ganze historische Aufgabe der Linken zusammen. Denn sie steht für eine wahrhaftige, vollständige Verwirklichung der Aufklärung. Die Verdammten dieser Erde können die aufklärerischen Ideale den Heuchlerinnen und Heuchlern entreißen, die damit hausieren gehen, und sie zu einem radikalen Projekt für die Befreiung der Menschheit machen. Eben diese Widersprüche hatte Marx im Visier: Er kritisierte die Verkürzungen der Aufklärung—und beförderte doch zugleich die Ausweitung des aufklärerischen Ideals politischer Emanzipation in Richtung einer echten, menschlichen Emanzipation. Dieser Refrain durchzieht die Geschichte der Linken: Die Forderung, dass sich die in unseren politischen Institutionen formal gewährleistete Gleichheit und Freiheit in unsere tatsächlich gelebte Erfahrung ausweitet—in unser soziales und wirtschaftliches Leben, in unsere Wohnungen und auf unsere Straßen.
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Sie war nicht immer so 70 Eingetreten – Ausgetreten 88 Schöne Empirie
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Ein toxischer Märchenprinz Natascha Strobl
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Acker für Aldi Ilker Eğilmez
Labour: Die Stunde Null 24
Sich mit den Banken anlegen
4
Caspar Shaller
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Sex im Sozialismus Kristen Ghodsee
Vivek Chibber
Der schwarze Jakobiner Remeike Forbes
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Es rettet uns kein Superwesen Wolfgang M. Schmitt
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Verpreußung Pujan Karambeigi
Grace Blakeley
Wo ist das Gipfeli geblieben?
V. Unser Weg zur Macht
Kulturpalast
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David Broder
Seite 94
Seite 78
Interview mit Kevin Kühnert
IV. »Keine Zeit zu verlieren«
Seite 64
Drängende Fragen
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Am Pranger
Oliver Nachtwey
III. Wer rettet die SPD vor sich selbst?
Ines Schwerdtner
Seite 52
II. Susis Mädels
Loren Balhorn und Linus Westheuser
I. Jenseits der Sozialdemokratie Seite 42
INHALT
Jenseits der Sozialdemokratie
Jacobin Ausgabe 1 Frühjahr 2020
Kleine Freuden 10
The Internet Speaks 128 Luna Wolters’ Horoskop
Weil Kommunikation das
TA DA
AN DER GRENZE ZU CREEPY
@magnusneubert
@BetaODork
alles schön und gut, aber wann kommt denn endlich das erste @jacobinmag_de?
Hey Aimee, would you be interested in… me reading the new Jacobin mag in German to you? DM me if you are into this kind of stuff.
#TEJWOLEAKS @tejwo
ich hab die erste ausgabe von jacobin/de gelesen. themen: · bodo ramelow der deutsche bernie sanders · wie offene grenzen dem deutschen arbeiter schaden · warum die deutsche nationalmannschaft sozialistisch ist · die lindenstraße als revolutionär dostojewskisches fernsehen neugedacht
The Internet Speaks Herz einer guten Beziehung ist
JÜRGEN KLOPP @ch_we, Esq.
Wer wird das Sozen-Herzblatt des deutschen Jacobin? Kipping? Ramelow? Oder doch @KuehniKev?
DEMOKRATISCHERSOZIALISMUSTHEMATIK @Ingar Solty
Die vom Jacobin-Herausgeber Bhaskar Sunkara vertretene Leitlinie mag für die USA richtig sein, für Deutschland ist sie kein Modell. Was die LINKE in Deutschland gerade richtig macht, ist die Konzentration auf die Mietenthematik.
SOWJETMACHT UND TIKTOK CLIPS @joeeisenberg3
JungBolschewiken unter sich
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WIDERSTAND IST ZWECKLOS, VICTOR (!)
SPC 1. double SocialismSuccessProbability(double q, int z) { 2. double p = 1.0 - q; 3. double lambda = z * (q / p); 4. double sum = 1.0; 5. int i, k; 6. for (k = 0; k
->
Der Markt wird begrenzt, sodass er nicht mehr über das grundlegende Wohlergehen der Menschen gebietet. Die entscheidenden Positionen in der Wirtschaft werden demokratisch besetzt und öffentlich rechenschaftspflichtig sein. Ökonomische Ungleichheiten dürfen sich nicht in politische Ungleichheiten übersetzen.
Natürlich wird es noch weitere Prinzipien geben, die die institutionelle Gestaltung näher eingrenzen. Doch ein akzeptables Modell des Sozialismus – sei er nun marktvermittelt oder geplant –, das die genannten Punkte nicht abdeckt, ist schwer vorstellbar. Eine Wirtschaftsweise, die gegen eines dieser Prinzipien verstößt, wird vermutlich nicht als sozialistisch gelten können, jedenfalls nicht in dem Sinne, wie Linke das Konzept verstehen. Unser Aktuelles Weg zur Kapitel Macht
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Wenn wir uns klar machen, was wir von einer Wirtschaftsordnung erwarten, verstehen wir auch besser, was auf dem Spiel steht. Planung ist kein Selbstzweck. Sie wurde immer als Mittel zum Zweck aufgefasst – und der grundsätzliche Zweck des Sozialismus ist eine menschliche und gerechte Gesellschaftsordnung. Es könnte sich herausstellen, dass eine allumfassende Planung nicht nur unrealistisch, sondern ebenfalls unnötig ist – vielleicht sind unsere grundlegenden Ziele in der Tat über einen Marktsozialismus zu erreichen. Es könnte gar der Fall sein, dass zwischen zentraler Planung und einigen Dimensionen sozialer Gerechtigkeit Spannungen bestehen. Eine der unheilvollsten Erbschaften der Ära der Zweiten Internationale liegt darin, Sozialismus mit zentraler Planung zu identifizieren. Diese Gleichsetzung sollte niemals wiederholt werden. Ökonomische Modelle sind nicht Zwecke an sich, sondern Mittel, um das zu erreichen, worauf wir aus sind – eine Gesellschaft, in der Menschen einander als Selbstzwecke behandeln, nicht als Mittel.
Politische Organisierung ist schwierig, politische Bildung muss es nicht sein.
BLICK NACH VORN Aus dem vergangenen Jahrhundert sozialistischer Bestrebungen wissen wir, dass der Weg zu einer egalitäreren Ordnung durch die Konfrontation mit dem Kapital hindurch verläuft – nicht an ihr vorbei. Und die einzigen Parteien, die je wirkliche Erfolge bei diesem Bemühen zu verzeichnen hatten, waren Kaderparteien mit Massenbasis, die fest in den arbeitenden Klassen verwurzelt waren. Die größte Herausforderung für die Linke besteht jetzt darin, die Nabelschnur zu durchtrennen, die sie an Universitäten und NGOs bindet und wieder in das Milieu der Arbeit einzutauchen. Eine zukunftsfähige Linke muss Wahlkampfpolitik als den anderen Knotenpunkt einer zweigleisigen Strategie auffassen, in der die Macht an der Basis mit einem parlamentarischen Flügel kombiniert wird, wobei sich beide gegenseitig stützen. Im Moment scheinen sich die Spielräume in der parlamentarischen Dimension
schneller zu öffnen, als die an der Basis – die Linke sollte die Gelegenheit ergreifen, ihr Kapital daraus schlagen, und dann die Erfolge dazu nutzen, ihre Basis aufzubauen. Zur gleichen Zeit müssen wir die Diskussion darüber vertiefen, wofür genau wir kämpfen. Bis hierin solle klar sein, dass ein tragfähiger Sozialismus eine pluralistische Mehrparteienordnung sein muss, in der die Macht des Marktes erheblich zurückgedrängt ist. Wie weit wir ihn letztlich zurückdrängen, hängt in weiten Teilen von praktischen Fragen ab – was machbar ist und was nicht. Doch gerade weil eine Strategie des Bruchs nicht auf dem Tisch liegt, müssen wir bei der Sozialdemokratie anfangen und dann zum demokratischen Sozialismus fortschreiten. Wir haben eine Menge Erfahrungen gesammelt, wie man zu ersterem kommt, zu letzterem hingegen nicht.
Das ABC des Kapitalismus von Vivek Chibber bestellen:
Über den Autor
WWW.JACOBIN.DE/ABC
Vivek Chibber ist Professor für Soziologie an der New York University. Sein Buch Postkoloniale Theorie und das Gespenst des Kapitals ist 2019 im Dietz Verlag erschienen. Im selben Jahr haben wir im Brumaire Verlag sein dreiteiliges ABC des Kapitalismus veröffentlicht.
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Jenseits der Sozialdemokratie Aktuelles Kapitel
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Text: Wolfgang M. Schmitt Illustration: Sebastian Voigt
Captain America als Josef Stalin
Es rettet uns kein Superwesen Das Kino spiegelt die politische Wirklichkeit: Marvel-Helden zeigen uns, wie das globale Böse besiegt werden soll, während die Klimakatastrophe eine neue Sehnsucht nach autoritären Lösungen hervorruft. Im Jahr 2008 brach die Finanzkrise aus. In den Folgejahren glaubte die Troika das arg zerrüttete Europa mit einer undemokratischen und den Süden ausbeutenden Austeritätspolitik zu »retten«. Dieses neoliberale Imperium erhielt im selben Jahr Konkurrenz aus der Popkultur: Am 1. Mai läuft in Deutschland und einen Tag später in den USA die Comicverfilmung Iron Man in den Kinos an. Das war jedoch kein gewöhnlicher Filmstart eines x-beliebigen Blockbusters, sondern der Beginn des Marvel Cinematic Universe. Das Marvel-Studio, das 2009 von Disney gekauft wurde, kündigte an, den Superheldinnen und Superhelden ihres eigenen Universums sowohl Einzelfilme zu widmen als auch sie in gemeinsamen Filmen unter dem Titel Avengers auftreten zu lassen, um eine große Erzählung zu schaffen, deren Ende postmoderne Theorien voreilig verkündet
hatten. Das Projekt wurde auf vier Phasen angelegt. Die dritte konnte 2019 mit Avengers: Endgame und Spider-Man: Far From Home abgeschlossen werden. 2020 wird mit Black Widow die vierte Phase eingeläutet. Eine derart gigantische und langfristige Planung – die, wie wir sehen werden, nicht zufällig an die Fünfjahrespläne des chinesischen Präsidenten Xi Jinping erinnern – hat es in der Filmgeschichte bislang noch nie gegeben. Sie passt aber ideal in die globale politische Wirklichkeit unserer Gegenwart – wobei es richtiger wäre, zu sagen, dass das Kino diese Wirklichkeit vorweggenommen hat. Dass das Kino prophetische Kräfte hat, insofern es gesellschaftliche und massenpsychologische Verhältnisse widerspiegelt, stellt keine neue Erkenntnis dar. Das verrät ein Blick in Siegfried Kracauers ideologiekritischen 105
Modelle wie etwa der überaus erfolgreiche chinesische Staatskapitalismus etabliert. Mit seinem untrüglichen Gespür für den Geschmack des Massenpublikums und den Geruch des Geldes hat Hollywood das früh erkannt. Wenngleich nach dem 11. September einige hurra-patriotische Filme gedreht wurden, setzte mit den gescheiterten Missionen in Afghanistan und im Irak schnell Ernüchterung ein. Zudem sorgte der Zuschauerrückgang im Westen für ein Umdenken hin zum Globalen – denn in Indien und China eröffnen beinahe täglich neue Kinos.
Donald J. Trump, George Soros, Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdoğan stehen am Thanos Pappaufsteller Schlange
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Klassiker Von Caligari zu Hitler von 1947. Darin schrieb Kracauer über den Einfluss von Filmen auf eine Nation: »Was die Filme reflektieren sind weniger explizite Überzeugungen als psychologische Dispositionen – jene Tiefenschärfen der Kollektivmentalität, die sich mehr oder weniger unterhalb der Bewußtseinsdimension erstrecken.« Hinsichtlich des Marvel-Universums jedoch ist die Dimension nicht mehr auf eine Nation, nicht einmal mehr nur auf einen Kulturkreis begrenzt. Marvel-Filme sind ein globales Phänomen – auch in Indien und China fiebert man jeder Fortsetzung entgegen. Probleme mit der Zensur wird es kaum geben: Nacktheit und Erotik kommen in den Filmen nicht vor. Außerdem ist die Botschaft dieser Hollywood-Produktionen keineswegs mehr dem alten amerikanischen Imperialismus verpflichtet, wie es noch im Kino der 1980er und 90er üblich war. In ihrem 2019 erschienenen Buch Das Licht, das erlosch diagnostizieren die liberalen Intellektuellen Ivan Krastev und Stephen Holmes das Ende der Nachahmung. Das westliche Gesellschaftsmodell werde nicht mehr adaptiert, sondern vielmehr parodiert und als Farce reinszeniert. Auch haben sich inzwischen einige alternative
Marvel / Disney ist es gelungen, die für Hollywood typischen Ästhetiken und Erzählweisen beizubehalten, die längst zu einer Art internationalem Stil avanciert sind, zugleich aber die alten Inhalte – und damit den ideologischen Kern der Filme – radikal auszutauschen. US-amerikanischer Patriotismus und Imperialismus sind kaum noch zu finden. Stattdessen machen diese Filme die Leinwand zu einer Projektionsfläche, die jede Zuschauerin und jeder Zuschauer – ob in Ost oder West – miteigenen Vorstellungen füllen kann. Dieser ideale und allumfassende Rahmen ist jedoch der Rahmen des Autoritarismus. Marvel hat rechtzeitig erkannt, dass überall auf der Welt eine neue Sehnsucht nach Autoritäten aufgekommen ist. Dieser Autoritarismus ist es, den die Superheldinnen und Superhelden verkörpern, die weder vom Volk gewählt noch von der Regierung beauftragt sind.
Gut gegen Böse Die Marvel-Filme unterscheiden strikt moralisch zwischen Gut und Böse, nicht politisch zwischen Freund und Feind. Damit nehmen sie eine Welteinteilung vor, wie sie die US-amerikanische Außenpolitik jahrzehntelang geleitet hat – man denke etwa an George W. Bush und seine Rede von der »Achse des Bösen«. Allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied: Die ActionKulturpalast
Reißer mit Sylvester Stallone oder Arnold Schwarzenegger waren noch in konkrete geopolitische Kontexte eingebettet. Im Gegensatz dazu geht die Bedrohung in Marvel-Filmen nicht mehr von feindlichen Staaten, sondern von Superschurken wie Thanos aus, der einen gigantischen Völkermord plant. Dadurch haben sich die Identifikationsspielräume enorm vergrößert. Thanos kann in Indien für einen Pakistani gelten, in Pakistan aber für einen Inder, in Europa erkennen Liberale in ihm vielleicht Wladimir Putin, Neurechte hingegen George Soros, USRepublikaner die Demokraten und die Demokraten Donald Trump. Dessen Wahlkampfteam bestätigte im Dezember 2019 diese Sichtweise sogar, als es ein kurzes Video veröffentlichte, das gegen das Impeachment-Verfahren Stimmung machen sollte und in dem Trump als Thanos dargestellt wurde: »Ich bin unvermeidlich«, raunt eine dunkle Stimme aus dem Off, daraufhin schnippt Thanos / Trump mit den Fingern und man sieht, wie die Demokraten Nancy Pelosi, Adam Schiff und Jerry Nadler sich in Luft auflösen. So geschieht es am Ende von Avengers: Infinity War nämlich der halben Weltbevölkerung. Die liberale Empörung ließ nicht lange auf sich warten. Immerhin stellte sich hier ein Präsident bewusst auf die Seite des Bösen. Dadurch konnte man sich nun noch besser mit den Superheldinnen und Superhelden identifizieren, die genau genommen jedoch noch undemokratischer agieren als Trump. Nun ist leicht nachvollziehbar, dass Menschen mit autoritärem Charakter solchen Figuren zugeneigt sind, doch auch solche mit liberal-demokratischer Einstellung, ja, selbst postmodern geprägte Linke sind fasziniert. Wenn letztere in den vergangenen Jahren irgendetwas an Marvel-Filmen kritisiert haben, so bezog sich das stets nur auf die Frage der Repräsentation: Sind die Produktionen auch ja divers genug besetzt? Die bislang bitterste Pointe dieser Geschichte ist, dass Black Panther sowohl von identitätsEs rettet uns kein Superwesen
politischen Linken als auch von rechten Identitären gefeiert wurde. Hatte man dem etablierten Hollywood einst eine wütende Gegenkultur von kapitalismuskritischen, feministischen, antirassistischen ExploitationFilmen entgegengesetzt, in denen die Unterdrückten gegen die Gesellschaft der Unterdrücker kämpfen, so fordert man nun die völlige Inklusion in Disneys Imperium. Den antidemokratischen Impetus der Filme kritisieren diese progressiven Neoliberalen bezeichnenderweise nicht. Stattdessen wenden sie sich mit einem frommen Wunsch an den Milliardenkonzern Marvel / Disney: »Heal The World!«
Die Lösung der Probleme Doch zurück zu Iron Man ins Jahr 2008: Die Hauptfigur Tony Stark ist ein Unternehmer. Aus heutiger Sicht lässt sich dieser Charakter mit einem anderen Namen auf den Punkt bringen: Elon Musk. Während Musk 2008 noch lange nicht seinen heutigen Prominentenstatus genoss – wenn auch seine Vision von der Besiedelung des Mars bereits bekannt war – nimmt die Figur Tony Stark bereits viel von seiner Selbstdarstellung vorweg: Auch Stark wird die Aktionärinnen und Aktionäre seines Unternehmens mit kühnen Ideen vor den Kopf stoßen. Ebenso wie Musk ist er unberechenbar, launisch, genialisch und davon getrieben, die Welt zu retten. Beide vertreten die Ideologie des »Solutionismus« (Evgeny Morozov) – sie glauben, die Erde retten zu können, so wie ein Motor repariert werden kann. Iron Man beginnt damit, dass der Rüstungskonzernchef Tony Stark von Terroristen entführt wird. Mithilfe einer in seinem Verlies selbstgebauten Rüstung gelingt es ihm, sich zu befreien, wobei er sich in Iron Man verwandelt. Als solcher überdenkt er daraufhin die Unternehmensphilosophie seines Vaters, eines militaristischen Hardliners, und investiert stattdessen in die Forschung 107
Xi Jingping und Marvel-Helden auf Plakat
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effizienter, nicht-fossiler Energiegewinnung. Der sogenannte Arc-Reaktor ist für Tony Stark das, was für Musk Space X und Tesla sind. Stolz wird Stark in nachfolgenden Filmen auch als derjenige in Erscheinung treten, der den Weltfrieden privatisiert hat: Eigenmächtig interveniert er an der Seite der Avengers, deren Handeln stets – das zumindest verbindet sie mit Merkel – als alternativlos verkauft wird. Leckt der erste Iron Man noch US-amerikanische Wunden, indem er auf den Krieg gegen den Terror anspielt, treten im Laufe der drei Phasen dergleichen Konflikte in den Hintergrund, um planetarischen Bedrohungen Platz zu machen. Die Menschheit und die Erde sind in der Regel von einem extraterrestrischen Schurken bedroht, der gemeinsam vernichtet werden muss. Die Bürgerinnen und Bürger – sofern sie in den Filmen überhaupt einmal gezeigt werden – fungieren dabei als jubelndes
Publikum. Was fasziniert, ist die Mischung aus Charisma und Klamauk der Figuren sowie die rein technizistische, lösungsorientierte Vorgehensweise von Iron Man, Captain Marvel, Captain America, Hulk, Black Widow und den anderen. Die allegorisch durch Superschurken dargestellte Bedrohung ist hier nicht nur eine Projektionsfläche, auf die das Lieblingsfeindbild eines bestimmten Publikums projiziert werden kann. Marvel trifft noch einen weiteren, vielleicht entscheidenderen Nerv der Zeit: ihren Positivismus mit seinem Hang zum Autoritären, wo es um Weltrettung und Sicherheit geht. Es wird so getan, als würden Daten und Fakten für sich sprechen – als gebe es nur die eine Interpretationsmöglichkeit.
Kulturpalast
Ideologiefrei das Klima retten In Anbetracht des Erstarkens rechter Parteien und Bewegungen, die mit der Leugnung des menschengemachten Klimawandels werben, ist der Zahlen- und Datenfetischismus hinsichtlich der Klimaprognosen zwar verständlich – hochproblematisch ist er aber trotzdem. Und das hat zwei Gründe: 1. Der Positivismus, der einer empirischen Klimaforschung notwendigerweise zugrunde liegt, verleitet zu einer positivistischen Politik, die lösungsorientiert zu handeln versucht und dabei das Politische des Klimawandels ignoriert. Was dem Klima hilft, ist gut – so lautet bisweilen die Devise. Diese utilitaristische Sichtweise ist blind für das, was es eigentlich zu retten gilt. Der Planet Erde ist es nämlich nicht. Alan Weismans Bestseller Die Welt ohne uns: Reise über eine unbevölkerte Erde entwirft – vorausgesetzt, man Es rettet uns kein Superwesen
verspürt einen Freudschen Todestrieb in sich – ein beruhigendes Szenario, in dem die Natur nach dem Verschwinden der Menschheit den Planeten zurückerobert und die menschlichen Fußabdrücke nach und nach überwuchert. Die Erde braucht den Menschen nicht. Umkehrt aber ist der Mensch auf das Raumschiff Erde angewiesen. Das bedeutet, dass ein Klimaschutz, der nicht primär im Dienste der Menschen steht und etwa die Demokratie untergräbt, ein unsinniges Unterfangen ist. Die Natur würde uns unsere Selbstaufgabe sowieso nicht danken. Niemand hat dies besser auf den Punkt gebracht als Werner Herzog in seinem Dokumentarfilm Grizzly Man aus dem Jahr 2005. Dort zeichnet er die Lebensgeschichte des Naturfanatikers Timothy Threadwell mit Ausschnitten aus dessen Videomaterial nach, auf dem sein Zusammenleben mit Grizzlybären zu sehen ist. Die Raubtiere 109
sah Threadwell als seine Verbündeten im Kampf gegen eine überzivilisierte Welt. Eines Nachts jedoch wurde er mitsamt seiner Lebensgefährtin von einem Bären getötet. Herzog sagt beim Anblick der Nahaufnahme eines Grizzlybären etwas markerschütternd Wahres: »Und was mich verfolgt, ist, dass ich in den Gesichtern aller Bären, die Threadwell jemals gefilmt hat, keine Verwandtschaft, kein Verständnis und keine Gnade entdecke. Ich sehe nur die überwältigende Gleichgültigkeit der Natur. Für mich gibt es so etwas wie eine geheime Welt der Bären nicht. Und dieser leere Blick spricht nur von einem halb gelangweilten Interesse an Nahrung.«
»Folglich werden dann Unternehmer wie Musk oder Fondsmanager wie Larry Fink von Blackrock, die plötzlich Nachhaltigkeit ins Portfolio aufnehmen, superheldengleich bejubelt.« 2. Die Zahlen suggerieren, dass nicht länger geredet, sondern schleunigst gehandelt werden muss. Gewiss ist die Dringlichkeit der ökologischen Wende nicht zu leugnen, genauso wenig wie die unzureichende, an Arbeitsverweigerung grenzende Klimapolitik der deutschen Bundesregierung. Jedoch kann die Alternative nicht in China oder Indien gefunden werden, wo autoritäre Herrscher wie Superhelden entscheiden, was zu tun ist. Der Klimanotstand darf kein Ausnahmezustand sein, in dem ein Souverän entscheidet und die Parlamente umgeht, die schon Carl Schmitt als »Quasselbuden« bezeichnete. In seiner 1924 erschienenen Schrift Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus polemisierte 110
Schmitt gegen die parlamentarische Demokratie, die sich ihm zufolge in ewige Diskussionen verstrickt, aber nicht mehr zu entscheiden weiß. Diese antidemokratische Gefahr wächst allerdings, wenn Regierungen weiterhin fundamentale Veränderungen scheuen und stattdessen auf die Kräfte des Marktes hoffen. Folglich werden dann Unternehmer wie Musk oder Fondsmanager wie Larry Fink von Blackrock, die plötzlich Nachhaltigkeit ins Portfolio aufnehmen, superheldengleich bejubelt. Oder denken wir an jene Scientists For Future, die das Petitionsevent im Olympiastadion unterstützen: So alarmierend deren Forschungsergebnisse auch sind, ist es fatal, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie Avengers zu feiern, gerade weil auch sie sich gern als »ideologiefrei« inszenieren. Wie schon bei Marvel wird so die Weltrettung entpolitisiert.
Die Weltordnung der Harmonie Die Verweigerungshaltung der Regierungen gegenüber einer wahrhaft politischen Ökonomie und das Festhalten an der »schwarzen Null« sind der Nährboden für autoritäre Charaktere, die Probleme – auch die klimatischen – auf ihre Art zu lösen. Das liegt keineswegs nur in der Luft, sondern bereits ausformuliert in einem gerade in deutscher Übersetzung erschienenen Buch vor, das sich wie eine Supervision der SuperheldenFilme der vergangenen zwölf Jahre liest. In Alles unter dem Himmel entwirft der chinesische Staatsphilosoph Zhao Tingyang eine hierarchisch strukturierte Weltordnung: »Das Konzept des Tianxia zielt auf eine Weltordnung, worin die Welt als Ganzes zum Subjekt der Politik wird, auf eine Ordnung der Koexistenz (order of coexistence), welche die ganze Welt als eine politische Entität betrachtet. Die Welt unter dem Aspekt des Tianxia zu begreifen, bedeutet, die Welt als Ganzes zum gedanklichen Ausgangspunkt der Analyse zu machen, um eine der Realität der Globalisierung adäquate politische Ordnung entwerfen zu können.« Kulturpalast
Das klingt in etwa so esoterisch wie die Marvel-Dialoge, in denen immerzu von einer Welt in Harmonie die Rede ist. Wie den Avengers geht es auch Zhao Tingyang nicht um universalistische Weltpolitik, wie sie von Kant maßgeblich in der Schrift Zum ewigen Frieden ausgearbeitet wurde. Stattdessen stellt er die Menschenrechte infrage. In innerstaatliche Angelegenheiten soll sich die Weltregierung mit dem weisen und wissenschaftlich informierten Souverän an ihrer Spitze nicht einmischen. Alles andere soll global gelenkt werden. Äußeres soll in Inneres umgewandelt werden und in einer Einheit aufgehen, die eine Freund / Feind-Unterscheidung überflüssig macht. Zhao Tingyang setzt bei der neuen Weltordnung, die in Wahrheit das System Xi Jinping auf den gesamten Planeten ausdehnt, ganz auf Sicherheitspolitik: Nicht der Kampf gegen Ungleichheit oder gegen die Macht des Kapitals interessiert ihn; forciert wird stattdessen eine sichere Welt, in der der Mensch vor Bedrohungen bewahrt wird – mitunter wohl auch vor der Bedrohung der Freiheit, denn die Bedeutung von Wahlen ist in dieser Ordnung vernachlässigt.
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LE A T O B I TÄ E N L G AR ÜR EIN US F LISM T F ID NA KUN L O I U T Z O A INT
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Im ersten Avengers-Teil werden bereits alle Handys angezapft, um bald wieder Sicherheit herstellen zu können – eine Vision, die die Avengers mit Xi Jinping und Horst Seehofer teilen. Dem Kapitalismus kommt diese Weltordnung ganz recht, bleibt doch in ihr die Sicherung des Eigentums gewährleistet. Die jüngst Grégoire Chamayou in seiner brillanten Studie Die unregierbare Gesellschaft aufgezeigt hat, kann der Wirtschaftsliberalismus hervorragend mit autoritärer Politik koexistieren. Die Finanzströme dürfen weiterhin grenzenlos fließen und in jedem Land – ob es die Menschenrechte achtet oder nicht – sind eigene, identitäre Märkte zu bedienen. Gucci und Adidas bringen das Globale und das Partikulare derzeit mustergültig zusammen: 2020 ist das chinesische Jahr der Ratte beziehungsweise der Maus, weshalb die beiden Modekonzerne nun Schuhe und Kleider mit Mickey Mouse-Motiven bedruckt haben. Das erfreut in Ost und West – wie es Marvel vorgemacht hat. Alles unter Disneys Himmel.
Um die Coronakrise zu lösen und unsere Wirtschaft ökologisch umzubauen, muss die Linke den Internationalismus wiederentdecken: als intellektuellen Rahmen, um das kapitalistische G N Weltsystem zu verstehen, und U FT STI als politische Strategie, um es R G E R R D MBU E zu transformieren. I XE SS DO A-LU S RO
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Wo ist das Eine kleine Geschichte der Neoliberalisierung in der Schweiz.
Gipfeli
geblieben?
Text: Caspar Shaller Bild: Katrin Mentz
Ein ungewohntes Ärgernis ist über die Schweiz gekommen. Immer mehr Züge kommen zu spät, die SBB macht mit Pannen und Todesfällen Schlagzeilen. Vorbei die Zeiten, als bei einem Totalausfall des Zürcher S-BahnNetzes SBB-Angestellte ausschwärmten, um die wütende Schar von Pendlerinnen und Pendlern mit Kaffee und Gipfeli zu besänftigen. Die SBB war in den 60er Jahren dafür weltberühmt, während eines Jahres weniger als zwei Minuten Verspätung zu verzeichnen. Heute ist es normal, im dicht getakteten Netz die Anschlüsse zu verpassen. Mittlerweile erreichen pro Tag 300.000 Fahrgäste ihr Ziel zu spät. Dazu platzen die Züge aus allen Nähten, selbst in der ersten Klasse steht man – während die Billetpreise explodieren. Seit 1990 ist die SBB 80 Prozent teurer geworden. Ebenso sehr wuchsen staatliche Zuschüsse an die Bahn, während der Vorstandsvorsitzende sein Jahresgehalt auf über eine Million Franken steigerte. Wenig überraschend sank die Kundenzufriedenheit 2019 auf das niedrigste je erhobene Niveau. Denn wenig rührt so sehr am Selbstverständnis der Schweiz wie Probleme bei der Bahn.
Grossbanken und Konzerne wie etwa Google zu überbauen – oder mit Luxusapartments mit Mieten von 10.000 Franken im Monat. Umfragen zeigen, dass der gestörte Wohnungsmarkt zu den grössten Sorgen der Menschen zählt – nun fängt auch noch der Staat damit an, durch die ihm gehörende SBB mit Immobilien zu spekulieren. Der grösste Preistreiber bei den Mieten ist aber das Rentensystem. Seit 1985 sind die Bürgerinnen und Bürger der Schweiz gesetzlich dazu gezwungen, einen Teil ihrer Rentenvorsorge privaten Pensionskassen zu überantworten. Die Pensionskassen sind die grössten Immobilienbesitzerinnen der Schweiz – und jagen Mieten in die Höhe, um angeblich die Renten zu sichern. Zugleich verkünden sie jedes Jahr, die Renten müssten sinken – die Situation auf dem Aktienmarkt sei schwierig und so weiter. Zwei Drittel aller neuen Renten aus diesem System belaufen sich auf weniger als 1.000 Franken (die Armutsgrenze liegt in der Schweiz bei 2.300 Franken). Zugleich nehmen sich die Kassen jährlich über sechs Milliarden aus dem Topf, um die Gehälter und Boni des Managements zu finanzieren.
Dabei beschweren sich die Menschen in der Schweiz ohnehin schon über explodierende Mieten, das überteuerte Gesundheitswesen und sinkende Renten – jetzt kommen nicht einmal mehr die Züge pünktlich. Diese Entwicklungen haben alle dieselbe Ursache: Seit den 80er Jahren sind öffentliche Institutionen nach marktwirtschaftlichen Regeln umorganisiert worden. Selbst die Strafverfolgung soll jetzt für private Detekteien geöffnet werden, die gegen Kopfgeld nach vermeintlichen Fällen von Sozialhilfebetrug fahnden sollen. Die SBB gehört zwar Bund und Kantonen, ist jedoch als ein Privatunternehmen organisiert, das Profit machen soll. Das hat absurde Folgen im ganzen Land, selbst auf dem Mietmarkt. Denn die SBB ist eine der grössten Landbesitzerinnen der Schweiz. Nun hat sie damit begonnen, innerstädtische Grundstücke mit Büros für
Das Prinzip, die Bürgerinnen und Bürger per Gesetz dazu zu zwingen, private Unternehmen für Dienstleistungen zu bezahlen, die der Staat günstiger und effizienter bereitstellen könnte, gelangt im Gesundheitssystem zur Formvollendung. Es gilt die Pflicht, krankenversichert zu sein, die Kassen sind jedoch allesamt privat. Es gibt 58 verschiedene Kassen – doch was sie unterscheidet, ist nicht klar. Schliesslich ist gesetzlich geregelt, welche Leistungen sie zu bezahlen haben. Konkurrenz auf dem Markt führt nicht zu mehr Effizienz: Die Schweiz hat das zweitteuerste Gesundheitssystem der Welt – nach den USA. Prämien kosten im Schnitt um die 500 Franken im Monat. Und in Städten sowie bei zunehmendem Alter kann dieser Betrag stark steigen. Dazu müssen je nach Kassenmodell die ersten paar hundert bis sogar paar tausend Franken
Wo ist das Gipfeli geblieben?
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»Wenn Politik nur Wohltätigkeit ist, fehlt ihr jede Dringlichkeit.« 114
Die Korruption im Gesundheitsbereich ist unverhohlen. Im letzten Parlament übten von 200 Nationalrätinnen und Nationalräten ganze 27 ein bezahltes Nebenamt bei einer Krankenkasse aus – sei es als Beirat oder als Mitglied der Geschäftsleitung. Und das sind nur die öffentlich einsehbar bezahlten Mandate. Die Schweiz kennt als einzige Demokratie der Welt kein Gesetz, das Politikerinnen und Parteien dazu verpflichtet, Spenden oder Nebenämter zu melden. Die Kapitalinteressen haben sich auch auf ideologischer Ebene durchgesetzt. An Schweizer Universitäten wird das New Public Management als die einzige Methode zur Organisation der Verwaltung unterrichtet. Die Theorie verspricht den behäbigen öffentlichen Sektor zu modernisieren, indem Ämter und öffentliche Betriebe zu kleinen Unternehmen umgestaltet werden. Diese Denkweise hat jedoch häufiger Korruption als effiziente Verwaltung zur
Folge. So auch im Fall des Postauto-Skandals, der die Schweiz 2018 erschütterte. Die Post erhält für die Sicherung des öffentlichen Verkehrs in ländlichen Regionen vom Bund Subventionen, darf aber keinen Gewinn schreiben. Allerdings machte sie sehr wohl Profit, den sie jedoch mit buchhalterischen Tricks verheimlichte. So erschlich sich die Post fast 200 Millionen Franken an Zuschüssen. Die Post ist eine private Aktienfirma, die vollständig dem Bund gehört. Somit hat ein Teil des Staates (die Post) einen anderen Teil (das Verkehrsdepartement) betrogen. Verdient hat daran bloss die Konzernleitung, die sich mehrere hunderttausend Franken an Boni auszahlte (zusätzlich zu ihren Gehältern, die bereits höher lagen als die von Regierungsmitgliedern), sowie das Beratungsunternehmen KPMG, das das Management bei seinem buchhalterischen Betrug unterstützte. Diese Reformen und ihre Folgen widersprechen der weit verbreiteten Überzeugung, der Staat solle gute öffentliche Dienstleistungen zur Verfügung stellen. Diese Überzeugung setzen die Schweizer Wählerinnen und Wähler mit Referenden und Initiativen immer wieder durch, oft gegen den Willen der Politik. So auch gegen den Plan der rechten Parlamentsmehrheit im Kanton Zürich, 2019 die öffentliche Wasserversorgung für private Investitionen zu öffnen. Selbst die medialen Trommeln der NZZ konnten die Menschen in Zürich nicht von der Vorlage überzeugen. Das Vorhaben kam ausgerechnet bei den Wählerinnen und Wählern der rechtspopulistischen und neoliberalen SVP besonders schlecht an. Auch Versuche, das Rentensystem noch weiter zu straffen, scheiterten regelmässig an der Urne. Das zeigt, wie unbeliebt schleichende Privatisierungen sind – selbst unter Wählerinnen und Wählern bürgerlicher Parteien. Die historische Schlappe für die SVP bei den nationalen Wahlen im Herbst 2019 kam deshalb wenig überraschend. Zwar ist sie noch immer die grösste Partei, doch noch nie Kulturpalast
Dem Internationalismus verpflichtet: Ein kleines Schweiz-Glossar
Kosten selbst berappt werden. Bei niedrigen Einkommen zahlt der Staat zwar einen Beitrag an die Versicherungskosten, doch so subventioniert die öffentliche Hand private Unternehmen. Die Ansicht ist verbreitet, das Schweizer Gesundheitswesen sei zwar teuer, aber auch das beste der Welt. Aber kratzt man an der Oberfläche, erweisen sich die Gesundheitsstatistiken als schlechter, als man es in der rankingverwöhnten Schweiz gewohnt ist. Die Kindersterblichkeit etwa liegt in der Schweiz höher als in all ihren Nachbarländern. Die Schweizer Medien machen dafür Migrantinnen und Migranten verantwortlich, die ihre Kinder aufgrund vermeintlicher Unbildung nicht medizinisch behandeln lassen würden. Eine andere Erklärung liegt näher: In Italien, wo das Gesundheitssystem fast komplett staatlich ist, kostet ein ärztliche Behandlung nichts. In der Schweiz dagegen muss man dafür trotz Versicherung viel Geld bezahlen. Da überlegt man es sich zweimal, bevor man ins Krankenhaus oder in die Praxis geht.
SBB Gipfeli ss Nationalrat SP Stadtpräsidentin Stapi Buurezmorge
Juso
in der 172-jährigen Geschichte des Bundesstaates hat eine Partei so viele Stimmen verloren. Die parlamentarische Linke profitiert davon allerdings wenig: Auch die SP erlebte eine historische Schlappe, die der Anstieg der Grünen kaum ausgleicht. Auch wenn die SP linker politisiert ist als vergleichbare sozialdemokratische Parteien wie die SPD, ist der rechte Parteiflügel einflussreich, und sie hat den Reformen der Schweizerische letzten Jahre zu Bundesbahnen wenig entgegengesetzt. Croissant Die SP ist überall an ß der Macht beteiligt, in der Grosse Kammer des Parlaments Bundesregierung, den SozialdemokraKantonen, und stellt in tische Partei allen grösseren StäBürgermeisterin dten die StadtpräsdentinKurz für Stadtpräsidentin nen und StadtpräsiBauernfrühstück; denten. Zugleich sind die öffentliche Anlässe Mieten in der Städten auf dem Land explodierter – aber, wie mit Frühstück Jugendorganisation viele sagen, nicht der SP trotz der SP-Stapis, sondern gerade wegen ihnen. Die Wahlbeteiligung in der Schweiz ist so niedrig, wie in kaum einem anderen westlichen Land ausser den USA. Aber warum sollten die Menschen auch wählen, wenn die linken Parteien keinen Willen zeigen, konfrontativ zu sein? Sie sind zu sehr in das politische System eingebunden, als dass sie eine Alternative darstellen zu könnten. Personell rekrutieren sie sich hauptsächlich aus der Mittelschicht. Die SP ist eine Partei der gut ausgebildeten Städterinnen und Städter – die Grünen sowieso. Dazu muss man wissen: In der Schweiz machen immer noch nur circa 20 Prozent eines Jahrgangs Matur, in Deutschland hingegen fast 50 Prozent das analoge Abitur. Die Repräsentations-Lücke ist in der Schweiz also noch viel stärker ausgeprägt als in anderen bürgerlichen Demokratien. Linke Politik wird in der Schweiz von privilegierten Menschen und aus moralischer Überzeugung gemacht, Wo ist das Gipfeli geblieben?
dass die Welt besser sein sollte – nicht aus Betroffenheit und persönlichem Interesse an der Besserung der Verhältnisse. Wenn Politik nur Wohltätigkeit ist, fehlt ihr jede Dringlichkeit. Was der personellen Zusammensetzung von Parteien und Verbänden nicht zuträglich ist: Die Hürden, die Schweizer Staatsbürgerschaft zu erlangen, sind so hoch, dass fast ein Drittel der Bevölkerung kein Wahlrecht besitzt. Die arbeitende Klasse setzt sich heute grossteils aus Migrantinnen und Migranten zusammen, die von politischen Prozessen ausgeschlossen sind. Dagegen hilft es aber auch nicht, Migrationshintergrund und arbeitende Klasse gleichzusetzen, wie es die Schweizer Linke mit wohlwollendem Chauvinismus oft tut. Auch setzt sich die Linke nicht ernsthaft mit den eigenen Versäumnissen auseinander. Wie konnte sie es zulassen, dass die SVP zur erfolgreichsten rechtspopulistischen Partei Europas wurde? Offensichtlich gibt es in der Schweiz grosse Angst vor Abstieg und Ärger über korrupte Institutionen – doch die SVP bewirtschaftet diese Stimmung seit 30 Jahren, nicht die Linke. Die SVP macht Buurezmorge und überzieht das Land mit der Propaganda ihrer gekauften Medien. Wo ist die Linke im Leben der Menschen? Die kämpferischen Gewerkschaften und der Frauenstreik sind ein Lichtblick in diesem Trauerspiel, das die Schweizer Linke bietet. Ebenso die Juso. Sollte es noch einmal zu einem Linksruck in der SP kommen, wäre es am wichtigsten, das grosse Geld aus der Politik zu verbannen. Anderenfalls wird es so gut wie unmöglich sein, Forderungen nach einer hohen Erbschaftsteuer oder einer starken öffentlichen Rente und Krankenversicherung durchzusetzen oder die schleichende Privatisierung des service public rückgängig zu machen. Vielleicht kommen die Züge dann auch wieder rechtzeitig. Und es gibt Gipfeli.
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Verpreußung Text: Pujan Karambeigi
In der Rekonstruktion feudaler Prunkbauten hat eine rechte Globalisierungskritik ihre Architektur gefunden. Die knapp zwanzigtausend Tonnen schwedischen Stahls, die 2006 / 0 7 beim »selektiven Rückbau« des Palastes der Republik freigelegt wurden, fanden dank ungehemmter internationaler Kapitalmärkte schnell neue Abnehmer: »Die letzten Reste des Sozialismus werden nun für technische Innovationen in Wolfsburg verarbeitet beziehungsweise im Wüstensand des kapitalistischen Dubai verbaut.« Der süffisante Kommentar einer FDP-Politikerin spielte darauf an, dass der Stahl des ehemaligen DDR-Regierungssitzes einerseits bei VW zu Bauteilen des Golf IV eingeschmolzen und andererseits in den Bau des Burj Khalifa – des höchsten Gebäudes der Welt – integriert wurde.
Die Baustelle des Berliner Stadtschlosses im März 2020. (Fotografien auf dieser Doppelseite: Miriam Häfele)
Das damalige »Bündnis der Mitte« aus CDU, SPD und FDP ließ verlauten, dass der »selektive Rückbau« von DDR-Ikonen notwendig sei, um neue Räume zu erschließen, in denen sich das endlich geeinte Deutschland eine neue politische Identität geben könnte. Für das Grundstück des abgerissenen Palastes der Republik bedeutete das die RekonstrukKulturpalast
tion des alten Stadtschlosses mit seiner protestantisch-barocken Fassade. Diese hatte Andreas Schlüter seinerzeit entworfen, um dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation einen triumphalen Start ins 18. Jahrhundert zu bescheren. Wie Recherchen der Architekturtheoretikerin Anna Yeboah für die Zeitschrift ARCH+
jüngst zutage förderten, wurde der ursprüngliche Bau der Fassade auch aus den enormen Gewinnmargen der BrandenburgischAfrikanischen Compagnie bestritten – einem Unternehmen, das mit Kolonialwaren und versklavten Menschen handelte. 117
»Deutschland ist zu einem Vorreiter staatlich subventionierter Rekonstruktion geworden.« PPG Industries Plaza and Tower in Pittsburgh. (Fotografie: Derek Jensen (Tysto))
Außerdem wurde dem Schloss auch die nachträglich von Karl Friedrich Schinkel hinzugefügte Kuppel wieder aufgesetzt, die das Berlin von 1853 als Aussichtsplattform der Welt installieren sollte.
zu machen, hat die Verglasung in diesem Fall den Effekt, dass sich das Gebäude endlos in sich selbst spiegelt. Der hierbei angewandte architektonische Trick war wiederum von Karl Friedrich Schinkel inspiriert. In Pittsburgh wie auch bei Schinkels Altem Museum in Berlin führte der massive Einsatz von Ecken in der Fassade dazu, dass sich das Gebäude von seiner Umwelt ab- und sich selbst zuwendet. So wird Ort- und Orientierungslosigkeit hergestellt; »ein Zeit-Raum, der weder Innen noch Außen, weder hier noch dort, weder dies noch das, weder jetzt noch dann ist«, wie der Architekturhistoriker Reinhold Martin schreibt.
Die Absurdität dieses Identitäts-Recyclings, in dem das neue deutsche Nationalnarrativ ausgerechnet aus der Wiederverwertung preußischer Geschichte bestritten werden soll, ist häufig angemerkt worden. Doch was dabei übersehen wird, ist die Funktion dieses Recyclings in der Gegenwart: Rekonstruktives Bauen ist das Medium einer rechten Globalisierungskritik. Deutschland ist zu einem Vorreiter staatlich subventionierter Rekonstruktion geworden: Von der Frankfurter Altstadt und dem Berliner Stadtschloss, über die benachbarte Schinkelsche Bauakademie und die Garnisonskirche in Potsdam bis hin zum Dresdner Neumarkt und dem Braunschweiger Schloss wird mit dem Neoklassizismus eine positiv identitätsstiftende Version deutscher Geschichte wieder aufgebaut. Dieser auch politisch restaurative Trend beschränkt sich jedoch nicht auf Deutschland. Zuletzt forderte Donald Trump, die Fassaden US-amerikanischer Regierungsgebäude neoklassizistisch zu sanieren. Doch wofür genau steht die rekonstruktive Architektur? Welche Perspektiven bietet sie an? Und wie kann es sein, dass sie auf eine so breite politische Zustimmung bauen kann? Zunächst müssen wir verstehen, dass Architektur nicht zuerst autonom ist, um dann im Nachhinein politisch vereinnahmt zu werden. Schon das Bauen selbst ist ein politischer Prozess. Dies wird deutlich, wenn man den jüngsten Trend zur Rekonstruktion mit einer vorhergehenden architektonischen Welle vergleicht: der postmodernen Architektur der 1980er Jahre. Unter anderem Jürgen Habermas, Jean-François Lyotard und Fredric Jameson stellten damals heraus, wie postmodernes Bauen die neuen Kulturpalast
Das Berliner Stadtschloss auf einer Postkarte aus den 1920er Jahren
Allianzen des Spätkapitalismus widerspiegelte und zum Teil sogar erst organisierte. Einen der Höhepunkte dieser Architektur stellt das von Philip Johnson und John Burgee entworfene und 1984 fertiggestellte PPG Industries Plaza and Tower in Pittsburgh dar.
»Zunächst müssen wir verstehen, dass Architektur nicht zuerst autonom ist, um dann im Nachhinein politisch vereinnahmt zu werden. Schon das Bauen selbst ist ein politischer Prozess.« Das Gebäude ist dem ikonischen Victoria Tower am Westminster Palace in London nachempfunden, der seinerzeit als ein feuerfester Behälter für das Parlamentsarchiv errichtet wurde. Doch während das neugotische Original aus Stein gearbeitet ist, glänzt die postmoderne Neuauflage mit einer Fassade aus verspiegeltem Glas. Anstatt aber im Sinne von Offenheit und Transparenz die soziale Umwelt der umliegenden Stadt sichtbar Verpreußung
Diese Auflösung von Innen und Außen, Selbst und Anderem, Hier und Dort verbildlicht jene globalen Flüsse von Waren und Kapital, die aus dem Inneren des PPG Plaza organisiert werden sollten und sich seit den 1970er Jahren zunehmend nationaler Kontrolle entzogen. Die Halluzination des bis in die Unendlichkeit verspiegelten Innens machte jeden Gedanken an ein Außen obsolet, auch im Sinne des politischen Widerstands gegen den Status quo. So wurde an einer »Ökonomie mit Spiegeln« konspiriert, wie der marxistische Geograph David Harvey die Koalition aus Architektur und Finanzkapital auf den Punkt bringt. Nicht das Innen der Globalisierungsmaschinerie wird in postmoderner Architektur verschwiegen, sondern die Möglichkeit eines Außen, also einer politischen Alternative. Im rekonstruktiven Bauen und seiner neuen »Phänomenologie des Kapitals« (wiederum Reinhold Martin) lässt sich nun auch ein neues ideologisches Kräfteverhältnis feststellen. Anstatt wie beim PPG Plaza das Außen des Stadtraums zu tilgen, um im Anblick der sich selbst zugewandten Spiegelfassade die Unendlichkeit einer globalisierten Finanzwirtschaft zu halluzinieren, wird durch die Rekonstruktion der protestantischen Barockfassade der von Schinkel konzipierte Berliner 119
»Die Halluzination des bis in die Unendlichkeit verspiegelten Innens machte jeden Gedanken an ein Außen obsolet, auch im Sinne des politischen Widerstands gegen den Status quo.« »Selektiver Rückbau« des Palastes der Republik. (Fotografie: Richard Stahl)
Stadtraum des 19. Jahrhunderts nachgebildet: »Das Schloss wird das vertraute Bild Berlins wiederherstellen, die historische Mitte vervollständigen, das Stadtbild heilen« und damit »Spree-Athen« wieder auferstehen lassen – liest man auf der Website des Fördervereins Berliner Schloss. Diese Rekonstruktion einer homogenen Identität der
»Innen die Welt als navigierbares Panorama, außen die Fassade einer homogenen Identität.« deutschen »Hellenen des Nordens« steht im krassen Widerspruch zum Innenraum des Humboldt Forums. Hier wird in neutralmodularer Museumsarchitektur »die ganze Welt« in Gestalt außereuropäischer Objekte aus kolonialer Vorzeit präsentiert. Dabei nimmt die Kuppel vorweg, in welcher Weise auf diese Welt zugegriffen 120
wird: Der kosmologischen Tradition der Renaissance entsprungen, strebt die Kuppel nach der Perspektive, aus der Gott auf seine Welt hinab blickt. Damit bezieht sie jenen »einheitlichen und homogenen Blickpunkt«, den der Kulturtheoretiker Stuart Hall auch an der Sichtweise des Kolonialismus aufwies. Der Kontrast zur postmodernen Halluzination könnte kaum stärker sein. Innen die Welt als navigierbares Panorama, außen die Fassade einer homogenen Identität: Dass mit dieser radikalen Unterscheidung von Außen und Innen Nostalgie für Vergangenes an die Stelle der Bejahung des Status quo tritt, lässt erahnen, dass sich auch die politischen Allianzen verschoben haben. Vorbei die politische Rhetorik einer Globalisierung, die an keiner Grenze halt macht. Vorbei der Glaube, dass die Differenz zum Außen durch radikale Inklusion getilgt werden kann. Synchron zur Legitimationskrise globaler Institutionen beerdigt die Assemblage aus Stadtschloss und Humboldt Forum auch eine bestimmte Erzählung von der Globalisierung. Zugleich soll die ungeliebte Realität des Multikulturalismus durch die Fiktion einer ungebrochenen nationalstaatlichen Identität »geheilt« werden. Dass zwischen 1955 und 1973 knapp vierzehn Millionen »Gastarbeiter« nach Deutschland geholt wurden, um die boomende Nachkriegswirtschaft mit günstiger Arbeitskraft zu versorgen und die Rentenversicherung der Deutschen zu »subventionieren«, wird durch die Einfühlung in längst vergangene Zeiten übergangen. Das rekonstruktive Bauen ist Ausdruck einer rechten Antwort auf die Krise der neoliberalen Globalisierung.
eines neoliberalen Nationalismus, dem es gelang, sich als Globalisierungskritik zu maskieren. Wie etwa an der Af D zu sehen ist, rückt dabei Xenophobie – also die ideologische Essenzialisierung ökonomischer und ethnisierter Ungleichheit – ins Zentrum.
Feierabend auf der Baustelle des Berliner Stadtschlosses (Fotografie: Miriam Häfele)
tärer Ideologie und migrationsfeindlicher Xenophobie« herausbildete. Genährt in den Brutkästen neoliberaler Think Tanks verfestigte sich diese Koalition durch die geteilte Skepsis gegenüber der EU, die in ihren Augen sowohl Umverteilung organisierte als auch die Freiheit des Wettbewerbs bedrohte. Aus dieser Frontstellung ergab sich die scheinbar unwahrscheinliche Koalition
Das Stadtschloss ist das wahrscheinlich prominenteste Monument dieser politischen Verschiebung. Anders als beim PPG Plaza werden Privatisierung, Entpolitisierung der Märkte und globale Kapitalflüsse nicht mehr offen bejaht. Stattdessen soll der nostalgische Rückgriff auf die Hülsen ehemaliger Nationalstaatlichkeit die soziale Unsicherheit kompensieren, die im Zuge des »selektiven Rückbaus« gesellschaftlicher Solidarität entstanden ist. Dass die dahinter liegenden Infrastrukturen dabei unberührt bleiben, ist der neuralgische Punkt, an dem linke Kritik ansetzen muss.
»Das rekonstruktive Bauen ist Ausdruck einer rechten Antwort auf die Krise der neoliberalen Globalisierung.«
»Das Buch der Stunde. Ein fulminantes Werk über eine Kindheit in Armut.« Rhein-Zeitung
»Eindrucksvoll, ohne Zeigefinger und befreiend witzig.« Stern
»Christian Baron erzählt einfühlsam von Menschen, die nie eine Chance hatten.« Deutschlandfunk
»Eine literarische Überraschung.« rbb
Ein plausibles Narrativ für diese Verschiebung in der Verwendung von Stahl, Glas und Beton bieten die Wirtschaftshistoriker Quinn Slobodian und Dieter Plehwe an. In ihrem jüngst erschienenen Essay Neoliberals against Europe beschreiben sie, wie sich im Laufe der 1990er Jahre »ein neuer Hybrid aus liberKulturpalast
»Christian Baron setzt bewusst auf die Kraft der schonungslosen Offenheit. Die Wucht seiner Erzählung gibt ihm Recht.« SR2 Kulturradio
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Sex im Sozialismus Interview: Meagan Day, Übersetzung: Martin Neise, Illustration: Marvin Traber
Kristen Ghodsee liefert den Beweis, dass wirtschaftliche Unabhängigkeit und sexuelles Vergnügen zusammengehören. Ihr Buch »Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben« zeigt die Erfolge der sozialistischen Frauenbewegung. In den ehemals staatssozialistischen Ländern arbeiten Frauen viel häufiger in sogenannten MINT-Berufen als im Westen. Wie kommt das?
Osteuropa auf die 50er Jahre zurück. Frauen wurde sogar die militärische Ausbildung zuteil – so wurden sie Pilotinnen, Scharfschützinnen und Fallschirmjägerinnen.
Das liegt daran, dass Frauen im Staatssozialismus gezielt in diesen Berufen ausgebildet wurden. Im Augenblick haben Bulgarien und Rumänien die höchsten Frauenanteile im Tech-Sektor in der gesamten EU. Dort wurde eine Politik betrieben, die es Frauen erlaubte, genau jene Berufe zu ergreifen, die im Westen von Männern dominiert blieben. Es war ein gemeinsames Projekt der staatssozialistischen Regierungen, Frauen in vormals männlich geprägte Wirtschaftsbereiche wie das Rechtswesen, die Medizin, die Forschung oder das Bankwesen zu integrieren. Diese Anstrengungen gingen im Falle der Sowjetunion auf die 30er Jahre und in
Trotzdem bildete sich im Sozialismus des 20. Jahrhunderts eine neue geschlechtliche Arbeitsteilung heraus. Sozialistische Ökonomien werteten harte physische Arbeit höher als zum Beispiel Büroarbeiten. Und Männer waren häufiger mit ersterer betraut, während Frauen häufiger die letzteren erledigten. Die Arbeit von Männern war oftmals besser entlohnt. Allerdings sind Löhne von geringerer Bedeutung, wenn der Staat eine große Bandbreite sozialer Dienste zur Verfügung stellt. Der Staat garantierte Arbeit, Wohnungen, Gesundheitsversorgung, Bildung, 123
Kinderbetreuung und bezahlten Mutterschaftsurlaub. Frauen wurden zwar nicht so gut bezahlt wie Männer, aber sie hatten eine größere wirtschaftliche Unabhängigkeit von Männern als es heute der Fall ist. Staatssozialistische Regierungen begannen nicht nur Gesundheitsversorgung, Wohnen und Bildung zu vergesellschaften, sondern auch Hausarbeit und Kindererziehung. Was waren die Gedanken dahinter?
»Wir können beobachten, dass Frauen nicht in unbefriedigenden Beziehungen bleiben, wenn sie wirtschaftlich unabhängig sind.« Die Vorstellung, Hausarbeit gemeinschaftlich zu organisieren, um ihr gesellschaftlichen Wert zu geben, geht zurück auf die utopistische Sozialistin Flora Tristan im Frankreich der 1840er Jahre. Jahrzehnte später kam der deutschen Sozialistin Lily Braun die Idee einer »Mutterschaftsversicherung«. Und das Konzept einer Vergesellschaftung der Kindererziehung wurde von Clara Zetkin noch weiter entwickelt. Die Theorie wurde nach 1917 in der Sowjetunion mit der Unterstützung Lenins umgesetzt – und zwar insbesondere von Alexandra Kollontai, die Volkskommissarin für Soziale Fürsorge war. Kollontai versuchte die Vergesellschaftung der Kindererziehung durch die Gründung von Kinderhäusern zu erreichen. Sie wollte öffentliche Kantinen einrichten, in denen die Menschen gemeinschaftlich essen konnten. Auch wollte sie öffentliche Waschhäuser bauen lassen. Und sie wollte Flick-Genossenschaften gründen, weil das Flicken von 124
Kleidung den Frauen zu Hause damals viel Arbeit machte. Sie ging nämlich davon aus, dass diese Arbeit gemeinsam effektiver gestaltet und so die einzelnen Frauen entlastet werden könnten. Diese Versuche wurden alle in den 20er Jahren unternommen. Aber sie scheiterten, weil der sowjetische Staat nicht reich genug war. All diese Gesetze wurden bis 1936 zurückgenommen, weil Stalin im Grunde sagte: »Wir müssen unsere Ressourcen zusammenführen und sie in die Industrie stecken. Es ist für uns viel günstiger, wenn die Frauen diese Arbeit unbezahlt zu Hause machen.« Doch die Politik, die Kollontai in den 20ern umzusetzen versuchte, lebte nach 1945 in Osteuropa wieder auf. Welche Auswirkungen hatten diese strukturellen Veränderungen auf die Beziehungen zwischen Männern und Frauen in den staatssozialistischen Ländern? Ich denke da an ein Beispiel aus Deinem Buch, in dem Männer feststellen, dass es schwierig war, Frauen in Ostdeutschland mit einem hohen Gehalt zu imponieren. Einer erinnert sich: »Man musste interessant sein.« Wir können beobachten, dass Frauen nicht in unbefriedigenden Beziehungen bleiben, wenn sie wirtschaftlich unabhängig sind – also wenn sie nicht verheiratet sein müssen, um ihre Kinder versorgen zu können, wenn sie Zugang zu Jobs, Renten und Wohnungen haben und Grundbedürfnisse wie Strom und Nahrung bezuschusst werden. Wenn sie
gehen können, dann bleiben sie nicht bei Männern, die sie nicht gut behandeln.
»Ich gehe davon aus, dass sich Männer in einer Kultur, in der Frauen mehr wirtschaftliche Möglichkeiten haben, auf gewisse Weise selbst zivilisieren.« Wenn also ein Mann heterosexuell ist und mit einer Frau zusammen sein möchte, ist es nicht so einfach, die Frau zu bekommen, indem er ihr ökonomische Sicherheit bietet oder indem er ihr etwas kauft, das sie benötigt. Er muss auf andere Weise attraktiv sein, freundlich und rücksichtsvoll. Dabei zeigt sich: Wenn Männer »interessant« sein müssen, um Frauen anzuziehen, dann sind sie es auch. Aus ihnen werden tatsächlich bessere Männer. Das ist wirklich kein komplizierter Sachverhalt. Ich verstehe nicht, warum Menschen so überrascht davon sind.
»Durch den Aufstieg des Neoliberalismus und den globalen Backlash gegen den Marxismus löste sich die Idee eines sozialistischen Feminismus in Luft auf. Wir versuchen noch heute, uns davon zu erholen.« Ich möchte das Leben hinter dem Eisernen Vorhang natürlich nicht idealisieren. Selbstverständlich gab es einige sehr negative Aspekte. Andererseits hatte die öko-
Kulturpalast
Sex im Sozialismus
nomische Befreiung der Frauen einige nachweislich positive soziale Effekte. Und wir können die gleichen Effekte heute auch in sozialdemokratischen Ländern wie Schweden, Norwegen oder Dänemark beobachten. Westliche Feministinnen sind derzeit stark dem Projekt der Umerziehung und Zivilisierung der einzelnen Männer verschrieben. Das muss prinzipiell nicht falsch sein, zumal männliches Verhalten oft ernsthafte Probleme für Frauen zur Folge hat. Wenn man nun die Veränderung männ-lichen Verhaltens als primäres politisches Projekt ansieht, dann zeigt uns diese Geschichte, dass strukturelle wirtschaftliche Veränderungen der bessere Weg sein könnten, um das zu erreichen. Ich denke, dass die individuelle Zivilisierungsmission vielen Menschen als machbarer erscheint als struktureller Wandel. Deshalb sind sie geneigt, ihre begrenzten Energien darauf zu konzentrieren. Aber ich gehe davon aus, dass sich Männer in einer Kultur, in der Frauen mehr wirtschaftliche Möglichkeiten haben, auf gewisse Weise selbst zivilisieren, weil sie feststellen, dass sie nicht gewalttätig sein dürfen und Beziehungen mit Frauen nicht als selbstverständlich erachten können. In den 70ern haben sich brilliante sozialistische Feministinnen wie zum Beispiel Silvia Federici für große strukturelle Veränderungen ausgesprochen, die die Beziehungen zwischen Männern und Frauen reorganisieren würden. Doch wie Nancy Fraser schrieb, wurde der Feminismus größtenteils durch den neoliberalen Kapitalismus vereinnahmt. Das hatte diesen »Lean In«-Feminismus à la Sheryl Sandberg zur Folge, bei dem es nur um persönlichen Erfolg geht sowie darum, Bedingungen zu schaffen, unter denen sich eine Handvoll Frauen genau so unverschämt bereichern können wie eine Handvoll Männer. 125
Durch den Aufstieg des Neoliberalismus und den globalen Backlash gegen den Marxismus löste sich die Idee eines sozialistischen Feminismus in Luft auf. Wir versuchen noch heute, uns davon zu erholen.
»Historisch ist der Kapitalismus so strukturiert, dass Unternehmen eine Frau nur dann anstellen, wenn sie billiger ist als ein Mann.« Du hast geschrieben, dass der Zusammenbruch des Staatssozialismus in Osteuropa »das perfekte Labor schuf, um die Auswirkungen des Kapitalismus auf das Leben von Frauen zu erforschen.« In der Regel haben die Menschen im Westen durchaus eine Vorstellung von der Verarmung der Frauen aus den ehemaligen
»Sozialistische Feministinnen haben immer argumentiert, dass es nur einen Weg gibt, dieses Problem des kapitalistischen Arbeitsmarkts gründlich zu beseitigen: Der Staat muss intervenieren und soziale Unterstützung für Sorgearbeit bereitstellen.« Ostblockstaaten und die daraus resultierende Verschärfung sexistischer Unterdrückung. Doch wenn es um die Frage nach den Gründen geht, lautet die Standardantwort, dass der Kommunismus daran schuld ist. In Deinem Buch machst Du 126
allerdings das Argument stark, dass die Schuld in Wirklichkeit beim Kapitalismus liegt. Als der Staatssozialismus abgewickelt wurde, bedeutete das die Privatisierung und Liquidierung von Staatsunternehmen sowie die Aushöhlung des Sozialstaats. Dabei verschwanden viele Unterstützungsprogramme für Frauen – bezahlter Mutterschaftsurlaub, Kinderzentren, Krippen und Kindergärten, Kinderzulagen und so weiter. Frauen wurden auf die kapitalistischen Märkte geworfen und zugleich zurück ins Haus gezwungen, um die Last unbezahlter Sorgearbeit zu tragen. In unseren Befragungen und Recherchen sprechen viele osteuropäische Frauen davon, dass sie im Staatssozialismus mehr Möglichkeiten und Chancen hatten. Trotz des Mangels an Konsumgütern, der Reisebeschränkungen, der Zensur und der Geheimpolizei hatten sie mehr Lebenschancen als junge Mädchen im heutigen Osteuropa. Die Länder mit den weltweit schnellsten Bevölkerungsrückgängen liegen in Osteuropa. Das liegt einerseits daran, dass Frauen keine Kinder bekommen, weil sie in ihrer wirtschaftlichen Lage keine Familie ernähren können, und andererseits an der Auswanderung. Wenn es keine wirtschaftliche Sicherheit für sie gibt, nutzen Frauen die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel, um ein besseres Leben zu erreichen. Das schließt ein, ihre Beziehungen zu Männern in Wert zu setzen. Deshalb ist Werbung für Katalogbräute das Erste, was man sieht, wenn man »ukrainische Frauen« bei Google eintippt. Der Kapitalismus hat den Frauen in ärmeren Ländern also nicht gutgetan. Was ist mit Frauen, die im Kapitalismus der reicheren westlichen Länder leben? Funktioniert er für uns?
Kulturpalast
Historisch ist der Kapitalismus so strukturiert, dass Unternehmen eine Frau nur dann anstellen, wenn sie billiger ist als ein Mann. Ein Grund dafür ist, dass sie höchstwahrscheinlich eine Zeit lang dem Beruf fernbleiben wird, um zu Hause Sorgearbeit zu leisten, insbesondere wenn sie Kinder hat. Warum sollte man eine weniger zuverlässige Arbeitskraft einstellen, es sei denn man kann ihr einen niedrigeren Lohn zahlen? Das hat einen Teufelskreis zur Folge, in dem Frauen auf dem Arbeitsmarkt permanent benachteiligt werden.
»Es muss uns möglich sein, eine differenzierte, überlegte und bereichernde Debatte über die Vergangenheit zu führen.« Sozialistische Feministinnen haben immer argumentiert, dass es nur einen Weg gibt, dieses Problem des kapitalistischen Arbeitsmarkts gründlich zu beseitigen: Der Staat muss intervenieren und soziale Unterstützung für Sorgearbeit bereitstellen.
schung in Osteuropa betreibe, kenne ich viele Leute, die sagen, dass das Leben viel komplizierter und nuancierter war und nicht durchweg negativ, wie es sich die Menschen im Westen vorstellen. Es war ganz bestimmt nicht so, dass alle entweder mit rasierten Köpfen in Mao-Hemden herum marschierten oder aber auf den Straßen verhungerten und um ein Paar Jeans bettelten. Junge Menschen, die heute zu sozialistischen Auffassungen gelangen, bekommen sofort eins mit der Keule der Verbrechen des osteuropäischen Sozialismus des 20. Jahrhunderts übergezogen. Sobald man etwas über staatlich finanzierte Kinderbetreuung sagt, fangen die Leute an, über die Säuberungen und den Gulag zu schimpfen. Es muss uns möglich sein, eine differenzierte, überlegte und bereichernde Debatte über die Vergangenheit zu führen. Die antikommunistische Schnellschussreaktion macht es schwierig, zu einer solchen Debatte zu gelangen. Ich hoffe, mein Buch macht es ein wenig leichter.
Die Absicht Deines Buches scheint zu sein, die westlichen Vorstellungen nicht nur über Geschlecht und Sozialismus, sondern auch über das Leben im Sozialismus im Allgemeinen herauszufordern. Wie stellen sich die Menschen im Westen das Leben im Staatssozialismus vor und inwiefern gehen ihre Vorurteile an der Wirklichkeit vorbei? Wir dürfen die Säuberungen, die Gulags und die staatliche Gewalt auf keinen Fall ignorieren. Doch uns muss klar sein, dass es nicht die gesamte Zeit so war. Es gibt heute hunderte Millionen von Menschen, die im Sozialismus aufgewachsen sind und ein ganz anderes Bild von ihm haben. Da ich seit zwanzig Jahren ethnographische FeldforSex im Sozialismus
Über die Autorin Kristen R. Ghodsee ist Professorin für russische und osteuropäische Studien an der University of Pennsylvania. Ihr Buch Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben erschien 2019 im Suhrkamp Verlag. 127
Luna Wolters’ Horoskop
Text: Luna Wolters Illustration: Katrin Mentz
Fische
Stier
Krebs
Mistkäfer orientieren sich im Dunkeln am Schein der Milchstraße. Das fand eine akribisch dokumentierte Studie von Biologinnen der Universität Lund, erschienen in der Fachzeitschrift Current Biology: »Wenn der Mond untergeht, verbleiben Sterne als visuelle Signale am Nachthimmel. Afrikanische Pillendreher-Mistkäfer nutzen himmlische Polarisierungsmuster zur Orientierung, wenn sie sich von Misthaufen mit besonders heftiger Konkurrenz wegbewegen.« Vielleicht kommt Dir das bekannt vor? Wie die Käfer in der Nacht weißt auch Du oft einer leisen Intuition zu folgen. Trau Dich in die Dunkelheit. Halt Ausschau nach den Konstellationen, die Dir die Ecke zeigen, in die Dein Haufen Dung gerollt werden muss. Was bleibt uns an Lichtern in der Dunkelheit, durch die wir gemeinsam krabbeln?
Die Umstände bestimmen das Bewusstsein, nicht die schönen Worte. Würdest Du unter den Umständen der anderen leben, teiltest Du auch ihre Ansichten. Als ur-materialistisches Sternzeichen liegt diese Einsicht für Dich völlig auf der Hand. Doch das gehörnte Wesen in Dir will die anderen für deine Seite gewinnen, egal wer sie sind. In den kommenden zwei bis drei Wochen hast Du Gelegenheit, mehr über diese Dialektik herauszufinden. Was ist uns über alle Umstände hinweg gemeinsam? Welche Sprache hast Du gelernt, um Dich mit Menschen, die anders leben als Du, auf ein gemeinsames Ziel zu verschwören? Geh in Dich. Und erzähl deinen Genossinnen und Genossen davon.
Du fühlst dich manchmal zerrissen zwischen Verpflichtungen gegenüber anderen, die Dir wichtig sind, und Verpflichtungen, die Dein eigenes Fortkommen betreffen. Das hat strukturelle Gründe, an denen Du nicht schuld bist. Sei lieb und mach weiter Dein Ding. Überdehne Dich in keine Richtung. Es wird genug sein.
Zwillinge Widder »Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.« Dieses Zitat des Philosophen Blaise Pascal trifft auf Dich besonders zu, kleiner Widder. Du bist ein Macher und wie alle Macher zeitweise ungeduldig und aufbrausend bis ins Mark. Das betrifft auch Dein politisches Gespür, das trotzkistisch veranlagt ist, Dir an der Jacke zerrt und ruft: »Schau, dieser Aufstand in Bolivien, diese Wahl in Frankreich, es geht los!!!« Behalt Dir diese Stimme, sie ist super. Doch die Sterne sagen mir, dass Du in diesen Wochen an einen Punkt kommen wirst, an dem Dein Enthusiasmus sich anfühlt wie Rastlosigkeit, Du müde wirst ob der unausweichlichen Niederlagen. Dann lies Walden von Henry Thoreau oder Thomas Mertons Faith and Violence. Du findest darin einen tiefen, geduldigen Radikalismus – genau das, was Du jetzt brauchst.
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»Im Morgengrauen werden wir / Bewaffnet mit brennender Geduld / Die glänzenden Städte betreten.« Diese Zeilen zitierte der chilenische Dichter Pablo Neruda 1971 in seiner wundervollen Nobelpreisrede. Darin erzählte er, wie er auf einem Pferd vor dem Pinochet-Putsch über die Anden nach Argentinien floh. Die »glänzenden Städte« waren für ihn die Welt der Gerechtigkeit: der Sozialismus. Gerade Du, lieber Zwilling – dem immer zu viel in die Augenwinkel winkt, um bei einer Sache zu bleiben, um mehr als nur querzulesen, mal reinzuschauen und in Gedanken schon wieder weiterzuflattern – gerade Du hast die Gabe, die Art von Geduld zu entwickeln, von der Neruda spricht. Denn wenn Du das Ziel einmal ins Auge fasst, wirst du es nicht wie eine Bürokratin verfolgen, die müde und hart in Richtung Zukunft walzt. Du wirst dich auf dem weiten Weg links und rechts umsehen – und doch zum großen Glänzen hin drängen und sehnen: Brennende Geduld. Hörst du mir noch zu?
Jungfrau
Skorpion
Steinbock
Im 4. Jahrhundert schrieb Johannes Chrysostomos über den Exodus der Juden: »Es reicht nicht, Ägypten zu verlassen. Man muss auch das gelobte Land betreten.« Eine ähnliche Herausforderung hast Du in der nächsten Zeit vor Dir. In Reaktion auf diese schwierige, verwirrende, wüstenartige Zeiten hast Du gelernt, in deinem Leben einen Rhythmus zu etablieren, in dem Du klarkommst und dich gut fühlst. Jetzt ist der Moment gekommen, noch einen Schritt weiterzugehen – und Erfüllung zu finden. Vertiefe Deinen Alltag. Mach ernst mit den Ideen hinter der Lebensweise, die Du in den letzten Jahren entwickelt hast. Beginne damit, den Menschen um Dich herum radikal ehrlich mitzuteilen, was du dir wünschst. Du brauchst sie für den nächsten Schritt und sie werden Dich verstehen.
»Wo immer etwas steht, steht etwas anderes daneben«, lautet ein nigerianisches Sprichwort. Würdige in den kommenden Wochen all das, was um Dich herum steht. Auf jeden Menschen kommen über eintausend Tonnen gebaute Umwelt: Mauern, Ampeln, Stromleitungen und Fahrradwege. Ökologen nennen diese Umwelt das äußere oder ›Exo-Skelett‹ unserer Spezies. Wie die Muschel, in der ein Krebs lebt. Sieh in den Fremden, die Dir in den kommenden Wochen begegnen, Leute, die Deine ganz persönliche Haus-Muschel bauen, putzen und warten – die den Kindern den Mund abwischen, die später einmal das Fundament des Drogeriemarktes gießen, in dem jemand Deine Packung Tic Tacs scannen wird. Du verdankst diesen Leuten alles. Handle danach.
Soll ich Dir überhaupt ein Horoskop schreiben, Steinbock? Du, unter dem rationalsten aller Zeichen Geborene nimmst es ja sowieso nicht ernst. Nur so viel: Wie kann man einen halben Liter O-Saft in einem 0,1-Liter-Glas trinken? Mehrfach trinken, Steinbock, mehrfach trinken.
Löwe
Wassermann
1909 wurde Tullio Ricciardi in Florenz geboren, ein ausgesprochen kleiner Junge von – wie ein Beobachter beschrieb – »skelettartiger« Physique. Tullio versuchte sich als Boxer in der Kategorie Fliegengewicht. Sein Erfolg war bescheiden. Frustriert trainierte er gleichzeitig alle möglichen Sportarten, die ihn stärken könnten: Rudern, Schwimmen, Gymnastik, Tennis. Er wurde dadurch kein besserer Boxer, doch ein amerikanischer Bekannter, der Tullios verzweifelte Arbeit an seinem Körper bemerkte, machte ihn eines Tages mit einer kürzlich erfundenen Praxis aus den USA bekannt: dem Body Building. Tullio Ricciardi hatte seine Nische gefunden. In seiner Wohnung eröffnete er eines der allerersten Fitnessstudios Italien. 1958 wurde er, mit 49 Jahren, zum Mister Italia gewählt. Tullios Geburtstag ist nicht bekannt – aber ich gehe stark davon aus, dass er ein Löwe war. »Ich bin« lautet das Motto eures Zeichens. Erinner Dich in diesen Tagen daran, dass auch das, was Du bist, durchaus etwas sein kann, das erst noch erfunden werden muss.
Small Talk empfindest Du meist als Zeitverschwendung. Musst Du wirklich endlos geflasht sein, weil du dieselbe Serie guckst wie dein Gegenüber, oder zum dritten Mal erzählen, dass die Deutsche Bahn verspätet fuhr? Tatsächlich, lieber Wassermann, ist es dieses Gerede, mit dem wir uns permanent versichern, dieselbe Welt zu bewohnen. Das Wetter, der Virus, die schockierende Infrastruktur – alles Anlässe, die Nachbarin zu fragen: »Siehst Du auch, was ich sehe?« Mit der verlässlichen Antwort: »Ja, ich sehe das auch. Das alles gibt es wirklich.« Warum also nervt es Dich so? Vielleicht weil Dich Small Talk daran erinnert, dass Du, um so eigen und individuell zu sein, wie Du willst, auf die Augen der anderen angewiesen bist? Es ist ein Wagnis, vor den anderen zu erscheinen. Die kommenden Wochen sind ein guter Zeitpunkt, Dich in dieses Wagnis voll hineinzubegeben. Führe wilden Small Talk. Zeig Deine Augen.
Kleine Freuden
Schütze
Waage Der griechische Mathematiker Ptolemäus ordnete vor bald zweitausend Jahren jedem Sternzeichen eine Region der Erde zu. Der Waage gab er eine, die ganz am Rand der damals bekannten Welt lag: »Oasis, das Land der Troglodyten«, das heißt, der Höhlenbewohner. Er meinte damit wahrscheinlich einen Teil des südlichen Libyens. Für Dich jedenfalls kann dieses Land Oasis ein Bild für einen Ort sein, den Du in der nächsten Zeit entdecken und an dem Du Dich stimmig fühlen wirst. Höhle und Oase zugleich liegt dieser Ort am Rande dessen, was Dir bekannt ist.Die Menschen, die ihn bevölkern, sprechen eine andere Sprache. Vielleicht ein TechnoClub mit Sicherheitsabstand, vielleicht ein Altenheim oder das Quarantäne-Zimmer eines Freundes. Du findest diesen Ort nur zufällig – halte trotzdem Ausschau nach ihm. Wenn Du dort bist, lass dir Zeit und lass dich ein. Lächle alles an, was Dir bekannt vorkommt. Du bist fürs Erste am Ziel.
In dem spätmittelalterlichen Epos Orlando Furioso verliebt sich ein französischer Ritter mitten im Krieg unsterblich in Angelica, eine chinesische Prinzessin mit Superkräften. Diese wiederum trifft auf dem Schlachtfeld ihre große Liebe: einen arabischen Prinzen. Die beiden wandern nach China aus. Orlando verliert aus Schmerz den Verstand und reißt Bäume aus, sein bester Freund reist nach Äthiopien und dann, auf einem Greifen reitend, zum Mond. Denn auf der Rückseite des Mondes findet sich alles, was auf Erden verloren wurde – folglich auch Orlandos Verstand. Angelica wird derweil von einem Seemonster bedrängt. Überhaupt müssen alle ständig gerettet werden. Warum ich Dir das erzähle? Weil auch Du in diesen Tagen auf der Suche bist nach etwas, auf das Du all deine Anstrengung bündeln kannst – und es gut sein kann, dass es dir trotz aller Hartnäckigkeit entwischt. Bleib weiter furios in deiner Suche. Und sorge dafür, dass Du gute Freunde hast, die dir im richtigen Moment zur Hilfe kommen.
Luna Wolters’ Horoskop
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IMPRESSUM
Jacobin Jacobin ist eine führende Publikation der sozialistischen Linken. Wir bringen Euch scharfe und lesbare Analysen zu Politik, Wirtschaft und Kultur. 2011 in New York geboren, erscheint Jacobin heute auf Englisch, Italienisch, Portugiesisch—und nun auch auf Deutsch. Jetzt abonnieren www.jacobin.de Abo (Druck): 35 € (Deutschland), 45 € (EU), 60 € (International) Soli-Abo (Druck): 55 € (Deutschland), 65 € (EU), 80 € (International) Abo (Digital): 20 € (Deutschland), 20 € (EU), 20 € (International) Soli-Abo (Digital): 40 € (Deutschland), 40 € (EU), 40 € (International) Einzelheft: 10 € (DE), 12 € (A), 14 (CHF) Citoyens Herausgeber: Ole Rauch Chefredakteurin: Ines Schwerdtner Redaktion: Loren Balhorn, Linus Westheuser Lektorat: Astrid Zimmermann, Thomas Zimmermann Ko-Redaktion: Ilker Eğilmez, Sebastian Friedrich, Pujan Karambeigi, Matthias Ubl Autorinnen & Autoren Meagan Day, Kristen Ghodsee, David Broder, Grace Blakeley, Caspar Shaller, Loren Balhorn, Oliver Nachtwey, Kassandra Friebe, Dieter Kregel, Sebastian Friedrich, Natascha Strobl, Thomas Zimmermann, Vivek Chibber, Wolfgang M. Schmitt, Luna Wolters, Pujan Karambeigi, Remeike Forbes, Ilker Eğilmez, Linus Westheuser, Ines Schwerdtner, Ole Rauch Gestaltung Editorial Design: Raphael Berg, Miriam Häfele, Katrin Mentz, Richard Parmentier, Marvin Traber Fotografie: Julia Sang Nguyen, Miriam Häfele, Chris Grodotzki, Video: Rory Witt Web Design: Andreas Faust, Paul Pistorius
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